Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Vor Eintritt in die Tagesordnung gebe ich bekannt, daß Frau Abgeordnete Matthäus-Maier mit Brief vom 9. November 1982 mitgeteilt hat, daß sie aus der Fraktion der FDP ausgetreten ist.
Eine weitere Mitteilung: Aus der Parlamentarischen Versammlung des Europarats scheiden die Abgeordneten Lorenz und Müller als Stellvertreter aus. Die Fraktion der CDU/CSU schlägt als Nachfolger die Abgeordneten Dr. Hackel und Schwarz vor. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Damit sind die Abgeordneten Dr. Hackel und Schwarz an Stelle der Abgeordneten Lorenz und Müller (Wadern) als neue Stellvertreter in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats gewählt.
Wir fahren in der Aussprache zu den Tagesordnungspunkten 2 bis 7 fort:
2. Beratung der von der Bundesregierung beschlossenen Ergänzung zum Entwurf eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1983
— Drucksache 9/2050 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Haushaltsausschuß
3. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung eines Zweiten Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 1982
— Drucksache 9/2049 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Haushaltsausschuß
4. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Wiederbelebung der Wirtschaft und Beschäftigung und zur Entlastung
des Bundeshaushalts
— Drucksache 9/2074 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Haushaltsausschuß
Innenausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
5. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Erhöhung des Angebots an Mietwohnungen
— Drucksache 9/2079 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Rechtsausschuß
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
6. Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über eine Ergänzungsabgabe zur Einkommensteuer und zur Körperschaftsteuer
— Drucksache 9/2016 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
7. Beratung des Sondergutachtens des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zur wirtschaftlichen Lage im Oktober 1982
— Drucksache 9/2027 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Wirtschaft Haushaltsausschuß
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Dregger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Galoppierende Staatsverschuldung, jeden Monat Tausende von Firmenzusam-
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7744 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982
Dr. Dreggermenbrüchen, Millionenarbeitslosigkeit — das sind das Ende, das Ergebnis und auch das Erbe, das eine Fahrt ins Traumland hinterläßt, die unter der Führung eines sozialdemokratischen Bundeskanzlers vor 13 Jahren begann.
Die weltwirtschaftlichen Einflüsse, die auch unser Land betroffen haben, entlasten die alte Regierung nicht;
denn vor der Aufgabe, unser Land auf diese neue Herausforderung einzustellen, hat sie versagt.Wie werden die Deutschen mit diesem Erbe, mit dieser Krise fertig? Wie werden sie vor allem politisch darauf reagieren? Das ist eine bange Frage, die sich viele — auch außerhalb Deutschlands — stellen. Wird es mit der Vernunft, dem Verantwortungsbewußtsein, dem demokratischen Patriotismus geschehen, die dieser Lage allein angemessen sind, oder mit der wilden Parteilichkeit, mit der klassenkämpferischen Hetze
und mit der Unvernunft — Sie wissen es, Herr Wehner, Sie können sich noch daran erinnern —, mit der schon die erste deutsche Republik zu Grabe getragen worden ist?
Die große Mehrheit unseres Volkes ist nach wie vor für den Weg der Vernunft. Sie spürt, daß es so wie in den 70er Jahren nicht weitergehen kann. Sie ist mit sinnvollen, den wirtschaftlichen Aufschwung, auf den es jetzt ankommt, ermöglichenden Maßnahmen einverstanden, auch wenn sie mit Einschränkungen verbunden sein werden. Unser Volk — davon bin ich überzeugt — ist fähig und bereit, die Krise in Freiheit zu meistern.
Aber gilt das auch für seine Führungsschicht, von der es abhängt, was aus der zweiten deutschen Republik wird? Ich habe nicht den Eindruck, daß alle Politiker, alle Gewerkschafter, alle Unternehmer, alle Publizisten sich ihrer Verantwortung voll bewußt sind.
— Herr Löffler, sehen Sie eine Übereinstimmung?
Erste Voraussetzung der Krisenbewältigung ist doch, ihre Ursachen zu erkennen. Wenn Gewerkschaften Protestkundgebungen, die gegen die Regierung Schmidt organisiert worden sind, ungerührt gegen die Regierung Kohl umfunktionieren, obwohl doch die Regierung Kohl die Krise nicht gemacht, sondern vorgefunden hat, dann ist das zumindest unangemessen.
Wenn dabei versucht wird, den Eindruck zu erwekken, die Arbeitslosigkeit, die daraus resultierende Überforderung des sozialen Netzes und die daraus folgenden Einschränkungen seien Ausdruck irgendeines bösen Willens und sie seien dazu bestimmt, der Umverteilung von unten nach oben zu dienen, dann ist das unglaubwürdig und unehrlich.
Wenn Vertreter der SPD sich auf solchen Veranstaltungen auch noch feiern lassen und selber durch ihre Wortwahl zur Aufputschung von Haßgefühlen beitragen, ist das unverantwortlich.
Sie, meine Damen und Herren von der SPD, heute im Saal nur ein kleines Häuflein — und die beiden Kanzler, deren Erblast wir hier zu diskutieren haben, haben gestern den ganzen Tag gefehlt und sind auch heute morgen noch nicht eingetroffen —,
können doch die von Ihnen uns hinterlassene Krise für die Zeit Ihrer Regierungsverantwortung nicht schlechten Kräften in der Weltwirtschaft zuschreiben, um sie vom Zeitpunkt des Regierungswechsels an der neuen Regierung anzulasten. Das ist doch zu dumm; das kann kein Mensch glauben.
Der Altkanzler selbst hat zu dieser Demagogie den Auftakt gegeben. Die „Süddeutsche Zeitung", ihm immer zugetan, kritisierte sein Auftreten auf den Gewerkschaftskongressen in Mainz und Frankfurt am 20. Oktober unter der Überschrift „Schmidts neue Rabulistik". „Die Zeit", für die das gleiche wie für die „Süddeutsche" gilt, mißbilligte sein Verhalten am 22. Oktober unter der Überschrift „Billiges Bad". Die demagogischen Ausbrüche des Altkanzlers ereigneten sich noch vor seinem Verzicht auf eine erneute Kanzlerkandidatur.In seiner Verzichtserklärung vor der SPD-Fraktion machte er dann deutlich, wie sehr seine eigenen Parteifreunde zum Sturz seiner Regierung beigetragen haben. Er hat damit selbst die böse Verratslegende widerlegt, mit der er die FDP aus der Parteienlandschaft „wegharken" wollte.
Daß Sie, Herr Kollege Genscher und Herr Kollege Lambsdorff, sich von den Linken innerhalb und außerhalb Ihrer Partei nicht haben wegharken lassen und daß der Herr Kollege Genscher mit eindrucksvoller Mehrheit als Parteivorsitzender der FDP bestätigt worden ist, dazu beglückwünsche ich Sie ausdrücklich.
Es wird nicht nur psychologisch interessant sein,sondern es ist bei dem Ansehen des nicht anwesenden Altkanzlers immer noch bedeutsam für das
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982 7745
Dr. DreggerKlima in unserem Land, für welchen Weg er sich jetzt nach dem Verzicht auf die Kanzlerkandidatur entscheidet. Während seiner Kanzlerschaft hatte Schmidt in einem ständigen Konflikt zwischen seinen eigenen Einsichten und konträren Strömungen in seiner Partei zu leben. Er hat diesen konträren Strömungen zunächst verbal, verbunden mit wilden Ausfällen gegen die Union, dann aber auch immer mehr inhaltlich Rechnung getragen. Nun ist der Altkanzler in einer neuen Rolle. Von seiner eigenen Partei an den Rand gedrängt und von der Regierungsverantwortung entlastet, könnte der Altkanzler jetzt seine Erfahrungen über Parteigrenzen hinweg dem Ganzen nutzbar machen. Oder ich muß ihn fragen, obwohl er nicht da ist: Oder ziehen Sie, Herr Kollege Schmidt, es vor, Ihre Laufbahn als Parteiagitator zu beenden, vielleicht an der Seite der Herren Eppler und Lafontaine?
Ihre Empfehlung auf dem Landesparteitag der SPD in Hamburg, den Klassenkampf von oben in die Agitation aufzunehmen, was die FAZ am 9. November kritisierte, scheint für diesen Weg zu sprechen. Ich möchte Sie, Herr Altkanzler, und Sie alle warnen: Wer den Klassenkampf zum Mittel der Politik macht, zerstört den sozialen Frieden unseres Landes, und wer den sozialen Frieden dieses Landes zerstört, zerstört diese Republik.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Abgeordneter Dregger?
Herr Kollege Löffler, mit Vergnügen.
Bitte schön, Herr Löffler.
Sehr geehrter Herr Kollege Dregger, da ich Ihre Warnung in bezug auf Bewahrung des sozialen Friedens ernst nehme, möchte ich Sie fragen: Ist es Ihnen entgangen, daß sich der Bundesfinanzminister, der Ihrer Partei angehört, bereits auf einer ganz anderen Argumentationsebene bewegt als Sie, und halten Sie es nicht für notwendig, sich in Ihrer jetzigen hochverantwortlichen politischen Funktion dieser Argumentationsebene ebenfalls zu bedienen?
Ermahnungen, verehrter Herr Kollege Löffler, von Ihrer Seite sind mir immer willkommen, insbesondere wenn sie konkreter sind, damit Ihre Vorwürfe wenigstens erkennbar sind.
