Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf:
1. Fortsetzung der Aussprache zur Regierungser-
klärung des Bundeskanzlers
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die
heutige Aussprache bis 18 Uhr dauern. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Wir kommen zunächst zum Themenbereich Wirt-
schaft und neue Länder.
Außerdem rufe ich den Tagesordnungspunkt 7 sowie
den Zusatzpunkt 1 auf:
7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Uwe-Jens Rössel, Dr. Christa Luft, Maritta Bött-
cher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
PDS
Novellierung des Gesetzes über die Feststel-
lung der Zuordnung von ehemals volkseige-
setzes
– Drucksache 14/17 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuß
ZP1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf
Kutzmutz, Dr. Christa Luft, Dr. Dietmar Bartsch,
Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS
Ansiedlung einer Airbus-Fertigungsstätte in
Mecklenburg-Vorpommern
– Drucksache 14/25 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuß
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Kollege
Matthias Wissmann von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Der Bundeskanzler hat mitseiner Regierungserklärung hohe Anforderungen an diePhantasie der Mitglieder des Bundestages gestellt,
denn viel Konkretes zur Wirtschaftspolitik war nicht zuhören.Zusammengeführt hat die rotgrüne Koalition derWille zur Macht. Jetzt sind Sie – wie wir in Ihrer Regie-rungserklärung, Herr Bundeskanzler, gespürt haben – indem Dilemma, was Sie in der Wirtschafts- und Finanz-politik konzeptionell Richtiges mit der neugewonnenenMacht anfangen sollen. Besonders deutlich wird diesesDilemma in der Personalkonstellation. Mittlerweilekennen wir mindestens fünf, die den Anspruch erheben,Wirtschaftspolitik für Deutschland zu gestalten:
Da ist der Kanzler; da ist sein Adlatus in Gestalt vonMinister Hombach; da ist sein Überschatten in Gestaltdes Finanzministers und SPD-Chefs Oskar Lafontaine;und dann gibt es zwei Persönlichkeiten mit dem NamenMüller – den neuen Wirtschaftsminister und die Ehefrauvon Oskar Lafontaine.
Meine Damen und Herren, zur Zeit bildet sich fol-gender Eindruck heraus: In diesem Fünferkreis ist einerfür die harten Fakten der Wirtschafts- und Finanzpolitikzuständig – das ist Oskar Lafontaine –, und drei – derBundeskanzler, sein Adlatus Hombach und möglicher-weise auch Sie, Herr Müller – sollen diese veralteteWirtschaftspolitik mit modernen Vokabeln möglichstgünstig verkaufen. Mit diesen Inszenierungen Eindruck
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zu machen , wie es Ihnen im Wahlkampf – das muß manIhnen zubilligen– geglückt ist, wird Ihnen in der Wirt-schafts- und Finanzpolitik, wenn sie so falsch bleibt, wiesie angelegt ist, mit Sicherheit nicht über eine ganzeWahlperiode gelingen.
Die Leitidee Ihrer Wirtschaftspolitik, Herr Bundes-kanzler – das wissen Sie, wie wir gespürt haben –,müßte eigentlich sein, so zu tun, als wäre Bewegung inder Sache, aber im wesentlichen an der bewährten Wirt-schaftspolitik der früheren Regierung so wenig wiemöglich zu ändern. Denn gerade die Ergebnisse desletzten Jahres sind offensichtlich gut: 0,7 Prozent Preis-steigerungsrate – das ist eine Preisstabilität wie seltenzuvor –, im Vergleich zum Vorjahr 400 000 Arbeitsloseweniger – selten hatten wir einen so starken Rückgangder Arbeitslosigkeit in nur einem Jahr – und 2,5 bis3 Prozent reales Wirtschaftswachstum. Die deutscheWirtschaft ist hinter den USA und Japan internationaldie Nummer drei. Beim Export sind wir – mit wiedersteigender Tendenz – sogar die Nummer zwei.Eigentlich sollte die neue Regierung dankbar sein,daß sie unter so günstigen Bedingungen starten kann.Doch statt einfach und pragmatisch zu regieren, begin-nen Sie unter der Federführung Oskar Lafontaines, La-denhüter aus den 70er Jahren in den Mittelpunkt IhrerPolitik zu stellen: stärkerer staatlicher Einfluß undüberall, wo möglich, Umverteilung. Schon tauchenwieder die alten Theorien auf, die in unserem Land inden 70er und zu Beginn der 80er Jahre große wirtschaft-liche und soziale Schwierigkeiten bereitet haben.
Wenn man den offiziellen und inoffiziellen Mitglie-dern dieser Regierung glauben darf, so hofft Rotgrün inder Wirtschafts- und Finanzpolitik auf das große Geld-ausgeben. Die verlockende Vorstellung, es müsse nurmehr Geld unters Volk kommen und dann würden sichdie Probleme des Arbeitsmarkts von selbst lösen, hatsich aber auch schon in der Vergangenheit als dieMünchhausen-Geschichte der modernen Wirtschaftspo-litik erwiesen. Sich auf diese Weise am eigenen Schopfaus dem Sumpf zu ziehen ist leider mangels festenGrundes immer schon zum Scheitern verurteilt gewesen.
Überlegungen, verstaubte Ideen aus der Ideenkistevon Lord Keynes wiederzubeleben, sind nicht nur Ge-genstand von gelehrigen Aufsätzen und von Talk-Show-Runden der Familie Lafontaine,
sondern sie sind bedauerlicherweise inzwischen auch –in gefährlicher Art – zu realer Politik von Rotgrün ge-worden.
Unübersehbar sind die Alarmsignale, die Ihre Regie-rung in die Wirtschafts- und Finanzwelt aussendet. Nurmühsam läßt sich der Grundsatzkonflikt zwischen demFinanzminister und der Spitze der Deutschen Bundes-bank und der Spitze der Europäischen Zentralbank ver-schleiern. Während für unsere Währungshüter – Gott seiDank – Geldwertstabilität nach wie vor höchste Be-deutung hat, sieht man das am Kabinettstisch wohldeutlich lockerer. Ich kann nur sagen: Keynes läßt grü-ßen. Auch er ist gefährlich leichtfertig mit der Inflationumgegangen. Für ihn war sie Korrekturfaktor für dieLöhne. Die Arbeitnehmer sollten kräftige nominaleLohnerhöhungen bekommen. Über die Inflation wurdedie reale Kaufkraft dann wieder kaputtgemacht. Dasnannte Keynes Geldillusion.Doch wir wissen heute, daß sich die Menschen nichttäuschen lassen und daß sich auch die Wirtschaftskreis-läufe durch falsche Theorien nicht positiv beeinflussenlassen. Wenn Inflation wieder zum realen Faktor in derdeutschen Wirtschaftspolitik wird, dann muß jeder Un-ternehmer und jeder Gewerkschafter seine Vorstellun-gen von zukünftigen Preisen und Löhnen mit einemsatten Inflationsaufschlag versehen. Löhne und Preiseschaukeln sich dann wieder aneinander auf. Die Inflati-onsangst nährt die Inflation.Die Hinnahme weichen Geldes als Mittel der Wirt-schaftspolitik hat Deutschland in den 70er Jahren in dieMassenarbeitslosigkeit geführt, bei gleichzeitig galop-pierender Preisentwicklung. Der Satz von HelmutSchmidt, daß ihm 5 Prozent Inflation lieber seien als5 Prozent Arbeitslosigkeit, wurde von der Realität bittereingeholt. Noch 1973 gab es 270 000 Erwerbslose.Schon zehn Jahre später, am Ende der Ära Schmidt, gabes – ohne die Herausforderung der Wiedervereinigung,ohne die heute vorhandene Verknüpfung der Welt-märkte – allein in Westdeutschland 2,3 Millionen Er-werbslose.
In den 70er Jahren lag die Inflationsrate bei durch-schnittlich über 5 Prozent, in der Spitze sogar bei7 Prozent. Schmidt hatte Inflation und Arbeitslosigkeitgleichermaßen erreicht.Der Streit zwischen Angebots- und Nachfrageorien-tierung in der Wirtschaftspolitik ist kein reiner Theori-enstreit. Die keynesianische Wirtschaftstheorie hat nichtnur in der Praxis versagt. Sie ist auch eine unehrlicheTheorie, weil sie darauf setzt, daß die Menschen die Ge-setzmäßigkeiten, die der Wirtschaft zugrunde liegen,nicht erkennen. Eine Politik, Herr Bundeskanzler, diedarauf setzt, die Menschen zu täuschen, darf keine neueChance in Deutschland erhalten.
Sie hat sich in der Vergangenheit nicht bewährt, und siewird sich auch in Zukunft nicht bewähren.Wenn Ihr Finanzminister für die gesamte Bundesre-gierung daran festhält, dann paßt das Wort Genera-tionswechsel auf die Wirtschafts- und FinanzpolitikMatthias Wissmann
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noch weniger als auf jedes andere Thema. Gegenwärtigmüssen alle – nicht nur in Deutschland; schauen Sie sichdie Wirtschaftspresse in Amerika, in Frankreich, inLondon an – den Eindruck haben, diese Regierung habezwar neue Gesichter, aber mindestens in der Wirt-schafts- und Finanzpolitik ein völlig veraltetes, unmo-dernes Konzept.
Meine Damen und Herren, wenn wir zu einer höherenPreissteigerungsrate kommen, dann betrifft das vor al-lem den ganz normalen Bürger, den sogenannten kleinenMann, der Monat für Monat mit dem auskommen muß,was er auf dem Gehaltszettel hat, und das Wenige, wasihm am Monatsende bleibt, aufs Sparbuch bringt. Feinheraus ist nur der, der sein Vermögen in Aktienpaketenoder Immobilien angelegt hat,
denn sie behalten ihren Wert auch dann, wenn das Geldan Wert verliert. Wir halten diese Konzeption für falsch. Auch IhreSteuerkonzeption setzt auf Massenkaufkraft, auf dieErzeugung einer künstlichen Nachfrage, die die Preise indie Höhe treiben wird. Was nützen ein paar Mark fünf-zig an Steuerersparnis für den Normalbürger, wenn erdann an der Ladentheke höhere Preise zahlt und überEnergiesteuern in starkem Maße zur Kasse gebetenwird? Dann wird er unter dem Strich nicht mehr, son-dern weniger Geld übrig haben.
Die „Süddeutsche Zeitung“, nicht gerade im Ver-dacht, es mit der neuen Regierung schlecht und mit derneuen Opposition gut zu meinen, hat vor wenigen Tagengeschrieben, die Steuerkonzeption der neuen Regierungsei mit Verteilungszielen überladen, sie führe zu einerneuen Komplizierung statt zu einer wirklichen Vereinfa-chung. Professor Rose von der Universität Heidelberg,einer unserer angesehenen Steuer- und Finanzrechtler,hat gesagt, dieses Steuerkonzept sei in Wahrheit „Raub-rittertum gegenüber dem Mittelstand“.
Meine Damen und Herren, wenn es uns gemeinsamdarum gehen muß, trotz einer um 400 000 geringerenZahl von Arbeitslosen weitere Schritte zur Beschäfti-gungssicherung und zur weiteren Reduzierung der Ar-beitslosigkeit zu unternehmen, dann gibt es doch nur einwirkliches Grundgesetz: Neun von zehn neuen Arbeits-plätzen kommen aus kleineren und mittleren Betrie-ben. Wir haben heute im Westen Deutschlands gegen-über 1982 noch etwa 1,3 Millionen Arbeitsplätze mehr.Neun von zehn kommen aus kleinen und mittleren Be-trieben. Sie können rechnen, wie Sie wollen, über einesist sich die gesamte deutsche Finanz- und Steuerfach-welt einig, und jeder Bürger, der rechnen kann, kann esnachvollziehen: Ihr Steuerkonzept belastet unter demStrich genau die kleinen und mittleren Betriebe, die neueArbeitsplätze schaffen sollen, wesentlich mehr. Das istGift für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, Gift fürdie Konjunktur!
Meine Damen und Herren, völlig planlos stehen ne-ben den Steuerreformplänen die neuen Ökosteuern. Miteiner Steuer- und Finanzpolitik zur Schaffung von mehrArbeitsplätzen hat das wenig zu tun. Wir müssen wis-sen, diese Ökosteuerpläne sind auch höchst unsozial undfamilienfeindlich. Die Regierung will, daß mit dem Geldaus der Ökosteuer die Rentenversicherungsbeiträge ge-senkt werden. Davon profitiert ja wohl vor allem derje-nige, der ein hohes sozialversicherungspflichtiges Ein-kommen hat. Draufzahlen wird die Familie, bei der einegrößere Wohnung geheizt werden muß, bei der dieWaschmaschine ständig läuft, bei der an jedem Morgenviel Wasser verbraucht werden muß, bei der mittags zuHause gekocht wird, bei der ein Familienmitglied imDienste von Familie und Kindern mit dem Auto unter-wegs ist.Die Wahrheit ist: Ihr Ökosteuerplan ist kein Plan fürmehr Ökologie, sondern ein Plan, der gerade Familienmit Kindern in erheblichem Maße zur Kasse bitten wird.Deswegen können wir solchen Plänen nicht zustimmen.
Meine Damen und Herren, wie man ökologisch rich-tig handeln kann, haben wir in der letzten Wahlperiodean zwei Beispielen bewiesen: Wir haben eine Gebührfür Lkws auf deutschen Autobahnen, die eine sinnvolleökologische Lenkungsfunktion wahrnimmt, und dieemissionsbezogene Kfz-Steuer eingeführt. Seitdemsind 500 000 Katalysatoren neu eingebaut worden. DieLuft wird weniger verpestet. Wir haben nichts gegenintelligente Ideen und europäisch abgestimmte ökologi-sche Impulse,
aber mit Konzeptionen wie einer Schröpfsteuer zu La-sten der Familien und neuen Verkomplizierungen desSteuerrechts auf Grund höchst unklarer Definitionen inbezug auf die Frage, welche Betriebe energieintensivund welche nicht energieintensiv sind, werden wir nichtgemeinsame Sache machen.
Meine Damen und Herren, wirtschafts- und finanz-politisch sind Sie auf einem mehr als fragwürdigen Weg.Die „Zeit“, gegenüber der neuen Regierung bisher nichtsehr kritisch, sondern höchst freundlich eingestellt, hatheute ihren Leitartikel zu Ihrer Regierungskonzeption,Herr Bundeskanzler, mit dem Satz überschrieben:Der FehlstartSchröder wird nie wieder so stark sein wie jetzt.Warum macht er nichts daraus?Matthias Wissmann
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200 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998
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Herr Bundeskanzler, wenn Sie den Ideen von OskarLafontaine,
wie sie in der Koalitionsvereinbarung niedergelegt sind,die auf einer falschen Theorie aufbauen und zu falschenpraktischen Resultaten führen, folgen, dann erreichenSie in unserem Land nicht weniger Arbeitslosigkeit,nicht mehr Investitionen und nicht neue Wettbewerbsfä-higkeit, sondern Sie bewirken das Gegenteil. Wir brau-chen die weitere marktwirtschaftliche Erneuerung.Wir brauchen die Aufnahme der Ideen Ludwig Erhards,die uns, mit neuen Impulsen versehen, als Brücke ins21. Jahrhundert dienen können. Wir brauchen wenigerund nicht mehr Staat. Wir brauchen eine wirkliche Ent-lastung aller, der Bürger und der Unternehmen. Am we-nigsten brauchen wir ein so veraltetes Wirtschafts- undFinanzkonzept für Deutschland wie Ihres.Herr Bundeskanzler, ich hätte Ihnen lieber in meinerRede zur Wirtschaftspolitik gesagt: Gut, daß Sie moder-nisieren.
Die gesamte Wirtschafts- und Finanzwelt ist sich dar-über einig, daß Sie in der Sache leider das falsche Kon-zept haben. Leider haben Sie auch bei der Auswahl derPersonen höchst fragwürdige Impulse gesetzt. Daß Ih-nen Herr Stollmann von der Fahne gegangen ist, zeigt janur, daß einer, der moderne Auffassungen vertritt, mitIhrer Wirtschafts- und Finanzpolitik nichts zu tun habenwill.
Das Wort hat nunder Bundesminister Werner Müller.Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaftund Technologie: Herr Präsident! Meine Damen undHerren! Wirtschaftspolitik ist für mich weit weniger eineFrage von rechts oder links als vielmehr eine Frage vonfalsch oder richtig, von zukunftslos oder zukunftsfähig.
Ich will eine Wirtschaftspolitik betreiben, die möglichstalle von Ihnen unterstützen können und unterstützenwerden.
Sofort nach Arbeitsbeginn habe ich den Dialog mitden Wirtschaftsverbänden begonnen. Sie haben mirbis zu 30 Seiten lange Ausarbeitungen mit Vorschlägengegeben, was nun alles dringend geändert werden muß.Mein einfaches Fazit nach 14 Tagen lautet: Die Verbän-de sehen die Wirtschaft hart am Abgrund. Sie sagen,zuletzt sei die Lage so dramatisch schlecht geworden,daß es nur noch zwei Perspektiven gebe: endgültigerAbsturz oder Wiederaufstieg. Diese Bundesregierungsetzt auf Wiederaufstieg.
Die nationalen und internationalen Wertpapierbörsenvertrauen der neuen Bundesregierung präzise seit demWahltag.
Sehr bewußt hat nach der Wahl, ausweislich desVorwortes, Herr Henkel ein Buch mit dem sehr bezeich-nenden Titel „Jetzt oder nie“ präsentiert.
Ich wünsche mir sehr, daß sich auch die Wirtschaftsver-bände an diese Devise „Jetzt oder nie“ halten.
Dazu biete ich den Verbänden eine sachliche, zu-kunftsorientierte und vor allem auch redliche Zusam-menarbeit an. Denn ich bin mit den Wirtschaftsverbän-den einig, daß wir dringend einiger Grundsatzreformenbedürfen, zum Beispiel bei den Unternehmenssteuern,um ein Steuersystem wie in den westlichen Konkur-renzländern zu bekommen. Diese Bundesregierung wirdentsprechend handeln. Sie hat versprochen, was seitJahrzehnten jede Vorgängerregierung hätte tun können:schrittweise Herbeiführung der Grenzsteuersätze von35 Prozent.
Im Gegenzug sollen die Gewinne schrittweise einerbreiteren Versteuerung zugeführt werden. NiedrigereGrenzsteuersätze sind vernünftig und richtig, geradeauch um ausländische Investoren in Deutschland wiederverstärkt zurückzugewinnen.
Angesichts der vielen, nicht immer ganz redlichenKritik bitte ich zu beachten, es gilt jetzt nicht mehr, wasviel zu lange galt: Eine Reform wird vorgeschlagen, be-redet, zerredet, und am Ende bleibt alles beim alten, soschlecht es auch war.
Die Wirtschaft darf davon ausgehen, daß diese Bun-desregierung grundlegende Reformen nicht nur will,sondern sie endlich durchführt,
und zwar nicht etwa, um die Wirtschaft und die Gesell-schaft zu ärgern, sondern um sie in eine sichere Zukunftzu führen.
Matthias Wissmann
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– Haben Sie Angst vor einer sicheren Zukunft?
Das gilt auch für die sogenannte Ökosteuer. Wir le-ben in einer sozialen Marktwirtschaft, die marktgesetz-lich peu à peu an Substanz verliert. Der Faktor Arbeit istsehr teuer geworden. Der Faktor Kapital steht im inter-nationalen Wettbewerb. Diese beiden Faktoren Kapitalund Arbeit sind nicht mehr so stabil in den Prozeßder sozialen Marktwirtschaft eingebunden, wie es einesichere Zukunft erfordert.Tatsächlich besteht aber jeder Produktionsprozeß ausdrei Faktoren: Arbeit, Kapital und Natur – Natur inForm von Boden, Luft, Wasser oder auch zum BeispielEnergie. Man kann auch diesen dritten Faktor als Quelleder Staatsfinanzierung benutzen, also zum Beispiel denEnergieverbrauch besteuern. Dafür trete ich ein, voraus-gesetzt, diese zusätzliche Steuereinnahme wird voll vonder Belastung der Faktoren Kapital und Arbeit abgezo-gen, jetzt vor allem von den Kosten des Faktors Arbeitim Prozeß.
Ich darf Ihnen versichern: Die Bundesregierung wirdbei dieser Reform umsichtig vorgehen. Sie wird bei-spielsweise darauf achten, daß keine internationalenWettbewerbsnachteile und auch keine unzumutbarenHärten für die Betriebe entstehen.Bei meinem ersten Gespräch mit Wirtschaftsverbän-den hörte ich zur Ökosteuer nur Kritik. Am Ende standdas vermeintlich stärkste Argument: Wenn die Öko-steuer wirklich Lenkungswirkung entfaltet, dann zerbrö-selt die Steuerbasis. Dem entgegne ich: Wenn das einesferneren Tages auf Grund der Besteuerung des Natur-verbrauchs eintritt, dann passiert genau das, was bei denFaktoren Arbeit und Kapital in den letzten Jahren zu-nehmend schon passiert ist.Der fundamentale Unterschied ist: Es muß mit allerMacht verhindert werden, daß sich die Einbindung vonKapital und Arbeit in das System der sozialen Markt-wirtschaft weiter lockert. Denn das wäre eine immer ge-fährlicher werdende negative Entkoppelung. Wenn sichder Wirtschaftsprozeß aber längerfristig vom zuneh-menden Naturverbrauch entkoppelt, so ist das einesehr positive und sehr wünschenswerte Entkoppelung.
Die Bewertung der Natur als eigenständigen Faktorbewirkt ein neues Denken mit vielen Chancen für dieRenaissance der sozialen Marktwirtschaft.Auch vor diesem Hintergrund ist es kein gesell-schaftspolitischer Zufall, daß eine Partei Regierungsver-antwortung trägt, die sich als Anwalt der Natur bildete,als die wenigen Anwälte der Natur in den anderen Par-teien noch milde belächelt wurden. Ich sehe der Zu-sammenarbeit mit den Grünen mit sehr viel Zuversichtentgegen.
Manche erwarten – vielleicht sogar mit Vorfreude –, daßdiese Zusammenarbeit schwierig wird, zum Beispiel aufdem Feld der Energiepolitik. Das sehe ich zur Zeit nichtso.
Aber ich will Ihnen die Vorfreude nicht nehmen; siebleibt im Leben oft das einzige.
Lassen Sie mich am Beispiel Kernenergie erklären,wie ich mir die Kooperation mit der Wirtschaft vorstelle.Die Wirtschaft forderte das Offenhalten aller Ener-gieoptionen, insbesondere der Kernenergieoption, undTeile der Politik schlossen sich dieser Forderung an.Dann fragte die Politik die Wirtschaft: Was wollt ihrdenn konkret dafür tun? Die Antwort der Wirtschaftlautete: jedenfalls auf Jahrzehnte hin kein Kernkraftwerkbauen.Ich will für Forderungen der Wirtschaft, wenn siestimmig sind, dann gerne den Kopf hinhalten – auch insehr streitigen Kontroversen –, wenn ich zuvor sicherge-stellt habe, daß die Wirtschaft mich hernach nicht mehrim Regen stehen lassen kann.
Nochmals beispielhaft: Wenn ein Kernkraftwerksbe-treiber von mir das Durchsetzen einer Laufzeit von 60Jahren fordert, dann würde ich ihm am liebsten ersteinmal die Garantie abnehmen, daß er dieses Kernkraft-werk dann auch zwangsweise 60 Jahre betreibt. Ichweiß, das geht nicht. Aber wir sind uns alle einig: DieFrage wäre vom Tisch.Ich möchte also redlichen Klartext. Die Bundesregie-rung wird nach einem Jahr das Betreiben von Kern-kraftwerken hierzulande per Gesetz entschädigungsfreiin einen vernünftigen Auslaufprozeß überführen, dereinigen zentralen Kriterien genügt:Erstens. Die deutsche Energieversorgung bleibt vor-ausschauend versorgungssicher und international wett-bewerbsfähig.Zweitens. Die Kapitalkraft der deutschen Energiever-sorger bleibt erhalten und wird für eine neue Investiti-onsoffensive genutzt.Drittens. Die Energieversorgung bekommt zuneh-mend zukunftsfähige Strukturen.Viertens. Die Energieversorger und der Handel mitEnergie gewinnen wieder eine breite gesellschaftlicheAkzeptanz.
Bundesminister Dr. Werner Müller
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202 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998
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Es ist meine ganz feste Absicht, das vorzulegendeKernenergiebeendigungsgesetz zu einem besonders gu-ten Beispiel der Kooperation von Wirtschaft und Politikzu machen.Das neue Bundesministerium für Wirtschaft undTechnologie wird dafür sorgen, daß der Wettbewerb alsMotor von Innovationen und Investitionen funktionsfä-hig bleibt. Hier spielen in meinem Geschäftsbereichauch das Bundeskartellamt und die Regulierungsbehördefür Telekommunikation und Post eine weiterhin unver-zichtbare Rolle.Innovationen werden darüber hinaus mit unserer For-schungs- und Technologiepolitik gezielt gefördert undvorangetrieben. Die Außenwirtschaftsabteilung meinesHauses wird sich auch künftig dafür einsetzen, daß dieMärkte weltweit offen bleiben. Das BMWi wird die Au-ßenwirtschaftsförderung weiter modernisieren. Die effi-ziente Hilfestellung für deutsche Unternehmen auf allenMärkten ist unverzichtbarer Teil unserer Wirtschaftspo-litik.
Daß Arbeitsplätze entstehen, ist das überragendeZiel unserer Politik für das Handwerk, den Mittelstandund die Industrie – und das alles namentlich in den neu-en Bundesländern. Dafür werde ich in den fünf Europäi-schen Räten – für den Binnenmarkt, für Verbraucher, fürEnergie, für Industrie und für Telekommunikation – ak-tiv eintreten.In der Mittelstandspolitik sind mir folgende Aspektebesonders wichtig: die verbesserte Finanzierung innova-tiver Vorhaben mit Risikokapital zum Beispiel durchWagnisfonds, ein besseres Klima für Existenzgründer,auch an Schulen und Hochschulen, das Einrichten ge-zielter Starthilfen und die Bündelung und Konzentrationder bisher doch sehr verzettelten Mittelstandsförderung.
Positive Auswirkungen auf die Investitionsbereit-schaft von kleinen und mittleren Unternehmen erwarteich von einer Zinssenkung bei den ERP-Förderkrediten.Ich habe deshalb entschieden, daß die Zinssätze für neueERP-Kredite ab sofort um einen halben Prozentpunktauf 4,25 Prozent bzw. in den neuen Ländern auf3,75 Prozent zurückgenommen werden.
Bei innovativen Vorhaben sind die Konditionen zumTeil noch günstiger.Im Mittelstand entstehen viele neue Arbeitsplätze imBereich der neuen Techniken, der Information undKommunikation. Nirgendwo sehen wir das zur Zeitdeutlicher als bei den privaten Telefondienstleistern.Den Wettbewerb brauchen wir dort auch in Zukunft. Esdarf aber nicht zu einer Schieflage zwischen den Unter-nehmen kommen, die in eigene Netze investieren, unddenen, die diese Netze lediglich zur Durchleitung ihrerGesprächsminuten nutzen.
Die Nutzungsentgelte müssen stimmen. Hier ist die Re-gulierungsbehörde für Post und Telekommunikation amBall. – Eine differenzierte Regulierung der Nutzungs-entgelte will ich für die Zukunft nicht ausschließen.Die Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrie zu stär-ken ist ein wichtiges Element meiner Aufgaben. In derLuft- und Raumfahrt kommt es jetzt darauf an, die Inte-gration in Europa weiter voranzutreiben und die Rah-menbedingungen weiter zu verbessern, auch durchnachhaltige Förderung. Im Schiffbau gilt es, die interna-tionalen Wettbewerbsverzerrungen abzubauen und dieForschung auszubauen.Industriepolitik heißt für mich vor allem, branchen-übergreifende Standortbedingungen für die deutsche In-dustrie zu verbessern. Der Technologiepolitik kommtdabei eine besondere Rolle zu. Ich will sie konzeptionellauf Zukunftstechnologien und die Förderung von klei-nen und mittleren Unternehmen ausrichten.
In der Außenwirtschafts- und in der Handelspolitikwerde ich auf eine neue, umfassende multilaterale Ver-handlungsrunde unter dem Dach der WTO hinwirken.Die Werbung für unser Land als Ziel ausländischer Di-rektinvestitionen soll verstärkt werden.Meine Damen und Herren, allen Kritikern undZweiflern möchte ich deutlich sagen: Hier steht derBundeswirtschaftsminister. Sie werden sich noch freuenüber das, was alles die Mitarbeiter des Wirtschafts- undTechnologieministeriums in den nächsten vier Jahren anInitiativen entfalten werden – für die Industrie, denMittelstand, das Handwerk, für Produzenten und Kon-sumenten, kurzum: für die Wirtschaft und die Menschenin unserem Lande. Wir werden neue Wege wagen undZukunft gewinnen.Vielen Dank.
Das Wort hat der
Kollege Paul Friedhoff, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Der Bundeskanzler hat in seiner Regie-rungserklärung nach Kräften versucht, der deutschenWirtschaft die Besorgnis zu nehmen, hier insbesondereden mittelständischen Unternehmen. Dies ist ihmgründlich mißlungen, wie die Reaktionen in der Öffent-lichkeit zeigen.Herr Minister Müller, auch Ihre Bekenntnisse zur Zu-kunft und zum Aufstieg sind schöne Worte. Wir werdenBundesminister Dr. Werner Müller
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aber konkrete Taten sehen müssen. Das, was wir bislangdazu gehört haben, wird dem, was Sie hier gesagt haben,nicht gerecht.
Von dem, was Sie zur Telekommunikation gesagthaben, glaube ich nicht, daß es ermutigende Worte fürUnternehmensgründer gerade in diesem Bereich waren,nämlich in dem Bereich von Dienstleistungen. Sie soll-ten sich noch einmal gut überlegen, was auf diesem Ge-biet in Ihrem Hause offensichtlich angedacht wird.
In vielen kleinen und mittleren Unternehmen gehtnämlich schon wenige Tage nach der Amtsübernahmevon Rotgrün mehr die Angst um. Wenn ich „in den klei-nen und mittleren Unternehmen“ sage, dann meine ichnicht nur die Unternehmer selbst, sondern auch die Be-schäftigten, denn deren Arbeitsplätze sind von der Wett-bewerbsfähigkeit dieser Betriebe abhängig, und diescheint nicht gestärkt zu werden. Statt dessen hat derBundeskanzler jede Warnung vor den verheerendenFolgen Lafontainescher Wirtschaftspolitik wieder ein-mal in rhetorische Heißluft aufgelöst. Der angeblicheSchröder-Aufschwung entpuppt sich schon in den erstenTagen als ziemlich lahme Ente. Das Problem des Kanz-lers ist, daß selbst die begabtesten politischen Darstellerauf Dauer der harten ökonomischen Realität nicht aus-weichen können.
Konkrete wirtschaftspolitische Antworten sind ge-fragt. Die hören wir aus dem Regierungslager bisher nurvom Finanzminister, der die Richtlinienkompetenzschnellstens an sich gezogen hat. Wo bleibt das Macht-wort des Bundeskanzlers, wenn Herr Lafontaine die Un-abhängigkeit der Zentralbank in Frage stellt und denMittelstand mit seinen Steuerplänen an die Wanddrückt?
Sind das die Zeichen der Neuen Mitte? Die rotgrüneBundesregierung vollzieht gerade einen grundlegendenKurswechsel der Wirtschaftspolitik, sozusagen einen Pa-radigmenwechsel. Wir stehen vor einem elementarenBruch mit den Traditionen der sozialen Marktwirtschaft.Ich will das an drei Punkten festmachen.Erstens. Die Unabhängigkeit der Bundesbank ist vordem Hintergrund von zwei Inflationen in diesem Jahr-hundert immer ein Fixpunkt deutscher Nachkriegspolitikgewesen. Eine stabile Währung ist Grundvoraussetzungfür solides Wirtschaftswachstum, für soziale Sicherheitder Bürgerinnen und Bürger und für mehr Beschäfti-gung. Eine laxe Geldpolitik führt hingegen allenfalls zukonjunkturellem Strohfeuer und dann geradewegs in dieInflation.
Die Inflation trifft gerade die Schwächeren in der Be-völkerung. Deshalb ist die Lafontainesche Inflationspo-litik zutiefst unsozial.
Für die F.D.P. war der Abschied von der D-Mark nurunter der Voraussetzung strikter Geldwertstabilität ak-zeptabel. Der Euro muß genauso hart werden wie die D-Mark.
Dafür haben wir Deutschen jahrelang in Europa gewor-ben, und wir haben unsere europäischen Partner über-zeugen können. Doch jetzt setzt die rotgrüne Bundesre-gierung die Stabilität des Euro leichtfertig aufs Spiel.Wirtschaftspolitische Reformen setzt sie nicht fort, siedreht vielmehr zurück. Statt dessen will sie lieber dieGeldversorgung politisch manipulieren. Inflation stattReformen, das ist letztendlich das wirtschaftspolitischeund währungspolitische Kredo der rotgrünen Bundesre-gierung. Deshalb attackiert das Lafontainesche Küchen-kabinett die Bundesbank in einer Weise, die ohne Bei-spiel ist.
Deutschland war bisher der politische Garant für dieUnabhängigkeit der EZB und die Stabilität des Euro.Soll es nun damit vorbei sein? Meine Damen und Her-ren, die deutsche Öffentlichkeit muß jetzt wachsam sein.Wir brauchen eine Protestbewegung gegen die drohenderotgrüne Destabilisierung des Euro.
Zweitens. Nie zuvor ist eine Bundesregierung mit ei-nem derart mittelstandsfeindlichen Wirtschaftspro-gramm angetreten.
Man kann es drehen und wenden, wie man will: Die Ze-che für die sogenannte Steuerreform wird natürlich vonden kleinen und mittleren Unternehmen bezahlt werden.Die Verteuerung der Energiekosten wird diese Betriebebelasten. Eine adäquate Kompensation ist nicht in Sicht.Es wird zur Hatz auf sogenannte Scheinselbständige ge-blasen, um Löcher in der Rentenversicherung zu stop-fen, die die rotgrüne Regierung durch die Rücknahmeder Rentenreform selber aufreißt. Aus diesem Grundwerden auch die geringfügigen Beschäftigungsverhält-nisse drastisch eingeschränkt. So wird der deutschenWirtschaft gerade im Kleingewerbe und bei den Dienst-leistungen eine unverzichtbare Flexibilitätsreserve ge-nommen.Meine Damen und Herren von der rotgrünen Bundes-regierung, so machen Sie Beschäftigungschancen zu-nichte. Sie sind gerade dabei, ein gigantisches Pro-gramm zur Förderung der Schwarzarbeit aufzulegen.
Paul K. Friedhoff
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204 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998
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Wir haben den Kündigungsschutz reformiert und da-mit vor allem den kleinen Betrieben geholfen. Rotgrünnimmt die Reform zurück. Wir haben die Lohnfortzah-lung im Krankheitsfall reformiert, und damit zu einermassiven Kostenentlastung für die deutschen Unterneh-men beigetragen. Rotgrün nimmt die Reform zurück.Wir haben eine demographische Formel in die Renten-versicherung eingeführt, um die Lohnzusatzkosten se-riös zu senken und die Renten auf Dauer sicher zu ma-chen. Rotgrün nimmt die Reform zurück.
Damit wird kein Arbeitsloser in Deutschland neue Be-schäftigung finden. Mehr Menschen werden um ihrenArbeitsplatz fürchten müssen.
Drittens: Das Bundeswirtschaftsministerium, meineDamen und Herren, hat seit der Zeit Ludwig Erhardseine zentrale ordnungspolitische Funktion innerhalb derBundesregierung und darüber hinaus. Das war für dieGegner der sozialen Marktwirtschaft schon immer einÄrgernis. Aus diesem Grund hat der Finanzminister ei-nen strategischen Schlag gegen das Ministerium geführt.Wichtige Bereiche werden aus dem Ministerium heraus-gelöst und in das Finanzministerium übertragen. Damitwird das marktwirtschaftliche Wächteramt des Wirt-schaftsministeriums untergraben, und der Weg wird freifür Dirigismus und staatliche Ausgabenprogramme. Zu-gleich wird eine Art Nebenkanzleramt für Herrn Lafon-taine geschaffen.
Ich will im Namen meiner Fraktion den Mitarbeiterndes Wirtschaftsministeriums danken, die wegen ihrermarktwirtschaftlichen Überzeugung das Haus verlassenmüssen oder ins Abseits gestellt werden. Das gilt insbe-sondere für Herrn Staatssekretär a. D. – so muß ich jetztsagen – Klaus Bünger und für Herrn Professor Schatz,den früheren Vizepräsidenten des Kieler Instituts fürWeltwirtschaft, die aus dem Ministerium ausscheidenmüssen, um dem neuen Vulgär-Keynesianismus nichtim Wege zu stehen.
Meine Damen und Herren, der keynesianischeStaatsinterventionismus wird heute nur noch von weni-gen Außenseitern unter den Ökonomen als tragfähigesKonzept betrachtet. Keynes hatte seine Theorien im üb-rigen unter dem Eindruck der extremen Deflation Endeder 20er, Anfang der 30er Jahre verfaßt. Damals sankdas Preisniveau in Deutschland Jahr für Jahr um durch-schnittlich 7 Prozent; das Bruttosozialprodukt ging umdurchschnittlich 4 Prozent zurück. Die damalige volks-wirtschaftliche Situation auf die Gegenwart zu übertra-gen ist völlig absurd. Die Konjunktur in Europa und denUSA ist bisher trotz Asien- und Rußlandkrisen stabilund die Geldpolitik alles andere als restriktiv.Meine Damen und Herren, es gibt keine allgemeineNachfrageschwäche in Deutschland. Die Probleme aufdem Arbeitsmarkt sind nicht durch zu hohe Zinsen ver-ursacht. Die Probleme auf dem Arbeitsmarkt hängen mitden hohen Kosten für den Faktor Arbeit zusammen undvor allem damit, daß der Arbeitsmarkt durch Staatsein-griffe und das Tarifkartell fast zu Tode reguliert wordenist.
Diese Strukturprobleme sind nur durch einen marktwirt-schaftlichen Reformkurs für mehr Wettbewerbsfähig-keit zu beheben.
Davon aber will die rotgrüne Bundesregierung nichtswissen. Die Folgen für den Arbeitsmarkt werden verhee-rend sein.Unter diesem Vorzeichen kann auch das vieldisku-tierte Bündnis für Arbeit nur ein Fehlschlag werden. Esmüßte bedeuten: Senkung der Arbeitskosten und Dere-gulierung der Arbeitsmärkte. Die rotgrüne Regierungmacht gerade das Gegenteil. Es müßte bedeuten: lohn-politische Zurückhaltung, um den Produktivitätsfort-schritt für Neueinstellungen nutzen zu können. Aber derneue Finanzminister und die Gewerkschaften verkündenschon seit Monaten das Ende der Bescheidenheit. EinBündnis für Arbeit müßte bedeuten: Reform der Flä-chentarife, um den Betrieben mehr Gestaltungsspiel-raum zu geben. Aber davon sind wir weiter entferntdenn je.Die rotgrüne Koalition hat den Bürgern viel verspro-chen, vor allem einen spürbaren Abbau der Arbeitslo-sigkeit. Mit dieser Reformverweigerung wird der Abbauder Arbeitslosigkeit nicht gelingen.
Sie verderben es sich mit denen, die Arbeitsplätze schaf-fen. Mit denen müssen Sie aber zusammenarbeiten, dennnur, wenn sie die Arbeitsplätze schaffen, können Sie Ih-re Versprechen auch erfüllen.
Meine Damen und Herren, mit Blick auf die verhee-rende Kehrtwende in der deutschen Wirtschaftspolitikwird in diesen Wochen ständig über den neuen Finanz-minister gesprochen und geschrieben. Dabei hatDeutschland auch einen neuen Wirtschaftsminister.Wir haben ihn ja eben hier erlebt. Müller heißt er, mitVornamen übrigens Werner und nicht etwa Christa.
Man muß das immer wieder sagen, auch wenn Ihnen dasnicht paßt. Es ehrt Herrn Jost Stollmann, daß er schließ-lich doch noch erkannt hat, auf welches Spielchen ersich mit Rotgrün eingelassen hätte.
Paul K. Friedhoff
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Er hätte aber gut daran getan, vorher einmal das SPD-Programm wirklich zu lesen. Herr Minister Müller hat esnach eigenem Bekunden gelesen, und er betont gern,wie gut er sich mit Finanzminister Lafontaine versteht.
Ich zitiere ihn aus der „Frankfurter Allgemeinen Zei-tung“ vom Dienstag dieser Woche: „Wir verstehen unsprima, lachen auch viel miteinander.“
Wir gönnen es Ihnen ja, Herr Minister, wenn Ihrmenschliches Harmoniebedürfnis durch den Finanzmi-nister befriedigt wird. Aber haben Sie schon einmal dar-über nachgedacht, daß diese Harmonie vielleicht etwasmit der völligen Entmachtung des Wirtschaftsministe-riums zu tun haben könnte? Alle Vorhaben des Hauses,so hört man jetzt aus dem Wirtschaftsministerium, sol-len eng mit dem Kanzleramt abgestimmt werden, wobeies keine Konfrontation mit dem Finanzministerium ge-ben dürfe. Ist Ihnen wirklich nicht bewußt, Herr Mi-nister Müller, welche klägliche Nebenrolle Ihnen in die-sem Spiel dann zugestanden wird, daß Sie in die Wirt-schaftsgeschichte der Bundesrepublik als derjenige Mi-nister eingehen werden, der für den Abgesang auf diegroße Tradition Ludwig Erhards stehen wird?
Drohende Gefährdung der Geldwertstabilität, Raub-zug gegen die kleinen und mittleren Betriebe, Wende zueiner neuen Politik des Staatsinterventionismus: Be-kommen Kanzler und Wirtschaftsminister eigentlichnicht mit, was in der Wirtschaftspolitik hier jetzt wirk-lich angerichtet wird? Soll das die Politik der NeuenMitte sein? Oder: Wo ist der Kanzleramtsminister Hom-bach? Schreibt er gerade an einem neuen Buch über dieAngebotspolitik? Ich bin einmal gespannt, was dabeialles noch herauskommt.Besonders gespannt darf man ja auch auf die konkre-ten Entscheidungen in der Energiepolitik sein. Im Kerngeht es der neuen Regierung offenbar dabei um dreiDinge: erstens Änderung des Energiewirtschaftsgesetzesmit dem Ziel der Beschränkung des Wettbewerbs, dernun einmal eingetreten ist, zweitens Verteuern vonEnergie durch Einführung von Ökosteuern und drittensschnellstmöglicher Ausstieg aus der Kernenergie. ImErgebnis führen diese Maßnahmen zu Mehrbelastungenfür sämtliche Energieverbraucher, für die Industrie, fürden Mittelstand und für die privaten Haushalte, mit allden negativen Folgen für die Wettbewerbsfähigkeit un-serer Wirtschaft und die Arbeitsplätze in Deutschland.Meine Damen und Herren, die Wirtschaftspolitik derrotgrünen Bundesregierung wird gerade den neuenLändern schweren Schaden zufügen. Denn die neuenBundesländer werden ihren wirtschaftlichen Aufbaupro-zeß nur dann verstetigen können, wenn die Rahmenbe-dingungen für unternehmerisches Engagement verbes-sert werden. Die bisher geleistete Aufbauarbeit war einebeispiellose Gemeinschaftsleistung der Menschen in denalten und in den neuen Bundesländern. Jetzt brauchendie neuen Länder die Freiheit, um ihre Leistungskraftauch ausspielen zu können. Das rotgrüne Experimentwird diese Freiheit nicht zulassen. Deshalb ist diesesExperiment für Deutschland so fatal, für die neuen wiefür die alten Bundesländer, für die Bürger und für dieUnternehmen, für die Rentner und die Sparer und vorallem für die, die keine Arbeit haben, die Arbeitslosen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetztder Kollege Werner Schulz, Bündnis 90/Die Grünen.Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren!Die Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers undauch Ihre Rede, Herr Bundeswirtschaftsminister Müller,haben deutlich gemacht: Wir haben nicht nur eine neueRegierung, sondern wir bekommen auch eine neue, mo-derne und vor allen Dingen unideologische Wirtschafts-politik.
Ich wünsche Ihnen, Herr Minister Müller, eine glückli-che Hand und viel Erfolg bei der Führung Ihres um-strukturierten Hauses, in dem – zumindest war das zu le-sen – künftig nicht mehr Beethovens Neunte, sondernseine Chorphantasie Opus 80 zu hören sein wird, bei derSie sowohl den Taktstock führen, als auch die richtigenTöne anschlagen wollen – bei großem Chor und hof-fentlich nicht mit allzu vielen externen Solisten. Alsoviel Erfolg bei den konzertierten Aktionen, die Sie vor-haben!
Sie haben wiederholt betont, daß Sie fest auf demBoden der sozialen Marktwirtschaft stehen. Ich glaube,das ist ein guter Ausgangspunkt. Also machen wir unsauf, gemeinsam Neuland zu beschreiten, beginnen wireine ökologisch-soziale Wirtschaftspolitik! Da Sieauch an der Abwicklung der Kernenergie beteiligt sind,haben wir gleich am Anfang eine große, anspruchsvollegemeinsame Aufgabe.Während von Ihrem Vorgänger nur der Satz hängen-bleiben wird, daß die Wirtschaft in der Wirtschaft statt-findet, wollen wir als rotgrüne Koalition den Beweisantreten, daß auch Ökologie in der Wirtschaft stattfindet.Wir brauchen den Aufbruch eines klassischen Indu-strielandes auf der Basis ökologischer Innovationen.Denn nur durch nachhaltiges Wirtschaften werden wirauf Dauer den gesellschaftlichen Wohlstand sichernkönnen, ohne unsere Lebensgrundlagen zu zerstören.
Paul K. Friedhoff
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Unsere Koalition beginnt ihre Arbeit in einer sehrschwierigen weltwirtschaftlichen Situation. Auch wenndie Krisen in Asien, Rußland, Lateinamerika nichtmehr die Schlagzeilen beherrschen, bewältigt sind siedamit noch nicht. Die Weltbörsen scheinen zwar zurNormalität überzugehen; die Politik aber kann es nicht.Absatz und Gewinn vieler deutscher Unternehmen sindvon den weltwirtschaftlichen Turbulenzen betroffen.Der Export ist ins Stottern geraten und mit ihm die zag-hafte konjunkturelle Entwicklung.Manch einer sieht diese deflationären Tendenzen ausSüdostasien bereits nach Amerika bzw. Europa über-schwappen. Das scheint mir allerdings übertrieben zusein. Wir haben in Europa kein sinkendes Preisniveau.Wir haben zwar stellenweise ein zu geringes, aber den-noch klar erkennbares Wachstum und eine hinreichendeAusweitung der Geldmenge. Zudem gibt es im Zuge derZinskonvergenz einen ständigen Prozeß der Zinssen-kung in Europa. Insofern schießen die diesbezüglichenIdeen der letzten Tage über das Ziel hinaus.Wenn auch die Gefahr einer deflationären Entwick-lung gering ist, treffen uns diese Turbulenzen in einerSituation, die von schwacher Binnenkonjunktur und ei-ner unakzeptabel hohen und verfestigten Arbeitslosig-keit gekennzeichnet ist. Unsere Antwort auf das ver-schlechterte Weltwirtschaftsklima muß deswegen einestarke, europäisch ausgerichtete Wirtschafts- und Be-schäftigungspolitik sein. Eine wesentliche Vorausset-zung dafür ist die planmäßige und möglichst störungs-freie Einführung eines stabilen Euro.Früher wurden den neuen Bundesregierungen die er-sten hundert Tage als Schonzeit angerechnet. Aber diesealten Gepflogenheiten scheinen nicht mehr zu gelten.Heute hat man eher den Eindruck, daß etliche Kritikerden Abschlußtermin des Wahlkampfes verpaßt haben.
Doch mit oder ohne Schonzeit: Diese Regierung schontsich nicht. Oder haben Sie, meine Damen und Herren,die Sie in 16 Jahren mit vier Regierungsbildungen be-auftragt wurden, schon einmal erlebt, daß eine Regie-rung so schnell im Amt war, so zügig ihre Arbeit aufge-nommen hat und so schnell die ersten Schritte in dieWege geleitet hat?
– Ob Ihnen das gefällt, ist eine andere Frage.Wir stimmen durchaus mit solchen Meinungen wieder von Herrn Schleyer, dem Generalsekretär des Zen-tralverbandes des Deutschen Handwerks, überein, dersagt: Die Politik darf sich nicht noch weiter vom Zielentfernen, die Arbeitslosigkeit wirksam zu bekämpfen. –Weil die alte Koalition dabei völlig versagt hat, ist siedoch abgewählt worden.
Sie haben doch im Kampf gegen die Arbeitslosigkeitversagt, am Ende sogar vor ihr kapituliert. Mit Sozialab-bau, mit Deregulierung, mit Privatisierung waren dieseProbleme eben nicht zu lösen. Von tatsächlicher Wirt-schaftspolitik und wirtschaftlicher Rahmensetzung warjedenfalls nicht allzuviel zu merken.Die Massenarbeitslosigkeit und die uneingelöstenVersprechen beim Aufbau Ost waren doch – neben demWunsch nach einem Kanzlerwechsel – die eigentlichenHauptgründe für diese Wahlniederlage. Genau hier, beidiesen Erwartungen, wollen wir unsere Schwerpunktesetzen. Deswegen hat die neue Bundesregierung gleichan den Anfang ein Bündnis für Arbeit und Ausbil-dung gesetzt. Walter Riester hat schon gestern die we-sentlichen Punkte betont: ein Sofortprogramm, das100 000 Jugendliche in Arbeit und Ausbildung bringenwird, Ausbildungsplatzgarantie, neue Spielräume fürArbeitszeitverkürzung und eine Senkung der gesetzli-chen Lohnnebenkosten von momentan 42,3 Prozent aufunter 40 Prozent durch eine ökologische Steuerreform.Ich habe ein Zitat von Herrn Peter Repnik vom19. Mai 1995 gefunden:Eine umweltorientierte Strukturreform des Steuer-systems eröffnet für die Unternehmen langfristigeWachstumschancen.Vor Jahren haben Sie es doch noch gewußt! Wieso istdieses Wissen plötzlich verschüttgegangen?
Es ist also völlig unvernünftig, wenn Hundt und Henkelund Stumpfe und Stihl jetzt Front gegen die Ökosteuermachen. Ich glaube, hier haben wir viel Überzeugungs-und Aufklärungsarbeit zu leisten. Diese Verbandsver-treter reden momentan gegen ihre eigenen Interessen.
Die Perspektive liegt in der Kombination von Ar-beit und Umwelt. Wir führen kein neues Abkassier-oder Umverteilungsinstrument ein. Wir wollen umsteu-ern und nicht so weiterrudern wie Sie in der Wirt-schaftspolitik. Das ist der eigentliche Punkt.
Hier wird eine Offensive für neue Märkte, für neueProdukte, für neue Arbeitsplätze eröffnet, wenn Sie sowollen: auch für neue Berufsbilder. Deutschland kannund wird und muß ein Testmarkt für Energieeinspar-technologien und regenerative Energien werden. Ich ap-pelliere hier deutlich an die Wirtschaft: Nehmen Sie dieSignale ernst und stellen Sie sich darauf ein, daß erfolg-reiches Wirtschaften in Zukunft mehr und mehr ökologi-sches, also nachhaltiges Wirtschaften sein wird. Daswird sich für Sie lohnen.
Die Steuerentlastungsgesetze der rotgrünen Regie-rung dienen der Verbesserung von Wachstum und Be-Werner Schulz
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schäftigung. Die Investitionskraft der Unternehmen wirdgestärkt und die Binnennachfrage belebt. Auch wennIhnen das zuwenig erscheint: Es ist eine seriöse Steuer-entlastung und eben nicht die Petersberger Wundertüte,die Sie ausschütten wollten. Wir haben keinen vollenJackpot geerbt, sondern leider nur die altbekannte Wai-gel-Melodie: „Wenn der Topf aber nun ein Loch hat ...“Das ist die Situation. Wir haben eine Steuerreform vor,die der derzeitigen Haushaltslage gerecht wird.Abgesehen davon, daß die alte Regierung leider nichtden Mut hatte, Ostdeutschland als Niedrigsteuergebieteinzustufen, bringt diese Steuerreform vor allen Dingenden neuen Bundesländern klare Vorteile, weil damit ar-beitsplatzschaffende Investitionen gefördert werden.Ich will allerdings nicht verschweigen, sondern kri-tisch anmerken, daß wir mit der Streckung von Steuer-abschreibungsmöglichkeiten bei Baudenkmälern und derStreichung bei der Altbausanierung Gefahr laufen, einenwichtigen Prozeß zu verlangsamen: den der Stadterneue-rung und Wohnungsmodernisierung, was der ohnehinangeschlagenen ostdeutschen Bauindustrie nicht geradezugute kommen wird. Denn wenn der Aufbau Ost inder Vergangenheit sichtbar wurde, dann durch die Er-neuerung der Städte und Kommunen.Ich komme aus Leipzig, einer Stadt, die offenbarmehr Baudenkmäler hat als ganz Nordrhein-Westfalen,wie ich überraschenderweise aus dem Schleußer-Ministerium gehört habe. Das sollten wir aber nicht alsZumutung begreifen, sondern als eine Herausforderung,eine Chance. Die deutsche Einheit hat uns die Möglich-keit gegeben, diese Kleinodien zu erhalten. Das kanndoch nicht nur Herr Dr. Jürgen Schneider kapiert haben.Leipzig hat noch immer die größten Gründerzeit-quartiere Europas. Hier läuft allerdings ein Wettlaufzwischen Erhalt und Zerfall. Nichts ist so gut, daß esnicht nachgebessert werden kann. In dieser Hinsichtmüssen wir uns die Steuerreform noch einmal genau an-schauen.
– Wir haben ein konstruktives Arbeitsverhältnis, dasauch Korrekturen zuläßt, Herr Ramsauer.Wenn wir schon Steuerabschreibungs- und Steuer-sparmodelle ausdünnen, dann sollten wir auf zielgenaue-re Investitionen achten und bei dieser Gelegenheit viel-leicht eine klare Trennung zwischen Steuer- und Förder-recht im Wohnungsbau schaffen.
In den vergangenen acht Jahren ist in den neuen Bun-desländern viel erreicht worden. Die Ostdeutschen ha-ben auf allen Gebieten beeindruckende Aufbauleistun-gen erbracht. Die Bürger Westdeutschlands und auch dieBundesregierung – ich sage das ganz bewußt: auch dieBundesregierung – haben das wirksam unterstützt. Ichhabe das trotz der Kardinalfehler in den ersten Jahrender deutschen Einheit immer zu würdigen gewußt –ganz im Gegensatz zu manchen aus der PDS-Opposition, die jetzt Regierungsverantwortung inMecklenburg-Vorpommern übernommen haben unddort vielleicht auf ihre eigenen Schadenshinterlassen-schaften stoßen werden.Wir werden die Aufbauhilfen fortsetzen. Doch damitkönnen und werden wir uns nicht zufriedengeben. Spä-testens seit 1996 stagniert der wirtschaftliche Auf-holprozeß Ostdeutschlands.Das Bruttoinlandsprodukt verharrt bei 56 Prozent, dieArbeitsproduktivität bei knapp 60 Prozent, und auch derKapitalstock wächst nicht mehr schneller als der west-deutsche. Gerade die Unterkapitalisierung Ostdeutsch-lands ist ja ein Grund für die hohe Arbeitslosigkeit.Wir werden deswegen den Aufbau Ost ohne Wennund Aber fortsetzen. Wir machen aber keine unhaltbarenVersprechungen. Die neue Bundesregierung wird nichtmit der vollen Gießkanne über die Landschaften gehenkönnen und die in den Sand gesetzten Projekte zumBlühen bringen. Doch wenn wir von den neuen Bun-desländern sprechen, dann sollten wir dafür sorgen, daßsie die modernsten, daß sie die zukunftsfähigsten Bun-desländer werden. Nur dann macht der Begriff Sinn.Deswegen sind bessere Bedingungen für Investitionenund Innovationen für den Osten von besonderer Bedeu-tung. Wir haben das im Koalitionsvertrag durch ein spe-zielles Programm „Zukunft Ost“ unterstrichen.Meine Damen und Herren, ich glaube nicht an dieMauer in den Köpfen. Wir müssen eher das Brett davorabstreifen. Wir können die mentalen Unterschiede nurüberwinden und produktiv machen, wenn wir aufeinan-der zugehen. Deswegen begrüße ich die Ankündigungdes Bundeskanzlers, daß das Kabinett regelmäßig in denneuen Ländern tagen wird, daß der Anspruch „Chefsa-che“ dahin gehend eingelöst wird und Gestaltungskraftbekommt, daß der Chef vor Ort sagt, was Sache ist, daßwir uns nicht bei Problembetrachtungen aufhalten, son-dern Problemlösungen anbieten. Wir werden Ihnen da-bei helfen, wir werden Sie dabei unterstützen, daß daseine Erfolgstournee wird, daß die Leute erkennen: Hierist eine handlungsfähige, eine leistungsfähige Regierungim Amt, die sich um die angestauten Probleme im Ostenkümmern wird. Ich begrüße das sehr.
Wir, die Koalitionsfraktionen, haben dazu einen Aus-schuß eingerichtet, der sich um die Angelegenheiten derneuen Bundesländer kümmern wird. Wir hätten ihnschon vor acht Jahren gebraucht, Herr Schäuble; wir wä-ren vielleicht an mancher Stelle weiter, wenn wir diesenAusschuß gehabt hätten. Denn der Aufbau Ost ist ebennicht nur ein Problem von Transferleistungen und Infra-strukturprojekten. Vielmehr ist es auch eine Frage, wiewir die kulturellen Besonderheiten, wie wir die Lebens-erfahrungen, wie wir die Wertevorstellungen in Ost undWest zusammenbringen und wie wir sie produktiv ma-chen. In diesem Sinne ist Wirtschaftspolitik eben auchGesellschaftspolitik.Werner Schulz
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Alle Akteure in unserem Land müssen ihre eigenenInteressen zurückstellen, damit die notwendigen Refor-men gelingen. Das ist so bei der Steuerreform, demBündnis für Arbeit und Ausbildung, dem Aufbau Ostund der Ökosteuer. Wir werden diese Reformen nur be-kommen, wenn einige bereit sind, auf ihre Maximal-positionen zu verzichten. Dann werden unter dem Strichalle profitieren.Die neue Bundesregierung ist entschlossen, den wirt-schaftlichen Rahmen zu setzen, um die Massener-werbslosigkeit abzubauen, um Investitionen und Inno-vationen in Gang zu bringen. Wenn ich mich recht ent-sinne, hat auch Kurt Biedenkopf einmal formuliert, daßdie ökologischen Grundlagen des Wirtschaftens als einZiel der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung festge-schrieben werden sollten. Es ist uns Bündnisgrünen ge-lungen und es der Wille der rotgrünen Koalition, denökologischen Strukturwandel zu einer Richtschnur deswirtschaftlichen Handelns der neuen Mehrheit zu ma-chen. Das ist ein wichtiger Paradigmenwechsel, den wirjetzt in die praktische Politik umsetzen.
Das Wort hat nun
der Kollege Rolf Kutzmutz, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr verehrteDamen und Herren! Folgt man den Worten des Bundes-kanzlers, so sind wir von einem „Standort“ jetzt in einen„Bewegungsort“ geraten. Es ist sicher, daß man einensolchen Wechsel nur unter der Voraussetzung begrüßenkann, Bewegung findet tatsächlich statt und die Rich-tung stimmt. Beides ist aber – das will ich hier deutlichsagen – bei der Wirtschaftspolitik bisher noch höchstungewiß, zumindest wenn man die Probleme der Unter-nehmen und Existenzgründer nicht nur durch eine fiska-lische Brille betrachtet.Da setzt meine Kritik an der Regierungserklärung an.Es ist alles zu sehr aus der fiskalischen Sicht betrachtetworden. Wenn es dabei bliebe, wäre das schon der An-fang vom Ende des beschworenen wirtschaftspolitischenAufbruchs oder Wiederaufstiegs. Der Herr Bundes-kanzler referierte ausgiebig über Steuerreformen undLohnnebenkosten. Die dabei vorgestellten Konzeptesind entgegen allen Ankündigungen teils unausgegoren,teils unökologisch, teils unsozial und damit letztlichauch wirtschaftspolitisch noch fragwürdig.
Sie folgen der schon seit Jahren schmerzhaft widerlegtenPhilosophie des Steuerns durch Steuern.Wirtschaftspolitik soll wieder gemacht werden, wur-de gesagt. Die Regierungserklärung und die Koalitions-vereinbarung erlauben bisher aber nur einen Schluß –ich verstehe die Aufregung des Kollegen Wissmannüberhaupt nicht –: Es ist alter Wein in neuen Schläu-chen. Herr Kollege Wissmann, was ist denn falsch anden Überschriften „moderne Mittelstandspolitik“, „we-niger Bürokratie“, „schnellere Innovation“, „bessererZugang zu neuen Technologien“, „effizientere Ver-marktung“ und „Hilfe und Unterstützung auf internatio-nalen Märkten“?All diese Fertigstücke waren auch schon in den ver-schiedenen Programmen und Erklärungen der alten Re-gierung enthalten. Das Problem sind doch nicht dieÜberschriften, sondern es liegt darin, wie man dieseÜberschriften ausfüllt. Dazu gibt es bisher noch keineKritik, weil noch keine Zeit war, sie auszufüllen.
Dabei hat der Bundeskanzler durchaus recht: SeineKoalition hat kein wohlbestelltes Haus übernommen.Deshalb müßte eine neue Architektur und nicht nur einbloßer Anstrich zu erwarten sein.Eines wundert mich nicht: Der Bundeskanzler hatvon der Kreativität und der Innovationsfreude der Exi-stenzgründer und Mittelständler geschwärmt. Geradedamit jedoch glänzte seine Fraktion in der letzten Wahl-periode nicht. Eher rochen die wirtschaftspolitischenVorstellungen und Vorschläge die der SPD, nach nochmehr Bürokratie und weniger Effizienz. Ich bin derMeinung, Sie haben jetzt die große Chance, endlich denGegenbeweis anzutreten.
Die PDS wird ihre seit Sommer 1997 auf dem Tischliegenden Vorschläge zum radikalen Umbau der Förder-kulisse neu einbringen. Ich freue mich, daß der Bundes-wirtschaftsminister das Unwesen im Fördermittelbereichangreifen will. Wirtschaftsförderung muß endlich beidenjenigen ankommen, die sie tatsächlich brauchen: beiden eigenkapitalschwachen Existenzgründern und denKleinunternehmern.
Sie muß sich endlich allein an dem Kriterium orientie-ren, das sie gerechtfertigt erscheinen läßt: an der Zahldauerhafter, soziale Sicherheit schaffender Arbeitsplät-ze.
Herr Kollege Schwanhold, am Montag haben mich 30Mittelständler aus Thüringen besucht. Sie hatten sichspontan zusammengefunden und einen Bus gechartert,um denen in Bonn – so drückten sie es aus –, also uns,ihre Existenzängste nahezubringen. Es war eine MengeFrust aus dem Kreis derjenigen, die vom Wort her imMittelpunkt der Wirtschaftspolitik stehen, über Zah-lungsmoral, Kammerbürokratie, Auftragsvergabe undWirtschaftskriminalität zu hören. Ich bin sicher, HerrKollege Schwanhold, daß Ihnen Ihr Referent das Bildgenauso geschildert hat; denn er hat nach mir mit Ihnengesprochen.Am Dienstag – der Kanzler beschwor gerade dieNeue Mitte – wurde einer der Teilnehmer der Montags-runde aus der „alten Mitte“ buchstäblich ausgeschlossen.Dem 58jährigen Isolierungsmeister aus Schmiedefeldam Rennsteig flatterte ein Brief des AmtsgerichtsMeiningen ins Haus: Gesamtvollstreckung über das ei-gene Vermögen. Das ist sein kleines Haus.Werner Schulz
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Seine fünf Beschäftigten arbeiten gerade im Emsland– das nur zum Thema Mobilität und ökologischer Um-bau –, und er hatte ihnen pünktlich den Lohn gezahlt– Stichwort: Binnennachfrage –, aber der Innungskran-kenkasse Südostthüringen fehlen mittlerweile 26 000 DMan Sozialabgaben. Der vermeintliche Abgabenhinterzie-her rennt jedoch selbst seit Februar über 22 000 DM undseit August/September weiteren 9 000 DM einer SuhlerFirma hinterher. Für die hatte er als SubunternehmerAufträge in der Kyffhäuser-Kaserne in Bad Frankenhau-sen, in Sozialwohnungen in Schleusingen und im Frank-furter Römer ausgeführt. Als er am Dienstag Nachmittagin der Suhler Firma erneut anrief, meldet sich dort nurnoch der Sequester. Nur am Rande sei erwähnt, daß derMann darüber hinaus seit 1994 weitere 70 000 DM anAußenständen aus massenlosen Konkursen abschreibenmußte.Ich meine, es ist wichtig, auf Messen und in Diskus-sionen immer wieder auf erfolgreiche Mittelständler zuzeigen. Wir dürfen uns aber nicht vormachen, daß nurder erfolgreiche Mittelständler den Mittelständler ver-körpert. Wir müssen uns auch und gerade um die klei-nen und kleinsten Existenzen kümmern.
Ich habe diesen makaberen Fall ausgebreitet, weil ermittlerweile auch im Westen und nicht nur im Osten,wie der Bundeskanzler am Dienstag zum Thema Eigen-kapital und Zahlungsmoral vielleicht angenommen hat,symptomatisch ist. In ihm bündeln sich brennende Pro-bleme, ohne deren Lösung die wirtschaftliche Gesun-dung zu vergessen ist. Sie wurden in der Regierungser-klärung entweder gar nicht oder nur in Halbsätzen ge-streift
– ich nenne jetzt die Punkte; Sie wissen doch gar nicht,was ich sagen will –: Justizreform gerade im Wirt-schafts- und Vertragsrecht – das können Sie nachlesen –,das Generalunternehmerunwesen in der öffentlichenAuftragsvergabe und Veränderungen zum Beispiel imBGB und Strafrecht, um der grassierenden Zahlungsun-moral wieder Herr zu werden.Es reicht nicht aus, eine neue Gründerzeit auszurufenund eine Neue Mitte zu beschwören. Die alte Regierunghat Rechtssicherheit – den Blutkreislauf des wirtschaft-lichen Organismus – fatal vernachlässigt. Ohne dessensofortige Operation droht der Kollaps. Sie können garnicht so viele neue Existenzen fördern, wie bestehendesonst zugrunde gehen, abgesehen davon, daß dann auchdie Lebenserwartung der Neulinge miserabel wäre unddaß Pleiten keine abstrakten statistischen Größen, son-dern konkrete Schicksale sind. Wer „Deutschlands Kraftvertrauen“ will, wie es das Motto der Regierungserklä-rung besagt, der muß überhaupt erst wieder Vertrauenbei den Menschen in aufgestellte Normen schaffen.Dies gilt gerade auch für die neuen Länder: Hier triebdie abgewählte Regierung besonders viel Schindluder.Außer neuen Namen und Amtsbezeichnungen hat aberauch Rotgrün hier bisher noch nichts Konkretes ange-boten. Wie wollen Sie Förderpräferenzen, Infrastrukturund Innovationsfähigkeit in Ostdeutschland anders si-chern, als es in der Kohl-Ära geschah? Denn dieseÜberschriften sind ja schon seit langem sattsam bekannt.Die PDS wird unter diese Überschriften, wie seit Jahren,Texte setzen, die Vorschläge zum Handeln beinhalten.Wir hoffen, daß Sie sich, meine Damen und Herrenauf den Koalitionsbänken, auf diesen Wettbewerb imInteresse vieler Menschen mit uns einlassen. NehmenSie unseren heutigen Antrag zur Airbus-Ansiedlung inMecklenburg-Vorpommern beispielsweise als Angeboteiner vertrauensbildenden Maßnahme. Es ist schon einUnding, daß ein designierter Bundeskanzler den Ostenzur Chefsache erklärt und im gleichen Atemzug alsNoch-Ministerpräsident die Chancen eines ostdeutschenFertigungsstandortes verschlechtert, so wie es im Okto-ber geschah. Man kann zum Kollegen Kohl stehen, wieman will, aber so etwas wäre beim Altbundeskanzlernicht passiert.
Wir bieten Ihnen von der neuen Koalition die Chance,diese Irritation nun auszuräumen. Dazu müssen Sie sichnicht einmal bewegen.Sollten Sie es aber in der Wirtschaftspolitik ansonstennicht tun,
so werden wir demokratischen Sozialistinnen und So-zialisten Sie in den nächsten Jahren schon auf Trab brin-gen, damit – um ein Wortspiel Ihres Kanzlers aufzugrei-fen – aus dem „Standort“ tatsächlich ein „Lebensort“mit neuer „Lebensart“ wird.
Das Wort hat nun die
Kollegin Dagmar Wöhrl, CDU/CSU–Fraktion .
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Wenn ich in meinem Wahlkreis ge-fragt werde, was denn „da oben in Bonn“ mein Aufga-bengebiet sei, dann habe ich bisher immer sehr gern und– das muß ich sagen – mit einem gewissen Stolz gesagt:
Ich kümmere mich um die Wirtschaftspolitik. Heutekönnte man jedoch schnell in den Verdacht kommen,daß man für Messeeröffnungen und Spatenstiche zu-ständig ist.
Da ist mit einem einzigartigen Vorgang von jeman-dem das Wirtschaftsministerium ausgehöhlt worden, umRolf Kutzmutz
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210 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998
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jemandem seine Machtkompetenz zu erweitern – diewichtigste Abteilung mit Grundsatzreferaten ist in dasFinanzministerium verlegt worden –, und derjenige, dendas betrifft, hält es nicht einmal für wert, bei dieser De-batte dabeizusein.
Nichtsdestoweniger werden wir Wirtschaftspolitikervon der Union es uns nicht nehmen lassen, zukünftigWirtschaftspolitik, wie wir sie verstehen, in ihrer Ge-samtheit zu machen.Herr Minister Müller, Sie sind wirklich nicht zu be-neiden. – Aber ich sehe, daß es dem Minister nicht mehrwert ist, der Debatte zu folgen.
Man hat das Gefühl, daß er in wichtigen wirtschafts-politischen Fragen seine Meinung nicht äußern darf. Siesind an eine rotgrüne Koalitionsvereinbarung gebundenund müssen gegenüber gestandenen Unternehmern alteThesen aus den 70er Jahren vertreten.Wie schwer Sie es haben, hat jeder bemerkt, der IhrInterview in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 5. No-vember 1998 gelesen hat. Darin sagen Sie unter ande-rem: Bei der Diskussion über Nachfrage- und Angebots-politik stehe ich „zwischen Baum und Borke“: Weiterantworten Sie auf die Frage, was Sie denn von der Re-form der 620-DM-Jobs halten, da seien Sie „etwas hin-und hergerissen“. Zu der Liberalisierung des Energie-marktes – ein Thema, bei dem Sie ja ein Experte seinsollen –, sagten Sie: „Da habe ich ... zwei Seelen in mei-ner Brust.“ Das sind Aussagen, die zeigen doch, welcheQual es sein muß, in einer rotgrünen Regierung Wirt-schaftspolitik machen zu müssen.
Aber die Schizophrenie steckt dabei im System: Dawird im Wahlkampf der unternehmerische Mittelstandals Neue Mitte hofiert. Den Selbständigen und Freibe-ruflern wird eine heile Welt versprochen. Doch was pas-siert, kaum daß die Wahl vorbei ist? Es wird bei denje-nigen abkassiert, die Arbeitsplätze und Lehrstellenschaffen sollen; es wird der Entwurf einer sogenanntenSteuerreform präsentiert, der eine Mehrbelastung derUnternehmen in verschiedenen Stufen vorsieht; vertei-lungspolitische Wohltaten werden nahezu ausschließlichüber die Steuergelder der Unternehmen finanziert; demMittelstand wird die Liquidität entzogen, die er mo-mentan so dringend braucht; und Investitionen werdenerschwert.
Ich nenne nur ein Beispiel: die Streichung der Teil-wertabschreibungen. Das trifft doch gerade unserenmittelständischen Einzelhandel, der es zur Zeit zusam-men mit der Bauwirtschaft am schwersten hat. Einzel-händler sollen den Wertverlust ihres Warenbestandesnicht mehr in den Büchern berücksichtigen dürfen!
Denn eine Handelsware hat im Jahre 1998 nicht mehrunbedingt den gleichen Wert wie 1997; vielleicht ist sienur noch einen Bruchteil wert. Das ist Realität und kein„Abschreibungskunststück“, wie Sie es behaupten. Sie,meine Damen und Herren, besteuern in der ZukunftScheingewinne. Auch das muß man ganz klar und deut-lich sagen.
Der stärkste Hammer ist der sprachliche Mißbrauch,der mit dem Begriff Ökologie getrieben wird. DieserBegriff wird nur zur Gewinnung von zukünftigen Steu-ereinnahmen mißbraucht. Das ist ein besonders üblerStreich, den man dem Mittelstand spielt. Bei vielenHandwerksbetrieben machen die Energiekosten schonheute bis zu 11 Prozent ihrer Gesamtkosten aus. Das istoftmals mehr als in der energieintensiven Industrie – inder chemischen Industrie sind es zum Beispiel nur3,7 Prozent. Das sind dann die Unternehmen, für die esAusnahmeregelungen geben soll. Damit wird die Öko-steuer zu einer „Handwerks-Sondersteuer“.
Eine Differenzierung zwischen energieintensiv undnicht energieintensiv ist willkürlich und wird auch nichtder individuellen Situation der Unternehmen gerecht.Außerdem ist fraglich, ob nicht sogar ein Verstoß gegenEU-Richtlinien gegeben ist, weil ein neuer Subventi-onstatbestand geschaffen wird – unabhängig davon, daßausländische Unternehmen, die energieintensiv arbeiten,zukünftig einen riesengroßen Bogen um unser Deutsch-land machen werden.
Das Motto der Politik der neuen Regierung ist mit„Mehr Staat, weniger Markt“ treffend umschrieben. Mitsozialer Marktwirtschaft hat das – obwohl Sie es immergerne behaupten – nichts mehr zu tun.
Anstatt Marktkräften freien Raum zu geben – was drin-gend notwendig wäre –, machen Sie weiterhin Ihre Um-verteilungspolitik, wie wir es von Ihnen schon immergewohnt waren.
Aber es reicht Ihnen ja nicht, daß die neue Regierungihre nachfrageorientierten Experimente in der Steuer-und Abgabenpolitik durchführt; es geht ja sogar so weit,d
Rede von: Unbekanntinfo_outline
„Jetztmacht in eurer Lohnpolitik einmal ein Ende der Be-scheidenheit.“ Das heißt, zu den Fehlentscheidungen beiSteuern, Sozialversicherungen und Arbeitsrecht drohenDagmar Wöhrl
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 211
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auch noch tarifpolitische Fehlentscheidungen hinzuzu-kommen.Meine Damen und Herren, liebe Kollegen, es ist dochblauäugig zu glauben, daß man eine Wirtschaft nur mitKonsum ankurbeln könnte.
Wer sagt denn den Menschen, daß sie jetzt nur deutscheProdukte kaufen können? Haben wir in unseren Lädendenn nur deutsche Produkte? Wenn Sie das aber nichtsagen, profitieren viele, viele andere – nicht nur diedeutsche Wirtschaft. Die entscheidende Größe für wirt-schaftlichen Aufschwung ist Investieren und nicht nurKonsumstimulierung.
Aber gerade bei den Investitionsbedingungen wird vonder jetzigen Regierung der Rotstift angesetzt. Da ist esnur eine Frage der Zeit, bis die Investitionstätigkeit inunserem Land einbrechen und der Aufschwung am Ar-beitsmarkt ein jähes Ende finden wird.Meine Damen und Herren, der Standort Deutschlandgeht schwierigen Zeiten entgegen.
Das Wort hat der
Kollege Ernst Schwanhold, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Herr Wirtschafts-minister Müller, auch ich möchte Ihnen nach Ihrer Rede,in der Sie Ihre Grundkonzeptionen dargelegt haben, un-sere Unterstützung aus der Fraktion der SPD zusagen.Wir halten Ihre Konzeption für eine gute und vertrau-ensvolle Basis.
Die neue Regierung hat eine Aufgabe, die von beson-derer Bedeutung ist: die Schaffung von Arbeitsplätzen.Hier hat sie das Erbe, welches die alte Regierung unshinterlassen hat, abzuarbeiten. Annähernd 4 MillionenArbeitslose sind nach wie vor ein Skandal in dieser Ge-sellschaft, der beseitigt werden muß.
Die Wirtschafts- und Technologiepolitik hat dafür ei-ne Schlüsselrolle. Der Bundeskanzler hat die Herausfor-derungen an die Wirtschaftspolitik deshalb in das Zen-trum seiner Regierungserklärung gestellt und hervorge-hoben: Es ist endlich an der Zeit, daß wieder Wirt-schaftspolitik gemacht wird. Sie ist in den vergangenenJahren zu wenig und wenn, dann falsch gemacht wor-den.
Das ist gleichermaßen Aufforderung und Selbstver-pflichtung für die neue Bundesregierung. Es ist Auffor-derung an die Tarifpartner, im Dialog an der Formulie-rung einer neuen Wirtschaftspolitik mitzuwirken. Es istSelbstverpflichtung der Bundesregierung, um die Ver-säumnisse von CDU/CSU und F.D.P. aus der Vergan-genheit schnellstmöglich zu überwinden. Die Fraktionenvon SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben die Aufga-be, dies mit ganzer Kraft zu unterstützen. Ich selber undwir als SPD-Bundestagsfraktion werden den Dialog mitder Wirtschaft fortsetzen, so wie wir dies in der Vergan-genheit getan haben.
Markt und Wettbewerb sind Grundlage unsererWirtschaftsordnung. Dazu steht die Bundesregierung,dazu stehen die sie tragenden Fraktionen. Mit diesemBekenntnis ist aber nur der Ausgangspunkt für die Auf-gaben der Wirtschaftspolitik beschrieben.Die Weiterentwicklung und die Neubelebung von dersozialen zur sozial-ökologischen Marktwirtschaft istdie Aufgabe der nächsten Jahre. Die soziale Marktwirt-schaft braucht einen Ordnungsrahmen, um ihre Zielset-zungen zu verwirklichen, Wohlstand für alle zu schaf-fen. In einer Zeit mit zunehmender weltwirtschaftlicherVerflechtung, steigendem Wettbewerbsdruck und hohenArbeitslosenzahlen heißt dies: Anreize für die Schaffungneuer Arbeitsplätze setzen und Rahmenbedingungen zurStärkung der Wettbewerbsfähigkeit schaffen. Genau mitdieser Zielsetzung tritt die neue Bundesregierung an.Die Ausgangslage ist allerdings schwierig. Die alteBundesregierung hat in den 16 Jahren eine unverant-wortlich hohe Staatsverschuldung aufgetürmt. Dasschränkt die Handlungsspielräume ein. Die Asienkrise,die Krise in Lateinamerika und die Krise in der ehemali-gen Sowjetunion dämpfen die Wachstumserwartungender exportorientierten Volkswirtschaften, insbesonderedie der Bundesrepublik Deutschland. Sie haben in denletzten Jahren diese Krisen nachdrücklich unterschätztund ignoriert.