— Das kommt noch, wunderbar. Bitte sehr, ich wünsche Ihnen viel Erfolg dabei.
Ich meine — gerichtet an die Adresse des Altkanzlers —, wer dieser Republik in ihren höchsten Ämtern gedient hat, wer diese Republik in dem Zu-stand hinterläßt, in dem sie sich heute befindet, wer für eine der Ursachen der Krise, die astronomische Staatsverschuldung und die daraus erwachsende finanzielle Handlungsunfähigkeit auch zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, mehr Verantwortung trägt als jeder andere Politiker in Deutschland —
das alles trifft auf den Herrn Kollegen Schmidt zu, der sollte auf die Rolle des Parteiagitators verzichten, der sollte dazu beitragen, daß in den schweren Monaten, die vor uns liegen, Vernunft, Verantwortungsbewußtsein und Solidarität die Oberhand gewinnen, nicht aber Haß, Hetze und Unvernunft.
Mit Herrn Kollegen Brandt, der — wie gestern — auch heute nicht da ist, habe ich mich bereits in der Debatte über die Regierungserklärung über die Aufgabe unterhalten, die sogenannten Grünen in das demokratische System zu integrieren. Wenn der Parteivorsitzende der SPD das in den kommenden Jahren als die große Aufgabe seiner Partei ansieht, dann habe ich das nicht zu kritisieren, allerdings nur dann nicht, wenn Herr Brandt das nicht mit dem Anspruch seiner Partei auf Regierungsverantwortung verbindet, denn beides gleichzeitig geht nicht, meine Damen und Herren.
Norbert Blüm hat einmal gesagt — ich zitiere —: „Wer mit den Grünen poussiert, verrät die Arbeiter"
Ich möchte diese Aussage von Norbert Blüm einschränken
und sagen: Wer als Regierungspartei mit den Grünen poussiert, verrät die Arbeiter.
Eine Regierungspartei darf von den Grünen nicht abhängig werden, weil sie dann nicht das tun kann, was zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit notwendig ist.
Deshalb ist es schlimm, daß der Herr von Dohnanyi in Hamburg trotz der in seinen Verhandlungen mit den Grünen gemachten Erfahrungen fest entschlossen ist,
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7746 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982
Dr. Dreggerauch nach der Bürgerschaftswahl mit ihrer Hilfe — und das heißt, in Abhängigkeit von ihnen — im Amt zu bleiben.
Deshalb ist es nicht weniger schlimm, daß Herr Börner, der in Hessen die Grünen vor der Wahl in die Nähe der Faschisten rückte, jetzt, nach der Wahl, erklärt, er habe jede Berührungsangst gegenüber diesen angeblichen Faschisten verloren. Auf der einen Seite wagt er nicht, am 1. Dezember im Landtag für das Amt des Ministerpräsidenten zu kandidieren,
auf der anderen Seite möchte er mit Hilfe der Grünen in der Rolle des geschäftsführenden Ministerpräsidenten überwintern.
Das bedeutet, daß der genehmigungsreife dritte Kraftwerksblock in Biblis und andere arbeitsschaffende Maßnahmen nicht auf den Weg gebracht werden können.Meine Damen und Herren, es ist daher nicht zuviel gesagt, wenn ich meine: Sollte nach dem 6. März nach dem Muster von Hamburg und Hessen auch in Bonn die Regierungstätigkeit eingestellt werden — denn in Hamburg und Hessen ist sie eingestellt —, dann käme das in einer Zeit der Pleiten, der Massenarbeitslosigkeit und der galoppierenden Staatsverschuldung einer Katastrophe ziemlich nahe.
Der Grundsatzdenker der SPD, Richard Löwenthal, hat gewiß recht, wenn er vor dem warnt, was der Parteivorsitzende Brandt und sein neuer Kanzlerkandidat anstreben, nämlich die Bildung einer neuen Mehrheit links von der CDU. Denn das wäre, wie Löwenthal mit Recht feststellt, nur eine „negative Mehrheit", d. h. eine nicht regierungsfähige Mehrheit.
Bei der gestrigen Debatte, meine Damen und Herren, spielte der Vorwurf eine große Rolle, die CDU/CSU tue als Regierungspartei das, was sie in der Opposition bekämpft habe. Ich möchte dazu ganz offen sagen
— das bin ich immer, Herr Wehner, wie Sie wissen, auch Ihnen gegenüber —: Ich finde als Vorsitzender der stärksten der Regierungsfraktionen
die für 1982 mit 39,9 Milliarden DM und für 1983 mit41,5 Milliarden DM vorgesehene Neuverschuldungebenso unerträglich, wie ich sie als Mitglied der Opposition unerträglich gefunden hätte.
Da hat sich gar nichts geändert,
auch bei Ihnen nicht; denn Ihre Vertreter haben gestern erklärt, sie fänden es nicht unerträglich; sie meinen, mit dieser Schuldenwirtschaft solle man ruhig weitermachen. Sehen Sie, das ist das, was Sie von uns unterscheidet, meine Damen und Herren.
— Herr Westphal, liegt in dieser meiner Aussage und unserem Verhalten ein Widerspruch? Ich stelle mich doch Ihrer Kritik. Ein Widerspruch läge dann darin, wenn die von Ihnen hinterlassene Erblast eine gangbare Alternative überhaupt offenließe. Ein Regierungswechsel ist j a nicht die Stunde Null. Jede Regierung erbt die Fehler ihrer Vorgängerinnen und die Folgen dieser Fehler.
Herr Abgeordneter Dr. Dregger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Spöri?
Mit Vergnügen! Präsident Stücklen: Bitte.
Herr Kollege Dregger, wenn Sie sich jetzt über das Kapitel Widersprüche verbreiten: Können Sie mir einmal den Widerspruch erklären, daß Sie noch vor einem halben Jahr vehement mit sozialer Empörung die von uns vorgeschlagene Mehrwertsteuererhöhung abgelehnt haben und diese jetzt durchführen?
Herr Spöri, ich werde darauf zurückkommen, aber wenn Sie mir gestatten, würde ich gern im Duktus meiner Überlegungen bleiben.
Das ist ein wichtiger Punkt, den ich nicht auslasse; aber nehmen Sie bitte Platz, ich komme im Anschluß hieran darauf zu sprechen.
Im Augenblick beschäftige ich mich nicht mit der Mehrwertsteuererhöhung, sondern mit der unerträglich hohen Nettokreditaufnahme, die für die Jahre 1982 und 1983 vorgesehen ist, und ich meine, das sollte man in Ruhe tun. Zunächst einmal habe ich festgestellt, daß ich diese Neuverschuldung unerträglich finde, während die Sozialdemokraten sie
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982 7747
Dr. Dreggernicht unerträglich finden, was doch bemerkenswert ist.
- Herr Löffler, wir sollten uns immer wieder mit Japan vergleichen, insbesondere mit seinen Leistungen,
aber ich bin nicht für Japan, sondern für Deutschland verantwortlich, und ich denke, das ist bei Ihnen auch so.
Also hören Sie bitte zu.
Warum konnten wir dieser Nettokreditaufnahme für 1982 und 1983 nicht gangbare Alternativen entgegensetzen? Dazu die erste Feststellung: In dieser Neuverschuldung drückt sich zunächst die Last der Altverschuldung aus. Der Nettoneuverschuldung von 39,9 Milliarden für das Jahr 1982 stehen allein Zinslasten für die Altverschuldung in Höhe von 23,4 Milliarden gegenüber. Hinzu kommen 42 Milliarden Tilgungsbeträge für Altschulden.
Insgesamt beträgt also im Jahre 1982 der Schuldendienst für Altschulden 65,5 Milliarden DM; das ist eine unvorstellbare Summe.
Wir können doch nicht die Gläubiger zur SPD schicken und sagen: Holt dort eure Zinsen und eure Tilgungsbeträge ab! Das geht leider nicht.
Das alles sind doch Schmidt-Schulden, keine Kohl-Schulden, und wir müssen jetzt für die Schmidt-Schulden einstehen. Das ist doch die Wahrheit!
— Ja, manchmal ist es besser, einfache Gedanken zur Kenntnis zu nehmen, als unaufhörlich kompliziert zu denken, wie Sie es tun; denn die Wahrheit ist meistens einfach.
Unter der Kanzlerschaft von Adenauer, Erhard und Kiesinger betrug in 20 Aufbaujahren die jährliche Nettoneuverschuldung im Durchschnitt weniger als 1 Milliarde.
Unter der Kanzlerschaft der Kollegen Brandt und Schmidt betrug sie im Jahresdurchschnitt mehr als 20 Milliarden; dabei gab es eine stets steigende Tendenz, und jetzt sind wir bei 40 Milliarden. Oder vergleichen wir die beiden Jahre des Regierungswechsels — 1969 von uns zur SPD und 1982 von der SPD zu uns — miteinander: Die Nettoneuverschuldung für das Jahr 1969 betrug 1 Million — eine einzige Million! Die Nettoneuverschuldung für das Jahr 1982, das Jahr des Regierungswechsels von der SPD zu uns, beträgt 40 Milliarden. Meine Damen und Herren, das ist das Vierzigtausendfache!
Das sind Ihre Schulden, aber wir müssen sie bezahlen. Das ist unser Schicksal.
Das war 1982. Auch die Nettokreditaufnahme für das Jahr 1983 gehört zu den Konsequenzen, die sich aus dem nahezu auf Null eingeschränkten Handlungsspielraum, den die alte Regierung der neuen hinterläßt, ergeben. Die denkbaren Alternativen zu diesen neuen Schulden wären: noch stärkere Ausgabenkürzungen, noch weitere Steuer- und Abgabenerhöhungen oder weniger Investitionsanreize. Diese Wege sind zur Zeit allesamt nicht gangbar, und das werde ich jetzt begründen.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Bitte.
Herr Dr. Dregger, können Sie mir bei Ihrer Fähigkeit zur Interpretation der staatlichen Kreditpolitik erklären, wie es dann, wenn Sie CDU und SPD so werten, möglich ist, daß in Schleswig-Holstein nach 30jähriger CDU-Tätigkeit die Verschuldung relativ höher als auf Bundesebene ist?
Ich bin überzeugt, daß der Herr Bundesfinanzminister aus der großen Erfahrung seines Amtes in Schleswig-Holstein — aber einiges weiß ich davon — mitteilen wird, daß Schleswig-Holstein, wenn man die Landesschulden und die Gemeindeschulden zusammenrechnet — die Länder sind ja für die Finanzausstattung der Gemeinden verantwortlich —, ganz hervorragend positiv dasteht.
Als alter Kommunalpolitiker — ich war 14 Jahre lang Oberbürgermeister und einige Jahre Präsident des Deutschen Städtetages; Herr Löffler erinnert sich noch daran — kann ich nur sagen, als Kommunalpolitiker gefällt es mir besser, wenn das Land bereit ist, Schulden aufzunehmen, statt die Schuldenlast auf seine Gemeinden abzuschieben. Das zu Schleswig-Holstein.
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7748 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Roth, Herr Kollege Dregger?
Bitte schön, Herr Kollege Roth.
Bitte.
Nachdem Sie jetzt zu den Kommunalschulden übergeleitet haben, meine Frage an Sie: Wie erklären Sie uns dann die Tatsache, daß der Herr Wallmann, Ihr Nachfolger in Hessen, Oberbürgermeister einer Stadt ist, die die höchste Verschuldung pro Kopf in der Bundesrepublik Deutschland hat?
Herr Kollege Roth, das gehört zwar nicht zu diesem Thema,
aber da wir beide Frankfurt lieben, will ich gerne darauf eingehen und sagen: Natürlich kann nur eine Stadt mit hoher Finanzkraft den Nachholbedarf decken, der aus Ihrer jahrzehntelangen Tätigkeit in einer Stadt, die Sie unregierbar genannt hatten, entstanden ist, und natürlich kann sie das
auch nur mit Schuldenaufnahmen in Ordnung bringen. Sie können davon überzeugt sein, daß die CDU erstens diese Stadt weiter regiert und daß sie zweitens Frankfurt immer mehr zu einem blühenden Gemeinwesen machen wird.
Wenn Sie einverstanden sind, wenden wir uns nach dem Ausflug in die Länder- und Kommunalfinanzen wieder den wichtigen Bundesfinanzen zu. Ich hatte mich mit der Kreditaufnahme für 1982 beschäftigt und gehe jetzt ein auf die Kreditaufnahme für 1983, die ich ebenfalls unerträglich hoch finde, um zu sagen, daß auch diese zu den Folgen der Erblast gehören; denn die Alternativen wären entweder noch stärkere Ausgabenkürzungen, noch stärkere Einnahmenerhöhungen — Steuern und Abgaben — oder weniger Investitionsanreize. In der Lage, wie sie jetzt ist, halten wir jeden dieser Wege für nicht gangbar.Erstens. Ich habe noch keinen unabhängigen Sachverständigen gehört, der in der gegenwärtigen Situation noch weiterreichende Ausgabenkürzungen vorgeschlagen hätte, deswegen brauche ich mich damit nicht länger zu beschäftigen.Zweitens. Weitere Steuer- und Abgabenerhöhungen müssen nach unserer Überzeugung erst recht ausscheiden. Es ist, Herr Spöri, schlimm genug, daß wir die Mehrwertsteuer um einen Punkt anheben müssen. Wir tun es allerdings nicht, um damit Haushaltslücken zu stopfen, wie Sie es vorhatten,
sondern wir tun es, um einen kleinen Spielraum für Investitionsanreize in der Bauwirtschaft und für die Senkung der Gewerbesteuer zu gewinnen. Das ist ein großer Unterschied.
Trotzdem: daß wir auf Grund der Erblast zu diesem Mittel greifen müssen, ist nicht gut. Richtiger wäre es jetzt, die Steuern zu senken, um auf diese Weise zu Investitionsfähigkeit und -bereitschaft der Wirtschaft beizutragen. Die Ertragslage für unsere Unternehmen ist miserabel. Ihre Eigenkapitalquote ist in den letzten Jahren in erschreckender Weise gesunken. Das sagt die unabhängige Bundesbank immer wieder mahnend an die Adresse von Regierung und Parlament. Trotzdem ist es jetzt leider nicht möglich, die Steuer- und Abgabenlast zu senken, da die Alternative eine noch stärkere Neuverschuldung wäre, was sicherlich falsch wäre. Wären in der Zeit der Überbeschäftigung keine Vollbeschäftigungsgarantien gegeben worden, Herr Kollege Brandt, und wären in der Zeit der Hochkonjunktur Reserven angesammelt worden, statt Schulden zu machen, Herr Kollege Schmidt, dann wären wir heute in der Lage,
die Steuer- und Abgabenlast zu senken und auf diese Weise die sinkende Nachfrage zu stützen, was sicherlich besser wäre.Meine Damen und Herren, auch die dritte Alternative zu den schmerzlichen Entscheidungen im Bereich der Kreditaufnahme und der Steuern, eine Verminderung der Investitionsanreize nämlich, wäre falsch, da diese Anreize zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit unverzichtbar sind. Sie betreffen vor allem die Bauwirtschaft, die neben der Automobilindustrie Hauptträger einer schnellen und nachhaltigen Konjunkturbelebung sein kann. Eine Aktivierung der Bauwirtschaft zieht weitere Kreise in der Gesamtwirtschaft, als es jeder andere Investitionsanstoß tun könnte.Nun glaubt die SPD, eine Alternative in der Einführung einer nicht rückzahlbaren Ergänzungsabgabe zu haben. Sie wissen, meine Damen und Herren, mich persönlich würde die Nichtrückzahlbarkeit nicht stören; das ist eine ganz persönliche Ansicht.Dr. Ehmke [SPD]: Warum setzen Sie sichdann nicht durch?)Aber das, was mich an Ihrem Vorschlag stört, ist,
daß er keine Ausnahme für die investierende Wirtschaft vorsieht.
— Herr Walther, wenn Sie von uns gelernt haben —
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982 7749
Herr Abgeordneter Dr. Dregger, darf ich unterbrechen.
Herr Kollege Walther, wir haben nach der Geschäftsordnung die Möglichkeit, Zwischenfragen zu stellen. Wenn ein Zuruf von der Intensität ist wie von Ihnen, dann ist eine Zwischenfrage das bessere Mittel.
Ich habe zur Kenntnis genommen, was der Herr Kollege Walther zugerufen hat; ich habe es verstanden. Herr Walther, dann haben Sie von uns gelernt
— lassen Sie mich doch bitte auch einmal einen Satz oder wenigstens ein Wort sagen;
Walther [SPD]: Bleiben Sie bei der Wahrheit!)
wir lernen ja alle voneinander. Warum sollten Sie es nicht auch tun? Sie haben es besonders nötig, finde ich —,
und zwar entgegen den Münchener Parteitagsbeschlüssen, daß man eine Ausnahme für die investierende Wirtschaft machen muß.
Ich wäre auch mit einer Investitionsanleihe nicht einverstanden, wenn sie keine Ausnahme für die investierende Wirtschaft vorsähe. Das ist für mich der Kernpunkt des Ganzen.
Der Herr Abgeordnete Roth wünscht, eine weitere Zwischenfrage zu stellen. — Bitte sehr, Herr Abgeordneter.
Herr Dregger, würden Sie zur Kenntnis nehmen, daß sowohl die Vorschläge auf dem Parteitag der SPD zu München als auch der jetzt vorgelegte konkrete Gesetzesantrag zur Ergänzungsabgabe mit einer Gegenrechnung für Investitionstätigkeit ausgestattet waren?
Ich nehme das zunächst zur Kenntnis und werde das, was Sie mir hier vorgetragen haben, Herr Kollege Roth, sehr sorgfältig prüfen.
— Nun schreien Sie doch nicht! Mein Gott, Sie produzieren so viel Papier. — Entscheidend ist, daß die Steuer- und Abgabenlast für die investierende Wirtschaft nicht weiter erhöht wird.
Meine Damen und Herren, wenn wir den Rest von Zukunftsoptimismus in unserer Wirtschaft in einer Zeit der Pleiten, der auf ein Minimum reduzierten Rentabilität und einer drastisch reduzierten Eigenkapitalquote endgültig vertreiben wollen, dannbrauchen wir nur von weiteren Steuer- und Abgabenerhöhungen in Deutschland zu reden.