Es wird notwendig sein, wieder mit makropolitischenMaßnahmen diesem Übel und diesen Schwierigkeiten zubegegnen. Wir brauchen eine Stütze der Volkswirt-schaft. Die Stützen der Volkswirtschaften und der welt-weiten wirtschaftlichen Tätigkeit werden Europa undAmerika sein; deshalb ist Kooperation zwischen Europaund Amerika in besonderem Maße notwendig. Der neueWirtschaftsminister wird viel zu tun haben, um diesenDialog zu beleben und zu gemeinsamen und abge-stimmten Maßnahmen zu kommen.Zum einen geht es darum, im nationalen und im in-ternationalen Rahmen die Wirtschafts-, Finanz- undGeldpolitik besser abzustimmen; sie müssen sich in derZielsetzung gegenseitig verstärken, mehr Arbeitsplätzezu schaffen. Die Nutzung von Spielräumen, insbesonde-re zur Senkung der Realzinsen, ist wichtig, solange diePreisstabilität nicht gefährdet wird. Bei den Realzinsengibt es deutliche Spielräume. Diese zu nutzen ist durch-aus ein Ziel, welches auch öffentlich diskutiert werdenmuß. Die erste Maßnahme ist ausdrücklich begrüßens-wert.
Dagmar Wöhrl
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Darüber hinaus brauchen wir eine verstärkte Koordi-nierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik auf europäi-scher Ebene. Nur so kann der Euro ein Erfolg werden,der den Binnenmarkt vollendet. Schließlich muß eineHarmonisierung der Steuersätze in der EU dem unsinni-gen Steuersenkungswettlauf ein Ende bereiten. Eskommt eine gemeinsame europäische Wirtschaftspolitikhinzu, die sich auch Projekte vornimmt, zum Beispielden Ausbau der transeuropäischen Netze. Wie soll ei-gentlich sonst die Weiterentwicklung des europäischenIntegrationsprozesses vorangetrieben werden?
Im nationalen Rahmen stehen drei Aufgaben im Vor-dergrund: Erstens gilt es, dem Mittelstand neue Zu-kunftsperspektiven zu eröffnen,
zweitens brauchen wir eine Offensive für neue Techno-logien, und drittens muß es darum gehen, in der Außen-wirtschaftspolitik neue Akzente zu setzen. – Herr Kolle-ge Hirche, Herr Kollege Rexrodt, ich weiß gar nicht,was die Zwischenrufe sollen. In Scharen sind Ihnen dieMittelständler bei den letzten Wahlen weggelaufen. Dastaten sie doch nicht wegen der glänzenden Erfolge IhrerPolitik, sondern weil Sie sie vernachlässigt haben.
Moderne Mittelstandspolitik wird sich am Dialog mitden Unternehmen orientieren. Diesen Dialog haben wirin der vergangenen Periode begonnen, und wir werdenihn in dieser Periode fortsetzen. In dieser Legislaturperi-ode ist es die Aufgabe der sozialdemokratischen Bun-destagsfraktion, die Neue Mitte, die eine Schlüsselstel-lung in der Gesetzgebungspolitik und in der Regie-rungspolitik hat, zu stärken. Dies unterstütze ich aus-drücklich. Hierzu gehören die folgenden Schwerpunkte:Erstens. Die Entlastung des Mittelstandes durch eineSteuerreform und die Verbreiterung der Bemessungs-grundlage ist bereits angelegt worden. Dabei haben wirsehr genau die einzelnen Instrumente auf ihre Wirksam-keit hin zu überprüfen. Dies ist geschehen und geschiehtweiterhin. Die mittelständische Wirtschaft ist beschäfti-gungsintensiver und wird deshalb zu den Profiteuren derSteuer- und Abgabenreform gehören.
Die Mittelstandsförderung muß gebündelt werden.Wenige Programme, nicht 670, dafür aber mit mehr Ef-fizienz – das ist unsere Devise. Konkret bedeutet daswenige Förderbausteine, die kombiniert werden können,um vor allem die Eigenkapitalbasis, die Innovationsfä-higkeit und die Existenzgründung in der mittelständi-schen Wirtschaft zu erleichtern. Zur Stärkung des Mit-telstandes wird auch die Steuerreform beitragen. DieSenkung auf 43 Prozent für alle gewerblichen Einkünfteist ein Schritt in die richtige Richtung, über den Sie16 Jahre lang geredet haben, bei dem Sie aber nichts zu-stande gebracht haben.
Zweitens. Die Schaffung eines neuen Gründerklimasund einer Aufbruchstimmung ist eine weitere vordring-liche Aufgabe. Dies gilt insbesondere für die neuenBundesländer, wobei ich allerdings darauf hinweisenwill, daß auch die Bestandspflege für die Unternehmenvon besonderer Bedeutung ist, die bei ihrer Etablierungin den Märkten Finanzierungsschwierigkeiten haben.
Die Selbständigenquote in Deutschland liegt beirund 10 Prozent. Es muß das Ziel sein, mit dem interna-tionalen Maßstab Schritt zu halten. Wir brauchen eineSelbständigenquote von 14 bis 15 Prozent. Dies ist einestarke Aufgabe, der wir uns in den nächsten Jahren ver-pflichtet fühlen.
Zur Mobilisierung von Chancenkapital werden wirdie gesetzlichen Rahmenbedingungen verbessern. Wirfordern ausdrücklich die Banken und Sparkassen auf,auch in den Regionen dafür den institutionellen Rahmenzu bieten und sich neuen Produktideen zu öffnen undnicht immer nur die Frage nach der Sicherheit „über diefeuchte Wiese“, also im Hinblick auf Grundstücke, zustellen. Die Beurteilung von neuen Produkt- und Ge-schäftsideen ist wichtige Aufgabe auch des Bankensy-stems; es muß sich dieser Aufgabe verstärkt stellen.
Drittens. Wir brauchen eine Umorientierung der For-schungsförderung auf eine breite, anwendungsorientierteFörderung von neuen Technologien. Hierzu gehört einbesserer und intelligenterer Transfer von Wissen undneuen Technologien von den Hochschulen und For-schungseinrichtungen in die mittelständischen Unter-nehmen. Es ist geradezu schlimm, daß wir nur30 Prozent der Grundlagenforschung in Produkte undGeschäftsideen umsetzen. „Mehr, besser und schneller“lautet die Aufgabe anwendungsorientierter For-schungsförderung bei der Umsetzung von Forschungs-ergebnissen in Geschäftsideen und Produkte.Viertens. Mittelstandsfreundliche Antrags- und Ge-nehmigungsverfahren sind notwendig. Dies geht nur mitdem Abbau von Bürokratien und mit der Schaffung ei-nes schlanken Staates. Übrigens läßt dieser schlankeStaat auch für viele Selbständige und Freiberufler Betä-tigungsmöglichkeiten für neue Geschäftsideen. Dieswird neue Arbeitsplätze in der Privatwirtschaft schaffenund insgesamt zur Entlastung am Arbeitsmarkt beitra-gen.Fünftens. Wir brauchen die Sicherung der Qualitätvon Handwerksleistungen. Der Große Befähigungs-nachweis ist und bleibt Voraussetzung für die Selbstän-digkeit im Handwerk. Der Meisterbrief hat sich be-währt. An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich einenDank an die vielen Handwerksmeisterinnen und -meisterrichten, die sich in der Vergangenheit in besonderemMaße der Ausbildung junger Menschen zugewandt unddabei eine erhebliche Leistung gebracht haben.
Ernst Schwanhold
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Die sozialdemokratisch geführte Bundesregierungwird auch in Zukunft zu dem Großen Befähigungsnach-weis stehen. Gleichwohl gibt es Probleme beim Genera-tionenwechsel in bestehenden Betrieben und bei Exi-stenzgründungen. Deshalb wollen wir eine berufsbe-gleitende Erlangung des Meisterbriefes in begründetenAusnahmefällen, die allerdings weiter als zum gegen-wärtigen Zeitpunkt gefaßt sein müssen, möglich ma-chen. Der große Befähigungsnachweis bleibt allerdingsdie Regel.Ich will auch ein Wort an die Handwerkskammernrichten, die sich über die in der Industrie entstandenenArbeitsplätze im Bereich des Trockenbaus beklagen unddiese an den Pranger stellen: Es sollten nicht, wie dieseszur Zeit geschieht, durch Wettbewerb zwischen Indu-strie- und Handelskammern und HandwerkskammernArbeitsplätze vernichtet werden. Die Zugehörigkeit zueiner Kammer kann nicht zur Richtschnur für die Ent-scheidung zur Schaffung neuer Arbeitsplätze werden.Hier ist mehr Toleranz und mehr Miteinander gefordert.
Der Förderung neuer Technologien muß in derWirtschaftspolitik eine herausragende Bedeutung zu-kommen. Unsere Volkswirtschaft ist mit Spitzenpro-dukten in den industriellen Leitbranchen des 20. Jahr-hunderts stark geworden: Im Automobilbau, in der che-mischen Industrie, beim Maschinenbau und bei derElektrotechnik standen und stehen wir an der Spitze.Diese Technologien müssen auch mit Blick auf das21. Jahrhundert ausgebaut und modernisiert werden,damit wir unsere Stellung in diesen Bereichen halten.Wir wollen diese Bereiche um moderne Verkehrstech-nologien für Schiene und Straße zur Sicherung von um-weltgerechter Mobilität im Inland und zur Sicherung derExportstärke deutscher Unternehmen auf den Welt-märkten ergänzen.Am Beginn des 21. Jahrhunderts müssen wir aberverstärkt auf die Zukunftstechnologien setzen. Wir wol-len die Wachstumspotentiale der Bio- und Gentechnolo-gie ausschöpfen. Sie schaffen zukunftssichere Arbeits-plätze in Deutschland. Sie bringen einen Innovations-schub bei der Entwicklung neuer Medizinprodukte undtragen zur Lösung des Welternährungsproblems bei. Zuden Zukunftsbranchen gehören auch Güter und Dienst-leistungen für den Umweltschutz. Hier geht es um neueWerkstoffe, Technologien zur Energieeinsparung, pro-duktintegrierten Umweltschutz und vieles mehr.Auch die Informations- und Kommunikationstech-nologie kann einen wesentlichen Beitrag zu Verbesse-rungen im Bereich der Umwelt leisten. Umweltschutzund Wachstum auch bei neuen Technologien werdenzwei Seiten einer Medaille sein. Wir werden sie zuein-anderführen müssen und dürfen sie nicht als Gegensatzverstehen. Darin drückt sich moderne Wirtschaftspolitikaus.
Die Ausgangslage der deutschen Wirtschaft ist in be-zug auf die Substanz der Unternehmen gut. EhrgeizigeZiele in der deutschen Umweltpolitik haben dafür ge-sorgt. Mit der ökologischen Steuerreform werden wirzusätzliche Anreize für technologische Innovationenschaffen.In diesem Zusammenhang möchte ich besonders dieBedeutung des Dienstleistungssektors für die Schaf-fung von Arbeitsplätzen hervorheben. Mit der Einrich-tung von Dienstleistungsagenturen können wir der be-stehenden Nachfrage ein bezahlbares Angebot gegen-überstellen. Aus Gründen des Erhalts und der Schaffungvon Arbeitsplätzen sollten wir auch mehr Aufmerksam-keit auf den Sektor Fremdenverkehr und Tourismus len-ken. Hier arbeiten etwa 2 Millionen Menschen, die einenbeachtlichen Teil unseres Sozialproduktes erwirtschaf-ten.Schließlich benötigen wir in Ergänzung hierzu einemoderne Außenwirtschaftspolitik aus einem Guß. DieInstrumente der deutschen Außenwirtschaftspolitik müs-sen in Abstimmung zwischen Bund und Ländern gebün-delt werden. Das schafft mehr Transparenz für die Be-teiligten und stärkt die Effizienz der eingesetzten Mittel.Hier werden die Außenhandelskammern eine wichtigeFunktion übernehmen, die es auszubauen gilt. Wir wer-den sehr schnell in einen intensiven Dialog mit allenBeteiligten treten, um ein zukunftsfähiges Konzept füreine gebündelte Außenwirtschaftspolitik zu formulieren.Unsere Leitlinien dafür sind: besserer Zugang für denMittelstand zu den Zukunftsmärkten, Bündelung derAktivitäten im Außenwirtschaftsbereich und Schaffungder institutionellen Strukturen.Darüber hinaus wird die neue Bundesregierung ihrenBeitrag zur Stärkung der internationalen Kooperationdurch konstruktive Mitarbeit in den internationalen Or-ganisationen leisten. Wir wollen dabei Impulse gebenfür eine Stärkung der Welthandelsorganisation und ihrerEntscheidungskompetenzen, für die Einrichtung einesFrühwarnsystems bei Turbulenzen auf den internationa-len Finanz- und Währungsmärkten und zur Entwicklungverbindlicher Vereinbarungen für eine wirksamere Ban-ken- und Börsenaufsicht im internationalen Rahmen.Die Bundestagsfraktion, Herr Minister Müller, wirdIhnen dabei verläßlicher Partner und, wo nötig, auchfordernder und selbstbewußter Antrieb sein.
Das Wort hat nun dieKollegin Margareta Wolf, Bündnis 90/Die Grünen.Margareta Wolf (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damenund Herren! Frau Wöhrl, mit großer Verwunderung ha-be ich vorhin zur Kenntnis genommen, daß Sie nunmehrder Meinung sind, wir würden die Ökologie mißbräuch-lich zur Kostensenkung verwenden. Ich möchte Ihnendazu sagen, daß wir das Abgabengleichgewicht zwi-Ernst Schwanhold
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schen der Belastung des Faktors Arbeit und der Bela-stung des Faktors Umwelt herstellen und dadurch Anrei-ze schaffen, um in Schlüssel- und Zukunftstechnologienzu investieren.Darüber hinaus möchte ich Sie, Frau Kollegin Wöhrl,daran erinnern, daß Ihre Regierung seit Anfang der 90erJahre bis zum 27. September dieses Jahres die Mineral-ölsteuer um über 20 Pfennig erhöht hat, aber mitnichtenum ökologisch umzusteuern. Sie haben versucht, damitIhre unsolide Haushaltspolitik zu kompensieren, undnichts anderes.
Verehrter Herr Kollege Wissmann und Herr KollegeFriedhoff, ich habe mich sehr gewundert, wieviel Angstin Ihren Beiträgen heute morgen zum Vorschein kam,nur weil eine kluge, kreative, charmante und gutausse-hende Frau, die Ehefrau des Herrn Finanzministers, mitihm in der Öffentlichkeit auftritt. Vielleicht täte es auchIhrer Kreativität gut und würde Ihren Strukturkonserva-tismus etwas zurückdrängen, wenn auch Sie mit IhrenFrauen in der Öffentlichkeit auftreten würden.
Herr Minister Müller, wir teilen Ihre Position „Jetztoder nie“. Wir brauchen Reformen in der Wirtschafts-politik. Wir freuen uns auf eine gedeihliche Zusammen-arbeit.Moderne Wirtschaftspolitik muß heute – das ist diezentrale Herausforderung – die Voraussetzung dafürschaffen, daß die Balance zwischen moderner Wert-schöpfung, sozialer Integration, ökologischer und fi-nanzpolitischer Nachhaltigkeit und politischer Demo-kratie gefunden wird. Wir werden die Rahmenbedin-gungen für einen Ausgleich schaffen, damit die Balancezwischen Freiheitswerten, Gleichheitswerten, wirt-schaftlicher Leistungsfähigkeit und einer neu definiertenSolidarität und Nachhaltigkeit gefunden wird.Eine der Voraussetzungen für die Herstellung dieserBalance ist die Demokratisierung von Politik. Meinesehr verehrten Damen und Herren von der CDU/CSUund F.D.P., jeder Wissenschaftler sagt Ihnen heute: Esmuß mit dieser Schützengräbenpolitik Schluß sein. Be-enden Sie endlich die ideologische Debatte „Angebotversus Nachfrage“! Diese Debatte ist von vorgestern,verstaubt und hilft nicht weiter. Spätestens Ihre Politikhat das gezeigt. Wir brauchen eine intelligente Mi-schung aus Angebot und Nachfrage – Punkt.
Wir brauchen eine Verantwortungsdemokratie. Wirbrauchen ein Bündnis für Arbeit, wie es der Arbeitsmi-nister gestern dargestellt hat. Dieses Bündnis ist nichtnur ein Instrument und ein Konzept, sondern es ist auchder Ausdruck einer neuen politischen Kultur, für diediese Koalition steht.Der Kernmotor der deutschen Wirtschaft – auch dashat der Herr Minister gesagt – ist der Mittelstand. Erhat die Ausbildungs- und Arbeitsplätze in der Vergan-genheit nicht nur erhalten, sondern auch neue geschaf-fen. Wir werden die Rahmenbedingungen für unserenMittelstand, um den uns ganz Europa beneidet, verbes-sern. Das heißt konkret: Wir werden mit einem Büro-kratie-TÜV endlich Ernst machen. Wir werden dasWirrwarr von Verordnungen und Gesetzen lichten, dasSie aufgebaut haben. Wir werden die Anzahl der För-dertöpfe reduzieren, indem wir sie zusammenfassen.Wir werden damit die Voraussetzungen für wirtschaftli-che Aktivität und für Wettbewerbsfähigkeit in diesemLand verbessern.Wir werden die Eigenkapitalsituation der kleinenund mittleren Unternehmen verbessern, die sich in denletzten Jahren systematisch zu Lasten von Investitionen,Innovationen und zukunftsfähigen Arbeitsplätzen ver-schlechtert hat. Wir werden unseren Beitrag dazu lei-sten, daß im Kontext der Unternehmensteuerreform eineTarifabsenkung bei der Besteuerung des Gewerbeertragsauf 35 Prozent erfolgt und daß bis dahin der Verlust-rücktrag zur Entlastung der kleinen und mittleren Unter-nehmen erhalten bleibt.
Wir werden im Kontext des Vierten Finanzmarktför-derungsgesetzes endlich die Voraussetzung dafür schaf-fen, daß alle Kapitalanlageformen steuerlich gleichge-stellt werden. Wir müssen für die Generation der ErbenAnreize schaffen, damit sie endlich in Produktivkapitalund Arbeitsplätze investieren. Nur so werden wir Ge-meinwohlinteressen und Renditeerwartungen perspekti-visch koppeln können. Dafür stehen wir.
Wir werden die Voraussetzung dafür schaffen, daßAktienkapital breiter gestreut wird. Wir werden die Vor-aussetzung dafür schaffen – dafür steht diese Koalition –,daß der Dialog zwischen Wirtschaft und Wissenschaftverbessert wird, und zwar nicht nur mit den HerrenHenkel, Stihl und Schleyer. Wir werden mit der neuenGeneration in den Verbänden und mit der Wissenschaftzu sprechen haben, um zu einer stärkeren Koppelungzwischen den Zukunftstechnologien und den wirtschaft-lichen Akteuren zugunsten von mehr Existenzgründun-gen, auch aus der Hochschule heraus, und zugunsteneines humankapitalintensiven Dienstleistungsbereichs zukommen.
Meine Damen und Herren, wir werden die Rahmen-bedingungen für Investitionen verstetigen und somit An-reize für Investitionen schaffen. Wir werden sehr genauzu prüfen haben, ob die Verfaßtheit der Industrie- undHandelskammern in Form der Zwangsmitgliedschaftund der Zwangsbeiträge heute noch zeitgemäß ist. Wirwerden zu prüfen haben, ob es nicht klüger wäre, dieIHKen zugunsten von mehr DienstleistungsorientierungMargareta Wolf
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umzustrukturieren, um für den Mittelstand eine guteVertretung zu schaffen und ihn somit zu stärken.
Anschließend an das, was Sie, Herr Kollege Schwan-hold, in Ihrer Rede gesagt haben, möchte ich feststellen:Wir müssen auch prüfen, ob die Handwerksordnungnoch zeitgemäß ist, ob sie Gewerbefreiheit – dies ist einzentraler Grundstein der sozialen Marktwirtschaft – tat-sächlich garantiert, ob sie dienlich ist, Qualitätssiche-rung und Gewerberechtsvereinfachung innerhalb vonEuropa zu fördern, oder ob sie das in ihrer jetzigen Ver-faßtheit nicht tut.
Frau Kollegin, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Hinsken?
Margareta Wolf (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Von meinem alten Freund Hinsken gerne.
Verehrte Frau Kollegin
Wolf, ich nehme Ihnen ja ab, daß Sie der Meinung sind,
daß man die Meisterprüfung als Eingangsvorausset-
zung dafür, sich selbständig zu machen, nicht mehr
braucht. Sie haben diese Linie immer vertreten. Heißt
das, daß Sie sich bei den Koalitionsverhandlungen dahin
gehend durchgesetzt haben, daß man die Meisterprüfung
als Eingangsvoraussetzung für die Selbständigkeit zu-
künftig nicht mehr braucht? Ich kann mir nicht vorstel-
len – da kann ich dem Kollegen Schwanhold überhaupt
nicht folgen –, daß, wenn jemand weiß, daß über Aus-
nahmetatbestände die Möglichkeit gegeben ist, sich
trotzdem selbständig zu machen, davon nicht ausgiebig
Gebrauch gemacht wird.
Margareta Wolf (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Verehrter Herr Kollege Hinsken, ich er-
warte schon von einem Oppositionspolitiker – zudem
von einem ehemaligen Parlamentarischen Staatssekretär –,
daß er die Koalitionsvereinbarung der neuen Regierung
gelesen hat. Dort können Sie nachlesen, daß wir die
Voraussetzungen für mehr Selbständigkeit im Handwerk
verbessern werden, daß wir berufsbegleitend die Mög-
lichkeit eröffnen, die Meisterprüfung zu machen. Kolle-
ge Schwanhold hat sich mit dem Satz durchgesetzt – das
haben Sie soeben schon gehört –: Der große Befähi-
gungsnachweis bleibt erhalten.
Zusammengefaßt heißt dies nichts anderes, als daß
wir uns im Zuge der Europäisierung des Gewerberechtes
und im Zuge einer neuen Existenzgründungswelle im
Handwerk dafür einsetzen werden, den Zugang zum
Handwerk zu erleichtern. Sie kennen meine Vorstellung:
Wir müssen überlegen, ob wir das nicht so wie die Fran-
zosen tun, indem wir zum Beispiel die nicht gefahrge-
neigten Berufe vom Zwang der Meisterprüfung als Vor-
aussetzung für Selbständigkeit befreien und sagen, man
könne den Meister als eine Art Qualitätssiegel machen.
Dies könnte, wie ich meine, zum Beispiel für den Beruf
des Maskenbildners bzw. der Maskenbildnerin gelten,
der jetzt Bestandteil der Handwerksrolle B ist.
Wir wollen diesen Bereich auf der europäischen Ebe-
ne zugunsten einer Qualitätssicherung ein wenig dere-
gulieren. Wir wollen natürlich nicht, daß das nicht vor-
handene Handwerksrecht Spaniens in Europa Referenz-
recht wird. Wir wollen mehr Anreize schaffen für Exi-
stenzgründungen, und zwar gerade im klassischen
Dienstleistungsbereich rund ums Haus. Sie können das
in unserer Koalitionsvereinbarung nachlesen.
– Er stellt immer zwei Fragen. Das kennen wir schon.
Bitte.
Frau Kollegin Wolf,Sie haben ein bißchen herumgeeiert und meine eigentli-che Frage nicht beantwortet.
Deckt sich Ihre Meinung – Sie sind ja jetzt Mitglied derRegierungskoalition – auch mit der Meinung des neuenWirtschaftsministers Herrn Müller – können Sie dahingehend auch eine Aussage treffen? –, was indirekt be-deuten würde, daß der große Befähigungsnachweis, dieMeisterprüfung, an der er festhalten möchte, als Ein-gangsvoraussetzung für den Handwerksberuf in Zukunftunterlaufen wird.
Margareta Wolf (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Herr Hinsken, ich bin sicher, daß Herr Mi-nister Müller nicht nur die soziale Marktwirtschaft ver-tritt, sondern auch die Koalitionsvereinbarung. IhreEinlassung beweist nichts anderes, als daß Sie noch im-mer nicht gelernt haben zuzuhören. Ich habe nicht rum-geeiert,
sondern Ihnen die Breite des Themas dargestellt.
Sie benehmen sich heute wieder wie in der Vergan-genheit, nämlich so, als sei die BundesrepublikDeutschland eine Insel innerhalb Europas und der großeBefähigungsnachweis der Nachweis, der uns in Europaökonomisch ausweist. Ich möchte Sie doch bitten, auchMargareta Wolf
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einmal einen Blick auf die anderen Länder zu werfen.Gucken Sie einmal, ob es nicht Flexibilisierungsmög-lichkeiten gibt, die zu mehr Arbeitsplätzen führen! Die-ser große Befähigungsnachweis, über den man anschei-nend nicht reden kann, ist für Sie ja eine Art Bibel. Wiraber haben darüber geredet. Wir haben eine Koalitions-vereinbarung, die es ermöglicht, die Debatte mit demHandwerk weiter zu führen. Ich bin mir sicher, daß wirim Ergebnis Erfolg haben werden; das bedeutet: mehrArbeitsplätze und mehr Innovation im Handwerk.
Noch eine abschließende Bemerkung, Herr KollegeHinsken: Die letzte Novelle zur Handwerksordnung, ander Sie mitgearbeitet haben – Sie haben das durchausordentlich getan –, hat dazu geführt, daß heute die In-formationselektroniker, die neuen Dienstleister im Be-reich Software/Hardware, Klagen des ZDH am Hals ha-ben, sie müßten die Meisterprüfung als Eingangsvoraus-setzung haben. In Norddeutschland gibt es zwei solcherKlagen; hier geht es um Büroinformationselektroniker,und diese sind meisterpflichtig.30 Prozent der neuen Jobs entstehen gerade in diesemBereich. Wenn Sie jetzt den Meistertitel zur Pflichtvor-aussetzung für die Selbständigkeit machen wollen, dannzerstören Sie Existenzen, die von Ausgründungen ausden Unis herrühren und natürlich über betriebswirt-schaftliche Erfahrungen verfügen. Ich hielte es für irr-sinnig, diese jetzt zu einer Nachausbildung und -prüfungzu verpflichten, sie meisterpflichtig zu machen, um denMeistertitel und damit den Einflußbereich des ZDH zustärken.Herr Hinsken, ich bedanke mich für Ihre Fragen. Siekönnen sich jetzt wieder hinsetzen.
– Entschuldigen Sie, wieso bin ich oberlehrermäßig?Das bin ich überhaupt nicht.
– Herr Ramsauer, Sie müssen sich noch ein wenig ge-dulden.Ich möchte abschließend sagen, daß diese neue Bun-desregierung für eine Modernisierung der Wirtschaftsteht. Sie steht für eine Entlastung der Umwelt. Sie wirddie Modernisierung und die Entlastung der Umwelt mit-einander verbinden. Meine Damen und Herren, sehenSie sich Mercedes-Benz an oder die vielen kleinen undmittleren Unternehmen. Dann werden Sie wissen: EineVerbindung zwischen Wirtschaft und Umweltschutz be-deutet tatsächlich eine Kostensenkung in der Industrie.Ich habe gestern ein sehr spannendes Buch gelesen,das sich hauptsächlich darauf bezieht, daß Umwelt-schutz eine Kostensenkung nach sich zieht. Das Nach-wort in diesem Buch hat der ehemalige FinanzministerTheo Waigel geschrieben. Ich freue mich weiterhin aufeine konstruktive und fruchtbare Auseinandersetzung,einen Dialog mit Ihnen, meine Damen und Herren vonder Opposition.Ich bedanke mich.
Das Wort hat nun
der Kollege Dr. Uwe-Jens Rössel, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Bundeskanzler, Siehaben wiederholt erklärt, Ostdeutschland zur Chefsachemachen zu wollen. Das ist fürwahr ein hoher Anspruch.Die PDS-Fraktion sieht jedoch gerade beim Thema Ost-deutschland weiße Flecken, und das sowohl in Ihrer Re-gierungserklärung als auch in der Koalitionsvereinba-rung. Sie wird deshalb nicht nachlassen, im Interesse derMenschen zwischen Kap Arkona und Fichtelberg Ver-änderungen einzufordern, damit das industrielle, sozialeund kulturelle Gefälle zwischen Ost und West in unse-rem Lande rasch behoben wird.
Mit der bloßen Umformulierung von „Aufbau Ost“aus den Zeiten von Altbundeskanzler Kohl in „ZukunftOst“ jetzt wird jedenfalls noch keine neue Politik instal-liert. Die Koalitionsvereinbarung sieht nämlich wedereine spezielle Wirtschaftsförderung Ost vor, noch gibt esBestrebungen zur Klärung von Eigentumsfragen, die eszuhauf gibt, zugunsten der Ostdeutschen. Nicht einmalzu einem Satz für die Sicherung der Ergebnisse der Bo-denreform konnte sich Rotgrün durchringen. Das ist an-gesichts der politischen und juristischen Brisanz diesesProblems sehr enttäuschend.
Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um dieostdeutschen Kommunen nicht nur – wie geschehen –de jure, sondern auch de facto zur kommunalen Selbst-verwaltung zu führen? Wir meinen: Nichts Konkretesist bisher bekanntgeworden. Da beißt die Maus wohlkeinen Faden ab. Die teilweise stark rückläufige Auf-tragslage kleiner und mittlerer Unternehmen resultiert zueinem hohen Grade aus mangelnder Handlungsfähigkeitder vielerorts finanziell arg angeschlagenen Kommunen.Die Folge wiederum sind Negativwirkungen auf denArbeitsmarkt, auf Existenzgründungen und die Unter-nehmensentwicklung, Stichwort Insolvenz. Sicher mußein ganzes Paket von Maßnahmen geschnürt werden,damit Städte und Gemeinden ihrer Funktion als Haupt-auftraggeber für den Bau, für Handwerk und Gewerbegerecht werden können. Vordringlich ist für uns eineReform der Kommunalfinanzierung, die mit der Steuer-reform korrespondieren muß. Dies ist bislang nicht zuerkennen.Für ebenso unerläßlich halten wir, daß die ostdeut-schen Kommunen endlich vollständig über die ihnen zu-Margareta Wolf
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stehenden Vermögenswerte wie Flurstücke, Gebäude,Unternehmen und ähnliches verfügen können. Acht Jah-re nach der staatlichen Einheit waren Ende Oktober1998 noch immer 21,6 Prozent der Anträge der Kom-munen auf Zuordnung dieser Vermögenswerte von denzuständigen Bundesbehörden nicht entschieden worden.Dazu kommen viele Ungereimtheiten und offene Fragenbei der Vermögenszuordnung. Für all das trägt – daswill ich deutlich sagen – die abgewählte Bundesregie-rung die Verantwortung. Die Zeit für eine Korrektur istauch hier überreif.
Daher hat die PDS-Fraktion den vorliegenden Antragauf Drucksache 14/17 eingebracht. Bei Verwirklichungdes Antrags entstünden in Ostdeutschland nachweisbareImpulse für kommunale Handlungsfähigkeit und regio-nale Wirtschaftsentwicklung, nachweisbare Impulse fürden Arbeitsmarkt.Wir beantragen: Erstens soll die Zuordnung entspre-chender Vermögenswerte an die Kommunen, von weni-gen begründeten Ausnahmefällen abgesehen, im we-sentlichen bis zum 31. Dezember 1999 zum Abschlußgebracht werden. Altfinanzminister Waigel – ich willdas hier sagen, er ist anwesend – wollte das offensicht-lich erst am Sankt-Nimmerleins-Tag erledigen.
Zweitens soll den ostdeutschen Städten, Gemeindenund Landkreisen das Recht eingeräumt werden, bei denzuständigen Bundesbehörden bereits abgelehnte Anträgebis zum 31. Mai nächsten Jahres noch einmal stellen zukönnen. Das ist schon deshalb notwendig, weil nicht je-der Ablehnungsgrund heute noch auffindbar ist. Es istviel Unordnung in diesen Gremien vorhanden.Drittens sollen die Städte, Gemeinden und Landkreiseeinen angemessenen finanziellen oder naturellen Aus-gleich für teilweise zu ihren Lasten erfolgte Privatisie-rungen erhalten. Bei der Ausgestaltung dieser Entschä-digungsregelungen haben wir ausdrücklich die Vor-schläge des Bundesrates berücksichtigt. Wir haben keineMaximalforderungen erhoben, sondern uns auf dasMachbare konzentriert.Wir fordern die neue Bundesregierung darüber hinausauf, dafür Sorge zu tragen, daß die kommunalen Spit-zenverbände endlich im Verwaltungsrat der BvS vertre-ten sind.
Der Altfinanzminister hatte das abgelehnt und damitSachverstand aus dem Verwaltungsrat der Treuhand-nachfolgerin ausdrücklich ausgesperrt.Es wäre gut, wenn der vorliegende Antrag 14/17 derPDS-Fraktion im Parlament auf eine große Zustimmungstoßen würde. Er konzentriert sich auf das jetzt Notwen-dige – wir haben die Zeitschiene berücksichtigt –, und erist machbar. Im Interesse der Herstellung der innerenEinheit Deutschlands werben wir daher ausdrücklich umZustimmung für unseren Antrag und eine baldige Be-handlung.Vielen Dank.
Das Wort hat nun
Bernhard Vogel, Ministerpräsident des Freistaats Thü-
ringen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Am vergangenen Freitag sind an-läßlich des turnusmäßigen Wechsels im Präsidentenamtim Bundesrat lesenswerte Reden über die Zukunft desFöderalismus und eine Neugestaltung des Zusammen-wirkens von Bund und Ländern gehalten worden. Es warfür mich außerordentlich erfreulich, wie lückenlos derneue Bundesratspräsident die Initiative der vier süddeut-schen Länder aufgegriffen hat, auch wenn er sie nichterwähnt hat.Bei der gleichen Gelegenheit hat BundeskanzlerSchröder dem Bundesrat seine Aufwartung gemacht,sich selbst für seine Amtsführung als Bundesratspräsi-dent gelobt und dem Inhalt der Initiative dem Grundenach ebenfalls zugestimmt.Wir alle wollen weg vom Beteiligungsföderalismus.Wir wollen zu einer stärkeren Eigenverantwortung derLänder und zu einer Neuordnung der Finanzbeziehun-gen zwischen Bund und Ländern.
Im Geiste dieser Revitalisierung des Föderalismuserlaube ich mir, als Ministerpräsident eines der deut-schen Länder in der Debatte zur Regierungserklärungdes Bundeskanzlers hier im Bundestag das Wort zunehmen. Ich tue das insbesondere als Ministerpräsidenteines jungen Landes. Denn noch immer sind die neuenLänder mehr als die alten auf die volle Unterstützungder ganzen Bundesrepublik angewiesen.
Ich tue das im Wissen, daß wir auf Sie, meine Damenund Herren, auf den Deutschen Bundestag und auf dieBundesregierung, angewiesen sind.In den letzten Monaten war viel vom Aufbau Ost dieRede. Der Aufbau Ost solle erste, solle allererste, solleabsolute Priorität haben. Ich begrüße das ausdrücklich.Ich möchte allerdings hinzufügen, daß der Aufbau Ostdiese absolute Priorität bei Bundeskanzler Kohl zu jederZeit und uneingeschränkt hatte.
Kein westdeutscher Politiker war in den letzten Jahrenhäufiger in den neuen Ländern und war über die Situa-tion in den neuen Ländern besser informiert als er. MeinWunsch ist, daß sich daran auch in Zukunft nichts än-dert, daß der Aufbau Ost Chefsache bleibt.
Dr. Uwe-Jens Rössel
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218 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998
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Ich begrüße die Absicht der neuen Regierung, regel-mäßig in den neuen Ländern gemeinsame Kabinettssit-zungen mit den Landesregierungen abzuhalten. Ich lade,Herr Bundeskanzler Schröder, die Bundesregierung ein,zur ersten Sitzung nach Thüringen zu kommen. Dannsehen Sie nämlich, was alles möglich ist. In anderenLändern sehen Sie auch, was alles unmöglich ist.
Ich sehe in diesem Gedanken der Kabinettssitzungen ei-ne zeitgerechte Weiterführung der vielen Kanzlerrunden„Aufschwung Ost“ und der unzähligen Regionalkonfe-renzen, die die Bundesregierung bisher im Osten abge-halten hat.Im übrigen schließe ich mich der Ansicht meinesbrandenburgischen Kollegen an. Wir Ministerpräsiden-ten der neuen Länder werden in besonderer Weise dar-über zu wachen haben, daß die angekündigte Prioritä-tensetzung auch durchgehalten wird. Wer, wenn nichtwir, die Ministerpräsidenten der neuen Länder, hat dies-bezüglich die Wächterfunktion? Wir werden sie gemein-sam wahrnehmen.
Meine Damen und Herren, unsere drängendste Sorgeist nach wie vor die hohe Arbeitslosigkeit, auch wennwir sichtbare Erfolge haben. Im Oktober ist die Zahl derArbeitslosen im Freistaat Thüringen, bezogen auf die zi-vilen Erwerbspersonen, auf 13,4 Prozent gefallen. Sieliegt damit um 4,1 Prozent unter der Quote des Oktobersim Vorjahr. Wir haben damit die niedrigste Quote unterallen neuen Ländern.
Wir haben sogar das erste alte Land eingeholt. Das freutuns natürlich insgeheim ganz besonders.
Wer aber mehr Arbeitsplätze schaffen will, der mußdie politischen Rahmenbedingungen für eine gute wirt-schaftliche Entwicklung sichern.
Das Rückgrat dafür bildet der Solidarpakt aus dem Jah-re 1993, der uns bis 2004 den wirtschaftlichen Aufbau inden neuen Ländern finanziell sichert. Aber Überlegun-gen, wie es danach weitergehen soll, müssen jetzt ein-setzen. Brüssel hat zugesichert, daß die neuen LänderZiel-1-Gebiet bleiben. Aber die Höhe der Förderungdurch die Europäische Union ab dem Jahr 2000 istnoch nicht festgestellt. Hier drängt die Zeit. Wir habenNovember 1998. Es ist nicht mehr lange hin bis zum1. Januar 2000.Von existentieller Bedeutung für die ostdeutscheLandwirtschaft ist der weitere Umgang mit der Agen-da 2000. Die drohende Schlechterstellung der Landwirtein den neuen Ländern muß abgewendet werden.
Der Mittelstand ist für den wirtschaftlichen Aufbauin den jungen Ländern von besonderer, von zentralerBedeutung. Er muß steuerlich entlastet werden. Seinesteuerliche Belastung und seine Belastung durch zu hoheLohnnebenkosten müssen abgebaut werden. Geradedarum frage ich mich angesichts der weitgehend nochnebulösen steuerpolitischen Vorstellungen der Bundes-regierung: Was ist denn eigentlich Ihr Ziel? Ich fragemich, wie man Lohnnebenkosten senken will, indemman Energiesteuern erhöht. Wenn man Quersubventio-nierung will, soll man das bitte auch klar sagen undnicht Kostensenkungen vorspiegeln, die nur durchStrukturreformen zu haben wären.
Die geplante Energiesteuererhöhung trifft in besonde-rer Weise die jungen Länder. Schon der Wegfall desKohlepfennigs hat unsere Situation einseitig ver-schlechtert. Wer weiß, wie vieler Anstrengungen es be-darf, ausländische Investoren für die jungen Länder zugewinnen, der muß darauf achten, daß sich unsere Rah-menbedingungen nicht durch noch höhere Energiepreiseweiter verschlechtern.
Im Zweifelsfalle stimme ich Herrn Kollegen Clementzu, wenn er fordert, den gesamten gewerblichen Be-reich – nicht nur die sogenannten energieintensiven Be-triebe – von zusätzlichen Steuerbelastungen auszuneh-men.
Wo Clement recht hat, hat er recht, und da muß man ihnunterstützen. Wenn es schon nicht gelingt, alle gewerb-lichen Betriebe – nicht nur die energieintensiven – aus-zunehmen, dann möge man wenigstens alle Betriebe inden neuen Ländern ausnehmen, wenn der Aufbau Ostwirklich Vorrang haben soll.
In der Regierungserklärung ist die Finanzierung deraktiven Arbeitsmarktpolitik auf bisherigem Niveauzugesagt worden. Im Entwurf des Bundeshaushalts 1999der alten Regierungskoalition sind Ausgaben des Bun-des für die Arbeitsförderung in gleicher Höhe wie indiesem Jahr vorgesehen. Damit ist Vorsorge getroffen,daß die Bundesanstalt für Arbeit die Arbeitsmarktpolitikauf hohem Niveau fortführen kann. Hier können wir Sienur auffordern: Bleiben Sie dabei; führen Sie das fort,was im Haushaltsentwurf der alten Regierung vorgese-hen ist.
Von zentraler Bedeutung für den weiteren wirtschaft-lichen Aufschwung der neuen Länder ist die Verbesse-rung der Infrastruktur. Die entsprechenden Aussagender Koalitionsvereinbarung haben bei uns erheblicheUnruhe verursacht. Die Regierungserklärung allerdingsMinisterpräsident Dr. Bernhard Vogel
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schweigt zu diesem Thema. Ich gehe folglich davon aus,daß die Verkehrsprojekte Deutsche Einheit, die in-zwischen alle begonnen worden sind und in die erhebli-che Investitionen geflossen sind, nicht in Frage gestelltund auch nicht einer neuerlichen langwierigen Überprü-fung unterzogen werden.
Die von mir geführte Thüringer Koalition ist sich in die-sem Punkt völlig einig: Autobahnen und ICE-Trassensind Lebensadern, ohne deren Ausbau die Entwicklungin Thüringen und in den neuen Ländern insgesamt aufdas nachhaltigste beeinträchtigt würde.
Gerade weil gegenwärtig alles von einer Revitalisie-rung des deutschen Föderalismus spricht: Das Herzstückder Länderzuständigkeit ist und bleibt die Bildungs-und Kulturpolitik. Wir können nicht am Freitag dieEigenständigkeit der Länder betonen und am Dienstagauf den Hinweis verzichten: Bildung und Kultur sindselbstverständlich Ländersache und sollen Ländersachebleiben.
Ganz in diesem Geist hat sich Thüringen dafür einge-setzt, daß Weimar Kulturstadt Europas 1999 wird –zum ersten Mal eine Stadt in den neuen Ländern, zumerstenmal eine Stadt mit nur 60 000 Einwohnern. DieVorbereitungen sind weit fortgeschritten. Im Jahr des250. Geburtstages Johann Wolfgang von Goethes, 80Jahre nach der Verabschiedung der Weimarer Verfas-sung, 50 Jahre nach der Verabschiedung des Grundge-setzes und zehn Jahre nach dem Fall der Mauer ladenwir Europa nach Weimar und nach Thüringen ein.
Unsere Bewerbung war erfolgreich, weil Weimar undThüringen nicht alleine standen, sondern weil wir vonder Bundesregierung unterstützt wurden. Wir sind dank-bar, daß sich der Bund als Gesellschafter an der Wei-mar 1999 GmbH beteiligt und einen finanziellen Beitragleistet. Natürlich freue ich mich, wenn der Bundeskanz-ler den Anteil des Bundes erhöhen will und etwa bereitist, ihn auf die Höhe des Anteils des Freistaats Thürin-gen zu steigern.Meine Damen und Herren, die in Weimar ausgear-beitete Verfassung war eine der freiheitlichsten Verfas-sungen der Welt. Daß die Weimarer Republik dennochgescheitert ist, lag nicht an Weimar, sondern daran, daßes nicht genügend Demokraten gab, die bereit waren, dieDemokratie gegen Extremisten zu verteidigen. Die Leh-re daraus hat Theodor Heuss gezogen: „Keine Freiheitden Feinden der Freiheit“.
Meine Damen und Herren, wir werden mit dem Um-zug nach Berlin die Zeit des Provisoriums in Bonn be-enden und die innere Einheit auch durch die Rückkehrin die wiedervereinigte deutsche Hauptstadt sichtbarmachen. Aber für mich endet damit nicht die „BonnerDemokratie“, und für mich beginnt damit nicht die„Berliner Republik“.
Denn die Werte unserer Demokratie und das Grundge-setz verändern sich nicht. Beides zieht mit um nachBerlin
und wird nicht hier belassen.
Gerade weil ich Weimar, weil ich aber auch Buchen-wald vor Augen habe, möchte ich alles dafür tun, daßder Freistaat Thüringen ein verläßliches Glied der Bun-desrepublik Deutschland bleibt.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der
Staatsminister Rolf Schwanitz.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Vogel, ichdarf mich im Namen der Bundesregierung für Ihrefreundlichen Worte und für die Einladung herzlich be-danken. Ich bin mir sicher, daß es zwischen der neuenBundesregierung und Ihnen, Ihrer Staatsregierung, aberauch den anderen Landesregierungen der neuen Länderzu einer guten und zügigen Zusammenarbeit kommenwird. Herzlichen Dank!
Meine Damen und Herren, der Bundeskanzler hat inseiner Regierungserklärung am Dienstag darauf hinge-wiesen, daß die schonungslose Beurteilung der LageVoraussetzung für die Modernisierung unseres Landesist. Tatsache ist: Die Ostdeutschen haben gerade in denletzten Jahren spezielle Erfahrungen mit Dichtung undWahrheit in der Politik gemacht. Sie haben deshalb ei-nen besonderen Anspruch darauf, daß die Problemebeim Namen genannt werden. Die neue Bundesregie-rung kann und wird daher nicht das Blaue vom Himmelversprechen. „Blühende Landschaften“ sind diesmalnicht im Angebot.
Dazu sind die Probleme viel zu vielschichtig.
Notwendig sind vielmehr Anstrengung, Fleiß und vorallem auch viel Zeit. Deshalb müssen am Anfang Rea-lismus, Ehrlichkeit und Klarheit stehen. Dieser Realis-Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel
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mus wird von den Menschen in den neuen Bundeslän-dern erwartet, nicht leere Versprechungen, die in denletzten Jahren vor allen Dingen gegenüber den Ostdeut-schen gemacht worden sind. Das muß angenommenwerden. Das muß diese Bundesregierung mit Handelnuntersetzen. Darum wird es gehen.
Zweifellos sind wir in den vergangenen acht Jahrenein gutes Stück vorangekommen. Wer das bestreitenwollte – ich werde dies im Gegensatz zur alten Bundes-regierung niemandem im Haus, egal ob er auf der Oppo-sitions- oder auf der Regierungsseite sitzt, absprechen –,würde weder den erheblichen solidarischen Leistungender Westdeutschen für den Aufbau Ost noch den gewal-tigen Anstrengungen der Menschen in den neuen Bun-desländern gerecht.Dennoch gehört es zum Realismus, daß die neuenBundesländer noch für eine beträchtliche Weile auf dieUnterstützung und die Solidarität des ganzen Landesangewiesen sind. Noch ist kein selbsttragender Auf-schwung in den neuen Ländern zustande gekommen.Die Wachstumsraten sind in den letzten Jahren in denKeller gegangen. Sie sind unter die der alten Bundeslän-der zurückgefallen. Der ökonomische Spalt beginnt sichwieder zu öffnen. Noch sind viele Unternehmen in denneuen Ländern nicht wettbewerbsfähig und auch nichtkapitalstark genug. Noch sind Ost und West von gleich-wertigen Lebensbedingungen weit entfernt.Unser gemeinsames Ziel sollte deshalb sein, denAufbau Ost auch als eine Chance zu begreifen, um neueWege zu gehen, die ökonomischen und ökologischenVorbildcharakter für unser gesamtes Land haben.
Wir werden – wie in der Koalitionsvereinbarung ange-kündigt – ein Aufbauprogramm „Zukunft Ost“ aufden Weg bringen. Aber wir kündigen Konzepte nichtnur an; wir handeln auch sofort und entschlossen undräumen Stolpersteine aus dem Weg, die die alte Bundes-regierung hinterlassen hat. So werden wir für die neuenBundesländer innerhalb von zwei Monaten mehr auf denWeg bringen, als die alte Bundesregierung im gesamtenletzten Jahr für die neuen Bundesländer auf den Weggebracht hat.
Zu diesem Auftakt gehört erstens das Sofortpro-gramm, mit dem wir einhunderttausend Jugendliche soschnell wie möglich in Ausbildung und Beschäftigungbringen werden. Dabei entfällt ein Schwerpunkt desProgramms auf Ostdeutschland; denn die Mittel werdendort eingesetzt werden, wo die Not am größten ist. Die-ses Programm wollen wir durch die Fortschreibung derGemeinschaftsinitiative Ost flankieren; denn auch hierbrauchen wir Klarheit, brauchen wir Stetigkeit. Auchdies kann nicht von Jahr zu Jahr erneut in Frage gestelltwerden.
Zu diesem Auftakt gehört zweitens die aktive Ar-beitsmarktpolitik in den neuen Ländern, die vor derWahl von der alten Bundesregierung kurzfristig hochge-fahren wurde, ohne daß sie im Sinne einer Anschlußfi-nanzierung – Herr Ministerpräsident, hier habe ich eineetwas andere Auffassung in der Sache – für das Folge-jahr sichergestellt worden wäre. Das werden wir korri-gieren. Wir werden das verstetigen. Die aktive Arbeits-marktpolitik für 1999 wird auf hohem Niveau verstetigt.Dafür haben wir die Voraussetzungen im Etat der Bun-desanstalt für Arbeit bereits geschaffen; denn auch hiermuß schnell gehandelt werden, damit im nächsten JahrKlarheit für Ostdeutschland besteht.
Zum Auftakt gehört drittens, die Treuhandnachfolgeim nächsten Jahr nicht einfach auslaufen zu lassen. DieTreuhandnachfolge ist keine Dauereinrichtung; ich willdas in aller Deutlichkeit sagen. Aber wir wollen eine si-chere Begleitung der ehemaligen Treuhandunternehmenentsprechend den gesetzlichen Vorgaben auch weiterhingewährleisten.
Herr Staatsminister,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Sei-
fert?
Gleich. – Maßstab ist der gesetzliche Auftrag, der hier
beschlossen worden ist. Wir müssen ökonomische Soli-
dität in den Unternehmen erzeugen. Das geht nicht mit
der Stoppuhr in der Hand. – Bitte.
Herr Kollege Schwanitz, wir
haben uns im Wahlkampf ja einige Male getroffen. Bei
Ihnen im Vogtland und bei mir in Ostsachsen ist die Ar-
beitslosigkeit gleich groß. Was wollen Sie zur Versteti-
gung des aktiven Arbeitsmarktes in bezug auf die
Sachleistungen tun? Denn momentan besteht das Pro-
blem, daß die 300 Millionen DM, die in diesem Jahr als
Sachleistungen gezahlt wurden, auslaufen. Sie müssen
bis Ende dieses Jahres ausgegeben und abgerechnet sein.
Danach sterben die ABM weg, wenn nur noch die
Lohnkosten getragen werden. Dazu würde ich gerne et-
was Konkretes hören; denn danach werde ich aus dem
Wahlkreis gefragt.
Herr Abgeordneter, wir sind uns völlig darüber im kla-ren, daß das Sachleistungsproblem in den neuen Bun-desländern ganz besonders drängend ist, vor allen Din-gen weil die alte Bundesregierung 1997 durch ihre mas-sive Streichungskampagne vielen Beschäftigungsgesell-schaften die Grundlage entzogen hat. Deswegen muß dieStaatsminister Rolf Schwanitz
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Verstetigung mit einer Sicherstellung von Sachleistun-gen einhergehen. Sie können sicher sein, daß wir unsdieses Problemes annehmen werden.
Zu diesen Vorhaben gehört viertens ein klares Wortzum Solidarpakt von 1993, das die in den neuen Län-dern entstandene Verunsicherung beseitigt. Der Solidar-pakt wird das finanzielle Rückgrat des wirtschaftlichenAufbaus der neuen Länder bleiben. So ist zum Beispielauch der Versuch der alten Bundesregierung, Sonderzu-weisungen von 800 Millionen DM aus dem Finanzaus-gleich zu streichen, mit dieser neuen Bundesregierungvom Tisch. Solche Strategien werden wir nicht weiter-verfolgen.
Zum Auftakt gehört fünftens, die Ende 1998 auslau-fende Regelung zum Investitionsvorrang für Ost-deutschland weiter zu verlängern. Damit schaffen wirPlanungssicherheit, um insbesondere Investitionen inden Wohnungsbau, in den Kommunen nicht länger zugefährden. Auch hier ist dringender Handlungsbedarfgegeben. Es muß schnell gehandelt werden. Wir werdendas vordringlich bis zum Jahresende leisten.
In diesen vordringlichen Bedarf gehört sechstens: DieBefristung der Finanzhilfen für die ostdeutschenKrankenkassen ist vom Tisch und damit auch der ur-sprünglich von Bayern thematisierte Versuch der Regio-nalisierung von Krankenversicherungen. Auch hier ent-steht Planungssicherheit, übrigens auch für ostdeutscheUnternehmungen, die vor dem Hintergrund der hohenLohnnebenkosten arge Befürchtungen vor einer solchenStrategie haben.Siebentens: Wir beseitigen die von der EuropäischenKommission angedrohte Blockade beim Investitions-zulagengesetz. An dieser Stelle will ich an die jetzigeOpposition ein Wort richten: Sie haben mit dem Investi-tionszulagengesetz in den zurückliegenden Wochen undMonaten massivst Wahlkampf gemacht und es als einHerzstück Ihrer Leistungen für die ostdeutschen Länderund für den Aufbau Ost präsentiert. Dabei hatten Sie be-reits das Schreiben, in dem die EU-Kommission nur eineTeilgenehmigung des Gesetzes vorgesehen hat, bereitsin der Tasche. Sie haben nicht reagiert. Sie haben dieFristen verstreichen lassen. Wir werden das auf den Wegbringen, damit dieses Gesetz EU-konform in Kraft tretenund vollzogen werden kann.
Meine Damen und Herren, das Sofortprogramm ge-gen die Jugendarbeitslosigkeit, die Verstetigung der Ar-beitsmarktpolitik, die Regelung der Treuhandnachfolge-frage, Klarheit beim Solidarpakt, die Verlängerung beimInvestitionsvorrang, Sicherheit für die ostdeutschenKrankenkassen und pünktlicher Start des Investitions-zulagengesetzes, das sind sieben wichtige Punkte für dieneuen Länder, die Sie ausgesessen haben oder zum Teilpolitisch nicht wollten und die wir noch bis zum Jahres-ende angehen werden. Das ist in der Tat ein klares Si-gnal und ein guter Start der neuen Bundesregierung ge-genüber den neuen Ländern.
Die Schwerpunkte unserer Politik für Ostdeutschlandwerden im Aufbauprogramm „Zukunft Ostdeutschland“zusammengeführt. Sie reichen von einer verläßlichenFortsetzung der Aufbauhilfen und der Verstärkung vonZielgenauigkeit und Effizienz über den Ausbau der ost-deutschen Forschungslandschaft, über die Fortentwick-lung der öffentlichen Infrastrukturprogramme bis hin zurSicherung fairer Rahmenbedingungen für die ostdeut-sche Landwirtschaft. Im übrigen: Selbstverständlichsteht das, was in der gemeinsamen Erklärung zur Bo-denreform vereinbart worden ist, in keiner Weise zurDisposition.
Dabei werden wir sowohl neue Vorschläge unter-breiten als auch Fehler der alten Bundesregierung korri-gieren. Ich will dafür zwei Beispiele geben: Bei derForschungsförderung für die Industrie hatte die alteBundesregierung ihre Zusage nicht eingehalten, die Hil-fen auf hohem Niveau fortzusetzen. Die mittelfristigeFinanzplanung, die ich vorgefunden habe, sah hier einedeutliche Absenkung nach 1999 vor. Der frühere For-schungsminister hat es sogar fertiggebracht, das Pro-gramm „Forschungskooperation“ nur bis Ende Septem-ber dieses Jahres zu finanzieren und es dann ohne Vor-ankündigung einzustellen.
Ich kann die Klagen der ostdeutschen Unternehmen, dieauf Stetigkeit und Verläßlichkeit gehofft haben, sehr gutverstehen. Mit uns wird eine solche Politik, die die In-teressen der ostdeutschen Unternehmen ignoriert, nichtfortgesetzt werden.
Die Bedeutung der Modernisierung der Infrastruk-tur für Investionen und Arbeitsplätze in Ostdeutschlandkann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Deshalbwerden wir einen weiteren Schwerpunkt setzen und zumBeispiel die Verkehrprojekte Deutsche Einheit zügigweiterentwickeln.
Deswegen wird das Kabinett – so wie angekündigt – allezwei Monate in Ostdeutschland vor Ort gehen; es wirdnicht über die Menschen regieren,
Staatsminister Rolf Schwanitz
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sondern Probleme mit den Menschen besprechen undkonstruktiv und pragmatisch vorgehen. Das ist unserAnsatz.
Zur inneren Einheit der Deutschen gehören jedochnicht nur Zahlen und Fakten, die man in Mark und Pfen-nig ausweisen kann. Zur inneren Einheit gehört auch diewechselseitige Akzeptanz des jeweils anderen; denn dieinnere Einheit ist nicht dadurch zu erreichen, daß sichdie Ostdeutschen möglichst vollständig den westdeut-schen Normen und Wertevorstellungen anpassen. DieEinheit in Vielfalt ist unser Ziel. Deshalb zollt die Bun-desregierung den Lebensleistungen und Biographien derMenschen im Osten Achtung und Respekt. Sie berei-chern den Erfahrungsschatz unseres Volkes.Das Zusammenwachsen der Deutschen in Ost undWest kann nur gelingen, wenn Trennendes abgebaut undVerletzendes beseitigt wird. Ich will deshalb, daß dieMängel bei der Anerkennung und Rehabilitierungehemals politisch Verfolgter in der DDR endlich be-seitigt werden.
Sie wissen: Das ist eine lange Herzensangelegenheitvieler hier im Haus und ist in den letzten acht Jahren re-gelmäßig gescheitert. Jetzt haben wir andere Mehrheits-verhältnisse, jetzt muß es endlich zu einer Verbesserungdieser Situation kommen.
Das gilt aber auch für die Fortsetzung der Aufarbei-tung der Geschichte und für die wichtige Tätigkeit derBehörde für die Unterlagen des Staatsicherheitsdienstesder ehemaligen DDR, der sogenannten Gauck-Behörde.
Diese Beiträge sind wichtig; denn nicht Verdrängen oderVerklären der Vergangenheit, sondern nur eine offensiveAuseinandersetzung mit unserer eigenen Geschichtewird uns die Räume für die Auseinandersetzung und fürdie Wege in die Zukunft öffnen.
Ich will ferner, daß die Regelungen über die Aner-kennung von Berufsabschlüssen, über Titel und Ämterauf den Prüfstand kommen, damit geklärt wird, inwie-weit ostdeutsche Lebensleistungen durch das bisherigeRecht im vereinigten Deutschland angemessen gewür-digt werden. Schließlich streite ich dafür, das seit derEinheit gewohnte Vokabular einem kritischen Blick zuunterwerfen; denn auch ein Begriff wie Transferleistun-gen sollte künftig nicht länger überfrachtet und politischinstrumentalisiert werden.
Ich fordere Sie auf und biete Ihnen an, über all dieseDinge gemeinsam mit uns konstruktiv zu streiten, unab-hängig davon, ob Sie in der Koalition oder in der Oppo-sition stehen. Diese Ungerechtigkeiten, die teilweiseauch als Verletzungen empfunden werden, im Konsensoder im Streit gemeinsam zu beseitigen, nur dies wirduns bei der inneren Einheit weiterführen.
Herr Staatsminister,
achten Sie auf die Zeit, bitte.
Ja. – Die innere Einheit bleibt eine der zentralen innen-
politischen Herausforderungen unserer Zeit. Diese inne-
re Einheit erfordert die ökonomische Emanzipation des
Ostens. Dies erfordert eine Solidarität im Föderalismus
und eine Schwerpunktsetzung in der Bundespolitik.
Hierfür treten wir ein.
Herzlichen Dank.
Zu einer Kurzinter-
vention – das sind drei Minuten – erteile ich Frau Cor-
nelia Pieper das Wort.
Sehr geehrter HerrStaatsminister Schwanhold! Ich habe Ihren Ausführun-gen sehr aufmerksam zugehört.
– Schwanitz. Aber von Schwanitz bis Schwanhold istder Abstand in der Tat nicht weit. – Ich habe Ihre Aus-führungen sehr aufmerksam verfolgt. Ich stelle mit Be-friedigung fest, daß die SPD im Jahre acht der deutschenEinheit das Thema „Aufbau Ost“ entdeckt hat.
Was mich gewundert hat, ist, daß Sie, Herr Staatsmi-nister, nicht für blühende Landschaften in den neuenBundesländern sprechen. Meine Fraktion und ich gehö-ren auch nicht zu denjenigen, die blühende Landschaftenversprochen haben, aber wir sollten alle Kraft daraufverwenden, daß blühende Landschaften in den neuenBundesländern entstehen. Das gehört letztendlich auchzu Ihrer Aufgabe.
Bundeskanzler Gerhard Schröder hat den Aufbau Ostzur Chefsache gemacht. Ich hoffe, daß das auch Chefsa-che bleibt. Chefsache heißt für mich in erster Linie, sichum die Arbeitsplätze der Menschen in den neuen Bun-desländern zu kümmern. Die Arbeitslosigkeit ist dortdoppelt so hoch wie in den alten Bundesländern.
Staatsminister Rolf Schwanitz
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Sie legen Prioritäten auf den zweiten Arbeitsmarkt.Ich sage Ihnen: Wir brauchen eine aktive Mittelstands-förderung gerade auch für die neuen Bundesländer, umArbeitsplätze schaffen zu können.
Es sind keine Illusionen, wie der Bundeskanzler gesternsagte, die Sie sich machen; aber es sind falsche Hoff-nungen, die Sie sich letztendlich machen, wenn Sieglauben, mit dem zweiten Arbeitsmarkt die Problemelösen zu können.Wir brauchen eine aktive Mittelstandspolitik. Dawerden Sie mit der Ökosteuerreform nichts erreichen.Sie wissen genau wie ich, daß die Energie- und Strom-preise in den neuen Bundesländern höher sind als in denalten Bundesländern, die Strompreise um zwei oder dreiPfennig pro Kilowattstunde höher. Wenn Sie jetzt miteiner ökologischen Steuerreform hier noch draufsatteln,dann wird das zarte Pflänzchen „Mittelstand“ in denneuen Bundesländern vernichtet. Das kann man nichtwollen, wenn man den Aufbau Ost vorantreiben will.Wir brauchen hier klare Konzepte für Steuersenkun-gen. Die F.D.P. hat dazu immer konkrete Vorschlägegemacht. Das vermisse ich von Ihrer Seite. Wie wollenSie sonst den Mittelstand weiterhin unterstützen? Da istnichts von Ihrer Seite zu erkennen. Hier sind Sie zumHandeln aufgefordert.Was den Ausbau der Infrastruktur anbelangt: Wiestehen Sie zu der Position Ihres Koalitionspartners, derimmer wieder gefordert hat, Haushaltsmittel für denBundesfernstraßenbau zu streichen? In der letzten Le-gislaturperiode waren das immerhin 3 Milliarden DM.Investitionen für den Ausbau der Infrastruktur in denneuen Bundesländern sind Grundvoraussetzung dafür,daß Investitionen getätigt werden und daß Arbeitsplätzeentstehen können. Wie wollen Sie hier einen Schub in-itiieren, damit Arbeitsplätze entstehen, damit Investitio-nen kommen und damit verhindert wird, daß Umge-hungsstraßen und Autobahnen in den neuen Bundeslän-dern nicht gebaut werden? Hier fehlt mir ein klares Be-kenntnis auch seitens Ihres Koalitionspartners. Ihr Worthabe ich wohl gehört; allein, mir fehlt der Glaube. HerrStaatsminister, Sie sind hier aufgefordert, sich dazukonkreter zu äußern und zu handeln. Sie sind nicht auf-gefordert, nur zu verkünden, daß Sie als Staatsministerden Aufbau Ost wollen, der dann letztendlich mit derÖkosteuer im Abbruch Ost landet.
Herr Staatsminister
Schwanitz, möchten Sie antworten? – Bitte sehr.
Frau Kollegin Pieper, ich habe Ihnen sieben konkrete
Punkte genannt, die wir bis zum Jahresende umsetzen
werden. Das ist schon einmal ein Ansatz.
Sie können das gern noch einmal im Protokoll nach-
lesen. Vielleicht haben Sie nicht richtig zugehört. Das ist
in Ordnung. Ich glaube, das ist ein ordentlicher Fahr-
plan, für den wir uns sehen lassen können, insbesondere
vor dem Hintergrund der Zeit, die wir seit der Regie-
rungsübernahme für diese Dinge zur Verfügung hatten.
Eine weitere Bemerkung zu den blühenden Land-
schaften. Ich weiß nicht mehr, wie viele Jahre hier schon
über blühende Landschaften gesprochen worden ist. Es
ist nicht die Frage, ob man eine Verbesserung anstrebt,
sondern ob man sie den Menschen mit einem Zeithori-
zont von drei bis vier Jahren leichtfertig verspricht und
damit Probleme zudeckt. Das werden wir nicht tun,
meine Damen und Herren.
Frau Kollegin Pieper, wir machen uns keine Illusio-
nen, daß man in Ostdeutschland das Problem des Ar-
beitsplatzmangels mit dem zweiten Arbeitsmarkt lösen
könnte. Das ist nicht der Punkt. Aber Sie haben als
Koalitionspartner gemeinsam mit Ihrem Banknachbarn
im letzten Jahr arbeitsmarktpolitische Instrumente zu
wahltaktischen Instrumenten verkommen lassen. Das ist
die Hinterlassenschaft, mit der wir umgehen müssen.
Wir lassen die Menschen nicht einfach im Regen stehen.
Zum Schluß zur Steuersenkungsfrage. Frau Pieper,
wir setzen jetzt die Körperschaftsteuer auf 35 Prozent
fest.
Das habe ich bei Ihnen in den 16 Jahren nicht erlebt.
Damit haben wir eine enorme Senkung der Steuern: Daß
man das in vier Jahren machen kann, sollten Sie für sich
als Ansporn nehmen.
Ich erteile nun Herrn
Dr. Michael Luther, CDU/CSU-Fraktion, das Wort, bitte
sehr.
Sehr geehrte FrauPräsidentin! Meine Damen und Herren! Der Aufbau Ostist jetzt Chefsache – wie man leicht sieht.
Am Dienstag habe ich die Debatte aufmerksam verfolgt:Auch in der zweistündigen Regierungserklärung war dieChefsache dem Chef nur fünf Minuten wert. Ich glaube,Cornelia Pieper
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224 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998
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daß diesem wichtigen Thema – der inneren EinheitDeutschlands – mehr Aufmerksamkeit gebührt hätte.
– Der Chef ist vielleicht trotzdem da; das kann ja sein.
Zur Infrastruktur. Dazu steht in der Regierungser-klärung – lassen Sie mich auf ein paar Dinge kurz ein-gehen –: Infrastruktur, Ausbau des Telefonnetzes, Ver-kehrsprojekte „Deutsche Einheit“ – das waren The-men in den letzten Jahren. Es ist Gewaltiges erreichtworden, und diese Anstrengungen müssen fortgesetztwerden; das ist unstrittig. Etwas anderes steht auch nichtin der Regierungserklärung; das ist gut so. Ich hoffe nur,daß die angedachte Überarbeitung der Verkehrswege-pläne vor dem Hintergrund von Bemerkungen, die dalauten, weniger sei mehr, nicht im Endeffekt dazu füh-ren wird, daß in den neuen Bundesländern nicht mehr,sondern weniger für die Infrastruktur getan wird. Daswäre katastrophal.
In den letzten Jahren waren Modernisierung und Sa-nierung zentrale Themen. Ich sage es deutlich: Wer essehen will, kann es sehen: Es gibt die blühenden Land-schaften.
Und nun das „Neue“ der neuen Bundesregierung: Siewollen die Anstrengungen zur Sanierung und Gestaltungder Städte fortsetzen. Ich finde, das ist eine tolle Idee.Sicherlich haben Sie in der Regierungskoalition langedarüber nachgedacht, bis Sie darauf gekommen sind.Zum wirtschaftlichen Aufbau: In Ostdeutschland ent-steht eine moderne Industrie. Darüber sind sich Experteneinig. Es gab und gibt eine riesige Zahl von neuen Un-ternehmen. Das war nur mit Hilfe von Fördermittelnmöglich. Nun möchte die Bundesregierung – man hö-re! – die Förderpräferenz für die neuen Bundesländersichern. Ich finde das gut. Allerdings sei die ironischeFrage erlaubt: Vor wem wollen Sie die Förderpräferenzsichern? Genauer betrachtet scheint diese Frage auchnicht unberechtigt zu sein, nämlich wenn man die Viel-zahl von teuren Wahlversprechen und die ungeklärtenFinanzierungsfragen berücksichtigt. Aufbau Ost kostetGeld. Herr Schwanitz, Sie werden darauf zu achten ha-ben, daß dieses Geld im Bundeshaushalt auch zur Ver-fügung steht.
Ich hoffe, daß es Ihnen gelingt.Zum Thema zweiter Arbeitsmarkt: Er muß auf hohemNiveau bleiben. Ich freue mich, daß Sie die Mittel dafürverstetigen wollen. Neu ist der Gedanke allerdings nicht.Im Gegenteil: Wenn ich die Formulierungen aus der Re-gierungserklärung – Herr Schwanitz, in Ihrem Beitraghaben Sie das wiederholt – ganz genau betrachte, habeich sogar Sorge. Ich will es einmal auf den Punkt brin-gen. Sie unterstellen für das Jahr 1998 Wahlkampf-ABM, was – und das wissen Sie alle ganz genau – nichtstimmt. Die Crux der Behauptung ist allerdings, daß Sieals das stetige Maß eine Ebene ansetzen wollen, dieniedriger ist als die des Jahres 1998. Ich glaube, ABMmuß auf dem finanziellen Niveau des Jahres 1998 fort-gesetzt werden. Darauf haben Sie zu achten.
Resümee: Wer von der „Chefsache“ Aufbau Ost neueIdeen erwartet hat, der wurde getäuscht. Herr Schwanitz,ich wünsche Ihnen viel Glück. Sie können auf unsereUnterstützung zählen; denn der Aufbau Ost ist uns Her-zensanliegen. Sie werden in dieser Koalition auf unsereUnterstützung angewiesen sein.
Das hat Ihre in manchen Phasen sehr mutlose Rede zudem Thema „Aufbau Ost“ und zu dem Thema „blühen-de Landschaften“ zum Ausdruck gebracht.Sie sollten sich in der Zukunft bemühen, ein Stückbei der Wahrheit zu bleiben. Ich denke zum Beispiel andas Thema Investitionszulagengesetz. Wir in der Re-gierungskoalition haben das in der letzten Legislaturpe-riode als wichtiges und richtiges Mittel, als Anschlußre-gelung für das Fördergebietsgesetz auf den Weg ge-bracht. Es ist gut, daß es dieses Instrument gibt. Ich hof-fe, daß Sie nicht versuchen, es zu kassieren, sondern esweiterhin anwenden.
Lassen Sie mich noch ein paar Bemerkungen zu an-deren Themen machen.Zum Thema Steuerreform: In seiner Regierungserklä-rung hat der Bundeskanzler auf die schwache Eigenka-pitalbasis der Unternehmen in den neuen Bundeslän-dern hingewiesen. Er hat – zu Recht – festgestellt, daßdie Eigenkapitalbasis gestärkt werden muß. GlaubenSie, daß Ihnen das mit Ihrer Steuerreform gelingt? Un-ternehmen brauchen zur Eigenkapitalbildung Gewinne.Wenn Sie die Gewinne aber durch Steuern deutlichschmälern, dann kann niemand Eigenkapital bilden. Siebrauchen dieses Geld für die vielen Experimente, die Sievorhaben; ich weiß das. Doch was bedeutet das für dieeigenkapitalschwachen Unternehmen in den neuen Bun-desländern? Sie werden diese Unternehmen in ganz be-sonderer Weise treffen.Zum Thema Ökosteuer: Einerseits – das ist allen klar– ist das Einkommensniveau der Arbeitnehmer und derRentner in den neuen Bundesländern besonders niedrig;andererseits müssen, dem starken wirtschaftlichen Wan-del geschuldet, die Arbeitnehmer in den neuen Bundes-ländern viel flexibler sein und viel mehr pendeln als dieMenschen in den alten Bundesländern. Deshalb wird dieökologische Steuerreform die Bürger in den neuenBundesländern in besonderem Maße treffen. Bei niedri-gerem Einkommen nutzt auch niemandem eine Steuerre-form, durch die er weniger Steuern bezahlt. Aber höhereEnergie- und Benzinsteuern werden die neuen Bundes-länder treffen, und zwar die einfachen Menschen mitkleinem Einkommen.
Dr. Michael Luther
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 225
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Diese Politik schadet den Menschen, sie schadet derKaufkraft, und was der Kaufkraft schadet, das schadetnatürlich auch dem Mittelstand in den neuen Bundeslän-dern.Zum Thema Strompreis: In den neuen Bundesländernist er besonders hoch, weil die Stromversorgungsbasis inden vergangenen Jahren grundlegend modernisiert wer-den mußte. Diese Tatsache ist schon heute für die Un-ternehmen in den neuen Bundesländern schwerwiegend.Wir haben das immer festgestellt. Wenn Sie diesen Un-ternehmen mit der Ökosteuer nun noch eine zusätzlicheEnergiesteuer aufdrücken wollen, dann wird es für siegefährlich, dann werden sie in ihrem Bestand gefährdet,und dann wird so mancher auch auf Neuinvestitionenverzichten müssen. Lassen Sie mich hier aus der„Volksstimme“ vom 3. November 1998 zitieren:Der Wernigerröder Zylinderkopfhersteller Rauten-bach hat ein Investitionspaket von 40 Mio. DM fürdie Produktion eines Motorblocks aus Aluminiumgestoppt.„Insbesondere die von der rot-grünen Bundesregie-rung angekündigte Energiepreiserhöhung bedeutetfür unser Unternehmen eine dramatisch nicht hin-nehmbare Verschlechterung im internationalenWettbewerb“, so der Geschäftsführer.
Das ist keine Folge der Politik der alten Regierung,sondern eine Folge des Hickhacks, der Diskussionen, diein den letzten 14 Tagen in Deutschland durch die heuti-ge Regierungskoalition geführt wurden. Ergebnis istVerunsicherung bei Investoren, Verunsicherung an einerStelle, an der es uns gelungen ist, langsam das Vertrauenin die Solidität des wirtschaftlichen Aufbaus in denneuen Bundesländern zu wecken.
Sie zerstören diese Vertrauensbasis.Ich fordere Sie deshalb auf: Verzichten Sie auf dieÖkosteuer für die neuen Bundesländer gänzlich!
Meine Damen und Herren, eine letzte Bemerkung.Ich zitiere aus Ihrer Regierungserklärung, Herr Bundes-kanzler – er ist leider nicht anwesend –:Die ehemaligen Bürgerrechtsgruppen aus derDDR, die gemeinsam mit den ostdeutschen Sozial-demokraten die friedliche Revolution mitgestaltethaben, . . .Ich halte das für einen dreisten Versuch, die Geschichtezu fälschen.
In unserer Fraktion sitzen Vera Lengsfeld, Arnold Vaatzund Günter Nooke. Sie haben 1989 bei der friedlichenRevolution in der DDR ihren Kopf hingehalten.
Sie haben für die deutsche Einheit gestritten, die wir1990 erreicht haben. Im Gegenzug hat der damalige Mi-nisterpräsident und heutige Bundeskanzler GerhardSchröder gemeinsam mit seinem heutigen Finanzmi-nister, Herrn Lafontaine, im Bundesrat gegen die deut-sche Einigung gestimmt. Das ist geschichtliche Wahr-heit.
Ich bin mir sicher: Wenn damals die SPD Regie-rungsverantwortung getragen hätte, hätten wir heutekeine deutsche Einheit.
Dann wäre heute die Staatsbürgerschaft der DDR aner-kannt, und dann könnten wir nur noch auf die doppelteStaatsbürgerschaft hoffen.
Das Wort hat nun
unsere Kollegin Sabine Kaspereit von der SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! VerehrteKolleginnen und Kollegen! Der Ausgang der Bundes-tagswahl am 27. September muß allen in diesem Hausezu denken geben, den Verlierern ebenso wie den Sie-gern. Das Wahlverhalten der Bürgerinnen und Bürger inden neuen Ländern macht deutlich, daß Versprechun-gen, die nicht eingehalten werden, eine schwere Hypo-thek sind. An dieser Hypothek tragen nicht nur diejeni-gen, die die Versprechungen abgegeben haben – sie ha-ben ja die Quittung dafür bekommen –, sondern trägtauch die neue Regierung, die diese Hypothek nun abtra-gen muß. Auf der neuen Bundesregierung lastet eineenorme Erwartungshaltung. Staatsminister Schwanitzhat mir das Wort aus dem Mund genommen. Im übrigenfreue ich mich, daß Regierung und Fraktion hier wirk-lich mit einer Stimme sprechen. Es ist besonders wich-tig, eine ehrliche Politik zu machen und keine falschenVersprechungen.
In den vergangenen Jahren ist manches in Ost-deutschland erreicht worden. Die infrastrukturellenVoraussetzungen wurden entscheidend verbessert. DieProduktivität stieg von gut 30 auf jetzt 60 Prozent, auchdie Bruttoeinkommen stiegen von 47 auf jetzt durch-schnittlich 74 Prozent, die Renten verdreifachten sich.In dieser Hinsicht wurde viel geleistet, und wir stellennicht in Abrede, daß die alte Bundesregierung ihrenAnteil an diesem Erfolg hat. Aber es ist vor allem – dasmöchte ich ganz klar sagen – ein Erfolg und einDr. Michael Luther
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Verdienst der Menschen in den neuen Bundesländern,die mit ihrem Leistungswillen entscheidend dazu beige-tragen haben.
Das schöpferische Potential der Menschen ist ein Pfund,mit dem wir wuchern wollen, können und müssen. DieMenschen sind der positivste Standortfaktor.
In unserer Bestandsaufnahme müssen wir aber auchfeststellen, daß die Transformation von einer zentralgelenkten Staatswirtschaft in eine wettbewerbsfähigeMarktwirtschaft in den neuen Ländern noch nicht gelun-gen ist. Konkret bedeutet das für die wirtschaftlicheEntwicklung in Ostdeutschland im achten Jahr der deut-schen Einheit, daß die Wirtschaftsleistung je Einwohnererst an die Hälfte des westdeutschen Wertes heran-kommt, daß die Industrieproduktion je Einwohner le-diglich ein Drittel der alten Länder erreicht, daß sich dieostdeutschen Wachstumsraten deutlich verlangsamthaben und daß Investitionen vor allen Dingen im kom-munalen Bereich rückläufig sind. Das bedeutet auch,daß der Kapitalstock je Einwohner weit unter dem-jenigen in den alten Bundesländern liegt, daß die Er-tragslage bei der Mehrzahl ostdeutscher Betriebe nachwie vor unbefriedigend ist und daß sich die hohen Ge-bühren für Energie und Abwasser als Standortnachteilerweisen.Die Integration der neuen Länder in die internationaleArbeitsteilung rückt die Wettbewerbsfähigkeit der ost-deutschen Unternehmen und ihrer Produkte und Dienst-leistungen in den Mittelpunkt des Interesses. Es kommtnun darauf an, sich auf überregionalen und internatio-nalen Märkten zu behaupten. Aber eine Exportquote von15 Prozent kann nicht befriedigen und ist dafür verant-wortlich, daß das Wachstum in den neuen Ländern zu-rückbleibt.Neben den von mir genannten Schwierigkeiten hatdie ostdeutsche Wirtschaft nach wie vor mit zentralenProblemen zu kämpfen. Besonders schwerwiegend istdie dünne Eigenkapitaldecke, die die Unternehmen so-fort in Existenznot bringt, wenn sie kurzfristig wenigerAufträge oder hohe Außenstände haben.