Ich habe manchmal den Eindruck, daß sich in Ihren Äußerungen zur Wirtschaft ein Maß von Wirtschaftsfremdheit
und Wirtschaftsfeindlichkeit ausdrückt, über die man nur staunen kann. Bei einigen von Ihnen zumindest scheint es so zu sein, daß sie dann, wenn sie das Wort „Wirtschaft" hören, an Kapitalisten denken.
Wir dagegen denken, wenn wir das Wort „Wirtschaft" hören, an die Arbeiter. Das ist der Unterschied, meine Damen und Herren.
Der Angriff des Herrn Abgeordneten Paterna gestern
gegen meinen Kollegen, den Bundesminister für das Post- und Fernmeldewesen, war ein schlimmes Beispiel dafür.
Ich möchte gern ein Wort dazu sagen,
weil es mir symptomatisch zu sein scheint. Herr Schwarz-Schilling ist von Hause aus Sinologe. Er wurde dann aus familiären Gründen Unternehmer, und zwar, wie Sie wissen, in Büdingen in Hessen, ein sehr fleißiger und ein sehr tüchtiger Unternehmer. Von seinem Betrieb in Büdingen hängt es ab, ob die Arbeitslosigkeit dort weitersteigt oder sich in Grenzen hält. Es kann doch nicht jeder Lehrer werden, Herr Abgeordneter und Lehrer a. D. Paterna. Es muß doch auch noch für andere Arbeitsplätze geben.
Dieser Sinologe und mittelständische Unternehmer ist nun auch noch Politiker.
Er hat über 15 Jahre an meiner Seite in harter Oppositionsarbeit dazu beigetragen, daß Hessen nun inzwischen eine ausgeglichene demokratische Struktur hat. Jetzt ist er Bundesminister. Jetzt kommen Sie, Herr Abgeordneter und Lehrer a. D. Paterna, und motzen einen Mann an,
der für die Beschaffung von Arbeitsplätzen mehr getan hat und in Zukunft tun wird, als Sie es in Ihrem ganzen Leben überhaupt tun können.
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7750 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Emmerlich? — Bitte.
Herr Kollege Dr. Dregger, würden Sie auch zu der alles entscheidenden Frage Stellung nehmen, ob sich der Bundesminister Schwarz-Schilling als Abgeordneter entsprechend den Verhaltensregeln für Abgeordnete verhalten hat?
Ich gehe davon aus, daß das so ist. Ich bin erstaunt über Ihre Frage.
Wenn Sie das weiter untersuchen wollen, verehrter Herr Kollege,
tun Sie das. Was mich so bedrückt hat
und mit mir auch den mittelständischen Unternehmer, den Kollegen Hauser, das ist ein gewisser Geist, eine gewisse geistige Verfassung, die aus den Angriffen des Herrn Abgeordneten Paterna sprach.
Wir brauchen neben Beamten und Lehrern in unseren Parlamenten auch Unternehmer, die sich in ihrer unternehmerischen Tätigkeit bewährt haben und die außerdem eine politische Aufgabe übernommen haben.
Das sollten wir begrüßen, und wir sollten nicht gleich mit solchen Angriffen kontern. Wenn Sie Zweifel hatten, dann konnten Sie die Zweifel ja zunächst einmal intern klären, und sie nicht in diese Debatte in der Weise einführen, wie Sie es gestern getan haben.
Herr Abgeordneter Dregger, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Emmerlich?
Das müssen Sie gerade sagen! Ich glaube, daß ich das in meinem Leben getan habe. Meine Freunde haben das auch getan.
Herr Abgeordneter Emmerlich, bitte die Zwischenfrage.
Herr Kollege Dr. Dregger, darf ich Ihrer Antwort, die Sie mir eben erteilt
haben, entnehmen, daß Sie dieser wichtigen Frage, ob der Abgeordnete Schwarz-Schilling sich an die Verhaltensregeln für Abgeordnete gehalten hat, selbst nicht nachgegangen sind, wie es wohl Ihre Pflicht gewesen wäre?
Ich hatte überhaupt keine Veranlassung, dieser für Sie entscheidenden Frage nachzugehen.
Ich beschäftige mich zur Zeit mit anderen Dingen, die im Augenblick für unser Land wichtiger sind, z. B. sein Ausstieg aus der Talsohle, in die Sie es hineingebracht haben.
Zu einer Zwischenfrage wünscht der Abgeordnete Ehmke das Wort.
Herr Kollege Dregger, teilen Sie die Meinung des Kollegen Schwarz-Schilling, daß Bedenken dagegen, daß sein Familienunternehmen auch, nachdem er Postminister ist, weiter ans Postministerium liefert, nicht bestünden, da ja seine Beamten alles nüchtern prüfen würden? Das war die erste Frage.
Zweite Frage, Herr Kollege Dregger. Wie kommt es eigentlich,
daß Sie, ob es sich nun um den Fall Zimmermann oder um Schwarz-Schilling handelt, Ihre hohen moralischen Maßstäbe als Konservativer so niedrig hängen, wenn es um Ihre eigenen Leute geht?
Ich finde, es ist für den Bestand unserer Demokratie von großer Bedeutung, ob wir alle moralische Maßstäbe an uns anlegen und nicht nur an andere und daß wir an alle dieselben anlegen.
Das ist die erste Auffassung.
Die zweite: Wenn Sie glauben, im persönlichen Bereich eines der Kollegen Anstände zu haben, empfände ich es als anständig, das zunächst einmal dort zu klären, wo eine Institution geschaffen worden ist, und nicht vor den Fernsehkameras dieser Nation, nach der Methode: Irgend etwas wird ja wohl hängenbleiben.
Und das dritte: Wenn wir erreichen wollen, daß nicht nur Staatsbeamte im Parlament sind, sondern auch Menschen, die um ihren Unterhalt im Risiko des freien Berufes arbeiten und kämpfen müssen, dann sollten wir sie, wenn sie das tun, nicht in der
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982 7751
Dr. DreggerWeise mit Verdächtigungen überziehen, wie Sie es gestern getan haben, Herr Paterna.
Noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Ehmke?
Die letzte, Herr Präsident.
Herr Kollege Dregger, warum geben Sie sich so viel Mühe, etwas als Angriffe im persönlichen Bereich darzustellen, obwohl es doch in beiden Fällen, Zimmermann wie Schwarz-Schilling, allein um politisches Verhalten geht?'
Herr Kollege Ehmke, ich habe Ihnen als Rechtsprofessor im Fall Zimmermann bereits in der Debatte zur Regierungserklärung eine angemessene und deutliche Antwort gegeben. Sie ist absolut ausreichend, und keine andere Antwort können Sie mehr von mir erwarten.
Herr Abgeordneter Dr. Dregger, gilt diese Bemerkung von der letzten Zwischenfrage für alle im Hause, oder möchten Sie noch eine zulassen?
Die letzte Zwischenfrage insgesamt, damit die Zeit nicht zu lange in Anspruch genommen wird. — Bitte, Herr Kollege Gerster.
Bitte schön.
Herr Kollege Dregger, teilen Sie meine Auffassung, daß das, was derzeit gegen den Bundesminister Schwarz-Schilling betrieben wird, in auffallender Weise dem ähnelt, was zuvor gegen den derzeitigen Bundesinnenminister Zimmermann, was vor wenigen Jahren, im Jahre 1979, vor der Wahl des Bundespräsidenten, gegen den jetzigen Bundespräsidenten Carstens,
was davor gegen den früheren Bundeskanzler Kiesinger und gegen den Altbundespräsidenten Lübke betrieben worden ist und dies alles im Stil, im Inhalt, in der Form und in der geistigen Grundeinstellung übereinstimmt, nämlich: wenn die sachlichen Argumente ausgehen, persönlich anzugreifen?
Herr Kollege Gerster, ich kann das nur bestätigen und hinzufügen, Sie hätten eigentlich meinen Namen auch noch in die Aufzählung aufnehmen können;
denn auch ich stehe seit 20 Jahren im politischenKampf, habe manche Narben davongetragen. Ichhabe weder in der gleichen Weise zurückgeschlagennoch habe ich darauf verzichtet, meinen Dienst als Abgeordneter für unser Land zu tun.
Meine Damen und Herren, 80 % der Gesamtinvestitionen sind Investitionen der Privatwirtschaft. Steuererhöhungen würden in diesem großen privaten Sektor mehr Investitionen verhindern, als aus ihrem Aufkommen auf dem schmalen öffentlichen Sektor jemals zustande gebracht werden könnten. Das übersehen alle, die nach staatlichen Beschäftigungsprogrammen rufen, die sie durch Steuererhöhungen finanzieren möchten.Meine Damen und Herren, die Perspektive der 80er Jahre heißt nicht Neid, nicht Haß, nicht Niedertracht, sondern Partnerschaft und die Freisetzung der Produktivkräfte des deutschen Volkes. Das ist der erste und wichtigste Schritt zur Rückkehr zur Vollbeschäftigung und zum Schulden-stopp.