Ob neugegründet, privatisiert oder reprivatisiert – dieBetriebe hatten bisher überhaupt noch keine Chance, ei-ne Eigenkapitaldecke zu bilden.
Die industrielle Basis ist trotz einiger Leuchttürme zuschmal. Deshalb müssen wir eine offensive und gezielteAnsiedlungspolitik betreiben, die auch für die Zukunftträgt. Natürlich muß letztlich jedes Unternehmen seineStandortentscheidung selbst treffen. Die Politik kannStandortentscheidungen nur über Rahmenbedingungenbeeinflussen, die einen Standort für ein Unternehmenattraktiv machen. Die Landesregierungen der neuenLänder leisten auf diesem Gebiet Pionierarbeit. Wirmüssen sie dabei vor allem auf dem Feld der Entbüro-kratisierung unterstützen.
Es sind doch weniger die Steuern, die bei einer Stand-ortentscheidung eine Rolle spielen; vor allen DingenGenehmigungszeiten, Grundstückspreise, eine kalku-lierbare Förderung und die Qualifikation der Arbeits-kräfte bestimmen die Entscheidung eines potentiellenInvestors, nach Ostdeutschland zu gehen oder wegzu-bleiben.Zum Stichwort Qualifikation: Daß die RegierungKohl es zugelassen hat, daß die industrienahe Forschungin einem brutalen Ausmaß kaputtgemacht wurde,
gehört ebenfalls zu dieser Hypothek, von der ich anfangssprach.
Wir werden erhebliche Anstrengungen machen müssen,damit Forschung und Entwicklung durch ihre Impulsewieder zur wirtschaftlichen Gesundung in den neuenLändern beitragen können.Untrennbar mit der wirtschaftlichen Lage ist die Si-tuation auf dem Arbeitsmarkt verbunden. Im Januarwerden wir wahrscheinlich erleben, daß die Zahl derArbeitslosen im Osten erneut ansteigt. Dann laufennämlich die berüchtigten Wahl-ABM aus. Ich höreschon jetzt, wie dann die rechte Seite dieses Hauses inHäme ausbrechen und Rotgrün die Verantwortung dafürzuschieben wird. Ich verspreche Ihnen: Diese Hämewird auf Sie selbst zurückfallen.
Ihre Arbeitsmarktpolitik nach dem Berg-und-Talbahn-Prinzip hat unter anderem das Wahlverhalten der Ost-deutschen entscheidend mitbestimmt; denn die Ostdeut-schen haben erkannt, welches Spiel die alte Bundesre-gierung mit den Hoffnungen der Menschen getriebenhat.Hoffnungen setzen Vertrauen voraus. Für uns, meineDamen und Herren, ist das Vertrauen der Menschen eineVerpflichtung, die wir ernst zu nehmen haben. Die ausenttäuschtem Vertrauen gewachsene Verunsicherung beider ostdeutschen Bevölkerung mündet in ein sich vertie-fendes Mißtrauen in die Politik. Neben der Angleichungder Lebensverhältnisse ist die Überwindung diesesMißtrauens eine der wesentlichen Voraussetzungen aufdem Weg zur wirklichen Einheit Deutschlands.
Frau Kollegin, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten
Grund?
Bitte.Sabine Kaspereit
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Frau Kollegin Kaspe-
reit, Sie sprachen ABM-Geschenke zur Wahl
und eine Häme an, die vermutlich ausbrechen würde,
wenn die Zahl der ABM zurückgefahren würde. Würden
Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß im Haushaltsentwurf
1999, den die alte Bundesregierung vorgelegt hat, Mittel
für den zweiten Arbeitsmarkt in derselben Höhe wie in
diesem Jahr eingestellt waren,
so daß wir ohne weiteres die Zahl der ABM gehalten
hätten und auch den finanziellen Spielraum gehabt hät-
ten, die Förderung auf demselben Niveau weiterzufüh-
ren. Nehmen Sie bitte auch zur Kenntnis, daß im Haus-
haltsentwurf für 1998 der Zuschuß für die Bundesanstalt
für Arbeit so großzügig bemessen war, daß Sie ungefähr
5 Milliarden DM zur Verfügung haben, um, wie Sie es
ja jetzt auch tun, ein Sofortprogramm aufzulegen, ohne
eine Mark neu aufnehmen zu müssen. Das ist Ausdruck
der soliden Finanzierung der alten Bundesregierung. Vor
diesem Hintergrund hätte das Geld ausgereicht, alles auf
demselben Niveau weiterzuführen. Sie können das ohne
weiteres machen. Sie müssen nur denselben Betrag ein-
stellen.
Herr Grund, ich nehme Ih-re Feststellung zur Kenntnis. Aber Sie wissen genausowie ich, daß Sie mit Ihrem Vorgehen auf 1999 vorge-griffen haben. Insofern hat sich der Betrag schon ent-sprechend verringert.
Wir müssen das Versprechen halten, den wirtschaftli-chen Aufbau Ostdeutschlands als gesamtdeutsche Auf-gabe höchster Priorität voranzutreiben, um dem Ziel derVerwirklichung der deutschen Einheit näherzukommen.Es geht darum, unsere gemeinsame Kraft darauf zurichten, die soziale und wirtschaftliche Spaltung zwi-schen Ost und West zu überwinden und die solidarischeHilfe für Ostdeutschland auf verläßlicher Grundlagekonsequent fortzuführen. Dafür hat Gerhard Schröder –neben einer vernünftigen Wirtschafts- und Steuerpolitik– bereits wichtige Weichen gestellt.Aus dem Ergebnis des vorläufigen Kassensturzeswissen wir erstens, daß die finanzielle Lage keinebedeutenden Spielräume bietet. Wir wissen zweitens,daß frühere Versäumnisse oder falsche Weichenstellun-gen nicht einfach ungeschehen gemacht werden können.Wir wissen drittens: Die ökonomische Leistungsfä-higkeit ist der Dreh- und Angelpunkt. Wir können unseinen rückläufigen Saldo bei Unternehmensgründungenund einen ansteigenden Saldo bei Insolvenzen volks-wirtschaftlich einfach nicht leisten, weil dies alle ande-ren Anstrengungen in Frage stellen würde. Das ist derGrund dafür, daß die Neue Mitte für uns keine leereWorthülse ist.Die Neue Mitte steht für Solidarität, Innovation, Ver-antwortung und Unternehmerlust, wie BundeskanzlerSchröder in seiner Regierungserklärung zum Ausdruckgebracht hat. Wir wissen, daß diese Neue Mitte in Ost-deutschland ein zartes Pflänzchen ist, das erst wachsenmuß. Förderung von Existenzgründern, Bereitstellungvon – wir nennen es – Chancenkapital, Stärkung der Ei-genkapitalbasis, Absatzförderung, Beratung und nichtzuletzt eine anständige Unternehmerkultur wie die Ein-haltung von Zahlungsfristen sind für dieses Wachsenund Gedeihen unverzichtbar.Der Koalitionsvertrag und die Regierungserklärungdes neuen Kanzlers beweisen, daß die neuen Bundeslän-der bei der jetzigen Koalition gut aufgehoben sind.
Erste Projekte sind bereits auf den Weg gebracht:Erstens. Die finanzielle Ausstattung der verschiede-nen Förderinstrumentarien spricht für sich.Zweitens. Wir stellen die Planungssicherheit bei denostdeutschen Arbeitsbeschaffungen auf eine verläßlicheGrundlage.Drittens. Unser Sofortprogramm für 100 000 Arbeits-plätze, um die Jugendarbeitslosigkeit wirksam zu be-kämpfen, ist ein Programm, das vor allem in den neuenLändern Perspektiven für junge Menschen schaffen soll.
Wir können doch nicht tatenlos zusehen, daß Jugendli-che in Null-Bock-Mentalität und Extremismus abdriften,weil ihnen mangels Arbeit und Ausbildung keine Lei-stung abgefordert werden kann. Wir können die Jugend-lichen nicht dafür verantwortlich machen, daß sie nichtzur Leistung bereit sind, wenn ihnen die Möglichkeitfehlt, ihren Leistungswillen beweisen zu können.
Viertens. Die Sicherung und Neustrukturierung derAltlastensanierung ist eine wichtige Voraussetzung fürdie Neuansiedlung von Unternehmen.Fünftens. Darüber hinaus werden Instrumentarienentwickelt, die die Strompreise in den neuen Ländern –die Strompreise sind heute ja schon sehr oft angespro-chen worden – an das Westniveau heranführen sollen;denn es ist nicht länger zu verantworten, daß die Bürge-rinnen und Bürger in den neuen Bundesländern höhereStrompreise als die in den alten Bundesländern zahlen.
Auch diese Maßnahme erleichtert Investitionen. Durchdiese moderne Energiepolitik wird eine zukunftsfähigeEnergieversorgung sichergestellt, die hilft, die Standort-nachteile zu beseitigen.Aus all dem, worüber ich gesprochen habe, wirddeutlich, daß Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht ge-trennt voneinander betrachtet werden können.
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Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit kann es ei-gentlich niemanden in Erstaunen versetzen, daß dieKrankenkassen in Ostdeutschland ein erhebliches Ein-nahmeproblem haben. Deshalb müssen wir bei den Re-formen auf dem Gebiet der gesetzlichen Krankenversi-cherung sorgfältig darauf achten, daß die Finanzierungin den neuen Ländern gesichert ist.
Auch ist es nicht hinnehmbar, daß es vor allem imOsten eine wachsende Zahl von Arbeitsverhältnissen auf520-DM-Basis gibt, die in mehrfacher Hinsicht sozialvöllig ungesichert sind.
Hier muß dem Mißbrauch Einhalt geboten werden, weildie Allgemeinheit doppelt belastet wird: erst durch Min-dereinnahmen in den Sozialkassen und im nächstenSchritt durch die Ausgaben für die soziale Sicherung derbetroffenen Menschen.Zum Stichwort Landwirtschaft: Wir werden auch indiesem Bereich sorgfältig auf die Wettbewerbsfähigkeitunserer Betriebe achten müssen, dies vor allem vor demHintergrund der Europapolitik.Ich habe nur einige der Probleme der neuen Länderangesprochen. Aber aus den genannten Beispielen wirdwohl deutlich, daß wir in dieser Wahlperiode viel zu tunhaben werden. Ich freue mich darüber, dies nicht mehrnur aus der Oppositionsrolle heraus tun zu müssen.
Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der neuenOpposition, gute Ideen zur Verwirklichung der innerenEinheit Deutschlands haben, so sind Sie herzlich einge-laden, konstruktiv mitzuarbeiten, so wie auch wir es inder Opposition getan haben.
Gute Ideen haben jetzt eine weitaus größere Chanceumgesetzt zu werden.
Weitere Wortmel-
dungen zu diesem Tagesordnungspunkt liegen nicht vor.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 14/17 und 14/25 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Federführung betreffend den Antrag der PDS zum
Vermögenszuordnungsgesetz auf Drucksache 14/17 soll
beim Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder
liegen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen jetzt zu den Themenbereichen Inneres,
Recht und Kultur. Außerdem rufe ich Zusatzpunkt 2 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra
Pau, Ulla Jelpke, Heidemarie Lüth, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der PDS
– Drucksache 14/26 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ich eröffne die Aussprache und erteile Herrn Dr. Jür-
gen Rüttgers von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin!Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heuteüber die Regierungserklärung und die Koalitionsverein-barung in den Bereichen Inneres und Recht. Wir habenwährend des Wahlkampfes vom jetzigen Bundeskanzlerdes öfteren folgenden Spruch gehört: „Wir wollen nichtalles anders machen, aber vieles besser.“
Wer die Aussagen zur Innen- und Rechtspolitik gehörthat, wer nachgelesen hat, was in der Koalitionsvereinba-rung dazu steht, und wer den verpatzten Start auf sichwirken läßt, der ist geneigt, dem Bundeskanzler zu emp-fehlen, den Satz ein klein wenig zu verändern, gleich-sam nach dem Motto: Wir wollen nicht alles besser ma-chen, aber vieles anders. Das scheint mir der Kern derAussagen zur Innen- und Rechtspolitik zu sein.
Folgendes ist bisher zu beobachten: ein verpatzterStart, eine mißlungene Steuerreform, Krach mit derBundesbank, außenpolitische Fehlleistungen in Polenund Frankreich, Versprechungen in Milliardenhöhe undein Innenminister, dessen Positionen und Äußerungen soklar sind wie Druckerschwärze. Da wird gemeldet, derInnenminister sei für die Freigabe weicher Drogen.Das wird dann sofort dementiert. Eine Freigabe, heißtes, sei zur Zeit nicht denkbar. Aber er sei bereit, seinebisherige Haltung zu überprüfen. Was denn nun, HerrSchily? Ja oder nein?Da lobt Herr Schily die Arbeit der Gauck-Behörde fürdie „Festigung der Demokratie und das Zusammenfüh-ren unseres Volkes“ und kündigt zugleich eine aufga-benkritische Diskussion über die Behörde an. Was dennnun, Herr Schily? Wird die Stasi-Überprüfung einge-schränkt, oder wird sie fortgeführt, ja oder nein?
Da wird die PDS im Verfassungsschutzbericht 1997im Kapitel „Linksextremistische Bestrebungen“ aufge-führt und beschrieben. Angesichts der Tatsache, daß dieSPD in Mecklenburg-Vorpommern mit dieser Parteikoaliert, fällt Herrn Schily nur ein, das sei eine etwasSabine Kaspereit
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vertrackte Situation. Sind Sie nun der Verfassungsmi-nister, Herr Schily, ja oder nein?
Da hält Herr Schily laut „Spiegel“ die doppelteStaatsangehörigkeit für gerade einmal hinnehmbar.Wenige Sätze weiter preist er das neu konzipierteStaatsangehörigkeitsrecht als „Reformwerk von histori-schen Dimensionen“. Was denn nun, Herr Schily? Hin-nehmbar oder historisch? Ja oder nein?
So etwas kommt, wenn man sich im Wahlkampf bisan die Grenze der Möglichkeiten verbiegt. So etwaskommt, wenn man in der eigenen Partei keine Mehrheithat.Herr Schily, Sie haben bei Ihrer Amtseinführung ge-sagt, niemand müsse sich Sorge machen, daß es erstmalsgelungen sei, den scheidenden Innenminister zu klonen.Ich kann Sie da wirklich beruhigen. Diese Angst habenwir nicht. Klonen hat nämlich etwas mit identisch zutun. War Manfred Kanther klar, so sind Sie unklar. Wardie Innen- und Rechtspolitik der alten Regierung ein-deutig, so ist sie jetzt mehrdeutig.
Ebenso ist das innenpolitische Rezept der SPD: gleich-sam „Schily con carne“, aber ohne Fleisch, ohne Grund-sätze und mit jeder Menge roter Soße.
Meine Damen und Herren, da lese ich in der Koaliti-onsvereinbarung, Alltagskriminalität solle bürokratie-arm bestraft werden. Ist das eigentlich ein neuer Begrifffür die Entkriminalisierung von Bagatelldelikten? DieHerausnahme von Bagatelldelikten aus dem Strafrechtführt nur zu noch mehr Kriminalität. Das Rechtsbewußt-sein nimmt erheblichen Schaden, wenn man diese De-likte nur deshalb nicht mehr strafrechtlich verfolgt, weilsie massenhaft begangen werden. Die Konsequenzenwären verheerend: Hemmschwellen werden gesenkt,Rechtsbrecher werden ermutigt, kriminelle Karrierenwerden gefördert – ein eindeutig falsches Signal geradeauch angesichts der in den letzten Jahren gestiegenenJugend- und Kinderkriminalität.
Da spricht der Bundeskanzler von der Härte gegendas Verbrechen und der Härte gegen seine Ursachen.Dann aber muß er auch sagen: Wehret den Anfängen!Die Anfänge sind die oft geduldeten Verwahrlosungenin öffentlichen Verkehrsmitteln, die Verwahrlosungenauf den Plätzen und Straßen unserer Städte durch Dro-genszene und Alkoholismusmilieus, durch Vandalismusund Schmierereien. Wir wollen keine Gewöhnung anOrdnungswidrigkeiten, an Ladendiebstahl und Drogen-konsum. Am Ende steht nämlich eher mehr Kriminalitätund nicht weniger Kriminalität.
Deshalb ist es auch falsch, die Strafverfolgung auf denkriminellen Drogenhandel zu beschränken. Auch derBesitz von Drogen muß strafbar bleiben. Die Beschaf-fungskriminalität läßt sich nur dann wirksam bekämp-fen, wenn nicht nur gegen Drogenhändler, sondern auchgegen Drogenbesitzer konsequent strafrechtlich vorge-gangen wird.
Meine Damen und Herren, genauso unklar wie beider inneren Sicherheit bleibt die Koalitionsvereinbarungbei der Ankündigung, für gleichgeschlechtliche Paareein Rechtsinstitut der eingetragenen Lebenspartner-schaft zu schaffen. Unklar ist, warum ein solchesRechtsinstitut nur für gleichgeschlechtliche Paare einge-richtet wird.
Notarielle Verträge kann man schon heute schließen.Warum wird so etwas, wenn man schon so denkt, wieSie es tun, nicht auch für nichteheliche heterosexuellePaare eingerichtet? Wie soll dies eigentlich in der Praxisfunktionieren? Soll der Standesbeamte neben dem Hei-ratsbuch auch noch ein Partnerschaftsbuch führen? Wirddemnächst auch das Ende solcher Partnerschaften ver-gleichbar einer Ehescheidung registriert? Gelten diegleichen Folgen wie bei einer Ehescheidung? Wennnicht: Warum werden Ehepaare, die sich scheiden las-sen, anders behandelt? Was bleibt eigentlich noch vom„besonderen Schutz“ von „Ehe und Familie“, den dasGrundgesetz garantiert? Das alles ist unklar und unaus-gegoren.Meine Damen und Herren, nachdem die alte Bundes-regierung wichtige Schritte auf dem Weg zu schnellerenVerwaltungs- und Gerichtsverfahren und zu einemschlanken Staat durchgesetzt hat, kündigt nun die neueBundesregierung eine umfassende Justizreform an. Wirbegrüßen dieses Vorhaben. Die Bundesregierung kanndabei auf erfolgreiche Vorarbeiten aus der vergangenenLegislaturperiode zurückgreifen. Verschlankung der Ju-stizorganisation, Verringerung der Zahl der Gerichts-zweige sowie Zusammenführung von Verfahrensord-nungen, Entlastung der Justiz durch Förderung der au-ßergerichtlichen Streitbeilegung, Reduzierung der Kon-trolldichte richterlicher Tätigkeiten durch Abschaffungder zweiten Tatsacheninstanz und Erweiterung des ver-waltungsbehördlichen Beurteilungsspielraums – das al-les sind Vorschläge der Sachverständigenkommission„Schlanker Staat“ aus der letzten Legislaturperiode. Wirsind bereit, an einer solchen Justizreform mitzuarbeiten.Das gleiche gilt übrigens für die Überprüfung von Ver-fahrensabläufen und die Verringerung der Regelungs-dichte.Für uns bedeutet Staatsmodernisierung im Kern ei-ne kritische Überprüfung und definitive Rücknahmevieler staatlicher Zuständigkeiten, Aufgaben und Ver-fahren. Es geht um ein neues Verhältnis zwischen ge-sellschaftlicher Eigenverantwortung und staatlicherLenkung. Dabei ist das Zukunftsbild für die CDU/CSU-Fraktion eine öffentliche Verwaltung, die deutlich weni-ger Aufgaben wahrnimmt und sich zugunsten privaterDr. Jürgen Rüttgers
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Initiativen und Eigenverantwortung zurücknimmt. Wirwollen einen modernen öffentlichen Dienst. Das beziehtsich nicht nur auf die Effizienz der Abläufe, sondernauch auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und ihreberufliche Stellung im öffentlichen Dienst.Sie haben also grundsätzlich unsere Zustimmung zudem Ziel. Wir haben aber erhebliche Bedenken, ob nichtdoch, wie so häufig in der Koalitionsvereinbarung undder Regierungserklärung, nur Überschriften gesetzt wer-den. Ich sage Ihnen: Mit einer besonderen Stabsstellebeim BMI, beim Bundesminister des Innern, werden Siesich nicht aus der Affäre ziehen können. Wir erwartenkonkrete Schritte – und das schnell. Die Meßlatte liegthoch. Die alte Bundesregierung hat von den 600 Behör-den des Bundes – man höre und staune – bereits einViertel abgebaut. Der Bund hat heute weniger Personalals vor der Wiedervereinigung. Die Bundesverwaltungwurde um 70 000 Stellen reduziert, was einem Einspar-volumen von 5,4 Milliarden DM alleine im Jahr 1998gleichkommt.
Wenn der ÖTV-Vorsitzende Mai angesichts des Re-gierungswechsels jetzt davon spricht, das sei das Endedes Konzepts „Schlanker Staat“, dann nährt das unsereZweifel – ich begrüße den Vorsitzenden des Innenaus-schusses, Herrn Penner; ich freue mich, daß Sie sich hiervorne so angenehm unterhalten
– ich muß reden, deshalb finde ich es prima, daß Sie soaufmerksam zuhören –, daß Sie Ihre Überschriftenwirklich ernst meinen. Gleiches gilt für die vielen An-kündigungen neuer staatlicher Aktivitäten in der Koali-tionsvereinbarung. Im Kern – davon bin ich fest über-zeugt – glauben Sie immer noch an den alten ÜbervaterStaat, der lenkt, der regelt und belohnt. Da mag HerrHombach sich noch so abstrampeln, am Schluß werdendoch wieder die alten Etatisten in der SPD gewinnen.Warten Sie ab! Das kommt so. Das sage ich voraus.
All das sagt etwas über Ihr Staatsverständnis aus.Das gilt auch – und vielleicht sogar besonders – fürdie angekündigte Reform des Staatsangehörigkeits-rechts. Nun will ich, meine Damen und Herren, zuersteinmal sagen: Die Ausländer- und die Asylpolitik ist einganz schwieriges Feld. Ich gebe auch gerne zu, daß diealte Koalition in diesem Bereich unterschiedliche Auf-fassungen hatte.
Aber bei allen unterschiedlichen Auffassungen ist eineswichtig: Deutschland ist ein ausländerfreundliches Land,und das soll so bleiben.
7,3 Millionen EU-Bürger und Ausländer leben auf Dau-er in Deutschland, und sie sind Teil unserer Gesell-schaft. Herr Schily, ich stimme Ihnen ausdrücklich zu,wenn Sie sagen, wir brauchen uns nicht ständig selbstanzuklagen, daß hier die Menschenrechte mit Füßen ge-treten werden. Da haben Sie recht.Aber die Einführung der doppelten Staatsangehö-rigkeit ist nicht ein Thema wie jedes andere. Anders alsim Steuerrecht, anders als im Strafrecht sind die Einfüh-rung der doppelten Staatsbürgerschaft und ein Automa-tismus bei der Einbürgerung von in Deutschland gebo-renen Kindern eben nicht mehr revidierbar. Selbst inproblematischen Fällen, wenn ein Bürger ausländischerHerkunft wiederholt straffällig geworden ist, kann dieVerleihung der Staatsbürgerschaft nicht wieder rück-gängig gemacht werden. Das verbietet Art. 16 desGrundgesetzes ausdrücklich. Insofern kommt es schondarauf an, genau zu überlegen, was man da macht.Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion läßt sich bei ihrerPolitik von drei Zielen leiten. Das ist einmal die Identität,zweitens die Toleranz und drittens die Integration. Dasheißt konkret: Erstens. Wir wollen, daß die Zugangsbe-grenzung für Ausländer, die nach Deutschland kommenwollen, weiter so eng wie möglich gestaltet bleibt.
Zweitens. Wir wollen das Mögliche tun, um die inDeutschland rechtmäßig lebenden Ausländer in unsereGesellschaft zu integrieren. Drittens. Wir halten die re-gelmäßige doppelte Staatsangehörigkeit für falsch.
Kurt Biedenkopf, meine Damen und Herren, hat An-fang September in der Debatte hier im Bundestag ge-sagt, daß eine Politik scheitern muß, die von einer fal-schen Sicht der Wirklichkeit ausgeht.
Wie ist denn die Wirklichkeit in diesem Bereich? Dawird zum Beispiel behauptet, die doppelte Staatsangehö-rigkeit sei international üblich. Wahr aber ist: Mit derEinführung der regelmäßigen doppelten Staatsangehö-rigkeit geht Deutschland einen Sonderweg.
Zwei Drittel der europäischen Staaten verlangen alsVoraussetzung für die Einbürgerung die Aufgabe derbisherigen Staatsangehörigkeit.
Die Vermeidung von Mehrstaatigkeit ist Weltrechts-standard. Selbst die so integrationsfreudigen skandinavi-schen Länder lehnen sie für Ausländer auf ihrem Terri-torium ab. Auch in Deutschland ist sie, anders als dasbehauptet wird, bisher die Ausnahme. Nur 0,72 Prozentder im Bundesgebiet lebenden Deutschen haben eineweitere Staatsangehörigkeit.Da wird behauptet, das Abstammungsprinzip seiwilhelminisch – so in der Regierungserklärung – undentspreche nicht dem europäischen Standard. Wahr aberDr. Jürgen Rüttgers
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ist: Von den 43 europäischen Staaten kennt überhauptnur ein Land, nämlich Irland, das Territorialprinzip inreiner Form. In abgeschwächter Form findet es sich inweiteren sechs Staaten. Die restlichen 36 Staaten kennennur das Abstammungsprinzip.Nun mag manchem, meine Damen und Herren, dieseDiskussion abstrakt vorkommen, aber sie ist hochsensi-bel. 1997 wurden bundesweit knapp 83 000 Ausländereingebürgert; von 1991 bis 1997 insgesamt 412 000.Rund 56 Prozent – das sind rund 4 Millionen Auslän-der – erfüllen nach den Zahlen des Ausländerzentralre-gisters die zeitliche Einbürgerungsvoraussetzung einesmindestens achtjährigen Inlandsaufenthalts. Es wirddoch wohl niemand, der die Wirklichkeit kennt, be-haupten wollen, sie alle seien in die deutsche Gesell-schaft integriert.Damit, meine Damen und Herren, stellt sich für michdie zentrale Frage: Dient die Einführung der regelmäßi-gen doppelten Staatsbürgerschaft der Integration der hierlebenden Ausländer? Ich meine, nein.
Durch die doppelte Staatsangehörigkeit wird die Inte-gration ausländischer Mitbürger nicht gefördert, son-dern erschwert. Integration heißt, sich mit diesem Land,mit seiner Geschichte, mit seiner Zukunft zu identifizie-ren. Integration heißt, Teil der Gesellschaft zu sein. In-tegration heißt, Rechte und Pflichten anzunehmen. Inte-gration heißt, die deutsche Sprache zu sprechen. – Denn,meine Damen und Herren, Kommunikation ist wichtig,damit unsere Gesellschaft zusammenhält. – Integrationheißt, sich mit unserer Gesellschaft und Verfassungs-ordnung zu identifizieren. Deshalb, meine Damen undHerren, kann Integration nicht alleine durch einen Ho-heitsakt, nicht alleine durch die Übergabe des deutschenPasses erreicht werden. Die Staatsbürgerschaft steht amEnde und nicht am Anfang der Integration.
Die Koalitionsvereinbarung, meine Damen und Her-ren, verwechselt Ursache und Wirkung, und sie enthältkein Wort darüber, welche Kriterien für den Nachweisder Integration vorliegen müssen. Der Bundeskanzlerwill anscheinend das volle Bürgerrecht verleihen, selbstwenn keine Integration in unsere Gesellschaft erfolgt ist.Oder wie versteht man den Satz in der Regierungserklä-rung: „Niemand, der Deutscher werden will, soll dafürseine ausländischen Wurzeln aufgeben oder verleugnenmüssen.“? Muß denn wenigstens ein Deutscher inDeutschland Wurzeln haben, oder reicht die halbeLoyalität? Soll es in Zukunft viele Deutsche geben, dienur die halbe Loyalität schulden?Wer zwei Pässe hat, kann, je nach Bedarf, mal so undmal so optieren. Je nach Gelegenheit kann der deutscheoder der ausländische Paß benutzt werden. In beidenStaaten kann man wählen bzw. gewählt werden. ImAusland kann der Schutz von zwei Staaten in Anspruchgenommen werden.
Es erhöhen sich visumsfreie Reisemöglichkeiten. Vor-teile bestehen im Steuerrecht, im Gewerberecht, imSchulrecht, im Familienrecht, im Niederlassungsrecht.Meine Damen und Herren, eine solche Privilegierung– auch der entsprechende Verdacht dazu reicht – kannnicht zur politisch unverzichtbaren Zustimmung derdeutschen Bevölkerung zur Integration der hier lebendenAusländer beitragen. Sie wird, so fürchte ich, eher fürzusätzliche lrritationen und Verwerfungen sorgen. DasBild einer Zweiklassengesellschaft droht – mit verhäng-nisvollen Folgen für Toleranz und Integration. Denn dasist offenkundig: Auch nur der Verdacht, daß hier einebestimmte Bevölkerungsgruppe privilegiert wird, fördertnicht Toleranz und Aufnahmebereitschaft, sondern be-schädigt sie. Schon deshalb ist eine doppelte Staatsan-gehörigkeit der falsche Weg.
Meine Damen und Herren, wir werden über die wei-teren Einzelheiten Ihrer Pläne noch diskutieren. Ich bieteIhnen aber eines an: Lassen Sie uns das Thema Integra-tion nicht auf das Thema Staatsangehörigkeit verengen.Lassen Sie uns eine gemeinsame große Anstrengung vonBund, Ländern und Kommunen unternehmen, um dieje-nigen zu integrieren, die in Deutschland leben und blei-ben wollen und die noch nicht integriert sind.Dann müssen wir aber, meine Damen und Herren, da-für Sorge tragen, daß es in Deutschland keine Schulklas-sen mehr gibt, in denen mehr als die Hälfte der Kinderausländischer Herkunft ist. Dann müssen wir dafür sor-gen, daß mehr Lehrer für einen besseren Sprachunter-richt zur Verfügung stehen, wie das etwa in Bayern be-reits durchgesetzt ist. Dann müssen wir dafür sorgen,daß nicht 17,6 Prozent der ausländischen Jugendlichenohne Hauptschulabschluß bleiben, daß nur 43 Prozentder jungen Ausländer eine Lehre machen – gegenüberzwei Dritteln der deutschen Jugendlichen. Dann müssenwir dafür sorgen, daß es in unseren Städten keine Gettosgibt.Von all dem, meine Damen und Herren, ist in derKoalitionsvereinbarung und in der Regierungserklärungnichts zu lesen, kein Wort über das eigentliche Problemder Integration. Aber hier gibt es die Möglichkeit, kon-kret etwas für die Integration zu tun.
Lassen Sie mich abschließend noch zu einem weite-ren Thema kommen, das weit über den Komplex derIntegration hinausgeht. Ich meine die Einführung deskommunalen Wahlrechts für hier lebende Auslän-der, unabhängig davon, ob sie aus Ländern der Europäi-schen Union kommen oder nicht. Eine Grundgesetzän-derung in dieser Frage ist mit der CDU/CSU-Fraktionnicht zu machen. Staatsangehörigkeit und Wahlrecht ge-hören zusammen, wie es auch das Bundesverfassungsge-richt gesagt hat.
Dieses Thema geht über die reine Frage des Wahlrechtshinaus. Das kommunale Wahlrecht für Angehörige vonDr. Jürgen Rüttgers
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Staaten außerhalb der Europäischen Union erschwertauch die weitere europäische Einigung. Gleiches, so be-fürchte ich, gilt auch für die doppelte Staatsbürgerschaftals Regelform. Was werden denn unsere europäischenPartner sagen, wenn die Gewährung der doppeltenStaatsangehörigkeit dazu führt, daß mit ihr auch einAufenthaltsrecht in ihren Ländern eingeräumt wird? Wiewollen Sie eine gemeinsame europäische Flüchtlings-und Migrationspolitik durchsetzen, wenn Sie vorher na-tionale Alleingänge veranstalten? Wie wollen Sie vonanderen Ländern einen wirksamen Schutz der Außen-grenzen der Europäischen Union vor illegalen Einwan-derern und Schleuserbanden verlangen, wenn Sie vorhernicht mit ihnen reden? Was Sie vorhaben, erschwert dieeuropäische Einigung.Meine Damen und Herren, der Bundeskanzler hat inseiner Regierungserklärung einen Satz gesagt, dermich – ich sage das ganz offen – hat schaudern lassen.
Der Satz lautet:Auch unsere Nachbarn in Europa wissen, daß sieuns . . . um so besser trauen können, je mehr wirDeutschen selbst unserer . . . Kraft vertrauen.Es waren in der Vergangenheit immer die gefährli-chen Schieflagen im nationalen Selbstbewußtsein,die zu Extremismus und Unfrieden geführt haben.Dieser Satz steht im unmittelbaren Kontext zu den Aus-sagen über die Ausländerpolitik. Was hier ohne europäi-sche Abstimmung als nationaler Alleingang angekündigtwird, ist ein deutscher Sonderweg und vielleicht – des-halb finde ich den Satz so schlimm – wieder eine Kraft-meierei, die zu einer gefährlichen Schieflage in Europaführt.
Was Sie hier beginnen, ist ein gefährliches Spiel, das mitder CDU/CSU-Bundestagsfraktion nicht zu machen ist.
Ich erteile das Wort
dem Bundesinnenminister Otto Schily.
Sehr ver-ehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kol-leginnen und Kollegen! Zu meiner Amtseinführung hatmir ein guter Freund ein im Jahre 1795 erschienenesBuch geschenkt, das den Titel trägt: ,,Über die politischeStaatskunst“. Der Untertitel lautet: ,,Zur Belehrung undBeruhigung für alle die geschrieben, welche bei der jet-zigen Kannegießerei über Staatsglückseligkeit, Staats-verfassung, Regierung, Regenten und Untertanen ei-gentlich nicht wissen, woran sie sind.“
Meine heutigen Ausführungen sollen dazu beitragen,daß alle wissen können, woran sie sind, auch Herr Kol-lege Rüttgers, der offenbar noch nicht den richtigenDurchblick gewonnen hat.
Der weite Bereich der Innenpolitik – das möchte ichan den Anfang stellen – bedarf in besonderem Maße ei-ner nüchternen, sachlichen Betrachtung und eines behut-samen, jedoch zugleich konsequenten Vorgehens, zumalThemen wie Kriminalität oder der rechtliche Status derin unserem Land lebenden Mitbürgerinnen und Mitbür-ger ausländischer Herkunft keine abstrakten Fragen dar-stellen, sondern Probleme, mit denen die Menschen imAlltag unmittelbar konfrontiert sind; es sind Probleme,die auch in die Gefühlswelt der Menschen hineinwirken.Ich hoffe sehr, daß wir uns alle in diesem Hause daraufverständigen können, den in unserer Gesellschaft durch-aus vorhandenen Grundkonsens über Fragen der in-neren Sicherheit zu bewahren und Vorhaben auf die-sem sensiblen Feld in Zukunft möglichst in großer Ge-meinsamkeit voranzubringen.
In der vergangenen Legislaturperiode ist das in gro-ßem Umfang gelungen. Die Kolleginnen und Kollegender Opposition lade ich jedenfalls ausdrücklich ein, sichauch in Fragen der inneren Sicherheit konstruktiv an derGestaltung einer neuen Politik zu beteiligen. Auch kon-struktive Kritik ist selbstverständlich willkommen.An erster Stelle unserer Innenpolitik steht der Schutzder Bürgerinnen und Bürger vor Gewalt, Kriminali-tät und Extremismus. Aus den im Grundgesetz ver-bürgten Grundrechten auf Leben, körperliche Unver-sehrtheit und freie Entfaltung der Persönlichkeit folgtdie damit untrennbar verbundene fundamentale Ver-pflichtung des Staates, seine Bürgerinnen und Bürgerdavor zu schützen, Opfer von Gewalt und anderen Kri-minalitätsformen zu werden.
– Das habe ich immer so gesehen, Herr Breuer.Die Menschen haben ein Recht darauf, ihr Lebenfriedlich und unbehelligt von Kriminalität und Krimina-litätsfurcht zu führen. Nur ein Staat, der seiner friedens-wahrenden und schützenden Aufgabe nachkommt, wirdmit der Zustimmung und mit dem aktiven Eintreten sei-ner Bürgerinnen und Bürger für ihn rechnen können.
In seiner Vorlesung zur Rechtsphilosophie im Jahre1824 hat Hegel dazu folgendes gesagt:So ist erreicht, daß das Individuum hier die Be-schützung, den Schutz für die Ausübung seinerRechte findet, es findet diese beachtet von oben,und so knüpft sich sein partikuläres Interesse an dieErhaltung des Ganzen.Dr. Jürgen Rüttgers
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Die Legitimität eines Staates hängt daher – nach denWorten Hegels – sehr wesentlich davon ab, ob er seinerSchutzfunktion gerecht wird. Ein Staat, der von seinenBürgerinnen und Bürgern lediglich als überdimensio-nierte Regulierungsbehörde wahrgenommen wird, die zuüberhöhten Preisen schlechte Leistungen bietet, wirdweder den Verstand, geschweige denn die Herzen seinerBürgerinnen und Bürger erreichen können.
Das Gewaltmonopol des Staates, dessen friedenstif-tende Funktion von niemandem in Zweifel gebrachtwerden darf, erfordert diese Legitimität und hat deshalbnicht nur Eingriffsrechte zum Inhalt, sondern auchHandlungspflichten im Sinne eines wirksamen Schutzesder Allgemeinheit und des einzelnen.Die entschlossene Bekämpfung der Kriminalitätauf nationaler, zunehmend aber auch auf internationalerEbene muß daher eine Schwerpunktaufgabe der Innen-politik bleiben.
Dabei bieten im internationalen Bereich die bevorste-hende EU-Präsidentschaft und die bereits bestehendeSchengen-Präsidentschaft viele Handlungsmöglichkei-ten, die genutzt werden müssen.In einem demokratischen Rechtsstaat gilt ebensoselbstverständlich, daß Kriminalitätsbekämpfung nur aufder Grundlage und im Rahmen rechtsstaatlicher Grund-sätze stattfindet. Im Gegensatz zu totalitären Staatensetzt der demokratische Rechtsstaat durch Verfassungund Gesetz seinen Befugnissen Grenzen und garantiertdie Kontrolle durch unabhängige Gerichte. Dem liegtdie Erkenntnis zugrunde, daß Freiheit und Sicherheitsich wechselseitig bedingen.
Wir sollten uns davor hüten, die Gewährleistung der in-neren Sicherheit als Einbuße an Freiheit mißzuverste-hen.
Wer Kriminalität erfolgreich bekämpfen will, mußsich ein möglichst genaues Bild von der Sicherheitslageverschaffen. Dazu reichen nach unserer Überzeugungdie bisher verwendeten Datensammlungen, insbesonderedie Polizeiliche Kriminalstatistik, nicht aus.
Wir werden statt dessen einen periodischen Sicherheits-bericht erstellen, der auf wissenschaftlich fundierterGrundlage eine Beurteilung der Kriminalitätsentwick-lung in unserem Lande und der entsprechenden Gefah-renpotentiale und damit zugleich eine zielgenauere Be-kämpfungsstrategie ermöglicht.
Wir werden Sicherheitsdefizite, soweit sie vorhandensind, nicht dadurch zu beseitigen versuchen, daß wirständig neue Gesetze beschließen. Wir setzen vielmehrdarauf, die vorhandenen gesetzlichen Möglichkeitenentschlossen und konsequent zu nutzen.
Jedoch muß auch das materielle Strafrecht im Bereichder Wirtschafts- und der Umweltkriminalität verschärftwerden, um besorgniserregenden Entwicklungen aufdiesem Gebiet entgegenzuwirken.
Auch das Waffenrecht werden wir neu regeln.Im internationalen Vergleich kann sich Deutschlandrühmen, eines der sichersten Länder der Welt zu sein.
Das verdanken wir nicht zuletzt der guten Arbeit von Ju-stiz, Staatsanwaltschaft und Polizei. Das ist Grund ge-nug, allen, die in diesen wichtigen Institutionen ihrePflicht tun, unsere besondere Anerkennung und unserenDank auszusprechen.
Der Slogan „Die Polizei, dein Freund und Helfer“ ist,wie ich finde, zu Unrecht verspottet worden.
Die Menschen – und es sind viele –, die in einer kon-kreten Notsituation auf die Unterstützung der Polizeiangewiesen waren, wissen den Polizeibeamten alsFreund und Helfer durchaus zu schätzen. Der neue Vor-sitzende der Gewerkschaft der Polizei, Norbert Spinn-rath, hat in einem Aufsatz für das „Deutsche AllgemeineSonntagsblatt“ mit Recht auf die guten Erfahrungen hin-gewiesen, die man mit dem partnerschaftlichen Konzeptdes „neighborhood policing“ oder auch mit dem Kon-zept des „problem-oriented policing“, also der problem-orientierten Polizeiarbeit, in der US-amerikanischenStadt San Diego gemacht hat. Man sollte sich in denUSA die richtigen Vorbilder suchen, meine Damen undHerren.
Ich will an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen, daßsich gerade die Polizeigewerkschaften stets uneinge-schränkt für die strikte Einhaltung rechtsstaatlicherGrundsätze bei der Polizeiarbeit eingesetzt haben. Auchdas trägt zur Akzeptanz der schwierigen Tätigkeit derPolizei in der Bevölkerung in erheblichem Maße bei.
Die Polizei ist auf gute Zusammenarbeit mit dem pri-vaten Sicherheitsgewerbe angewiesen. Das private Si-cherheitsgewerbe erfüllt wichtige Aufgaben. Wir haltenes aber für geboten, daß die Befugnisse und die not-Bundesminister Otto Schily
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wendige Qualifikation im privaten Sicherheitsgewerbegesetzlich klar geregelt werden, um keine Grauzonenentstehen zu lassen.
Ebenso wichtig – wenn nicht sogar wichtiger – wieder entschlossene Einsatz repressiver Mittel gegen aktu-elle Kriminalität ist die Prävention. Der Grundsatz, daßVorsorge allemal besser ist als Nachsorge, gilt auch imBereich der Politik der inneren Sicherheit.
Prävention – das ist oft gesagt worden – ist eine ge-samtgesellschaftliche Aufgabe. Das heißt konkret, daßalle gesellschaftlichen Kräfte und jeder einzelne an die-ser Aufgabe mitwirken muß: die Länder, der Bund, dieKommune, die Polizei, die gemeinnützige Organisation,die Familie, die Schule.
Die Sicherheitspartnerschaften verschiedener Aufgaben-träger auf allen staatlichen Ebenen, auf seiten des Bundesunter Einbeziehung des Bundesgrenzschutzes, müssenverstärkt werden. Wir werden nach weiteren Möglichkei-ten Ausschau halten, um technische und organisatorischePrävention auszubauen und zu verbessern.Ein besonderes Gewicht hat die soziale Prävention.Das Beste, was sich diese Regierung vorgenommen hat,ist in dieser Hinsicht das Programm zur Schaffung vonAusbildungs- und Arbeitsplätzen für Jugendliche.
Wie sollen Jugendliche die Regeln einer Gesellschaftakzeptieren lernen, wenn die Gesellschaft für sie wedereine verläßliche Perspektive in Form von Ausbildungs-und Arbeitsplätzen noch genügend Kultur- und Frei-zeiteinrichtungen bereithält? Hier für Abhilfe zu sorgenist jeder Anstrengung wert, wenn wir nicht unsere Zu-kunft verspielen und die Jugend unserem Staat entfrem-den wollen.
Ich unterstreiche an dieser Stelle noch einmal, daßnach meinem Verständnis auch die Kultur eines Landeseine zentrale Bedeutung im Sinne von Prävention zurVerhinderung von Fehlentwicklungen Jugendlicher hat.
Ich wiederhole bewußt den von mir erwähnten Satz:Wer Musikschulen schließt, schadet der inneren Sicher-heit.
– Ich freue mich, daß dieser Satz auch den Beifall derOpposition findet.Diese Behauptung wird – das ist für einige vielleichteine Überraschung – auch durch die Erfahrung in einergroßen Kommune, nämlich in London, bestätigt, überdie Yehudi Menuhin berichtet hat: In einem Distrikt vonLondon, der bisher zu den Problembezirken hinsichtlichder Jugendkriminalität zählte, ist die Gewaltbereitschaftder Jugendlichen im Vergleich zu anderen Distriktendeutlich zurückgegangen, weil es dort ein breites Ange-bot zur musischen Betätigung für Jugendliche gibt. –Das sollte uns zu denken geben.
Damit Erfahrungen auf dem Gebiet der Kriminalprä-vention ausgetauscht und wissenschaftlich aufgearbeitetwerden können, um zu einer Gesamtstrategie zu gelan-gen, werden wir ein „Deutsches Forum für Kriminalprä-vention“ gründen.Den inneren Frieden wahren und die innere Sicher-heit gewährleisten können wir nur, wenn der innere Zu-sammenhalt der Gesellschaft nicht verlorengeht. Dazugehört auch, daß wir den Bürgerinnen und Bürgern aus-ländischer Herkunft, die schon seit langer Zeit bei unsleben und in beträchtlichem Umfang – das sollten wirnie vergessen – zum Wohlstand und Gedeihen unseresLandes beitragen, die volle Integration in unseren Staatermöglichen.
Wir werden daher, was längst überfällig ist und was Sieleider über viele Jahre hin nicht geschafft haben, dasStaatsangehörigkeitsrecht grundlegend reformieren.
Wir bringen damit das Staatsangehörigkeitsrecht aufein modernes europäisches Niveau, das dem aufgeklär-ten Staats- und Verfassungsverständnis des beginnendenneuen Jahrhunderts entspricht.
Es ist ein Vorhaben von wahrhaft historischen Dimen-sionen. Unsere Gesellschaft beweist sich damit als frei-heitliche, tolerante und weltoffene Ordnung.
Sie, Herr Rüttgers, haben insofern eine völlig rück-wärtsgewandte Sichtweise.
Ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht kann seinIntegrationsziel nur dann erreichen – das lehrt die Erfah-rung –, wenn das Entstehen einer doppelten Staatsbür-gerschaft hingenommen wird. Das Entstehen einer dop-pelten Staatsbürgerschaft ist gewiß kein eigenständigesZiel in dem Sinne, daß wir möglichst viele doppelteStaatsbürgerschaften herbeiführen wollen. Jedoch darfBundesminister Otto Schily
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das Entstehen einer doppelten Staatsbürgerschaft nichtlänger ein Integrationshindernis sein.
Ich weiß, daß es gegen doppelte Staatsbürgerschaftendurchaus ernstzunehmende Einwände gibt. Wir werdenuns mit diesen Einwänden in den Ausschußberatungengründlich auseinanderzusetzen haben. Die Kritiker soll-ten jedoch nicht übersehen, daß bereits durch eine großeAnzahl von binationalen Ehen doppelte Staatsbürger-schaften entstehen, ohne daß das zu irgendwelchenSchwierigkeiten geführt hätte.
Die CSU muß daran erinnert werden, daß sie in einemNachbarstaat, in Polen, durchaus für doppelte Staatsbür-gerschaften eintritt. Ihre Haltung ist daher mit der Logiknicht in Einklang zu bringen.
Integration kann allerdings nur gelingen, wenn auchdie Zuwanderer zu Integrationsleistungen bereit sind.Dazu gehört die Respektierung unserer Verfassungs-und Rechtsordnung ebenso wie – das halte ich für völligselbstverständlich; ich weiß gar nicht, warum man dar-über noch ins Grübeln kommt – das Erlernen der deut-schen Sprache.
Wer sich in einem Land länger aufhalten will, muß sichauch der Kommunikationsmöglichkeiten versichern.
– Es ist eine ganz andere Frage, ob man das ins Gesetzschreiben muß. Das halte ich allerdings nicht für not-wendig.
Vielmehr müssen wir die notwendigen Angebote ma-chen. Das ist Integration.
Herr Rüttgers, Integration ist übrigens ein Prozeß. Auchein deutsches Kind kommt nicht integriert auf die Welt.
Vielmehr wird es dadurch, daß es in Deutschland auf-wächst, in die Gesellschaft integriert.
Allgemein werden die Probleme im Zusammenhangmit Asylsuchenden, Bürgerkriegsflüchtlingen undMigration an Bedeutung zunehmen. Die Zuwanderungnach Westeuropa erreichte durch den Zusammenbruchder osteuropäischen Staatensysteme und den Krieg aufdem Balkan quantitative Dimensionen, die seit demZweiten Weltkrieg nicht mehr dagewesen sind. Insge-samt verließen nahezu 10 Millionen Menschen in einemZeitraum von fünf Jahren ihre Heimat, von denen etwa4 Millionen nach Westeuropa kamen.Die neue Bundesregierung steht zu ihrer Verpflich-tung, politisch Verfolgten Zuflucht zu gewähren undBürgerkriegsflüchtlingen vorübergehend Schutz zu bie-ten. Wir orientieren unsere Politik auch an den Fakten.Zu diesen gehört die Tatsache, die leicht einzusehen ist,daß Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten Zielvon Zuwanderern geworden ist. Daß Sie davor immerIhre Augen verschlossen haben, zeigt Ihre Realitäts-fremdheit.
Sicherlich kann Zuwanderung zu nicht unerhebli-chen Belastungen und Konflikten führen. Wir solltendabei aber nicht den Blick dafür einbüßen, daß Zuwan-derung auch erhebliche positive Auswirkungen hat, indemographischer, ökonomischer und kultureller Hin-sicht.
Ich empfehle Ihnen, einmal die Aufsätze von ProfessorWerner Weidenfeld nachzulesen, damit auch Sie dieseErkenntnis gewinnen können.
– Ja, Sie wissen das am allerbesten, Herr Marschewski,schon aus Ihrer Familiengeschichte. Das stimmt.
In Europa, insbesondere in Mitteleuropa, haben stetsMigrationsbewegungen stattgefunden, die in aller Regelzur Belebung und Auffrischung von Kultur und Gesell-schaft beigetragen haben. Wenn wir über Fragen derMigration und der Aufnahme von Flüchtlingen spre-chen, sollten wir aber bei nüchterner und realitätsbezo-gener Betrachtungsweise auch anerkennen, daß Bela-stungsgrenzen nicht überschritten werden dürfen.
Herr BundesministerSchily, darf ich Sie auf folgendes hinweisen: Sie dürfenzwar als Mitglied der Bundesregierung so lange spre-chen, wie Sie mögen, gleichwohl war vereinbart, daß dieZeit auf die Redezeit der Fraktion angerechnet wird. Ichmöchte Sie nur darauf hinweisen.Bundesminister Otto Schily
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Ich bitte umNachsicht. Ich werde versuchen, meine Ausführungenzu kürzen, aber sie enthalten einige Aspekte, die ichauch im Interesse der Klarheit, die Herr Rüttgers vonmir eingefordert hat, vortragen muß. Ich bitte um Ver-ständnis. Ich mache jetzt von der Möglichkeit eines Re-gierungsmitglieds, länger zu sprechen, ausnahmsweiseGebrauch. Ich bitte wirklich um Verständnis, wenn dasden Ablauf ein wenig belastet. Ich halte es aber für not-wendig, daß diese Dinge angesprochen werden.
Wer die Zuwanderung grundsätzlich bejaht, mußauch die Zuwanderungssteuerung bejahen. Wir wer-den die Ausländer- und Flüchtlingspolitik in manchenEinzelfragen überprüfen, neu justieren und flexibler ge-stalten. Ich warne aber vor illusionären Erwartungen, diewir nicht erfüllen können, wenn wir nicht die gesetzli-chen Steuerungsmöglichkeiten für den Zuzug völlig au-ßer Kraft setzen wollen.Deutschland hat im europäischen Vergleich eineüberproportional große Anzahl von Bürgerkriegsflücht-lingen und Asylsuchenden aufgenommen. Wir müssendarauf bestehen, daß es in Europa zu einer gerechterenLastenverteilung kommt. Die Flüchtlings- und Migrati-onspolitik muß ohnehin im europäischen Rahmen har-monisiert werden. Wir werden die österreichischen Be-mühungen im Rahmen der österreichischen Präsident-schaft unterstützen und ihnen jede Hilfe angedeihen las-sen.Ich werde jetzt nur noch einige Stichworte nennen,damit ich die Redezeit nicht zu sehr überziehe. Ich binauf die Modernisierung der Bundesverwaltung ange-sprochen worden. Ich muß mich auf den Hinweis be-schränken, daß das für uns eine vorrangige Aufgabe ist.Herr Kollege Rüttgers, Sie haben dazu einige Fragen ge-stellt. Wir werden bei anderer Gelegenheit die Möglich-keit haben, diese zu vertiefen. Ich werde darauf zurück-kommen.Ich halte es für notwendig, daß ich wegen der Aktua-lität noch kurz auf folgende Frage eingehe.
– Richtig. – Der Innenminister ist bekanntermaßen Ver-fassungsminister – Herr Rüttgers hat mit Recht daraufhingewiesen – und hat deshalb dafür zu sorgen, daß dieVerfassung und die Verfassungsordnung vor verfas-sungsfeindlichen extremistischen Bestrebungen ge-schützt wird. Dieser Verantwortung wird auch die neueBundesregierung, der neue Bundesinnenminister gerechtwerden.Bestrebungen der genannten Art zu beobachten istAufgabe des Verfassungsschutzes in Bund und Ländern.Zu den Beobachtungsobjekten gehört unter anderem diePDS. Für einige Aufregung, auch bei Herrn Rüttgers,hat meine Ankündigung gesorgt, die Fortsetzung derBeobachtung der PDS zu überprüfen. Ich verstehe IhreAufgeregtheit nicht. Es gehört zu meinen selbstver-ständlichen Pflichten, auf Grund der Erkenntnisse desVerfassungsschutzes ständig zu überprüfen, ob und inwelchem Ausmaß die Beobachtung einer Organisationzulässig und notwendig ist.
In der Tat besteht bei der PDS auf Grund aktuellerÄußerungen aus deren Leitungsbereich ebenso wie aufGrund ihrer veränderten Rolle als Fraktion im Bun-destag sowie als Mitträger einer Landesregierung Über-prüfungsbedarf. Ich gehe selbstverständlich davon aus,daß in die mecklenburg-vorpommersche Landesregie-rung nur Mitglieder aufgenommen werden, die unsereverfassungsmäßige Ordnung achten und nicht in Fragestellen.Leider sind Äußerungen aus der Führungsebene derPDS zwiespältig. Der Parteivorsitzende Bisky fordert im„Neuen Deutschland“ vom 9. November 1998 ein neuesParteiprogramm und bekräftigt laut „Neues Deutsch-land“, alles in der Partei gehöre auf den Prüfstand, vonder Programmatik bis zur Parteistruktur.Andererseits erklärt Frau Pau, so schreibt es die„Junge Welt“ vom 9. November 1998, die Partei steheauf dem Boden des Grundgesetzes. Die Systemfragewolle die PDS aber nicht fallenlassen. Dazu paßt dannder im Verfassungsschutzbericht des Bundesinnenmini-steriums für 1997 wiedergegebene Ratschlag von HerrnBrie als Leiter der Grundsatzkommission, die PDS müs-se endlich erkennen, welche Chancen für sie im Grund-gesetz lägen. Sie müsse sich dessen Instrumentarium an-eignen und lernen, darauf zu spielen.Das sind mindestens mißverständliche Bekundungen.Es ist Sache der PDS, ihre veränderte Rolle im politi-schen Gefüge Deutschlands zu definieren sowie Klarheitund Eindeutigkeit zu schaffen.
Ich fordere die PDS ausdrücklich dazu auf, uns un-mißverständlich zu erklären, ob sie als eine neue demo-kratische Kraft mit all ihren Organisationen und Gremi-en auf dem Boden des Grundgesetzes steht und die frei-heitlich-demokratische Grundordnung ohne Wenn undAber achten und verteidigen will oder ob sie zumindestin Teilen weiterhin kommunistische Bestrebungenduldet und auf lange Sicht danach trachtet, das Systemund das Wesen unserer freiheitlich-demokratischenGrundordnung zu verändern.Deshalb haben Sie, meine Damen und Herren von derPDS, es selber in der Hand, ob die Weichen für oder ge-gen eine Fortsetzung der Beobachtung gestellt werden.Meine Entscheidung auf Bundesebene werde ich aufGrund des Berichts treffen, den ich vom Bundesamt fürVerfassungsschutz angefordert habe, und natürlich imEinvernehmen mit meinen Kollegen in den Bundeslän-dern.Der Zeitrahmen läßt es, wie gesagt, nicht zu, auf alleinnenpolitische Projekte und Vorhaben im Detail einzu-gehen. Ich möchte aber zum Schluß betonen, daß uns dieFörderung des Breitensports und des Spitzensports –
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das bin ich schon meinem Kollegen Beucher schuldig –ein besonderes Anliegen sein wird.
Für uns hat der Sport einen besonderen Stellenwert;denn er leistet nicht nur einen grundlegenden Beitrag füreine aktive, sinnvolle Freizeitgestaltung; vielmehr ist erzugleich ein unverzichtbares Element aktiver Gesund-heitsvorsorge.
Zu Beginn meiner Ausführungen habe ich den Titeleines im Jahre 1795 erschienenen Buches zitiert. LassenSie mich am Ende meiner Ausführungen einen Satz ausFriedrich Schillers „Briefen über die ästhetische Erzie-hung des Menschen“ zitieren, die ebenfalls im Jahr 1795veröffentlicht wurden. Es heißt dort:Erwartungsvoll sind die Blicke des Philosophenwie des Weltmanns auf den politischen Schauplatzgeheftet, wo jetzt, wie man glaubt, das großeSchicksal der Menschheit verhandelt wird. Ja, auch unsere Politik ist – wenn auch nur ein klei-ner – Teil des Schicksals der Menschheit. Viele Erwar-tungen sind an uns gerichtet. Wir versprechen Ihnen,diese Erwartungen nach Kräften zu erfüllen.Ich danke Ihnen.
Ich darf nun wieder
die Einhaltung der Redezeit anmahnen und erteile Herrn
Dr. Westerwelle das Wort.
Frau Präsidentin!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben unsheute morgen mit Fragen der Wirtschaftspolitik ausein-andergesetzt. Sie haben zur Kenntnis genommen, daßdie Fraktion der Freien Demokraten mit dieser Politiknicht einverstanden ist. Aber wir verstehen unsere Rollein diesem Hause als die einer konstruktiven Opposition.Das heißt, wir werden als Opposition nicht eine funda-mentale Blockade veranstalten, wir werden nicht ableh-nen um der Ablehnung willen. Wir werden mit Sicher-heit das unterstützen, was auch aus unserer Sicht unter-stützenswert ist.
Was die Vereinbarungen zur Innen- und Rechtspolitikangeht, so erlauben wir Liberale uns eine differenzierteBewertung. Wir finden, daß das, was in der Koalitions-vereinbarung festgelegt und in der Regierungserklärungvom Bundeskanzler vorgetragen wurde, sehr wohl Lichtund Schatten hat. Ich will mit dem Bereich anfangen,von dem wir hoffen, daß wir dort gemeinsam zu Mehr-heiten hier im Hause gelangen können: Das ist die Mo-dernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts.
Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, daß in der letz-ten Legislaturperiode zwischen den KoalitionsparteienCDU/CSU und F.D.P. keine Einigung über eine Moder-nisierung des Staatsangehörigkeitsrechts zustande ge-kommen ist.
Wir haben jetzt in der Opposition nicht nur die Freiheit,sondern auch eine Verpflichtung. Wir haben den Auf-trag unserer Wählerinnen und Wähler, das, was wir ver-sprochen haben, auch durchzusetzen. Wir wollen, daßdas Staatsangehörigkeitsrecht reformiert wird und daß esauf die Höhe unserer Zeit kommt. Deswegen bieten wirIhnen gemeinsame Gespräche an. Ich appelliere auch andie Kolleginnen und Kollegen aus der Union, mit denenwir in der letzten Legislaturperiode in weiten Bereicheneinig waren, mitzuwirken. Die Modernisierung desStaatsangehörigkeitsrechts ist eine der wichtigsten ge-sellschaftspolitischen Herausforderungen unserer Zeit.Sie darf unsere Gesellschaft nicht spalten; sie muß sieeinen, meine Damen und Herren.
Eines macht aus der Sicht der Freien Demokraten –Herr Kollege Rüttgers, in diesem Punkt haben wir einenganz klaren Dissens – keinen Sinn. Sie sagen, Sie wollenkeine Gettos. Wenn man keine Gettoisierung in denStädten will, dann sagt man das zu Recht. Aber dannman muß vorher die Gettoisierung in den Köpfen derKinder verhindern! Deswegen sollten diese integriertgroß werden.
Die Staatsbürgerschaft ist eines der wesentlichsten Fun-damente. Die Staatsbürgerschaft beschreibt Rechte undPflichten. Eine Änderung dieses Fundaments muß los-gelöst von parteipolitischen Denkbarrieren möglich sein.Das sage ich in beide Richtungen.Meine Damen und Herren, wir als F.D.P. rufen dazuauf, in diesem Hause über die Parteigrenzen hinweg eineInitiative für eine verbesserte Integration der inDeutschland geborenen Kinder zu schaffen. Denn esgeht um diese Kinder – nicht darum, daß mehr Auslän-der nach Deutschland kommen sollen. Es geht darum,daß die Kinder, die in Deutschland geboren werden undvon denen wir wissen, daß sie immer in Deutschland le-ben werden, integriert und nicht mit einer ausländischen,mit einer ausgegrenzten Identität groß werden.
Bundesminister Otto Schily
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Der Paß ist natürlich nur die eine Seite der Medaille.Das weiß doch jeder, der sich mit der Materie beschäf-tigt. Die Sprache, die Bereitschaft, sich auf die kulturel-len Eigenheiten einzulassen, und das Bekenntnis zu un-serer freiheitlich-demokratischen Grundordnung, wiesie im Grundgesetz steht – das alles gehört selbst-verständlich dazu. Aber der Paß ist sehr wohl auch eineAntwort auf die gesellschaftliche Realität. Heute habenwir eine gesellschaftliche Realität, die das Ergebnis derEntwicklungen in den 50er und 60er Jahren ist. Siekönnen den Kindern, die heute in Deutschland geborenwerden, die deutsch als Muttersprache sprechen unddie Sprache ihrer Eltern allenfalls mit einem deutschenAkzent beherrschen, den deutschen Paß nicht verweh-ren.
Wir brauchen jede Möglichkeit, um die Integration vor-anzubringen, denn sonst schaffen wir den sozialpoliti-schen Sprengstoff in unserer Gesellschaft, der sichschon in wenigen Jahren bitterbös rächen wird.
Allerdings möchte ich Ihnen folgendes sagen, was Ih-re Vereinbarung angeht. In unserer Fraktion haben wiruns sehr genau mit dem, was Sie – was die doppelteStaatsangehörigkeit angeht – in der Koalitionsvereinba-rung stehen haben, und dem, was der Bundeskanzler inseiner Regierungserklärung gesagt – oder besser: nichtgesagt – hat, auseinandergesetzt. Das ist ein spannenderUnterschied. Wenn man das, was Herr Kollege Rüttgersgesagt hat, wörtlich nimmt – auch er hat von der dop-pelten Staatsangehörigkeit als Regelfall gesprochen –,dann sehe ich Möglichkeiten der Einigung und Mög-lichkeiten zur Brückenbildung. Die doppelte Staatsan-gehörigkeit als Regelfall – für alle und auf Dauer – isteben nicht eine Maßnahme der Integration. Deswegenschlagen wir Ihnen vor: Lassen Sie uns in Deutschlandnicht eine doppelte Staatsangehörigkeit für alle auf Dau-er einführen; lassen Sie vielmehr die Kinder, die hiergeboren werden, mit einem deutschen Paß groß werden.Wenn sie volljährig sind, dann müssen sie sich zwischender Staatsangehörigkeit ihrer Eltern und der Staatsange-hörigkeit der Deutschen entscheiden. Das ist ein fairerInteressensausgleich, der auf Dauer allen Seiten mehrhilft als die doppelte Staatsangehörigkeit.
Wer andererseits schon jetzt ankündigt, eine Moder-nisierung des Staatsangehörigkeitsrechts notfalls perVerfassungsklage zu bekämpfen, wird dieser Integra-tionsaufgabe nicht gerecht.Wir werden Änderungsanträge einbringen; wir wer-den in den Ausschüssen Gelegenheit haben, über dieseFragen zu reden. Das herrschende Recht würde das Op-tionsmodell, das wir vorschlagen, in keiner Weise ver-hindern. Natürlich ist es möglich, einer volljährigen Per-son die Entscheidung über ihre Staatsangehörigkeit ab-zuverlangen.
Ich will einen zweiten Bereich herausgreifen, dervom Kollegen Rüttgers – nicht von Herrn Schily – er-wähnt wurde und der ganz zweifelsohne von der Bun-desjustizministerin noch angesprochen werden wird,nämlich die Aufwertung der nichtehelichen, der gleich-geschlechtlichen Lebensgemeinschaften. Die Zahl dernichtehelichen Lebensgemeinschaften hat sich im frü-heren Bundesgebiet zwischen 1972 und 1995 verzehn-facht. Es gibt längst viele große Städte, in denen dieMehrheit der Menschen nicht mehr in der klassischenFamilie, in der klassischen Ehe zusammenlebt, in denenes neue Verantwortungsgemeinschaften gibt. Politik be-ginnt mit der Wahrnehmung von Wirklichkeit.
Es geht nicht darum, ob wir das gut oder schlecht fin-den. In dieser Frage wird jeder Abgeordnete möglicher-weise eine eigene Meinung haben. Aber die Realitätmuß zur Kenntnis genommen werden. Wir sollten dieseneuen Verantwortungsgemeinschaften nicht gegen Eheund Familie ausspielen. Wir sollten begreifen: WennMenschen in jeder denkbaren Form von Lebensgemein-schaft Verantwortung füreinander übernehmen, dannverdient das die Anerkennung des Staates und rechtfer-tigt, daß Diskriminierung aufgehoben wird.
Das gesellschaftliche Bewußtsein hat sich doch ver-ändert. Die nichtehelichen Lebensgemeinschaften galtenzu meiner Schulzeit noch als studentisches Konkubinat.Heute finden Sie nichteheliche Lebensgemeinschaften – –
– Frau Kollegin Beck, ich habe von meiner Schulzeitgesprochen. Ich möchte Sie um eines bitten: Machen Siekeinen weiteren Zwischenruf, sonst könnte ich an derStelle eine ungalante Antwort geben.
– Ihr habt gar nicht gehört, was gesagt wurde.Entscheidend ist – mit allem Ernst und ohne Frotze-lei –, daß wir feststellen, wie sich heute die gesellschaft-liche Realität und auch die Wert- und Moralvorstellun-gen verändert haben und verändern müssen. Das Prinzipder Subsidiarität in der katholischen Soziallehre bedeu-tet, daß man zunächst einmal die Verantwortung bei derBürgergesellschaft sucht und sich erst anschließend anden Staat wendet. Es ist keine Abwertung von Ehe undDr. Guido Westerwelle
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Familie, wenn künftig neue Verantwortungsgemein-schaften in Deutschland nicht mehr diskriminiert wer-den.
Im übrigen möchte ich auch darauf aufmerksam ma-chen: Es ist nicht in Ordnung, wenn wir an dieser Stelle– das halte ich für wichtig – den Eindruck erwecken, daßman das an anderer Stelle vertraglich regeln könnte. Dasist eben nicht möglich. Der Unterschied zwischen dennichtehelichen und den gleichgeschlechtlichen Lebens-gemeinschaften liegt nämlich auf der Hand. Die nicht-ehelichen Lebensgemeinschaften haben die Möglichkeitdes Ehevertrages. Für die gleichgeschlechtlichen Le-bensgemeinschaften sollte die Möglichkeit des Institutseiner eingetragenen Partnerschaft geschaffen werden.
Das ist kein Werteverfall. Wenn in einer gleichge-schlechtlichen Lebensgemeinschaft ein Partner für sei-nen tödlich erkrankten Partner Verantwortung über-nimmt und ihn bis zum Schluß pflegt, dann ist das keinWerteverlust, sondern eine Wertegewinn in unserer Ge-sellschaft.
Herr Minister Schily, ich will aber auch noch auf eineSache zu sprechen kommen, mit der ich mich nicht ein-verstanden erklären kann. Sie haben das Verhältnis vonSicherheit und Freiheit mit Worten von Hegel be-schrieben. Wer wollte dem nicht zustimmen? Aber ichglaube, daß Sie sich hier doch einen sehr schlankenFuß gemacht haben, was die Frage der PDS angeht. Esist schon bemerkenswert – dahinter stecken System undMethode –, daß Sie in der Koalitionsvereinbarungnur noch davon sprechen, den Rechtsextremismuszu einem Schwerpunkt Ihrer Arbeit zu machen. Daheißt es:Die neue Bundesregierung wird die politische Aus-einandersetzung mit und die Bekämpfung vonRechtsextremismus zu einem Schwerpunkt ma-chen.Das ist sehr wohl ein Unterschied zur früheren Politikder Bundesregierung. Wir haben uns immer als wehr-hafte Demokratie verstanden. Extremismus von rechtsund von links, meine Damen und Herren, muß in diesemLande politisch bekämpft werden; beides bedroht Frei-heit.
Deswegen ist es kein Zufall, was Sie gesagt haben,auch wenn Sie heute hier die erste Absetzbewegung ge-macht haben. Sie haben am Montag in Berlin gesagt, essei eine „vertrackte Situation“, wenn die PDS wie inMecklenburg-Vorpommern an der Regierung beteiligtsei und andererseits vom Verfassungsschutz beobachtetwerde. Aber die Antwort auf dieses Problem, auf diese„vertrackte Situation“, kann nicht sein, jetzt die PDS ausGründen politischer Opportunität aus der Beobachtungherauszunehmen.
Sie dürften dann nicht mit dieser Partei in Mecklenburg-Vorpommern koalieren. Das muß die Antwort eineswirklich freiheitlich denkenden Menschen sein.
Aber in Wahrheit stecken dahinter System und Methode.Da wird etwas vorbereitet, übrigens ganz ähnlich wie beider Diskussion um die Bundesbank. Da wird ein Steinins Wasser geworfen, und die Wellen sind wohlkalku-liert.Deswegen möchte ich Ihnen nicht vorenthalten, wasdie Vorstandssprecherin der Grünen heute um 12 Uhrüber die Agenturen hat laufen lassen. Frau Röstel springtHerrn Kollegen Schily bei; in dieser Agenturmeldungheißt es, die Grünen-Sprecherin Gunda Röstel habe sichgegen die weitere Beobachtung der PDS durch den Ver-fassungsschutz ausgesprochen.
– Sie mögen dabei klatschen, und ich kann verstehen,warum Sie klatschen: weil Sie die PDS längst auch indiesem Hause als Ihre stille Machtreserve einkalkulierthaben.
Das ist der Grund für die Entwicklung, die Sie mit HerrnSchily begonnen haben.
Das ist doch auch der Grund, meine Damen und Her-ren, warum wir hier immer wieder erleben, wie dannauch tatsächlich eine Erosion des Rechtsstaates stattfin-det. Übrigens ist sehr bemerkenswert, daß bei der Frageder Rechtspolitik ausgerechnet von Ihnen angemahntwird, daß das Bürgerrechtsprofil hochgehalten wird. Dasist schon arg drollig. Sie sitzen in Nordrhein-Westfalenin einer Landesregierung, die de facto das Justizministe-rium abschaffen will. Sie sitzen in Mecklenburg-Vorpommern in einer Landesregierung, die das Justiz-ministerium abschaffen will. Wir als Liberale sagen:Wir brauchen die Unabhängigkeit der Justiz. Justizmi-nisterien sind nicht irgendwelche Anhängsel der Lan-desverwaltungen. Wenn Sie eine echte Bürgerrechts-und Rechtsstaatspartei wären, dann würden Sie dafürsorgen, daß das Gewaltenteilungsprinzip an dieser Stellenicht durch die Zusammenlegung des Innen- und desJustizressorts kaputtgemacht wird.
Dr. Guido Westerwelle
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240 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998
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Gestatten Sie eine
Zwischenfrage?
Ja, klar.
Bitte schön.
daß ein Justizministerium Teil der Exekutive ist und daß
das mit Gewaltenteilung überhaupt nichts zu tun hat?
Nein, damit bin
ich nicht einverstanden, und zwar aus einem ganz einfa-
chen Grund: Die Aufgabe des Justizministeriums ist
auch eine Aufsicht, mindestens eine Dienstaufsicht, über
die Justiz und die entsprechenden weiteren Behörden.
Wohin die andere Entwicklung führt, können Sie an dem
erkennen, was ich als Bonner Abgeordneter anläßlich
der Kundgebungen und Demonstrationen an einem
Samstag erlebt habe.
– Entschuldigen Sie, wenn Sie mir eine Zwischenfrage
stellen, dann sind Sie doch zweifelsohne auch an der
Antwort interessiert. Oder haben Sie sie nur rhetorisch
gestellt? Das kann ich mir gar nicht vorstellen.
Der Punkt, über den wir hier reden, ist doch, daß es
dort Probleme gegeben hat, weil Kompetenzen mitein-
ander in Schwierigkeiten geraten sind. Daraus kann man
entnehmen, daß sich so etwas, wenn es realisiert würde,
nicht bewähren kann. Wir erleben nämlich, daß auf der
einen Seite die Strafverfolgungsbehörden und auf der
anderen Seite Polizeibeamte stehen. Gleichzeitig erleben
wir, wie eine Vermischung der politischen Aufgaben er-
folgt. Ich will es ganz klar sagen: Ich habe geradezu mit
Erschrecken zur Kenntnis genommen, was grüne Politi-
ker bei dieser Demonstration wörtlich – gemäß den Aus-
sagen von Journalisten in Zeitungsberichten – gesagt
haben.
– Entschuldigen Sie bitte, ich antworte Ihnen noch.
– Wer sich in die Gefahr einer Zwischenfrage begibt,
der kann darin auch umkommen.
Gleichwohl sind
dabei auch die Zeiten ein wenig zu beachten, Herr Kol-
lege.
Ich bin sofort fer-
tig. Ich mache nur noch zwei Anmerkungen hierzu.
Es kann doch nicht akzeptiert werden, was zwei
Journalisten dort gehört haben. Sie berichten, daß Poli-
zeibeamte von Politikern Ihrer Partei, den Grünen, mit
den Worten eingeschüchtert worden sind: Wenn hier
nicht gleich etwas passiert, dann haben Sie 1 000 Leute
aus der Bonner Beethovenhalle hier. – Dort fand ja be-
kanntlich der Parteitag der Grünen statt. Herr Appel
wird mit der Äußerung zitiert: Wenn ihr das nicht laßt,
kündigen wir die Koalition in Düsseldorf. – Wer auf
diese Art und Weise Strafverfolgung behindert und dar-
an mitwirkt, daß gewaltbereite Autonome nicht festge-
nommen werden können, der hat nun wirklich jeden An-
spruch verloren, in diesem Hohen Hause als Rechts-
staatspartei aufzutreten oder sich so darzustellen.
Nun ist Ihre Rede-
zeit aber abgelaufen.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat dieKollegin Marieluise Beck.Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Integration ist ein Anspruch und eine An-strengung, zu der es keine Alternative gibt. Dies ist dieQuintessenz des Memorandums meiner Vorgängerinim Amt der Ausländerbeauftragten, Frau Schmalz-Jacobsen. Ich möchte an das politische Vermächtnis, indem sich übrigens alle meine Amtsvorgängerinnen und-vorgänger einig waren, anschließen: erleichterte Ein-bürgerung, rechtliche Gleichstellung und soziale Inte-gration.Diese neue Bundesregierung wird den Reformstauder Ära Kohl in der Integrationspolitik endlich auflö-sen. Diese neue Bundesregierung hat sich nämlich ent-schieden, mit einem neuen Staatsbürgerschaftsrechtendlich den Anschluß an die modernen Gesellschaftendes 20. Jahrhunderts zu suchen und auch den Menschendie vollen Bürgerrechte anzubieten, denen sie in denletzten 20 Jahren gezielt vorenthalten wurden.
„No taxation without representation“ – wir alle ken-nen diesen Kernsatz der amerikanischen Revolution.Dieses Demokratiegebot muß endlich auch in Deutsch-land beim Übergang ins nächste Jahrtausend gelten.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 241
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Diese Bundesregierung wird endlich das anerkennen,was die alte Bundesregierung zum Tabu machen wollte:die Unumkehrbarkeit des Zuwanderungsprozesses derletzten Jahrzehnte.
Auch wenn Sie, meine Damen und Herren von der Oppo-sition, es nicht hören wollen: Deutschland ist während derZeit, in der Sie Regierungsverantwortung trugen, ein Zu-wanderungsland geworden. Die Entscheidungen in den50er und 60er Jahren, Menschen hierherzubitten, um beiuns, aber vor allem auch für uns zu arbeiten, waren ebenkeine Entscheidungen auf Zeit. Wir haben nicht Gäste,sondern neue Bürgerinnen und Bürger angeworben. Eshandelt sich jetzt um Menschen, die hier schon seit Jahr-zehnten leben und hier ihren Lebensmittelpunkt haben,deren Kinder hier geboren sind, die Deutsch sprechen undderen Heimat Deutschland ist. Wer hier auf Dauer lebt,der muß auch dazugehören können. Er braucht alleRechte, um dieses Land mitgestalten zu können.
Nichts ist verheerender, als die bestehende Realitätnicht zur Kenntnis zu nehmen. Genau das hat die alteBundesregierung getan, indem sie die neuen Bürgerin-nen und Bürger als Inländer ohne Paß im Gästestatus zuhalten versucht hat. Die Botschaft, die dabei herauskam,war: Wir wollen euch nicht; wir wollen euch bestenfallsnur halb. Das ist eine Zurückweisung. Zurückweisungruft zwangsläufig Abschottung hervor. Wir wollen aberAbschottung weder von der Seite der Mehrheitsbevölke-rung noch von der Seite der zugewanderten Menschen.Wir wollen Integration.
Die erleichterte Einbürgerung bedeutet in der Tatauch die Hinnahme von Mehrstaatlichkeit. Wir alle wis-sen, wie schwer es ist, den Paß zurückzugeben, nicht nurweil dieser Vorgang den emotionalen Abschied von derHeimat bedeutet, sondern weil er auch bedeutet, daß dieRückkehrmöglichkeit verschlossen ist. Es gibt keinenrationalen Grund, diese Hürde aufzubauen.Es ist infam – Herr Schäuble hat dies leider vor zweiTagen in diesem Hause noch einmal getan –, im Zu-sammenhang mit der doppelten Staatsbürgerschaftvon „Rosinenpickerei“ zu sprechen. Damit, HerrSchäuble – ich sage das auch an die Adresse derCDU/CSU-Fraktion –, wird ein sehr gefährlicher Wegder Diffamierung beschritten.Die CDU kann nicht das Wort von der Globalisierungimmer im Munde führen, wenn sie sich auf der anderenSeite den Realitäten eines modernen Staatsbürger-schaftsrechts verschließt. Sie fordern einerseits flexi-blere Arbeitsmärkte und auch eine größere grenzüber-schreitende Mobilität, andererseits beharren Sie aber aufdem Blutrecht als Grundlage für die Staatsangehörigkeit.Globalisierung relativiert die Nationalstaatlichkeit, wasallerdings neues Denken im Staatsbürgerschaftsrecht er-fordert.Ich empfehle den Blick über die Grenzen. Englandund Frankreich haben das moderne Staatsbürgerschafts-recht. Als Grundlage dient die Hinnahme der doppeltenStaatsbürgerschaft. Schauen Sie bitte in diesem Zusam-menhang auch nach Holland. Holland hat im Jahre 199618 Prozent der türkischen Bevölkerung eingebürgert,während wir in diesem Zeitraum nur 1,6 Prozent einbür-gern konnten.Einwanderer sind zugleich Auswanderer. Auch dieserSatz meiner Vorgängerin ist richtig, denn Zuwanderungbedeutet auch, Altes loszulassen und aufzugeben und dieVerfassungsgrundsätze dieses Staates zu akzeptieren.Dieser Satz bedeutet auf der Seite der Mehrheitsbevölke-rung, das andere, das Ungewohnte zu akzeptieren und alsBereicherung anzuerkennen, auch wenn es Konflikte gibt.
Die multikulturelle Gesellschaft ist eine Herausforde-rung. Sie ist nicht konfliktfrei, aber sie ist eben auch ei-ne Bereicherung und ein Schritt in eine offene und zivileGesellschaft.Erlauben Sie mir zum Schluß noch eine kurze Be-merkung. Eine offene Gesellschaft muß auch denSchutzsuchenden ihre Türe öffnen. Die neue Bundesre-gierung wird sich mit Nachdruck – der Innenminister hatdiesen Punkt schon erklärt – für eine gemeinsame euro-päische Flüchtlings- und Migrationspolitik einsetzen.Die Genfer Flüchtlingskonvention und die EuropäischeMenschenrechtskonvention müssen dabei unser Maßstabsein.
Ziel dieser Regierung ist es, die internationalen Stan-dards für Flucht und Asyl zur Meßlatte zu machen. Eswird sehr bald über eine Altfallregelung zu reden sein,die das bedrohliche Hin und Her, die Angst vor Ab-schiebung, das tägliche Gefühl der Unsicherheit fürdiejenigen Menschen beendet, denen der Weg in dieHeimat versperrt ist.
Eine den Bedürfnissen der Menschen entsprechendeHärtefallregelung muß endlich Perspektiven für die er-öffnen, die durch die Maschen einer in der Konsequenzmanchmal unbarmherzigen Bürokratie gefallen sind,
denen aber aus humanitären Gründen das Bleiben hierermöglicht werden muß. Dazu gehören auch die vielenFälle von Kirchenasyl, hinter denen Gruppen von Bürge-rinnen und Bürgern stehen, die sich humanitären Grund-sätzen verpflichtet fühlen. Dazu gehört auch die Anerken-nung geschlechtsspezifischer Verfolgung als Asylgrund.
Marieluise Beck
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242 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998
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Dazu gehört übrigens auch die Überprüfung desFlughafenverfahrens, dieses unwürdigen Procedere, dasSchutzsuchende oft in die Verzweiflung treibt.
Der Krieg in Bosnien hat über 300 000 Menschen zuuns getrieben. Viele Deutsche waren bereit, diese Men-schen aufzunehmen. An dieser Bereitschaft wird dieneue Bundesregierung mit ihrer Flüchtlings- und Asyl-politik anknüpfen.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Petra Pau.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damenund Herren! Der Bundeskanzler hat in Anlehnung anWilly Brandt mehr Demokratie angemahnt. Es wurdemit Blick auf die bisherigen Vorgänge von einemschlechtbestellten Haus gesprochen, das Ihnen hinterlas-sen wurde. Bei Letzterem wurde in den Debatten dervergangenen zwei Tage vor allen Dingen immer das Fi-nanzierungsproblem angesprochen.Aber auch in Ihrem Ressort, Herr Innenminister,bleibt sehr viel zu bestellen, um das Haus Bundesrepu-blik noch bewohnbarer zu machen.
Gerade auch im Bereich des Inneren brauchen wir einendeutlichen Politikwechsel weg von der staatsfixiertenLaw-and-order-Politik Ihres Vorgängers
hin zu einer bürgerrechtlich orientierten Politik.
So richtig es ist, den Umweltverbänden Klagemög-lichkeiten einzuräumen, so richtig es ist, eine Verknüp-fung von Sozial- und Innenpolitik zu fordern, und sorichtig es ist, ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbür-gern die Staatsbürgerschaft zu ermöglichen, ist festzu-stellen: Das alles reicht nicht aus. Es reicht meinerFraktion nicht; aber es reicht auch dem Forum für Men-schenrechte nicht, wie dessen Dreizehn-Punkte-Katalog,der uns in dieser Woche auch hier erreichte, belegt. Ichvermute, es reicht auch dem einen oder anderen grünenKollegen nicht. Oder, Kollege Ströbele, hat sich so vielan Ihren Forderungen verändert, die wir im Wahlkampfnoch gemeinsam vertreten haben?
Deshalb kündige ich Ihnen schon heute Initiativen derPDS-Fraktion zur Verbesserung des Datenschutzes, zurRücknahme der Antiterrorgesetze und zur Errichtunghöherer Hürden bei der Telefonüberwachung an. Dennbürgerrechtlich orientierte Politik enthält nicht nur An-sprüche an Bürgerinnen und Bürger gegenüber demStaat. Sie bedeutet vor allem auch Schutz von Bürgerin-nen und Bürgern vor Begehrlichkeiten des Staates.Schutz und Unterstützung des Staates brauchen aberauch Flüchtlinge, die sich bis in die Bundesrepublikdurchgeschlagen haben. Die Vereinbarungen der neuenKoalition auf dem Feld der Flüchtlings- und Asylpoli-tik sind unzureichend. Das meinen nicht nur wir. Auch„Pro Asyl“ hat als Flüchtlings- und Menschenrechtsor-ganisation die rotgrünen Verabredungen zu Recht heftigkritisiert.Die SPD will nicht zulassen, daß am sogenanntenAsylkompromiß gerüttelt wird. Sie weigert sich, nicht-staatliche Verfolgung als Asylgrund anzuerkennen. Da-bei wissen Sie doch ganz genau, daß unser Asylrechtnicht ausreicht, um zum Beispiel Frauen aus Afghani-stan oder Flüchtlingen aus Algerien Schutz zu gewähr-leisten.
Auch das Asylbewerberleistungsgesetz ist der neuenKoalition offenbar keine Kritik mehr wert, obwohlhiermit – zumindest die Grünen sollten sich daran erin-nern – Asylsuchende und Bürgerkriegsflüchtlinge unterdas Existenzminimum und oftmals in die Illegalität ge-trieben werden. Wir wollen, daß es so schnell wie mög-lich abgeschafft wird, und werden hier eine entspre-chende Initiative einbringen.
Das betrifft auch die Flughafenregelung. Sie gehörtnicht überprüft, Frau Kollegin Beck; sie gehört tatsäch-lich abgeschafft.
Ich möchte Sie daran erinnern, daß allein in diesem Jahrelf Menschen während dieses Flughafenverfahrens ver-sucht haben, sich das Leben zu nehmen. Was muß dennnoch passieren, um diese entwürdigende Regelung abzu-schaffen? Sie haben die Chance, in diesem Bereich et-was zu tun. Wir haben einen entsprechenden Antrageingebracht. Sie müssen nur noch zustimmen.
Ein Wort an Sie, Herr Innenminister, und auch an dieKolleginnen und Kollegen der Grünen: Die Reform desStaatsbürgerschaftsrechts ist zweifellos ein Schritt indie richtige Richtung, aber ein zu kurzer. Was nämlichist mit den Kindern von Angehörigen der zweiten Gene-ration, die als Jugendliche eingewandert sind? Was istvor allen Dingen mit den Kindern all der Vietnamesin-nen und Vietnamesen und der anderen Vertragsarbeite-rinnen und Vertragsarbeiter in der ehemaligen DDR?Diese Kinder bleiben Ausländerinnen und Ausländer,obwohl sie hier geboren wurden, und müssen die müh-same Einwanderungsprozedur durchlaufen.Wir begrüßen die Einführung des kommunalenWahlrechts für Menschen aus Nicht-EU-Staaten. WennSie allerdings mehr Demokratie wagen wollen, dann be-antworten Sie mir doch eine Frage: Warum sollen soge-Marieluise Beck
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 243
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nannte Drittausländer auf kommunaler Ebene zwar überden Bau von Schulen mitbestimmen dürfen, nicht aberdarüber, was dann in diesen Schulen gelehrt wird, weildas wiederum Ländersache ist?
Ein weiterer Punkt: Wir fordern nach wie vor die Ein-führung eines Niederlassungsrechts, das hier lebendenNichtdeutschen unabhängig von ihrer Staatsangehörig-keit Bürgerrechte verleiht. Das bezieht sich nicht nur aufdas Wahlrecht, sondern schließt auch ein, daß dieseMenschen vor Abschiebung geschützt werden.Da Regieren offensichtlich zuweilen vergeßlichmacht: Ich habe vergeblich nach dem Einwanderungsge-setz gesucht, das die bündnisgrüne Fraktion noch vorWochen so heftig gefordert hat. Ich vermute, daß hier indieser Frage selbst die F.D.P. aktiver werden wird alsdie Fraktionen, die die derzeitige Regierung stützen. Nun zu etwas, was heute schon viele Emotionen her-vorgerufen hat. Ich entnahm der Presse und Ihren heuti-gen Ausführungen, Herr Innenminister, daß Sie Über-prüfungsbedarf haben – und das aus unterschiedlichenGründen, zum Beispiel weil die Überwachung der PDSdurch den Verfassungsschutz vertrackt sei, da die PDSseit neuestem in Mecklenburg-Vorpommern mitregiert.Ich halte diese Argumentation allerdings für wenig de-mokratisch, unterstellt sie doch, Oppositionsparteiendürfe man überwachen, aber bei Regierungsparteienschicke sich das nicht.
Ich sage Ihnen aber auch: Wenn Sie den Verfassungs-schutz schon aus den Fängen der CDU und der politi-schen Wunschvorstellung befreien wollen – ich kennedie Studien der Konrad-Adenauer-Stiftung, die auf die-ser Grundlage entstanden sind –, dann haben Sie nichtnur meine Zustimmung. Wenn Sie dieses Instrument al-lerdings endgültig auflösen, dann finden Sie meinenBeifall.Im übrigen: Herr André Brie ist schon seit längererZeit nicht mehr der Chef der Grundsatzkommission.Wenigstens so viel sollten doch Ihre Zuarbeiter aus demBereich Verfassungsschutz wissen.
Und was das Grundgesetz und die Systemfrage anbe-trifft: Wo steht eigentlich im Grundgesetz, daß Kapital-verwertung tatsächlich über Menschenrechte und Bür-gerinteressen geht? Spätestens hier muß sich die Politikeinmischen, wenn der Markt blind ist.
Da haben wir sogar eine gemeinsame Grundlage: In Ih-rem und in meinem Parteiprogramm ist der demokrati-sche Sozialismus d i e Zielvorstellung.
Noch ein Punkt: Der Bundeskanzler hat in seiner Re-gierungserklärung versprochen, die Gesellschaft zu-sammenzuführen und die tiefe soziale, geographischeund gedanklich kulturelle Spaltung zu überwinden undsich dabei den realen Problemen zu stellen. Ich prophe-zeie uns allen: Mit dem Umzug nach Berlin werden wirden Problembeladenen in dieser Gesellschaft, dem Zu-sammenkommen und manchmal auch Zusammenprallenvon Ost und West näherkommen. Insofern verstehe ichnicht, Herr Innenminister, warum Sie sich diese Pro-blembeladenen durch eine Bannmeile vom Hals haltenwollen. Wir haben seinerzeit nicht für den Umzug ge-stimmt, um dann in dieser Stadt Sondergebiete für Bun-despolitiker zu schaffen.
Wir wollen vielmehr dorthin, wo Herausforderungenund Defizite am meisten zu spüren sind.
Ein allerletzter Punkt: Im Zusammenhang mit demParlaments- und Regierungsumzug hat der Bundes-kanzler völlig zu Recht gesagt, daß dies nicht der Aus-stieg aus der historischen Verantwortung sein darf. Des-halb bitte ich schon heute: Lassen Sie sich uns gemein-sam der Verantwortung für eine würdige Debatte undEntscheidung zum Holocaust-Mahnmal in der StadtBerlin stellen. Das wird kein Berliner Mahnmal. Daswird das Mahnmal, welches uns nicht nur erinnert, son-dern uns den Weg tatsächlich erhobenen Hauptes, aberauch mit der Scham, die wir empfinden müssen undsollen, in die Berliner Republik ebnet. Lassen Sie unsgleichzeitig möglichst schnell Regelungen für dieZwangsarbeiter finden, denn hier geht es schon längstnicht mehr um eine parteipolitische Debatte, sondernhier zählt jeder Tag für die Betroffenen.
Frau Kollegin,
der letzte Satz ist jetzt sehr lang geworden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich bedanke mich.
Frau KolleginPau, das war, glaube ich, Ihre erste Rede im Bundestag.Ich gratuliere Ihnen, daß Sie es schon hinter sich haben.
Das Wort hat jetzt die Frau Bundesministerin HertaDäubler-Gmelin.Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin derJustiz: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Siehaben ganz recht, man muß sich ordentlich anziehen,wenn man als Bundesministerin der Justiz hier an dasRednerpult tritt, Herr Marschewski.
Ich bin ganz Ihrer Meinung, das ist völlig in Ordnung.Petra Pau
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244 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998
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Lassen Sie mich anfangen, meine Damen und Herren!Vor einigen Tagen haben Journalisten mit Lob für diejetzige Regierung angemerkt, sie habe es binnen ganzweniger Tage geschafft, die „Rechtspolitik aus ihremDornröschenschlaf“ zu wecken. Ich glaube, das warnicht nur eine freundliche Feststellung, sondern das istauch inhaltlich richtig. In der Rechtspolitik wird es jetztinteressanter. Ich freue mich auf die Diskussion mitIhnen, mit Ihnen von der CDU/CSU, auch mit Ihnen,Herr Rüttgers, ebenso wie mit Ihnen von der F.D.P.-Opposition. Die Unterschiede zwischen Ihnen beidensind heute schon sehr deutlich geworden. Wenn man diedritte Oppositionsfraktion, die PDS, noch hinzunimmt,kann man sagen, verehrte Kolleginnen und Kollegenvon der Koalition: Wir haben eine interessante Weg-strecke vor uns.
Das Urteil, Herr Rüttgers, das Sie über die bisherigePolitik im Rechts- und Innenbereich abgegeben haben,war bei aller Wertschätzung gegenüber meinem Vor-gänger, Herrn Professor Schmidt-Jortzig – Sie wissen,daß ich Sie ausgesprochen schätze –, aber nicht ganz sopositiv, wie Sie meinen. Wenn Sie heute Bürgerinnenund Bürger, Richterinnen und Richter und andereRechtsanwender fragen, dann sagen die Ihnen halt auch:Diese Politik sei hektisch und ohne klare Linie gewesen.Sie stöhnen darüber, daß sie zuviel Gesetze, zuviel un-klare Gesetze bekommen haben, denen dann die Einzel-korrektur sehr häufig auf dem Fuß folgte. Sie beklagendann sehr deutlich, das habe nicht nur die Qualität derArbeit behindert, Zeit und Geld gekostet, sondern natür-lich auch die Motivation beeinträchtigt. Schon deshalbmüssen wir das ändern. Wir brauchen die Arbeit und dieMotivation der Richterinnen und Richter zur Durchset-zung unseres demokratischen und sozialen Rechtsstaatsunter den heutigen Bedingungen nötiger denn je.
Ich werde deshalb versuchen, Sie auch hier im Bun-destag immer wieder daran zu erinnern, daß wir lieberweniger und bessere Gesetze machen und daß wir – dasfinde ich sehr gut; vielen Dank auch für die Zustim-mung, lieber Herr von Stetten – Gesetzesinitiativen nichtals Einzelkorrekturen immer klein-klein aufeinanderfolgen lassen. Das war übrigens der Grund, warum iches gut gefunden habe, daß der Bundesrat in seiner letz-ten Sitzung die beiden Einzelinitiativen zum Sexual-strafrecht aus dem Lande Bayern zurückgestellt hat.Auch in solchen Fällen nützen Lippenbekenntnisse al-lein nicht, wir müssen uns nach unseren Grundsätzenrichten.
Die neue Bundesregierung wird im Bereich derRechtspolitik die politischen Ziele vorgeben. Dafür ha-ben wir am 27. September die Mehrheit bekommen. Da-für sind wir verantwortlich. Unsere Schwerpunkte indiesem Bereich sind einmal der Schutz der Schwäche-ren durch Recht. Das hat schon Friedrich Schiller – erist heute schon einmal zitiert worden – vorgedacht, in-dem er sagte: „Das Gesetz ist der Freund des Schwa-chen.“ Das hat unser Grundgesetz aufgenommen, das istdie Tradition großer Rechtspolitiker von Gustav Heine-mann bis Hans-Jochen Vogel. Wir werden diesenGrundsatz wieder durchsetzen.
Meine Damen und Herren, unser zweiter Schwer-punkt, nämlich das Bündnis gegen Gewalt, hat vieldamit zu tun. Hier geht es darum, Opfern von Krimina-lität zu helfen, Opferzeugen und dann auch Zeugen zuschützen. Es geht aber auch um den Schutz von Kindern,Frauen, Älteren, Behinderten und Minderheiten.
Unser dritter Schwerpunkt betrifft die grundlegendeReform der Justiz, die bisher auch schon versucht wur-de – insofern hat Herr Rüttgers völlig recht –, wobeiaber nicht erreicht wurde, für die Zukunft das Erforder-nis der Klarheit, der Zügigkeit, der Effizienz mit Rechts-staatlichkeit und Transparenz zu verbinden. Wir brau-chen das aber, jetzt an der Schwelle zu einer immer grö-ßeren Integration in die Europäische Union. Ich sage Ih-nen: Wir werden das mit Macht vorantreiben. Ich erbittehier Ihre Unterstützung.Ihre Unterstützung erbitte ich auch für den viertenSchwerpunkt, nämlich die Erweiterung und Verände-rung des Sanktionensystems, und für den fünften, näm-lich die Stärkung von Gleichstellung, Teilhabe undBürgerrechten bei uns im Land und in der Europäi-schen Gemeinschaft.
Wir geben als Mehrheit in diesem Haus die Ziele vor.Wir werden aber auch die Wege vorschlagen. Bezüglichdieser Wege bitten wir um eine Diskussion mit Kritik, jesachlicher und je schärfer, desto besser. Wir bitten umAnregungen und Diskussionen, weil wir glauben, daßwir auf diesem Wege einen Fehler der Rechtspolitik dervergangenen Jahre vermeiden können. Dort wurde im-mer nach dem Konsens, nach dem kleinsten gemeinsa-men Nenner gesucht. Wir wollen nicht diesen kleinstengemeinsamen Nenner, sondern wir wollen das beste Er-gebnis in allen Punkten erreichen.
Unsere Regierung ist jetzt 16 Tage im Amt. Bis zumAblauf der ersten 100 Tage werden wir, werde ich IhnenEckpunkte für einige dieser Schwerpunkte vorlegen. Ichfreue mich, Herr Westerwelle, daß auch Sie angedeutethaben, daß Sie zusammen mit unserer Koalition dafürsorgen wollen, daß wir die Schaffung rechtlicher Mög-lichkeiten für homosexuelle Paare, die auf Dauer zu-sammenleben wollen und die sich in Zukunft mit Rech-ten und Pflichten als Lebenspartnerschaft eintragenlassen wollen, durchsetzen.Ich möchte gerne die wenigen Minuten, die ich heutenoch spreche, dazu nutzen, auf einiges einzugehen, wasin den letzten Tagen – wahrscheinlich, weil man dieBundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 245
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Konzepte nicht so genau kannte – schon im Vorfeld ab-wehrend gesagt wurde. Zur Justizreform: Sie ist not-wendig. Ich glaube, das wird kaum mehr bestritten. Ichfreue mich, daß auch die Justizministerkonferenz desBundes und der Länder mit übergroßer Mehrheit gesagthat, wir brauchen sie, und wir sollen sie gemeinsam ma-chen. Das heißt gleichzeitig, meine Damen und Herren:Gemeinsamkeit in der Rechtspolitik aus Bund und Län-dern ist angesagt, auch bei der Frage der Dreistufigkeit.Bei ihr geht es uns darum, daß nach der außergerichtli-chen Streitschlichtung, die wir, glaube ich, auch imBundestag gemeinsam wollen, die Eingangsgerichte indie Lage versetzt werden, die umfassende rechtliche undtatsächliche Prüfung vorzunehmen, so daß der Streitfalldort so ausführlich gewürdigt werden kann, wie dieBürgerinnen und Bürger das wollen und brauchen.Wenn uns das gelingt, können wir die zweite Instanzdarauf konzentrieren, konkrete Fehler zu korrigieren.Dann kann die dritte Instanz auf die Wahrung derRechtseinheitlichkeit und der Grundsatzrevision kon-zentriert werden. Wir möchten das gerne. Wir werdenselbstverständlich, weil das notwendig ist, großzü-gige Übergangsfristen mit einplanen, aber wir werdenauch weitere bisherige übergangsweise vorgeseheneSchritte der Rechtspflegeentlastung an diesem Ziel aus-richten.Wir können damit eine Menge an Fehlentwicklungenverbessern. Sie wissen wahrscheinlich gar nicht, daßheute nahezu die Hälfte der erstinstanzlichen Urteileauch dann, wenn sie grob falsch sein sollten, gar nichtmehr korrigiert werden können. Das ärgert die Bürger.Das führt unter anderem auch dazu, daß das Bundesver-fassungsgericht im Einzelfall als Instanzersatz miß-braucht wird, und dessen Arbeit, also die Arbeit der Ver-fassungsrichterinnen und Verfassungsrichter, brauchenwir wahrhaftig an anderer Stelle.
Was wir in der Tat nicht wollen, meine Damen undHerren, ist, kleine Einheiten bei den Gerichten zu zer-schlagen. Das kommt nicht in Frage. Ich bin der Auffas-sung: Kleine Einheiten – das zeigen die Untersuchun-gen – sind effizienter als die großen. Wir alle wissen,daß die Länder diejenigen sind, die darüber bestimmen,ob es kleinere oder größere Einheiten gibt. Ich will Siedeswegen, meine Damen und Herren aus den Reihen derCDU/CSU-Opposition, für den Fall, daß Sie das ernstmeinen, nur davor warnen, daß der Vorwurf des Zentra-lismus hier auf Ihre Länder zurückfiele und daß er mitunseren Reformvorstellungen etwa soviel zu tun hat wieeine Lokomotive mit einem Taschentuch, nämlich garnichts.
Übrigens, verehrter Herr Geis, eine Kommissionwerden wir auch nicht einsetzen,
und zwar deshalb nicht, weil man Kommissionen immerdann einsetzt, wenn man nach langer Zeit möglichstnichts erreichen will. Wir wollen etwas erreichen.
– Nein, verehrter Herr Geis, Sie waren es. Vielleicht le-sen Sie das noch einmal nach. Ich glaube, die Amnesiegreift gerade bei Ihnen noch nicht so um sich, als daßSie das nicht korrigieren könnten.
Lassen Sie mich noch einen zweiten Punkt nennen;ich meine die Frage der Gewaltbekämpfung. Die Äch-tung der Gewalt als Erziehungsmittel steht ganz obenauf unserer Tagesordnung.
Wir werden dieses Ziel verfolgen, übrigens nicht des-wegen, weil wir allen Eltern, jeder Mutter oder jedemVater, denen in einer Streßsituation einmal die Handausgerutscht ist, den Staatsanwalt in das Haus schickenwollen oder werden. Das werden wir nicht tun. Aberwir müssen völlig klarmachen, daß Gewalt kein Erzie-hungsmittel sein kann, daß besonders viele Gewalttäterals Kinder geschlagen wurden, daß sich das Übel derGewalt vererbt und daß wir damit Schluß machen müs-sen. Das ist ein Teil der praktischen Prävention, die wirbrauchen.
Wir werden auch den Schutz von Kindern und denSchutz von geschlagenen Frauen durchsetzen. Hier giltder Grundsatz: Der Schläger geht, und die Geschlagenebleibt, wenn es um die Wohnungszuweisung geht.
Gewalt gegen Ältere, Gewalt gegen Behinderte, Gewaltgegen Minderheiten werden wir bekämpfen, und dazufordern wir auch Sie ausdrücklich auf.
Lassen Sie mich dazu noch ein kleines Beispiel bringen:Kein Mensch versteht, warum eine Vergewaltigung, diedoch noch viel verwerflicher ist, wenn sie an einer Fraubegangen wird, die geistig behindert ist, nach unseremStrafrecht geringer bestraft werden soll. Das müssen wirändern.
Wir haben das schon häufiger angemahnt. Das muß sein.Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin
Metadaten/Kopzeile:
246 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998
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Ich werde heute zu der Frage kurzer Freiheitsstrafen,des Sanktionensystems und etwa zu Fragen der europäi-schen Justizzusammenarbeit nichts mehr sagen, obwohlauch diese Punkte extrem wichtig und Reformen not-wendig sind. Ich denke, wir werden in den kommendenvier Jahren eine Menge miteinander zu diskutieren ha-ben. Wir werden Ihnen zunächst einige Vorschläge vor-legen, wie das im einzelnen genau aussehen soll. Im üb-rigen halten wir es mit Gustav Radbruch, der die Arbeitvon Rechtspolitikern einmal mit einer Bauhütte vergli-chen hat. Sie gibt es, wie wir wissen, an Domen und an-deren großartigen Bauwerken. Ihre Arbeit hört nie auf;sie haben die spezielle Aufgabe, zu erhalten und zu er-neuern. Bei uns, in der Bauhütte des Rechts, in derRechtspolitik, die wir vorhaben, ist Erneuerung ange-sagt. Dazu bitte ich um Ihre Unterstützung.Herzlichen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Zeitlmann.
Frau Präsiden-tin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bun-desinnenminister Schily, Ihr Wunsch in Ehren, daß Sieviele Themen der Innenpolitik im Konsens angehenwollen. Ich möchte für unsere Seite die grundsätzlicheBereitschaft zum Gespräch signalisieren. Aber ich fügehinzu: Wir haben sehr viele Vorbehalte angesichts derdiesbezüglichen Koalitionsvereinbarungen und Ihrer er-sten Äußerungen in der Öffentlichkeit.Wenn ich an Ihre Erklärung denke, die Sie hier zurFrage der Überwachung der PDS abgegeben haben,dann meine ich: Da werden Sie wohl kaum auf Zustim-mung von uns rechnen können. Dies ist mehr alsschwach. Sie argumentieren, es ist vertrackt, daß manjemanden überwacht, der in einem Land Teil einer Re-gierungskoalition ist. Es leuchtet mir überhaupt nichtein, was Sie damit erreichen wollen.Das gleiche gilt für Ihren Vorschlag, man könne hierim Parlament Fragen stellen. Sie tun so, als sei die Kon-trolle durch ein Verfassungsschutzorgan durch Fragenim Parlament zu ersetzen – als gäbe es irgendeinenDummen, der auf irgendwelche Fragen so antwortenwürde, daß er sich mit seinen Antworten selbst in Ver-dacht bringt.
Ich halte dies für einen völlig falschen Ansatz.Herr Kollege Westerwelle, einen Hinweis möchte ichIhnen schon geben: Sie können ja glauben, daß diejeni-gen, die F.D.P. wählten, damit auch die Frage derStaatsangehörigkeit entschieden haben. Aber jederweiß, es gab auch andere entscheidende Kriterien. Ichfinde es nicht redlich, wenn hier der Eindruck erwecktwird – Sie haben formuliert, man dürfe „den deutschenPaß nicht weiter verwehren“ –, das alte Staatsbürger-schaftsrecht und die damit einhergehende Einbürge-rungspraxis habe irgend jemandem etwas verwehrt.
Wir beziehen uns ja entscheidend auf die Einbürge-rung der Türken in Deutschland. Ich rate Ihnen drin-gend: Gehen Sie einmal der Frage nach, welche Rechtedie 50 000 Deutschen, insbesondere die Frauen, in derTürkei haben. Was haben sie für Erbrechte, was fürBürgerrechte, welche Chancen haben sie im Fall desAblebens des türkischen Ehepartners? – Dann reden wirnoch einmal über Integration von Minderheiten in unse-rem Lande.Meine Damen und Herren, die Frau Ausländerbeauf-tragte hat hier und heute den Begriff der „Unumkehr-barkeit der Zuwanderung“ gebraucht. Im Zusammen-hang damit wurde mit keiner Silbe auf die Rückkehr vonBürgerkriegsflüchtlingen eingegangen; weder in derKoalitionsvereinbarung noch in sonstigen Erklärungender neuen Regierung findet sich dazu etwas. Wer wieSie angesichts von 7,3 Millionen Ausländern in diesemLande davon spricht, man müsse nun die Tore öffnen,ist, so glaube ich, auf einem falschen Weg, letztlich aufdem Weg in eine andere Republik. Sie tun so, als ob derPaß nur Integrationsmittel ist. Er kann hilfreich sein,wenn er am Ende des Integrationsprozesses gewährtwird. Aber wenn man so tut, als liege in der Verweige-rung des Passes der Casus knacktus für mangelnde Inte-gration, dann liegt man mit Sicherheit falsch.Meine Damen und Herren, ich will noch ein paarPunkte aus der Rechtspolitik aufnehmen; zunächst –Herr Rüttgers hat es bereits erwähnt – zur Leitlinie derKoalitionsvereinbarung, Alltagskriminalität „bürokra-tiearm“ zu bestrafen. Allein die Wortwahl „Alltagskri-minalität“ ist schon bedenklich, ähnlich wie der Begriff„Bagatelldelikt“.
Es gab in der Presse Berichte, Sie wollten den Laden-dieb dadurch strafen, daß Sie ihm den doppelten Wa-renwert als Strafe abverlangen. Damit reduzieren Sie dieAbschreckung und schaffen nur Anreize: Wenn Sie sol-che Wege beschreiten, wird Ladendiebstahl zum Rou-lettespiel. Ich glaube, daß Sie ohne die Abschreckungeiner wirklichen Strafe keinen Erfolg haben werden.Es heißt darüber hinaus, Drogenkonsum und Drogen-besitz werden künftig straffrei gestellt. Damit geben SieAnreiz zum Konsum. Sie erreichen mit staatlicher He-roinabgabe nur eines: daß die Abhängigen in ihrerSucht gestärkt werden. Auch im Ausland hat man be-wiesen, daß nicht alle Abhängigen in ein kontrolliertesProgramm einbezogen werden können. Das wird andereWege der Beschaffung – mit der Folge steigender Kri-minalität – öffnen.Die Kinder- und Jugendkriminalität braucht einestarke Prävention und eine konsequente Verfolgung. Da-für sind in der Jugendsozialarbeit viele ModellprojekteBundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin
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der Prävention notwendig, wie sie z. B. in Bayern an denSchulen gemacht werden.Ich freue mich, daß Sie die Sicherheitspartnerschaf-ten fördern wollen. Ich halte das für einen richtigenWeg. Aber Sie dürfen nicht darin fortfahren, die Klein-kriminalität, die immer am Anfang steht, kleinzureden,und Sie dürfen die Abschreckung durch Strafe, ein Ele-ment der Prävention, nicht negieren.Meine Damen und Herren, ein Wort fehlt in den bis-herigen Akten zur Koalitionsvereinbarung: Mit keinemWort mehr ist von Ausländerkriminalität die Rede. Dieskann man bedauern. Aber es ist im Sinne der neuenBundesregierung logisch. Denn Ihre Pläne zur doppel-ten Staatsangehörigkeit haben deutlich gemacht, daßSie von einer großen Einbürgerungswelle ausgehen, daßSie letztlich Millionen von Menschen – denkt man andie Jugendlichen – die deutsche Staatsbürgerschaft auf-drängen wollen.
Was machen Sie in den Fällen – das steht mit keinerSilbe in dem Gesetzentwurf –, in denen Eltern dieseStaatsangehörigkeit gar nicht wollen?
Sie negieren, daß es eine breite Integrationsleistung derdeutschen Bevölkerung gegeben hat und daß zum Inte-grieren der Wille der Ausländer gehört, die integriertwerden sollen.
Wenn ich auf diesen Willen abstelle, muß ich sagen, daßAufenthaltsdauer und Geburtsort nicht der maßgebendeAnknüpfungspunkt sind.Der Innenminister hat hier gesagt, daß Sprachkennt-nisse der Einzubürgernden selbstverständlich sind, daßer aber dagegen ist, das in das Gesetz hineinzuschreiben.Wie wollen Sie dann die Sprachkenntnisse einbeziehen?Wo ist Ihr Konzept, um die dann entstehenden Loyali-tätskonflikte zu lösen?
Wer zwei Pässe hat, hat natürlich zwei Möglichkei-ten.
Er kann wirklich – wie Herr Schäuble gesagt hat – Rosi-nen picken. Es gibt genügend praktische Fälle, die daszeigen; es gibt genügend Menschen, die sich darauf be-rufen.Wie lösen Sie den Familiennachzug bei Doppel-staatlern? Jetzt beginnt in der Wissenschaft eine breiteDiskussion darüber, wie groß die Zuwanderung bei einerDoppelstaatlichkeit von derzeitigen Ausländerfamiliensein wird.Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen voraus: Mitden geplanten Gesetzen wird Deutschland als Zuwande-rungsland attraktiver. Sie erreichen eine Sogwirkung.
Die Aufnahmefähigkeit Deutschlands wird überstrapa-ziert. Wir haben Schulklassen mit einem Ausländeranteilvon 50 Prozent, zum Teil von 90 Prozent.
All dies wird hier negiert. Sie arbeiten – das sage ich inaller Deutlichkeit – gegen die Bevölkerung und ihreMeinungsbildung.
Die doppelte Staatsangehörigkeit als Regelfall ist mitSicherheit der falsche Ansatz. Damit negiere ich nicht,daß es in der Praxis derzeit viele funktionierende Fälleder Doppelstaatsangehörigkeit gibt.
– Ja, 500 000 mögen es sein. – Wie man dies als Argu-ment für die Einführung der Regeldoppelstaatsangehö-rigkeit bringen kann, ist mir schleierhaft.Meine Damen und Herren, ein Punkt ist allerdingsmehr als bedenklich. In Ihrer Koalitionsvereinbarungsagen Sie expressis verbis, Sie wollen den Rechtsextre-mismus bekämpfen. Mit keiner Silbe sprechen Sie mehrvom Linksextremismus.
Der wird einfach totgeschwiegen. Im Gegenteil: Siewollen die PDS sogar aus der Beobachtung nehmen.
Die Regelung, die Sie im Bereich der Zuwanderungtreffen – eine neue Altfallregelung –, steht extrem imWiderspruch zu dem, was wir auf der letzten Innenmini-sterkonferenz gemeinsam getragen und gemeinsam alsletzte Altfallregelung festgehalten haben. Hier wird eineneue zusätzliche Instanz im Asyl- und Flüchtlingsweseneingeführt: Härtefallregelung. Es läuft letztlich auf dieHärtefallkommissionen des Landes NRW hinaus –eine weitere Instanz. Das heißt im Ergebnis: eine weiterestaatliche Ebene zur Prüfung von Zuwanderung. Siebelohnen durch Altfallregelungen letztlich die ganz Raf-finierten, die nach Ablehnung untertauchen. Ich haltedies für eine komplette Fehlentwicklung.
Meine Damen und Herren, der letzte Punkt betrifftdie eingetragene Lebenspartnerschaft. Ich glaube,Frau Ministerin, daß das bei weitem kein europäischerStandard ist. Selbst in Frankreich wird derzeit heftigdarüber gestritten. Sie haben ja mitbekommen, daß esdort bisher an einer parlamentarischen Mehrheit für dieeingetragene Lebenspartnerschaft fehlt.Ich kann mir nicht erklären, wie Sie erreichen wollen,daß heterosexuelle Partnerschaften diese neue Institutionnicht nutzen werden. Sie bekommen dann logischerwei-se zwei Ebenen: eine, wenn Sie so wollen, halbe Eheund eine Ehe und dazwischen die Verfassung. Dann abergegen Adoption zu sein ist genauso unlogisch. EntwederWolfgang Zeitlmann
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– oder. Deswegen halte ich die gesamte Regelung derLebenspartnerschaft für mehr als bedenklich.
Meine Damen und Herren, 70 Prozent der in EuropaLebenden haben keine solche Regelung. Wieso Sie inEuropa Vorreiter sein und eine europäische Regelungeinführen wollen und sich dabei auf Standards in Europaberufen, ist mir unerklärlich.Wer wie die Frau Ausländerbeauftragte Beck hiervon der Unumkehrbarkeit der Zuwanderung spricht undoffensichtlich keinen Beauftragten für die Rückführungder Bosnienflüchtlinge ernennen will, der lädt zu nochmehr Zuwanderung und zu noch mehr Attraktivität ein.
– Dann müssen Sie, Frau Beck, abgewogener formulie-ren. Sie haben hier von der Unumkehrbarkeit der Zu-wanderung gesprochen, die Sie erreichen wollen. Diesist der falsche Weg.
Wir sind in der Tat der Meinung, daß Bürgerkriegs-flüchtlinge nur auf Zeit hier sein sollen und nach Endeihres Bürgerkriegs eine Rückführung ermöglicht unddurchgesetzt werden muß. Mit keiner Silbe ist bisher aufdieses Thema in diesem Hause eingegangen worden.Deswegen fürchte ich, daß in der Innen- und Rechts-politik eine andere Republik auf uns zukommt, die wirin der Opposition mit Ihnen mit Sicherheit nicht wollenund auch nicht mittragen werden.Herzlichen Dank!
Zu einer Kurz-
intervention erteile ich dem Abgeordneten Westerwelle
das Wort.
Frau Präsidentin!
Herr Kollege Zeitlmann, Sie haben mich selber ange-
sprochen. Ich habe mich noch einmal kurz zu Wort ge-
meldet, weil Sie mir die Empfehlung gegeben haben, ich
möge mich doch einmal über das Staatsangehörigkeits-
recht in der Türkei informieren.
Natürlich weiß ich, wie die Rechte der Deutschen und
die Rechte von Ausländern in der Türkei sind. Aber ich
bin nicht für die Modernisierung des Staatsangehörig-
keitsrechts in Deutschland, um der Türkei einen Gefal-
len zu tun, sondern um unserer deutschen Gesellschaft
einen Gefallen zu tun.
Ebenfalls das
Wort zu einer Kurzintervention erhält die Kollegin Ekin
Deligöz. Danach können Sie antworten, Herr Zeitlmann.
Herr
Zeitlmann, auch ich komme aus Bayern. Zu meinem
größten Bedauern muß ich leider feststellen, daß den
schwächer strukturierten Gebieten Bayerns entgangen zu
sein scheint, daß das türkische Staatsrecht immer noch
in der Türkei abgestimmt wird und nicht in Deutschland.
Wir sind hier im Deutschen Bundestag, und wir machen
hier die deutschen Gesetze und nicht die in der Türkei.
Daher verstehe ich nicht, daß Sie ausgerechnet das als
Beispiel anführen.
Zu Ihrem Spruch, die Staatsbürgerschaft stehe am
Ende der Integration, möchte ich anmerken, daß Ihnen
da etwas entgangen zu sein scheint. Die doppelte
Staatsbürgerschaft kann nur der Anfang der Integra-
tion in Deutschland sein, in der Situation, wie wir sie zur
Zeit vorfinden. Die doppelte Staatsbürgerschaft kann nur
eine Brücke zur Integration sein. Diese Brücke brauchen
die Menschen.
– Es gibt durchaus Menschen, die solche Brücken nicht
brauchen. Ich habe nur den deutschen Paß, und mir ge-
nügt das auch. Aber es gibt nun einmal Menschen, die
auch andere Gefühle und Bindungen haben, die wir be-
achten müssen. Zum guten Ton der Politik gehört auch
die Art und Weise, wie man auf die Gefühle der Men-
schen eingeht und nicht nur auf irgendwelche statisti-
schen Zahlen.
Ihren Spruch, Deutschland sei kein Zuwanderungs-
land, verstehe ich nicht. Ich habe bereits im Wahlkampf
nicht verstanden, warum Sie sich mit solchen Sachen
aufhalten. Es geht nun einmal um eine Tatsache. Sie
müssen sich nur die Zahlen ansehen, um zu erkennen,
daß Deutschland längst ein Zuwanderungsland ist. Wir
können uns noch einmal fünf Stunden darüber unterhal-
ten. Das würde uns alle nicht weiterbringen. Wichtig
aber ist nicht, was Sie sagen, sondern wichtig ist, was de
facto stattfindet und wie wir mit diesen Tatsachen um-
gehen.
Ich komme zu Ihren Bedenken bezüglich der Loyali-
tät. Ich denke, es ist nicht wichtig, loyal zu irgendeinem
Land zu sein. Wenn es darauf ankommt, dann steht im
Vordergrund die Loyalität zu einer Verfassung. Ich kann
Ihnen zusichern, daß die Migrantinnen und Migranten,
die hier in Deutschland aufwachsen und hier leben, diese
Loyalität längst zeigen und auch vorweisen, nämlich die
Loyalität zu unserer demokratischen Verfassung.
Auf Grund dessen kann es passieren, daß so ein
Mensch wie ich heute hier an diesem Mikrofon stehen
und reden kann. Anders würde es nämlich gar nicht ge-
hen.
Herr KollegeZeitlmann.Wolfgang Zeitlmann
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Herr Wester-
welle, ich möchte Sie nur auf etwas hinweisen: Ich be-
finde mich hier im deutschen Parlament und fühle mich
auch für die deutschen Mitbürger in der Türkei verant-
wortlich. Deswegen will ich auch im Interesse der deut-
schen Bevölkerung klar sagen: Solange es ein mit uns
befreundetes Land gibt, das die Minderheitenrechte so
traktiert wie die Türkei, glaube ich, daß es in der deut-
schen Öffentlichkeit schon eine höhere Akzeptanz gäbe,
wenn wir einen Gleichschritt zwischen dem wagen wür-
den, was die Türkei den Deutschen in der Türkei ge-
stattet, und dem, was wir gestatten.
Ich will damit nicht hinter die jetzige Rechtslage zu-
rück, aber ich meine: Man kann den Fortschritt in der
Einbürgerung in der Vergangenheit nicht negieren; da
gab es Fortschritte. Aber es gab umgekehrt in der Türkei
nur relativ wenige Fortschritte für die deutsche Minder-
heit. Dies kann man nicht negieren.
Frau Kollegin, Sie hätten mich völlig falsch verstan-
den, wenn Sie glauben, daß ich gegen eine Einbürgerung
von Ausländern bin. Das ist nicht der Fall. Im Gegenteil:
Wir haben in der Vergangenheit zahlreiche Liberalisie-
rungen, beispielsweise bei den Gebühren und den Fri-
sten der Einbürgerung, eingeführt. Sie können aber nicht
negieren, daß die doppelte Staatsangehörigkeit letztlich
Loyalitätskonflikte zur Folge hat. Das ist unbestreitbar,
dazu gibt es viele Beispiele.
Ich habe vor mir das Schreiben eines Schulrektors
liegen, der davon berichtet, daß ein türkisches Elternpaar
22 Jahre lang in Deutschland lebt und sich bis heute
weigert, irgendein Wort Deutsch zu sprechen, ge-
schweige denn zu lernen. Nach Ihren Definitionen der
Frist werden Sie diese Menschen einbürgern. Das will
ich nicht. Ich will eine Einbürgerung der Integrations-
willigen, aber nicht der Integrationsunwilligen.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Volker Beck.
Herr Zeitlmann, bei dem Wettbewerb um das rück-schrittlichste Staatsbürgerschaftsrecht auf dieser Weltbietet diese Koalition und diese Bundesregierung ein-fach nicht mit. Wir wollen die Türkei mit auf den Wegnach Europa zu Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeitund Modernität nehmen.
Wir orientieren uns deshalb nicht an deren Rechtsstan-dards, sondern wollen sie einladen, sich an den unserenzu orientieren.Die Rechtspolitik hat in den letzten Jahren hier imHause ein Schattendasein gefristet. „Nur nicht auffallen“war die Devise. Rotgrün gibt dieser Rechtspolitik jetztnicht nur ein neues Gesicht, sondern auch ein neuesGewicht. Ich hoffe, daß das nicht ohne Folgen für dieDiskussion um die Kabinettszuschnitte in den Ländernbleibt.Wir wollen den Rechtsstaat erneuern und ihm neueKraft geben. Rechtspolitik soll nicht länger rein techno-kratisch begriffen werden. Das Justizministerium sollwieder deutlich mehr sein als nur das Notariat der Bun-desregierung.
Es geht nicht darum, lediglich Paragraphen zu verwal-ten, sondern gesellschaftliche Entwicklungen aufzuneh-men und rechtlich zu gestalten.Wir streben eine neue politische Kultur an, wir wol-len Beteiligung, Kritik und Einmischung. Wir wollen le-bendige Demokratie und den ernsthaften Dialog mit al-len gesellschaftlichen Gruppen. Deshalb finden Sie imKoalitionsvertrag mehrere Bündnisangebote in die Ge-sellschaft: für eine zivile Gesellschaft, gegen eine Kulturder Gewalt, für Integration, gegen Ausgrenzung, fürDemokratie und Toleranz und gegen Extremismus undGewalt.Unsere Dialogfähigkeit werden wir auch bei der an-gestrebten Justizreform unter Beweis stellen. Wir wol-len die rechtlichen und organisatorischen Voraussetzun-gen für eine bürgernahe und bürgerfreundliche Justizschaffen. Der Zugang der Bürgerinnen und Bürger zumRecht soll vereinfacht und die Verfahren sollen transpa-renter werden. Wir wollen das mit einer Stärkung derEingangsinstanz und einer Schaffung der Dreistufigkeiterreichen, die jedoch bei der rechtsstaatlichen Qualitätkeine Abstriche machen darf.
Die frühzeitige Einbeziehung der Länder und der be-troffenen Berufsverbände in diese Diskussion ist für unseine Selbstverständlichkeit. Wir wollen auch die Chanceergreifen, eine Wende in der Kriminalpolitik einzuleiten.Es ist an der Zeit, dem Begriff Prävention endlich Le-ben einzuhauchen. Deshalb bin ich für die Worte desBundeskanzlers dankbar, der gesagt hat, wir wollennicht nur hart gegen das Verbrechen, sondern auch hartgegen die Ursachen von Kriminalität sein. Das ist ganzentscheidend.
Viel zu lange wurden Rechtsstaatlichkeit und effizi-ente Kriminalpolitik polemisch als Gegensatzpaar auf-gebaut. Das ist grundfalsch; denn Rechtsstaat, Gerech-tigkeit und ein effizienter Schutz gegen das Verbrechengehören zusammen und widersprechen sich nicht. Beieiner rational betriebenen Kriminalpolitik, wie sie auchder Bundesinnenminister vorgeschlagen hat, und mit ei-nem Sicherheitsbericht, der uns schlauer macht, wie wireine solche Politik gestalten können, haben Sie uns aufIhrer Seite.Wir werden auch das Projekt der Sanktionenrechts-reform unterstützen, weil wir meinen, daß es hier einenerheblichen Modernisierungsbedarf gibt. Mit Geld- und
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Freiheitsstrafen werden wir den Ansprüchen an ein mo-dernes Strafrecht nicht gerecht. Wir entsozialisieren dieTäter auf Dauer. Durch Kurzzeitstrafen verlieren sie Ar-beitsplatz und Wohnung auf Dauer. Wir wollen einSanktionsrecht, das die Resozialisierung gerade im Be-reich der kleineren und mittleren Kriminalität stärkerbetont, auch durch den Täter-Opfer-Ausgleich und durchdie Einführung von gemeinnützigen Arbeiten als neuerSanktionsform. Darüber werden wir im nächsten Jahr si-cherlich auch mit Ihnen von der Opposition streiten. Wieman sieht, sind Ihre Reihen auch beim Thema der All-tagskriminalität nicht so geschlossen. Herr Scholz hatunseren Vorschlag zur doppelten Schadenswieder-gutmachung beim Ladendiebstahl aufgegriffen. Dar-über können Sie mit uns reden. Es geht nicht um Ent-kriminalisierung; vielmehr geht es um eine vernünftigeAhndung von Vergehen.
Wir wollen die Stellung von Opfern bei Straftatenstärken. Die Interessen der Opfer wurden in der Vergan-genheit immer nur dann herangezogen, wenn es darumging, Einschränkungen der Bürgerrechte verdächtigererscheinen zu lassen. Diese Instrumentalisierung vonOpferinteressen wird es mit unserer Bundesregierungnicht geben. Wir werden den Opferschutz in vielen Be-reichen ausbauen. Wir werden Schutzkonzepte gegenGewalt im sozialen Nahraum entwickeln, die Wieder-gutmachung stärken, den Täter-Opfer-Ausgleich aus-bauen und die Subjektstellung der Opfer im Strafverfah-ren stärker hervorheben.Rotgrün stellt sich den Herausforderungen der Zu-kunft. Wir vergessen aber auch nicht die Verpflichtun-gen aus der Vergangenheit. Wir werden für die Verbes-serung der Rehabilitierung und Entschädigung von Op-fern des Nationalsozialismus sorgen. Wir wollen, daßdie Diskussion über das Holocaust-Mahnmal im Bun-destag geführt wird. Das ist keine Frage der Exekutive.Hier ist der Ort, wo diese Frage entschieden werdenmuß und wo man sich der Geschichte stellt.
Wir ziehen die Lehren aus der Vergangenheit. DerKanzler hat in seiner Regierungserklärung wie Sie, FrauMinisterin, die Funktion des Rechts als Schutz für dieSchwächeren betont. Deshalb will die Koalition auchMinderheiten besser schützen. Wir werden ein Gesetzgegen Diskriminierung auf den Weg bringen und klar-stellen, daß niemand auf Grund seiner Behinderung, sei-ner Herkunft, seiner Hautfarbe, seiner ethnischen Zuge-hörigkeit oder seiner sexuellen Orientierung diskrimi-niert werden darf. Das ist kein deutscher Sonderweg. Invielen Ländern Europas gibt es Gesetze gegen Diskri-minierung von Minderheiten. An diesen guten euro-päischen Standard wollen wir endlich anschließen.Wir werden auch gleichgeschlechtliche Lebensge-meinschaften endlich rechtlich anerkennen. Es wirddie Möglichkeit der amtlichen Eintragung geschaffen.Schwule und lesbische Paare werden vom Staat offiziellund rechtlich anerkannt. Manche Kollegen von derCDU/CSU haben deshalb schon vorsorglich den Unter-gang des Abendlandes ausgerufen. Heute gab es ja aucheinige sehr lustige Beiträge zu dieser Frage. Ich kann Sienur fragen, meine Damen und Herren: Geht's nicht auchein bißchen weniger schrill?
Ich verstehe die ganze Aufregung nicht. Wenn wirhomosexuellen Paare gleiche Rechte und Pflichten ver-schaffen, dann nehmen wir doch damit niemandem et-was weg. Warum sollte dadurch die Ehe herabgewürdigtoder gar gefährdet werden? Das ist doch blanker Unsinn.
Es geht darum, daß wir endlich zur Kenntnis nehmen:Auch in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaftenwird füreinander Verantwortung übernommen, wird zu-einander gestanden und werden familiäre Leistungen er-bracht. Das muß der Staat anerkennen. 62 Prozent derBevölkerung tun es ohnehin schon. Dies haben sie ineiner Meinungsumfrage zum Ausdruck gebracht.Zum Schluß will ich Ihnen noch einen interessantenSatz aus dem „Spiegel“ vorlesen, der in den letzten Wo-chen unsere neue Regierung nicht gerade immer mit Lobüberschüttet hat:Die Koalitionsvereinbarungen über doppelte Staats-bürgerschaft und die Gleichstellung von homo-sexuellen Lebensgemeinschaften beweisen, daß dieRegierungspartner den Weg zurück zum Bürgerschon eingeschlagen haben.Genauso ist es; genau dort wollen wir hin, zur Bürgerinund zum Bürger.
Deshalb ein letzter Satz: All diese Reformprojekte –
Das war jetzt
schon der letzte Satz.
– werden unser Land verändern. Es wird offener und
toleranter werden. Rechtspolitisch ist Rotgrün auf einem
guten Weg, endlich den Anschluß an die europäische
Moderne zu finden.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Sebastian Edathy.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! „Die Bundesregierung wird eineumfassende Reform des Staatsangehörigkeitsrechts vor-nehmen.“ Dieser Satz ist Bestandteil einer Koalitions-vereinbarung, die fast auf den Tag genau vor vier JahrenVolker Beck
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von den Kollegen Kohl, Waigel und Kinkel unterzeich-net wurde. Einer von ihnen sitzt hier.
Zwei sogar? Um so besser; neuerdings in neuerFunktion.Ich habe die Debatte über die Regierungserklärungdes Bundeskanzlers in den vergangenen Tagen sehraufmerksam verfolgt. Gewiß hatte und hat manchesscharfe Wort, das aus den Reihen der Opposition an dieRegierung gerichtet wurde, etwas damit zu tun, daß Sie,meine Damen und Herren, zum Teil Ihre neue Rollenoch nicht so recht gefunden haben.
Ich halte das übrigens für durchaus nachvollziehbar.Für nicht nachvollziehbar halte ich allerdings, woherSie, meine Damen und Herren auf der rechten Seite desMittelgangs sofern man angesichts Ihrer geschrumpftenReihen noch von einem Mittelgang sprechen kann – –
– Ich höre gerade das Wort Drittelgang. Ich denke, wennSie so weitermachen, wird es in vier Jahren so sein, daßSie noch ein wenig enger zusammenrücken dürfen.
– Warten wir es ab!
Die schrumpfen, rücken aber nicht zusammen, dasstimmt.Woher Sie die Kühnheit nehmen, einer Regierung,die gerade einmal zwei Wochen im Amt ist, Vorhaltun-gen über angeblich nicht erfüllte Versprechungen zumachen, kann ich mir nicht erklären.
Wer nämlich in der Zeit der eigenen Regierungsverant-wortung nachweislich nicht dazu in der Lage oder nichtwillens war, eigene Beschlüsse in die Tat umzusetzen,sollte an dieser Stelle allemal etwas bescheidener auf-treten.
– Sie sind aber nicht an meiner Stelle.
Die Wählerinnen und Wähler haben sich am27. September dieses Jahres für ein Ende des politischenStillstandes in unserem Land entschieden. Das gilt auchfür die Innenpolitik und insbesondere für die Frage derZukunft des Miteinanders in der BundesrepublikDeutschland. Viel zu lange war eine Mehrheit in diesemHause nicht dazu bereit, die Lebenswirklichkeit inDeutschland zur Kenntnis zu nehmen. Zu dieser Le-benswirklichkeit gehört nun einmal, daß es Millionenvon Mitbürgerinnen und Mitbürgern gibt, die dauerhaftin Deutschland leben, ohne die deutsche Staatsangehö-rigkeit zu besitzen. Das sind Menschen, die inDeutschland arbeiten, die Steuern und Sozialabgabenzahlen und die Teil unserer Gesellschaft sind. Es mußim Interesse aller Demokraten liegen, diese Menschenbesser als bisher in unser Gemeinwesen zu integrieren.
– Auf Dauer verträgt es unser Land nicht, wenn großeTeile der Bevölkerung von wesentlichen Mitteln demo-kratischer Teilhabe ausgeschlossen bleiben und damitgewissermaßen Bürger zweiter Klasse sind.
Ich hoffe sehr und habe die große Bitte, daß wir beider künftigen Debatte über Änderungen im Staatsbür-gerschaftsrecht – ein Staatsbürgerschaftsrecht, das derWirklichkeit in diesem Lande gerechter werden muß –auf eines verzichten, nämlich auf die ideologische Be-frachtung des Themas.
Auf jeden Fall; da haben Sie recht, Herr Westerwelle.Wer die Realität nicht wahrhaben will, tut sich selbst,vor allem aber den Menschen – allen Menschen, die indiesem Land leben – keinen Gefallen.
Wer nicht sehen will, was ist, begibt sich in einen Zu-stand der Handlungsunfähigkeit. Jeder, der eine gedeih-liche gemeinsame Zukunft der Menschen in diesemLand will, tut gut daran, die Dinge so zu sehen, wie siesind. Es ist nicht eine Frage der Wahrnehmung, sonderneine Tatsache, daß es einen unumkehrbaren Zuwande-rungsprozeß gegeben hat, und es ist nicht eine Frage derWahrnehmung, sondern eine Tatsache, daß dieser Zu-wanderungsprozeß Folgen hatte und hat – eine davonsteht übrigens heute vor Ihnen.
Wenn wir im Koalitionsvertrag nun klare Schritte inRichtung eines modernen Staatsangehörigkeitsrechtesvereinbart haben, dann haben wir das getan, weil dieZeit reif dafür ist, im Interesse des inneren Zusammen-haltes dieses Landes endlich auch gesetzgeberischSchlußfolgerungen aus der Realität zu ziehen. Es wäreschlicht absurd, wenn wir heute, da die Nachfahren derEinwanderer von einst bereits in dritter und vierter Ge-neration hier heranwachsen, weiter daran festhielten, sieals Ausländer zu behandeln. Sie sind im Grunde keineSebastian Edathy
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252 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998
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Ausländer, und künftig werden sie es auch formal nichtsein.
Wir werden die Grundlage dafür schaffen, daß Kinderausländischer Eltern mit der Geburt in Deutschlandgrundsätzlich die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten,
unter Bedingungen, die wir im Koalitionsvertrag fest-gelegt haben. Das ist ein überaus wichtiger und längstüberfälliger Schritt.Zugleich wollen wir, daß unter der Voraussetzungvon Unterhaltsfähigkeit und Straflosigkeit einen Ein-bürgerungsanspruch erhält, wer als Ausländerin oderAusländer rechtmäßig mindestens seit acht Jahren inDeutschland lebt. Dabei wollen wir bewußt darauf ver-zichten, den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaftvon der Aufgabe der bisherigen Staatsbürgerschaft ab-hängig zu machen.Richard von Weizsäcker – ein Herr, auf den Siemöglicherweise hören – hat in seiner Zeit als Bundes-präsident vor sechs Jahren dazu klare Worte gefunden –ich zitiere ihn –:Würden wir denen, die es wünschen, den Zugangzur deutschen Staatsangehörigkeit erleichtern, undsei es neben ihrer bisherigen, dann würden wir ihreLebenslage verbessern und unser Zusammenlebenfördern.
Genau darum geht es: die Lebenslage der Betroffenen zuverbessern und unser gemeinsames Zusammenleben zufördern.Ich muß zum Schluß kommen. Ich habe die herzlicheBitte, daß wir in diesem Sinne gemeinsam bei denkommenden Beratungen über die Änderung des Staats-angehörigkeitsrechts konstruktiv zusammenarbeiten.„Die Bundesregierung wird eine umfassende Reformdes Staatsangehörigkeitsrechts vornehmen.“ Liebe Kol-leginnen und Kollegen von CDU/CSU und F.D.P., dasist ein Satz von Ihnen, der vier Jahre alt ist. Es ist jetztZeit, ihn mit Leben zu erfüllen. Machen Sie mit, undlassen Sie uns die entsprechenden Beschlüsse mit großerMehrheit fassen; denn die Sache, um die es geht, ist vielzu wichtig, als daß wir es zulassen dürfen, sie partei-politischem Gezänk und der Kleinkariertheit anheim-fallen zu lassen.Vielen Dank.
Lieber Herr
Kollege Edathy, Sie haben gehört: Das Haus hat Ihnen
mit Beifall zu Ihrer ersten Rede schon gratuliert. Auch
ich gratuliere Ihnen; das ist hier so Brauch.
Mit Ihnen möchte ich auch alle anderen Jungfernred-
ner bitten, ein bißchen auf die Zeit zu achten. Wir sind
in dieser Hinsicht ziemlich eingeschränkt. Es gibt da
vorne ein Zeichen, an dem man sehen kann, daß die Zeit
abgelaufen ist.
Ich erteile als nächstem Redner dem Abgeordneten
Norbert Lammert das Wort.
Frau Präsiden-tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die neue Bundes-regierung hat zur Bündelung der kulturpolitischen Kom-petenzen des Bundes das Amt eines Staatsministers fürkulturelle Angelegenheiten als besonderen Beauftragtendes Bundeskanzlers eingerichtet.
Er soll laut Regierungserklärung – ich zitiere –Impulsgeber und Ansprechpartner für die Kultur-politik des Bundes sein und sich auf internationaler,aber vor allem auf europäischer Ebene als Interes-senvertreter der deutschen Kultur verstehen.
Dafür gibt es durchaus beachtliche Argumente.
Die meisten sind allerdings nicht einmal neu.Bislang ist diese Ankündigung die einzige konkreteAbsicht bzw. Initiative der neuen Bundesregierung indiesem Bereich geblieben. Damit verbunden ist die seitWochen medienwirksam angekündigte dringliche Be-förderung dieses Beauftragten des Bundeskanzlers zumleibhaftigen Staatsminister, die nur durch eine förmlicheÄnderung des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse derParlamentarischen Staatssekretäre möglich ist. Daß diesder dringlichste Beitrag zur Förderung von Kunst undKultur in Deutschland sei, glauben wir allerdings nicht.
Ich möchte zu Beginn unserer gemeinsamen Arbeit indiesem Aufgabenbereich einige wenige orientierendeBemerkungen für meine Fraktion machen.Erstens. Wir werden an der beabsichtigten bzw. voll-zogenen Neuordnung der Bundeskompetenzen im Kul-turbereich konstruktiv mitarbeiten. Dies gilt selbstver-ständlich in besonderer Weise für den neuen Bundes-tagsausschuß für Kultur und Medien als parlamentari-sche Korrespondenz zur veränderten Kompetenzvertei-lung in der Exekutive.Zweitens. Wir werden nicht zuletzt den kulturpoli-tisch unauflöslichen Zusammenhang zwischen innererund auswärtiger Kulturpolitik im Auge behalten, undzwar völlig unbeschadet der Ressortzuständigkeiten.Das eine kann offensichtlich nicht gänzlich losgelöstvom anderen verfolgt werden.Sebastian Edathy
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 253
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Drittens. Wir werden jede unnötige Auseinanderset-zung mit den Ländern über ihre Kulturverantwortungvermeiden. Eine Konfrontation zwischen Bund undLändern nutzt weder dem Bund noch den Ländern, abersie schadet Kunst und Kultur. An dieser Stelle füge ichhinzu: Den Begriff „Kulturhoheit“ verwende ich bewußtund grundsätzlich nicht. Kunst und Kultur sind wedereine hoheitliche Aufgabe des Staates, noch steht diesemdie Hoheit über die Kultur zu.
Ein Staat, der diesen Anspruch erheben wollte, hätte alsKulturstaat abgedankt.
Viertens. Die kulturelle Präsenz des Bundes inBonn wie in Berlin ist eine besondere Herausforderung,der sich Parlament wie Regierung widmen müssen. DasSelbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland alsKulturstaat muß in der Hauptstadt noch mehr als an-derswo sichtbar und erlebbar sein. Dem hat die frühereBundesregierung unter Führung von Helmut Kohl mitder Bereitstellung von Kulturfördermitteln für Berlin inHöhe von jährlich mehr als 400 Millionen DM Rech-nung getragen. Ich möchte heute schon darauf hinwei-sen, daß dies mehr ist, als die Regierung Schmidt zuletztfür die gesamte Kulturförderung des Bundes im Inlandausgegeben hat, und daß diese Mittel im übrigen alleinein Drittel der gesamten Fördermittel darstellen, die wirim Bereich der Kulturförderung im ganzen Land zurVerfügung haben.Deswegen weise ich darauf hin, daß von vornhereinauch festgehalten werden muß, daß sich die Kulturförde-rung nicht auf diese beiden besonders wichtigen Aufga-ben reduzieren läßt. Es gibt in der sogenannten Provinzviele herausragende Kulturstätten und Ereignisse vonnationaler und von internationaler Bedeutung, die unsereAufmerksamkeit und Unterstützung in einer ähnlichenWeise verdienen.
Fünftens. In der Regierungserklärung des Bundes-kanzlers heißt es:Über das geplante Holocaust-Mahnmal in Berlinwird nicht per Exekutivbeschluß entschieden, son-dern unter Berücksichtigung der breiten öffentli-chen Debatte hier im Deutschen Bundestag. DieseEntscheidung wird wegen der besonderen, nicht nurkulturpolitischen Bedeutung eine der wichtigstenund zugleich schwierigsten Entscheidungen derneuen Legislaturperiode in diesem Bereich sein, ge-rade weil es beachtliche Argumente für wie gegendie bislang vorgestellten Entwürfe gibt, die wir al-lesamt ernst nehmen müssen.
Die Ankündigung des Bundeskanzlers, daß die ge-suchte „würdige Lösung ... in ein Gesamtkonzept für dieGedenkstätten in Deutschland eingebettet“ werden muß– was ich persönlich nicht für zwingend halte –, machtdiese Entscheidung nicht leichter, zumal sie das Risikoeiner weiteren Vertagung überfälliger Beschlüsse er-höht. Schon gar nicht glaube ich, daß dies ein Ort seinmuß, zu dem man gerne hingeht. Es gibt aber kein über-zeugendes Argument dafür, vor der Schwierigkeit derAufgabe zu kapitulieren. Der angemessene Ort für dienotwendige Entscheidung ist der Deutsche Bundestag.
Sechstens. Die ungewöhnlich lange Amtszeit vonBundeskanzler Kohl war auch eine Zeit ungewöhnlichenkulturpolitischen Engagements des Bundes.
– Wir kommen auf den Sachverhalt zurück.
Ich sage Ihnen voraus, daß die Vergnüglichkeit beimVergleich der einen mit der anderen Zahl von Monat zuMonat rapide zurückgehen wird.Diese Zeit eines ungewöhnlichen kulturpolitischenEngagements des Bundes ist trotz vieler herausragenderEinzelbeiträge nicht immer auffällig gewesen; aber die-ses Engagement war beispielhaft und hat Maßstäbe fürdie Zukunft gesetzt. Dazu gehören in Bonn das Haus derGeschichte und die Kunst- und Ausstellungshalle desBundes. Dazu gehört in Berlin das Deutsche HistorischeMuseum, nicht zuletzt auch die Neugestaltung der Neu-en Wache.Insgesamt haben sich die Aufwendungen des Bundesfür Kunst und Kultur in der Amtszeit von Helmut Kohlverdreifacht. Zur Erhaltung gefährdeter kultureller Sub-stanz in den neuen Ländern und zur Modernisierung dernotwendigen Infrastruktur für kulturelle Bildung sindallein zwischen 1991 und 1994 über 3 Milliarden DMzur Verfügung gestellt worden. Wir werden darauf ach-ten, daß dies so bleibt oder wenigstens nicht die Auffäl-ligkeit der Inszenierung stärker und die Förderung ge-ringer wird.
Siebtens. Wir werden allen Versuchen und Versu-chungen widerstehen und entgegentreten, die Breiten-kultur und die künstlerische Avantgarde in Literatur,bildender Kunst, Schauspiel, Tanz und Musik gegenein-ander auszuspielen.
Das eine ist so unverzichtbar wie das andere. Sowohldas eine als auch das andere haben Anspruch auf Re-spekt und Förderung. Dabei sind allerdings die höchstunterschiedlichen Voraussetzungen zu berücksichtigenbzw. gegebenenfalls zu schaffen, die kulturelle undDr. Norbert Lammert
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künstlerische Entwicklung in dem einen wie in dem an-deren Bereich erlauben.Achtens. Auch die Medien – die alten wie die neuen– sind nicht nur ein wesentlicher Faktor wirtschaftlicherEntwicklung, sondern tragen bewußt oder unbewußt er-heblich zur kulturellen Entwicklung und zur gesell-schaftlichen Identität bei.
Der vor wenigen Tagen verstorbene bedeutende deut-sche Soziologe Niklas Luhmann hat in seinen zahlrei-chen Studien immer wieder darauf hingewiesen, daßPresse und elektronische Medien lediglich das vermit-teln, was die Gesellschaft als Realität annehme. Damitmüssen wir uns noch mehr als bisher auseinandersetzen:Die Wirklichkeit wird über die Medien wahrgenommen– einschließlich der Annahme, daß das, was die Medienvermitteln, die Wirklichkeit sei.Abschließend lassen Sie mich sagen: Der Zweck derKulturpolitik ist Kultur, nicht Politik.
Dieser Anspruch ist leichter zu formulieren als umzu-setzen, aber an diesem Anspruch wollen wir uns undandere messen lassen.
Das Wort hatjetzt der Beauftragte der Bundesregierung für Kunst,Kultur und Medien, Michael Naumann.Dr. Michael Naumann, Beauftragter der Bundesre-gierung für Angelegenheiten der Kultur und der Medien
: Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Herr Lammert, ich freuemich, in Ihnen einen Bündnispartner gefunden zu haben.Ich stehe allerdings auch nicht an, darauf hinzuweisen,daß ich den Ruf nach einer Debatte, um zu einer Ent-scheidung über das Holocaust-Mahnmal zu kommen,jahrelang vermißt habe. Aber er gehört in der Tat hier-her.Der Bundestag hat zum erstenmal in seiner Ge-schichte einen Kulturausschuß eingerichtet. Er hat diesgetan, weil dem Bund im Laufe der Jahre eine Füllekulturpolitischer Aufgaben zumal im außenpolitischenund, wenn Sie so wollen, im innereuropäischen Raumzugewachsen ist. Ihren Lösungen kann größere parla-mentarische Kontrolle und Öffentlichkeit nur gut be-kommen. Meine Mitarbeiter und ich freuen uns auf dieZusammenarbeit.Das Parlament ist der repräsentative Souverän. Dar-um ist es richtig, daß in einer symbolisch so wesentli-chen Frage wie derjenigen des geplanten Holocaust-Mahnmals die Abgeordneten des deutschen Volkes dasletzte Wort haben.
Alle diejenigen, die eine feste Meinung in dieser ernstenAngelegenheit hegen, bitte ich, sich mit moralischenUrteilen über jene zurückzuhalten, die unentschiedenoder anderer Überzeugung sind.
Zur Debatte steht auch nicht das Gedenken an denmillionenfachen Mord an Europas Juden, sondern viel-mehr der ästhetische Gestus der Erinnerung an seineUnbeschreiblichkeit. Eiferndes Insistieren auf eigenenPositionen ist der Sache nicht angemessen. Es gibt keinMonopol des Trauerns oder des korrekten Gedenkens.Wohl aber gibt es die Pflicht, nie zu vergessen, wasFurchtbares einmal geschehen ist.
Die verblendete Machtentfaltung Deutschlands hatzweimal schweres Unglück über unser Land, über Euro-pa, über die ganze Welt gebracht. Die Hoffnung man-cher Künstler und Dichter, der Schauspieler, Regisseureund Komponisten, ein schöpferisches Leben in – mitThomas Mann gesprochen – „machtgeschützter Inner-lichkeit“ zu führen, wurde mißbraucht, betrogen und alsvordemokratische Illusion entlarvt. Kein Zweifel, daßbedeutende Köpfe deutscher Kultur, daß Philosophen,Künstler und Autoren über Jahrzehnte hinweg an demfolgenschweren Werk der nationalen Selbstblendung ih-ren Anteil hatten.Deutsche Politikgeschichte ist immer auch deutscheKulturgeschichte mit all ihren Brüchen und dunklenEpochen. Weil diese Dekulturationsphasen deutscherGeschichte so eng mit machtbesessenem, politischemZentralismus, mit den Herrschaftsträumen von Diktatu-ren verbunden sind, können die Segnungen unsereskulturellen und politischen Föderalismus nicht laut ge-nug gepriesen werden.
Dieser Föderalismus ist das Signum unserer Kulturpoli-tik und wird es selbstverständlich auch unter dieser Re-gierung bleiben.
Wenn wir unter Kultur nicht mehr, aber auch nichtweniger verstehen als den Spiegel, den wir uns selbstvorhalten, um zu verstehen, wer wir sind, was wir kön-nen, wohin wir wollen, so wissen wir auch, daß dieserSpiegel stumpfe Stellen aufweist. Doch blind ist ernicht.Kultur ist niemals das Kraftzentrum sogenannter na-tionaler Normalität. Vielmehr ist sie der Name für alleFormen von Zweifel, von kritischer Überwindung desjeweils Normalen, der Name für geistige Innovation, fürsatirisches Gelächter – auch in diesem Haus –, für intel-lektuelle Herausforderungen, aber doch auch für Trost,für Entspannung und für alle Formen jener bisweilenDr. Norbert Lammert
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diskriminierten Unterhaltung, deren Preis ja nicht auto-matisch Verdummung heißen muß. In einem Satz: Kul-tur ist die schönste Form politischer Freiheit in einerdemokratisch verfaßten Gesellschaft.
Nicht nur wir Sozialdemokraten wissen, daß ein Landan seiner Seele Schaden nähme, lebte es wohlbehütet fürdie Mehrung seines Wohlstands allein. Politik ohneKultur ist unfrei, sprachlos und ohne Sinn.
Kultur ist auch kein Standortfaktor, wie es uns derneue Sprachgebrauch weismachen will. Vielmehr sindes die Künste, die unser Leben aus dem Werktagslandder Notwendigkeit hinausführen können. Das richtigeLeben werden wir jedenfalls nicht auf unseren Konto-auszügen entdecken können. Doch niemand wird be-haupten, daß es sich in einem Land voller sozialer Pro-bleme und wirtschaftlicher Ängste unbeschädigt entfal-ten könnte.Die Bundesregierung hat die mannigfachen Aufgabenihrer eigenen Kultur- und Medienpolitik im Namen vonEffektivität und Transparenz gebündelt, nicht um inKonkurrenz zur Kulturhoheit der Länder und Kommu-nen – das ist inzwischen ein Verfassungsbegriff, HerrLammert; ich teile aber völlig Ihre Meinung, daß derBegriff der Hoheit aus der Barockzeit stammt – zu tre-ten, sondern – im Gegenteil – um sie dort zu stärken, woes möglich ist.
Mit Nachdruck werden wir uns für eine Neuorgani-sation der Kulturförderung Berlins einsetzen. Wir wer-den auch die guten Versprechen der vorherigen Regie-rung einlösen, die kulturellen Einrichtungen der Bundes-stadt Bonn zu fördern in Dankbarkeit für ihre unver-gleichliche Rolle in der deutschen Nachkriegsgeschichte
und in Respekt – das lassen Sie einen Kölner sagen –vor der großen kulturellen Tradition der Region.
Seit mehr als einem Jahr diskutieren wir nun inDeutschland die Silhouette der zukünftigen BerlinerRepublik. Noch ist es eine Silhouette, auch von jenenhochgehalten, die gerne die Gefahren eines autoritärenZentralismus beschwören, weil sie sich so gerne gruselnwollen. Für die Kulturpolitik unserer Regierung um-kreist dieser Begriff die Hoffnung auf ein Hauptstadtle-ben, das bereits heute in seiner Vielfalt von Museen,Theatern, Galerien, Opern, Orchestern, freien Bühnenund einer sehr kreativen Off-Szene ebenso ungewöhn-lich wie repräsentativ für Deutschlands kulturellesSelbstverständnis ist. Berlin braucht, um seine kulturelleVielfalt auszuleben, den Umzug nicht. Das ist auch ohneuns möglich.
Berlin war stets eine Stadt gleichsam transitorischerKultur. Hier trafen und treffen sich die Künstler Ost-und Westeuropas. Hier stellt sich Deutschland demAusland vor – und umgekehrt. Wir werden die vertrag-lich festgelegte Unterstützung kultureller EinrichtungenBerlins durch die Gewährung von Bundesmitteln fort-setzen und diese im nächsten Haushaltsjahr verdoppeln.Berlin ist der Sitz der Stiftung Preußischer Kulturbe-sitz. Sie ist ein Kronjuwel bundesdeutscher Kulturförde-rung. Unter neuer Leitung wird sie die Herausforderungeiner wohl nötigen internen organisatorischen Moderni-sierung annehmen.Alle Kulturpolitik handelt direkt oder indirekt vomErinnern. Ein Land, das sich täglich neu erfinden will,wird sich schnell selbst vergessen. Wir wollen die Vor-stellungen des Deutschen Bundestages zur Pflege vonGedenkstätten ernst nehmen. Dies umfaßt neben ehema-ligen Konzentrationslagern auch die Pflege der sowjeti-schen Ehrenmale und Soldatenfriedhöfe.
Dazu hat sich die Bundesrepublik vertraglich verpflich-tet. Die Menschen, die dort liegen, wollten nicht inDeutschland sterben.Der Vorwurf einer sanften Kolonialisierung, der demWesten Deutschlands aus den neuen Ländern entge-genweht, ist ernst zu nehmen. Mit der gebotenen Zu-rückhaltung, aber auch mit dem notwendigen finanziel-len Aufwand wird die Bundesregierung das kulturpoliti-sche Engagement jener Region Deutschlands verstärken,in der über Jahrhunderte hinweg zum Beispiel unser be-stes musikalisches Erbe gepflegt wurde und in der sich –trotz totalitärer Kulturkontrolle – über mehr als 50 Jahrehinweg eine widerstandsfähige, kraftvolle Musik, Kunstund Dichtung entwickelten.
Weimar mag für manchen ein angestaubter deutscherGoethe-Mythos sein. Aber hinter allem historischenMißbrauch – und den gab es im Dritten Reich – leuchtetdoch die Wahrheit auf, daß in diesem Städtchen dieschönste deutsche Prosa und die leichteste Lyrik ent-standen.
Als europäische Kulturhauptstadt 1999 wollen wirWeimar feiern und verstehen und seine stadtgewordeneLiteraturgeschichte neu lieben lernen.
Bundesbeauftragter Dr. Michael Naumann
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Mit dem Außenminister sind wir uns einig, daß ichim Ministerrat für Kultur und Medien der EuropäischenUnion in enger Kooperation mit den Ländern – das ver-steht sich von selbst – die deutsche Verhandlungsfüh-rung übernehmen werde. Wir wollen dort in kulturpoliti-schen Angelegenheiten mit einer Stimme sprechen – undbisweilen auch fechten –, zum Beispiel in den Bereicheneuropäische Filmförderung und Medienpolitik.
Die Bundesregierung weiß, daß die europäische Ideenicht in einer gemeinsamen Währung kulminiert, son-dern in einer besseren Kenntnis unserer vielfältigen na-tionalen Kulturen verwirklicht wird, in einem niemalsabgeschlossenen Prozeß.
Dieser Prozeß sollte geprägt sein von Neugier, Toleranzund darin begründeter Friedfertigkeit.
Meine Damen und Herren, Europa ist keine Utopiemehr. Freilich gilt es auch, ganz enorme eurozentralisti-sche, bürokratische Zumutungen abzuwehren. Die Qua-lität des deutschen Buch- und Verlagsgewerbes ist ein-malig auf der Welt. Es muß vor den Anfechtungen einerentfesselten Marktwirtschaft geschützt werden.
Dasselbe gilt nicht nur für die sogenannte Buchindustrie,sondern auch für die, die sie tragen, nämlich für dieAutorinnen und Autoren dieses Landes.
Diese Regierung verteidigt im Hinblick auf den Maas-trichter Vertrag aus kulturellen Gründen – nicht auskommerziellen Gründen – den gebundenen Laden-preis.
Von daher ist es übrigens gut, einen ehemaligen Buch-händler als Außenminister an seiner Seite zu wissen,wenn er auch gerade irgendwo sitzt und liest.
So wie der Buchhandel, die Bibliotheken und dieVerlage das Nervensystem unseres Geisteslebens bilden,so sind die Medien unsere Augen. Was sie sehen, aberauch, was sie nicht sehen, bestimmt fast unmittelbar un-ser Bewußtsein. Hüten wir uns vor Kommunikations-monopolen!