Zum Schuldenstopp und zur Zurückgewinnung des verlorengegangenen finanziellen Handlungsspielraums müssen zwei Maßnahmen hinzukommen.Erstens ist das die Begrenzung der Transfer- und Sozialleistungen, die sich in den 70er Jahren vervierfacht haben, ohne daß damit soziale Not überall beseitigt worden wäre. In diesem Bereich geht es daher nicht mit dem Rasenmäher. Hier geht es um die Konzentration auf die wirklichen Stellen des Bedarfs. In einer Zeit, in der der Gemeinsinn bei vielen untergraben und die Arbeit der Interessenverbände perfekt ist — ich stelle das ohne Wertung fest —, erfordert diese erste große Reformaufgabe der 80er Jahre Zeit und noch mehr Klugheit und Kraft.Zum Schuldenstopp gehört ferner eine Begrenzung der Personalkosten der öffentlichen Hand, die sich in den 70er Jahren verdreifacht haben. 1,1 Millionen öffentliche Bedienstete wurden zusätzlich eingestellt. Der Bürger hört es mit Staunen, da unbeschadet dessen der Unterrichtsausfall an unseren Schulen nicht beseitigt und die bürokratischen Abläufe für den Bürger nicht beschleunigt worden sind. Das Gegenteil ist der Fall, was nicht die Schuld der Beamten, sondern die der regierenden Politiker ist, die bestimmen, was die Beamten zu tun haben und wie sie es zu tun haben.
Auch im öffentlichen Dienst geht es bei dieser Sachlage wie im sozialen Bereich um eine Konzentration. Es geht um weniger öffentliche Aufgaben, um weniger öffentliche Vorschriften, um weniger Behörden- und Gerichtsinstanzen und dadurch um weniger Staatsdiener. Das zu erreichen, ist eine große Gemeinschaftsaufgabe von Bund, Ländern und Gemeinden. Vor dem 6. März kann sie vorbereitet, aber nicht mehr in Angriff genommen werden. Für diese zweite große Reformaufgabe der 80er Jahre sagen wir dem Bundesminister des Innern schon jetzt unsere volle Unterstützung zu.
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7752 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982
Dr. DreggerDie neue mittelfristige Finanzplanung muß diese und andere politische Entscheidungen in ihre Prognosen einbeziehen können, da es ohne diese Entscheidungen eine Eingrenzung der astronomischen Staatsverschuldung, eine Wiedererlangung des verlorengegangenen finanziellen Handlungsspielraumes, den wir zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit dringend brauchten, nicht geben kann. Der neue Finanzminister hat daher mit Recht darauf verzichtet, schon jetzt, wenige Wochen nach seiner Amtsübernahme, neben dem Nachtragshaushalt 1982 und dem Ergänzungshaushalt 1983 noch eine solche mittelfristige Finanzplanung für die kommenden Jahre vorzulegen. Das ist jetzt einfach nicht möglich. Das wird sobald wie möglich nach dem 6. März 1983 geschehen.
Der Vorgänger Gerhard Stoltenbergs im Amt des Bundesfinanzministers, Herr Lahnstein, hat kürzlich erklärt, auch er hätte die von der neuen Bundesregierung vorgesehenen Kreditausweitungen nicht vermeiden können.
Trotzdem gibt es bei den Haushaltsplänen Gerhard Stoltenbergs zwei Unterschiede zu den Haushaltsplänen der letzten Jahre. Erstens. Mit energischen, ja schmerzhaften Einsparungen wurde begonnen, und erste erfolgversprechende Investitionsanreize wurden in den Plan eingebaut. Zweitens, was noch wichtiger ist: Die Haushaltspläne Gerhard Stoltenbergs sind wahrhaftig, meine Damen und Herren.
Anders als in den letzten Jahren üblich, verschweigen sie keine erkennbaren Defizite. Die viel zu optimistischen Haushaltsentwürfe der alten Regierung hatten zur Folge, daß der Öffentlichkeit ein Verteilungsspielraum vorgegaukelt wurde, den es in Wirklichkeit nicht gab.
Das weckte Ansprüche, die dann in Nachtragshaushalten durch zusätzliche Schuldaufnahmen gedeckt wurden.
All das waren Wohltaten auf Pump, auf Kosten der Zukunft, auf Kosten der jungen Generation. Mit dieser miserablen Haushaltspolitik der sozialdemokratischen Finanzminister hat Gerhard Stoltenberg Schluß gemacht.
Deswegen können diese wahrhaftigen Haushaltspläne auch nicht so schön aussehen, wie die Ihrigen zu Anfang, jedoch nicht mehr am Ende des Jahres aussahen.
Stocksolide, Herr Löffler, um einen Begriff aufzunehmen, den der letzte sozialdemokratische Finanzminister in bezug auf seinen Haushaltsentwurf zu Unrecht gebraucht hat, ist Gerhard Stoltenberg, und weil er stocksolide ist, sind auch seine Haushaltspläne stocksolide.
Ich bin bereit, ihm jederzeit mein Geld anzuvertrauen, und auch die Republik kann es ohne jede Sorge tun, meine Damen und Herren!
Einen Mann dieser Solidität und dieser Sachkompetenz in dieser schwierigen Zeit in dem schweren und wichtigen Amt des Bundesfinanzministers zu haben, ist ein Glück — ein Glück für uns alle.
Neben Gerhard Stoltenberg trägt Norbert Blüm, der promovierte Opel-Arbeiter, wie ich ihn in der letzten Debatte genannt habe, die Hauptlast der Sanierungsaufgabe.
— Mit Arbeitern haben Sie immer Schwierigkeiten, meine Damen und Herren der SPD. —
Sein Vorschlag einer halbjährigen Atempause in der Sozial- und Lohnpolitik ist zwar von vielen kritisiert — was niemanden überraschen kann —, von der Mehrheit der Bevölkerung aber ebenso bestätigt worden wie vom Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.
In seinem Sondergutachten heißt es unter Ziffer 41 — ich zitiere —:Das Kaufkraftargument in bezug auf Löhne wie auf Transfereinkommen und sonstige Staatsausgaben, ... krankt ... an der Vernachlässigung der Kostenseite. ... Zu hohe Forderungen an das Verteilbare verhindern, daß das Verteilbare überhaupt entsteht.So der Sachverständigenrat in seinem Sondergutachten.
Diesen Satz sollten sich diejenigen hinter den Spiegel stecken, denen das Wort von der Solidarität mit den Arbeitslosen so leicht von den Lippen geht, von denen im übrigen aber nur Schlagworte zu hören sind.
Statt uns mit Schlagworten zu traktieren, sollten wir gemeinsam überlegen, was in der Sozialpolitik noch möglich ist und was das Wichtigste in der Sozialpolitik ist. Das ist nach meiner Überzeugung nach wie vor die Absicherung der großen Lebensrisiken Arbeitslosigkeit, Krankheit und Alter. Wie schwer das in Zukunft sein wird, zeigt jede Untersu-
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982 7753
Dr. Dreggerchung der zunehmenden Alterslast in der Rentenversicherung oder der sprunghaft steigenden Kosten in der Krankenversicherung. Die künftige Beitragslast, die bei sinkenden Geburtenzahlen und bei einem gleichbleibenden Leistungsniveau auf die Versicherten zukommen wird, ist schwindelerregend. Wer in dieser Lage die Umstellung des BAföG vom Zuschuß- auf ein Darlehenssystem als soziale Demontage bezeichnet, hat ganz offensichtlich den Überblick verloren oder sich ihn bisher niemals verschafft.
Ein anderer Gesichtspunkt gewinnt an Bedeutung. Nach Feststellung der Transfer-Enquetekommission sind 70 % der Steuerzahler zugleich Empfänger von Transferleistungen. Hat es Sinn, den Fleißigen immer mehr Geld wegzunehmen, um es ihnen danach, nach Abzug der nicht unerheblichen Kosten des Staatsapparates, verkürzt als Staatsleistung zurückzuzahlen? Hierzu ein Zitat aus jüngster Zeit:Richtig ist, daß die Sozialausgaben in ihrer Gesamtheit eine Dynamik entwickelt haben, die an geringeres Wirtschaftswachstum angepaßt werden muß ... Es wird nie gelingen ..., eine soziale Ausgewogenheit auf Heller und Pfennig herzustellen.Das ist ein Zitat aus der Haushaltsrede des letzten sozialdemokratischen Finanzministers. Wer hat nun recht: der jedenfalls nach Meinung des Altkanzlers sachverständige frühere sozialdemokratische Finanzminister oder die wohl weniger sachverständigen sozialdemokratischen Demontagerufer?Im krassen Gegensatz zum Demontagegeschrei steht auch, was der Altkanzler in der SPD-Fraktionssitzung am 10. Juni 1982 ausgeführt hat. Wir haben es schon einige Male gehört, aber man muß es immer wiederholen; es ist wichtig. Ich zitiere Herrn Schmidt:Wer mehr zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit tun will, muß tiefer in die Geld- und Sozialleistungen hineinschneiden.So Helmut Schmidt. Wenn das richtig ist, dann muß man doch jedem die Frage stellen: Was ist wichtiger: die Rückgewinnung der Vollbeschäftigung oder die Verteidigung des BAföG und anderer sogenannter sozialer Besitzstände?Der Appell Norbert Blüms zur halbjährigen Atempause in der Sozial- und Lohnpolitik muß sich auf alle Bereiche der Gesellschaft ausbreiten. Ich beglückwünsche den Hartmannbund, die Kassenärztliche Vereinigung,
ich beglückwünsche den Bauernverband, daß sie diesem Appell folgen wollen, wenn auch andere mitmachen. Ich begrüße einen Aufruf der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände, füge aber hinzu: Es genügt nicht, das zu sagen, sondern sie müssenes jetzt auch machen. Es sind Taten notwendig und nicht nur Ankündigungen.