Die Erhaltung der grundgesetzlich garantierten Kunst-,Informations- und Meinungsfreiheit sollte unsere Ar-beit bestimmen.
Vor uns liegen gesetzgeberische Initiativen von derdie Kultur fördernden Reform des Spenden- und Stif-tungsrechts bis hin zu einer Regelung der offenen Fra-gen um die sogenannte Beutekunst. Die Bundesregie-rung plant, eine Stiftung „Künstler und Autoren im Exil“ins Leben zu rufen.
Wir wollen bedrängten Autoren, Malern, und Komponi-sten, Regisseuren und Schauspielern in Zusammenarbeitmit Amnesty International und Writers in Prison eine si-chere Bleibe hier für eine Frist von mindestens einemJahr ermöglichen. Dies tun wir auch in dankbarer Erin-nerung an jene Nationen, an der Spitze England, dieNiederlande, Frankreich und die Vereinigten Staaten,die in diesem Jahrhundert verfolgten deutschen Künst-lern Asyl gewährten.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Ende. Ichbin während des Wahlkampfs immer wieder nach mei-ner Vision gefragt worden. Ich habe stets geantwortet,daß sich unser Land vor Kulturpolitikern mit Visionenhüten möge, da jene dazu neigen, sie alsbald verwirkli-chen zu wollen.
Nichts entspräche meinem Kulturverständnis wenigerals die Vorstellung eines Politikers – und säße er imKanzleramt – mit absolutem Geschmack. Wehe uns,wenn er ihn durchsetzen will!
Unser aller Aufgabe ist es, auf Bundes- und Landes-ebene sowie auf kommunaler Ebene dem kraftvollenvielfältigen, dem respektlosen frechen, dem dokumentie-renden, dem bewahrenden, aber auch dem umstürzen-den, dem phantasievollen und komödiantischen Kultur-leben Deutschlands den finanziellen und gesetzlichenSchutz zu gewähren, den es benötigt.
Diese Koalition hat den kulturpolitischen Auftrag, dendie Wähler ihr ganz offensichtlich erteilt haben, ange-nommen. Ich wünschte mir, er würde auch von der Op-position akzeptiert.Ich danke Ihnen.
Herr Nau-mann, ich möchte auch Ihnen im Namen des Hauses zuIhrer ersten Rede gratulieren; das haben wir faktisch be-reits getan.
Bundesbeauftragter Dr. Michael Naumann
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Ich erteile jetzt dem Abgeordneten Cem Özdemir dasWort.
FrauPräsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir füh-ren heute eine spannende Debatte zur Innen- undRechtspolitik. Sie haben viele Ziele, die sich die neueKoalition vorgenommen hat, gehört, unter anderem dasZiel, bei der Informationsfreiheit den preußischen Ob-rigkeitsstaat hinter uns zu lassen und die Demokratie inder Politik nicht darauf zu beschränken, daß man allevier Jahre ein Kreuzchen an der richtigen oder an derfalschen Stelle macht und im übrigen die Vorturner inder Politik aus dem Fernsehsessel verfolgt. Wir wollenden mündigen Bürger, dessen Meinung auch zwischenden Wahlterminen gefragt ist. Seine Mitwirkung liegtuns sehr am Herzen, und deshalb freue ich mich darüber,daß diese Koalition Volksabstimmungen und Volksbe-fragungen in die Koalitionsvereinbarung aufgenommenhat.Sie wissen, liebe Kolleginnen und Kollegen von derOpposition, daß wir in dieser Frage auf Ihre Unterstüt-zung angewiesen sind, weil das Grundgesetz dafür ge-ändert werden muß. Ich hoffe, daß wir dies gemeinsamtun. Ich glaube nämlich, daß es unser aller Anliegen seinmuß, die Politikverdrossenheit – das Gefühl vieler Men-schen in der Bevölkerung, daß man in der Politik nichtmitwirken, nicht mitgestalten kann, daß der Bürger nichtgefragt ist – zu bekämpfen. Ich appelliere an Sie, dieGrundgesetzänderung zusammen mit uns zu bewerk-stelligen, damit wir mehr Elemente direkter Demokratiedurchsetzen können. Wir müssen die Bürgermeinung aufallen Ebenen stärker miteinbeziehen.
Lassen Sie mich auf einen Punkt eingehen, der heutein der Diskussion eine wichtige Rolle gespielt hat – dieOpposition hat das heftig attackiert –: die Frage desStaatsbürgerschaftsrechtes. Ich möchte, bevor ichmeine Meinung dazu sage, etwas zitieren:Das Staatsangehörigkeitsrecht der BundesrepublikDeutschland muß grundlegend novelliert werden.Der Grundsatz der Vermeidung doppelter Staatsan-gehörigkeit muß in den Fällen, in denen das GesetzRechtsansprüche auf Einbürgerung einräumt, auf-gegeben werden. Außerdem muß das Recht aufErwerb der Staatsangehörigkeit für hier geboreneAusländer der zweiten und folgenden Generationverankert werden.Sie werden sich fragen, von wem dieses subversive Ge-dankengut stammt. Ich kann es Ihnen sagen: von derF.D.P.
Das ist das F.D.P.-Programm des Jahres 1994. Genaudas, was Sie dort gesagt haben, wird diese Koalitionverwirklichen. In einem Punkt gehen wir nicht einmal soweit, wie Sie es damals gefordert haben. Sie wissen, wirhaben uns da nicht durchsetzen können. Was das Ge-burtsrecht, das die zweite Generation automatisch be-kommt, angeht, haben wir einen Kompromiß gefunden.Deswegen bin ich mir sehr sicher, daß die F.D.P. in die-ser Frage zustimmen wird und daß sie sich nicht hinterdas Argument flüchten wird, daß die Optionslösungdarin nicht enthalten ist. Die Optionslösung, das wissenSie, Kollege Westerwelle, war der Versuch eines Kom-promisses, der nicht zustande kam, weil die Union nichtmitgemacht hat. Ihre ursprüngliche Position war diesel-be, wie wir sie haben: Das ist die Einführung des Ge-burtsrechtes, ist die Verkürzung der Fristen. Diese Ko-alition wird das machen.
Sie können beweisen, ob Sie nur Luftblasen verbreitethaben oder ob es Ihnen wirklich um die Sache geht.Diese Koalition, liebe Kolleginnen und Kollegen, hateine gute Nachricht für alle Sportfans, eine gute Nach-richt für alle Fußballfans. Bei uns werden zukünftig dieJJs, die Giovannis, die Mullahs und die Mustafas in derdeutschen Nationalmannschaft für Deutschland hoffent-lich Tore schießen. Wir werden aufhören mit dem Un-sinn, daß Kinder, die bei uns geboren sind, nur deshalb,weil ihre Eltern woanders herkommen, nicht in der deut-schen Nationalmannschaft spielen, sondern in der hol-ländischen, in der türkischen oder sonstwo. Zukünftigwerden sie mit unserem Staatsangehörigkeitsrecht in un-serer Nationalmannschaft spielen.
Das sollte Sie, wenn Sie Sportsfreunde sind wie wir,bewegen, daß Sie sich gemeinsam mit uns darüber freu-en. Das kann dem deutschen Fußball nur guttun, wennwir uns die WM in Erinnerung rufen. Auch deswegen istes überfällig, daß wir das neue Staatsangehörigkeitsrechtbekommen.
Lassen Sie mich noch auf ein weiteres Argument ein-gehen, das in der Debatte eine wichtige Rolle gespielthat. Verschiedentlich wurde von den Kollegen von derUnion die Frage angesprochen, warum denn Kinder,wenn sie hier geboren sind, automatisch den Paß be-kommen sollen, ohne gefragt zu werden. Ich sage Ihnen:Es war Absicht, daß wir das gemacht haben. Wir habenlange darüber debattiert, ob wir diesen Punkt mit hinein-nehmen wollen. Ich will Ihnen nun das Argument nen-nen. Ich glaube, Sie werden dann verstehen, warum wirdas gemacht haben.Stellen Sie sich einmal den Fall vor, den Sie zitierthaben. Der fundamentalistische Vater sagt: MeineTochter soll keinen deutschen Paß bekommen, werweiß, auf welche dummen Ideen sie kommt. – Genauum diese Fälle geht es uns. Diese Tochter muß den deut-schen Paß bekommen. Wenn sie hier geboren ist, gehörtsie zu unserer Gesellschaft dazu – und das vielleichtauch im Konflikt mit ihren Eltern.
Vizepräsident Dr. Antje Vollmer
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Das Kindeswohl und das Interesse dieser Gesellschaft,unserer Gesellschaft ist manchmal wichtiger als das In-teresse mancher Eltern.Gerade wir als rotgrüne Regierung können deshalbmit um so mehr Glaubwürdigkeit sagen: Integration istkeine Einbahnstraße. Zur Integration gehört das, was wirmachen werden: das neue Staatsangehörigkeitsrecht.Weiterhin gehört aber auch dazu, daß dieses Gesetz auchangenommen wird, daß Gebrauch von der Einbürgerunggemacht wird, daß sich die Migrantinnen und Migranten– ich rede vor allem von der zweiten und der dritten Ge-neration – stärker um die deutsche Sprache bemühen.Hier werden wir Angebote machen. Diese Angebotemüssen aber auch angenommen werden.Wir werden aber auch eines klarmachen. Der Kalifvon Köln, beispielsweise der Herr Kapplan, der nichtnur uns Sorgen macht, sondern auch vielen Muslimen indieser Gesellschaft Ängste bereitet, wird nicht mit derToleranz dieser Regierung rechnen können.
Wer hier Extremismus und Terrorismus betreibt odervon deutschem Boden aus fremde Länder, zum Beispieldie Türkei, bedroht, wie das die PKK und andere Orga-nisationen machen, der muß wissen, daß wir die Ein-haltung der Gesetze dieser Republik für alle einfordernwerden. Deswegen glaube ich, daß wir mit mehrGlaubwürdigkeit auf die Nichtdeutschen werden zuge-hen können.
Lassen Sie mich, weil meine Redezeit fast abgelaufenist, zum Schluß noch auf einen Punkt eingehen, der indieser Koalitionsvereinbarung eine wichtige Rolle spielt.Ich glaube, daß dieser Punkt das Gesicht dieser Republiknachhaltig verändern wird, und zwar zum Positiven ver-ändern wird. Wir müssen auch in der Drogenpolitikdringend einen Paradigmenwechsel hinbekommen. Wirmüssen zum Ziel haben, daß die Zahl der Drogentotenabnimmt. Jedes Jahr muß sich der Minister hier hinstel-len können und sagen können: dieses Jahr haben wirweniger Drogentote als letztes Jahr. Das muß das Zielder Bundesregierung sein.Wir gehen davon aus, daß Drogenabhängige krankeMenschen sind. Das sind für uns keine Straftäter. Wirmüssen mit diesen Menschen umgehen wie mit krankenMenschen. Darum werden wir auch hier die Politik derRegierung ändern. Wir werden das, was Ihre Kommu-nalpolitiker, was viele Polizeipräsidenten seit Jahren ge-fordert haben und zum Teil praktizieren, endlich legali-sieren. Mit uns wird es Gesundheitsräume geben. Wirwerden die Drogenabhängigen von der Straße holen.Wir werden dafür sorgen, daß die Beschaffungskrimina-lität zurückgeht. Das heißt, das Sicherheitsbedürfnis derBürger wird ernstgenommen. Auf der anderen Seitewerden wir dazu beitragen, daß Kriminalität, daß orga-nisierte Kriminalität in Form des Drogenhandels massi-ver bekämpft wird.Liebe Kolleginnen und Kollegen, was das britischeOberhaus, die Lords mit den weißen Perücken, sicher-lich nicht mit Cannabisnebel umschwebt, beschlossenhat, sollte auch uns recht und billig sein. Das britischeOberhaus hat beschlossen, daß Cannabis dort, wo es da-zu dient, zur Schmerztherapie eingesetzt zu werden, le-galisiert wird. Ich glaube, auch uns würde ein solcherBeschluß gut zu Gesicht stehen.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Evelyn Kenzler.
– Das stimmt. Sie hatten sich vorhin zu einer Kurzinter-
vention gemeldet. – Sie kommen danach an die Reihe,
Frau Kenzler. – Bitte!
Ich will ganz kurzdarauf erwidern, weil Sie uns in bezug auf die Wahlaus-sage des Jahres 1994 angesprochen haben. Es gibt auchnoch eine Wahlaussage von 1990 und eine von 1987.Ich kenne sie. Ich empfehle Ihnen die Wahlaussage desJahres 1998. Denn die Abgeordneten der Freien Demo-kratischen Partei, die hier sitzen, haben diese Wahlaus-sage als Geschäftsgrundlage den Wählerinnen undWählern angeboten, die uns gewählt haben. Das sindetwas mehr als 3 Millionen gewesen.Darin können Sie ziemlich klar lesen, wie wir das se-hen, indem wir nämlich sagen: Zwischen dem 18. unddem 25. Lebensjahr müssen sich die Jugendlichen end-gültig für eine der beiden Staatsangehörigkeiten ent-scheiden. Ich finde, wir sollten uns auf der Grundlageder geltenden Programme unterhalten. Wir haben näm-lich auch, wie wahrscheinlich bei jedem hier – dieseDiskussion gab es auch in der Union; wir erinnern unsder gemeinsamen Gespräche mit den sogenannten jun-gen Wilden in der letzten Legislaturperiode – –
– Ich sage „sogenannt“, weil ich persönlich der Meinungbin, daß man mit 40 nicht mehr als jung durchgeht. Dasgilt für alle.
Mit 36 auch nicht mehr. Da brauchst du keine Angst zuhaben.Aber noch einmal im Ernst: Ich glaube, das ist genauder Punkt: Wir sollten auch sehen, was sich hier getanhat. Das Problem ist: Die doppelte Staatsangehörigkeitals Regelfall für alle verlangt eben dann keine bewußteIntegrationsentscheidung der Betroffenen. Diese be-wußte Integrationsentscheidung der Betroffenen wollenwir. Wir wollen uns an beide Seiten wenden. Die deut-sche Gesellschaft sagt jenen, die hier geboren sind: Ihrgehört dazu. Wir wollen euch integriert sehen. Aber wirerwarten umgekehrt auch, daß die andere Seite sich mitCem Özdemir
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einer bewußten Integrationsentscheidung in unsere Ge-sellschaft begibt.
Herr Özdemir.
Ich
glaube, die jungen Wilden in der Union sind früh geal-
tert, aber das tut nichts zur Sache.
Ich bestreite nicht, daß es bei der doppelten Staats-
bürgerschaft sicherlich ein Vermittlungsproblem in der
Gesellschaft gibt. Ich glaube, es ist das größte im ganzen
Bereich des Staatsangehörigkeitsrechts. Es gibt Umfra-
gen in der Bevölkerung, die besagen, daß das Geburts-
recht von einem großen Teil der Bevölkerung akzeptiert
wird und daß auch die Verkürzung der Fristen von ei-
nem sehr großen Teil der Bevölkerung akzeptiert wird.
Bei der doppelten Staatsbürgerschaft – das will ich
Ihnen gerne zugestehen – haben viele das Gefühl, daß
Personen mit doppelter Staatsbürgerschaft mehr Rechte
bekommen als ein Deutscher. Das muß man ernst neh-
men, da muß man argumentieren. Ich glaube aber, man
kann auch argumentieren.
Viele glauben oder gehen davon aus, daß ein Doppel-
staatsbürger sich hier bestimmten Dingen entziehen
kann. Dem ist aber nicht so. Das muß man in aller Deut-
lichkeit klarmachen. Wer hier Doppelstaatsbürger ist, ist
vor deutschen Gerichten deutscher Staatsbürger.
Er ist hier wehrpflichtig, er ist schulpflichtig, für ihn
gelten alle Bestimmungen dieser Republik.
Ich nenne jetzt einmal einen Punkt, der in der Öffent-
lichkeit gar nicht diskutiert wird: Er hat deswegen sogar
praktische Nachteile. Wenn Sie einmal mit Richtern
sprechen, werden sie Ihnen sagen: Bisher mußte sich der
deutsche Richter beim Fall eines türkischen Staatsbür-
gers, der sich hier scheiden lassen will, in das türkische
Scheidungsrecht einarbeiten und muß die Ehe dieses
Mannes nach türkischem Recht scheiden. Wenn ich tür-
kischer Mann wäre und mich scheiden lassen wollte,
würde ich das türkische Scheidungsrecht bevorzugen. Er
wird sich aber zukünftig als deutscher Staatsbürger
– Gott sei Dank, sage ich und unterstreiche das – nach
deutschem Scheidungsrecht scheiden lassen müssen. Es
gibt also auch durchaus viele Nachteile für Menschen
mit doppelter Staatsbürgerschaft.
Für uns gilt: Wer die doppelte Staatsbürgerschaft hat,
wer den deutschen Paß hat, der ist Bürger unseres Lan-
des und unterliegt unseren Gesetzen.
Zum Schluß noch ein Satz. Es war die Ausländerbe-
auftragte der vorherigen Regierung, Frau Schmalz-
Jacobsen, die gesagt hat: Wir haben 1,8 Millionen Dop-
pelstaatsbürger. Sie hat auch gesagt, um welche Grup-
pen es sich handelt. Der größte Teil davon sind Deut-
sche, die Aussiedler, die aus Kasachstan, aus Rußland zu
uns kommen. Der zweitgrößte Teil entfällt auf binatio-
nale Ehen. Jede sechste neu geschlossene Ehe in
Deutschland ist eine binationale. Ich kenne viele in un-
seren Reihen, die in einer binationalen Ehe leben und
die mir nach jeder Rede sagen: Herr Özdemir, wir wis-
sen selber, daß wir in dieser Frage Quatsch erzählen, der
mit der Lebenswirklichkeit nichts mehr zu tun hat. –
Deshalb sollten wir das etwas niedriger hängen. Ich
glaube, die Geschichte wird uns recht geben.
Jetzt hat die
Abgeordnete Evelyn Kenzler das Wort.
Ich bitte um Ruhe, damit die Kollegin – es ist ihre erste
Rede – zu Wort kommen kann.
Frau Präsidentin! Sehrgeehrte Damen und Herren! Wenn auch weder die Ko-alitionsvereinbarung noch die Regierungserklärung einin sich geschlossenes, konsequentes Reformpaket aufrechtspolitischem Gebiet erkennen lassen, sind zumin-dest jedoch im Vergleich zur vorherigen Wahlperiodemehrere Projekte, so zum Beispiel im Bereich der Justiz,der Volksgesetzgebung auf Grundgesetzebene, im Ar-beits- und Mietrecht, erkennbar. Ob es sich hierbei je-doch tatsächlich um Reformen handeln wird, ist nicht inerster Linie vom Umfang, sondern vielmehr vom Inhaltabhängig. Eine Strafrechtsreform, die die Law-and-order-Politik der Vergangenheit einfach weiterschreibtund die Rechte von Beschuldigten wie von Verteidigernabbaut, oder eine Justizreform, die einseitig zu Lastender Normadressaten geht und das Berufungsrecht starkeinschränkt, wird die PDS keinesfalls mittragen.Wir werden die neue Justizministerin mit ihren vorder Wahl und auch heute gemachten Aussagen, daß sieder Rechtspolitik endlich wieder eine eigenständigeBedeutung beimessen sowie mittels des Rechts undauf rechtsförmigem Wege soziale, demokratische undrechtsstaatliche Grundsätze mit Leben erfüllen will, sehrgenau beim Wort nehmen.Ein, wie es Heribert Prantl in der „SüddeutschenZeitung“ unlängst ausdrückte, Versickern der Rechtspo-litik als ausschließlich rechtsformaler Erfüllungsgehilfinanderer Politikressorts darf es nicht geben. Die PDS-Fraktion wird sich deshalb für eine Demokratisierungdes Straf- und Strafverfahrensrechts, gegen eine weitereGrundrechtsaushöhlung, für deren Ausbau, für eine um-fassende Volksgesetzgebung im Grundgesetz, für eineReform der Justiz unter Beachtung der vorgenanntenMaßstäbe, für mieterfreundlichere Regelungen, aberauch – und das nicht an letzter Stelle – für eine unver-zügliche Beendigung der noch immer bestehendenSchlechterstellung der ostdeutschen Bevölkerung auf ei-nigen Rechtsgebieten vehement einsetzen.
Dr. Guido Westerwelle
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260 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998
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Mit einigem Wohlgefallen – nicht mit Genugtuung –konnte ich der Regierungserklärung entnehmen, daß au-ßergerichtliche Konfliktregulierungsmodelle, ein drei-stufiger Gerichtsaufbau und die Umsetzung der Forde-rung nach größerer Verständlichkeit und Überschaubar-keit des Rechts auf den Weg gebracht werden sollen.Das sind Punkte, die ostdeutsche Juristen seit Jahren alspositive Erfahrungen ihres Berufslebens in der DDR indie Reformdebatte des bundesdeutschen Rechts einbrin-gen.
Herr Bundeskanzler Schröder hat in seiner Regie-rungserklärung am Dienstag mehrfach bekundet, daß erdie innere Einheit Deutschlands voranbringen will. Ohnejedoch die juristische Benachteiligung der Ostdeutschenvor allem auf den Gebieten des Rentenrechts, desGrundstückseigentums und des Strafrechts zu beseiti-gen – das ist längst überfällig –, wird es eine solche Ein-heit auf absehbare Zeit nicht geben.
Vergebens haben auch die Wähler der SPD in denneuen Bundesländern in den vergangenen Wochen, seitder Wahl, auf Aussagen zu mehr Rechtssicherheit vonGrundstückseigentümern und –nutzern, auf zumindestein Einfrieren der überhöhten Nutzungsentgelte, auf eineSchließung der Versorgungslücken, auf eine Abschaf-fung des unseligen Rentenstrafrechts und auf eine Been-digung der politischen Strafverfolgung gewartet.
Wo sind hier die Stimmen der 57 SPD-Abgeordnetenaus den neuen Bundesländern? Wo bleiben die berech-tigten Interessen der ostdeutschen Grundstücksnutzerund –eigentümer? Wo bleibt das Signal, dem Mißbrauchdes Sozialrechts im Rentenbereich ein Ende zu machenund das bewährte Prinzip politischer Wertneutralität aufdiesem Gebiet einzuhalten? Wo bleibt das Signal derlängst überfälligen Versöhnung auf strafrechtlichem Ge-biet?So wie es kein Zeichen gibt, die Benachteiligung imRenten- und Grundstücksrecht zu beenden, so gibt esbisher leider auch keinen Hinweis, etwa zum 50. Jah-restag der Verabschiedung des Grundgesetzes die nachder Vereinigung in Gang gesetzte politische Strafverfol-gung zu beenden. Hören Sie, meine Damen und Herrenvon der SPD-Fraktion, auf die klugen Äußerungen IhresParteikollegen Egon Bahr, daß der Versuch, Geschichtedurch Gerichte aufarbeiten zu wollen, nicht zum Zielführen kann.
Die PDS wird nicht zusehen, wenn auch nach demRegierungswechsel weiterhin vor allem die DDR-Generation mit diffizilen rechtlichen Methoden bestraftwird, die ihre überwiegende Lebensleistung in der DDRerbracht und die schwere Hypothek des Nationalsozia-lismus abgetragen hat. Sie haben jetzt die Chance, dieserrechtsstaatswidrigen Entwicklung Einhalt zu gebieten.Verspielen Sie sie nicht wie die Regierungskoalition vorIhnen!Danke.
Frau Kollegin,
auch Ihnen möchte ich – es gibt viele, bei denen das
heute der Fall ist – zu Ihrer ersten Rede gratulieren.
Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell
wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/26 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor-
geschlagen. Sind Sie einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen jetzt zum Themenbereich Bildung,
Wissenschaft und Forschung. Ich eröffne die Ausspra-
che. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Gerhard
Friedrich.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichmöchte zunächst die Gelegenheit nutzen, Frau Bundes-ministerin Bulmahn herzlich zur Berufung ins Bundes-kabinett zu gratulieren.
Frau Kollegin Bulmahn hat sich lange im Bereich vonBildung und Forschung engagiert. Wir wissen, daß unsin unseren Auffassungen einiges trennt; wir wissen aberauch, daß es Gemeinsamkeiten gibt. Deshalb haben wiruns vorgenommen, mit Ihnen, Frau Bundesministerin,konstruktiv zusammenzuarbeiten.
Ich kann Ihnen bei dieser ersten Debatte über unsergemeinsames Thema allerdings nicht nur gratulieren;denn man hat Ihrem Ressort leider einige wichtigeKompetenzen genommen. Ich finde es schon schade,daß der Bildungs-, vor allem aber der Forschungsteil desMinisteriums herangezogen wurden, um die Plünderungdes Wirtschaftsministeriums durch den Bundesfinanz-minister wieder einigermaßen auszugleichen.Meine Damen und Herren, trotz der jetzt nicht mehrso weitreichenden Kompetenzen spielt dieses Ministeri-um eine große Rolle bei der Sicherung des Wohlstan-des in unserem Land. Wenn wir auf die letzten Jahr-zehnte zurückschauen, dann können wir feststellen, daßes uns lange Zeit, über Jahrzehnte hinweg, möglich war,für überlegene technische Produkte, die wir auf demWeltmarkt angeboten haben, höhere Preise durchzuset-zen. Was neu ist: Andere sind technisch besser gewor-den, haben uns eingeholt
und leider Gottes – Kollege Tauss, darin werden wir unseinig sein – in einigen Spitzentechnologien auch über-Dr. Evelyn Kenzler
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holt. Deshalb stehen wir in einem harten Preiswettbe-werb.Die exportierende Industrie hat reagiert, hat hart ra-tionalisiert. Leider bedeutet dies nicht nur eine Steige-rung des Umsatzes, sondern auch den Abbau von Perso-nal. Die zu hohe Arbeitslosigkeit in unserem Land hathier eine wesentliche Ursache.
Es gibt deshalb zwei Ansätze, um die Beschäftigungs-probleme in unserem Land zu lösen: Wir können weiterversuchen, Produktionskosten zu senken – auch als Staatmüssen wir dazu unseren Beitrag leisten –, oder wirnehmen die Möglichkeit wahr, neue technologischeVorsprünge zu erringen.
Wir – und vor allem der bisherige BundesministerRüttgers – haben uns bemüht, im Bereich der Innova-tionen in den letzten Jahren voranzukommen. Wir ha-ben knappe staatliche Mittel auf wichtige Zukunftstech-nologien konzentriert. Ich nenne zum Beispiel die In-formationstechnologie. Vor allem aber erinnere ich dar-an, daß es Herrn Rüttgers gelungen ist, die Bio- undGentechnologie wieder nach Deutschland zu holen.
Wir haben für mehr Wettbewerb der außeruniversitä-ren Forschungseinrichtungen gesorgt, die Bedingungenfür die Gründung innovativer Unternehmen verbessert,ihnen den Zugang zu Risikokapital erleichtert – ein Pro-blem, das noch nicht abschließend und befriedigend ge-löst ist. Wir haben gemeinsam mit den Ländern denTechnologietransfer besser organisiert, weil wir inDeutschland – das wissen wir alle – Probleme haben, diedurchaus vorhandenen Forschungsergebnisse relativschnell in neue Produkte umzusetzen, wie das in anderenLändern geschieht.Die Ergebnisse, auf denen Sie aufbauen können, FrauMinisterin, sind beachtlich. Die Hälfte unserer industri-ellen Produktion entfällt inzwischen auf FuE-intensiveIndustrien. Bei den fortgeschrittenen Technologien wa-ren wir schon immer besonders stark. Ich habe schonerwähnt: Defizite gab es vor allem bei den Spitzentech-nologien. Nur im Umweltbereich haben wir ausreichen-de Weltmarktanteile. Wir glauben aber, daß wir auchhier erfolgreich waren. Die Wachstumsraten im High-Tech-Bereich in Deutschland sind außergewöhnlichstark: Im Jahr 1996 stiegen die Ausfuhren um13 Prozent.Diese kurze Bilanz belegt, glaube ich, daß Innovationin Deutschland nicht erst mit dem Datum begann, zudem die neue Bundesregierung ihr Amt angetreten hat. –Frau Ministerin Bulmahn, ich habe Ihre Antrittsrede imMinisterium nachgelesen und festgestellt, daß Sie betonthaben, daß Sie gerade im Bereich der Forschungspolitikauf Bewährtem aufbauen können. Auch ich glaube, daßes hier durchaus eine Chance für Gemeinsamkeiten gibt.Wir sind auch gemeinsam der Überzeugung, daß esnotwendig ist, die Mittel für Forschung und Bildungaufzustocken. Dies ist uns über viele Jahre hinweg nichtgelungen; das müssen wir zugeben. Die Kostenexplosi-on im Bereich der sozialen Sicherungssysteme war zugroß. Der Bundesrat hat uns auch nicht gerade geholfen,in diesen Bereichen zu sparen, um Mittel umzuschich-ten.
Dazu haben Sie also Ihren Beitrag geleistet. Sobald sichdie Situation etwas entspannt hatte, hat die alte Bundes-regierung für den Haushalt 1999 einen Entwurf vorge-legt, nach dem die Mittel um eine halbe Milliarde DMaufgestockt werden sollten.Heute warte ich darauf, zu erfahren, wie die konkre-ten Pläne der Bundesregierung in diesem Bereich aus-schauen. Ich bin momentan noch ein bißchen verwirrt.Im Wahlprogramm ist angekündigt worden – die FrauMinisterin hat damals in einer Debatte gesagt: Das stehtnicht unter Finanzierungsvorbehalt –, daß der gesamteBildungs- und Forschungsetat in wenigen Jahren ver-doppelt werden soll.
Im „Spiegel“ habe ich im Juli aber gelesen, daß derHaushaltsexperte Diller das gar nicht für finanzierbarhält.
Dann habe ich in die Koalitionsvereinbarung geschautund keine konkrete Festlegung gefunden. Daher war ichüberrascht – ich wollte schon sagen: Wahlbetrug! –, alsder Herr Bundeskanzler vorgestern angekündigt hat, erwolle die Investitionen in diesen Bereichen verdoppeln.Herr Tauss, ich hoffe, Sie wissen: Das bedeutet für dienächsten fünf Jahre im Schnitt jährlich 3 Milliarden DMmehr.
Wenn ich irgendwann einmal in einer Zeitung lesenwürde, daß Sie irgendwo einsparen, dann würde ich Ih-nen glauben, daß Sie wirklich bereit sind umzuschich-ten. Aber ich lese immer nur, daß Sie Sparmaßnahmenzurücknehmen wollen. Mir ist völlig schleierhaft, wieSie dieses Versprechen erfüllen wollen. Deshalb bitteich um Verständnis, daß Lob und Anerkennung alleinfür die Absichtserklärung, die Sie bisher vorgelegt ha-ben, in diesem Bereich nicht möglich sind.
Meine Damen und Herren, ich habe es schon ange-deutet: Wenn man die Koalitionsvereinbarung und dasletzte Wahlprogramm der SPD liest, muß man feststel-len, daß sie in einer für die SPD neuen Sprache ge-schrieben sind. Es ist viel von Leistung die Rede; es istviel von Innovation die Rede. Wenn das nicht nur Lip-penbekenntnisse sind, dann – ich wiederhole das – gibtes eine Chance, daß wir viele Gemeinsamkeiten habenwerden.Ich habe in einem Punkt aber noch Zweifel, nämlichob es allen in der SPD und vor allem bei den Grünengelingt, ihr Mißtrauen gegen bestimmte Großtechnolo-gien abzubauen. Ich höre, Sie wollen neue ArbeitsplätzeDr. Gerhard Friedrich
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schaffen. In dem Bereich, in dem ich wohne, ist dieKernenergie angesiedelt. Dort wollen Sie offensichtlichzunächst einmal Arbeitsplätze vernichten, wofür ichauch als bisheriger Umweltpolitiker kein Verständnishabe.Beim Transrapid habe ich festgestellt, daß Sie sichnicht ganz einig waren. Einige von Ihnen haben sich zudieser neuen Verkehrstechnik offensichtlich nur deshalbbekannt, weil sie hoffen, daß dieses Projekt an der Fi-nanzierung scheitert.Alle Warnlampen leuchten auf, wenn ich lese, daßSie das technische Konzept des ForschungsreaktorsMünchen II in Frage stellen wollen. Dieses technischeKonzept wurde jahrelang diskutiert und vom Wissen-schaftsrat einstimmig gebilligt. Man kann darüber strei-ten, ob es beim Einsatz von niedrig angereichertem Uranden gleichen wissenschaftlichen Nutzen gibt. Das kön-nen wir ein anderes Mal austragen. Dazu reicht heutenicht die Zeit.Jedenfalls ist sicher, daß es, wenn Sie hier ganz neuetechnische Konzepte umsetzen wollen, eine jahrelangeneue Planungs- und Genehmigungsphase geben wird.Der Wissenschaftsrat hat uns mitgeteilt, daß wir unsereSpitzenstellung in der Materialforschung ohnehin schonverloren haben. Deshalb legen wir Wert darauf, daß die-se neue Neutronenquelle – ich als Bayer lege besonde-ren Wert darauf – zum frühestmöglichen Zeitpunkt zurVerfügung steht.Im Bildungsbereich sind wir vor allem für zwei Sek-toren zuständig: die Hochschulpolitik und die beruflicheBildung. Ich sehe, die Zeit reicht gerade noch für einigeAnmerkungen zur Hochschulpolitik. Wir haben durchdie Novelle zum Hochschulrahmengesetz die Weichengemeinsam in vielen Bereichen neu gestellt. Wir wolleneine stärkere Profilierung der einzelnen Hochschulen,mehr Wettbewerb und eine Verstärkung des Lei-stungsprinzips. Wir haben bei den Diskussionen derletzten beiden Jahre festgestellt, daß dies auch bedeutet,besondere Leistungen im Bereich der Lehre besonderszu honorieren. Deshalb möchte ich anmerken, daß wirdie Absicht unterstützen, auch das Dienstrecht für dasHochschulpersonal neu zu gestalten.
Zu den Studiengebühren kann ich feststellen: Wir inunserer Fraktion wollen keine generelle Einführung vonStudiengebühren. Dazu fehlen zur Zeit auch alle Vor-aussetzungen, zum Beispiel ein Stipendiumwesen, dassicherstellt, daß nicht soziale Barrieren den Hochschul-zugang erschweren.Eine andere Frage ist, ob wir den Ländern Vorschrif-ten machen sollten. Wir haben schon rechtliche Zweifel,ob der Bund den Ländern vorschreiben kann, wie sieeigene Einrichtungen, nämlich Hochschulen, finanzierensollen. Herr Bundeskanzler, Sie waren ja Ministerpräsi-dent. Sie hätten sich früher solche Vorschriften verbeten.Ich habe neulich gelesen, daß auch der frühere bildungs-politische Sprecher der SPD, Herr Glotz, gesagt hat, erkann sich nicht vorstellen, daß sich große Länder wieBayern oder Nordrhein-Westfalen – er hat also nicht nurein unionsgeführtes Land genannt – vorschreiben lassen,wie sie ihre Hochschulen finanzieren.Ich habe nur noch für einen letzten Satz Zeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Friedrich, darf
ich Sie daran erinnern, daß Sie Ihre Redezeit schon ein
Stück überschritten haben?
Ja,
danke. Ich war ohnehin gerade schon beim Einpacken,
Frau Präsidentin.
Ich darf Ihnen versichern: Diese Bevormundung der
Länder lehnen wir auch in Zukunft schlicht ab.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt dieBundesministerin Edelgard Bulmahn.Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
ren und Damen! Bildung und Forschung haben endlichwieder die Bedeutung in der Bundesregierung, die ihnenzukommt.
Deshalb, Herr Friedrich, bedanke ich mich ausdrücklichbei Ihnen für das Angebot einer konstruktiven Zusam-menarbeit. Bildung und Forschung brauchen eine kon-struktive Zusammenarbeit. Bildung und Forschungbrauchen auch verläßliche Rahmenbedingungen. Des-wegen komme ich gerne auf dieses Angebot zurück.Bildung und Forschung haben deshalb wieder Be-deutung in der Bundesregierung, weil wir wissen, daßBildung und Forschung das Fundament für die gesell-schaftliche und wirtschaftliche Entwicklung unseresLandes legen. Wenn der Bundeskanzler in seiner Regie-rungserklärung die Verdoppelung der Zukunftsinvesti-tionen in Bildung und Forschung angekündigt hat, dannist das mehr als ein Symbol.
Es ist ein Signal. Es ist die Aussage: Bildung und For-schung sind die Antwort dieser Bundesregierung auf dieHerausforderungen des 21. Jahrhunderts. Der Bund istnur ein Akteur, das wissen wir. Er braucht Mitspieler inden Ländern und in der Wirtschaft, vor allem aber beiden Frauen und Männern, die dieses Feld bestellen.Meine Damen und Herren, wir wollen ein Klima desgeistigen Aufbruchs in Deutschland schaffen, ein Klima,in dem Bildung, Wissenschaft und Forschung neue Ent-Dr. Gerhard Friedrich
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faltungsmöglichkeiten erhalten, und dabei strukturelleVerkrustungen aufbrechen.
Unser Ziel ist, der jungen Generation wie der Gesell-schaft insgesamt neue Wege zu aktivem Handeln, zu In-novation und zu Verantwortung zu eröffnen.
Wenn sich die Investitionen des Bundes in Forschungund Bildung in den nächsten fünf Jahren verdoppeln,dann brauchen wir eine übergreifende Strategie. Wirwerden deshalb einen offenen Dialog mit den Ländernführen, damit wir in einer gemeinsamen AnstrengungBildung und Forschung die angestrebte neue Prioritätgeben können. Ebenso erwarten wir und werden allesdafür tun, daß sich die Europäische Union stärker fürdiese Zukunftsaufgaben engagiert.An dieser Stelle habe ich die dringende Bitte an dieWirtschaft: Investieren Sie noch stärker in Bildung undAusbildung! Erhöhen Sie Ihre Aufwendungen für For-schung und Entwicklung!
Worum geht es? Deutschland braucht eine neue Bil-dungsreform, die Leistung und Kreativität fördert undChancengleichheit sichert. Dabei ist Kooperation gefragtund nicht gegenseitige Schuldzuweisungen. Ich bin da-von überzeugt, daß wir eine nationale Debatte über Bil-dungsfragen brauchen. Ich biete den Ländern und denSozialpartnern an, ein zeitlich befristetes Forum „Bil-dung“ zu schaffen, das Elemente einer Grundbildung ineiner Wissensgesellschaft identifiziert und zur Siche-rung eines international an der Spitze liegenden Lei-stungsstandards in Bildung und Weiterbildung beiträgt.
Die junge Generation braucht Perspektiven und Ori-entierungen für die Zukunft. Eine gute Bildung undAusbildung sind dafür die entscheidende Grundlage. Esgeht darum, den jungen Menschen wieder Perspektivenzu eröffnen und ihnen auch die individuellen Lebens-chancen zu sichern. Ich werde meinen Teil dazu beitra-gen, daß allen Jugendlichen, die ausgebildet werdenwollen, ein qualifizierter Ausbildungsplatz angebotenwird.
Junge Menschen dürfen nicht länger auf der Straßestehen. Sie brauchen echte Chancen und Entwicklungs-möglichkeiten. Mit dem 100 000-Plätze-Programm pak-ken wir es an und reden nicht nur darüber.
Wir brauchen mehr betriebliche Ausbildungsplätzefür eine wachsende Zahl von Schulabgängern, die besse-re Berufswahlchancen haben müssen. In einem Bündnisfür Arbeit und Ausbildung muß es uns gelingen, ge-meinsam mit der Wirtschaft und den Gewerkschaftendie Ausbildungs- und Beschäftigungschancen der jungenGeneration langfristig zu sichern. Das gilt im übrigenauch für die jungen Menschen mit schlechteren Start-chancen.
Junge Frauen müssen – ich finde, das ist mehr alsüberfällig – endlich den gleichen Zugang zu attraktivenund beschäftigungssichernden Ausbildungsgängen undzu Berufen mit Zukunft erhalten.
Das setzt ein Umdenken in unserer Gesellschaft und inder Arbeitswelt voraus. Das wollen wir voranbringen,und dabei schaue ich besonders die Frauen, aber auchdie willigen Männer in dieser Runde an.Das bewährte duale Ausbildungssystem werden wirdurch eine flexiblere Gestaltung von Ausbildung, Aus-bildungsordnungen und Ausbildungsinhalten fortent-wickeln. Wir brauchen mehr Betriebsnähe, Effizienzund Qualität.
Ein modernes Berufskonzept verbindet Fachkompe-tenz mit Schlüsselqualifikationen, mit voller Berufsfä-higkeit und breitem Zugang zum Arbeitsmarkt. Darüberhinaus sollen Zusatzangebote zur Ausbildung Anreizegeben, um Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeitzu stärken.Im Bündnis für Arbeit und Ausbildung – das ist keinleeres Wort, und wer so darüber schwätzt, diskreditiertsich selbst; ich will das ganz deutlich sagen –
wollen wir auch Vereinbarungen zur Modernisierungder Weiterbildung und zur Weiterentwicklung des le-benslangen Lernens treffen.Eine rechtzeitige Förderung von Weiterbildungsmaß-nahmen ist die beste Versicherung sowohl für die Ar-beitnehmer wie auch für die Unternehmen, um neuenHerausforderungen gerecht zu werden. Wissen undKnow-how machen heute nicht mehr an den Länder-grenzen halt. Deshalb ist es notwendig, daß unsere Un-ternehmen, Forschungseinrichtungen und HochschulenBundesministerin Edelgard Bulmahn
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mit den besten Partnern in der Welt nicht nur konkurrie-ren, sondern auch kooperieren.Wir wollen dafür sorgen, daß Deutschland wieder zueinem bevorzugten Standort für ausländische Investitio-nen in Forschung und Entwicklung wird.
Ein Auslandsaufenthalt – so ist auch meine eigene Le-benserfahrung – gibt wichtige Impulse für neue Ideenund trägt dazu bei, Verständnis für andere Kulturen zuwecken und um neue Denkansätze kennenzulernen. Da-zu gehört auch, daß Ausländer, die in Deutschland stu-dieren, und daß Forscher, die hier arbeiten, in Deutsch-land willkommen sind.
Fortschritt entsteht nicht durch das Dahindümpeln imeigenen Hinterhof.
Deshalb müssen Hochschulen und Studiengänge inter-nationaler werden. Deshalb müssen Jugendliche, egal obStudierende oder Auszubildende, die Chance haben, Er-fahrungen im Ausland zu sammeln.Von den Hochschulen erwarten wir Spitzenleistungen
in Lehre und Forschung. Dafür brauchen sie mehr staat-liche Mittel. Wir werden deshalb bereits im kommendenJahr in einem ersten Schritt die Ausgaben für den vonmeinem Amtsvorgänger jahrelang sträflich unterfinan-zierten Hochschulbau aufstocken.
Aber Geld ist nicht alles. Sie wissen, daß ich das im-mer wieder gesagt habe. Wir brauchen eine grundlegen-de Strukturreform an unseren Hochschulen.
Ich denke, daß hier über alle Parteigrenzen hinweg Kon-sens besteht. Ein wichtiger Schritt auf dem vor uns lie-genden Weg ist die Zuweisung klarer Verantwortlich-keiten. Ich biete den Ländern an, gemeinsam nach We-gen zu suchen, wie wir Ziele und Verantwortlichkeitenbei den Gemeinschaftsaufgaben nach Art. 91 a und b desGrundgesetzes klarer definieren können. Es wäre ein er-ster Schritt zum Erfolg, wenn von allen Beteiligten – dasgilt auch für Sie, Herr Kampeter – ein Dialog offen, un-voreingenommen und mit der Bereitschaft, querzuden-ken und sich auch von liebgewordenen Gewohnheitenzu trennen, geführt würde.
Ich versichere Ihnen, daß die Bundesregierung dazu be-reit ist, genauso, hoffe ich, viele Kolleginnen und Kolle-gen.Von entscheidender Bedeutung für die Zukunft derHochschulen ist eine schnelle und umfassende Moder-nisierung des Dienstrechts. Wir wollen hiermit Ent-wicklungspotentiale für Kreativität im gesamten Inno-vationszyklus eröffnen. Barrieren, die wir noch immerzwischen Forschung und Unternehmen haben, müssenbeseitigt werden. Es muß wieder attraktiv sein, zwischenWissenschaft und Wirtschaft zu wechseln und denKnow-how-Transfer zwischen Wissenschaft und Wirt-schaft „über Köpfe“ zu beflügeln.Das größte Kapital der Wissenschaft in unserem Lan-de zur Lösung der drängenden Probleme, vor denen wirstehen, ist der wissenschaftliche Nachwuchs. Deutsch-land kann es sich nicht leisten, auf Begabungsreservenzu verzichten. Chancen und Perspektiven junger Men-schen dürfen nicht vom Portemonnaie der Eltern abhän-gig sein.
Allein die Leistungsfähigkeit und der Wille des ein-zelnen zählen. Deshalb ist es höchste Zeit für eine Re-form des BAföG.
Wir werden im kommenden Jahr in einem ersten Schrittdie Einschränkungen der 18. BAföG-Novelle zurück-nehmen und die Freibeträge anheben, damit nicht nochmehr Studierende aus der Förderung herausfallen.
Wir werden bis Ende 1999 ein zustimmungsfähigesKonzept für eine grundlegende Reform und Verbesse-rung der Ausbildungsförderung vorlegen.
Dabei streben wir an, alle ausbildungsbezogenen staatli-chen Leistungen zu einem einheitlichen und eltern-unabhängigen Ausbildungsgeld für Studierende zusam-menzufassen. In diesem Zusammenhang wäre es einvöllig falsches Signal, Studiengebühren einzuführen.
Die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses– ich habe es gesagt – liegt mir besonders am Herzen.Wir werden uns dabei insbesondere für bessere Chancenvon Frauen in Lehre und Forschung einsetzen. FrüheSelbständigkeit und Eigenverantwortung im Wissen-schafts- und Forschungssystem sind dabei unverzicht-bar. Wir wollen Anreiz- und Förderstrukturen schaffen,so daß neuartige, quer zu den Disziplinen liegende Fra-gestellungen von jungen Forschergruppen aufgegriffenwerden können.Bundesministerin Edelgard Bulmahn
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Das deutsche Forschungssystem hat sich in seinerVielgestaltigkeit bewährt. Wir werden es jedoch weiter-entwickeln und das Aufgabenprofil der Forschungsin-stitutionen und -organisationen im Dialog mit der Wis-senschaft fortentwickeln und schärfen.
Wissenschaft und Forschung brauchen langfristig ver-läßliche Rahmenbedingungen, um auch in Zukunft neueIdeen als Basis für Innovation entwickeln zu können.Grundlagenforschung und Vorsorgeforschung sind dasFundament, auf dem wir aufbauen. Deshalb gibt es dafüreine besondere staatliche Verantwortung.
Wir werden gemeinsam mit Wissenschaft und Wirt-schaft kreative Suchprozesse für neue Forschungsthe-men organisieren und ihre Umsetzung in flexiblen undproblemorientierten Strukturen ermöglichen.
Als eines der fortgeschrittensten Industrieländer wer-den wir unsere Verantwortung für globale Entwicklungund weltweites nachhaltiges Wachstum ernst nehmen. Indisziplin- und branchenübergreifenden Leitprojektenwerden wir die Entwicklung von Technologien und dieorganisatorischen Voraussetzungen für Kreislaufwirt-schaft und nachhaltiges Wirtschaften anschieben. Das istim übrigen auch der richtige Weg, um über organisatori-sche Grenzen hinweg neue Allianzen der Innovation zubilden.
Den Wettbewerb um die besten Ideen werden wir sy-stematisch als Instrument in der Forschungsförderungeinsetzen, um Innovationsnetzwerke zu fördern, wiezum Beispiel bei Bio-Regio.
– Ich habe gerade ein Beispiel genannt. Ich glaube, Siebrauchen ein Hörrohr, Herr Kampeter. Ich werde es Ih-nen bei Gelegenheit übergeben.
– Ich glaube, die neue Technik hilft bei ihm nicht. Da istnichts mit „Chips und Lederhose“; da ist nur die Leder-hose.
Wir werden uns für eine umfassende Zusammenarbeitaller am Innovationsprozeß Beteiligten einsetzen. Dabeisollen Netzwerke und regionale Schwerpunkte zwi-schen Hochschulen, außeruniversitärer Forschung undIndustrie entstehen. Wir werden dabei insbesondere diekreativen Leistungen vieler kleiner und mittlerer Unter-nehmen unterstützen und sie in ihrer besonderen Rolleam Arbeitsmarkt fördern.
Ich weiß, daß das gerade für die neuen Bundesländervon besonderer Bedeutung ist. Deshalb versichere ichIhnen: Der Ausbau von Bildung und Forschung in denneuen Bundesländern wird ein Schwerpunkt unsererPolitik sein.
Diese Prozesse wollen wir durch bessere Rahmenbedin-gungen und eine Entlastung von bürokratischen Vor-schriften ergänzen. Eigenverantwortung von Wissen-schaft und Forschung muß selbstverständlich sein. Wirversprechen uns davon mehr Qualität, Transparenz undFlexibilität. Auch dazu kann ich nur sagen: Wir werdendas machen und nicht nur darüber reden.
Bei zentralen Schlüsseltechnologien, wie zum Bei-spiel der Bio- und Gentechnik, die wir nutzen und weiterfördern werden, bei neuen Materialien, bei physikali-schen und chemischen Technologien, bei Laser- undPlasmaforschung oder in der Mikrosystemtechnik sollDeutschland im internationalen Wettbewerb Spitzen-positionen einnehmen und diese Spitzenpositionen aus-bauen. Durch eine Veränderung der Rahmenbedingun-gen in enger Verknüpfung mit der Forschungsförderungwerden wir die breite Anwendung der Informations- undKommunikationstechnologien unterstützen und voran-bringen.
Wir wissen, daß neue Arbeitsplätze überwiegend imDienstleistungssektor entstehen. Die Leistungsfähigkeiteiner modernen Volkswirtschaft hängt entscheidend vonder Qualität ihres Dienstleistungsbereiches und derQualität der Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruk-tur ab. Wenn wir Hochtechnologien weltweit exportie-ren wollen, gehören Dienstleistungen wie Beratung undWartung unter Nutzung der modernen Informations- undKommunikationstechnologien dazu. Deshalb werden wiruns in Ausbildung und Forschung gezielt dafür einset-zen, die Leistungsfähigkeit dieses wichtigen Sektorsdeutlich zu erhöhen.
Wir werden die Instrumente der Forschungspolitikumfassend dazu nutzen, die drängenden Probleme dieserGesellschaft zu lösen. Ich möchte erreichen, daß dieMenschen sehen, daß Fortschritte in Wissenschaft undForschung ihnen nützen,
daß Bio-Wissenschaften helfen, Krankheiten zu be-kämpfen und neue Möglichkeiten der Umweltsanierungzu eröffnen, daß neue Technologien Behinderten helfenund daß Forschungsarbeit dazu beiträgt, innovative undmenschengerechte Arbeitskonzepte zu entwickeln.Bildung, Wissenschaft und Forschung sind die Bau-steine menschlicher Zivilisation. Wir bauen auf dem auf,Bundesministerin Edelgard Bulmahn
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was Menschen in Jahrhunderten vor uns erdacht undentwickelt haben. Wir wollen nicht stehenbleiben. Des-halb wird diese Bundesregierung Bildung, Wissenschaftund Forschung Priorität geben – die beste Vorausset-zung für den Aufbruch in das nächste Jahrtausend.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt der
Abgeordnete Jürgen Möllemann, F.D.P.
Frau Präsidentin!
Meine Kolleginnen und Kollegen! Jährlich im Dezem-
ber – es wird also in Kürze geschehen – wählt eine Jury
der Gesellschaft für deutsche Sprache das Wort des Jah-
res aus. Ich schlage im Blick auf die Diskrepanz zwi-
schen dem, was Sie, Herr Bundeskanzler, Ihre Ministe-
rin, die gerade hier gesprochen hat, und andere im
Wahlkampf gesagt haben, und dem, was in der der Re-
gierungserklärung steht, das Wort „Mogelpackung“ vor.
Es besteht – dieser Eindruck ist wohl nicht nur mein
persönlicher; ich werde darauf gleich noch kommen –
vielmehr im Hinblick auf das, was vor den Wahlen über
den großen Stellenwert von Bildung, Wissenschaft und
Forschung gesagt worden ist, und im Hinblick auf das,
was konkret in der Regierungserklärung steht, doch eine
erhebliche Diskrepanz.
In der Regierungserklärung steht der bemerkenswerte
Satz – Frau Bulmahn, Sie sprachen das Thema an –:
„Diese Regierung hat nichts gegen die Herausbildung
von Eliten.“ – Toll! Ich dachte, diese Regierung – so hat
es im Wahlkampf geheißen – hält Leistungseliten für
dringend erforderlich und will alles tun, damit sie geför-
dert und gefordert werden. Wie groß ist eigentlich der
ideologische Dissens in dieser rotgrünen Koalition,
wenn ein Kanzler hier nur noch halb entschuldigend sa-
gen kann: „Diese Regierung hat nichts gegen die Her-
ausbildung von Eliten.“ Das Schlimme ist, daß dort, wo
Sie agieren, etwa in Nordrhein-Westfalen – gestern hat
die dortige Schul- und Hochschulministerin, von der ich
weiß, daß sie sich der hohen Wertschätzung des dortigen
Ministerpräsidenten erfreut, ein beredtes Zeugnis davon
abgelegt – dort, wo konkret im Instrumentarium von
Schul- und Hochschulpolitik entschieden wird, was
man zur Förderung von Eliten tun kann, eben nichts ge-
schieht.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Möl-
lemann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeord-
neten Hilsberg?
Nein, ich möchtegern diesen Gedanken zu Ende führen.
Sie, Frau Bulmahn, haben hier etwas dargelegt, wor-auf ich das Wort „Mogelpackung“ bezogen habe. Ichbenutze dieses Wort, weil die Wortwahl insoweit jedenTag variiert, als Sie bis vor kurzem gesagt haben, daßdie Bundesregierung die Ausgaben für Bildung, Wissen-schaft und Forschung verdoppeln werde – das steht inIhrem Wahlprogramm; so hat es der Kanzlerkandidatund jetzige Kanzler immer wieder gesagt –, und Sie jetztplötzlich anfangen, von den „Zukunftsausgaben“ in die-sem Bereich zu sprechen. Das wird eine tolle Debattewerden, wenn Sie uns nachher, weil Sie bei weitemnicht die Verdoppelung erreichen werden, dartun wer-den, daß das, was geschehe, im wesentlichen Bestands-sicherung sei und daß es nur da und dort um Zukunftssi-cherung gehe: Nein, Sie haben den Menschen gesagt –so haben sie es verstanden –, daß Sie die Ausgaben fürBildung, Wissenschaft und Forschung verdoppeln wol-len, das heißt von 15 Milliarden DM auf 30 Milliar-den DM erhöhen wollen. Kommen Sie uns nicht daher-geschlichen und sagen uns demnächst, wenn es nur einDrittel davon geworden ist, das sei Semantik! Das wäreeine Mogelpackung. So nenne ich das. Wir sehen IhrerHaushaltspolitik mit Interesse entgegen.
In diesem Zusammenhang ist es interessant, sichheute die „Rheinische Post“ anzuschauen. Da überreichtdoch tatsächlich die Gewerkschaft Erziehung und Wis-senschaft einem Sozialdemokraten, dem guten HerrnClement, eine rote Laterne. Als er die rote Laterne er-hielt, sah Clement rot und sagte: „Wer aber glaubt, esgibt mehr Geld für die Bildung, der irrt; tut mir leid.“Wir werden ja sehen, wie das einmal sein wird. Siehaben schon darauf hingewiesen, daß Bildungspolitikdas Zusammenwirken von Bund und Ländern verlangt.Sagen Sie uns bitte nicht, Sie verdoppelten die Zuschüs-se nicht, weil die Länder nicht mitmachen wollten. Siehaben jetzt in so vielen Ländern die Mehrheit, daß diesfür Sie keine Ausrede sein kann.
Dann sagten Sie, Frau Bulmahn, Sie wollten dasHochschulrahmengesetz modernisieren und in ihm denLändern verbieten, Studiengebühren einzuführen.
– Sie haben es immer wieder öffentlich gesagt. – Heuteschlage ich die „FAZ“ auf – man ist im hohen Alter jaauch belesen –
und finde folgende Überschrift: „Semestergebühren inNiedersachsen“. Ist Wissenschaftsminister Oppermannaus Ihrer Partei? Mein Gott, was machen Sie denn alsSozialdemokraten miteinander? Wollen Sie ihm wirklichper Gesetz das verbieten, was er in seinem Land machenBundesministerin Edelgard Bulmahn
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will? Das sind ja komische Zustände in Ihrer Partei,Frau Ministerin. Das müssen Sie politisch lösen.
Interessant ist auch, was an Widersprüchen in ande-ren Bereichen erscheint. Nimmt man die deutsche Pres-se, dann staunt man. Was tun heute all diejenigen, die imWahlkampf nicht genug jubeln konnten? Der „Stern“schreibt über Sie, Herr Bundeskanzler, und Ihre Regie-rung: „Chaos“.
„Die Woche“: „Der Kanzler hat in seiner Regierungser-klärung keine Antwort auf die Probleme der Nation ge-funden.“ Meine Güte, was schreiben diese Leute dennalles! Man ist ganz fassungslos. So geht es weiter querdurch die gesamte deutsche Presselandschaft, geschrie-ben von all den Wahlkampfhelfern, die jetzt sehen, daßdas, was Sie versprochen haben, eine Mogelpackungwar, weil Sie es offenbar nun nicht einhalten wollen.Zum Schluß zitiere ich eine ganz unverdächtige Stel-le. Bei Ihrem Freund Rudolf Scharping, lieber HerrBundeskanzler, sollte eine Frau Ministerin werden, dieheute folgendes öffentlich feststellt:Das war sie also, Ihre Regierungserklärung, dieerste eines sozialdemokratischen Kanzlers nach16 langen schwarzen Jahren. Der große Moderni-sierer, die allseits beliebte Symbolfigur der NeuenMitte, hat gesprochen. Was kam heraus? Viel Windum nichts. Herr Bundeskanzler, Sie haben michsehr enttäuscht.Das sagt Heidi Schüller, frühere Olympiakämpferin,Ministerkandidatin eines Sozialdemokraten. Ich kannnur sagen: Dem ist nichts hinzuzufügen.
Meine Schlußbemerkung: Frau Ministerin, ich gratu-liere Ihnen zu Ihrem Amt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Möl-
lemann, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Das ist mein
Schlußsatz. – Ich habe ja das Vergnügen, Sie zu beglei-
ten. Es kann sein, daß das Wort des Jahres 1999 das
Wort „nachbessern“ sein wird. Dabei werden wir Ihnen
gerne helfen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner inder Debatte ist der Kollege Matthias Berninger, Bündnis90/Die Grünen.
den vergangenen vier Jahren gab es eine ganze Reihevon bildungspolitischen Debatten in diesem Bundestag.Einer hat bei jeder bildungspolitischen Debatte gefehlt.Deswegen freue ich mich um so mehr, daß das bei derneuen Bundesregierung anders ist; denn zum erstenmal,seitdem ich in diesem Hause zu diesem Thema rede, istder Bundeskanzler bei diesem Thema anwesend.
Das symbolisiert, daß wir diesem Thema ein größeresGewicht beimessen, als es in der Vergangenheit der Fallwar.
Auch wenn der Herr Bundeskanzler für einen Mo-ment vor die Tür gegangen ist, kann ich Ihnen doch ver-sichern, daß es kein Betriebsunfall war, daß GerhardSchröder in seiner Regierungserklärung dem ThemaBildung und Forschung ein neues Gewicht zugemessenhat, sondern daß das ein ganz wesentlicher Punkt derneuen rotgrünen Koalition ist.
Der Bundeskanzler hat zu Beginn seiner Regierungs-erklärung gesagt, daß diese Regierung auf Grund derHinterlassenschaft der Ära Kohl sparen müsse. Trotz-dem hat er erklärt, daß wir im Bildungsbereich werdeninvestieren müssen. Das ist kein Widerspruch, sonderngehört ursächlich zusammen. Denn wenn wir in derBundesrepublik nicht die Brücke zur Wissensgesell-schaft schlagen und dem Bereich Bildung und For-schung kein Geld für Reformen zur Verfügung stellenkönnen, dann werden wir auch nicht die Stärke wieder-erlangen, die wir brauchen, um die Hinterlassenschaftder Ära Kohl beiseite zu räumen. Das ist der ursächlicheZusammenhang.Daß Herr Möllemann eben von Mogelpackungensprach, hängt wohl damit zusammen, daß er vorher imGesundheitsausschuß war; da hatte er ja viel mit Pak-kungen und mit Mogeln zu tun.
Es wurde gesagt, daß die Vorhaben der rotgrünenKoalition sehr unkonkret seien. Das sehe ich völlig an-ders. Vier Jahre lang hatten wir einen Ankündigungsmi-nister als Bildungsminister, der Dinge angekündigt hat,nach vorne geprescht ist und dann, statt mit den Ländernzu kooperieren, diesen immer die Schuld für seine Un-tätigkeit gegeben hat.
Die rotgrüne Koalition wird einen anderen Weg gehen:Wir werden Reformen vorschlagen und uns selbst zeit-lich unter Druck setzen, um diese Reformen auch umzu-setzen.
Jürgen W. Möllemann
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In unserer Koalitionsvereinbarung steht, daß dieBAföG-Reform schon im nächsten Jahr von der Koali-tion auf den Weg gebracht werden soll. Dazu brauchenwir mehr Geld und den Mut, eine neue Richtung einzu-schlagen. Ziel unserer Politik ist, daß alle – unabhängigvom Geldbeutel – den Weg zu den Hochschulen findenkönnen und daß das Recht auf Bildung wieder verwirk-licht wird. Schauen Sie sich einmal an, wie der Anteilder Studierenden aus Familien mit niedrigem Einkom-men an der Gesamtzahl der Studierenden in der ÄraKohl zurückgegangen ist und welcher Zusammenhangzwischen dem Wohlstand der Eltern und der Möglich-keit, im Ausland zu studieren, besteht. Sie stellen dannfest, daß wir in Deutschland gewaltige Anstrengungenunternehmen müssen, damit tatsächlich jeder jungeMensch – und nicht nur die Kinder wohlhabender Eltern– sein Recht, die bestmögliche Ausbildung zu erhalten,verwirklichen kann. Dabei wird die Reform des BAföGeine zentrale Rolle spielen. Ich gehe fest davon aus, daßwir – im Gegensatz zu Herrn Rüttgers – einen Vorschlagvorlegen werden, der gemeinsam mit den Ländern erar-beitet wurde. Wir werden nicht den Fehler machen, dieLänder ständig vor den Kopf zu stoßen.
Ein weiteres Reformvorhaben ist die Reform derPersonalstruktur. So wie es jetzt aussieht, werden dieHochschulen mit der Personalstruktur des 19. Jahrhun-derts den Weg ins 21. Jahrhundert antreten. Das darfnicht geschehen. Der letzte Innenminister hat jede Re-form in diesem Bereich blockiert. Herr Kanther hatteüberhaupt kein Interesse, in diesem Bereich etwas zuunternehmen. Ich gehe fest davon aus, daß Herr Schilyvorausschauender ist und daß uns gemeinsam mit denInnenpolitikern eine Reform der Personalstruktur ge-lingt, die modernen Hochschulen angemessen ist.
Diese modernen Hochschulen werden sich auch daranmessen lassen müssen, ob sie den Frauenanteil, der beiden Studienanfängerinnen und -anfängern bereits weitüber der Hälfte liegt, auch in der Wissenschaft realisie-ren werden. Der wissenschaftliche Nachwuchs soll sogefördert werden, daß der Frauenanteil bei den Hoch-schullehrern kräftig steigt. Das gilt für die Lehre und fürdie Forschung. Ich freue mich, wenn wir hier gemein-sam einen Schwerpunkt setzen können. Eine Aussagevon Herrn Kanther paßt hier ganz gut. Er sagte, Statistiksei die beste Medizin gegen politisches Geschwätz. Siewerden uns an unseren Erfolgen der nächsten vier Jahremessen können. Das bisher Vorhandene – da bin ichsehr zuversichtlich – werden wir zum Guten hin verän-dern.In der Forschungspolitik wird es uns darum gehen,den Dialog zwischen Wirtschaft auf der einen Seite undForschungspolitik auf der anderen Seite zu realisierenund den Wechsel von Wirtschaft in Forschung und vonForschung in Wirtschaft tatsächlich auf den Weg zubringen, statt in einen Kompetenzstreit zu verfallen, wieer die letzten vier Jahre zwischen WirtschaftsministerRexrodt von der F.D.P., der jetzt in Pension ist, undBundesbildungs- und -forschungsminister Rüttgers be-stand. Wir werden so kooperieren, daß Wirtschafts- undBildungspolitiker auch hier gemeinsam Fortschritte er-zielen können.Die neue Struktur des Bundesbildungsministeriumsläßt mich daher nicht wehmütig auf vergangene Zeitenzurückblicken. Ich halte es für eine Errungenschaft, daßdie Bereiche Forschung und Bildung zusammengefaßtworden sind. Ich halte es aber auch für zweckdienlich,daß bestimmte Teilbereiche an den Bundeswirtschafts-minister abgegeben worden sind. Das ist ein Signal da-für, daß es Dialog und keine weitere Konfrontation ge-ben soll.Meine Damen und Herren, es wurde gesagt, daß eseinen Streit um die Frage gebe, wie man mit Eliten um-gehe. Herr Möllemann, da irren Sie sich. Darüber gibt esin der rotgrünen Koalition keinen Streit, sondern wirwollen, daß alle Menschen im Bildungssystem best-mögliche Leistungen erbringen. Wir fordern das von denProfessorinnen und Professoren, von den wissenschaftli-chen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und von denStudierenden. Wir wollen, daß jeder die Chance hat, die-se bestmöglichen Leistungen zu erbringen.
Deswegen teile ich die Einschätzung des Bundeskanz-lers völlig, daß dafür die Reform des BAföG Vorausset-zung ist, damit jeder die Möglichkeit zum Hochschulzu-gang besitzt.Sie haben ja ausgiebig über rotgrüne Länderregierun-gen geredet. Ich finde es übrigens eine schlechte Metho-de, wenn man sich nur die Beispiele heraussucht, dieeinem gerade passen.
Wenn Sie die Hochschullandschaft etwa in Hamburgbetrachten, dann werden Sie wenig Unterschiede zuBayern feststellen.
Denn was die Modernisierung der Hochschulen und wasdie Förderung zum Beispiel von neuen Studiengängenangeht, gibt es zwischen beiden Bundesländern wenigUnterschiede, aber viele Gemeinsamkeiten.Ich bin der Meinung, daß man die bildungspolitischeDebatte nicht mehr in den ideologischen Gräben derVergangenheit führen sollte, weil sich Bildungspolitike-rinnen und Bildungspolitiker – Herr Friedrich ist eingutes Beispiel dafür – in den vergangenen Jahren häufigeinig waren, daß mehr getan werden muß. Allerdingssind sie in der aktuellen Tagespolitik öfter vor die Wandgelaufen.Unser Ziel, das zu erreichen wir uns vorgenommenhaben, nämlich die Ausgaben für Bildung und For-schung zu erhöhen und in diesem Bereich FortschritteMatthias Berninger
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zu machen, erreichen wir nicht, wenn wir im Parlamentnach der alten Hackordnung „Opposition – Regierung“Politik machen.
Wir erreichen dieses Ziel nur, wenn wir eine Öffnungerreichen. Ich finde es gut, daß Herr Friedrich das An-gebot zum Dialog gemacht hat. Ich denke, daß auchHerr Möllemann dazu fähig ist, wenn er sich nicht mitZeitungszitaten, sondern mit seiner Rolle als Ausschuß-vorsitzender beschäftigt. Auf diese Weise können wir imParlament eine Lobby für Bildungspolitik und für eineBildungsreform bilden.
Aber das allein wird nicht ausreichen. Wir brauchenauch die Beteiligung der Studierenden an dieser Bil-dungsreform. Die erste wichtige Reform wird sein, denStudierenden das Angebot zu machen, tatsächlich mitzu-reden. Wir wollen gemeinsam mit der Hochschulrekto-renkonferenz erreichen, daß diese Reformen voran-kommen. Die HRK hat in sehr offener und, wie ich fin-de, sehr lobenswerter Deutlichkeit im Gegensatz zuHerrn Möllemann gesagt: Diese Koalitionsvereinbarungist ein gutes Angebot und ein guter Start für die bil-dungspolitische Debatte. Herr Landfried ist in diesemPunkt näher an den Realitäten als Herr Möllemann.
– Kollege Kampeter sagt jetzt, das stimme nicht. Wirkönnen uns nachher darüber unterhalten; ich habe hierdie Pressemitteilung der HRK vorliegen. Herr Mölle-mann wird seine Aussage zurücknehmen müssen.Der entscheidende Punkt ist: Wir werden viel Herz-blut in diese Bildungsreform investieren. Wir werdenversuchen, diese Bildungsreform gemeinsam mit derOpposition durchzuführen und einen Konsens zu errei-chen, um in diesem Bereich Fortschritte zu erzielen. Mitdem Stillstand, den es in den vergangenen vier Jahrengegeben hat, ist jetzt Schluß!Ich danke Ihnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Als nächste Rednerin
spricht die Abgeordnete Maritta Böttcher, PDS.
Frau Präsidentin! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Die bildungspoliti-sche Bilanz der alten Bundesregierung ist die Bilanzeiner Legislaturperiode, in der vieles versprochen undwenig erreicht wurde. Zukunft wurde hier eher verspieltals gewonnen. Das ist auch die Aussage meiner bisheri-gen Vorredner.Nachdem die mittlerweile abgewählte Koalition 1994verkündet hatte, Zukunftsinvestitionen in Bildung undForschung überproportional steigern zu wollen, blieb imWahlkampf für den Etat 1999 nicht einmal der Aus-gangsbetrag von 1994 erhalten. Vor diesem Hintergrundbegrüßen wir die Ankündigungen der neuen Regierung,daß sich eine Bildungsreform an der Leitidee des Rechtsauf Bildung, an den Zielen Chancengleichheit undGleichwertigkeit aller Bildungsgänge orientiert und daßInvestitionen in Bildung und Forschung in den nächstenfünf Jahren verdoppelt werden sollen.Daß bei der konkreten Umsetzung dieser Ziele keineZeit zu verlieren ist, machen nicht nur die 500 000 ar-beitslosen Jugendlichen und die zum Ende des Vermitt-lungsjahres übriggebliebenen 36 000 Lehrstellensuchen-den deutlich. Auch Studierende machen sich Sorgen umden Fortgang ihres Studiums, weil von der neuen Regie-rung – außer den Plänen zur Erhöhung der Energiesteuerund zur Besteuerung der neu definierten geringfügigenBeschäftigungsverhältnisse – nicht viel zu hören ist.70 Prozent der Studierenden an westdeutschen undüber 55 Prozent an ostdeutschen Hochschulen müssenfür ihren Lebensunterhalt neben dem Studium jobben.Das BAföG als Finanzierungsgrundlage für das Studiumhat deutlich an Bedeutung verloren. Wenn in diesem Be-reich nicht sehr schnell Abhilfe geschaffen wird, ver-schlechtern sich die Zugangschancen zum Hochschul-studium für Kinder aus Familien mit geringem Ein-kommen weiter. Immerhin ist der Anteil, den die Elternzum Unterhalt ihrer Kinder beisteuern, seit 1991 von23 Prozent auf 53 Prozent gestiegen. Umgekehrt pro-portional sank der Anteil studierender Kinder aus ein-kommensschwachen Familien auf 14 Prozent in den al-ten und 9 Prozent in den neuen Ländern.Aus all diesen Gründen muß möglichst noch in die-sem Jahr für die Rücknahme der Verschlechterungen aufGrund der letzten BAföG-Novellen gesorgt werden,müssen nicht nur Freibeträge, sondern auch die Bedarfs-sätze erhöht werden. Aber damit ist das Strukturproblemnicht gelöst. Wir haben das Versprechen der neuen Bun-desregierung, noch 1999 eine große BAföG-Reform inGang zu bringen. Über die verschiedenen Modelle wur-de ja schon sehr lange diskutiert. Nach dem Regie-rungswechsel gibt es also keinen Grund mehr, denWorten nicht endlich auch Taten folgen zu lassen. – Umso mehr freue ich mich über Ihre Mitteilung, Frau Bil-dungsministerin Bulmahn, daß Studierende eine Unter-stützung erhalten müssen, von der sie wirklich lebenkönnen. – Die Reform wird daran zu messen sein, wiedie soziale Selektion beim Zugang zu Bildungsressour-cen abgebaut wird, bzw. daran, ob der Trend einer ge-schlossenen Gesellschaft an den Hochschulen verstärktwird.Zur Negativbilanz der alten Bundesregierung gehörtauch das nach wie vor ungelöste Lehrstellenproblem.Die neue Bundesregierung bietet uns vor allem für denOsten zunächst das 100 000-Stellen-Programm an. Die-ses Sofortprogramm hat zwar andere Dimensionen alsdie Notprogramme der alten Regierung, wird aber eben-sowenig ausreichen und enthält bisher leider keine zeit-lichen Festlegungen. Allein in den neuen BundesländernMatthias Berninger
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wurden im Oktober dieses Jahres über 130 000 Arbeits-lose unter 25 Jahren gemeldet. In der Bundesrepublikinsgesamt waren 428 000 Menschen dieser Altersgruppeals beschäftigungslos registriert.Ein weiteres Versprechen der Koalitionsvereinbarunglautet: Alle Jugendlichen, die länger als sechs Monatearbeitslos sind, sollen einen Ausbildungsplatz, einen Ar-beitsplatz oder eine Fördermaßnahme erhalten. Wie alldiese schönen Programme konkret aussehen werden,darüber erfahren wir vorerst wenig. Es bleibt also abzu-warten, wie weit Finanzierungsvorbehalte reichen undob die Praxis der alten Bundesregierung fortgesetztwird, fragwürdige Bildungsmaßnahmen und ebensofragwürdige Praktika aus dem Staatshaushalt zu finan-zieren.Damit staatliche Programme zur Bekämpfung der Ju-gendarbeitslosigkeit eben nicht zwischen Beschäfti-gungstherapie und Wirtschaftssubventionen enden,braucht es ein anderes Instrumentarium. Auch deshalbwurde bereits im Bundestag der vergangenen Legisla-turperiode an Hand von Gesetzentwürfen der damaligenOppositionsfraktionen über die Umlagefinanzierungdiskutiert. Die rotgrüne Regierungskoalition setzt dem-gegenüber darauf, daß keine Zwangsmaßnahmen nötigsein werden, und will die Ergebnisse des neuen Bünd-nisses für Arbeit abwarten. Wie lange gewartet werdensoll, ist im Moment noch unklar.Da wir, die Fraktion der PDS, aber der Meinung sind,daß selbst ein Jahr Perspektivlosigkeit für Jugendlichezuviel ist, und im Wissen darum, daß die gesetzlicheRegelung der solidarischen Umlagefinanzierung nichtvon einem Tag auf den anderen umsetzbar ist, bringenwir schon jetzt unseren Gesetzentwurf aus der 13. Le-gislaturperiode neu ein. Ich bin auf eine umfassende De-batte in diesem Haus sehr gespannt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich erteile das Wort
dem Abgeordneten Thomas Rachel, CDU/CSU.
Sehr geehrte FrauPräsidentin! Meine Damen und Herren! Wortreich kün-digt die neue Regierung an, daß „Bildungs- und For-schungspolitik einen herausragenden Stellenwert be-kommen“ sollen. Wenn es Ihnen, Frau Bulmahn, ge-lingt, diese Leerformel der Koalitionsvereinbarung zukonkreter Politik zu machen, dann können Sie in vielenSachfragen mit der Unterstützung der Bildungs- undForschungspolitiker der CDU/CSU rechnen.
Schlecht ist allerdings, daß Sie vor Beginn erheblichFedern lassen mußten. Ihr Haus wurde geplündert. Es istkein Zukunftsministerium mehr:
Die Medienpolitik wurde an das Bundeskanzleramtübertragen. An das Wirtschaftsministerium haben Siedie wichtigen Zuständigkeiten für Multimedia, die Luft-fahrtforschung, die indirekte Forschungsförderung, dieangewandte Energieforschung und die Förderung tech-nologieorientierter Unternehmensgründungen verloren.Dies muß Ihnen bitter aufstoßen. Was haben Sie hinzu-gewonnen? Nichts!
Diese Ausgliederungen sind verhängnisvoll. Denn dieKette zwischen Grundlagenforschung und angewandterForschung ist zerstört. Damit schadet Rotgrün der For-schungslandschaft in Deutschland. Das kritisieren wir.
Es mag sich merkwürdig anhören, aber es ist fast be-ruhigend, daß in der Koalitionsvereinbarung zu denThemen Hochschulpolitik, berufliche Bildung und For-schung nicht viel Neues steht. Die Wochenzeitung „DieZeit“ bringt Ihren Amtsantritt mit der Überschrift„Wechsel ohne Veränderung“ auf den Punkt. Sie selbsthaben betont, daß Sie auf vielem aufbauen können. AlsBeispiel nannten Sie die „Leitprojekte“ und die stärkereWettbewerbsorientierung der Forschungs- und Hoch-schullandschaft.
Die Schlußbilanz der bisherigen Regierung kannsich sehen lassen:
Bei der Umwelttechnik und den Weltmarktpatenten sindwir Weltspitze; Biotech- und Multimediafirmen boo-men. Größere Autonomie und mehr Wettbewerb derHochschulen, Förderung unterschiedlicher Begabungen– das sind angeblich die Elemente Ihrer „neuen Bil-dungsreform“. Diese aber haben wir längst mit derHochschulnovelle durchgesetzt.
Sie fordern die Internationalisierung der Hoch-schulen. Mit der Änderung des Ausländerrechts und derEinführung von Bachelor und Master haben wir diewichtigsten Schritte längst verwirklicht.
Nun wollen Sie Erfolge bei der Frauenförderungzum Kriterium bei der Finanzzuweisung machen. Ist dasIhr Beweis für Kreativität? Nein, das ist ein alter Hut.Ein Blick in § 5 des von uns längst beschlossenen Hoch-schulrahmengesetzes hätte Sie belehrt, daß bei der Fi-nanzierung der Hochschulen längst – ich zitiere – „auchdie Fortschritte bei der Erfüllung des Gleichstellungs-auftrages zu berücksichtigen sind“. Peinlich, peinlich!Sie wollen das Dienstrecht und das BAföG reformie-ren. Namens der Unionsfraktion biete ich Ihnen dazuunsere Unterstützung an.Sie haben vieles angekündigt. Ihre Regierungserklä-rung wirft mehr Fragen auf, als sie Antworten gibt.Bundeskanzler Schröder kündigt eine Bildungs- undQualifizierungsoffensive an. Die Frage aber ist doch,Maritta Böttcher
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warum die SPD in den von ihr regierten Bundesländernnicht längst damit begonnen hat.
Wer hat denn in den vergangenen Jahren, wie alleSchulstudien belegen, das Niveau an unseren SchulenSchritt für Schritt gesenkt? Etwa Bayern oder Baden-Württemberg? Nein, jetzt wollen gerade die, die in denLändern für die Bildungsmisere verantwortlich sind, dieBildungspolitik auf Bundesebene übernehmen. Da wirdder Bock zum Gärtner gemacht.