Massenarbeitslosigkeit und sozialer Rückschritt — das zweite folgt aus dem ersten — sind kein unabwendbares Schicksal. Unternehmer, Wissenschaftler und Ingenieure müssen jetzt daran arbeiten, unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit auch auf den Gebieten wiederherzustellen, auf denen wir sie verloren haben. Das gilt für Spitzenleistungen in den Zukunftstechnologien ebenso wie für den Preiswettbewerb in den Serienprodukten. Dazu gehört, daß es in Zukunft nicht mehr lohnender ist, Geld in Staatspapieren oder im Ausland anzulegen, statt in Betrieben bei uns in Deutschland zu investieren.
Dazu gehört drittens, daß wir endlich den Geldlohn durch einen Investiv- oder Vermögenslohn ergänzen — eine Aufgabe, die seit über einem Jahrzehnt versäumt worden ist. Unsere Unternehmen brauchen mehr Eigenkapital, unsere Arbeitnehmer einen Ausgleich für stagnierende oder gar rückläufige reale Geldeinkommen, unsere Gewerkschaften neue Aufgaben und neue Erfolgserlebnisse, die es in Geldlohnsteigerungen nicht mehr geben kann. Auch der Vermögens- oder Investivlohn muß mehr als bisher tariffähig werden. Ich ermuntere die Bundesregierung, auf diesem Feld ihre Arbeit voranzutreiben, und ich ermuntere die Tarifparteien, dann auch von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen.
Wir werden diesen Weg aus der Talsohle nur schaffen, wenn wir uns anstrengen und wenn wir uns nicht überschätzen, sowohl was unsere Ressourcen als auch was unseren gegenwärtigen Leistungsstand angeht. Wir sind, gemessen an der Zahl der Einwohner, ein kleines und von Natur aus auch ein armes Land, arm an Energie und Rohstoffen. Unser einziger Reichtum sind der Fleiß und die Intelligenz unserer Menschen. Wenn der Fleiß erlahmt und der produktive Einsatz der Intelligenz nicht gefördert, sondern gelähmt wird, dann brechen die ökonomischen Grundlagen des Massenwohlstands und des sozialen Netzes weg.
Die gern gebrauchte Ausrede der alten Regierung, den anderen gehe es noch schlechter, war zum Teil unzutreffend. Im übrigen ist es für uns kein Trost, wenn dieselbe Krankheit andere noch stärker befallen hat als uns. Unzutreffend war diese Feststellung gewiß im Vergleich zu unserem europäischen Nachbarland Schweiz, und sie ist auch immer noch unzutreffend im Vergleich zu unserem großen Konkurrenten auf den Weltmärkten, nämlich Japan. Der andere große Konkurrent, die USA, hat Ressourcen, die die unseren so weit überragen, und ihre Wirtschafts- und Sozialstruktur ist im Vergleich zu der unsrigen so elastisch, daß es sich die USA eher leisten können, in eine Talsohle abzurut-
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7754 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982
Dr. Dreggerschen. Sie werden schneller und wirksamer wieder auf die Beine kommen, als wir es könnten.Im übrigen: Nicht nur Polen und Rumänien, nicht nur viele Länder Lateinamerikas, auch einige europäische Wohlfahrtsstaaten nähern sich einem Zustand, den man als partiellen Staatsbankrott bezeichnen kann. Zwar sind andere dabei weiter fortgeschritten als wir, aber auch wir gehören heute — ganz anders als 1970 — zu den gefährdeten Kandidaten. Der Anfang des Staatsbankrotts wird nicht beim Konkursrichter angemeldet, aber es gibt für ihn zahlreiche Abstufungen. Die erste Stufe ist die Enteignung der Gläubiger durch Inflation, gegebenenfalls mit Hilfe der Notenpresse, was bei uns die Unabhängigkeit der Deutschen Bundesbank Gott sei Dank unmöglich macht. Die zweite Stufe ist die Enteignung der Rentner durch Kürzung von Rentenansprüchen, die in einem langen Arbeitsleben durch Beitragsleistungen erworben worden sind. Der Währungsschnitt, die sogenannte Währungsreform, ist nur die letzte Stufe des Staatsbankrotts.Es hat keinen Sinn, meine Damen und Herren, vor einer solchen Entwicklung zu warnen, wenn sie unabwendbar geworden ist. Heute ist sie noch abwendbar, aber nur, wenn wir es erkennen und damit beginnen, und zwar sofort damit beginnen.
Deshalb sage ich mit großem Ernst, wie schwer es auch sein mag: Die Fahrt ins Traumland, die 1969 begonnen wurde, muß ihr Ende finden. Die Rückkehr in die Wirklichkeit muß stattfinden. Die Regierung muß vorangehen. Sie muß die Wahrheit sagen, auch wenn sie schmerzlich und unbequem ist. Sie muß konsequent bleiben. Wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion fordern Sie, Herr Bundeskanzler, und Sie, meine Dame, und Sie, meine Herren Bundesminister, auf, konsequent zu bleiben. Wir stehen hinter Ihnen, wenn Sie fest bleiben, woran wir nicht den geringsten Zweifel haben.
Die neue Regierung ist jetzt fünf Wochen im Amt. Ihr schwieriger Start ist gelungen. Sie mußte ohne jede Vorbereitungsphase antreten, wie sie nach Parlamentswahlen gegeben ist. Sie mußte aus dem Stand heraus handeln, um die rasende Talfahrt der Staatsfinanzen zu bremsen, um der Bundesbank Spielraum zu Zinssenkungen und der Wirtschaft erste Signale zu einer Kurskorrektur zu geben. Die Regierung mußte in der Wirtschafts-, der Finanz- und der Sozialpolitik sofort äußerst schwierige, teilweise schmerzliche und weittragende Entschlüsse fassen. Sie hat das mit großem Mut, großem Sachverstand und großer Entschlossenheit getan.Dieser Mut der Regierung Kohl verdient um so mehr Anerkennung, als die neue Regierung Neuwahlen zum 6. März nächsten Jahres anstrebt. Ich bin überzeugt, daß es unser Volk nach dem SPD- Rentenbetrug 1976 und dem SPD-Finanzbetrug 1980 zu würdigen weiß, jetzt eine Regierung zu haben, die bereits vor der Wahl die Wahrheit sagt
und sogar bereit ist, sich mit diesen unangenehmen Wahrheiten auf den Prüfstand der Wähler zu stellen.
Meine Damen und Herren, eine Regierung, die so ehrlich und so mutig ist wie die Regierung Kohl, verdient die Unterstützung aller Gutwilligen im Lande. — Herzlichen Dank.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Simonis.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Wir wissen, daß es auch anders kommen kann. Und in diesem Jahr spricht vielleicht vieles dafür, daß das, was tatsächlich geschieht, eher besser als schlechter sein wird als jene Entwicklung, die wir für am wahrscheinlichsten halten. Aber das ist zu ungewiß." Dies, meine Damen und Herren, ist keineswegs eine verschlüsselte Botschaft als Antwort auf das, was Herr Dregger hier vorgetragen hat, sondern das Ergebnis des geballten Wissens des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Wirtschaft — Jahresgutachten 1977 Ziffer 339.
Dem Wirtschaftsminister diente solche Weisheit Jahr für Jahr als Grundlage für die von ihm vorgelegten Jahreswirtschaftsberichte, die mit der Treffsicherheit einer Schrotflinte immer irgendwo getroffen haben, nur nie die richtigen Rahmendaten.
Meine Damen und Herren, auch das Chaos kann man nur einmal entdecken. Das ist eine alte Weisheit. Wenn man aber den Zickzackkurs der neuen Regierung betrachtet, kommt man zu zwei Erkenntnissen. Erstens: Zumindest in der Wirtschafts- und Finanzpolitik kann man das Chaos jederzeit immer wieder aufs neue entdecken und hier als eine neue Entdeckung vortragen. Zweitens — so gestern Herr Kollege Hauser —: Wer nur tätige Reue zeigt wie der ehemalige Wirtschaftsminister, darf weiter am Bau des „Trümmerfeldes" beteiligt sein und beim Chaos mitmachen.
Ein Neuanfang sollte gemacht werden. Alles sollte besser werden. Eine Wende sollte eingeführt werden, ein kraftvoller Start in eine bessere, in eine schuldenfreie, in eine leistungsorientierte Zukunft. Nun, die Wende ist Ihnen gelungen: als Rolle rückwärts; der kraftvolle Start als ein Kavaliersstart mit angezogener Bremse und blockierten Reifen. Freunde und Gegner Ihrer Politik stellen gleichermaßen überrascht fest: Nichts, aber auch gar nichts, was vorher Ihre Wahrheit war, hat jetzt noch Gültigkeit.
Der Bundesetat 1983, dessen angeblich falsche Dramaturgie der FDP u. a. zum Koalitionswechsel
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982 7755
Frau Simonisdiente, wird nicht, wie versprochen, völlig neu eingebracht; nein, er wird ergänzt. Zu dieser Ergänzung fällt dem neuen Finanzminister denn in der „Wirtschaftswoche" auch nur ein: Die entscheidende Veränderung ist eine Verschlechterung.