Die neue Regierungskoalition verstrickt sich in Wi-dersprüche; das fängt früh an. Lauthals fordert die neueBundesregierung, das Verbot von Studiengebühren ge-setzlich zu verankern. Aber ausgerechnet das SPD-regierte Land Niedersachsen kündigt in diesen Tagen an,Gebühren in Höhe von 100 DM pro Student und Seme-ster einführen zu wollen. Kaum ist die Bundestagswahlgewonnen, werden die Studenten in Niedersachsen ab-gezockt.
Sie haben den Bundestagswahlkampf perfide geführt.Sie haben damals gesagt, die Union wolle im Hoch-schulgesetz Studiengebühren nicht ausschließen. Sie ha-ben den vereinbarten Konsens zum Hochschulrahmen-gesetz an dieser Formulierung scheitern lassen. FrauBulmahn, wer im Bund gegen Studiengebühren agiertund als SPD-Landesvorsitzende in Niedersachsen zu-schaut, wie dort Studiengebühren eingeführt werden,macht sich zutiefst unglaubwürdig.
Wahr ist, daß Sie bei Hochschulen und Studenten einenfalschen Schein hervorgerufen haben; das werfen wirIhnen vor. Das war und ist ein gigantischer Wahlbetrug.
Widersprüche auch im Forschungsbereich! In ihremWahlprogramm fordern die Grünen – ich sehe sie hiervor mir –, Kernfusion, bemannte Raumfahrt und Gen-technik zu beenden. Zur Gentechnik vermeidet die Ko-alitionsvereinbarung klare Festlegungen, kein Wort zurKernfusion und zu bemannter Raumfahrt in der Regie-rungserklärung oder im Beitrag von Frau Bulmahn. Wirwollen wissen: Wie steht die rotgrüne Regierung zurFortführung dieser Technologien?
Die deutsche Mitwirkung an der internationalen Raum-station wird durch multilaterale Verträge garantiert. HerrSchlauch, wird der grüne Außenminister Fischer dieseVerträge einhalten? Wo bleibt das klare Bekenntnis derForschungsministerin? Wir wollen Klarheit!Sehr geehrte Damen und Herren, die größte Schwä-che der Koalitionsvereinbarung und der Regierungser-klärung von Schröder liegt im Grundsätzlichen.
Man kann ihnen nicht die Spur einer Bildungsidee ent-nehmen. Am großen Wurf, an einer Vision für eine zu-kunftsgerichtete Bildungspolitik fehlt es völlig. Mit vielInnovationsrhetorik wird Bildung in der Regierungser-klärung auf einen rein ökonomischen Qualifizierungs-und Effizienzaspekt reduziert. Kein Wort über die Rollevon Bildung und Wissenschaft für das geistige Klima inunserer Gesellschaft. Kein Wort über die Rolle der Gei-stes- und Kulturwissenschaften.Nur zu gern wurde der Union von links vorgeworfen,sie liefere die Hochschulen der Wirtschaft aus. Und diejetzige Bundesregierung? – Wo versteht sie Bildungs-politik anders als unter ökonomischen und sozialpoliti-schen Aspekten? Sie haben in Ihrer Regierungserklärungdie Punkte, die längst behandelt und umgesetzt wurden,aneinandergereiht: Autonomie, Budgetierung, Wettbe-werb, Effizienzsteigerung, Transfer von Wissenschaft zuWirtschaft. Ich hätte von einem Bundeskanzler, der un-sere Gesellschaft zu neuen Ufern führen will, mehr er-wartet als ein rein technokratisch und ökonomisch ver-kürztes Bildungsverständnis.
Wir als Christdemokraten haben ein sehr viel breite-res und in die Zukunft weisendes Verständnis von Bil-dung.
Wenn wir über Bildung reden, dann hat dies auch etwasmit Persönlichkeitsbildung, mit Lebens- und Sinnfragen,mit Werten und Erziehung zu tun. Was hält eigentlichunsere Gesellschaft zusammen? Welchen Beitrag kannBildung dazu leisten? Welche Rolle können dabei Reli-gionsunterricht, Wertevermittlung und Geisteswissen-schaften spielen? „Was ist sozialdemokratische Bil-dungspolitik?“ fragt die Wochenzeitung „Die Zeit“ rat-los am Ende ihres Artikels. Dieser Satz bringt Ihr Di-lemma auf den Punkt.
Wir Christdemokraten schlagen eine breite Bildungs-debatte in Deutschland vor. Dazu laden wir Sie herzlichein.Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich das Wort der Abgeordneten Edelgard
Bulmahn.
Herr Rachel, ich finde,ein politischer Streit in der Sache ist dann richtig, wennThomas Rachel
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er nützt und wenn er uns voranbringt. Aber politischerStreit darf nicht so geführt werden, daß er mit Unter-stellungen arbeitet, die nicht der Wahrheit entsprechen.
Genau das haben Sie in Ihrer Rede getan. Es entsprichtnicht den Tatsachen, daß ich zu der Erhebung von Ver-waltungs- und Einschreibungsgebühren in Niedersach-sen nichts gesagt hätte. Ich habe hier im Parlament mei-ne Auffassung deutlich zum Ausdruck gebracht: Ichhalte die Erhebung von Studiengebühren für falsch. Ichhabe mich immer dafür eingesetzt – dazu stehe ich nachwie vor –, daß wir eine bundeseinheitliche Regelung be-kommen, die die Erhebung von Studiengebühren aus-schließt.
Dafür gibt es zwei Wege: entweder den über dasHRG oder den über einen Staatsvertrag. Beides sindgangbare Wege. Im Gegensatz zu dem, was Sie gesagthaben, habe ich mich nicht alleine auf das HRG bezo-gen, sondern habe beide Wege als Möglichkeit be-schrieben.Ich halte die Erhebung von Verwaltungs- und Ein-schreibungsgebühren in Niedersachsen nicht für denrichtigen Weg, für ein falsches Signal. Diese Positionvertrete ich als Landesvorsitzende. Aber als Bundesmi-nisterin – das wissen Sie – habe ich nicht das Recht, denLändern vorzuschreiben, welche Verwaltungsgebührensie erheben dürfen. Deswegen möchte ich – das habe ichimmer gesagt – eine bundesweite Regelung in Koopera-tion mit den Ländern erreichen, die die Erhebung vonStudiengebühren ausschließt. Das ist der Unterschiedzwischen uns.
Ein Staatsvertrag zwischen den Ländern ist ein Weg, dereine bundeseinheitliche Regelung zum Ergebnis hätte.Er könnte aus meiner Sicht auch vom Bundesland Bay-ern in keiner Weise abgelehnt werden, weil er überhauptnicht in dessen Rechte und Kompetenzen eingreift.Ich bitte Sie daher, Herr Rachel, in den nächsten De-batten und Diskussionen wirklich bei der Wahrheit zubleiben. Das dient einem guten Klima, und es dient derZusammenarbeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zur Antwort auf die
Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Thomas
Rachel, CDU/CSU, das Wort.
Frau Ministerin Bul-
mahn! Gerne antworte ich auf Ihre Anwürfe, wobei Sie
im Protokoll nachlesen können, daß diese haltlos sind.
Was Sie mit Ihrem Wortbeitrag dokumentiert haben,
ist Ihre politische Schwäche. An der versuchen Sie sich
vorbeizumogeln. Wenn Sie im Bund lauthals für Ihre
Position eintreten, sich aber in Ihrem Bundesland Nie-
dersachsen, in dem Sie SPD-Landesvorsitzende sind und
die SPD mit absoluter Mehrheit alleine entscheiden
kann, nicht durchsetzen können, sondern die niedersäch-
sische SPD Studiengebühren einführt, dann ist das eine
politische Schwäche von Ihnen. Auf jeden Fall aber ist
es eine Täuschung der Studenten und Studierenden, die
sich auf Ihr Wahlversprechen bei der Bundestagswahl
verlassen haben. Das wird hier dokumentiert.
Ihre Jungsozialisten in Niedersachsen haben aufge-
schrien, weil sie erkannt haben, daß die SPD hier mit
gespaltener Zunge spricht. Die „Neue Osnabrücker Zei-
tung“ hat geschrieben: Kaum ist die Bundestagswahl
gewonnen, schon werden die Studenten von der SPD
abgezockt. – Das ist die Realität. Wir trauen Ihren Wor-
ten nicht, auch wenn Sie sie laut und deutlich formulie-
ren. Wir sehen, die Realität im Lande Niedersachsen ist
eine andere, und das ist scheinheilig.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner in
der Debatte ist der Abgeordnete Stephan Hilsberg, SPD.
Sehr geehrte Frau Präsi-dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bürger,die uns am 27. September ihre Stimme gaben, verban-den damit die Hoffnung, daß endlich eine neue Regie-rung mit einer neuen Politik jene Aufgaben löst, an de-nen Ihre alte Politik gescheitert ist.
Gerade auf dem Feld der Bildungs- und der For-schungspolitik gibt es eine lange Liste von Versäumnis-sen, Fehlern und nicht gemeisterten Herausforderungen.Der größte und der schwerste Fehler war vermutlich diedrastische Reduzierung des Bildungs- und For-schungsetats. Herr Möllemann, Herr Rachel und wie Sievon der Opposition alle heißen, die Art und Weise desGebelles, mit dem Sie hier unsere Regierungserklärungund die Aussprache dazu verfolgen, zeigt doch nur, daßSie in der Opposition überhaupt noch nicht angekom-men sind.
Solange Sie Ihre Kritik nicht konstruktiv vortragen,kann sie uns überhaupt nicht gefährlich werden. Ichempfehle Ihnen: Gehen Sie einmal in Klausur, ziehenSie sich ein bißchen zurück, tragen Sie ein wenig zu Ih-rer eigenen Erneuerung bei. Dann kommen Sie wiederher, und dann reden wir erneut. Dann sind Sie ein streit-barer Partner für uns. So, wie Sie jetzt auftreten, sind Siees nicht.
Ganz besonders sauer – das muß ich ehrlicherweiseeinmal sagen – ist einem in den letzten Jahren das stän-Edelgard Bulmahn
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dig wachsende Lehrstellendefizit aufgestoßen. 10 bis15 Prozent eines Jugendlichenjahrgangs haben über-haupt keine Lehrstelle und in den neuen Ländern haben40 Prozent keine betriebliche Lehrstelle. Das ist eine derwichtigsten Ursachen dafür, daß wir jetzt diese skanda-lös hohe Jugendarbeitslosigkeit, die die Bundesrepu-blik Deutschland früher so nicht kannte, in Höhe voneiner halben Million Jugendlichen unter 25 Jahren ha-ben.Deshalb ist es richtig und notwendig, daß die neueRegierung mit ihrem Programm zur Bekämpfung derJugendarbeitslosigkeit, mit ihrem Programm zur soforti-gen Schaffung von 100 000 Arbeits- und Ausbildungs-plätzen hier einen Schwerpunkt setzt. Als Oppositionhaben wir das immer gefordert. Jetzt setzen wir es um.Das wird nicht einfach sein. Wir werden mit einem vonuns organisierten Bündnis für Arbeit und Ausbildunggemeinsam mit den Tarifpartnern und den Ländern dieWeichen dafür stellen, daß die Betriebe wieder mehrLehrstellen schaffen können.Ich glaube, man braucht nicht nur an Ostdeutschlandzu denken, um sich bewußt zu werden, daß dies ange-sichts der anhaltenden Strukturschwäche in weiten Re-gionen nicht reichen wird. Deshalb müssen und werdenwir grundsätzlich neue Wege gehen. Mit der Moderni-sierung und Flexibilisierung der dualen Berufsausbil-dung – Stichwort Basisqualifikation – kann die Ausbil-dung stärker an den Betrieb herangebracht werden undso in den Produktionsalltag eingebunden werden. Aberohne Fortführung der außerbetrieblichen und der Be-nachteiligtenausbildung wird es auch nicht gehen kön-nen. Sollte das alles aber nichts nützen, dann – aber auchnur dann – bleibt uns immer noch unsere gesetzlicheHandlungsmöglichkeit für einen fairen Leistungsaus-gleich, die wir dann auch nutzen werden.
– Herr Möllemann, wenn Sie nicht in der Lage sind,souverän Zwischenfragen zuzulassen, dann lassen Siemich hier in aller Ruhe ausreden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer Chancen-gleichheit will, der muß Bildungshürden niederreißen.Auch hier ist die Bilanz der alten Bundesregierung mehrals niederschmetternd. Generationen von Studenten wa-ren auf BAföG angewiesen, ohne das sie gar nicht hät-ten studieren können. Die alte Bundesregierung jedochhat das BAföG als Steinbruch zur Verringerung ihrerHaushaltsdefizite benutzt. Wir haben den Studenten un-ser Wort gegeben, daß wir diesen verfassungsmäßig ga-rantierten Grundsatz des Rechts auf Bildung wieder insein Recht einsetzen werden. In einem ersten Schrittwerden wir dabei Ihre Schweinereien der 18. Novellewieder ausbügeln
und auch Auslandsaufenthalte, Gremientätigkeit und be-gründeten Studienfachwechsel wieder in die Förderungeinbeziehen.
– Sie sind es doch gewesen; in den letzten Jahren IhrerRegierungstätigkeit haben Sie doch nie Skrupel gehabt.
In einem zweiten Schritt werden wir eine generelleReform der Ausbildungsfinanzierung vornehmen. Wirwerden uns selbstverständlich auch – dazu ist schon vielgesagt worden – an die steckengebliebene Hochschulre-form machen.
Studiengebühren sind dabei der falsche Weg, da sie kei-ne einzige der bereits bestehenden Verkrustungen an un-seren Hochschulen aufbrechen können. Wir wollen dasHochschulstudium wieder studierbar machen, um so dieEinhaltung von Regelstudienzeiten überhaupt zu ermög-lichen. Wir werden uns selbstverständlich auch an dielange brachliegende Dienstrechtsreform machen. Ichvermag zum Beispiel überhaupt nicht einzusehen, war-um es keine Professuren auf Zeit geben soll. EinigeLänder experimentieren ja bereits sehr erfolgreich damit.Ich kann mir auch gut vorstellen, in Zukunft ganz aufdie Habilitation zu verzichten.
Warum sollen wir nicht jungen Doktoranden mit einerauf fünf oder sechs Jahre befristeten „Assistant“-Professur eine Chance geben, sich unabhängig und selb-ständig für die Bewerbung um einen auf Dauer ange-legten Lehrstuhl zu qualifizieren.Meine Damen und Herren, in den zurückliegendenJahren hat trotz eines offensiven Neoliberalismus eineEntideologisierung in der Forschungs- und Bildungs-politik stattgefunden. Daran werden wir als Voraus-setzung weitreichender Reformen anknüpfen. Nur sokönnen wir zu einem Diskurs aller Beteiligten kommen,der notwendig ist, um über alle Probleme vorurteilsfreireden und sie konstruktiv lösen zu können.Zur Forschung ist heute, insbesondere von unsererneuen Ministerin, der ich an dieser Stelle alles Gute beiihrem schweren, aber auch schönen Amt wünschenmöchte,
schon sehr vieles gesagt worden. Einen ostdeutschenPunkt möchte ich hier anfügen. Die industrielle Schwä-che Ostdeutschlands hängt ja bekanntermaßen auch mitdem überhasteten und kopflosen Abbau seiner For-schungsinfrastruktur im Zuge der deutschen Einheit zu-sammen. Es wird noch lange dauern – möglicherweisewerden das quälende Jahre sein –, bis diese Schwächeüberwunden sein wird. Das kann überhaupt nur gelin-gen, wenn wir neben der anstehenden Konsolidierungder ostdeutschen Forschungslandschaft – ich nenne hierStephan Hilsberg
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bewußt das Stichwort Helmholtz-Institute – mit einemlangen Atem konsequent nach vorn schauen und vor al-lem auch die Zukunfts- und Forschungsausgaben des ge-samten Landes in den Blick nehmen.Ich finde es richtig, daß in letzter Zeit wieder von Eli-ten gesprochen wird. Man soll das aber nicht polemischmachen. Auch der Bundeskanzler sagte, daß der Geld-beutel der Eltern nicht über die Chancen der Kinder be-stimmen darf. Das ist richtig und bleibt wichtig. Wir ausden neuen Bundesländern bringen aber noch eine andereErfahrung mit. Das ist die Erfahrung kultureller Tradi-tionen, die in Familien und Institutionen lebendig ge-blieben sind. Sie haben dazu beigetragen, daß es auch inder DDR eine Gegenelite gegeben hat, ohne die dieheutigen Aufbauleistungen in Ostdeutschland gar nichtmöglich wären. Mir scheint, daß auch heute Elite, undzwar in ganz Deutschland, an diese Bewahrung undVermittlung kultureller Tradition geknüpft ist. Eskommt eben nicht nur darauf an, Chancen im materiel-len Sinne als Unabhängigkeit vom Geldbeutel der Elternzu geben. Es geht vielmehr auch um Chancen im kultu-rellen Sinne als Wissen um die eigene individuelle Wür-de und Freiheit.
Dies sind die entscheidenden Voraussetzungen für Mut,Selbstvertrauen und Selbstbewußtsein und damit für dieLeistungsfähigkeit nicht nur des einzelnen, sondern auchunserer gesamten demokratischen Gesellschaft.Mit den notwendigen Reformen in unserem Landmüssen wir schnell Ernst machen, damit die nachfol-gende Generation spürt, daß wir es ernst mit ihr meinen.Wir wollen, daß aus unserer Jugend etwas wird. Das istauch eine der Voraussetzungen dafür, daß wiederVertrauen in einer Generation entsteht, die sich – daszeigen die Studentenrevolten der letzten Jahre – bereitsals zum Teil beiseite geschoben empfunden hat. Geradeweil wir Deutschlands Kraft vertrauen wollen, müs-sen wir uns deshalb dieses Vertrauens als würdig erwei-sen.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Hils-
berg, ich möchte Sie nur darauf aufmerksam machen,
daß zwei Worte, die Sie in Ihrer Rede gebraucht haben,
nicht unbedingt dem Stil unseres Hauses entsprechen.
Ich denke, wir sollten auch in dieser Legislaturperiode
die Form wahren.
Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereich lie-
gen nicht vor.
Wir kommen deshalb jetzt zum Themenbereich Ver-
kehr, Bauen und Wohnungswesen.
Außerdem rufe ich Tagesordnungspunkt 9 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Chri-
stine Ostrowski, Dr. Gregor Gysi und der Frakti-
on der PDS eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Anpassung der wohngeldrechtlichen Re-
– Drucksache 14/19 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Rechtsausschuß
Ich eröffne die Aussprache. Als erster hat der Abge-
ordnete Dr. Dietmar Kansy, CDU/CSU, das Wort.
Frau Präsi-dentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Da-men und Herren! Die Entscheidung der neuen Koalition,das Ministerium für Raumordnung, Bauwesen undStädtebau und das Bundesministerium für Verkehr zu-sammenzulegen und auch im Deutschen Bundestag nurnoch einen gemeinsamen Ausschuß für Verkehr, Bau-und Wohnungswesen zu bilden, ist, Herr Minister,Chance und Gefahr zugleich.Es ist deswegen eine Chance, weil eine Reihe vonProblemen, mit denen sich zum Beispiel unsere Städteund Gemeinden herumschlagen müssen, Wurzeln so-wohl in der Baupolitik als auch in der Verkehrspolitikhaben. Dazu gehört beispielsweise das Thema Wieder-belebung der Innenstädte. Ohne angepaßte Mobilitäts-angebote im öffentlichen Nahverkehr und im Indivi-dualverkehr führen städtebauliche Maßnahmen nicht zueiner Verbesserung der Situation. Das gilt auch für dieFactory Outlet Center, die eingedämmt werden müssen,
weil sie unsere Städte gefährden und Verkehr in der Flä-che produzieren. Sie können künftig nur mit einer besse-ren Abstimmung von Bauplanungsrecht und Verkehrs-politik verhindert werden. Ähnliche Verzahnungen gibtes im nationalen, ja, sogar im internationalen Bereich.Eine moderne Raumordnungspolitik beispielsweise istohne enge Abstimmung mit nationalen und internatio-nalen Verkehrspolitiken nicht machbar. Insofern bietet,Herr Minister, die Zusammenlegung neue Chancen. Wirhoffen, daß Sie sie nutzen.Die Zusammenlegung birgt aber auch Gefahren. Wirmüssen aufpassen, daß unser neues, vergrößertes Ar-beitsgebiet nicht zu einem „Steinbruch“ wird, in demman scheinbar weniger wichtige Bereiche – vielleichtweil sie sich nicht in Milliardensummen in den Haus-haltsplänen niederschlagen – so langsam unter den Tischfallen läßt.Ökologisch ausgewogene Investitionen in Bahn,Straße, Wasserstraße sind die eine Sache, sozialer Woh-nungsbau, Eigenheimförderung, eine Steuerpolitik mitAugenmaß im frei finanzierten Wohnungsbau sind eineandere Sache. Gütertransit, Telematik, Luftverkehrs-sicherheit sind das eine, Baugesetzbuch, Mietrecht,Stephan Hilsberg
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Wohngeld, Obdachlosigkeit sind das andere. Umwelt-schutz beim Verkehr und Habitat sind relativ leicht zu-sammenzuführen – aber Seeschiffahrt und Städtebau,Tempolimit und Raumordnung, Berlinumzug und Ver-gabewesen?Unsere Palette ist in dieser Legislaturperiode gewal-tig. Wir sollten uns trotz dieser großen Palette gemein-sam alle Mühe geben, auch finanziell weniger gut do-tierte Bereiche – aus beiden ehemaligen Bereichen, FrauKollegin Mertens – in der neuen Legislaturperiode an-gemessen zu berücksichtigen.Was nun sagt die Bundesregierung darüber, wie siediese Arbeit angehen will? In der Regierungserklärungdes Bundeskanzlers war, trotz zweieinviertelstündigerDauer, kein einziges Wort über Verkehr und nur einSatz über Städtebaupolitik zu hören.
Noch nie war eine Regierungserklärung auf diesen Fel-dern so sprach- und konturenlos, trotz eines zusammen-gelegten Ministeriums.
Deswegen haben wir uns einfach Ihre Koalitionsver-einbarung angeschaut und sie mit einigen Aussagen vorder Wahl verglichen. Viel mehr können wir heute, amersten Tag, nicht machen. Fangen wir beim Wohngeldan: Noch im letzten Sommer haben wir unserem dama-ligen Finanzminister wenigstens 500 Millionen DM fürBund und Länder zusammen abgerungen. Herr KollegeGroßmann – mein alter Sprecherkollege, herzlichenGlückwunsch zum Staatssekretär! –,
Sie haben sich damals geweigert mit der Begründung:Unter 1,5 Milliarden DM pro Jahr machen wir es nicht.
Und nun, verehrte Frau Kollegin Mertens, Frau Kol-legin Eichstädt-Bohlig – ich bin ja jetzt von Frauen um-zingelt, wunderbar, meine stellvertretende Fraktionsvor-sitzende umzingelt mich mit –: In der Koalitionsverein-barung ist zum Wohngeld eine Luftblase.
In den internen Papieren, die das eine oder andere danndoch an die Oberfläche bringen, ist für das nächste Jahrfür Wohngeld weniger als 200 Millionen DM zusätzlichvorgesehen. Sie streben eine Anpassung offensichtlichrelativ spät an. Sie hätten längst mehr und das viel früherhaben können. Das sagt heute selbst unsere Kollegin undPräsidentin des Deutschen Mieterbundes, Anke Fuchs.Wenn wir damals im Sinne unseres Unionsvorschlagesverfahren wären, dann wäre das schon vor einem halbenJahr geschehen.
Das nächste Thema ist Ihr Programm, meine Kolle-ginnen und Kollegen von den Grünen. Es ist nicht meinJob, Krokodilstränen darüber zu vergießen, daß von Ih-ren verkehrspolitischen Vorstellungen in der Koalitions-vereinbarung relativ wenig steht. Man könnte sich alsOpposition freuen und sagen: Okay, drastische Wendevon Illusion zu Realität, was so eine Wahl alles bewirkt.– Ich fürchte aber, es wird anders kommen: Bei dieserUnverbindlichkeit werden Sie sich auf Kosten der Zu-kunft unseres Landes kräftig streiten. Das fängt beimTransrapid an und hört beim Benzinpreis nicht auf.„Die Eigenheimförderung behält ihren hohen Stel-lenwert“ – steht in der Koalitionsvereinbarung – „undwird weiterentwickelt“. Zunächst beabsichtigen Sieaber, dort abzukassieren. Da braucht man nur denGesetzentwurf zur Steuerreform zu lesen: bereits näcstesJahr 595 Millionen DM, übernächstes Jahr 1,16 Milliar-den DM weniger für die Eigenheimförderung durchStreichung des Vorkostenabzugs. Das hat den „erstaun-lichen“ Charme, daß gerade der Bestand darunter leidenwird, den die SPD laut ihrer Wahlaussagen fördern will.Also: Abkassieren ohne Gegenleistung bei der Eigen-heimförderung.Ich komme nun mit ein paar Gedanken zu unseremseit langem gemeinsamen Anliegen: der Städtebauför-derung. Sie wissen – das können Sie mir nachher vor-halten –, daß wir CDU/CSU-Städtebaupolitiker an derDeckelung von 600 Millionen DM schon seit mehrerenJahren schwer kauen. Im letzten Jahr hatten Sie eine Er-höhung um 304 Millionen DM in Form von Verpflich-tungsermächtigungen beantragt – Kollege Großmann,wenn Sie sich erinnern –, mit dem langfristigen Ziel von2 Milliarden DM. Dies ist nach wie vor ein gutes Ziel.Wir warten jetzt mit Interesse auf Ihren Haushaltsent-wurf und wünschen uns sehr, daß aus der roten Null anErhöhungsmitteln, die bis jetzt in internen Papierensteht, ein bißchen mehr wird.Schaut man – nicht so oft wie der Kollege Mölle-mann, aber ab und zu einmal – in eine Tageszeitung,dann kann man Erstaunliches lesen. Ich nehme zum Bei-spiel „Die Welt“ vom 10. November 1998. Da kommtman aus dem Staunen wirklich nicht heraus, Frau Kolle-gin Eichstädt-Bohlig. „Grüne greifen Steuerpläne an“steht da. Das haben wir früher schon öfter gelesen. Aber,wie gesagt, das ist die Zeitung von vorgestern; das warder Tag der Regierungserklärung von BundeskanzlerSchröder. Weiter steht da:Unmut regt sich bei den Wohnungsbauexperten derGrünen über die Beschlüsse der Koalitionsverein-barung zur Immobilienbesteuerung. Die woh-nungsbaupolitische Sprecherin der Grünen, Fran-ziska Eichstädt-Bohlig, kritisiert vor allem vierEckpunkte der Koalitionsvereinbarung. . . .Nicht einen, gleich vier – das ist ein bißchen viel. FrauKollegin Eichstädt-Bohlig, Sie gehören jetzt einer Re-gierungsfraktion an, selbst wenn Sie es noch nicht ge-merkt haben sollten. Es ist nicht wichtig, was in derZeitung steht, sondern was Sie in den nächsten Wochenund Monaten beschließen werden: bei Sanierungsgebie-ten, bei Baudenkmälern, bei vertikalem Verlustaus-Dr.-Ing. Dietmar Kansy
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gleich, bei der Eigenheimförderung. Alles das sind inden nächsten Wochen auch Ihre Beschlüsse, es sei denn,Sie besinnen sich noch eines Besseren.
Das bedeutet nicht mehr, sondern weniger Wohnungen,und nicht mehr Arbeit am Bau, sondern weniger.Wir bleiben bei unserer Forderung: Hände weg voneinem der besten Gesetze der letzten Jahre – das übri-gens mit Zustimmung der SPD hier im Deutschen Bun-destag verabschiedet wurde –: dem Eigenheimzulagen-gesetz.
Meine Damen und Herren, ich will mich heute nurzurückhaltend äußern; aber wenn jemand „Wählerbe-trug“ dazu sagen würde, daß Sie im Rahmen des Eigen-heimzulagengesetzes bei der Genossenschaftsförde-rung das völlige Gegenteil von dem machen, was Sienoch vor wenigen Wochen und Monaten gesagt haben,dann wäre das richtig. Bisher hatten Sie den Wegfall derSelbstnutzung als Voraussetzung für die Genossen-schaftsförderung – O-Ton Großmann – als eine wichtigeAufgabe für die kommende Legislaturperiode darge-stellt. Jetzt wollen Sie die Voraussetzungen sogar insGesetz schreiben, wie man Ihrem Entwurf eines Steuer-reformgesetzes entnehmen kann.Meine Damen und Herren, auch in unserem Fachbe-reich gilt das Wort unseres Vorsitzenden, WolfgangSchäuble, daß wir nicht Opposition um der Oppositionwillen machen werden. Was vernünftig ist, werden wiroffen diskutieren, gegebenenfalls versuchen zu verbes-sern. Was wir nicht mittragen werden, werden wirknallhart bekämpfen. Auch hier werden wir Sie an demmessen, was Sie vor der Wahl versprochen haben.Herr Minister Müntefering, zum Abschluß wünscheich Ihnen über die Fraktionsgrenzen hinweg im Interesseunseres Landes eine glückliche Hand und Gottes Segenfür Ihre Arbeit.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich das Wort der Abgeordneten Franziska
Eichstädt-Bohlig, Bündnis 90/Die Grünen.
wegen eines Zeitungsartikels in der „Welt“ angespro-
chen. Ich möchte nur klarstellen: Als alter Hase wissen
Sie, Herr Kansy, doch sehr genau, daß die Fachpolitiker
eigentlich couleurübergreifend um die nötigen Finanzen
für ihre Bereiche kämpfen müssen. Das kennen Sie vom
Wohngeld genauso wie von der Städtebauförderung und
Stadterneuerung. Sie wissen genau, daß wir es nötig ha-
ben, rechtzeitig vor den Haushaltsberatungen um diese
Mittel zu kämpfen. In diesem Sinne tragen wir die Din-
ge kollegial, solidarisch aus und ringen um unsere Etats.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich erteile jetzt dasWort dem Bundesminister für Verkehr, Bau- und Woh-nungswesen, Franz Müntefering.Franz Müntefering, Bundesminister für Verkehr,
Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Diese Legislaturperiode wird in erheblichem Maße vomUmzug des Deutschen Bundestages und von Teilen derBundesregierung nach Berlin bestimmt sein. Die Zusa-ge gilt: Die Bundesregierung will, wenn der DeutscheBundestag im September nächsten Jahres in Berlin dau-erhaft arbeitsfähig ist, in Berlin sein. Bis dahin wirdnoch viel zu tun sein. Es wird zwei bis drei Jahre ganzbesondere Arbeitsbedingungen für Sie und für uns ge-ben. Es wird uns allen eine ganze Menge an Flexibilitätund auch an Mut zur Improvisation abgefordert werden.Ich werde zum 18. November dem Kabinett einenBericht über den Stand der Dinge vorlegen und deutlichmachen, was aus meiner Sicht jetzt schnell zu passierenhat; denn nicht alles ist ausreichend gut vorbereitet.Aber ich gehe davon aus, es wird klappen, und zwarpünktlich. Berlin kann die Bundesregierung nächstesJahr im Sommer, im Herbst erwarten. Bonn darf sichdarauf verlassen, daß die Verträge und Vereinbarungen,die es gibt, gelten.BMBau und BMV sind zum Bundesministerium fürVerkehr, Bau- und Wohnungswesen zusammengelegt.Das hat seine Logik. Was uns das Grundgesetz vorgibt,nämlich gleichwertige Lebensbedingungen in allen Lan-desteilen anzustreben und auch durchzusetzen, hat etwasmit raumordnerischen Ansätzen und mit der Frage zutun, wie sich verschiedene Politikbereiche bündeln las-sen, um dieses Ziel zu erreichen. Deshalb werden nichtzwei Häuser nebeneinander arbeiten, das alte Bau- unddas alte Verkehrsministerium. Vielmehr wollen wir sieverschmelzen: die Themen, die diese Häuser haben, unddie Aufgaben, die sich daraus ergeben.In diesem Haus wird der größte Investitionsbereichdes Bundes sein: im Verkehrs-, im Wohnungsbereich.Auch an dieser Stelle wird deutlich, daß Chancen ge-sucht werden können und genutzt werden müssen, umdie Verteilung der Mittel zu optimieren und sie so einzu-setzen, daß sie eine nachhaltige Städtebau- und Ver-kehrspolitik ermöglichen, aber auch möglichst viele Ar-beitsplätze bringen und garantieren.
Bundesmittel, die für den Verkehr eingesetzt werden,lösen pro Mark drei Mark zusätzliche Investitionen ausanderen Kassen aus. Im Städtebau ist das Verhältnis et-wa 1 : 5. Es ist daher ganz wichtig, daß wir die Mittel,die wir zur Verfügung haben, so einsetzen, daß mög-lichst viele Arbeitsplätze entstehen und gesichert werdenund daß die kleinen und mittleren Unternehmen davonprofitieren.Der Wohnungs- und der Städtebau und der Verkehrs-bereich sind die Bereiche, in denen die standortabhän-Dr.-Ing. Dietmar Kansy
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gige deutsche Bauindustrie, das deutsche Baugewerbeseinen großen Rückhalt hat. Deshalb müssen wir wissen,welches Pfund wir hier in der Hand haben.
Deshalb ist es meine Sache, die illegale Beschäfti-gung und das Lohn- und Sozialdumping zu bekämp-fen. Es kann nicht so bleiben wie im letzten Jahr, daß esbei einer relativen Baukonjunktur 30 000 Pleiten imBaugewerbe gab und 200 000 Bauarbeiter arbeitslos wa-ren. Das darf nicht sein.
Beim Thema „Raumordnung und regionale Ent-wicklung“ sind vor allem die besonderen Aufgaben inOstdeutschland zu erwähnen. Die Verkehrsprojekte„Deutsche Einheit“ müssen zügig fortgeführt werden.Hier entscheidet sich das Zusammenwachsen im Alltagauf ganz praktische Weise. Es geht um die Fortführung,möglichst Verstärkung, der KfW-Programme, um in denneuen Ländern Aufgaben im Bereich des Wohnens zuerfüllen.Die Aufgaben, die wir in unserem Ministerium bün-deln können, werden uns zusammen mit dem Kanzler inden nächsten Monaten besonders oft in die neuen Län-der führen;
denn dort zeigt sich, ob es jetzt mit der Gleichwertigkeitder Lebensbedingungen ernst wird.Wohnen, meine Damen und Herren, ist mehr als einDach über dem Kopf zu haben. Von Zille stammt derSatz: „Man kann den Menschen mit der Wohnung er-schlagen wie mit einer Axt“, nämlich dann, wenn sienicht bezahlbar oder nicht menschenwürdig ist. Deshalbbleibt das menschenwürdige Wohnen eine große Auf-gabe für die Politik. Dabei steht die Eigenverantwortungganz vorn. Auch beim Wohnen gilt: Die Menschen, diekönnen, müssen selbst dafür sorgen, daß sie menschen-würdig und bedarfsgerecht wohnen.Aber nicht alle Einzelpersonen und alle Familienkönnen das. Deshalb gilt: Wir müssen im Eigenheimbe-reich und im Mietwohnungsbereich dafür sorgen, daßdie Menschen das haben, was zur Menschenwürde ge-hört. Das Wichtigste neben der Arbeit, dem Essen undder Gesundheit ist für die Menschen das Wohnen.
Es bleibt die große und zentrale Aufgabe, dafür zu sor-gen, daß es hinreichend viele menschenwürdige Woh-nungen gibt, die bezahlbar sind. Das Thema Wohngeldwird uns sehr schnell erreichen, und wir werden im Jah-re 1999 erste Schritte gehen.
Natürlich gilt, daß sich die Mieterinnen und Mieter inganz besonderer Weise auf die Sozialdemokraten verlas-sen können.
Es gehört zum Mietrecht, daß die Mieter wissen, sie sindsicher und haben einklagbare Rechte. Hier werden dieSozialdemokraten so sensibel bleiben, wie sie es immergewesen sind.Die Bestandspolitik ist ein ganz besonders wichtigesThema. Wir müssen neu bauen, wir brauchen zusätzli-che Wohnungen, aber wir brauchen auch dringend neueAktivitäten im Bestand.
Es kann nicht sein, daß der Bestand absackt; denn wirwissen alle: Die Qualität der Stadt und die Wohnungs-qualität sind Lebensqualität. Die Menschen machen ihreErfahrungen mit der Demokratie vor Ort, in ihrer Woh-nung und in ihrem Stadtteil.Auch im 21. Jahrhundert, im nächsten Jahrtausend,wird es so sein, daß die Menschen ein Zuhause, im gu-ten Sinne des Wortes eine Heimat in ihren Städten undDörfern haben wollen. Deshalb bleiben die Stadtent-wicklung, der Städtebau, die Stadtförderung und diegemeindliche Entwicklung ein ganz zentrales Anliegen.Wir wollen auch in Zukunft keine Gettos in deutschenStädten haben.
Die Mobilität ist eine der entscheidenden Grundla-gen des Wohlstands in unserem Land. Nur wenn einLand wie unseres in der Lage ist, Menschen, Güter undInformationen pünktlich, zielgerichtet, preiswert undumweltgerecht an die Orte zu bringen, an die sie müs-sen, kann der Wohlstand gesichert sein. Deshalb wirddie Sicherung der Mobilität eine große Aufgabe in die-ser Legislaturperiode sein.90 Prozent des Individualverkehrs werden mit demAuto abgewickelt. Das bleibt das wichtigste Instrumentder Mobilität in diesem Land.
Wir werden daran arbeiten, daß es sicher ist, noch siche-rer wird, daß es umweltfreundlich ist und noch umwelt-freundlicher wird. Aber die entscheidende Frage, die wirzu beantworten haben, ist die der Fortentwicklung desBundesverkehrswegeplans. Dabei geht es nämlich umdie Optimierung von Straße, Schiene, Luft und Wasser.Es geht um die Frage, ob es uns gelingen wird, davonwegzukommen, daß die einzelnen Verkehrsarten neben-einander betrachtet werden, ob es uns gelingen wird, siezu bündeln und daraus eine sinnvolle integrierte Ver-kehrspolitik zu entwickeln. Das ist die zentrale Aufgabe,die wir in dieser Legislaturperiode zu erfüllen haben.
Dabei geht es nicht nur um Hardware, sondern auch umVerkehrstechnik und Telematik. Da geht es um dieFrage, ob wir es schaffen, nicht nur Autos zu exportie-ren; vielmehr geht es auch um die Frage, ob wir Ver-Bundesminister Franz Müntefering
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kehrstechnik exportieren können. Das wird eine ganzwichtige Industrie sein.
Es ist eine ganz wichtige Frage, die nicht nur die LänderEuropas berührt, sondern weit darüber hinausgeht; dennnatürlich werden die Verkehrsprobleme im wesentlichennur zu lösen sein, wenn wir in Europa einheitliche Vor-kehrungen im Bereich der Verkehrstechnik und der Mo-dernisierung schaffen. Solange es in Europa noch dreiunterschiedliche Schienenbreiten, rund zehn verschiede-ne Signalsysteme und 16 verschiedene Stromarten gibt,so lange kommen wir nicht voran. Deshalb müssen hierentscheidende Veränderungen zustande kommen.
Die Wasserstraßen in Deutschland sind als Verkehrs-träger nicht ausgelastet. Sie werden in Zukunft eine ganzwichtige Funktion haben. Sie sind natürliche Verkehrs-träger. Deshalb müssen wir sie in besonderer Weise nut-zen. Bisher werden hier nur 6 bis 7 Prozent der Gütertransportiert. Das ist zu wenig.Das gleiche gilt – vielleicht in noch größerem Maße –für die Schiene. Die Bahnreform wird weitergehen. Wirwerden der Bahn helfen, aber die Verantwortlichen beider DB müssen wissen, daß es sich um ein selbständigesUnternehmen handelt. Sie haben die Verantwortung da-für zu tragen, daß sie eine gute Verkehrspolitik machen,mit und für die Schiene. Dabei werden wir sie unterstüt-zen. Aber wir werden sie auch herausfordern, damitVeränderungen in den nächsten Jahren möglich seinwerden.
Wir haben uns vorgenommen, in dieser Legislaturpe-riode die streckenabhängige Gebühr für Lkws einzu-führen. Dazu brauchen wir elektronische Erfassungsge-räte. Dazu brauchen wir auch Vorbereitung. Aber es sollin dieser Legislaturperiode dazu kommen, daß für Lkws,die in Deutschland fahren, streckenabhängige Gebührengezahlt werden müssen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Minister,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Ilja
Seifert?
Franz Müntefering, Bundesminister für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen: Bitte schön.
Herr Minister, Sie sprachengerade davon, daß Sie innovative Verkehrstechnikenfördern wollen und sie nicht nur in Deutschland ver-wendet werden sollen. Sie sprachen auch davon, daßzum Beispiel die privatwirtschaftliche Bahn ihre Aufga-be erfüllen soll. Aber wie sieht es aus? Sind Sie bereit,den Vorschlag zu unterstützen, daß Betriebserlaubnissein Zukunft nur noch dann erteilt werden, wenn zum Bei-spiel Menschen mit Behinderungen jederzeit mitfahrenkönnen, so daß wir in absehbarer Zeit einen öffentlichenNah- und Fernverkehr haben werden, der von allenMenschen – mit oder ohne Behinderung – genutzt wer-den kann? Das gleiche gilt natürlich für die Städte-bauförderung. Schaffen wir es, daß Sie entsprechendeVerordnungen herausgeben, die es verbieten, behinder-tenfeindliche Transportmittel anzuschaffen?Franz Müntefering, Bundesminister für Verkehr,Bau- und Wohnungswesen: Ich möchte dazu zwei Dingesagen, Herr Kollege. Ich weiß erstens nicht, ob ich aku-stisch alles verstanden habe. Zweitens bin ich Westfale.Das sind vorsichtige Menschen, wie Sie wissen. Ehesich solche Menschen auf Details festlegen, die sie nichtbis in die Feinheiten kennen, warten sie lieber ab undschauen sich das Ganze noch einmal genau an. Ich wer-de schon bald dem zuständigen Ausschuß des DeutschenBundestages darüber Bericht erstatten, was wir uns indieser Legislaturperiode vorgenommen haben. Dannwerde ich Ihnen auch auf Ihre Frage eine gute und plau-sible Antwort geben können. Das möchte ich jetzt nichtversuchen.
Die streckenabhängige Gebühr für Lkws mußmöglichst über Deutschland hinaus in ganz Europa gel-ten. Sie wird deutlich machen, daß die Schiene für denweiten Transport von Gütern ein ganz besonderes Ge-wicht haben wird; denn die, die mit ihren Lkws langeunterwegs sind und kreuz und quer durch Deutschlandfahren, werden deutlich mehr als bisher zahlen. Wennwir diese beiden Aspekte vernünftig miteinander ver-binden, nämlich daß die Schiene mehr für den Transportvon Gütern auf langen Strecken genutzt wird und daßdie Straße mehr für kurze Strecken genutzt wird, dannhaben wir an dieser Stelle, so glaube ich, etwas Wichti-ges erreicht. Wir haben dann erreicht, daß der Transportvon Gütern von der Sraße auf die Schiene und auf dasWasser verlegt wird. Das sind die beiden entscheiden-den Wege, die wir gehen müssen.Das Ganze wird nur zu erreichen sein, wenn wir unsdarüber in Europa verständigen. Wie wichtig Europa ist,zeigt sich gerade in diesen Tagen bei der Havarie der„Pallas“. Ich will jetzt dazu nicht viel sagen; denn imMoment kommt es darauf an, daß das, was zu retten ist,gerettet wird. Aber wir werden nicht vergessen, darüberdem Bundestag und dem entsprechenden Ausschuß de-tailliert, schnell und ausführlich zu berichten: Was dortstattgefunden hat und noch in diesen Stunden stattfindet,muß Konsequenzen haben. Das darf so nicht sein.
Es hat eine Reihe unglücklicher Umstände gegeben.Ich bin gegen alle die angetreten, die vorschnell Vor-würfe gegen Beteiligte erhoben haben. Ich bin gegenSpekulationen. Wir müssen das auf den Kern bringen.Wir müssen wissen, ob wir in Europa auch in Zukunftwollen, daß Schiffe, die sich der Schrottreife nähern undBundesminister Franz Müntefering
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die mit Lohn- und Sozialdumping unter fremder Flaggelaufen, freie Fahrt auf unseren Meeren haben. Das ist derentscheidende Punkt.
All denen, die jetzt ganz schnell auf die einschlagen, diezu helfen versuchen, sage ich: Es macht wenig Sinn, dieFeuerwehr zu beschimpfen. Man muß da anfangen, wodas ganze Dilemma liegt.
Wohnungs- und Städtebau, Stadtentwicklung, Raum-ordnung und Verkehrspolitik – das ist alles etwas, wasganz eng mit Umweltentwicklung zu tun hat. Das allesmuß ökologisch buchstabiert sein. Wir sind sicher, daßdas geht. Bei allem, was wir dafür zu tun haben – in derBau- und in der Verkehrspolitik –, werden wir uns im-mer wieder fragen: Was kann in bezug auf Umwelt-freundlichkeit verbessert werden? Denn die Qualitätder Städte und auch die Qualität der Umwelt hängenentscheidend davon ab, was wir in diesen Arbeits- undPolitikbereichen in den nächsten Jahren erreichen. Des-halb wird darauf einer unserer Hauptaugenmerke liegen.
Frau Präsidentin, ich sehe, daß ich seit sieben Minu-ten eine Sieben auf meinem Redezeitdisplay stehen ha-be. Ich bedanke mich dafür.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Minister, das
liegt nicht an meiner Großzügigkeit, sondern daran, daß
die EDV versagt hat.
Franz Müntefering, Bundesminister für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen: Das muß passiert sein, als
ich etwas zur Telematik gesagt habe.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sie haben jetzt noch
23 Sekunden.
Franz Müntefering, Bundesminister für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen: Gut, 23 Sekunden.
Ich bitte den Bundestag und seine Gremien um gute Zu-
sammenarbeit – konstruktiv und, da wo es nötig ist, kri-
tisch. Reibung erzeugt Hitze, aber auch Fortschritt. Inso-
fern habe ich keine Sorge.
Ich bin sicher, daß die Wählerinnen und Wähler sehr
bald merken werden, daß es sich gelohnt hat, dieser Ko-
alition eine Chance zu geben.
Wir haben spannende Jahre vor uns. Ich bin mir dessen
bewußt; ich bin mir aber auch bewußt, daß wir in dieser
Koalition die Chance haben, etwas zu erreichen, was die
alte Koalition nicht geschafft hat, nämlich in diesem
Land noch einmal das Bewußtsein dafür zu wecken, daß
es darum geht, die Lebensqualität zu suchen und zu fin-
den – in den Städten, beim Wohnen und in allen Fragen
der Verkehrspolitik.
In diesem Sinne: Glück auf!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich erteile jetzt dem
Abgeordneten Horst Friedrich, F.D.P., das Wort.
Frau Präsiden-tin! Meine Damen und Herren! „Aufbruch und Erneue-rung“ steht über der Koalitionsvereinbarung von Rot-grün. Der „Stern“ – normalerweise Rotgrün gegenübersehr aufgeschlossen –
titelt: „Aufbruch mit angezogener Bremse“. Recht hater, der „Stern“. Denn ich muß zugeben, ich habe seltenzwei Stunden lang nichts in einer Regierungserklärunggehört, schon gar nichts zur Verkehrspolitik.
Dabei ist das der größte Investitionshaushalt und damit –daran wollen Sie sich ja messen lassen – mitentschei-dend für die Arbeitsplatzsituation in Deutschland.
Es wundert mich allerdings nicht, daß in der Regie-rungserklärung nichts zur Verkehrspolitik gesagt wordenist. Denn die Aussagen dazu in der Koalitionsvereinba-rung sind eher dürftig. Um Ihnen die gehaltvolle Quali-tät einmal vor Augen zu führen, gestatten Sie mir einZitat:Die besonderen Anforderungen an Mobilität geradeim ländlichen Raum werden berücksichtigt.Donnerwetter! Das haut einen tatsächlich vom Sockel.Der Satz ist so gehaltvoll und qualitäthaft, daß einemdazu nichts mehr einfällt. Das Schlimme ist: Dieser roteFaden an tollen Aussagen zieht sich durch die ganzePassage der Koalitionsvereinbarung zum Thema Ver-kehr. Da, wo Sie konkret werden, geht es ausschließlichum die Verteuerung des Straßenverkehrs.
Bundesminister Franz Müntefering
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280 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998
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Ich will nur einmal darauf hinweisen, daß wir zum1. Juli 1998 die Aufhebung der letzten Beschränkunginnerhalb Europas hatten, nämlich des Kabotagevorbe-halts. Alles, was Sie national machen, das einseitig zurVerteuerung des Straßenverkehrs in Deutschland führt,führt wahrscheinlich – über einige Umwege – zwar nichtzu weniger Straßenverkehr, aber dazu, daß der Straßen-verkehr mit anderen Verkehrszeichen stattfindet und –ich gehe einmal davon aus – auch mit anderen Nationa-litäten hinter dem Lenkrad. Das sollte man wissen, ins-besondere der Finanzminister; denn jeder nicht mehrunter deutscher Flagge fahrende Lkw kostet ihn, rundgerechnet, 100 000 DM pro Jahr.Eine weitere wichtige Frage für die Bauwirtschaftund für die Arbeitsplätze ist, wie Sie es weiterhin mitder Finanzierung der Infrastruktur halten wollen. Diestaunende Öffentlichkeit kann im Vorfeld mitbekommenhaben, daß es darum ging, Investitionsmittel von derStraße auf die Schiene umzuschichten. Die Frage war:Sind es 2 Milliarden DM, so wie von der SPD verlangt,oder sind es 3 Milliarden DM, so wie die Grünen vorge-schlagen haben? Ich gehe einmal davon aus, daß es – aufGrund der Qualität der Verhandlungsführung der Grü-nen in den Koalitionsgesprächen – wohl eher2 Milliarden DM sein werden.
– Verstehen Sie das lieber als Ironie. Ich habe schoneinmal gesagt: Wer wie Sie, bereits auf dem Bauche lie-gend, in den Koalitionsverhandlungen kriecht, der kannzumindest physisch nicht mehr umfallen.
– Dann ziehe ich mich halt wieder auf das Zitat zurück,lieber Herr Kollege Schmidt, daß Sie bestenfalls aufHühneraugenhöhe verhandelt haben; auch das ist einebestimmte körperliche Haltung.
Ich wundere mich allerdings, wie der jetzige Ver-kehrsminister das seinen Verkehrsministerkollegen ausden Ländern erklären will, die in einer Verkehrsmini-sterkonferenz im November 1997 in Hannover festge-stellt haben, daß für die Finanzierung des Straßenbau-titels 4 Milliarden DM fehlen. Diese Verkehrsminister-kollegen haben den Bund aufgefordert, dafür Sorge zutragen, daß diese 4 Milliarden DM im Straßenbautitelkurzfristig eingestellt werden sollen. Ich nehme an, daßdiese Forderung der überwiegend von der SPD gestell-ten Verkehrsminister nicht nur so lange Gültigkeit hatte,wie CDU/CSU und F.D.P. den Bundesminister für Ver-kehr gestellt haben. Ich werde Sie an dieser Forderungmessen.
Lassen Sie mich auch noch einige Gedanken zumWohnungsbau anbringen. Herr Müntefering hat in die-sem Bereich eigentlich eine glänzende Ausgangspositionvorgefunden. Durch die qualifizierte Politik von IrmgardSchwaetzer bereits in der Zeit von 1990 bis 1994 ist er-reicht worden, daß man zum damaligen Zeitpunkt sagenkonnte: Statistisch gesehen wird jede Minute inDeutschland eine Wohnung fertiggestellt. Die Woh-nungspolitik der von uns getragenen Regierungen warund ist durch einen ausgeglichenen Wohnungsmarkt unddurch sinkende Mieten gekennzeichnet. Wir haben be-reits teilweise Leerstände. Die Eigentumsquote in Ostund West ist gestiegen; allerdings reduziert sich die Zu-nahme im Baubereich ausschließlich auf den Einfamili-enhausbereich. Wenn jetzt in der Koalitionsvereinba-rung und dem daraus abgeleiteten Steuerentlastungsge-setz die Immobilienwirtschaft einer der HauptfinanziererIhrer Steuerreform werden soll, weil zum Beispiel diegeplante vollständige Streichung des Vorkostenabzugs,die Einschränkung der Verrechenbarkeit von Einkünftenaus Vermietung und Verpachtung, die Verfünffachungder Spekulationsfrist für Immobilienverkäufe, die Strei-chung der Werbungskostenpauschale für Einkünfte ausVermietung und Verpachtung sowie die Abschaffungund Kürzung verschiedener Möglichkeiten, in besonde-ren Fällen anfallenden erhöhten Herstellungs- und Er-haltungsaufwand abzusetzen, sich zu einer Belastungs-summe von rund 3,5 Milliarden DM ausweiten, dannbelasten Sie in der Gegenfinanzierung mit dieser Summedie Immobilienwirtschaft. Das, zusammen mit der ge-planten Verschärfung der Grunderwerbsteuer und derBelastung der Rücklagen der Bausparkassen, summiertsich dann auf 4 Milliarden DM pro Jahr.Es ist zu befürchten, daß sich diese „Liste der Grau-samkeiten“ genau zum falschen Zeitpunkt in einer Artund Weise auf den Wohnungsmarkt auswirkt, daß hierin den nächsten Jahren hausgemachte Probleme auf unszukommen werden. Die neue Bundesregierung schafftmit diesem Gesetzentwurf die Voraussetzungen für diezukünftige Wohnungsknappheit, vor allem dann, wennmit der privaten Vermögensteuer bzw. einer Erhöhungder Erbschaftsteuer und mit der Reform des Wohn-raummietrechts noch weitere wohnungspolitische Grau-samkeiten folgen.Ich fürchte, Herr Minister Müntefering, Ihre Schluß-bilanz wird erheblich schlechter aussehen als die Eröff-nungsbilanz, die Sie übernehmen durften.
Die F.D.P. wird Ihre Arbeit außerordentlich kritisch be-gleiten. Sie können sicher sein, daß wir keinen IhrerFehler unbemerkt verstreichen lassen. Ich wünsche Ih-nen allerdings Erfolg zum Wohle von Deutschland undauch Gesundheit; denn ich habe im Geschäftsvertei-lungsplan der Bundesregierung gelesen, daß Sie vonHerrn Trittin vertreten werden. Da – das muß ich sa-gen – sind Sie mir immer noch lieber.Danke sehr.
Horst Friedrich
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 281
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Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner istder Abgeordnete Albert Schmidt, Bündnis 90/Die Grü-nen.Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Nach so vielen Liebeserklärungen bin ichfast versucht, zu fragen, wo ich bei diesem Ranking ran-giere, Kollege Friedrich.Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Mobilität ist Produkt und Voraussetzungdes Zusammenlebens in einer freien, vernetzten undtechnisierten Welt. Der Koalitionsvertrag zwischen SPDund Bündnis 90/Die Grünen bringt dies unmißverständ-lich zum Ausdruck. Wir werden die Mobilität der Men-schen und den Transport der Waren gewährleisten, undzwar auch der Menschen, die nicht über ein eigenesAutomobil verfügen – das sind oft alte Menschen, Kin-der und Jugendliche und Menschen, die sich ein Autonicht leisten können oder wollen –, denn Mobilität istnicht nur „Automobilität“, sondern auch Mobilität mitöffentlichen Verkehrsmitteln, die wir ausbauen wol-len.
Ziel eines zukunftsfähigen Mobilitätssystems muß esallerdings sein, nicht nur Beweglichkeit zu garantieren,sondern zugleich die mit den notwendigen Transportenverbundenen Aufwendungen – den Verbrauch an Ener-gie, Rohstoffen und Flächen sowie die damit verbunde-nen Emissionen – schrittweise zu reduzieren. Dies ver-langt angesichts der hohen verkehrsbedingten Umwelt-und Gesundheitsbelastungen entscheidende neue Maß-nahmen. Es verlangt erstens moderne Logistik zur Ver-meidung unnötiger Transportvorgänge. Herr MinisterMüntefering hat dies bereits angedeutet. Es verlangtzweitens die intelligente Verknüpfung von Verkehrsträ-gern mit dem Ziel der Verlagerung möglichst großerAnteile auf die umweltfreundlichen Systeme Bahn undSchiff. Es verlangt drittens eine Effizienzrevolution dereingesetzten Technologien vom Dreiliterauto über diekombinierten Ladungsterminals bis hin zum verbrauchs-armen Leichtbauzug auf der Schiene. Umweltschutz undmoderne Technik gehören zusammen, ganz besondersim Verkehr.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, vieles von dem,was gestern und heute in diesem Haus schon diskutiertwurde, wird zu einem schrittweisen Umbau unseresVerkehrssystems in diesem Sinne beitragen, zum Bei-spiel die ökologisch-soziale Steuerreform, die Erfor-schung und Förderung moderner Energietechnik und dieEntwicklung einer nationalen Nachhaltigkeitsstrategie.Grundvoraussetzung aber für die Schaffung eines zu-kunftsfähigen Mobilitätsentwurfs ist die Herstellung vonChancengleichheit im Wettbewerb der Verkehrsträ-ger. Das wird die Kernaufgabe der neuen Verkehrspoli-tik sein; denn alles Reden vom Verkehrsmarkt bleibtgraue Theorie, solange die Konkurrenten auf diesemMarkt, nämlich Straßenverkehr, Schienenverkehr, Luft-verkehr und Schiffsverkehr, unter höchst ungerechtenBedingungen antreten müssen.
Dabei ist es vor allem die Schiene, die bis heute mas-siv benachteiligt wurde. Seit Jahren wurde ein zentralerGrundsatz des 1993 im Rahmen der Bahnreform be-schlossenen Allgemeinen Eisenbahngesetzes verletzt,der da heißt:Bundesregierung und Landesregierungen habendarauf hinzuwirken, daß die Wettbewerbsbedin-gungen der Verkehrsträger angeglichen werden unddaß durch einen lauteren Wettbewerb der Verkehrs-träger eine volkswirtschaftlich sinnvolle Aufga-benteilung ermöglicht wird.Das heißt, ohne den Abbau bestehender Wettbewerbs-verzerrungen zu Lasten der Bahn läuft auch die Bahnre-form ins Leere. Deshalb haben wir im Koalitionsvertrag
– ich komme darauf noch sehr konkret zu sprechen, HerrKollege Friedrich – sehr genau festgelegt, was nach demjahrelangen Versäumnis der Ära Wissmann nun zu ge-schehen hat.Der bisherige Verkehrswegeplan – das weiß jedesKind – beruht auf veralteten Prognosen und Kostenab-schätzungen. Er wird dem aktuellen Umweltrecht nichtmehr gerecht. Er ist vor allem hoffnungslos unterfinan-ziert. Deshalb werden wir im Rahmen eines Gesamtkon-zeptes für einen umweltverträglichen und effizientenVerkehr diese Verkehrswegeplanung zügig überarbeiten,das heißt, rechtlich und finanziell auf eine solideGrundlage stellen. Dazu gehört insbesondere die Aktua-lisierung der Daten, die Neufassung der Bewertungs-maßstäbe und die Sicherstellung der Finanzierbarkeitinklusive der Folgekosten. Eine solche Neuerstellung ei-nes realistischen Verkehrswegeplanes – nicht einesWunschzettels an das Christkind – wird nicht nach demMarktschreierprinzip, also nach dem Motto, wer amlautesten schreit, bekommt am meisten, erfolgen, son-dern nach nachvollziehbaren Kriterien. Das ist keinerotgrüne Marotte, sondern der gesetzliche Auftrag. Auchnach Auffassung des Bundesrechnungshofes ist dieslängst überfällig.
Zum Transrapid. Ich will diesem besonders um-strittenen Thema gar nicht ausweichen. Sie von der frü-heren Koalition sind jetzt vielleicht von uns enttäuschtworden, weil sich Ihre Unterstellung, die Grünen seienaus dem Prinzip einer verbohrten Technikfeindlichkeitgenerell gegen die Magnettechnik, als haltlos und abwe-gig erwiesen hat. Ich möchte Ihnen sagen, worum esganz nüchtern geht. Es geht in dieser Frage –
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– Herr Friedrich, hören Sie einmal zu; cool down, baby– weder um ein Glaubensbekenntnis zu der StreckeHamburg – Berlin um jeden Preis – dazu war nicht einmalHerr Wissmann bereit –, noch geht es um eine quasi reli-giöse Ablehnung einer Technologie per se. Die Magnet-bahn ist kein Atomkraftwerk, sondern eine Verkehrs-technik. Es geht vielmehr wie bei jeder anderen Ver-kehrsplanung auch um eine nüchterne Wirtschaftlich-keitsberechnung und um eine faire Lastenverteilungzwischen der öffentlichen Hand, dem Bund und der In-dustrie. Sonst macht ja das Wort von der öffentlich-privaten Partnerschaft keinen Sinn. Konkret heißt dasfür die Strecke Hamburg – Berlin: Gemäß Ziffer 10 desEckpunktepapiers vom April 1997, das die damaligeBundesregierung, die Deutsche Bahn AG und das Indu-striekonsortium gemeinsam unterschrieben haben, mußdann über dieses Projekt neu entschieden werden, wenndie Kosten deutlich steigen. Genau das ist ja offenkun-dig der Fall, denn für den Fahrweg werden anstatt derdamals festgeschriebenen 6,1 Milliarden DM nunmehrvom Eisenbahn-Bundesamt Kosten in Höhe von bis zuknapp 8 Milliarden DM angenommen, und zwar nichtals Schätzwerte, sondern größtenteils auf der Basis vonAusschreibungsergebnissen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Schmidt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Dr. Wolf?
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Herrn Dr. Wolf immer gerne.
Herr Kollege Schmidt, Siehaben gerade den Transrapid angesprochen und sindnoch dabei, über die – salopp gesagt – wackelpud-dingartige Stellungnahme zum Transrapid-Projekt imKoalitionsvertrag zu reden. Ich möchte Sie fragen, obSie Kenntnis davon haben, daß im Bundesausschrei-bungsblatt Nr. 27 vom 2. November 1998 der gesamteTransport der Überbauten für die MagnetbahnstreckeHamburg – Berlin inklusive detaillierter Spezifikationenausgeschrieben wird. Dabei wird als Schlußtermin fürdie Bewerbungen der 27. November 1998 angegebenund der Beginn der Bauarbeiten für Mai nächsten Jahresterminiert. Ist Ihnen das bekannt? Kann das vielleichtbedeuten, daß Herr Müntefering gegen die Position derGrünen diese Ausschreibung lanciert hat?Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Herr Dr. Wolf, das Bundesausschreibungs-blatt vom 2. November 1998 habe ich leider nicht gele-sen.
Ich nehme aber gerne zur Kenntnis, daß Planungsbehör-den immer eine gewisse Zeit brauchen, bis sie die ver-änderten politischen Rahmenbedingungen begreifen. Ichkenne das auch von anderen Verkehrsprojekten her. Ichgehe davon aus – ich will Ihnen ganz präzise sagen, waswir im Koalitionsvertrag vereinbart haben –,
daß sich Bund, Bahn und Industrie gemäß dem, was sieselbst vertraglich vereinbart haben, nun zusammenset-zen und gemeinsam überlegen müssen, wie es weiter-geht. Im Klartext heißt das, daß einer von den drei Part-nern 2 bis 3 Milliarden DM auf den Tisch legen muß;oder die Strecke Hamburg – Berlin wird nicht zu reali-sieren sein.
Ich sehe nicht, daß der Bund dies tun wird. In der Koali-tionsvereinbarung ist das ausgeschlossen. Ich sehe nicht,daß die Bahn das tun wird. Ihr Vorstandsvorsitzenderhat das in einer öffentlichen Stellungnahme ausge-schlossen. Es bleibt die Industrie. Wenn ich mir diewirtschaftlichen Probleme von Siemens und Adtranz an-schaue, so erwarte ich zumindest keine Sensationen. Ichsehe diesen Gesprächen mit großer Gelassenheit entge-gen.Lassen Sie mich noch klar und eindeutig etwas dazusagen, wie die Bahnreform zu geschehen hat. Wir ha-ben sehr präzise festgelegt, daß wir die Möglichkeitenzur Senkung von Trassenpreisen nutzen wollen. Es kannnicht sein, daß nur für den Schienenweg, nicht aber fürden Straßenverkehr das Prinzip der vollen Deckung derWegekosten gilt. Ferner wollen wir Maßnahmen zur Si-cherung eines fairen und diskriminierungsfreien Wett-bewerbs von Bahnunternehmen auf der Schiene ergrei-fen. Außerdem wollen wir schrittweise die Benachteili-gung der Bahn bei den für Infrastrukturmaßnahmen vor-gesehenen Investitionen im Bundeshaushalt abbauen.Für die Länder ist von entscheidender Bedeutung – dasist die Abwehr eines Anschlags der alten Bundesregie-rung auf den Schienennahverkehr –, daß wir die Mittelfür die Regionalisierung bei der Bestellung von Nahver-kehr auf der Schiene garantieren werden. Das schafftPlanungssicherheit und Spielräume von Angebotsver-besserungen von Bremen bis Berchtesgaden. Das ist fürjeden Landesverkehrsminister von größter Bedeutung.
Wir werden uns aber nicht nur um die Trassenpreiseim Bereich der Schiene kümmern, sondern auch um diePreise im Bereich der Straße. Herr Minister Münteferinghat es angesprochen, daß die bisherige EU-Jahresvignette keine Zukunft hat. Sie muß durch eineleistungsbezogene und damit gerechtere elektronischeGebührenerhebung ersetzt werden, die den tatsächlichenWegekosten näherkommt. Auch dies wird eine Verlage-rung des Güterverkehrs auf Schiene und Schiff beför-dern. Gleichzeitig werden damit auch die entsprechen-den Impulse aus den traditionellen TransitländernSchweiz und Österreich für eine moderne europäischeVerkehrspolitik aufgegriffen.Albert Schmidt
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Damit komme ich zu einem heiklen Punkt, den ichnicht ausklammern möchte: Tempolimit. So sehr wir esbegrüßen, daß Städte und Gemeinden künftig leichterund unbürokratischer Tempo 30 innerorts als Regelge-schwindigkeit ausweisen können, so sehr bedauern wires, daß es nicht möglich war, uns auf ein Tempolimit fürAutobahnen und Bundesfernstraßen zu einigen.
Ich will nichts schönreden. Das ist für uns Grüne an die-ser Stelle eine klare Niederlage und mehr als nur einSchönheitsfehler.
Das ist um so bedauerlicher, Herr Kollege Friedrich,als es nichts gekostet, aber viel für die Verkehrssicher-heit, für die Kraftstoffeinsparung und auch für eine CO2-Reduktion beim Verkehr gebracht hätte, die wir geradein diesem Bereich so dringend brauchen.
Deshalb halte ich fest: Dieser Aufgabe werden wir unsauf Dauer, liebe Kolleginnen und Kollegen von derSPD, stellen müssen, und sei es im Rahmen einer Har-monisierung entsprechender Vorschriften auf europäi-scher Ebene.Es besteht ein enger Zusammenhalt zwischen nach-haltiger Siedlungsentwicklung und Verkehrsvermei-dung. Zersiedelung erzeugt Verkehr und Abhängigkeitvom Auto. Integrierte Wohnbaustandorte mit Anbin-dung an den ÖPNV vermeiden Verkehr im Sinne einerStadt der kurzen Wege. Deshalb ist die Zusammenle-gung des Bau- und des Verkehrsministeriums eineChance, die Impulse für eine nachhaltige Siedlungs- undVerkehrspolitik zu stärken. Diese Chance wollen wirnutzen.Für uns Bündnisgrüne stehen die Stärkung derInnenentwicklung der Städte und die Begrenzung derZersiedelung in den nächsten Jahren ganz oben auf derpolitischen Agenda. Die Koalitionsvereinbarungen bie-ten hierfür sehr gute Voraussetzungen. Wohnungsbau-politik ist nicht mehr vorrangig nur Neubaupolitik. Auchdieser Punkt wurde schon angesprochen. Durch die gan-ze Bandbreite der Instrumente wird zukünftig vor allemauch die Bestandsentwicklung gestärkt: von der Städte-und Wohnbauförderung über die CO2-Minderung bis hinzur Bodenpolitik.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Schmidt, ich muß Sie an Ihre Redezeit erinnern.
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Wir werden das Programm „Soziale Stadt
für bedrohte Stadtteile“ schnell beginnen und mit ausrei-
chenden Mitteln ausstatten. Wir werden dafür sorgen,
daß Bauherren mit kleinem Geldbeutel nicht auf Mehr-
belastungen sitzenbleiben,
sondern wir werden uns für eine Stärkung des CO2-Minderungsprogramms einsetzen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Schmidt, Ihre Redezeit ist weit überschritten.
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Frau Präsidentin, ich komme zum allerletz-
ten Satz.
Gestatten Sie mir eine persönliche Bemerkung über
eine Kollegin, die zwar nicht anwesend ist, die aber eine
Erwähnung verdient hat.
Wir bedauern es sehr, daß die bisherige verkehrspoliti-
sche Sprecherin der SPD-Fraktion, die Kollegin Elke
Ferner, nicht mehr dem Bundestag angehört.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Schmidt, Ihre Redezeit ist wirklich abgelaufen.
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Um so mehr freuen wir uns, daß sie uns als
Staatssekretärin mit ihrem ganzen Sachverstand und
Charme in Zukunft als Partnerin zur Verfügung stehen
wird. In diesem Sinne: Auf gute Zusammenarbeit und
auf einen fairen Wettbewerb!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege
Schmidt, ich muß Ihnen jetzt wirklich das Wort entzie-
hen.
Die nächste Rednerin ist die Abgeordnete Christine
Ostrowski, PDS.
Frau Präsidentin! Mei-ne Damen und Herren! Unser Gesetzentwurf zur Anhe-bung des Wohngeldes ab 1. Januar 1999 wird – da binich mir sicher – eine Sternstunde für den Bundestag be-deuten. Denn die rechte Seite dieses Hauses hat vier Jah-re lang das Wohngeld versprochen; die linke Seite hatvier Jahre lang eine Wohngeldreform gefordert; dieAlbert Schmidt
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PDS handelt. Ich stelle also eine für das Hohe Haus sel-tene Einmütigkeit fest. Die Mieter und Mieterinnenwerden es zu danken wissen.
Im Ernst: Mieter, Wohnungswirtschaft, Länder undKommunen sind der verbalen Wohngeldbekenntnisseüberdrüssig – und zu Recht. Der Kanzler teilte der inter-essierten Öffentlichkeit mit – ich zitiere –: Die Wohn-geldreform steht auf der Agenda einer sozialdemokra-tisch geführten Bundesregierung ganz oben. – Entschul-digung, die ganz oben auf der Agenda stehende Wohn-geldreform versprach Herr Schröder, als er noch nichtKanzler war. Jetzt ist er Kanzler. Nun sucht man aberdiesen Punkt ganz oben auf der Agenda vergeblich. Inder Regierungserklärung – das wurde schon gesagt –kam das Wohnen, das mehr als nur ein Dach über demKopf ist, nicht vor.Dennoch ist mein Optimismus ungebrochen. In einerBroschüre des Mieterbundes trat die F.D.P. für eine An-hebung des Wohngeldes zum 1. Januar 1999 ein; HerrFischer wollte die Reform am liebsten zum gleichenTermin, spätestens aber am 1. Juli 1999; die CDU wolltesie so schnell wie möglich.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin
Ostrowski, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abge-
ordneten Dr. Kansy?
Aber bitte schön, Herr
Kansy.
Frau Kolle-
gin, wie Sie wissen, wird ja das Wohngeld zur Hälfte
vom Bund und zur anderen Hälfte von den Ländern ge-
zahlt. Auch die SPD-regierten Bundesländer hätten in
der letzten Legislaturperiode schon initiativ werden
können. Aber die Finanzminister waren dagegen.
Könnten Sie sich eine Initiative des Landes Mecklen-
burg-Vorpommern für eine drastische Wohngelderhö-
hung vorstellen?
Ich kann mir das sehrgut vorstellen. Zum einen habe ich bedauert, daß dieSPD in der letzten Wahlperiode über den Bundesrat kei-ne Gesetzesinitiative eingebracht hat. Zum anderen den-ke ich, daß Mecklenburg-Vorpommern – die PDS stelltja in Mecklenburg-Vorpommern den Bauminister; wirsind mit Herrn Holter im Gespräch; das ist vielleicht derHintergrund Ihrer Frage – in diesem Bereich aktiv wird.Wie gesagt, ich sehe zwischen allen Fraktionen Einmü-tigkeit. Ich baue natürlich auch auf Ihre Unterstützung.
– Sie müssen schon mitziehen. So geht es ja nun nicht.Sie hatten ja 1994 eine Unterstützung in dieser Sacheversprochen.Ich komme zurück zur jetzigen Regierung. DieKoalitionsvereinbarung ist auf dem Gebiet der Woh-nungspolitik dünn. Sie bleibt hinter dem Reformstau inder Wohnungspolitik, der dringend aufgelöst werdenmüßte, absolut zurück. Diesbezügliche Kritiken habenSie bereits seitens der Wohnungswirtschaft, des Mieter-bundes und der Gewerkschaften geerntet.Auch in puncto Wohngeld findet sich in der Koali-tionsvereinbarung zwar eine schöne Formulierung; aberso schön sie ist, so unbestimmt ist sie auch. Dabei wis-sen Sie ganz genau, daß das Wohngeld seine Entla-stungsfunktion verloren hat, daß im Westen in den letz-ten Jahren die Höhe der Mieten um 35 Prozent gestiegenist, daß es im Bereich des Wohngeldes zu einer Nullrun-de kam usw. Ich will jetzt nicht alle Argumente aufzäh-len; sie sind zur Genüge ausgetauscht worden.Auch im Osten nützt das Wohngeldüberleitungsge-setz immer weniger, weil durch die Verteuerung derMieten nach einer Modernisierung der Wohnungen dieSituation für große Bevölkerungsgruppen ausgesprochenproblematisch wird. Ich darf darauf hinweisen, daß dieHöhe der Nebenkosten steigt. Das hat zwar unmittelbarmit dem Wohngeld nichts zu tun, aber mit der Wohnko-stenbelastung. Denn der Mieter bzw. die Mieterin mußzahlen, und das Monat für Monat.Wenn Sie den Mietenbericht 1997 anschauen, dannist interessant, daß über die Jahre hinweg die Wohngeld-ausgaben und die Zahl der Empfänger von Wohngeldsteigen. Das ist eine Tendenz, die auf den kritischen Zu-stand in der Gesellschaft hinweist. Sie muß vor allemdurch den Abbau der Arbeitslosigkeit umgekehrt wer-den.Was jetzt aber unmittelbar erforderlich ist, ist eineErhöhung bzw. eine Anpassung des Wohngeldes, undzwar nicht nur im Interesse der Mieterinnen und Mieteroder etwa der Wohnungswirtschaft, sondern vor allemim Interesse des Staates. Denn eine ausreichende Höhedes Wohngeldes stärkt die Binnennachfrage, auf die Sie,meine Damen und Herren von der Regierung, zu Rechtsehr viel Wert legen.Die Wohngeldreform hätte also zu Ihren ersten In-itiativen gehören müssen. Denn Sie, meine Damen undHerren von der SPD, stehen im Wort. Es nützt allesnichts: Sie hatten die alte Regierung kritisiert, und zwarhart. Ich zitiere Herrn Großmann aus seiner Rede vom7. Mai 1998:Die wohnungspolitische Bilanz dieser Regierung istbeschämend . . . neues Mietrecht: Fehlanzeige;Städtebauförderung: ein Torso; Fehlsubventionie-rungen im frei finanzierten Mietwohnungsbau: kei-ne Initiativen . . .; sozialer Wohnungsbau: kaputtge-spart . . . ; Wohngeld: Wortbruch.– Fürwahr, recht hatte er.Es ist kabarettreif, wenn Ihnen jetzt ausgerechnet dieF.D.P. putzmunter einen Wortbruch vorwirft. Aber hattenicht der Kanzler in seiner Regierungserklärung ener-gisch betont, daß die neue Regierung kein Abziehbildder alten sein wird? Das steht durchaus zu befürchten,auch wenn ich jetzt voller Freude gehört habe, daß Mi-Christine Ostrowski
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nister Müntefering immerhin für 1999 Aktivitäten ange-kündigt hat.Die Steuermehreinnahmen in Höhe von 1,2 Milliar-den DM auf Grund der Streichung der Vergünstigungbei der Eigenheimzulage, die für die Verbesserung desWohngeldes genutzt werden sollten, scheinen passé zusein. Ebenfalls vom Tisch ist die auch von den Grünengewünschte Senkung der Einkommensgrenzen für dieGewährung der Eigenheimförderung als eine andere Fi-nanzierungsquelle.Wir wollen die Miethöchstbeträge in Ost und Westsofort um durchschnittlich 20 Prozent anheben undwollen einen pauschalen Inflationsausgleich in Höhevon 1 800 DM. Diese überfällige Wohngeldanhebungin Ost und West ist machbar und finanzierbar. Sie kostetBund und Länder 1,5 Milliarden DM. Finanzierungs-spielräume sehen wir insbesondere für den Fall, daß maneinmal die steuerlichen Instrumente durchforsten würde,zum Beispiel im Bereich der Förderung von Luxuswoh-nungen, wie der Kanzler sagte. Wo er recht hat, hat errecht. Wir stimmen ihm zu.
Freuen Sie sich also: Wir helfen Ihnen, liebe Regierung,lieber Herr Minister, Ihre Wahlversprechen zu erfüllen.Dann möchte ich noch eine Bemerkung an die rechteSeite dieses Hauses machen in bezug auf den Slogan„Wir nehmen die Herausforderung an!“ bzw. in bezugauf die Aussage: Wir sind bereit, die Oppositionsrolle zuübernehmen. Meine Damen und Herren von derCDU/CSU und der F.D.P., wo sind denn dann Ihre An-träge? Die hätte ich heute erwartet. Vielleicht müssenSie als Opposition noch vieles lernen. Nehmen Sie sichein Beispiel an uns, an der PDS! Lassen Sie der Wortegenug gewechselt sein; lassen Sie uns endlich Taten se-hen! Denken Sie an die Sternstunden, die wir gemein-sam erleben können, und stimmen Sie dann, wenn esdarauf ankommt, unserem Gesetzentwurf zu.Danke.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dirk Fischer.
Frau Präsi-dentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen!Daß der Verkehr als vorletzter Bereich der Regie-rungserklärung an dieser Stelle steht, kommt . . .nicht von ungefähr. Denn so dürftig, wie die Koali-tionsvereinbarungen an der Stelle sind, kann mandieses Thema wahrlich nicht besser plazieren.Das war die Aussage, die die damalige SPD-Sprecherin Ferner, die heutige Staatssekretärin, im No-vember 1994 als Einleitung ihrer Rede zur Regierungs-erklärung genutzt hat. Das war damals polemisch undfalsch. Es ist heute mehr als zutreffend. In der jetzigenRegierungserklärung kommt Verkehrspolitik überhauptnicht vor. Ich meine, das ist, was die Wertschätzung die-ses Bereiches anbelangt, ein außerordentlich schlechterStart für die Verkehrspolitik und den Minister.
Hinzu kommt der Fehlstart von Minister Münteferingund seinem Ministerium. Er bringt einen großen Stabüberwiegend fachfremder Gefolgsleute mit, entläßt fastalle Abteilungsleiter
und entzieht damit sich und dem Ministerium erheb-lichen Fachverstand.
Sein rabiates Vorgehen hat selbst vor parteilosen Fach-leuten nicht halt gemacht.Frau Ferner hat vor zwei Jahren VerkehrsministerWissmann ungerechtfertigt Personalpolitik nach Guts-herrenart vorgeworfen. Jetzt ist sie Staatssekretärin undbetreibt zusammen mit ihrem Minister einen personal-politischen Kahlschlag, der eine schwere Zukunftshy-pothek darstellt.
Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärungnichts zur Verkehrspolitik gesagt. Also halten wir uns andie Koalitionsvereinbarung. Für mich waren die Formu-lierungen zur Verkehrspolitik zunächst eine Überra-schung. Ich hatte eigentlich erwartet, die Verkehrspolitikvon SPD und Bündnis 90/Die Grünen aus der Opposi-tionszeit wiederzufinden,
wie zum Beispiel die Streichung aller Mittel für denStraßenbau, dafür Förderung des Fahrradverkehrs alsbundespolitische Aufgabe, generelle Tempolimits, Stopdes Ausbaus von Wasserstraßen,
Stop des Transrapid, Stop für Schienenneubaustreckenusw.
Doch, meine Damen und Herren, nichts davon! Die dra-stische Wende um 180 Grad kann ich mir nur damit er-klären, daß mit Übernahme der Regierungsverantwor-tung die Rückkehr zur Realität unumgänglich wurde.
Also halten wir fest: Was Rotgrün bisher vertretenhat, war falsch. Die Kritik an der Politik der bisherigenChristine Ostrowski
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Bundesregierung war nach jetzigem Eingeständnis unbe-rechtigt.
Ich glaube, dennoch bleibt in der Koalitionsvereinba-rung genug, das Stoff für Kritik und Alternativen bietet.Ich denke, ein großes Problem wird sich abzeichnen.Die Vorstellungen der Bündnisgrünen finden sich inkeinem der verkehrspolitischen Kernpunkte wieder.Damit ist wohl erhebliches Streitpotential bei der künfti-gen Umsetzung vorprogrammiert. Minister Trittin wartetdamit noch nicht einmal, bis der zuständige Bundesmi-nister seine Ziele vorgestellt hat. Er macht bereits imVorfeld deutlich, daß er die Vorgaben der Verkehrspoli-tik diktieren will.In einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“hält er den Einstieg in die Energiebesteuerung für un-ausgewogen, fordert noch höhere Benzinpreise und da-zu eine deutliche Reduzierung der Straßenbauinvestitio-nen. Trotz der Priorität für die Schiene erteilt er demSchienenfernverkehr eine Absage. Das ist, wie ich glau-be, der Rückfall in die bekannte, unrealistische grüneIdeologie, die nur ein Ziel hat: die Mobilität der Bürgerzu behindern und schwere volkswirtschaftliche Schädenfür unser Land in Kauf zu nehmen.Trittin kündigt damit dem Koalitionspartner dieHauptthese der Koalitionsvereinbarung, die lautet:Wir wollen ein Verkehrssystem, das die Mobilitätaller Menschen flächendeckend und umweltver-träglich gewährleistet . . . Eine leistungsfähige Ver-kehrsinfrastruktur ist für die WettbewerbsfähigkeitDeutschlands von zentraler Bedeutung.Er sieht dies, wie er sagt, sehr entspannt. Ich be-zweifle, daß unsere Bürger, deren Mobilität behindertwird, und die Wirtschaft – insbesondere die Verkehrs-wirtschaft und die Bauindustrie mit ihren Arbeitsplätzen,die auf Investitionen im Verkehrsbereich angewiesensind –, dies auch so entspannt sehen werden.Wir werden Bundesminister Müntefering daran zumessen haben, ob er in der Lage ist, die Attacken vonTrittin abzuwehren und eine zukunftsgerechte Verkehrs-politik zu gestalten. Verkehrspolitik ist, wie wir mehr-fach festgestellt haben, in der Koalitionsvereinbarungeher dürftig abgehandelt worden. Es lohnt sich hiernicht, auf jeden einzelnen Punkt einzugehen und ihn zukommentieren.Die Forderung nach flächendeckender und umweltge-rechter Mobilität aller Menschen war immer auch unserAnliegen. Wir begrüßen deshalb die Einsicht von SPDund Grünen, daß Verkehrsinvestitionen für nachhaltigesWachstum unverzichtbar sind.Vorsicht ist aber geboten, wenn die Umsetzung öko-logischer Ziele so einseitig und so deutlich als Vorbe-dingung genannt wird. Die Grünen werden jeden lai-chenden Frosch oder jeden Wachtelkönig, ob gesehen,ob gehört oder nur vermutet, vorschieben, um den Aus-bau einer Straße, einer Schienenstrecke oder einer Bin-nenwasserstraße zu verhindern.
Meine Damen und Herren, damit können Arbeitsplatz-chancen in der Mobilitätswirtschaft sehr schnell zu-nichte gemacht werden.Dagegen ist, wie ich glaube, die Aussage zur Mobili-tät im ländlichen Raum für die Menschen sehr enttäu-schend. Von den Forderungen der Wahlprogramme istnichts wiederzufinden. Statt dessen werden die Kostenfür Berufspendler, die auf das Auto angewiesen sind,durch die Anhebung des Benzinpreises und durch dieEinführung einer Entfernungspauschale deutlich erhöht.
Auf der anderen Seite finden wir es ganz erfreulich,daß an der Priorität für den Aufbau Ost festgehaltenwird. Wir werden genau verfolgen, ob die vordringli-chen Projekte auch zügig realisiert werden. Dies ist fürdie neuen Bundesländer sehr wichtig; denn nur mit einerguten Verkehrsinfrastruktur kann der wirtschaftlicheAufschwung gelingen.
Im Wahlprogramm wollten die Grünen der organisa-torischen Bahnreform noch eine verkehrspolitische fol-gen lassen. Damit ist quasi eine zweite Bahnreform an-gekündigt worden; das heißt ein Mehr an staatlichemEinfluß und ein Weniger an Wirtschaftlichkeit.
Hier hat sich die SPD zum Glück vernünftiger gezeigt.Die Rückkehr zur Subventionsmentalität früherer Zeitenwürde das Scheitern der Reform bedeuten, die sich jetztGott sei Dank auf erfolgreichem Weg befindet. Der in-terfraktionelle Konsens in der Bahnreform, Herr Mini-ster, ist von hohem Wert. Für uns ist er ziel- und ver-haltensabhängig. Wenn wir entschlossen daran festhal-ten, werden wir Ihre Arbeit unterstützen.
Meine Damen und Herren, nach all dem Theater umden Transrapid staune ich doch, aber ich freue michauch über die neue Einsicht zu einem grundsätzlichen Jader Koalition zur Strecke Hamburg – Berlin und zurWeiterentwicklung und Anwendung der Magnetschwe-betechnik in Deutschland. Das hört sich ganz anders anals das, was wir hier in den leidenschaftlichen Debattenimmer gehört haben und was uns vorgeworfen wordenist.
Von den nun folgenden Taten hängt es ab, ob dieseFreude anhält. Wir jedenfalls sind zur Kooperation be-reit.Die Verbesserungen des Lärmschutzes im Verkehrist ein Schwerpunktthema für die Legislaturperiode.Damit sind wir einverstanden. Dies kann allerdings nichtnur für Bundesverkehrswege gelten; es muß vielmehrDirk Fischer
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für alle Verkehrswege gelten. Es bleibt abzuwarten, wiesich Länder und Kommunen angesichts der zu erwarten-den erheblichen finanziellen Auswirkungen verhaltenwerden. Aber immerhin: Die Koalition hat im Bundesrateine Mehrheit. Deswegen werden wir dem Ziel sicher-lich näherkommen.
Der kombinierte Verkehr wird stiefmütterlich, dieBinnenschiffahrt wird nur am Rande behandelt, die See-schiffahrt wird gar nicht erwähnt. Die Aussagen zumLuftverkehr sind erfreulich, weil die Grünen mit ihrenForderungen ganz offensichtlich gescheitert sind.
Allerdings sind die Aussagen der Koalitionsvereinba-rung überholt, weil die gemeinsame Strategie von Bundund Ländern bereits vorhanden ist und gar nicht erst ge-schaffen werden muß.Abschließend ein Wort zur Verkehrssicherheit, diesich nicht nur auf größere Spielräume für Fußgänger undRadfahrer beschränken darf. Ich meine, die vergangeneBundesregierung hat eine hervorragende Schlußbilanzabgeliefert.
Das wird die Meßlatte sein. Erfolge wird es nach meinerEinschätzung in Zukunft nur durch Kooperation undFörderung des Verständnisses der Verkehrsteilnehmergeben. Martialischer Dirigismus würde hier völlig in dieIrre führen und kontraproduktiv sein.
Der Start der Verkehrspolitik dieser neuen Koalitionist nach meiner Einschätzung mißlungen. Die Abwand-lung des Kanzlerleitspruches gilt wie auch in anderenBereichen: Wir machen nur wenig anders und gar nichtsbesser.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Iris Gleicke.
Frau Präsidentin! Meine sehr ge-ehrten Damen und Herren! Meine Fraktion begrüßt dieZusammenlegung der bislang getrennten Ministerien fürBau und Verkehr, und zwar nicht nur deshalb, weil da-mit ein sichtbares Zeichen für die Verschlankung desStaates gesetzt worden ist.
Denn die Chancen dieser Zusammenführung liegen aufder Hand. So ist die Verkehrspolitik eng verknüpft mitFragen, die die Raumordnung betreffen. Auch die Ent-wicklung der Städte und des städtischen Umlandes mitdem Ziel, eine lebenswerte Umwelt zu erhalten oderwieder zu erschaffen, ist ohne die enge Verknüpfungwohnungspolitischer und verkehrspolitischer Aspektenicht möglich.
Funktionierende Verkehrssysteme spielen nicht nur ineinem zusammenwachsenden Europa eine immer größe-re Rolle. Sie haben entscheidende Bedeutung für denreibungslosen Austausch von Waren und die zunehmen-de Mobilität von Personen. Sie bestimmen auch die Le-bensqualität in den Ballungsräumen wie auf dem flachenLand und den Zustand unserer Umwelt.
Daraus erwachsen Zielkonflikte, die von der Ver-kehrspolitik eine sorgfältige Interessenabwägung,gleichzeitig aber auch klare Prioritätensetzungen verlan-gen. Die Verkehrspolitik der Vergangenheit, die alleinauf den verkehrlichen Nutzen einer Maßnahme schaute,ist erkennbar gescheitert.
Deshalb müssen im Verkehrssystem der Zukunft dieverschiedenen Verkehrsträger dort zum Zuge kommen,wo ihre jeweiligen Systemvorteile optimalen Nutzenbringen. Zentrale Voraussetzung für eine neue Politik,meine Damen und Herren, ist eine Infrastrukturpla-nung, die deutlicher als bisher den Vernetzungs- undVerknüpfungsgedanken der verschiedenen Verkehrsträ-ger in den Vordergrund stellt.
Es gilt, der Lösung der Schnittstellenproblematikzwischen den verschiedenen Verkehrsträgern höchstePriorität einzuräumen, und es gilt, sinnlose Parallelpla-nungen zu vermeiden. Dies ist nicht nur verkehrspoli-tisch geboten, sondern angesichts der leeren Kassenauch eine zwangsläufige Konsequenz.Die SPD-Bundestagsfraktion wird die Bundesregie-rung bei der Überarbeitung des Bundesverkehrswege-plans nachdrücklich und, wenn nötig, auch kritisch un-terstützen. Gestatten Sie mir als ostdeutscher, als Thü-ringer Abgeordneter den Hinweis, daß ich mit besonde-rer Freude den Satz im verkehrspolitischen Teil der Ko-alitionsvereinbarung zur Kenntnis genommen habe, wo-nach an der Priorität für den Aufbau Ost festgehaltenwird. Das, meine Damen und Herren, sollte auch derthüringische Ministerpräsident zur Kenntnis nehmen.
Dirk Fischer
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Werte Kolleginnen und Kollegen, zu einem inte-grierten Gesamtverkehrskonzept gehört natürlich der ge-samte Instrumentenkasten: von der Fiskalpolitik über dieAngleichung der europäischen Wettbewerbsbedingun-gen bis hin zu flankierenden ordnungspolitischen Maß-nahmen. In den nächsten Wochen wird im zuständigenAusschuß Gelegenheit zu einer eingehenden Debattealler nötigen Elemente einer neuen Verkehrspolitik be-stehen.Der Ausschuß wird sich aber auch sehr intensiv mitder Wohnungspolitik zu beschäftigen haben, um Ver-säumnisse und Fehlentwicklungen der letzten Jahremöglichst bald zu korrigieren, damit auch hier eine neuePolitik eingeleitet werden kann.
Einer der wichtigsten Bereiche ist dabei der sozialeWohnungsbau. Wir finden es richtig, daß hierbei auchverstärkt auf die Bestandsförderung Einfluß genommenwerden soll.Meine Damen und Herren, den Kommunen muß eineAlternative zur Baulandausweisung im städtischenUmfeld geboten werden. Es sind die überhöhten Preise,die zu einer fortwährenden Ausdehnung der Speckgürtelführen – mit allen negativen Auswirkungen für die städ-tischen Zentren. Wir müssen Städten und Gemeindendie Möglichkeit geben, dieser Entwicklung gegenzu-steuern.In der Städtebauförderung sehen wir einen starkenMotor für die soziale, bauliche, wirtschaftliche und aucharbeitsmarktpolitische Entwicklung. Sie hat eine wichti-ge Katalysatorfunktion für private Investitionen. Diestädtebaulichen Sünden der Vergangenheit, gerade inden Großwohnsiedlungen, verlangen ein integriertesKonzept, und deshalb begrüßen wir auch, daß in der Ko-alitionsvereinbarung das Programm „Stadtteile mit be-sonderem Entwicklungsbedarf – die soziale Stadt“ ver-einbart wird.
Wir sind froh darüber, daß der Bauminister das KfW-Programm für die neuen Bundesländer angesprochenhat. Hier wollen wir sicherstellen, daß es fortgeführtwird und in den Haushaltsberatungen nach Möglichkeitauch finanziell ordentlich ausgestattet wird.Wir müssen auch unter dem Aspekt der Leerstände inden neuen Ländern die Privatisierungsverpflichtungennach dem Altschuldenhilfe-Gesetz kritisch unter die Lu-pe nehmen
und dabei die besonderen ostdeutschen Interessen imWohnungsmarkt berücksichtigen.Zum Schluß möchte ich noch einen kurzen Satz zueinem Thema sagen, das mir am Herzen liegt, nämlichzum Wohngeld. Wir brauchen so bald wie möglich einegesamtdeutsche Wohngeldnovelle. Wir brauchen sie fürdie Mieterinnen und Mieter mit niedrigen Einkommen;wir brauchen sie vor allen Dingen für die Familien mitKindern. Ich begrüße es sehr, daß der Minister hier an-gekündigt hat, daß er sehr bald Klarheit schaffen will.
Werte Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Siegern zu einer konstruktiven Arbeit hier im Hause einla-den, um Lösungen für die anstehenden Probleme zu fin-den. Eines funktioniert nämlich nicht: Sie haben 16 Jah-re lang regiert; Sie haben im sozialen Wohnungsbau ge-kürzt; Sie haben die Städtebauförderung zurückgefah-ren; Sie haben zehn Jahre lang beim Wohngeld nichtsgemacht. Und wir sollen das jetzt in 14 Tagen alles ge-klärt haben. Das Ganze geht nach dem Motto: „Haltetden Dieb! Er hat mein Messer im Rücken.“ Das ist keingutes Miteinander. Lassen Sie uns gemeinsam ordentlichanfangen.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe
damit die Aussprache. Interfraktionell wird Überwei-
sung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/19 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Gibt es dazu andere Vorschläge? – Das ist nicht der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen jetzt zum Themenbereich Umwelt. Ich
eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Ab-
geordnete Klaus Lippold.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kollegen! Die bisherige Debatte hat deutlichgemacht, daß man zu Beginn der Diskussion noch ein-mal herausarbeiten muß, was in der Vergangenheit ge-leistet wurde, daß Bilanz gezogen werden muß vor demHintergrund, daß die neue Koalition versucht, allesschlechtzureden, um sich dann um so besser profilierenzu können.Ich halte fest: Wir haben in bezug auf den Umweltbe-reich in den vier Jahren der letzten Legislaturperiodeebenso wie in den letzten 16 Jahren der Regierungszeiteine ausgesprochene Erfolgsbilanz vorzuweisen.
Daß es sich um eine Erfolgsbilanz handelt, wird nichtnur von uns so gesehen. Das wird auch von den gesell-schaftlichen Gruppen anerkannt, und wird auch im in-ternationalen Bereich so gesehen. Ich kann zum Belegauch namhafte Sozialdemokraten zitieren, die in einemPositionspapier schon 1997 festgehalten haben, daß dieklassischen Umweltprobleme wie SchadstoffbelastungIris Gleicke
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von Luft und Wasser und insbesondere die Probleme imAbfallbereich gelöst sind. Ich will darauf nur noch ein-mal hinweisen. So weit sind selbst wir nicht gegangenwie Vahrenholt und Clement.
Die Wasserqualität der Fließgewässer hat sich in denletzten Jahren hervorragend entwickelt.
Wir haben die Schadstoffbelastung in der Größenord-nung eines zweistelligen Prozentbereiches herunterge-führt, bei Quecksilber um 90 Prozent, bei Kadmium um76 Prozent, bei Kupfer um 85 Prozent, bei Chrom um95 Prozent – um nur einige Positionen zu erwähnen.Diese Situation gibt es in keinem Industriestaat der Weltund auch nicht in Schwellenländern. Das ist eine Um-weltpolitik, deren Erfolge akzeptiert werden.
Vor diesem Hintergrund will ich nur darauf verwei-sen, daß wir im Gewässerschutz Fortschritte erzielt ha-ben, aber daß wir auch Initiativen zum Schutz der Meerevorgelegt haben – Initiativen zum Schutz der Ostsee, In-itiativen zum Schutz der Nordsee.Was sehe ich jetzt im Moment? Es gibt ein Frachter-unglück; es gibt die Katastrophe des Frachters „Pallas“vor Amrum. Was erlebe ich? Wird am nächsten oder amübernächsten Tag gehandelt? Wird innerhalb einer Wo-che gehandelt? Nichts geschieht; es wird zugeschaut.Das hätten wir uns in unserer Regierungszeit einmal er-lauben sollen, so lange nichts zu tun.
Sie wären mit fünfzehn Anfragen über uns hergefallen;Sie wären gleichzeitig mit Aktuellen Stunden gekom-men – das behalten wir uns noch vor – und hätten ge-fragt: Warum tut diese Regierung nichts?Sie hatten doch lange genug Zeit für Vorüberlegun-gen. Jetzt kommen Sie nicht und sagen, Sie wären nichtim Amt! In Schleswig-Holstein ist Herr Steenblock imAmt. Er hat das erst heruntergeredet und hat dann ge-merkt, daß die Katastrophe größer ist, als er auf Grundseiner mangelnden Wahrnehmung zunächst wahrhabenwollte. So kann man Umweltpolitik nicht betreiben.
Ich sage ganz deutlich: Das ist eine schlechte Einfüh-rung.
Herr Trittin kann heute aus verständlichen Gründennicht hier sein. Ich respektiere das und hoffe, daß er vondieser Konferenz gute Erfolge mitbringen wird – woraufwir noch einmal zurückkommen werden. Aber das Hausinsgesamt hätte durchaus reagieren können. Und auchder Kollege Müntefering war mit dem, was er vorhingebracht hat – leise hat er eine Prüfung in Aussicht ge-stellt, aber bislang auch nichts in die Wege geleitet –,nicht gerade eine Glanznummer. Und das ist einer Ihrerführenden Leute! So können wir das nicht angehen:nicht handeln, zuschauen. In der letzten Legislaturperi-ode hätten wir uns damit Vorwürfe über Vorwürfe ein-gefangen! Herr Schmidt, was hätten Sie uns alles gesagt!Ich habe gesehen, wie Sie reagiert haben, als Müntefe-ring hier vortrug. Das war entlarvend.
Meine Damen und Herren, die Gesetzgebungsverfah-ren, die wir in den letzten Jahren durchgesetzt haben –unter anderem das Umweltauditgesetz, das Ozongesetz,Gesetze zur Beschleunigung von Genehmigungsverfah-ren, der Erlaß eines Bodenschutzgesetzes –, eröffnenneue Instrumente für den Umweltschutz. Das Boden-schutzgesetz ist einmalig in dieser Welt. Es gibt keinVorsorgeinstrument gleicher Art in einem anderen Land.Ähnliches werden Sie erst leisten müssen. Im Um-weltschutz haben Sie uns bedauerlicherweise blockiert,obgleich wir wirklich sehr gute Initiativen gezeigthaben. Wir haben die Idee des Naturschutzes – wegenIhres Widerstandes – nicht in der Form umsetzen kön-nen, wie wir dies wollten. Aber wir haben es immerhingeschafft, daß die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinieumgesetzt wurde und wir jetzt wenigstens auf dieser Ba-sis weiterarbeiten können. Schade, daß es nicht andersging.Sie müssen einfach sehen, daß all das, was wir imLandschaftsschutz, was wir im Biotopverbund erreichenkonnten, auf der Basis dessen, was wir vorgeschlagenhaben, wesentlich besser hätte realisiert werden können.
Wenn man weitere Flächen für den Naturschutzbraucht, dann braucht man die Akzeptanz der Betroffe-nen, dann braucht man die Akzeptanz der Landwirte.
Und dazu braucht man – da hilft Ihr Störfeuer garnichts – die Ausgleichsabgabe. Wie wollen Sie es dennsonst handhaben? Wenn auf anderen Feldern kein ge-sellschaftlicher Konsens da ist, sagen Sie: Wir verzich-ten auf diese Maßnahme. – Unter Kernenergieaspektenkommen wir darauf noch einmal zurück.In der Frage des Biotopverbundes hingegen wollenSie die schleichende Enteignung. Aber wir werden nichtzulassen, daß die Landwirte unter Ihrer schlechten Poli-tik leiden. Außerdem ist mit solch einer Politik keineUmweltschutzpolitik erfolgreich zu führen.Man macht Umweltschutz mit den Betroffenen, nichtUmweltschutz gegen die Betroffenen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir habenmit der geplanten 25prozentigen Reduzierung von CO2ein national anspruchsvolles Klimaschutzziel formuliert.Dr. Klaus W. Lippold
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290 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998
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Das ist im Moment in Buenos Aires wieder im Ge-spräch. Die Hälfte der Einsparung haben wir seitdemschon erreicht.
– Ich wußte doch, daß Sie das bestreiten. Aber Sie kön-nen es nicht; die Zahlen sprechen gegen Sie. Das mußgesagt werden, damit wir sehen, ob Sie in der zweitenHälfte dieses Zeitraumes die anderen 50 Prozent, die wirnoch leisten müssen, erreichen. Wir werden Sie daranmessen, ob es nur schöne Worte gab oder ob es stattschöner Worte Taten gab.Machen wir uns noch eines deutlich. Sie haben fürdie Klimakonferenz hervorragende Zeichen gesetzt:Ausstieg aus der Kernenergie
und – mit Ihrem neuen Wirtschaftsminister – Einstieg indie großen Kohlekraftwerke. Was wollen wir denSchwellenländern, was wollen wir den Chinesen, denIndern sagen, wenn es darum geht, welche Art vonEnergie sie erzeugen. Sollen wir sagen: „Erzeugt rege-nerative Energie!“?
Der Wirtschafts-Müller in diesem Lande setzt aufBraunkohlekraftwerke.
– Hören Sie auf, Herr Schmidt, Sie wollen das ja nicht.Jedes Kraftwerk emittiert zusätzlich CO2. Das ist derSachverhalt, um den es hier geht. Das müssen wir Ihnenum die Ohren hauen.
Das Erstaunliche ist – ich vereinfache jetzt einmal –:Auf der einen Seite gibt es den Umwelt-Müller – das istder Kollege, der hier vor mir sitzt –, und der sagt, wirbrauchen eine Energierevolution, wir brauchen regene-rative Energien, kleine Einheiten. Auf der anderenSeite steht in dieser Regierung der Wirtschafts-Müller.Umwelt-Müller sagte:Das einseitige Setzen auf Großkraftwerke wird kei-ne Lösung sein, ganz gleich ob es sich um Kohle-,Atom- oder andere Kraftwerke handelt.Was lese ich beim Wirtschafts-Müller?Wir können nicht gegen die Kernkraft sein und zu-gleich auch gegen jeden Bau von Kraftwerken,sonst verlieren wir den größten Einzelinvestor inunserem Land.Dann sagt er ganz klar:Wenn der Neubau von konventionellen Kraftwer-ken nicht akzeptiert wird, wäre ich der erste, dersagt: Laß das sein mit dem Energiekonsens.Das muß man sich einmal zu Gemüte führen: Groß-kraftwerke oder „Laß das sein mit dem Energiekon-sens“! Meine Damen und Herren, wo ist denn da dieLogik? Sie steigen aus, Sie vermehren die CO2-Emissionen, Sie kündigen indirekt schon den Energie-konsens auf.Ich habe manchmal, wenn ich das lese, Zweifel. Ichhatte zunächst gedacht, Herr Stollmann macht ein halbesJahr. Er ist aber vorzeitig abgetreten – der erste Fall, daßeiner erst gar nicht angetreten ist. Wenn ich diese Aus-einandersetzungen so verfolge, vermute ich, daß derWirtschafts-Müller das nächste Jahr nicht als Ministererleben wird.
Ich sage es einmal so: Es ist hanebüchen, was Siesich leisten. Der Sachverhalt ist doch, daß Werner Mül-ler sagt: Wir wollen aus der Kernenergie aussteigen,aber bitte nicht ganz schnell und bitte nicht sofort. Dannfügt er laut „Süddeutscher Zeitung“ hinzu, er hege Zwei-fel, ob in absehbarer Zeit auf die Kernkraft ohne jeglicheOptionen für eine Weiternutzung in 50 Jahren verzichtetwerden könne.Also: Zuerst schaffen wir mit den SozialdemokratenKernkraftwerke, dann steigen wir mit Rotgrün aus, dasKnow-how geht verloren, und Herr Müller glaubt, dasließe sich in 50 Jahren beliebig ändern, obwohl dieweltweite Entwicklung ganz anders verlaufen wird, alsSie sich das zusammenträumen. Das kann doch wohlnicht wahr sein! Wo ist da das Konzept? Wo ist da dieLogik? Das trägt von der Denke her doch ganz deutlichdie Handschrift des derzeitigen Kanzlers.Dazu hat die „Süddeutsche Zeitung“ gesagt: HohleWorte klingen manchmal voller. – Recht hat die „Süd-deutsche Zeitung“ in ihrem Kommentar. Richtig ist das:hohle Worte, kein Konzept, keine Inhalte. Wir könnengreifen, was wir wollen: Alles ist falsch.Ich komme zurück zur Klimaschutzpolitik. Ich glau-be, es ist unbestreitbar, daß Deutschland im internatio-nalen Umweltschutz eine Vorreiterrolle hat.
– Das werden wir erst einmal sehen.Ich sage ganz offen: Wir sind da anders als Sie. DerUmwelt-Müller hat bei der vorletzten Regierungserklä-rung gesagt, Frau Merkel bekäme keine Schonzeit. Wirgehen mit der Regierung fairer um. Ich bin der Mei-nung: Die Leute sollen sich erst einarbeiten können, be-vor man sich mit ihnen richtig auseinandersetzt. DieseForm von Unfairneß, die Sie praktiziert haben, werdenSie bei uns nicht erleben.Aber wir werden natürlich darauf achten, ob HerrTrittin jetzt mit adäquaten Ergebnissen nach Hausekommt. Wir werden diese Ergebnisse an dem messen,Dr. Klaus W. Lippold
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was Rotgrün zu Oppositionszeiten gesagt hat. Dannwerden wir sehen, ob er bestehen kann.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es gibt Pas-sagen in Ihrer Koalitionsvereinbarung und auch in derRegierungserklärung, von denen man sagen kann: Dasscheint in die richtige Richtung zu gehen. Das wollenwir akzeptieren. Sie haben in der Regierungserklärungvon Selbstverpflichtung geredet – etwas, was Sie frü-her total bestritten haben. Damit setzen Sie einen neuenAkzent. Aber auch hier werden wir sehen, ob Sie dabeibleiben. Die Frage ist doch, ob, wenn es auf der einenSeite Selbstverpflichtung gibt, der Einstieg in Ökosteu-ern auf der anderen Seite noch gerechtfertigt ist.Da gibt es eine Studie, die Herr Schröder in Auftraggegeben hat, nicht wir. Die besagt, daß Ökosteuern zurVernichtung von Arbeitsplätzen führen. Das war einevon Herrn Schröder in Auftrag gegebene Studie. Damitsollte man sich einmal auseinandersetzen. Wenn er dannin der Regierungserklärung sagt, daß die Zeit nationalerAlleingänge vorbei ist, dann frage ich: Gilt das jetztauch für diese Form von Ökosteuern? Oder ist das wie-der nur ein nicht ausgeräumter Widerspruch, weil Sienicht vorgedacht haben und in der Kürze der Zeit nichtzu Ende gekommen sind?Wir werden Sie kritisch begleiten, nicht nur in diesen,sondern auch in anderen Fragen. Wir werden Sie dortunterstützen – im Gegensatz zu Ihnen –, wo Deutschlanddas braucht, weil der Umweltschutz im Ausland mitUnterstützung der Opposition vorangetrieben werdenmuß und nicht anders.
Auch da unterscheiden wir uns von Ihnen. Wir wer-den Sie hier kritisch begleiten. Das versprechen wir Ih-nen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat
jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Simone
Probst.
Simone Probst, Parl. Staatssekretärin beim Bun-
desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi-
legen! Herr Lippold hat es angesprochen: Zur Zeit lau-
fen die Klimaverhandlungen in Buenos Aires. Um-
weltminister Trittin ist dort, um deutlich zu machen, daß
wir uns der internationalen Verantwortung bewußt sind
und aktiv an der Klimaproblematik mitarbeiten wollen.
Unser Ziel ist, daß die Beschlüsse von Kioto in sehr
konkrete Arbeitsprogramme umgesetzt werden. Wir
wollen sicherstellen, daß die Industrieländer ihre ein-
gegangenen Verpflichtungen zur Reduktion der Treib-
hausgase vorrangig im eigenen Land umsetzen. Denn
nur wenn die Industrieländer Maßnahmen bei sich selbst
in die Wege leiten, sich an ihre Vorgaben halten und
die Vorreiterrolle, die sie beschworen haben, wirk-
lich ernst nehmen, wird man Länder des Südens – bei
uns immer Entwicklungsländer genannt – dazu brin-
gen können, in ihrer eigenen wirtschaftlichen Ent-
wicklung zur Reduktion von Treibhausgasen beizutra-
gen.
Die Klimaverhandlungen sind nur ein Beispiel für die
großen Herausforderungen im globalen Umweltschutz.
Frau Staatsse-
kretärin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Lippold?
Si
Ja, gerne.
Sie
haben gerade gesagt, daß Sie die Entwicklungsländer in
die Lage versetzen wollen, auf diesem Weg mit uns her-
vorragend zusammenzuarbeiten. Das setzt Mittel voraus.
Sie haben in der Vergangenheit immer kritisiert, daß die
Quote gesunken ist. Wenn ich die Regierungserklärung
lese, kann ich darin nicht finden, daß sie angehoben oder
verdoppelt werden soll. Herr Schröder hat lediglich ge-
sagt, der Trend soll gestoppt werden. Heißt das, daß Sie
sich mit der erreichten Quote zufriedengeben, und ist
das eine positive Wertung unserer Arbeit?
Si
Das ist es mit Sicherheit nicht. Ich wollte esnicht so scharf formulieren. Wir glauben, daß wirstrukturell eine andere Energiepolitik bei uns machenund eine Vorreiterrolle spielen müssen, um zu zeigen,wie es anders geht, damit es überhaupt möglich wird,das CO2-Ziel, wie Sie es sich vorgenommen haben, zuerreichen. Ihnen haben alle Institute bescheinigt, daß mitIhrer Wirtschaftspolitik, mit Ihrer Energiepolitik, mit Ih-rer Umweltpolitik Ihr hehres Ziel unmöglich erreichtwerden kann, geschweige denn im vorgegebenen Zeit-raum.
Ich werde darauf noch eingehen.Dr. Klaus W. Lippold
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292 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998
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Das Leitbild, das uns in der Umweltpolitik in das21. Jahrhundert führt, ist das der Nachhaltigkeit. HerrKollege Kampeter, Sie wissen genau, daß Nachhaltig-keit sowohl im Umweltausschuß als auch in allen ande-ren Politikbereichen Fuß gefaßt hat. Wir freuen uns,Umweltpolitik als Querschnittsaufgabe zu verstehen.Deshalb werde ich meine Aufgabe dort sehr ernst neh-men. Die nachhaltige Entwicklung ist sowohl ein Gebotder ethischen Verantwortung als auch ein Gebot der Zu-kunftsfähigkeit unseres Landes und unserer Wirtschaft.Denn wenn wir wirtschaftspolitisch vorankommen wol-len, werden wir neue Kriterien an Produkte, Verfahrenund Dienstleistungen anlegen müssen: ein schonenderVerbrauch von Energie, Rohstoff und Flächen und einegrößtmögliche Nutzung erneuerbarer Ressourcen. DieStaaten, die es rechtzeitig schaffen, ihre Energie- undRessourceneffizienz zu verbessern, werden davon auchwirtschaftlich profitieren. Wir glauben, daß uns derWeg, Energieeffizienz voranzutreiben, wirtschaftlichvoranbringen wird.
Strom und Wärme, Wind, Sonne, Erdgas, Biogas,moderne Verkehrssysteme durch Bus und Bahn, dasDreiliterauto, neue Bau- und Werkstoffe, moderneSteuerungs- und Mikrosystemtechnik für umweltscho-nende Produktionsverfahren, langlebige und reparatur-freundliche Produkte, das sind die großen Chancen füreine kreative Wirtschaft, und auch nur das wird neueArbeitsplätze schaffen.
Deshalb hat die Bundesregierung die ökologischeModernisierung zum Schwerpunkt ihrer neuen Techno-logie- und Industriepolitik gemacht. Das zentrale Anlie-gen unserer Steuer- und Abgabenreform ist es, Beschäf-tigung zu fördern und umweltbewußtes Handeln zu be-lohnen. Mit einer abgestuften und kalkulierten Belastungdes Energieverbrauchs werden wir die Sozialversiche-rungsbeiträge senken.
In der Europäischen Union werden wir eine Initiativezur Abschaffung der Steuerbefreiung für Kerosin undSchiffahrtsbrennstoffe und des Herstellerprivilegs star-ten.
Nur mit diesen preislichen Anreizen werden Produktionund Konsum auf Umweltschutz und Innovation hin ge-lenkt, von denen Sie immer geredet haben. Wir werdendas umsetzen; denn die Zukunft wird dem produktions-integrierten Umweltschutz gehören.
Wir stehen zum CO2-Reduktionsziel von 25 Prozentbis zum Jahre 2005. Dazu sind besonders im Bereich derEnergieeffizienz erhebliche Anstrengungen notwendig.Deshalb werden neben der Energieeinsparung die Ener-gieeffizienz und die erneuerbaren Energien Vorrang beiuns haben. Dazu gehört das 100 000-Dächer-Programmzur Förderung der Solarenergie. In der Stromerzeugungwerden wir Anreize dafür schaffen, daß Kraftwerke mithohem Wirkungsgrad und der besonders breite Einsatzder Kraft-Wärme-Kopplung Fuß fassen werden.Zum Klimaschutz gehören besonders Maßnahmen imVerkehr. Deshalb werden wir ein Gesamtkonzept für ei-nen modernen umweltverträglichen Individualverkehrerarbeiten und mit einer stufenweisen Erhöhung der Mi-neralölsteuer die Attraktivität verbrauchsarmer Fahrzeu-ge erhöhen. Wir werden ferner Anreize geben, die dasUmsteigen auf den öffentlichen Personennahverkehr er-leichtern.Mit dem Ausstieg aus der Nutzung der Kernener-gie werden wir eine grundsätzliche Neuorientierung derEnergiewirtschaft einleiten. Herr Lippold, auch Sie wis-sen, daß das Ziel, die CO2-Emissionen um 25 Prozent zureduzieren, nur mit einem Ausstieg aus der Nutzung derKernenergie erreicht werden kann und nicht ohne.
– Bleiben Sie bei der Frage des Ausstiegs ganz ruhig.Wir werden ihn zügig in drei Schritten umsetzen.Im ersten Schritt werden wir das Atomgesetz novel-lieren, den Förderzweck streichen und die Atomgesetz-novelle von 1998 rückgängig machen. Im zweitenSchritt werden wir noch in diesem Jahr zu Gesprächenüber einen neuen Energiekonsens einladen, um weitereVoraussetzungen zur Beendigung der Nutzung derAtomenergie und zur Regelung der Entsorgungsfragenmöglichst im Konsens festzulegen. Im dritten Schrittwerden wir im Atomgesetz den Ausstieg durch die Be-fristung der Betriebsgenehmigungen entschädigungsfreiregeln.
Das Entsorgungskonzept, das Sie der Bevölkerungangeboten haben, ist gescheitert. Deshalb wird die neueBundesregierung ein neues Entsorgungskonzept mit ei-nem nationalen Entsorgungsplan für radioaktive Abfälleerarbeiten.Unsere Gesamtstrategie der Nachhaltigkeitspolitik –Sie haben bereits darauf hingewiesen, leider in scharfenTönen – läßt sich nur im Konsens mit allen gesellschaft-lichen Gruppen umsetzen. Ich halte auch die CDU füreine gesellschaftliche Gruppe und bitte in der Auseinan-dersetzung um einen anderen Ton.
Parl. Staatssekretärin Simone Probst
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 293
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Erst wenn wir die Gestaltungskraft von Unternehmen,wissenschaftlichen Einrichtungen und allen gesell-schaftlichen Gruppen ausschöpfen, kann das Prinzip derNachhaltigkeit Wirklichkeit werden. Deshalb wollen wirdort, wo wir handeln können, dies auch stringent tun. Inden Verwaltungsverfahren werden wir die Rolle der ge-sellschaftlichen Gruppen stärken, den Verbänden einKlagerecht einräumen
und das zersplitterte Umweltrecht in einem Umweltge-setzbuch zusammenführen und effizienter und bürgernä-her gestalten.Zur Sicherung der natürlichen und naturnahen Flä-chen – hier gilt unser Augenmerk ganz besonders denGebieten in den neuen Ländern – werden wir einen Ge-setzentwurf für einen modernen Natur- und Land-schaftsschutz vorlegen. Unsere Zielgröße ist es, 10 Pro-zent der Flächen als Vorrangflächen für den Naturschutzund die Landschaftspflege vorzusehen. Das soll dannüber ein Biotopverbundsystem weiterentwickelt werden.
Nur so können die Tier- und Pflanzenarten geschütztwerden.Die Bilder der ölverschmierten Vögel an den Strän-den von Amrum und Föhr alarmieren uns alle.
– Wir haben schnell gehandelt. Umweltminister Trittinhat das Thema auf die Tagesordnung der Umweltmini-sterkonferenz in der nächsten Woche gesetzt. Wir wer-den alles daransetzen, daß schnelle Hilfe garantiert wird.In der Bodenschutz- und Altlastenverordnung sindlängst nicht alle Probleme gelöst. Deshalb werden wir inden Entwürfen ein Konzept der Entsiegelung und Re-naturierung von Flächen einbeziehen.
Die Sanierung von Altlasten wird im notwendigen Um-fang vorangetrieben werden. Wir werden sicherstellen,daß die erforderlichen Mittel zur Verfügung stehen undvor allem die Entscheidungswege kürzer werden.
Frau Staatsse-
kretärin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Carstensen?
Si
Ja, bitte.
Doch, der ist schon im Umweltausschuß gewesen, Frau
Lemke, als der Umweltausschuß eingerichtet wurde.
Aber ich war auch gerne in anderen Ausschüssen und
freue mich immer, wenn ich Sie im Agrarausschuß sehe.
Frau Staatssekretärin, darf ich bitte die Frage stellen,
an welchem Punkt die Bundesregierung im Zusammen-
hang mit der Katastrophe der „Pallas“ schnell gehan-
delt hat? Ich wohne auf einer der davon betroffenen In-
seln. Wenn ich mich richtig erinnere, ist Herr Steen-
block, der ja nun Umweltminister in Schleswig-Holstein
ist, das erste Mal vorgestern nacht auf Amrum gewesen.
Er ist abends gekommen, hat sich im Dunkeln dort in-
formiert und ist am nächsten morgen vor Tag und Tau
wieder abgefahren. Wann hat die Bundesregierung rea-
giert? Das würde mich interessieren.
Si
Es ist sofort in Zusammenarbeit mit den Län-
dern reagiert worden. Sie wissen genau, daß die Hilfe
nicht daran gemessen werden kann, ob jemand als Kata-
strophentourist vor Ort erscheint. Es ist sicherlich immer
gut, sich zu informieren. Aber es ist wichtiger, daß die
Hilfe in den Ministerien bereitgestellt wird und daß ins-
besondere in der nächsten Umweltministerkonferenz
Beschlüssse zwischen Bund und Ländern erarbeitet
werden.
Das war ein unvorhersehbarer Unfall. Wir haben alle
gehofft, daß so etwas nicht passiert. Es ist auch wichtig,
daß wir daraus lernen, wie Hilfe schneller vor Ort gelei-
stet werden kann.
Sie möchten
noch eine Nachfrage stellen, Herr Carstensen? – Bitte.
Frau Staatssekretärin, ich habe am Montag im Verteidi-
gungsministerium angerufen. Sind Sie bereit zur Kennt-
nis zu nehmen, daß ich folgende Antwort aus dem Ver-
teidigungsministerium bekommen habe: Wir wissen
noch nichts Offizielles von dieser Katastrophe. Es hat
noch nicht einmal eine Anfrage gegeben. Wir haben
nicht einmal Informationen aus Kiel bekommen. Des-
wegen können wir dort keine Hilfe leisten. – Die Kata-
strophe dauert schon mehr als 14 Tage an. Ich wundere
mich, daß Sie da von einer schnellen Hilfe sprechen.
Si
Ich bitte Sie, zur Kenntnis zu nehmen, daß ichder Auffassung bin, daß das nicht stimmt. Es ist müßig,Parl. Staatssekretärin Simone Probst
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294 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998
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hier die Fragen der Zusammenarbeit von einer Landes-regierung mit dem Verteidigungsministerium und demVerkehrsministerium, die hervorragend funktioniert hat,zu debattieren.
Ich sage zu, daß wir schnell helfen werden. Ich hoffe aufIhre Unterstützung dafür, daß wir hier entsprechendeBeschlüsse für eine schnellstmögliche Hilfe verabschie-den können. Ich bitte auch um die Mitwirkung auf derUmweltministerkonferenz nächste Woche.
Ich erfülle
noch die Bitte der Kollegin Kristin Heyne um eine Zwi-
schenfrage. Weitere Zwischenfragen werde ich aber zu
diesem Redenbeitrag nicht mehr zulassen. Bitte.
Frau
Staatssekretärin, ich möchte Ihnen folgendes zur Kennt-
nis bringen, da ja hier auch Anmerkungen laut Ge-
schäftsordnung erlaubt sind.
– Bitte schauen Sie in die Geschäftsordnung. Danach
sind bei einer Zwischenfrage auch Anmerkungen er-
laubt.
Es hätte die Schlepperkapazität an der Nordseeküste
in dieser Form überhaupt nicht mehr gegeben, wenn wir
nicht – obwohl wir noch nicht in der Regierung waren –
dafür gesorgt hätten, daß der damalige regierende Ver-
kehrsminister, also bevor die jetzige Regierung gebildet
wurde, die Verträge für die Schlepperkapazität verlän-
gert hätte. Es ist sehr bedauerlich, daß der Schlepper
nicht rechtzeitig dasein konnte. Aber wenn in den letzten
Wochen jemand dafür gesorgt hat, daß es eine gewisse
Sicherheit an der Nordseeküste gegeben hat, Herr Car-
stensen – daran haben wir alle ein Interesse –, dann wa-
ren wir das; denn es ist nicht der letzte Verkehrsminister
gewesen. Der hat sich einfach um nichts mehr geküm-
mert. Wir haben das aus der Opposition heraus veran-
laßt.
Si
Die Umweltpolitik ist nicht nur eine Aufgabe
zwischen Bund und Ländern, sondern auch eine zentrale
Aufgabe im Rahmen der Europäischen Union. Deshalb
werden wir, wenn wir am 1. Januar 1999 die EU-
Ratspräsidentschaft übernehmen, diese dazu nutzen,
Umweltpolitik gemeinschaftlich weiter voranzubringen.
Dieses gilt für eine gemeinschaftliche Klimaschutzstra-
tegie, für den Gewässerschutz und für eine sich in der
Vorbereitung befindende EU-Wasserrahmenrichtlinie,
über die wir dort entscheiden müssen.
Gerade weil die Europäische Union als politische
Handlungsebene für uns einen so herausragenden Stel-
lenwert hat, muß es ein Anliegen sein, daß die EG-
Richtlinien fristgerecht in nationales Recht umgesetzt
werden. Deshalb geht es uns vorrangig um die Umset-
zung der sogenannten IVU-Richtlinie, die das Zulas-
sungsverfahren für Industrieanlagen regelt, und natürlich
um die Umsetzung der EG-Richtlinie Fauna-Flora-
Habitat. Die neue EG-Biozidrichtlinie werden wir durch
ein Biozidgesetz umsetzen.
Die Umweltprobleme stellen sich heute global – das
ist in vielen Bereichen angesprochen worden – und kön-
nen nur durch internationale Zusammenarbeit gelöst
werden. Wir werden als Partner in der EU dazu unseren
Beitrag leisten, daß die internationalen Verhandlungen
im Umweltbereich vorangebracht werden und zugleich
auch auf internationale Umweltmindeststandards zum
Beispiel im Welthandel, bei den Auslandsinvestitionen
und insbesondere bei der Exportförderung geachtet wird.
Darauf wollen wir hinwirken.
Die neue Bundesregierung wird sich dafür einsetzen,
daß Umweltschutz endlich nicht mehr in der Nische
bleibt, wie es in der letzten Legislaturperiode leider der
Fall gewesen ist. Wir werden uns dafür einsetzen, daß
Umweltschutz ein ganz selbstverständlicher Anspruch
unseres Lebens und unseres Wirtschaftens wird.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Birgit Homburger.
Ich gebe mir Mühe wieimmer, Kollege Kampeter.Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habegerade gehört, mit welchem Nachdruck sich die neueBundesregierung für die Umweltpolitik einsetzt. Nachdiesen Ankündigungen habe ich eigentlich erwartet, daß,weil die Nachhaltigkeit eine Querschnittsaufgabe dar-stellt, die Besetzung auf der Regierungsbank im HohenHause etwas größer wäre.
Ich stelle fest, daß das Interesse der Ministerinnen undMinister dieser neuen Bundesregierung sehr nachhaltigzu wünschen übrigläßt.
Kommen wir zum Thema Koalitionsvereinbarungund Regierungserklärung und zu den diversen Äußerun-gen der neu gewählten Regierungsmitglieder. Diese Äu-ßerungen zeigen nämlich allesamt die innere Zerrissen-heit der neuen Regierung. Die KoalitionsvereinbarungParl. Staatssekretärin Simone Probst
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 295
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(D)
beinhaltet offene Widersprüche, aber auch eine Vielzahlvon schwammigen und interpretierbaren Formulierun-gen, die das Bild prägen. Zum Beispiel steht in der Ko-alitionsvereinbarung, daß der Kohlekompromiß von1997 umgesetzt werden soll. Das wird von Herrn Trittin,unterstützt vom neuen nordrhein-westfälischen Wirt-schaftsminister Steinbrück, dann aber gleich öffentlichin Frage gestellt. Es heißt, man müsse, wenn man Kern-kraftwerke abschalte, der Kohle wieder größere Bedeu-tung beimessen. Das kollidiert nun in der Tat mit demCO2 –Minderungsziel.
Es soll uns einmal einer erklären, wie man so schnellwie möglich Kernkraftwerke abstellen will, wenn manauf der anderen Seite aber überhaupt nicht die Kapazi-täten hat, um die Energieversorgung sicherzustellen. Dasgeht nur mit dem Einsatz von mehr Kohle, das geht nurmit der Aktivierung alter Kraftwerke, und das geht nurmit einem höheren CO2-Ausstoß. Das ist widersprüch-lich bis ins Tezett.
Zwischen den vollmundigen Ankündigungen einerökologischen Erneuerung Deutschlands, wie Sie dasimmer zu nennen pflegen, und der mageren Regierungs-erklärung des Kanzlers, überflüssige Umweltschutzvor-schriften zu streichen, um damit die Regelungsdichte zuvermindern, liegen nun einmal Welten. Was will dieseneue Koalition eigentlich in der Umweltpolitik, frage ichmich. Der Nebel hat sich auch nach der Regierungser-klärung in keiner Weise gelichtet. Alte Kamellen aller-orts, allerdings ohne Struktur. Weder bei der Bio- undGentechnologie noch in der Abfallwirtschaft ist eine Li-nie zu sehen – auch nicht, wenn es um das Thema In-strumente im Umweltbereich geht.Schauen Sie sich doch nur einmal die Formulierung – Formulierungen muß man sagen; man hat dem Themabreiten Raum zugemessen, ohne daß viel drinsteht –zum Thema Bio- und Gentechnologie an. Aus jederFormulierung spricht das gegenseitige Mißtrauen. DerObersatz, daß man Bio- und Gentechnologie durchauseinen Stellenwert einräumen müsse, ist wahrscheinlichvon der SPD. Die Konditionierungen – die Spiegelstri-che – sind offensichtlich von den Grünen, aber genausoschwammig. So stellt es sich auch dar, wenn man dieDebatte zur Regierungserklärung verfolgt.Frau Bulmahn hat uns eben erklärt, sie wolle überAufklärung Akzeptanz für diese Technologie erreichen.Auf der anderen Seite hat Herr Trittin in der „Welt amSonntag“ vom 8. November 1998 bereits erklärt, erwolle das Gentechnikgesetz verschärfen. Das sind Wi-dersprüche. Es geht nach dem Motto: Fortschritt – jabitte, aber ohne Risiko. Natürlich muß man mit Technikverantwortungsvoll umgehen
und Risiken minimieren.
Das haben wir auch immer gesagt. Aber Sie könnennicht jedes Risiko ausschalten. Und genau das machenSie mit den Formulierungen in Ihren Erklärungen.
Wer jedes Risiko ausschalten will, vergibt alle Chancen.Sie müssen endlich einmal lernen, daß das so nicht geht.
Oder schauen Sie sich die Kreislaufwirtschaft an.Ich war schon sehr erstaunt, wie mager die Äußerungennach dem, was wir in der letzten Legislaturperiode ge-hört haben, zu diesem Thema waren. Da steht der Satz – ich zitiere –: „Zur Abfallvermeidung und Stärkung derProduktverantwortung sind vor allem ökonomische An-reize notwendig.“
Erstens. Als wir das Kreislaufwirtschafts- und Ab-fallgesetz auf den Weg gebracht haben, ist das von Ih-nen blockiert worden.Zweitens. Fragen Sie doch einmal die Bürgerinnenund Bürger, die unter der Höhe der Müllgebühren äch-zen, was Sie davon halten, wenn Sie an der Stelle vonzusätzlichen „ökonomischen Anreizen“, also von Ver-teuerungen, reden! Wahrscheinlich ist Ihnen noch garnicht aufgefallen, daß eben auch das eine Lenkung ist.Oder schauen Sie sich einmal das Thema Duales Systeman!
Beim Dualen System haben wir eine Preisstaffelung, diedem Material entsprechend greift, das heißt, je ökologi-scher, desto billiger das Material. Auch das ist eine Len-kung über den Preis, die man eingeführt hat. Das be-deutet, daß Lenkung über den Preis längst Realität ist.
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Griefahn?
Bitte.
Frau Kollegin, bei der Art,wie Sie die Problematik der Abfallgebühren angespro-chen haben, haben Sie nicht zugegeben, daß die Kalku-lationen, die gerade durch Ihre Regierung verursachtworden sind, zum Beispiel durch den gewaltigen Aus-bau der Müllverbrennungsanlagen, dazu geführt haben,daß die Preise enorm in die Höhe gegangen sind.
In den Gebieten, wo das nicht gemacht worden ist undwo eine sinnvolle Planung gemacht worden ist, die aufeine zukünftige Produktion von Gütern, die tatsächlichin Kreisläufe geführt werden können, ausgerichtet ist,sind die Preise noch erträglich.Birgit Homburger
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296 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998
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Frau Kollegin Griefahn,
ich habe den Eindruck, wir leben in absolut unterschied-
lichen Welten. Wenn Sie sich einmal vor Augen führen,
wie die Situation Anfang der 90er Jahre war, dann wer-
den Sie sehen, daß wir damals alle von Müllbergen ge-
sprochen haben und daß wir alle nicht mehr gewußt ha-
ben, wie wir das Problem bewältigen sollen. Damals
sind die Deponien übergelaufen; es waren nicht genü-
gend Müllheizkraftwerke vorhanden. Zu Beginn des In-
krafttretens der Verpackungsverordnung und des Kreis-
laufwirtschafts- und Abfallgesetzes bestand wirklich ei-
ne Situation, die unhaltbar war.
Was ist zwischenzeitlich geschehen? Die Müllmen-
gen sind drastisch zurückgegangen. Wir haben mit unse-
rer Politik, mit der Einführung der Kreislaufwirtschaft,
den Bau von zig Müllheizkraftwerken unnötig gemacht
und damit den Gebührenzahlerinnen und Gebührenzah-
lern Milliardenbeträge erspart, die auf Grund unserer
Politik nicht investiert werden mußten. Das ist die Rea-
lität. Auch das müssen Sie bitte einmal zur Kenntnis
nehmen.
Das Fazit der ersten Diskussionsrunde um die um-
weltpolitischen Maßnahmen lautet also: Wenn man sich
diese Koalitionsvereinbarung ansieht, dann erkennt man,
daß nichts ausdiskutiert ist. Nur eines ist ganz klar fest-
gelegt: Der Umweltschutz wird mißbraucht. Wer näm-
lich einem Bündel von Steuererhöhungen, die zur Fi-
nanzierung von Wahlversprechen auf ganz anderem Ge-
biet eingesetzt werden, das Etikett „ökologisch“ auf-
klebt, der verspielt den Kredit, den der Umweltschutz-
gedanke in der Bevölkerung heute genießt.
In drei Jahrzehnten haben alle amtierenden Bundes-
regierungen durch Gesetze, durch Werbung und Aufklä-
rung zur Bildung eines positiven Umweltbewußtseins
beigetragen. Das heute in der Bevölkerung verbreitete
Interesse, ja das Engagement, sogar die Opferbereit-
schaft für den Schutz der Umwelt sind ein Ergebnis die-
ser Politik und keine Selbstverständlichkeit. Wenn also
Ökologie als süßer Verführer benutzt wird, um bittere
Pillen leichter verabreichen zu können, dann schadet das
der Akzeptanz von Umweltpolitik schlechthin. Sie ha-
ben in der Umweltpolitik einen glatten Fehlstart hinge-
legt.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Ulrike Mehl.
Frau Präsidentin! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Frau Kollegin Homburger, ichfinde es lustig, daß Sie eben sagten: Ich glaube, wir le-ben in verschiedenen Welten. Das habe ich oft gedacht,wenn ich Sie reden hörte, als wir in der Opposition wa-ren. Nun machen wir das einmal mit umgekehrten Vor-zeichen. Es ist schön, daß Ihnen der Satz auch eingefal-len ist.
– Sie haben auch recht. Ich glaube, wir leben in der Tatin verschiedenen Welten, und ich freue mich darauf, daßwir jetzt über neue Perspektiven der Umweltpolitiksprechen können und nicht immer nur Defizite, Ver-säumnisse und Stillstand anprangern müssen.
Wir, die SPD und die Bündnisgrünen, werden ge-meinsam mit dieser Bundesregierung beweisen, daß wires besser machen können
und daß mit der Stagnation und sogar dem Rückschrittder letzten Jahre Schluß ist. Wir wollen eine zukunfts-weisende Umweltpolitik. Frau Homburger, wir diskutie-ren ja heute nicht zum erstenmal darüber. Sie wissenschon, was wir einbringen werden. Ganz so nebulös, wieSie es beschrieben haben, ist es für Sie sicherlich nicht.
Wir wollen jedenfalls nicht, daß uns die EuropäischeUnion überholt, die Sie nämlich erst durch Mahnungender Kommission oder durch Urteile des EuropäischenGerichtshofs auf Trab gebracht hat.
Da gibt es einige Richtlinien, die Sie unzureichend oderüberhaupt nicht umgesetzt haben, weswegen Sie vordem Europäischen Gerichtshof standen oder dies zu-mindest angedroht wurde.Wir wollen keine Umwelt- und Energiepolitik, dieunseren Kindern und Enkeln untragbare Risiken über-läßt. Deshalb steigen wir aus der Atomwirtschaft ausund in die ökologische Steuerreform ein.
Wir wollen den Beweis dafür liefern, daß wirksameUmweltpolitik eben nicht den Standort Deutschland ge-fährdet. Im Gegenteil, wir werden zeigen, daß die Ver-knüpfung von Arbeit und Umwelt zum Motor für einneues, umweltverträgliches Wirtschaften und zu einemAnreiz für neue Technologien und Dienstleistungenwird. Wir wollen neuen Fortschritt konkret machen.
Wir schaffen mit dem Einstieg in die ökologischeSteuerreform – selbst wenn ich dazu sagen muß, daßich mir persönlich einen mutigeren Start gewünschthätte – einen Anreiz zu Energieeinsparung und Ressour-censchonung. Dieses Geld nutzen wir nicht zum Stopfenvon Haushaltslöchern, sondern zur Senkung der Lohn-nebenkosten und damit zur Verschränkung von Arbeitund Umwelt. Das ist schon lange überfällig.
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Ich bin der festen Überzeugung, daß sich der Erfolgdieser Bundesregierung nicht nur an der erfolgreichenBekämpfung der Arbeitslosigkeit messen lassen muß.An der Schwelle zum nächsten Jahrtausend stehen wirnoch vor ganz anderen Herausforderungen. Um dieweltweiten Probleme – Klimaveränderungen, Ozonaus-dünnung, Wasserverschmutzung, Versauerung von Bö-den und die Probleme des Meeresschutzes – in den Griffzu bekommen, muß es uns schnellstens gelingen – dasStichwort ist mehrfach genannt worden –, das Leitbildder Agenda 21, die nachhaltige Entwicklung, umzuset-zen. Das ist dann auch die beste Wirtschafts- und Be-schäftigungspolitik.Wir werden nicht darauf warten, bis uns die Wissen-schaft die letzten Beweise für Umweltkatastrophen lie-fert, wie wir das an einigen Beispielen sehen können.Klimaschutzpolitik darf nicht zu einem Kuhhandel ver-kommen, bei dem CO2-Minderungspotentiale gegenheiße Luft getauscht werden.
Wir brauchen eine zwischenstaatliche und nationaleFeinabstimmung der Umweltvorsorge. Das beweist auchdas katastrophale Unglück der „Pallas“ im Wattenmeer,das heute schon mehrmals genannt worden ist. Wir wer-den dieses Thema in der nächsten Woche im Umwelt-ausschuß auf der Tagesordnung haben.
Wir werden uns die Problematik genauestens anse-hen, und im übrigen traue ich dem Kollegen Carstensenzu, daß es ihm tatsächlich ums Thema geht. Auch stehtfür uns nicht die Schuldfrage im Mittelpunkt; denn dannmüßten Sie, die Sie bisher für diesen Bereich zuständiggewesen sind, mit an den Pranger.
Vielmehr wäre es schön, wenn wir klären könnten, wiewir das gemeinsam umsetzen, was wir seit Jahren for-dern, nämlich eine europäische Coast guard zu schaffen.Dabei können Sie uns gern unterstützen.
Die Umweltpolitik ist eine Querschnittsaufgabe. Siemuß zum integralen Bestandteil aller sozialen, wirt-schaftlichen und politischen Bereiche werden. Dazubrauchen wir auch eine Umweltbildungsoffensive, dieeine Grundlage für neue Ideen und kreative Lösungenschafft, aber auch den Spalt zwischen Wissen und Han-deln beseitigt, den wir in der Umweltpolitik immer be-klagen.Um diesen wichtigen Weg hin zu einer nachhaltigenWirtschaft einschlagen zu können, bietet der ausgehan-delte Koalitionsvertrag durchaus eine gute Grundlage.Ich möchte die wichtigsten Punkte in aller Kürze an-sprechen.Erstens. Wir werden gemeinsam mit den unter-schiedlichen gesellschaftlichen Gruppen eine nationaleNachhaltigkeitsstrategie, eine nationale Agenda 21, er-arbeiten, in der anspruchsvolle Ziele festgelegt werden,deren Erreichen an Hand von nachvollziehbaren Krite-rien und zeitlichen Vorgaben überprüfbar gemacht wird.Dazu werden wir auf die Ergebnisse der Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt“zurückgreifen und auf ihnen aufbauen.Zweitens. Wir werden das zersplitterte Umweltrechtin einem Umweltgesetzbuch zusammenfassen. Um-weltrecht muß zum einen überschaubar und zum ande-ren für alle Betroffenen auch wirklich verstehbar sein.Das soll aber bitte ohne Zurückfahren der vorhandenenStandards geschehen – eher im Gegenteil.
Herr Kollege Lippold hatte es angesprochen: Wir setzendabei auch auf freiwillige Selbstverpflichtungen; die ha-ben wir nie in Bausch und Bogen verdammt.
Wir müssen aber die Standards erhalten. Das ist derPunkt.
Wir müssen dies kontrollieren können. Es reicht nicht,wenn diejenigen, die sich freiwillig selbst verpflichtethaben, zwar erklären, daß sie das Ziel erreicht haben,das aber gar nicht kontrollierbar ist.
Hier sollte übrigens nach unserer Auffassung die Bun-desregierung mit einem guten Beispiel vorangehen. Einwichtiges Instrument ist das Öko-Audit. Auch die öf-fentlichen Verwaltungen können es jetzt anwenden. Ichmeine, daß die Bundesregierung dies auf allen Felderntun sollte, um damit auch eine Vorbildfunktion für Län-der und Kommunen wahrzunehmen.Drittens. Wir werden uns für eine Vorsorgepolitikbeim Gewässerschutz stark machen. Wir müssen Ober-flächen- und Grundwasserschutz unter Anwendung derbesten verfügbaren Technik EG-weit durchsetzen
und zum Ökosystemschutz ausbauen. Das Thema stehtschon in nächster Zeit im Zusammenhang mit der Was-ser-Rahmenrichtlinie auf der Tagesordnung. Wir werdenda die Anregungen des Europäischen Parlaments gerneaufgreifen.Viertens. Auch der Bodenschutz muß stärker amVorsorgeprinzip ausgerichtet werden. Dazu werden wirgemeinsam mit den Ländern die Entwürfe der Boden-schutz- und Altlastenverordnung überarbeiten und Kon-zepte zur Entsiegelung und Renaturierung von Flächeneinbeziehen.Fünftens. Wir werden mit der KreislaufwirtschaftErnst machen – das können wir uns, Frau Kolle-Ulrike Mehl
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gin Homburger, dann ja gemeinsam im Ausschuß an-schauen –, auf den Aufbau von Stoffkreisläufen in derindustriellen Produktion setzen und die ökologische Ge-staltung von Produkten fördern. Dieser Bereich ist näm-lich absolut unterentwickelt.
Sechstens. Wir werden das Bundesnaturschutzge-setz novellieren und die Ziele und Grundsätze neu fas-sen, indem wir einen Vorrang für Naturschutz auf min-destens 10 Prozent der Fläche verwirklichen,
um das europäische Biotopverbundsystem Natura 2000voranzubringen, das Verbandsklagerecht für anerkannteNaturschutzverbände verankern und den Ausverkaufvon Schutzgebieten in den neuen Bundesländern stop-pen.
Im übrigen brauchen wir ein neues Konzept für die Si-cherung unseres nationalen Naturerbes. Es muß darüberdiskutiert werden, in welcher Form das geschehen kann.Eine bundesweite Stiftung ist sicherlich nicht dieschlechteste Lösung, aber das muß noch geklärt werden. Um längerfristig eine flächendeckend umwelt-freundliche Land- und Forstwirtschaft zu verwirkli-chen,
werden wir gemeinsam mit den Land- und Forstwirten,Herr Kollege, die gute fachliche Praxis konkretisierenund Möglichkeiten eröffnen, ökologische Leistungen zuhonorieren. Das ist immer unser Ziel gewesen. Dazuwollen wir die Gemeinschaftsaufgabe Agrarstruktur undKüstenschutz und die Chancen der Agenda 2000 nutzen.
Siebtens. Wir werden auch – das haben wir in denganzen Diskussionen um das Energiewirtschaftsgesetzimmer gefordert – endlich erneuerbare Energien sostark fördern, wie es angemessen ist, und die enormenPotentiale zur Energieeinsparung im Gebäudebereichnutzen, für den Ausbau der Kraft-Wärme-Koppelungsorgen und ein 100 000-Dächer-Solarprogramm in Gangbringen.
Wir werden auch die Marktchancen für regenerative undheimische Energien verbessern. Bei Ihnen stand dasimmer nur auf dem Papier; in der Wirklichkeit ist esnicht umgesetzt worden. Wir werden das jetzt tun.
Achtens. Wir werden uns international für anspruchs-volle Umweltqualitätsziele und gegen Umweltdumpingeinsetzen. Umweltstandards müssen auch in die Politikder WTO, des IWF, der Weltbank und in das Multilate-rale Investitionsabkommen integriert werden. Das ist so,wie es jetzt vorliegt, noch nicht diskutabel.
Ich komme zum Schluß. Liebe Kolleginnen undKollegen, wir müssen die drängenden Umweltproblemeendlich anpacken und den Umbau zum nachhaltig um-weltverträglichen Wirtschaften einleiten. Das geht na-türlich nicht in drei Wochen, auch nicht in drei Monaten.Deutschland muß aber endlich die praktische Umset-zung einer Nachhaltigkeitspolitik in der ersten Reihevollziehen und nicht nur auf dem Papier Versprechun-gen machen. Das werden wir tun.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Angela Marquardt.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Erfreut habe ich doch zur Kenntnisgenommen, wie oft über die Perspektiven von jungenMenschen in den letzten Tagen gesprochen wurde.Wenn dann allerdings in der Regierungserklärung dieBegriffe Natur- und Umweltschutz überhaupt nicht vor-kommen und Kanzler Schröder sagt, ökonomische Lei-stungsfähigkeit sei der Anfang von allem, so sind an ihmlangjährige Diskussionen auch unter jungen Leutenwohl spurlos vorbeigegangen. Denn nicht die Ökono-mie, sondern die natürlichen Grundlagen sind der An-fang von allem. So ist es nicht verwunderlich, daß dieEnttäuschung über die fehlende Konsequenz der Um-weltpolitik der neuen Regierung bei den im Umweltbe-reich Engagierten und den Verbänden nicht zu überhö-ren ist.
Den Koalitionsvertrag bezeichnet der BUND zu Rechtals Pakt der Halbherzigen.
Natürlich erkennen wir an, daß Sie sich in den Berei-chen des klassischen Natur- und Umweltschutzes und imUmweltrecht neue und teilweise auch ehrgeizige Zielegesetzt haben: das Vorhaben, ein ausgedehntes Biotop-Verbundsystem zu schaffen, oder der Stopp des Ausver-kaufs von Schutzgebieten in den neuen Bundesländern.
Jedoch steht für mich zum Beispiel die Aussage zurBio- und Gentechnologie im Kontrast zu solchen kon-kreten Festlegungen. Die verantwortbaren Innovati-onspotentiale dieser Technologien hervorzuheben undzugleich den frommen Wunsch nach angemessenemRaum für alternative Verfahren zu äußern, das klingt fürmich nach einem ganz faulen Kompromiß auf Kostender Ökologie.
Ulrike Mehl
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Die ökologischen Gefahren von Feldfreisetzung und vonfaktischen Freisetzungen in den Sicherheitsstufen S 1und S 2 nach dem Gentechnikgesetz sind oftmals doku-mentiert. Der wirkliche Stopp sämtlicher Freisetzungenund die Verschärfung des Gentechnikgesetzes wärenhier und EU-weit die richtigen Zielsetzungen gewesen.
Lassen Sie mich drei Punkte herausheben:Natürlich unterstützen wir Ihre Bemühungen, denAusstieg aus der Atomenergie innerhalb dieser Legis-laturperiode umfassend und unumkehrbar gesetzlich zuregeln. Allerdings hätten wir doch schon gerne konkre-tere Ausstiegsfristen gehört – in guter Erinnerung an deneinmal gefaßten 10-Jahres-Beschluß der SPD. Auchvermissen wir Festlegungen zum Abschalten vonSchrottmeilern, die weit älter als 18 oder 19 Jahre sind,und zur Endlagerfrage. Ebenfalls hörten wir nichts überdie Beendigung der Genehmigungsverfahren für die Pi-lotkonditionierungsanlage in Gorleben und den SchachtKonrad. Werden Sie deren Inbetriebnahme verhindern?Wir hoffen, daß es nicht bei Ihren vollmundigen Aus-stiegsbekundungen bleiben wird. Wir fordern einen zeit-nahen Einstieg in den Ausstieg.
Nehmen wir auch die Ökosteuer. Was als Königs-weg hin zu einer nachhaltigen Wirtschaftsweise inklusi-ve der Lösung der Arbeitsmarktprobleme und der Sanie-rung der Sozialversicherungssysteme verkauft wird undwas auch ein dem ökologischen Umbau dienendes In-strument sein könnte, endet leider wie immer unter demDruck von Industrie und Lobbygruppen als reine Entla-stungsdiskussion. Kein Wort mehr über die Verwendungeines Teils der Einnahmen aus höheren Energiepreisenfür den ökologischen Umbau! Diese Ökosteuer aufSamtpfoten wird nicht den notwendigen Druck in Rich-tung Energieeinsparung, effizientere Energienutzungund Modernisierung der Produktionsstrukturen entfalten.Vor allem aber fehlt diesem Konzept aus Sicht der PDSjede soziale Kompensation, wie etwa die Förderung ei-nes flächendeckenden, preiswerten ÖPNV aus den Mit-teln der Benzinpreiserhöhung, was ja möglich wäre.
Als letzter Punkt, ganz aktuell: die Klimapolitik.Schon im Vorfeld der gerade stattfindenden Konferenzin Buenos Aires hat sich Umweltminister Trittin bewußtin die Kontinuität der Vorgängerregierung gestellt. Al-lein die Verabschiedung eines verbindlichen Zeit- undArbeitsplans hält er nun schon für einen Erfolg. Im Ge-gensatz zu Umweltverbänden und dem umweltpoliti-schen Sprecher der Grünen ist er der Ansicht, daß bis zu50 Prozent der Reduktion aus den sogenannten flexiblenInstrumenten bestritten werden könnten.
Lassen Sie mich zum Schluß sagen: So sieht für unseine konsequente Klimapolitik nicht aus. Wir meinen: Jeleichter die Industriestaaten – immerhin Hauptverursa-cher der Klimaveränderungen – ihre nationalen Pflichtenauf billigem Wege im Ausland erfüllen können, um somehr schwindet der Druck, die eigene Art des Wirt-schaftens und des Lebensstils auch hier in Deutschlandzu verändern. Wir erwarten, daß Deutschland auf EU-Ebene auf eine anspruchsvolle Regelung hinwirkt, umdie selbstgesetzten Reduktionsziele zu erreichen, dieReduzierung aus den flexiblen Instrumenten auf höch-stens 30 Prozent festzuschreiben und in diesem SinneDruck auf die USA auszuüben.Ein persönlicher Satz zum Schluß: Das wäre für michdas mindeste, um wirklich zu einem Politikwechsel zukommen – und nicht nur zu einem Regierungswechsel.Für diesen Politikwechsel möchte ich hier in diesemHause in den nächsten vier Jahren streiten, egal wie oftich persönlich noch in einem Verfassungsschutzberichtauftauchen werde.
Liebe Frau
Kollegin Marquardt, ich möchte auch Ihnen im Namen
des Hauses zu Ihrer ersten Rede gratulieren.
Ich erteile nun dem Abgeordneten Michael Müller
das Wort.
Frau Präsiden-tin! Meine Damen und Herren! Es ist richtig, daß dieKoalitionsvereinbarung die ökologische Modernisie-rung in das Zentrum der zukünftigen Politik stellt. Daswird von der SPD als die richtige Antwort auf die Pro-bleme unserer Zeit angesehen. Ich sage Ihnen: Die öko-logische Modernisierung ist in dreierlei Hinsicht vonzentraler Bedeutung:Erstens. Sie ist die Chance für einen neuen Konsensin unserer Gesellschaft. Diesen Konsens gibt es bei-spielsweise in der Frage des Ausstiegs aus der Atom-kraft schon lange. Das muß jetzt auch im BundestagKonsens werden, wo er bisher verhindert wurde.
Zweitens. Die ökologische Modernisierung ist diegroße Chance für die Erneuerung der Gesellschaft undvor allem für die Weckung der kreativen Kräfte in unse-rer Gesellschaft. Ökologische Modernisierung heißtnämlich, kreativ neue Ansätze zu entwickeln und dabeiauch den Faktor Arbeit zu stärken.Drittens. Wir werden auf keinen Fall eine Politik un-terstützen – eine solche haben wir in der Vergangenheitleider oft erlebt –, in der Arbeit gegen Umwelt ausge-spielt wird. Im Gegenteil: Es wird ein Kernbereich unse-rer Politik sein, Arbeit und Umwelt zusammenzuführenund beides als zwei Seiten eines Problems zu betrachten,Angela Marquardt
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nämlich die Umweltzerstörung zu bekämpfen undgleichzeitig die Arbeitsplatzvernichtung zu stoppen.
Es geht um die zentrale Frage: Wie sieht eine zu-kunftsfähige Wirtschaftsordnung aus? Der Kern derökologischen Modernisierung liegt darin, ein modernesFortschrittsmodell zu entwickeln, statt beispielsweise inder Umweltpolitik die öffentliche Verordnungswirt-schaft durch eine private Verordnungswirtschaft zu er-setzen, wie wir dies in den letzten Jahren erlebt haben.Das ist nicht unser Weg. Der Einstieg in die ökologischeSteuerreform ist von zentraler Bedeutung, weil damitökologische Entscheidungen sinnvollerweise direkt indie Wirtschaftsprozesse einbezogen werden.
Ich meine allerdings, daß die ökologische Steuerre-form nicht das einzige Instrument sein kann. Sie ist einwichtiger Weg. Ich würde sie aber nicht als den Kö-nigsweg bezeichnen. Ich glaube auch, daß das kaum je-mand tut. Sie ist vielmehr eine notwendige, aber nochkeine hinreichende Bedingung, um die ökologische Mo-dernisierung in Gang zu bringen. Gerade wer beispiels-weise die soziale Verträglichkeit ernst nimmt, muß mitder ökologischen Steuerreform weitere Instrumente ver-binden. Auch das werden wir tun.
Von zentraler Bedeutung ist es also, die beiden gro-ßen Krebsübel unserer Zeit, nämlich die Probleme derArbeitsplatzvernichtung und der Umweltzerstörung,gemeinsam zu lösen. Deshalb sage ich in Richtung Bun-desregierung: Für die SPD ist es wichtig, in das Bündnisfür Arbeit auch die ökologischen Fragen einzubeziehen.Wir halten es für richtig, ein Bündnis für Arbeit undUmwelt zu schaffen, um nicht von vornherein in derGesellschaft neue und falsche Fronten aufzubauen.
Meiner Meinung nach gleicht die Situation, in dersich die neue Regierung befindet, in etwa einem Such-prozeß.
Wir sind aufgefordert, einen gesellschaftlichen Konsenszu erreichen und neue Wege zu gehen. Denn – ich glau-be, das war der entscheidende Grund für die Wahlnie-derlage der alten Regierung – die Menschen wissen, umes mit Erich Kästner zu sagen, daß es auf keinen Fall soweiterging, wenn es weitergegangen wäre. Jetzt gibt essozusagen eine Suchbewegung dahin gehend, wie wir inder Gesellschaft wieder zu mehr Verständigung, zumehr Modernisierung und vor allem zu mehr Solidaritätkommen. Auch eine neue Solidarität ist ein ganz wichti-ger Punkt. Die ökologische Modernisierung kann hiereine zentrale Rolle spielen.
Aus meiner Sicht gibt es drei zentrale Herausforde-rungen an die künftige Politik. Das ist erstens die großeKrise der Erwerbsarbeit. Wir erleben heute, daß sichdie Produktivität einseitig auf die Verdrängung desFaktors Arbeit richtet, weil die Produktivität weit höherals die Nachfrage ist. Wenn man das hinnimmt, bedeutetdas, auch die Massenarbeitslosigkeit hinzunehmen. Daswollen wir nicht.Deshalb ist die Forderung nach einem Bündnis fürArbeit und Umwelt auch die Forderung nach neuenWirtschaftsstrukturen, neuen Zukunftsmärkten, neuenProdukten und einer zukunftsfähigen Entwicklung „Ar-beit und Umwelt“ bedeutet Beschäftigungspolitik unddamit Zukunftspolitik.
Die zweite wichtige Herausforderung ist: Wir wissen,daß quantitatives Wachstum nicht mehr ausreicht, dieGesellschaft zusammenzuhalten. Wir haben die letztenJahrzehnte als Jahrzehnte erlebt, in denen Wachstum dieGesellschaft wie ein Fahrstuhl nach oben gehoben undallen mehr Chancen gegeben hat.Dieser Mechanismus funktioniert nicht mehr. DieZukunft zu gestalten bedeutet, daß Wachsen undSchrumpfen gleichermaßen stattfinden müssen. DerErnstfall für diese neue wirtschaftspolitische Strategiewird der Umstieg in der Energiepolitik sein. Wir müs-sen ein systematisches Schrumpfen der Atomenergie beieinem gleichzeitigen Wachsen von Effizienztechnologi-en und von Solarwirtschaft erreichen. Das heißt, Wach-sen und Schrumpfen gleichzeitig, das ist unsere Strate-gie.
Im Zusammenhang damit, daß quantitatives Wachs-tum nicht mehr ausreicht, ist auch von großer Bedeu-tung, daß wir lernen, mit Grenzen umzugehen. Das istfür die moderne Zivilisation eine völlig neue Herausfor-derung. Ökologie bedeutet auch, sich selbst zurückzu-nehmen, Solidarität nicht nur mit den gegenwärtigenGenerationen, sondern auch mit künftigen Generationenzu üben und vor allem zu begreifen, daß die Einführungeiner Zukunftsverantwortung in die Gegenwart eineGrundlage für die Stabilität der Ökonomie, für Beschäf-tigung und für soziale Solidarität sein wird.Zu lernen, mit Grenzen umzugehen, das ist die großekulturelle Herausforderung für unsere Gesellschaft. Undsie ist vor allem eine ökologische Herausforderung.
Als dritte Herausforderung haben wir es mit den invielen Bereichen sichtbaren Grenzen des Nationalstaatszu tun – vor allem in der Steuer-, in der Finanz- und inder Geldpolitik. Wir müssen wissen, mit welchen Mit-teln wir die Globalisierung gestalten können.Aus meiner Sicht ist die Leitidee der Nachhaltigkeitdie wichtigste Antwort, um das globale Zeitalter zu ge-stalten. Nachhaltigkeit ist ein Weg, der kein globalesRegime voraussetzt – das auch nicht kommen wird unddas auch nicht wünschenswert ist –, der aber die großeChance eröffnet, daß überall in der Welt gesellschaftli-Michael Müller
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che Gruppen, Städte, Wirtschaftsvereinigungen und Re-gierungen mit unterschiedlichen Maßnahmen für dassel-be Ziel, nämlich das Ziel einer dauerhaften Entwicklung,arbeiten.Nachhaltigkeit ist die große Chance, in einer Welt,die noch keine Regel hat, auf die Gefahr eines entfes-selten neuen Weltkapitalismus, der uns in die Kriseführt, neue soziale und ökologische Antworten zu gebenund damit Stabilität, Frieden und Demokratie zu sichern.Es ist eine Zukunftschance!
Diese Herausforderung stellt sich in besonderer Wei-se an Europa. Max Horkheimer hat in den 60er Jahrendie Frage gestellt: Setzt sich in Europa der Gedanke vonRationalität, Vernunft und Aufklärung fort? Der Para-digmawechsel hin zu einer sozial-ökologischen Wirt-schaftsentwicklung ist die große Chance für Europa.Ich halte weder den amerikanischen Weg des Indivi-dualkapitalismus
noch das asiatische Modell, das zentralistisch von obendirigiert, für zukunftsfähig.Ich sehe vielleicht eine große Chance für Europa, dasdamit auch ein Vorbild für eine sozial-ökologischeWeltinnenpolitik sein kann. Das ist das Modell, das wirwollen. Es ist auch im Sinne von Weizsäcker und wirduns voranbringen.
In den 30er Jahren hat Franklin D. Roosevelt nach dergroßen Weltwirtschaftskrise gesagt: AußergewöhnlicheHerausforderungen brauchen auch außergewöhnlicheAntworten. Das ist richtig und gilt auch noch heute. Des-halb wird die entscheidende Frage für uns sein: Sind wirfähig, nicht nur zu reagieren, sondern auch ein sozialöko-logisches Bündnis in unserer Gesellschaft zu erreichen?Folgende Fragen stellen sich konkret: Wie setzen wirden Prozeß von Rio fort? Wie füllen wir konkret dieDebatte zur Agenda 21? Und vor allem: Wie mobilisie-ren wir unsererer Gesellschaft mehr Demokratie undmehr Mitbestimmung, um neue Wege gehen zu kön-nen? Denn wir wissen, die ökologische Modernisierungwird nur erreichbar sein, wenn mehr Demokratie mög-lich wird, wenn die Menschen mitziehen, wenn sie se-hen, daß die Veränderungen gerecht und solidarisch or-ganisiert werden. Das heißt, daß Ökologie nicht ein Ge-gensatz zur bisherigen sozialstaatlichen Politik diesesJahrhunderts ist, sondern eine Fortsetzung und Erweite-rung. Sie ist die große Zukunftschance. Wir werden inder neuen Regierung im Bündnis zwischen sozialen undökologischen Reformen diesen Weg solidarisch undvertrauensvoll gehen.Vielen Dank.
Danke schön.
– Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereich
liegen nicht vor.
Wir kommen nun zu dem letzten Themenbereich für
den heutigen Tag, zum Thema Landwirtschaft.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abge-
ordnete Horst Seehofer.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Ich stelle eine gewisse Über-raschung fest. Deswegen möchte ich hier mein erstesErlebnis, das ich als Gesundheitsminister mit den Zahn-ärzten hatte, wiedergeben. Die Zahnärzte waren damalsauch überrascht und haben mir die Frage gestellt: HabenSie schon jemals einen Zahn gezogen? Diese Fragewurde mir nach vier Wochen nie mehr von ihnen ge-stellt.
Nun beginne ich mit der Koalitionsvereinbarung derneuen Regierung. Ländliche Räume stärken – Landwirt-schaft sichern, so lautet die Zielsetzung von SPD undGrünen.Wie sieht die Realität aus? In der Regierungserklä-rung des neuen Bundeskanzlers kein Wort zu denstrukturellen und wirtschaftlichen Problemen der Land-und Forstwirtschaft und ihren in der überwiegendenZahl bäuerlichen Familienbetrieben. Kein Wort in dieserRegierungserklärung zu den wirtschaftlichen, gesell-schaftlichen und ökologischen Leistungen der Landwirt-schaft. Kein Wort zur Versorgung der Bevölkerung mitProdukten, die in Deutschland höchsten gesundheitli-chen Standards und den Verbraucherinteressen entspre-chen.
In der Regierungserklärung kein Wort zu den weitge-hend unentgeltlich erbrachten Leistungen der Bauern fürNatur- und Landschaftspflege
und auch kein Wort zur Nutzung landwirtschaftlicherRohstoffe für regenerative Energien.
Meine Damen und Herren, wenn an der Schwellezum 21. Jahrhundert in einer Regierungserklärung, dieAufbruchstimmung auslösen soll, zu einem der wichtig-sten Wirtschaftszweige unseres Landes, zu den Proble-men der Bauern und zum Agrarstandort Deutschland, sogut wie kein Satz verloren ist, dann drückt dies denStellenwert aus, den diese Regierung den Bauern ein-räumt.
Michael Müller
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302 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998
(C)
Ich kann heute sagen: Bei dieser rotgrünen Regierunghaben die Bauern null Stellenwert, diese Regierung hatdie Bauern im Kern abgeschrieben.
Die Ausgestaltung der Agenda 2000 wird sowohl fürdie Landwirtschaft als auch für den ländlichen Raumvon größter Bedeutung sein. Auch zu diesem Punkt fin-det man im Koalitionsvertrag nur diplomatische Poesieund nichts Konkretes. Die Agenda 2000 hat existentielleBedeutung für die Zukunft der deutschen Bauern. In derKoalitionsvereinbarung findet man alleine den Satz, daßman diese Agenda 2000 fristgerecht im ersten Halbjahr1999 umsetzen will. Die eigentlichen inhaltlichen Pro-bleme, nämlich die höheren Agrarkosten, die Einkom-menseinbußen der Landwirte und die vermehrte Büro-kratie, die mit dieser Agenda verbunden sind, werdenmit keinem Wort erwähnt.Wenn ich nun sehe, daß die Agenda 2000 in der Re-gierungserklärung nicht erwähnt wird, daß in der Koali-tionsvereinbarung auf eine fristgerechte Umsetzung derAgenda Wert gelegt wird, aber zu den inhaltlichen Pro-blemen der Agenda für die deutschen Bauern und denländlichen Raum kein Wort verloren wird, dann müssenwir von einer Grundzustimmung, Herr Minister, zu denKommissionsvorschlägen ausgehen, obwohl – daraufmöchte ich hinweisen – eine Sonderagrarministerkonfe-renz am 28. Mai 1998, an der Sie teilgenommen haben,einstimmig, ferner die Ministerpräsidenten aller Bun-desländer ebenfalls einstimmig und schließlich auch derBundesrat noch im Juni dieses Jahres wiederum ein-stimmig die Agenda 2000 abgelehnt haben
Die agrarpolitischen Vorschläge in der Agenda 2000wurden zurückgewiesen, und damals haben sowohl dieAgrarminister als auch die Ministerpräsidenten wie derBundesrat festgelegt, daß die Agenda 2000 so überar-beitet werden muß, daß einseitige Belastungen und Be-nachteiligungen der deutschen Landwirtschaft vermie-den werden sowie die Funktionsfähigkeit der ländlichenRäume erhalten bleibt.
Meine Damen und Herren, wenn man im Juni diesesJahres, wenige Wochen vor der Bundestagswahl, wenigeWochen vor der bayerischen Landtagswahl, bei der die-se Frage eine wesentliche Rolle gespielt hat, noch ein-hellig die Agenda 2000 in ihrem agrarpolitischen Teilablehnt, eine Überarbeitung einfordert und jetzt – dasmuß man aus der Regierungserklärung und der Koali-tionsvereinbarung schließen – ganz offensichtlich eineGrundzustimmung zu den Kommissionsvorschlägen gibtund damit nach der Wahl auf den Kurs des KommissarsFischler einschwenkt, muß man dies als Täuschungsma-növer gegenüber den Wählern einstufen.
Das ist ein Täuschungsmanöver.Herr Landwirtschaftsminister, Sie haben heute dieMöglichkeit, dies hier zurechtzurücken. Mit Recht ha-ben sich Union und F.D.P. – ich habe das im Kabinettselbst miterlebt – gegen die vorliegende Fassung derAgenda 2000 gestemmt. Denn, meine Damen und Her-ren, die Agenda 2000 bringt auf der einen Seite höhereKosten und auf der anderen Seite weniger Einkommenfür die Landwirte. Allein im Marktordnungsbereichmüßte Deutschland rund 1,7 Milliarden DM mehr be-zahlen, würde es bei dieser Fassung bleiben, die deut-schen Nettozahlungen erhöhten sich um rund 1 MilliardeDM, und unsere Landwirte hätten gleichzeitig durch-schnittlich 10 Prozent, im Futterbau sogar deutlich mehrals 20 Prozent weniger Einkommen und insbesondereauch vermehrte Bürokratie.
Meine Damen und Herren, das ist unerträglich. Die Uni-on hat vor der Wahl gesagt, das wollen wir nicht, undwir bleiben auch nach der Wahl dabei.
Wenn darauf hingewiesen wird, eine solche Ände-rung sei wegen der Osterweiterung der EuropäischenUnion notwendig, sagen wir klar ja zur Osterweiterung.Sie ist eine einmalige historische Chance, eröffnet neuewirtschaftliche Perspektiven. Aber, meine Damen undHerren, die Osterweiterung der Europäischen Union darfnicht auf dem Rücken unserer deutschen Landwirte aus-getragen werden.
Hier, Herr Landwirtschaftsminister, wäre es sehr gutgewesen, wenn Sie sich rechtzeitig und nicht erst nach-träglich zu Wort gemeldet hätten.Natürlich brauchen wir hier lange Übergangsfristen.Aber von Übergangsfristen ist bei der Osterweiterungder Europäischen Union nur bezüglich der gewerblichenArbeitnehmer die Rede, aber nicht beim Auffangen undbeim Abfedern der Probleme in der deutschen Landwirt-schaft.
Es muß dringend nachgebessert werden.Natürlich, meine Damen und Herren, steht die Agen-da 2000 auch im Zusammenhang mit der wichtigen Fra-ge der Verhandlungen, die bei der Welthandelsorgani-sation zu diesem Gebiet anstehen. Das Ziel der Libera-lisierung der Agrarmärkte darf aber nicht bedeuten,daß die deutsche Landwirtschaft von ihren hohen Ver-braucher-, Umwelt- und Tierschutzstandards Abstrichemacht. Deshalb wäre die richtige Reihenfolge, Herr Mi-nister, daß man nicht zuerst die Agenda 2000 auf euro-päischer Ebene verwirklicht und die deutsche Landwirt-schaft in einen weltweiten Preiskampf mit dem Verlustvieler Existenzen treibt, sondern der erste Schritt, meineDamen und Herren, Herr Minister, muß sein, bei diesenVerhandlungen der Welthandelsorganisation dem euro-päischen Niveau entsprechende Gesundheits-, Umwelt-Horst Seehofer
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und Sozialstandards durchzusetzen. Das muß der ersteSchritt sein, meine Damen und Herren!
Wir wollen nicht, daß die Liberalisierung für unsereVerbraucher in Deutschland bedeutet, daß sie Produkteakzeptieren müssen, die sie nicht wollen, Hormonfleischund Milch von Turbo-Kühen, daß unsere Märkte vonsolchen Produkten überschwemmt werden. Deshalbwollen wir, daß die richtige Reihenfolge eingehaltenwird, daß man sich nicht im Vorfeld dieser Verhandlun-gen auf europäischer Ebene den Weltmarktpreisen aus-setzt, daß man die deutschen Landwirte nicht diesemruinösen Wettbewerb aussetzt, und die Standards für dieSchutzbestimmungen, die ja weltweit vereinbart werdenmüssen, nicht angleicht. Das hält kein Wirtschaftsbe-reich aus.Ich hätte es sehr gut gefunden, Herr Landwirt-schaftsminister, wenn Sie sich nicht im nachhinein, nachden Koalitionsverhandlungen, nach der Regierungser-klärung zu Wort gemeldet hätten. Beinahe täglich höreich von Nachbesserungen und davon, daß dieses oderjenes neu überlegt werden müsse.
Vielmehr hätten Sie dafür sorgen müssen, daß für dieLandwirtschaft schädliche Vereinbarungen in Ihrer Ko-alition gar nicht erst getroffen werden.
Wir brauchen keinen Landwirtschaftsminister, der sichals Reparateur betätigt, sondern jemanden, der vonvornherein vermeidet, daß überhaupt Schaden entsteht.
Das ist eine existentielle Frage für die deutschen Land-wirte. Sie haben die verdammte
Pflicht und Schuldigkeit – auch wenn wir Europa unddie Erweiterung Europas bejahen –, vitale deutsche In-teressen und damit auch die Interessen des ländlichenRaumes und der deutschen Landwirte in diesen Ver-handlungen zu vertreten.Es geht ja nicht nur um die Agenda 2000. Dazukommt noch, was wir im Bereich der Umweltpolitikvon der SPD und den Grünen gehört haben, welche Be-lastungen auf unsere Landwirte – übrigens die Umwelt-schützer Nummer eins, die größte Umweltbewegung inder Bundesrepublik Deutschland –
zukommen sollen. Weiter ist festzuhalten, was Sie imSteuerrecht an Belastungen den Landwirten aufbürdenwollen. In diesem Zusammenhang möchte ich folgendenSatz sagen: Ich verstehe manche Kommentare in der Öf-fentlichkeit überhaupt nicht, wonach es hier um einenAbbau von Steuerprivilegien bei den Landwirten gehe.Wenn ich daran denke, daß Landwirte an Sonn- undFeiertagen arbeiten und hier nicht in den Genuß vonSteuervorteilen und Abschreibungsmöglichkeiten kom-men – wie viele Arbeitnehmer –, dann fällt es mirschwer, zu verstehen, wie von einem Steuerprivileg ge-redet werden kann.
Sie von der Regierung belasten auf der einen Seitedie Landwirte überproportional, während auf der ande-ren Seite die deutschen Bauern von der Entlastung beiden Lohnnebenkosten nichts haben.
Dazu kommt die mittelbare Wirkung der Energiebe-steuerung. Wenn man im ländlichen Raum lebt, weißman, was das bedeutet – von der Benzinsteuer bis zurStromsteuer.Wenn ich diese vier Punkte zusammen nehme, dieAgenda 2000, der Sie offensichtlich in der vorliegendenForm zustimmen wollen, weil Sie der Zeitschiene denVorrang vor dem Inhalt geben, die Steuerreform mit ei-ner hemmungslosen und massiven Belastung der Land-wirte und der ländlichen Räume, die Energiebesteue-rung, die Stromsteuer, die ebenfalls wieder eine einseiti-ge Belastung der landwirtschaftlichen Existenzen undder landwirtschaftlichen Räume mit sich bringt, und dieBelastungen durch SPD und Grüne im Bereich des Um-weltrechts, dann kann ich zu keinem anderen Ergebniskommen als zu dem, daß die Bauern zu den Verlierernder neuen Regierungspolitik gehören.
Dagegen stemmen wir uns mit aller Macht.
Herr Landwirtschaftsminister, wenn ich diese Sach-verhalte der Regierungserklärung gegenüberstelle, in dervom Aufbruch die Rede ist, dann komme ich zu demSchluß: Ihre Politik für den ländlichen Raum führt nichtzum Aufbruch, sondern zur Stagnation und zum Verfall.Bei den Steuern gibt es statt Entlastung eine massiveBelastung, und, was die Verwaltungsabläufe betrifft, sogibt es nicht Vereinfachung, sondern eine massive, zu-sätzliche Bürokratie. Statt Aufbruch Verfall, statt Entla-stung Belastung, statt Vereinfachung Bürokratie.
Dies alles haben die Landwirte auszubaden.Nun kenne ich Sie ja, Herr Funke, als wir miteinanderwegen BSE zu tun hatten.
Ich möchte auch gar nicht verschweigen, daß wir da or-dentlich zusammengearbeitet haben. Sie haben eine or-dentliche Chance verdient. Wir werden Sie ganz einfachan den Zielen messen, die wir heute hier formulieren.Wir wollen nicht, daß Sie sich ständig, jeden Tag, mitHorst Seehofer
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Agenturmeldungen in der Öffentlichkeit zu Wort mel-den
und sagen, Sie hätten diesen oder jenen zur Korrektur,zur Nachbesserung aufgefordert. Vielmehr wollen wir,daß Sie das, was für die Landwirte gut ist, von vornher-ein durchsetzen.
Sie sollten nicht immer nur nachbessern und sich dannmöglicherweise feiern lassen mit der Bemerkung, Siehätten noch Schlimmeres verhindert.Nein, Herr Landwirtschaftsminister, Sie haben dieAufgabe, den Agrarstandort Deutschland in Europa zusichern.
Sie haben Ihren Beitrag dazu zu leisten, daß es eine dy-namische, unternehmerische und eigentumsorientiertebäuerliche Landwirtschaft in Deutschland auch weiter-hin gibt.
Sie haben alles zu verhindern, damit – neben demStrukturwandel, der in der bäuerlichen Landwirtschaftohnehin stattgefunden hat und auch weiterhin stattfindet– der Staat diesen Strukturwandel in der Landwirt-schaft nicht noch über die Rahmenbedingungen desSteuer- und Umweltrechtes verschärft. Das ist Ihre Auf-gabe. Daran werden wir Sie messen.
Wir sind nicht so blauäugig, zu sagen, daß es in Gegen-wart und Zukunft keinen Strukturwandel gibt. Aber esist nicht Aufgabe einer Regierung, nicht Aufgabe einesStaates, diesen Strukturwandel in der Landwirtschaftdurch eine falsche Steuer- und Umweltpolitik noch zuverschärfen.
Daran werden wir den Landwirtschaftsminister messen.Wenn Sie das erfüllen, Herr Funke, dann werden Sieunsere Unterstützung haben.
Aber bis zur Stunde haben wir noch nicht den Eindruck,daß Sie das erfüllen. Sie haben viele Ankündigungen,gerade im Steuerrecht, in die Welt gesetzt, auf Grundderen die Annahme berechtigt ist, daß Sie sich ohne dieRückkopplung mit dem Finanzminister, dem Bundes-kanzler oder dem Koalitionspartner zu Wort gemeldethaben. Wir bieten Ihnen unsere Unterstützung an, wennSie sich an den Interessen der bäuerlichen Landwirt-schaft und den deutschen Interessen in Europa orientie-ren.
Aber, Herr Landwirtschaftsminister, Sie stoßen aufden erbitterten Widerstand der CDU und der CSU, wennSie eine Politik zu Lasten der deutschen Bauern, die sichnach der Regierungserklärung und der Koalitionsverein-barung vermuten läßt, realisieren wollen – auf erbitter-ten Widerstand, das kann ich Ihnen heute ankündigen.
Ich bin da als jemand, der sechseinhalb Jahre als Mi-nister im Gesundheitsressort überlebt hat, einiges ge-wohnt.
Sie dürfen sich darauf einstellen, daß wir mit den Land-wirten und mit Ihnen einen ordentlichen Kampf führenwerden.Herzlichen Dank.
Jetzt hat HerrBundesminister Karl-Heinz Funke das Wort.Karl-Heinz Funke, Bundesminister für Ernährung,Landwirtschaft und Forsten: Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Ich nehme zurKenntnis, Herr Kollege Seehofer, daß auch Sie in IhremHause lediglich „überlebt“ haben.
Wer lediglich überlebt – das ist ja wohl der Sinn des Be-griffes –, kann nicht davon reden, daß er großartig Auf-gaben erfüllt hätte.
Ihre Selbstkritik ging da weiter als die Kritik, die ich Ih-nen gegenüber zu üben hätte.
– Was gut ist und was schlecht, möchte ich nicht alleineIhrer Beurteilung überlassen wollen. Da kämen wir sehrschnell ins kurze Gras.
Ich gebe auch zu – bevor Sie sich empören –: DerKollege Seehofer hat viel Richtiges und Neues gesagt.Nur war das Neue nicht richtig und das Richtige nichtneu.
Horst Seehofer
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Es ist doch hochbemerkenswert, daß er beanstandet hat,was in Sachen Landwirtschaft alles nicht in der Regie-rungserklärung stehe.
– Herr Kollege Seehofer, ich bin ja nicht neu – zwar hierin diesem Parlament, aber ansonsten nicht. Darum tut esgut, sich einfach einmal anzusehen – historisch Bewan-derte interessiert es auch –, was eigentlich in der Regie-rungserklärung des Jahres 1994 zur Landwirtschaftgestanden hat.
– Mit dem Zwischenruf, Herr Glos, wäre ich vorsichti-ger.Unter der Überschrift „Aufbruch in die Zukunft“ –Sie haben viel von Aufbruch geredet, aber zur Landwirt-schaft hätte viel mehr gesagt werden müssen – stand inder Regierungserklärung 1994 des damaligen Bundes-kanzlers Helmut Kohl ein einziger Satz zur Landwirt-schaft – ich zitiere –:Ich denke an die Bauern, die mit ihrer Arbeit dasBild unserer Landschaft prägen.
Nicht ein Wort mehr stand dazu, und das unter derÜberschrift „Aufbruch“! Daß Sie jetzt hier einfordern,was alles hätte drinstehen müssen, zeugt zumindest da-von, daß Sie die damalige Regierungserklärung nichtgelesen haben, Herr Kollege Seehofer.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, angenommen, derBundeskanzler hätte den Satz „Ich denke an die Bauern,die mit ihrer Arbeit das Bild unserer Landschaft prägen“so in die Regierungserklärung geschrieben und vorge-tragen, dann hätten Sie, meine Damen und Herren vonder CDU/CSU, gesagt: Siehst du, die machen die Bau-ern ausschließlich zu Landschaftsgärtnern. Ökonomiezählt nicht mehr. – Diese Kritik wäre im übrigen be-rechtigt gewesen.Aber das war die Regierungserklärung des Jahres1994. Daran gemessen haben wir in der Regierungser-klärung dieses Jahres zentrale Probleme der Agrarpolitikangesprochen; das will ich Ihnen einmal sagen.
Im übrigen: Sie sprechen von sozialen und ökologi-schen Standards, die erfüllt werden müssen, insbeson-dere in Richtung WTO. Einverstanden! Ich glaube, dar-über gibt es im ganzen Hause überhaupt keinen Streit.Aber ich wäre sehr froh gewesen, wenn – das zuzugebenfällt mir gar nicht leicht; aber auch die Grünen, auch wirSozialdemokraten haben davon gesprochen – beimGATT-Abkommen des Jahres 1994 schon im Vorfeldder Verhandlungen und vor allen Dingen beim Abschlußüber soziale und ökologische Standards gesprochenworden wäre. Das haben Sie nicht gemacht. Sie habenden GATT-Abschluß zu verantworten.Wir sind sehr wohl der Auffassung – das sprechenwir in der Koalitionsvereinbarung ausdrücklich an –,daß es auch um soziale und ökologische Standards ge-hen muß.
– Ich komme noch dazu. Warten Sie doch ab, Herr See-hofer. – Sie werden sagen: Das steht in der Koalitions-vereinbarung, wurde aber nicht in der Regierungserklä-rung angesprochen. Lesen Sie die RegierungserklärungIhres Kanzlers von 1994.
Darin steht, Herr Kollege Deß, daß der Kanzler meinte,er müsse nicht all das wiederholen, was in der Koaliti-onsvereinbarung stehe und abgemacht sei. Genau das istes. Wir können uns darauf im Grunde in jeder Weise be-ziehen.
Wenn Sie fragen „Wo war der Funke eigentlich?“,dann warten Sie einmal ab. Ich werde öfter dabeisein,wenn es Ihnen nicht paßt, als wenn es Ihnen paßt, HerrSeehofer. Warten Sie in Ruhe ab! Dafür kennen wir unsauch zu gut.
Was das Lebendgewicht anbelangt, Herr Kollege: Ichkenne Sie nicht, behaupte aber, daß wir ungefähr identi-sche Maße haben und Gewicht einbringen können. Daliegen wir so weit nicht auseinander.
Zur Agenda will ich Ihnen sagen: Ich höre mit gro-ßem Erstaunen zum erstenmal, daß Sie offensichtlichder Auffassung sind, wir sollten die Agenda verschie-ben. Nur so kann ich das interpretieren. Wir müßten Sieeinmal fragen, was Sie eigentlich damit meinen, wirmüßten die Agenda verschieben, wir sollten sie nichtverabschieden. Meine Damen und Herren, ich bitte zurKenntnis zu nehmen, was die anderen 14 Nationen derEuropäischen Union dazu sagen würden, die Agenda zuverschieben, nicht darüber zu reden. Sie wissen dochganz genau: Das hängt mit der WTO, mit Osteuropa, mitvielen Dingen zusammen. Wenn wir den Agrarteil derAgenda im nächsten halben Jahr nicht voranbringen,werden uns andere ins Stammbuch schreiben, was darinzu stehen hat. Das halte ich im Interesse der gesamteneuropäischen Landwirtschaft für nicht verantwortbar.
Das habe ich bisher im übrigen auch aus dem Mundevon CDU-Politikern gehört. Ich weiß nicht, ob das heuteabend revoziert worden ist oder nicht. Das ist der Standder Dinge.Bundesminister Karl-Heinz Funke
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Meine Damen und Herren, wir müssen einige Dingeverabschieden; der Kollege Weisheit wird Ihnen dasnoch sagen. Wollen Sie denn die Landwirtschaft wirk-lich darüber im unklaren lassen, wie die Milchpolitik ab31. März 2000 aussieht? Die Bauern wissen schon heutenicht, woran sie sind, weil Sie versäumt haben, dortklare Rahmenbedingungen zu schaffen und zu sagen,wie es ab dem 1. April 2000 weitergehen soll.
Das wissen Sie doch ganz genau. Die Bauern aus Bay-ern, aus dem Allgäu waren bei mir, um mir das vorzu-tragen. Das ist der Sachverhalt.
Herr Minister,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hor-
nung?
Karl-Heinz Funke, Bundesminister für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten: Ja, das mache ich gerne –
eigentlich.
Herr Minister, Siewaren gestern auf dem Deutschen Raiffeisentag und ha-ben dort ein Grußwort gesprochen. Ich habe aufmerk-sam zugehört und muß sagen, daß Sie dort zu der künf-tigen Agrarpolitik nichts Konkretes – auch nicht inRichtung Europa – gesagt haben.Ich habe die „dlz“ gelesen, der Sie ein fast hervorra-gendes Interview gegeben haben. Davon könnte ichviele Passagen unterstreichen. Anschließend habe ichaber dem „Ernährungsdienst“ entnommen, daß das, wasSie zuvor gesagt hatten, bereits wieder Vergangenheitist. Ich habe das heute im Internet überprüft. Dort richtetsich alles, was im Zusammenhang mit Steuerfragen an-gekündigt wird, gegen die Landwirtschaft. Meine Frageist: Wer hat recht? Was kommt auf die Bauern zu?Schon ab 1. Januar soll die Pauschalierung in Schrittenfallen. Ich hätte gern die Antwort darauf. Was ist rich-tig?Karl-Heinz Funke, Bundesminister für Ernährung,Landwirtschaft und Forsten: Nun warten Sie mal in Ru-he ab! Dann werden Sie sehr schöne – vielleicht paßtIhnen das gar nicht – Antworten auf diese Fragen be-kommen. Daß ich in einem Grußwort beim DeutschenRaiffeisenverband nicht in extenso die Agrarpolitik dar-stelle, gebietet schon der Anstand. Dann müßte ich auseinem Grußwort eine anderthalbstündige Rede machen.Das geht doch gar nicht anders.
Aber wenn Sie wollen, bin ich jederzeit bereit, auchEinzelheiten zu erläutern. Da habe ich überhaupt keineBedenken.Meine Damen und Herren, was die Agenda anbe-langt, sind wir sehr wohl der Auffassung, daß wir sie er-stens verabschieden müssen und daß es zweitens – dassteht auch so in der Koalitionsvereinbarung – noch Än-derungsbedarf gibt. Das ist doch unstrittig. Es handeltsich im übrigen um einen Entwurf. Die bisherige Hal-tung der Bundesregierung, ständig nein zu sagen, hatuns in Brüssel auch im Verhältnis zu den anderen Län-dern der Europäischen Union in eine sehr mißliche Lagegebracht.
Ich will dazu jetzt nicht mehr sagen, um nicht zukünfti-ge Verhandlungen zu erschweren. Aber ich könnte sehrschön darüber berichten, was die Agrarminister aus an-deren Ländern dazu sagen, daß die Bundesregierungimmer nur nein gesagt hat. Das erschwert die Situationgewaltig. Sie hätte sich schon im Vorfeld an der Diskus-sion beteiligen sollen. Andere Länder haben längst ihreVorschläge abgeliefert. Von Deutschland ist offiziellüberhaupt nichts vorhanden. Fragen Sie einmal denAgrarkommissar Fischler, was er dazu sagt!
Das so zu sagen ist nun wirklich nicht in Ordnung undentspricht auch nicht den tatsächlichen Verhältnissen.
– Ihnen paßt das alles nicht; das weiß ich.Wir haben in der Agrarministerkonferenz gemeinsamgesagt: So nicht! Es hat aber keiner in der Agrarmi-nisterkonferenz gesagt: In Bausch und Bogen weg da-mit! Nein! Es wäre auch völlig unsinnig, das zu tun,weil es keinen gibt, der einen Gegenentwurf zur Agendahätte auf den Tisch legen können. Vielmehr ist dieAgenda Grundlage der Diskussion. Dann können wirProdukt für Produkt, Feld für Feld durchdiskutieren undÄnderungen herbeiführen.Im übrigen: Wen kritisieren Sie da eigentlich? Daß esdie Agenda gibt, entspricht einem Beschluß aller natio-nalen Regierungschefs, der Ende 1995 in Madrid gefaßtwurde. Der Kanzler hat doch daran mitgewirkt, denAuftrag gegeben, eine Fortschreibung der Agrarpolitikunter anderem vor dem Hintergrund beginnender WTO-Verhandlungen und des Beitritts der mittel- und osteu-ropäischen Länder zu besorgen.
Das hat die Kommission erfüllt. Nun müssen wir überdas, was sie vorgelegt hat, diskutieren und können nichtso reden, wie Sie das hier tun. Das ist einfach nicht inOrdnung.
Sonst müßten Sie den ehemaligen Kanzler kritisieren,daß er diesen Beschluß der Regierungschefs von 1995mit gefaßt hat.Bundesminister Karl-Heinz Funke
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Meine Damen und Herren, es ist völlig klar: Eine lei-stungsstarke und wettbewerbsfähige Land-, Forst-und Ernährungswirtschaft ist für uns das Ziel derAgrarpolitik. Ich nenne ausdrücklich auch die Ernäh-rungswirtschaft, weil wir nicht nur den Urproduktions-sektor sehen, sondern selbstverständlich die ganze Er-nährungswirtschaft, Ernährungsindustrie, also ein-schließlich des vor- und nachgelagerten Bereiches, dermit Landwirtschaft verbunden ist.Es ist auch für uns ein gesamtgesellschaftliches An-liegen, das Wirtschafts- und Beschäftigungspotentialdes Agrarsektors nicht nur zu erhalten, sondern auszu-bauen, auch und gerade unter dem Gesichtspunkt derMultifunktionalität der Landwirtschaft; ich glaube, ichbrauche hier nicht zu erläutern, was wir bis dato ge-meinsam darunter verstanden haben.Mit anderen Worten: Wir setzen ausdrücklich aufunternehmerisch denkende und handelnde Landwirte,die sich aber auch der Verantwortung vor der Natur, vorder Umwelt bewußt sind, die sich selbstverständlichdem technischen Fortschritt stellen, die sich zum Bei-spiel auch dessen bewußt sind, daß es heute um Tier-schutz, um artgerechte Haltung geht. Das alles gehörtdazu. Wenn ich diese Stichworte genannt habe, könnenSie daraus eigentlich schon folgern, welche Schwer-punkte wir bei der Agenda-Diskussion setzen werden,im übrigen auch bei den folgenden WTO-Verhandlungen, was die schon angesprochenen Stan-dards anbelangt.Wir werden, auch was die Finanzierung der gemein-samen Agrarpolitik angeht, aktiv mitmachen. Wir wer-den die Ungereimtheiten, die es in der Tat gibt – pau-schale Preissenkungen bestimmter Größenordnungenüber gewisse Zeiträume –, zu diskutieren, auch zu korri-gieren haben – ich sage das ausdrücklich –, aber sehrunterschiedlich, nach den jeweiligen Produkten.Wir werden also eine offensive Diskussion führen.Ich bin überzeugt, daß wir auch mit den anderen Län-dern entsprechende Resultate erzielen können. Die öster-reichische EU-Präsidentschaft faßt gegenwärtig dieDiskussion, die auf europäischer Ebene bisher gelau-fen ist, zusammen. Sie wird Absichten formulierenund Aussichten eröffnen, denen wir uns anzuschließenhaben.Wir werden neben Naturschutz, Umweltschutz, Ver-braucherschutz und Tierschutz eine Agrarumweltpoli-tik betreiben, weil sie in meinen Augen heute dazuge-hört. In einigen Ländern macht man es weitestgehendschon.
– Nein, nicht nur in Bayern. In Bayern macht man viel,
Herr Kollege Deß – darüber brauchen wir nicht zustreiten –, aber das passiert nicht nur dort, sondern auchwoanders.Jemandem aus Niedersachsen den Stellenwert derLandwirtschaft im Zusammenhang mit dem des Agrar-standortes Deutschland erklären zu wollen, hieße, Eulennach Athen zu tragen. Das muß ich Ihnen einmal sagen.
Das ist unbestritten in der ganzen BundesrepublikDeutschland. Ich lade sogar die bayerischen Kollegenein, sich einmal dort umzusehen, ganz zu schweigen vonKollegen aus anderen Ländern.Ich brauche die Stichworte nicht mehr aufzugreifen.Ich denke, daß ich mit den bisher angeführten Stich-worten genug deutlich gemacht habe. Ich mußte auf IhreRede, Herr Kollege Seehofer, ein bißchen mehr einge-hen. Deshalb kann ich hier nicht all das vortragen, wasich eigentlich vortragen wollte.
– Ja, das werden wir bei entsprechender Gelegenheit,Herr Kollege Carstensen, nachholen. – Wenn Sie hierein Bild malen, als ginge es um den Abbruch der ländli-chen Räume oder ähnliches, dann bitte ich Sie: SchauenSie sich im Lande um! Landwirtschaft stellt sich – gera-de auch als wichtiger Faktor im ländlichen Raum – sovielfältig dar, daß man nicht an einigen StichwortenAufbruch oder Abbruch diskutieren kann, wenn mansachlich bleiben will.
– Wenn Sie das wußten, dann weiß ich nicht, warum Siedas den Kollegen Seehofer haben vortragen lassen. Ichbeziehe mich ja nur auf seine Stichworte.
Die Behauptung jedenfalls, daß die jetzige Regie-rungsmehrheit nicht Anwalt landwirtschaftlicher Inter-essen sei, ist eine schiere Propagandaformel und nichtsanderes. Seien Sie sicher: Die Landwirte draußen imLande, die wissen wollen, wie es ab dem 1. April 2000weitergehen soll, fallen auf solche Propagandaformelnnicht mehr herein. Sie haben genug davon, vor allenDingen deshalb, weil solche Formeln während Ihrer Re-gierungszeit Ersatz für politisches Handeln waren.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Kollege Heinrich.
Frau Präsidentin! Meinelieben Kolleginnen und Kollegen! Man kann ja ruhig aufandere Regierungserklärungen verweisen, aber, HerrMinister Funke, Tatsache ist, daß Bundeskanzler Schrö-der, der einmal den landwirtschaftlichen Bereich in Nie-dersachsen als den zweitwichtigsten Bereich nach derBundesminister Karl-Heinz Funke
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308 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998
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Automobilindustrie dargestellt hat, kein Wort über dieLandwirtschaft verloren hat.
Er hat diesen wichtigen Bereich völlig vernachlässigt. Erhat nichts über die Osterweiterung im Zusammenhangmit der Landwirtschaft gesagt, nichts über die Agenda2000. Er hat nichts über eine WTO-Runde gesagt, die esin der nächsten Zeit zu bestehen gilt. Er hat auch nichtsdazu gesagt, welche Herausforderungen insbesondereauf die deutsche Landwirtschaft zukommen werden,wenn er in 49 Tagen – von heute an gerechnet – die Prä-sidentschaft in der Europäischen Union übernimmt.
Das ist der Punkt. Wir haben heute eine Regierungser-klärung von Bundeskanzler Schröder und nicht eine Re-gierungserklärung von sonst irgend jemandem in derVergangenheit zu diskutieren.
Ich sage Ihnen: Das, was Sie, Herr Minister Funke,hier abgeliefert haben, vor allem im allerletzten Teil Ih-rer Rede, in dem Sie dargestellt haben, wie Sie zurLandwirtschaft stehen, stellt genau das Gegenteil vondem dar, was Sie uns hier im Rahmen der Steuerreformschwarz auf weiß vorgelegt haben.
Es gehört schon ein ganz gehöriges Stück Unverfroren-heit dazu, Herr Minister, wenn Sie so reden, obwohl Siewissen, daß der deutschen Landwirtschaft auf Grund dernationalen Agrarpolitik – nach dem, was heute vorliegt –mehrere Milliarden DM verlorengehen.Man muß einmal überlegen, wie so etwas überhauptzustande kommt. Natürlich war nicht der Minister daranbeteiligt, sondern diejenigen, die das Steuerkonzept aus-gearbeitet haben. Diese haben keine Ahnung von derLandwirtschaft, keine Ahnung von der Existenznot, inder sich viele Betriebe befinden. Zusätzlich diese soge-nannte Verbreiterung der Bemessungsgrundlage in einersolchen Radikalität anzukündigen, ist schon schamlos!
Das geht einher mit den beiden Worten „modern“ und„sozial“, die wir von Bundeskanzler Schröder in denzwei Stunden der Regierungserklärung so häufig gehörthaben.All die flankierenden Maßnahmen, die in der jüngstenVergangenheit steuerlicherseits zusätzlich erweitertwurden, um den Strukturwandel abzufedern – denn demStrukturwandel kann sich niemand entziehen –, sollenjetzt gestrichen werden, und zwar mit dem Zusatz „mo-dern und sozial“. Damit haben wir eine Situation, diesich nicht nur arbeitsplatzvernichtend, sondern auch ab-solut unsozial darstellt.
Hinzu kommen noch die Ankündigungen im Umwelt-schutz und im Tierschutz. Wo wollen Sie bei den ein-seitigen Belastungen, die Sie angekündigt haben, dennHalt machen? Das muß man sich schon fragen.Die Richtigkeit meiner Aussage von vor der Wahl,daß die Landwirte die ersten sein werden, die Opfereiner rotgrünen Regierung sind, zeigt sich bereits heute,bei dieser Debatte zur Aussprache der Regierungserklä-rung.
Lassen Sie mich zum Schluß noch einmal klar sagen,daß diese Bundesregierung völlig unvorbereitet in dieschwierigen Runden der Agenda 2000 geht; dies ist füruns gefährlich. Auch die Aussagen von dem Herrn Mi-nister gerade waren so vage und so unbedeutend, daßman von dieser Debatte nichts, aber auch gar nichts mitnach Hause nehmen kann. Herr Minister, Sie sind dieExekutive und vertrauen darauf, daß wir im Parlamentdie Dinge in Ihrem Sinne verändern! Sie, meine Damenund Herren, sind aufgefordert, eine Vorlage aufzulegen,die Sie durchsetzen wollen. Sie aber setzen auf uns. Dasist ein trauriges Stück, das Sie hier abliefern.Herzlichen Dank.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Ulrike Höfken.
Lie-be Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen undHerren! Der Kollege Heinrich hat endlich zu seinerrichtigen Rolle gefunden, der Opposition.
Das war das, was er im Agrarausschuß und in denWahlkämpfen immer gespielt hat. Herzlichen Glück-wunsch!Da wir schon vom Zähneziehen gesprochen haben:Am Anfang der Legislaturperiode wollten Sie ihnen dienicht mehr ziehen, aber am Ende haben es dann dieZahnärzte wohl gemeinsam mit den Wählerinnen undWählern getan, Herr Ex-Minister Seehofer.Nach 16 Jahren CDU/CSU-F.D.P.-Regierung ist dieLandwirtschaft von völliger staatlicher Abhängigkeit,von Bürokratie, schlechter Einkommenslage der Mehr-zahl der Betriebe, Betriebsaufgaben, Skandalen und ge-sellschaftlicher Isolation geprägt. Das ist das Ergebnisvon 16 Jahren unter Ihrer Regierung.
Die Scherben sind jetzt aufzukehren. In der Agrarpolitikgilt es, vieles besser zu machen und einiges zu ändern.Die neue Bundesregierung setzt politische Akzenteund Schwerpunkte, die der gesamtgesellschaftlichenRolle der Landwirtschaft wieder neu Rechnung tragen.Ulrich Heinrich
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Das macht sie nicht nur im Koalitionsvertrag, sondernauch in der Person von Landwirtschaftsminiter Funkedeutlich.
Die Bauern bekommen endlich wieder einen Land-wirtschaftsminister, der auch so aussieht.
Die rotgrüne Bundesregierung trägt darüber hinausder Tatsache Rechnung, daß 85 Prozent der Fläche land-und forstwirtschaftlich bewirtschaftet werden – Land-wirtschaft als wesentlicher Faktor des Umweltschutzes –;daß die Ernährungsindustrie ein wesentlicher Indu-striezweig – der viertgrößte in Deutschland – und mitder Landwirtschaft ein bedeutender Arbeitgeber, beson-ders im ländlichen Raum, ist;daß Deutschland weltgrößter Agrarimporteur undviertgrößter Agrarexporteur ist und in dieser Situationeine erhebliche Verantwortung für die Gestaltung desWelthandels trägt. Weiterhin trägt die rotgrüne Bundes-regierung der Tatsache Rechnung, daß die Massentier-haltung gesellschaftlich nicht mehr akzeptabel ist;daß Verbraucherschutz und die klare Berücksichti-gung von Verbraucherinteressen nicht – wie bisher – einWettbewerbshemmnis, sondern eine große Chance amMarkt darstellen; daß die heutige Subventionspolitikkeine Akzeptanz mehr findet und alle Anstrengungender Politik darauf ausgerichtet werden müssen, denLandwirten endlich die Chancen zur Marktorientierungzu eröffnen.
Der Koalitionsvertrag spricht im Hinblick auf Ökolo-gie und Tierschutz eine klare Sprache.Im Gegensatz zur bisherigen Bundesregierung wirddie Bedeutung der Landwirtschaft auf dem Arbeits-markt gestärkt. Ein Bündnis für Arbeit soll die Land-wirtschaft mit einbeziehen.
Die bislang kaum genutzten Möglichkeiten zur regio-nalen Verarbeitung und Vermarktung kommen in einebessere Förderung. Die Märkte sollen aufgebaut werden.Im übrigen sollen auch Nebenerwerbslandwirte eineChance erhalten.Nach jahrelangem Nichtstun der alten Bundesregie-rung und der Verschleppung der Probleme wird dasProblem der Milchpolitik endlich angepackt. Liefer-rechte sollen unter besonderer Berücksichtigung derProbleme der Grünlandstandorte ausgestaltet werden,und zwar so schnell wie möglich.
Zur Agenda 2000: Herr Seehofer, Ihre Worte in Bor-cherts Ohr – wäre es jetzt nicht bereits zu spät; denn eswar der frühere Minister Borchert, der in diesen Prozeßim Grunde nichts eingebracht und sich am liebsten unterden Tisch gesetzt hat.
Nach unseren Vorstellungen soll die Agenda 2000 dieflächendeckende Landwirtschaft in Europa und inDeutschland stützen; sie soll Umwelt-, Natur- und Tier-schutz auf europäischer Ebene mit einbeziehen und dieFörderung neu orientieren. Dabei soll auch den ostdeut-schen Betrieben nicht der Boden unter den Füßen weg-gezogen werden.
Die Planungssicherheit im Bereich der Altschuldenund im Bereich der Pachtverträge soll so ausgestaltetwerden, daß die Existenzfähigkeit dieser Betriebe gesi-chert wird. Natürlich gibt es nichtsdestotrotz Korrektur-bedarf; aber die Einbeziehung des Kriteriums der Be-schäftigungswirksamkeit wird hier zur Gleichberechti-gung dieser Betriebe und auch zur Sicherung der länd-lichen Räume in Ostdeutschland führen.
Ich muß sagen, ich war etwas irritiert von der Redeunseres Bundeskanzlers Schröder im Hinblick auf denAgrarbereich, als er davon gesprochen hat, daß er dann,wenn die Preise auf dem Weltmarkt angeglichen wer-den, für einen fairen Ausgleich sorgen will. Ich glaube,er hat einen freien Weltmarkt im Sinn gehabt. Aber so-lange es diesen nicht gibt, solange sowohl die USA alsauch Europa die „Preisbildung“ mit erheblichen Sub-ventionen massiv beeinflussen, wird man diese Preisenicht als Orientierung nehmen können. Wir werden unsdafür einsetzen, der globalen Produktion, dem globalenHandel auch globale soziale und ökologische Standardsbeizugeben und das Menschenrecht auf Ernährung zumKriterium der Welthandelsvereinbarungen zu machen.Nicht nur die Länder der dritten Welt, alle Länder dieserWelt müssen durch Außenhandelsvereinbarungen inihrer Agrarproduktion und Lebensmittelversorgung ge-schützt und gesichert werden.In diesem Zusammenhang möchte ich noch kurz einWort zur Gentechnik verlieren, die schon heute morgenein paar mal mit Bezug auf die Welternährung strapa-ziert wurde. Technologie ist gut, solange sie ihren Zielentatsächlich gerecht wird. Aber in bezug auf den Bereichder Grünen Gentechnik muß man sagen: Bislang hat siealle Befürchtungen bestätigt, die die Kritiker vorge-bracht haben: Resistenzen erweisen sich als labil. Ern-teausfälle können zur Bedrohung der Welternährungwerden. Gentechnische Organismen können sich un-kontrolliert ausbreiten. Solange diese Risiken nicht ge-löst werden können, so lange die Sicherheit der Gen-technik nicht gewährleistet werden kann, solange wirdGentechnik auch ökonomisch ein Flop sein und in ihrerEntwicklung noch ein wenig reifen müssen.
Ulrike Höfken
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310 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998
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Der Deutsche Bauernverband ist einem alten Reflexund damit der alten Bundesregierung in die Oppositiongefolgt.Ich sage zur Steuerpolitik der neuen Bundesregie-rung nur folgendes: Es gibt das Angebot, sich in die Be-ratungsprozesse einzuklinken, wie es übrigens auch beider alten Regierung der Fall gewesen ist; ich erinnerenur an die Petersberger Beschlüsse. Auch hier wird eseine entsprechende Diskussion geben, und der Ausschußwird Anhörungen durchführen. Ich verweise diejenigen,die jetzt Kritik vorbringen, auf diese Beteiligungsmög-lichkeiten.Auch im Rahmen der Unternehmensteuerreform wirdes eine Korrektur geben müssen – sie ist von unsererFraktion schon angekündigt worden –,
um nicht zum Beispiel agroindustrielle Betriebe gegen-über bäuerlichen Betrieben besserzustellen.Ein letzter Blick zurück – Minister Funke hat bereitsauf die Regierungserklärung verwiesen –: Die alte Bun-desregierung hat ihre in der Koalitionsvereinbarung von1994 gemachten Versprechungen nicht erfüllt; ich denkenur an die Milchpolitik.
Sie wollten hier doch eine Verbesserung herbeiführen;aber nichts ist passiert.Die rotgrüne Bundesregierung wird eine neue, mo-derne Agrarpolitik einleiten, die Landwirtschaft wiederin ihrer umfassenden gesellschaftlichen Rolle stärken,dabei die Interessen der Bauern und Bäuerinnen, genau-so aber auch die der Steuerzahler und Steuerzahlerinnenund der Verbraucher und Verbraucherinnen sowie derUmwelt und des Tierschutzes im Blick haben. Und siewird sich für ein Gelingen der Osterweiterung einsetzen.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Kersten Naumann.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Ich hoffe, daß die Reihenfolge aufder Tagesordnung keinen Schluß auf die Bedeutung zu-läßt, die die Bundesregierung dem wichtigen Bereichder Agrarpolitik beimißt.
Die Erfahrungen aus der letzten Legislaturperiode be-sagen, daß es zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünenund PDS in vielen parlamentarischen Vorhaben eineweitgehende Übereinstimmung der Positionen gab. Ineinigen Grundpositionen, zum Beispiel bei dem Aus-gleich von Währungsschwankungen und der Ablehnungder Agenda 2000, waren sich sogar alle im Bundestagvertretenen Parteien einig, was ja in diesem Haus eherdie Ausnahme ist.Mit der Übernahme der Regierungsverantwortungdurch SPD und Bündnis 90/Die Grünen erwarten wirnatürlich, daß die Koalitionsparteien nicht hinter ihreAnträge aus der letzten Legislaturperiode zurückgehen.Wir vertrauen darauf, daß sie jetzt die Chancen für eineneue Politik im Interesse der Bauern und der Nahrungs-mittelkonsumenten nutzen.
Eine Vielzahl von Vorhaben aus der Koalitionsver-einbarung unterstützen wir nachdrücklich, zum Beispieldie Ausdehnung des ökologischen Landbaus und dieErweiterung des Vertrags-Naturschutzes, die Förderungnachwachsender Rohstoffe, das Verbot von antibiotischwirksamen Futtermittelzusatzstoffen und die Aufnahmedes Tierschutzes ins Grundgesetz.
Bei folgenden Formulierungen der Koalitionsverein-barungen ist uns jedoch noch völlig unklar, was zumBeispiel gemeint ist mit der Einbeziehung der „ländli-chen Räume und der Landwirtschaft in das Bündnis fürArbeit“, mit einer „befriedigenden Altschuldenregelung“und mit der „Neuorganisation der agrarsozialen Siche-rung“.Für Irritationen über die Politik der Koalition hatauch in der letzten Woche wieder der neue Agrarmini-ster, Herr Funke, gesorgt. Die Hoffnung, daß er als Bau-er großes Verständnis für die Interessen seiner Berufs-kollegen entwickelt, wurde maßlos enttäuscht. Ich wie-derhole hier gern noch einmal, was ich schon in der ver-gangenen Woche zu der Absicht, Obergrenzen fürAusgleichszahlungen einzuführen, erklärt habe: Das isteine Provokation.
Wir unterstützen dazu nachdrücklich die Haltung desDeutschen Bauernverbandes. Es ist für uns völlig unver-ständlich, wie sich Obergrenzen mit gleichen Wettbe-werbsbedingungen für alle Betriebe vereinbaren lassen.
Wir fragen deshalb den Minister, warum Mehrfamilien-betriebe gegenüber Einfamilienbetrieben schlechter ge-stellt werden sollen.Geharnischter und berechtigter Protest des Bauern-verbandes war auch notwendig, um die Regierung zuveranlassen, ihr unsoziales Vorhaben der steuerlichenMehrbelastung der Bauern wenigstens teilweise zu-rückzunehmen. Das jetzige Konzept ist jedoch immernoch nicht akzeptabel.Das Kernthema ist für uns das Koalitionsvorhaben.Ich zitiere:Die neue Bundesregierung wird die ländlichenRäume stärken und die Landwirtschaft auf derGrundlage einer reformierten EU-Agrarpolitik mitihren unterschiedlichen Strukturen in Ost und Westsichern.Ulrike Höfken
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Dieser Satz ist eine Spitzenleistung der Formulierungs-kunst. Jeder kann ihn so interpretieren, wie er gernmöchte. Aber aussagen tut er leider nichts.
Und selbst die Untersetzung mit dem Satz: „Die Wett-bewerbsfähigkeit der Landwirtschaft . . . ist zu stärken“bringt nicht mehr Klarheit.Auf die existentiellen Sorgen der Bauern wird damitkeine Antwort gegeben. Die Agenda 2000 bedroht mitihrer Liberalisierungs- und Globalisierungsstrategie, mitihrem Verdrängungswettbewerb in den kommenden 15Jahren mehr als 250 000 Bauernbetriebe in Deutschlandund damit fast eine halbe Million Arbeitsplätze.Wir erwarten – gemeinsam mit dem Bauernverband –von der Regierung eine klare Antwort zum „europäi-schen Modell der Landwirtschaft“, zu seiner umwelt-schützenden Funktion, zu seinem Beitrag zu gesunderErnährung und zur flächendeckenden Landwirtschaft.Die PDS wird sich vor allem für die Sicherung derEinkommen der Bauern durch den Absatz ihrer Produkteam Markt und für die Zukunftschancen ihrer Betriebeeinsetzen.
In der vergangenen Legislaturperiode wurde dieAgrarpolitik mit den Attacken auf die Bodenreformdurch die bekannten restaurativen Kräfte belastet. DasThema ist auch in Brüssel noch nicht vom Tisch. In ei-ner Annonce der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“vom 31. Oktober 1998 wurde inzwischen eine neueFront eröffnet. Es geht nicht mehr allein um die Boden-reform in Ostdeutschland, sondern, wie zu lesen war, umalle Enteignungen durch „totalitäre Regime“ in Europa.Aber in der Koalitionsvereinbarung und in der Regie-rungserklärung findet sich dazu kein Wort.Deutschland wird die Präsidentschaft bei der ab-schließenden Beratung der Agenda 2000 haben. DieBäuerinnen und Bauern in Ostdeutschland und jetzt auchin Osteuropa haben ein Recht darauf, von der neuen Re-gierung zu erfahren, welchen Kurs sie in dieser Frageverfolgen und wie sie die große Verunsicherung beseiti-gen will.
Ich beurteile die Regierungserklärung von Bundes-kanzler Schröder nicht nach der Anzahl der Worte, dieer der Landwirtschaft und dem ländlichen Raum ge-widmet hat; denn das Urteil wäre vernichtend. Ich er-warte aber, daß die Koalitionsfraktionen ihre Positionenzu diesem Thema einer kritischen Prüfung unterziehen.Angesichts von 800 Millionen Hungernden auf dieserErde, deren Zahl ständig wächst, braucht auch dieLandwirtschaft zukunftsfähige, ökonomische, ökologi-sche und soziale Rahmenbedingungen.
Sie sind mit den Schlagworten „Modernisierung“ und„Innovation“ nicht beschrieben. Die PDS wird sich je-denfalls an der Gestaltung des „europäischen Modellsder Landwirtschaft“ aktiv beteiligen.Danke schön.
Liebe Frau
Kollegin, das war Ihre erste Rede in diesem Parlament.
Dazu gratuliere ich Ihnen im Namen des Hauses.
Das Wort hat jetzt der Herr Kollege Carstensen.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Leeve Herr Minister Funke, an Sie kunn ik dat ja up
plattdütsch moken, wenn Sie ut Norddütschland komen.
Wi kunnt uns dor ja mehrst beter verston. Aber ut Rück-
sich ok darop, dat Sie een Staatssekretär ut Sachsen
hebben, un ut Rücksich ok op de Stenographen hier will
ik dat denn mal op hochdütsch moken.
– Nee, ok nich wegen de Mekelnborger. Ik mok dat
schon op hochdütsch, un dann kunnt ji dat ok all ver-
ston.
Wir haben
immer mal eine plattdeutsche Debatte.
Ichmöchte Ihnen, lieber Herr Minister Funke, ganz herzlichgratulieren und Ihnen die besten Wünsche übermitteln.Sie wären an sich ein idealer grüner Minister. Sie sindhier ohne Mandat, also sozusagen mit Trennung vonAmt und Mandat. Sie werden wahrscheinlich irgend-wann, zumindest nach Ihrem Einstieg, rotieren. Das istdas Idealste, was man einem grünen Minister bzw. Ab-geordneten wünschen kann.Ich kann mir keinen klassischeren Fehlstart vorstellenals den, der jetzt von Ihnen hingelegt worden ist. Ichkann Ihnen aus alter Freundschaft nur empfehlen, lieberHerr Minister Funke: Sorgen Sie dafür, daß Sie sich gutmit uns, der Opposition stellen.
Sie werden unseren Beistand beim Abwehren Trittin-scher Vorstellungen und Lafontainscher Begehrlichkei-ten noch bitter nötig haben.
Wir bieten Ihnen dabei unsere Hilfe nicht Ihretwegenan, sondern weil wir es nicht zulassen wollen und kön-nen, daß unsere Bauern von der Last rotgrüner Be-schlüsse erdrückt werden.Herr Minister Funke, Sie haben sich wochenlang vonder Presse und vom Deutschen Bauernverband als Retterder Landwirtschaft in Sachen Steuerreform feiern lassen.Aber der Entwurf eines Steuerentlastungsgesetzes, derKersten Naumann
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312 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998
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uns seit einigen Tagen vorliegt, läßt für die Zukunft un-serer Landwirtschaft Düsteres erwarten. Sie sind nichtmüde geworden, den Landwirten in vielen Presseerklä-rungen Entwarnung im Hinblick auf die Steuerpläneder rotgrünen Bundesregierung zu geben. Sie habenmit den Ihnen eigenen markigen Worten versprochen,ohne Wenn und Aber die vereinfachten Regelungen beider Umsatzsteuer für die Landwirte zu erhalten. Sie ha-ben versprochen, es gebe keine Änderung der Umsatz-steuerpauschalierung, und gesagt, eine Abschaffung des§ 24 Umsatzsteuergesetz sei politisch geradezu wider-sinnig. Nach dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf wer-den sämtliche bisherigen Freibeträge und Ermäßigungengestrichen.
Faktisch bleibt von Ihren eindeutigen Zusagen, das bis-herige System der Umsatzbesteuerung werde beibehal-ten, nichts bestehen. Die mit der Steuerreform beabsich-tigte Senkung der Lohnnebenkosten geht an den bäuerli-chen Familienbetrieben völlig vorbei. Diese werdenvielmehr im Energiebereich durch die Einführung derÖkosteuer noch zusätzlich belastet.Herr Minister Funke, Sie verweisen stets – auch heutewieder – auf die Zusagen von Herrn Schröder und HerrnLafontaine, diesen Frontalangriff auf die Landwirtschaftzurückzunehmen. Diese beiden Herren haben Ihnen aberschon bei den ersten Diskussionsrunden über die Steuer-reform immer das gleiche gesagt. Ich frage Sie: Ist esIhnen eigentlich nicht peinlich, wenn der Bauernverbandan den Finanzminister folgendes Schreiben richten muß?Ich zitiere:Vielmehr erklärte er,– Minister Funke –die Bauern würden nicht zu Steueropfern gemacht.In Gesprächen mit dem neuen BundeskanzlerSchröder und Ihnen als neuem Bundesfinanzmini-ster habe er auf die besonderen Produktionsbedin-gungen des Agrarbereichs aufmerksam gemachtund dabei Einvernehmen auf ganzer Linie erzielt . . .Speziell gab er dabei Garantien für+ die Beibehal-tung des vorhandenen Systems der Umsatzbesteue-rung sowie für die Besteuerung kleinerer Betriebenach Durchschnittssätzen.Der Bauernverband schreibt weiter:Wir haben als Deutscher Bauernverband diese kla-ren und unmißverständlichen Aussagen ausdrück-lich anerkannt.Um so mehr bin ich jetzt betroffen, daß von diesenAussagen – der Koalitionsvereinbarungen und desBundeslandwirtschaftsministers – im Gesetzent-wurf zur Steuerreform faktisch nichts mehr übrig-bleibt.Ich finde, es ist schon peinlich, wenn man so etwas aufden Tisch bekommt.
Meine Damen und Herren, einen einzigen, einennichtssagenden und kümmerlichen Satz hat der Bundes-kanzler in seiner Regierungserklärung für die Bauernübrig gehabt.
Kein Wort über die Landwirtschaft und den ländlichenRaum. Das, wie auch die Präsenz der Regierungsmit-glieder heute abend, zeigt den Stellenwert, den dieLandwirtschaft bei dieser Regierung einnimmt. Sie, HerrMinister Funke, haben darauf hingewiesen, in der letztenRegierungserklärung des Bundeskanzlers Kohl hätteauch nicht mehr gestanden; ich darf Sie daran erinnern,daß Ihr Kollege Trittin kürzlich einmal gesagt hat, derSchwerpunkt der Umweltpolitik werde sich auf dasLieblingsthema des alten Bundeskanzlers konzentrieren,nämlich auf die Landwirtschaft. Wenn das schon bis zuIhnen durchgedrungen ist, sollten Sie hier so etwas nichtsagen. Wenn auch in der Regierungserklärung vonHerrn Schröder nur ein Satz steht –
als Ministerpräsident von Niedersachsen hat sich HerrSchröder ja viel ausführlicher geäußert. Er hat sogar ei-nen vollständigen Satz über die Landwirte gebracht, indem er sagte: Ich teile die Sorgen der Landwirte. SeineSorge ging damals so weit, daß er den niedersächsischenAgrarhaushalt innerhalb von acht Jahren um fast 50 Pro-zent zusammengestrichen hat.
Seine Umweltministerin, Frau Griefahn, durfte imBundesrat ungestraft Landwirte mit Ladendieben ver-gleichen.
Mentalität von Ladendieben schreibe ich denjenigen zu,die als Minister die Vetternwirtschaft bis zur Ehegat-tenwirtschaft kultivieren, indem sie der eigenen FamilieAufträge der Regierung zuschanzen.Auf dem Bauerntag 1997 in Braunschweig sang HerrSchröder das Hohelied auf die vielfältigen Leistungenunserer bäuerlichen Landwirtschaft. Die Leute habenapplaudiert. Zur gleichen Stunde lehnte sein Vertreterim Bundesrat – wie alle rotgrün regierten Bundesländer– den finanziellen Ausgleichsanspruch der Bauern fürNaturschutzauflagen ab.
Herr Minister Funke, ich finde, dies ist keine redlichePolitik. Auch zu diesem Punkt sollten Sie sich äußern.
Lieber Karl-Heinz Funke, wie treten Sie eigentlichIhren Fischern an der Nordsee und an der Ostsee entge-gen? Was werden Sie Willi Heimat sagen, wenn Sie ihmerklären müssen: Die Steuerbefreiung für Dieseltreib-Peter H. Carstensen
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 313
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stoffe in der Schiffahrt wird abgeschafft. Sie werdennämlich feststellen, daß die größeren Fischereibetriebeins Ausland gehen und dort tanken werden – zusätzlichauch anlanden werden –, wenn sie den Diesel hier zumalten Preis nicht mehr bekommen. Die kleinen Betriebewerden Ihre Politik auszubaden haben. Herr Funke, ichbin schon gespannt darauf, wie Sie das den Menschendort erklären wollen.
Nun wissen wir nicht ganz genau, was auf uns zu-kommt. Man kann nur auf die entsprechenden Regie-rungsmodelle schauen und sich fragen: Wie haben dieRotgrünen bis jetzt gewirtschaftet? Ich erinnere mich andie sogenannte Wiesensteuer in Schleswig-Holstein, dieinzwischen für rechtswidrig erklärt wurde.
– Sogar für verfassungswidrig erklärt wurde. – Die Lan-desregierung wollte ihren maroden Haushalt durch Ge-bühren für die Durchführung der Agrarreform aufbes-sern. Jetzt gibt es entsprechende Regreßforderungen.Auch das ist die Mentalität von Ladendieben – undnichts anderes.
Auf der einen Seite wird den Bauern das Geld aus derTasche gezogen. Aber die Mittel, die der Bund im Rah-men der Gemeinschaftsaufgabe zur Verfügung stellt,werden nicht an die Landwirte weitergegeben.
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höfken?
Aber ausgesprochen gerne.
Wenn ich von Ladendieben und von Geldern höre, die in
der Landwirtschaft nicht ankommen, werde ich langsam
unruhig. Ich möchte einmal auf die landwirtschaftliche
Sozialversicherung verweisen. Hier mußte doch die baden-
württembergische Landwirtschaftsministerin, die ja keine
Grüne ist, Anzeige erstatten und auf Grund von Ver-
quickungen und ungeklärtem, sehr intransparentem Ver-
halten – zum Beispiel im Zusammenhang mit den DBV-
Geschäftsstellen – die Staatsanwaltschaft einschalten.
Es gibt eine Unterrichtung der Bundesregierung bei-
spielsweise zum VDGB-Vermögen.
Was sagen Sie dazu? Dazu gibt es eine Menge unge-
klärter Fragen. 4,2 Millionen DM wurden zugunsten des
Deutschen Bauernverbandes ausgezahlt. An diese Aus-
zahlung waren doch einmal Bedingungen geknüpft.
Weiterhin sind 10,7 Millionen DM aus den Grund-
stücksverkäufen auf ungeklärte Weise verschwunden.
Zumindest im Bericht ist davon nichts enthalten. Es gibt
also eine Menge Fragen, die wir jetzt an dieser Stelle
stellen könnten, zum Beispiel im Zusammenhang mit
AID, CMA oder Holzabsatzfonds. Wir hätten wirklich
eine Menge Fragen. Vielleicht könnten Sie darauf ant-
worten.
Frau Kollegin Höfken, der Begriff „Ladendiebe“ stammtnicht von mir. Er wurde von Frau Griefahn benutzt,
die jetzt nicht mehr anwesend ist. Sie war eine Stundehier und ist dann wieder gegangen. Sie können ja einmalFrau Griefahn fragen, was sie denn unter Ladendiebenund unter der Mentalität von Ladendieben versteht.
Frau Höfken, ich stimme Ihnen zu: Wenn es Unre-gelmäßigkeiten gibt, dann müssen diese Dinge – unab-hängig von der Parteizugehörigkeit – aufgeklärt werden.Es ist offensichtlich in den von Ihnen genannten Fällenso gewesen, daß die Rechtsstaatlichkeit gegriffen hat.
Das Geld wird den Bauern aus der Tasche gezogenund die Mittel aus der GA werden nicht gegeben. Werwie Sie, Herr Minister Funke, und wie Ihr Bundeskanz-ler die politische Zielsetzung und den Zeitablauf für dieAgenda 2000 für richtig hält und unterstützt – das habenSie ja heute in Ihrer Antwort auf die Zwischenfrage desKollegen Seehofer und im Rahmen des kleinen Disputsbestätigt –, der muß doch in erster Linie dafür sorgen,daß die Bauern für die Herausforderungen, die auf siezukommen werden, fitgemacht werden.Zu dem Fitmachen gehören drei Dinge: erstens Ent-lastung von Auflagen und Wirtschaftserschwernis-sen. Wir brauchen einen Abbau von hausgemachtenWettbewerbsnachteilen. Rotgrün baut neue Nachteileauf und bezahlt sie nicht.
Dazu paßt folgender Vergleich, Herr Minister: AusAgrarumweltprogrammen werden in Schleswig-Holstein29 DM je Hektar, in Niedersachsen 42 DM je Hektar –das ist das Bundesland, das sie gerade so gelobt haben –,in Nordrhein-Westfalen 21 DM je Hektar gezahlt. InBayern werden je Hektar 329 DM gezahlt, in Sachsen407 DM und in Baden-Württemberg 428 DM. Dazusollten Sie sich auch einmal äußern.
– Dat weet ik im Moment nich. Da könnt wi ja mol no-kieken.Zweitens. Wir brauchen eine Stärkung der Verar-beitung und Vermarktung. Dazu gehört ehrlicherweisedie Kosteneinsparung durch Sturkturbereinigung, FusionPeter H. Carstensen
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314 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998
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und Kapazitätsabbau, insbesondere in der Milch- undFleischwirtschaft. Auch das darf man nicht verschwei-gen.Drittens. Die Mittel insbesondere aus der Gemein-schaftsaufgabe müssen den wirtschaftenden Betriebenfür ihre Entwicklung zur Verfügung gestellt werden.Was erleben wir? 1996 hat das rotgrün regierte Nord-rhein-Westfalen Mittel in Höhe von 13,5 Millionen DMfür die Landwirtschaft nicht ausgegeben. In Schleswig-Holstein sparte man im gleichen Jahr 11 Millionen DMzu Lasten der Bauern ein und verzichtete dort auf Bun-desmittel in Höhe von 6,7 Millionen DM.1997 hat allein Schleswig-Holstein nach einer Um-schichtung, auf Grund deren Bundesmittel in Höhe von11 Millionen DM zurückgenommen wurden, zusätzlichnoch Bundesmittel in Höhe von 5,6 Millionen DM nichtausgegeben. Das sind rund 16,5 Millionen DM, auf dieman verzichtete. Zusammen mit den Eigenmitteln desLandes sind den Bauern, der Landwirtschaft, dem länd-lichen Raum und auch dem Küstenschutz vorgeseheneMittel in Höhe von 28 Millionen DM nicht zur Verfü-gung gestellt worden. Bei einer Förderrate, Herr Mi-nister Funke, von zirka 20 bis 25 Prozent mußte derländliche Raum allein in diesem Bundesland auf Inve-stitionen in die Zukunft in Höhe von 120 Millionen DMverzichten. Machen Sie das einmal einem mittelständi-schen Handwerksbetrieb auf dem Lande in Schleswig-Holstein klar. Statt dessen halten Sie hier große Redenüber ein Bündnis für Arbeit. Das wäre Arbeit gewesen,die wir im ländlichen Raum hätten gebrauchen können.
Herr Kollege,
denken Sie bitte an die Zeit.
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluß. – Unsere
Landwirtschaft hat für die Zukunft bessere Rahmenbe-
dingungen verdient als das, was in den Koalitionsver-
einbarungen festgeschrieben wurde.
Voraussetzung für die auch von Ihnen, Herr Funke, ge-
wollte Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit unserer
Landwirtschaft ist vor allem eine effiziente Vermark-
tungsstruktur. Wenn man aber, so wie Sie das tun, hier
nur die Ökoprodukte vor Augen hat, dann springt man
zu kurz. Wir haben die große Sorge, daß Sie zu kurz
springen. Ich biete Ihnen noch einmal an, daß wir Ihnen
auch bei den Sprüngen helfen. Wir wollen Ihnen nicht
nur bei den Schwierigkeiten helfen, die Sie mit Herrn
Trittin und Herrn Lafontaine bekommen werden. Wenn
Sie beim Sammeln für das Astronautenkostüm von Frau
Däubler-Gmelin noch etwas Geld benötigen, wollen wir
Ihnen auch dabei gerne helfen.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Kollege Matthias Weisheit.
Frau Präsidentin! Ge-
schätzte Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir
zunächst, daß ich dem neuen Bundeslandwirtschaftsmi-
nister Karl-Heinz Funke im Namen meiner Fraktion
recht herzlich gratuliere. Es hat sich über die Grenzen
von Niedersachsen hinaus herumgesprochen: Karl-
Heinz Funke, Sie machen Politik mit Augenmaß, suchen
das Gespräch mit den Menschen im ländlichen Raum,
sprechen ihre Sprache, verstehen sie und sind ein Mann
des schnellen Entschlusses.
Das ist auch notwendig, wenn ich an das denke, was
in den letzten 16 Jahren im Bereich der Landwirtschaft
geschehen ist. Die Beiträge der Kollegen Seehofer,
Heinrich und Carstensen waren ein Musterbeispiel da-
für, wie schnell man verdrängt, wofür man 16 Jahre lang
verantwortlich war. Hier zu beklagen, Herr Kollege
Heinrich, wie schlecht es der deutschen Landwirtschaft
gehe, ist nicht richtig. Das ist doch das Ergebnis der
Politik der Koalition gewesen, die jetzt endlich zu Recht
abgelöst worden ist.
Jetzt zu behaupten, die Bauern seien Opfer der rotgrünen
Regierung, das ist nun wirklich völlig neben der Sache.
Herr Landwirtschaftsminister, Sie haben gemerkt: Es
ist kein leichtes Erbe, das Sie antreten. Wir haben zum
Beispiel im Milchbereich, der auch Gegenstand der
Agenda 2000 ist, erlebt, daß die vorherige Regierung
zwei Jahre lang keinerlei Entscheidung getroffen hat,
wie es weitergehen solle. Jetzt müssen wir das machen.
Jetzt müssen wir das hinkriegen.
Ich bin Ihnen ausgesprochen dankbar, daß die Bauern
damit rechnen können, daß wir ab April 2000 ein Liefer-
recht ohne Kapitalbindung haben.
– Aber selbstverständlich geht das! – Wir werden das
kapitalfreie Lieferrecht bei der Milch bis zum Jahr 2000
eingeführt haben. Die Bauern können sich darauf ein-
stellen. Bis jetzt konnten sie sich auf gar nichts einstel-
len und mußten Poker spielen und entscheiden, ob sie
nun mit hohen Summen eine Quote kaufen oder nicht
kaufen. Investitionen konnten nicht stattfinden.
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hein-
rich?
Aber selbstverständlich.Peter H. Carstensen
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998 315
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Herr Kollege Weisheit,
können Sie mir bitte Ihre Meinung zum Steuerreform-
konzept sagen: Wird es unsere Landwirtschaft zusätzlich
belasten oder nicht?
Lieber Kollege Heinrich,ich verstehe die Aufgeregtheit in diesem Zusammen-hang überhaupt nicht. Wir haben im letzten Jahr ge-meinsam ein Steuerkonzept der damaligen Koalition aufden Tisch bekommen, das ganz erheblich geändert wer-den mußte, bei dem der Bauernverband und andere ge-nauso Protest gelaufen sind – zum Teil übrigens zuRecht. Wir haben das im Ausschuß gemeinsam ver-nünftig beraten. Ich verspreche Ihnen: Wir werden amSchluß der Ausschußberatung ein Steuergesetz haben,das die Landwirtschaft nicht übermäßig belastet.
Das sage ich für meine Fraktion zu. Darüber brauchenwir nicht zu diskutieren.
Wir sind – um noch einmal darauf zurückzukom-men –, sehr froh darüber, daß wir diese Quotenregelung,die den aktiven Milcherzeugern als Klotz am Beinhängt, ab April 2000 durch ein entkapitalisiertes Liefer-recht ersetzen können.Für uns steht fest, daß sich Bäuerinnen und Bauern,die das Rückgrat des ländlichen Raumes bilden, auf er-kennbare Entwicklungen einstellen können müssen. Daskonnten sie in den letzten Jahren nicht. Das wird sichändern. Eine Politik, die dies durch Klarheit ermöglicht,dient dem Wohle der Menschen, die im ländlichenRaum leben und arbeiten.In diesem Zusammenhang erwähne ich einige The-men, die wir nicht wegdrücken können und zu denen wirAussagen brauchen: Das sind die bestehenden WTO-Verhandlungen, die von allen in diesem Hause gewollteund beschlossene Osterweiterung – niemand hat dage-gen gestimmt, alle wollen sie –,
das sich ändernde Verbraucherverhalten bezüglich Qua-lität und Herstellungsverfahren für Nahrungsmittel so-wie die zunehmende Bedeutung des Umwelt- und Na-turschutzes.Die Regierungserklärung und die Ausführungen vonKarl-Heinz Funke haben deutlich gemacht: Die neueBundesregierung sieht im Gegensatz zur Vorgängerre-gierung die auf Sie zukommenden Anforderungen. Siewird ihre Politik entsprechend gestalten.
In dieser Beziehung ist für uns die Weiterführung der1992 begonnenen Agrarreform richtig. Allerdings mußsie anders gestaltet werden. Ich weiß gar nicht, was die-ses Geschrei hier heute sollte. Wir haben in verschiede-nen Podiumsdiskussionen doch immer wieder gemein-sam gesagt: Die Agrarreform muß kommen. – Sie mußzum 31. März nächsten Jahres fertiggestellt sein, sonstbestimmen Finanzminister oder Regierungschefs überdie Landwirtschaft.
Darüber waren wir uns alle einig und brauchen des-halb gar nicht so hektisch zu tun. Wir müssen die Agrar-reform gestalten. Dazu müssen natürlich die Vorschlägeder Kommission in dem Sinne geändert werden, daß fi-nanzielle Leistungen zielgenau und mit weniger Büro-kratie bei den Bäuerinnen und Bauern ankommen undden unterschiedlichen Strukturen der Landwirtschaft inder Bundesrepublik Deutschland und in Europa gerechtwerden.Strukturwandel wird es in der Landwirtschaft – dashat der Kollege Seehofer auch gesagt; manchmal meintman, ein Bauer in Bayern glaube, man könne die Struk-turen ewig zementieren – immer geben. Er muß aber imRahmen der historischen Vorgaben, der geographischenund klimatischen Bedingungen in den einzelnen Regio-nen stattfinden. Es kann nicht angehen, daß wir derganzen Bundesrepublik oder ganz Europa eine land-wirtschaftliche Struktur, die nur aus Großbetrieben mitriesigen Schlägen besteht, überstülpen.
– Ihr behauptet immer, wir wollten dorthin. Die Politikvon 26 Jahren F.D.P. in der Landwirtschaft hat mit dazugeführt, daß wir auf dem jetzigen Weg sind.
Deshalb ist es für uns vorrangig, eine nachhaltige undfunktionsfähige Landwirtschaft flächendeckend zu si-chern, die auch im Non-food-Bereich in zunehmendemUmfang zuverlässige Marktchancen erhalten muß. Dazugehört eine leistungsfähige Verarbeitung und Vermark-tung von Agrarprodukten.Eine solche Politik sichert und schafft Arbeitsplätzeim ländlichen Raum. Die neue Bundesregierung setzt imlandwirtschaftlichen und ländlichen Bereich deshalb zuRecht einen besonderen Schwerpunkt bei der Beschäfti-gung und bei umweltverträglichem Handeln.
Unser Ziel ist, die Preisausgleichszahlungen der be-reits 1992 eingeleiteten und jetzt fortzusetzenden Re-form mit sozialen Kriterien zu verbinden.
Es soll in Zukunft die Wirkung bzw. der Beitrag zurFörderung der Beschäftigung stärker Berücksichtigungfinden.
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316 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. November 1998
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Vergleichbares streben wir bei der Agrarumweltpolitikan. Sie muß auf der Grundlage der Vorschläge der EU-Kommission verstärkt und verbessert werden.Wenn der Kollege Hornung gerade das Stichwort„Sozialhilfe“ in den Saal ruft, dann frage ich mich:Warum sind in Baden-Württemberg und in Bayern diedurchschnittlichen Einkommen der Betriebe in denletzten Jahren ständig gesunken und in anderen Regio-nen gestiegen?
Das haben Sie doch mitzuverantworten. Daß das so ist,macht der letzte Agrarbericht deutlich.Damit bin ich gleich beim Kollegen Carstensen. Diehohen Ausgaben, die in diesen Ländern getätigt werden,haben trotzdem nicht verhindern können, daß die Ge-winnsituation genau in diesen Ländern ungeheuer pro-blematisch ist.
In diesem Zusammenhang unterstützen wir aus-drücklich die Absicht der neuen Bundesregierung, denökologischen Landbau auszudehnen. Erfolgreich wirddies jedoch nur dann sein, wenn – wie in der Koalitions-vereinbarung hervorgehoben – diese Ausdehnung vor-rangig durch eine grundlegende Verbesserung des Ab-satzes und der Vermarktung erfolgt. Das gilt übrigensnicht nur für den ökologischen Landbau, sondern für denLandbau insgesamt. Wir haben uns im letzten Jahr ei-gentlich schon geeinigt, daß in diesem Bereich etwas ge-schehen muß.Die Vermarktung war bisher ein Stiefkind der Politik.Das muß und wird sich ändern. Dies ist zwar kein All-heilmittel, aber ein Beitrag, Landwirtschaft, ländlichenRaum und Kulturlandschaft zu stabilisieren und für dieZukunft zu sichern.Herzlichen Dank.
Auch ich
danke.
Weitere Wortmeldungen für die heutige Sitzung lie-
gen nicht mehr vor.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 13. November 1998,
10.30 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.