Das muß man j a wirklich zweimal lesen, um zu begreifen, daß dieses Parlament mit einer neuen Regierung im Eilverfahren über eine Verschlechterung — keineswegs über eine Verbesserung — zu beraten hat. Dies ist, Herr Finanzminister, in der Tat absurdes Theater.
Frau Abgeordnete Simonis, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Graf Lambsdorff.
Aber natürlich.
Bitte.
Verehrte Frau Kollegin, darf ich Sie darauf aufmerksam machen — selbstverständlich in aller Freundschaft —,
daß das Tempo Ihres Vortrags uns um den wirklichen Genuß Ihrer Sottisen bringt?
Herr Minister, ich danke Ihnen, daß Sie — in aller Freundschaft — trotzdem noch so etwas wie Warnungen an Ihren ehemaligen Koalitionspartner geben, damit Sie in den Genuß unserer Sottisen kommen können. Ich bemühe mich.
Wir waren beim absurden Theater stehengeblieben. Und da darf ich dann auch weitermachen.
Die Mehrwertsteuer — dies als zweite Bemerkung — wird nun doch um einen Prozentpunkt erhöht, obgleich sie vorher als „säuerlicher Mief des Neides" von Herrn Strauß, als „Fehler" von Herrn Albrecht, als „abenteuerlich" von Herrn Geißler gegeißelt worden war. Noch herber allerdings kanzelte der heutige Bundeskanzler die Münchener Parteitagsbeschlüsse meiner Partei zur Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik ab. Linkssozialistische Thesen hätten sich durchgesetzt;
der Neid im Sinne des Klassenkampfes habe unsere Hand geführt.
Herr Bundeskanzler, ich habe das Gefühl, das Kabinett hatte einen ziemlich heftigen Anfall von Neid im Sinne des Klassenkampfes, als Sie Ihre Beschlüsse gefaßt haben. Denn ich sehe in einigenDingen wirklich keinen großen Unterschied zu unseren Vorschlägen, außer in einem, nämlich beim Gesetzentwurf über die Ergänzungsabgabe. Da hatte der Neid Ihnen allerdings auch noch die Augen geblendet. Denn Sie haben nicht einmal mehr das Deckblatt der Drucksache 9/2016 gelesen — übrigens auch nicht der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU; sonst wären Sie vorhin nicht zu Ihrer abenteuerlichen Bemerkung gekommen, die obendrein falsch ist.
Sieht man sich auch Ihr zwanghaftes Bemühen an, soziale Gerechtigkeit bzw. soziale Ungerechtigkeit scheinbar gegen jedermann walten zu lassen, dann fällt einem die Zwangsanleihe ins Auge, die Ihnen ja schon gestern — mit Recht, finde ich — um die Ohren gehauen worden ist und die obendrein heute morgen von Ihnen, Herr Dregger, mehr als nur kläglich begründet worden ist, und als zweites das Kindergeld. Vielleicht läßt sich der Kollege der CDU, der gestern so vollmundig zum Kindergeld sprach, erklären, was bei der Progression für den „Normalverdiener" mit 5 000 Mark — davon hat doch gestern jemand, der Herr Wartenberg , gesprochen — an Steuerersparnis rauskommt: Es ist mehr als das, was Sie an Kindergeld wegnehmen.
Hätten wir dies alles vorgeschlagen, Herr Bundeskanzler, ein „Ganz und gar unerträglich" wäre eine nur milde Rüge aus Ihrem Mund gewesen.
Die Erhöhung der Beiträge zur Rentenversicherung, die Erhöhung der Beiträge zur Bundesanstalt für Arbeit, die Beteiligung der Rentner an der Krankenversicherung, eine spätere Anpassung usw. usw.: vorher lauthals abgelehnt, hinterher einfach abkassiert und nicht einmal begründet, warum das sein muß.
Sicher, lieber Herr Kollege, kann man als Opposition das Blaue vom Himmel herunterversprechen, je nachdem, wie man seine Rolle als Opposition betrachtet.
Aber Sie wollten doch damals ernst genommen werden, als Sie sagten: Deutlich unter 30 Milliarden DM; das ist der Rubikon, über den wir nicht gehen. Sie haben ihn in der Zwischenzeit mit feuchtem Fuß, aber leichtfüßig überschritten. Über 40 Milliarden sind Sie gegangen.
Sie haben damals gesagt: Die staatliche Kreditaufnahme würgt private Investitionen ab und drücktdie Zinsen nach oben — das gilt wohl offensichtlich
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7756 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982
Frau Simonisnur, wenn der Finanzminister ein SPD-Parteibuch in der Hand hat —,
die Mehrwertsteuer sei Gift — das wird dann durch das Markenzeichen der Rechtskoalition geheilt —,
und die Abgaben für die Wirtschaft seien nicht mehr tragbar. — Das war offensichtlich psychologische Kriegsführung. Ernst zu nehmen war das jedenfalls nicht.
Dies alles hat Ihnen ja nun in der Presse das eingebracht, was man eigentlich als einen Verriß bezeichnen könnte. Auch die Wirtschaftsinstitute haben keineswegs nur Lob ausgesprochen, lieber Herr Dregger, sondern Ihnen sehr vorsichtig gesagt, was Sie alles falsch machen. Im „Handelsblatt" steht z. B. „Wenig Anlaß zur Freude", in der „Zeit": „Nur die Phrasen haben Konjunktur", in der „Süddeutschen Zeitung": „Stoltenberg braucht noch Sparerfolge", in der „Welt": „Ärgerliche Steuer- und Abgabenerhöhungen". — An dieser negativen Einschätzung ändert sich auch nichts, wenn der Finanzminister in einem Rundfunkinterview des Norddeutschen Rundfunks sagt, im Prinzip habe man seine grundsätzlichen Positionen nicht aufgegeben, aber ... Normalerweise fangen so RadioEriwan-Witze an.
Herr Finanzminister, Sie haben jede, aber auch jede Bastion geräumt, die Sie uns damals, als wir uns darangemacht haben, die aus der Weltwirtschaft herrührenden Schwierigkeiten zu bekämpfen, in den Weg gelegt haben.
Ihre Flexibilität auf diesem Gebiet wird nur durch die Härte übertroffen, mit der Sie in der Sozialpolitik allerdings unbeirrt Ihre politischen Ziele weiterverfolgt haben.Es muß doch bei Ihnen so etwas wie Unbehaglichkeit aufkommen, wenn Sie an Ihr Tun die Meßlatte Ihrer eigenen Forderungen anlegen. Fünf bis zehn Prozent Kürzungen bei allen Subventionen — das ist eine Rasenmäher-Methode, haben wir immer gesagt; wir haben das auch abgelehnt. Wir haben aber nicht gesagt, daß Sie die Nagelschere nehmen sollen, damit 500 Millionen DM herauskommen sollen.
Die von Ihnen, Herr Stoltenberg, genannten Kriterien — ich suche mir das heraus, was mir die meisten Sorgen macht —, nämlich daß Arbeitnehmer einen Lohnverzicht zu leisten haben, wenn Sie weiterhin Subventionen geben sollten, halte ich in der Tat für zweifelhaft.Ist es eigentlich das Verschulden unserer Werften — das müßten Sie als ehemaliger Ministerpräsident doch kennen; Sie kommen ja aus einem Land, in dem die Werften weis Gott einen schwierigen wirtschaftlichen Faktor darstellen —, wenn wir weltwirtschaftlich im Schiffbau Verwerfungen und Überkapazitäten haben? Wer trägt die Schuld daran, daß wir in der EG einen Subventionswettlauf haben, bei dem wir fast schon gar nicht mehr mitkommen, daß wir Management-Fehler haben, die normalerweise zur fristlosen Entlassung führen müssen? Die meisten gehen allerdings schön vorher mit Abfindung.
Was Sie fordern, ist die Privatisierung des Beschäftigungsrisikos, das keineswegs vom Arbeitnehmer verschuldet ist, sondern auf anderen Gründen beruht.
Hans Henning Zencke, der nun weis Gott kein Bewunderer sozialdemokratischen Gedankenguts ist, schreibt denn auch: „Tatsächlich hat sich das Hauptgewicht der derzeitigen Schwierigkeiten auf die Finanznöte vieler Welthandelspartner verlagert, die die Exportchancen der deutschen Unternehmen wesentlich verschlechtert haben". — Es geht dann noch weiter im Zitat — —
— Nein, der Herr Lambsdorff soll ja gar nicht genießen, der Herr Stoltenberg soll genießen.
Genau jene weltwirtschaftlichen Schwierigkeiten, jene Finanznöte unserer Welthandelspartner aber waren auch jene Schwierigkeiten, gegen die wir uns in der alten Koalition schon haben zur Wehr setzen müssen. Das haben Sie mit Ihrer Verweigerungsstrategie unmöglich gemacht. Alleine die Wackel- und Wendemanöverzeit, die der FDP-Vorsitzende gebraucht hat, um sich zu entscheiden, ob er nun hüpfen soll oder nicht, hat doch unsere Fähigkeit zum Handeln für mindestens ein Jahr lahmgelegt.
An Ihre Erblast-Theorie, meine Damen und Herren von der neuen Koalition, glauben Sie doch eigentlich selber gar nicht mehr. Die beten Sie doch hier nur noch vor, damit Sie sie später irgendwo einmal zitieren können.
Entweder versprechen Sie wider besseres Wissen — das kommt dann schon an den Rand einer Falschmeldung — als Bundeskanzler eine Hausfrauenrente oder eine Steuersenkung — Herr Stoltenberg, ich war wirklich überrascht — von jährlich 4 Milliarden DM, wenn das „Haus in zwei Jahren von Ihnen wieder in Ordnung" gebracht wird. Das könnten Sie nicht bezahlen, wenn Sie das „Trümmerfeld" so beschreiben, wie Sie es getan haben.
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982 7757
Frau SimonisStimmt das Trümmerfeld, wie Sie es beschrieben haben, dann können Sie es nicht versprechen; stimmt es nicht, dann zerstören Sie wider besseres Wissen die Vertrauenswürdigkeit unserer Wirtschaft. Dies ist ein miserabler Start, und dies ist ein miserabler Stil.
Weisere Politiker haben sich schon rechtzeitig aus dieser Situation abgemeldet, so z. B. der heutige Chef der Schleswig-Holsteinischen Landeszentralbank und ehemalige Finanzminister. Er sagte nämlich: Das Wirtschaftsklima in der Bundesrepublik ist nach wie vor — ich wiederhole: nach wie vor — durch das ungünstige weltwirtschaftliche und weltpolitische Umfeld belastet. — Je eher die neue Regierung solche Mahnungen aus den eigenen Reihen ernst nimmt, um so eher kommen wir zu einer anständigen und vernünftigen Politik zur Überwindung der Krise.
Sie brauchen weder auf Zeitungsartikel einzugehen, noch brauchen Sie auf uns zu hören. Aber auf Dauer werden Sie nicht umhin kommen, zur Kenntnis zu nehmen, daß Tausende von Arbeitnehmern auf die Straße gehen.
Herr Dregger, die wären auch bei uns auf die Straße gegangen. Aber Sie gehen jetzt mit noch viel mehr Recht auf die Straße.
Die wehren sich dagegen, daß Ihre Politik darauf hinausläuft, daß den Armen und sozial Schwachen reichlich genommen wird, um es den Reichen ungehemmt geben zu können.
Sie wehren sich gegen eine Politik der Entsolidarisierung! Sie wehren sich dagegen, von Ihnen nur als Kostenfaktor betrachtet zu werden,
von dem Unternehmer entlastet werden sollen. Und die wehren sich gegen den Vorwurf gestiegener Anspruchshaltung, wenn es darum geht, daß ihre Leistung gerecht entlohnt wird.
Leistung, so sagen Sie, muß sich wieder lohnen; ein Vertrauensklima muß wieder geschaffen werden.
Nach dieser Devise ist Leistung bei Ihnen offenbar nur dann lohnend und belohnenswert, wenn sie sich in Investitionen, wie dubios auch immer, niederschlägt. Hat denn die Leistung des Deutschen Arbeitnehmers nicht dazu beigetragen, daß Investitionen überhaupt erst Früchte tragen können in der Bundesrepublik?
War denn nicht die zurückhaltende Lohnpolitik der deutschen Einheitsgewerkschaft ein Vertrauensfaktor ohnegleichen für die Industrie?
Ich sage Ihnen: Wer Vertrauen schaffen und erhalten will, muß nicht nur für Unternehmer ein Klima des Vertrauens schaffen, sondern er muß sich vor allem bei Arbeitnehmern um das Vertrauen bemühen, daß deren Leistung, daß deren Opferbereitschaft da, wo es beschäftigungspolitisch sinnvoll ist, mindestens den gleichen gesellschaftlichen Stellenwert erhält wie eine Investition.
Was ist denn das für eine Leistung, wenn durch Wirtschaftskriminalität 4 Milliarden DM verlorengehen? Das ist Anspruchshaltung von Leuten, die zuviel Geld haben.
Was ist denn das für eine Leistung, wenn in Finanzämtern festgestellt wird, daß bei Firmen 5 Milliarden DM locker rauszuholen wären? Was ist das für eine Leistung, wenn durch Steuerschulden, Stundung und Steuermogelei 35 Milliarden DM an Staatskassen vorbeigeführt werden?
Arbeitnehmer allerdings haben nur überzogenes Anspruchsdenken.
Wieso ist eigentlich die Teilnahme eines Arztes oder Zahnarztes an einem Fortbildungskurs in Davos ein steuerlich zu belohnender Tatbestand, eine Leistung, während Schüler-BAföG von Ihnen als Ausdruck überzogenen Anspruchsdenkens abgeschafft wird?
Frau — —
Nein, nein; Entschuldigung.Wieso darf der Quellenabzug bei Zinsen auf Sparguthaben von uns nicht einmal andiskutiert werden, weil sonst Kapitalflucht stattfindet — das sind 4 bis 5 Milliarden DM, die den öffentlichen Händen fehlen —, während Sie beispielsweise den Arbeitnehmern sagen, sie möchten einmal eine Lohn- und Atempause einlegen? — 4 bis 5 Milliarden DM dürfen sich andere Leute in ihre Tasche schieben!
Was Sie sich im BAföG-Bereich geleistet haben, wird später von einer Kollegin von mir noch einmal aufgeführt werden. Sie loben da so rührselig den „Facharbeiter".
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7758 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982
Frau Simonis— Nein, bitte nicht. Ich komme mit meiner Zeit nicht zurecht.
Für seine Söhne und Töchter jedoch haben Sie nichts weiter übrig, als daß sie später als BAföG-Geschädigte ihr Leben mit 40 000 DM Schulden beginnen können.
40 000 DM Schulden!
Wenn ein solches BAföG-geschädigtes Kind eines Facharbeiters nicht zufällig einen Erben heiratet, dann beginnen die beiden mit 80 000 DM Schulden, wenn der andere auch ein BAföG-Geschädigter war. An Ihren Existenzgründungsprogrammen können die beiden jedenfalls nicht mehr teilnehmen, weil keine seriöse Bank ihnen Kreditplazet geben würde. Und einen Einrichtungskredit kriegten die beiden auch nicht, wenn sie heiraten würden.
Wieso eigentlich ist Solidarität ab einer bestimmten Einkommenshöhe — und Sie nennen das ja Solidarität mit der zukünftigen Generation — ein Fremdwort, während es nach der NürnbergerTrichter-Methode in Mark und Pfennig in die Köpfe derjenigen eingetrichtert wird, die weniger Geld verdienen? Das müssen Sie uns wirklich einmal erklären.
Mit Ihrem neuen Haushalt haben Sie das bisher Beschlossene als einen eiligen ersten Schritt in eine für Sie richtige Richtung gemacht. Sie sagen, nach dem 6. März — ich nehme an, es soll tatsächlich eine Wahl stattfinden; ich weiß aber noch nicht, wie Sie das hinkriegen wollen — soll es noch weiter kommen, soll es noch schlimmer werden. Das Ergebnis wird eine Gesellschaft der Reichen und Einflußreichen sein,
eine Gesellschaft der Aus- und Abgegrenzten, eine Gesellschaft der totalen Medienmacht; man könnte das beliebig fortsetzen.
Jedenfalls ist das nicht, wie versprochen, eine Gesellschaft mit menschlichem Gesicht, sondern eine Klassengesellschaft,
und weil wir das nicht wollen, werden wir uns schon jetzt rechtzeitig dagegen wenden.In der Presse haben Sie, Herr Stoltenberg, Ihren Etat als einen Entwurf mit ganz neuen Akzenten vorgestellt. Ihre Zaubertricks, mit denen Sie als Ministerpräsident Ihren schleswig-holsteinischen Haushalt überhaupt über die Runden bringen konnten, lassen uns allerdings in Zukunft wirklich darauf achten, wie denn diese „ganz neuen Akzente" aussehen sollen. Da wird in Schleswig-Holstein umgebucht, umgetitelt, umgeschoben, da werden neue Deckungsvermerke geschaffen, und plötzlich ist aus einer konsumtiven Ausgabe eine Investition geworden. Damit können Sie die Krdite erhöhen; die hätten Sie nämlich vorher nicht mehr bekommen, weil die Kreditgrenze bereits überschritten war.
Aber passiert ist im Grunde genommen gar nichts; Sie geben das Geld für genau die Dinge aus, die Sie vorher geplant hatten.Natürlich, Herr Stoltenberg, würde ich Ihnen jederzeit 1 oder 2 oder 5 oder 10 Mark privat anvertrauen — gar kein Problem, Herr Dregger! —, aber nicht meine Steuern,
denn das will ich Ihnen sagen:
Schauen Sie sich einmal die „haushaltspolitischen Meisterwerke" des neuen Finanzministers in Schleswig-Holstein an! Schuldenstand, gemessen am Bruttosozialprodukt: im Bund 16,6 %, in Schleswig-Holstein 19,9 %, in Niedersachsen 20,9 % bei großmütigem Verzicht auf die Einnahmen aus den „windfall-profits".
Bei den Schulden pro Kopf stehen Sie in einem Flächenstaat — und da muß man die Gemeinden hinzurechnen, denn sie sind nach Grundgesetz durch die Länder über den Gemeindefinanzausgleich auszustatten —
bei über 4 200 Mark, und damit stehen Sie, was die Schulden pro Kopf betrifft, sogar noch vor dem Bund. Die Zinsquote liegt im Bund bei 7,7 %, während es in Schleswig-Holstein 7,9 % sind, und diese Quote wird steigen.Dies alles bringt uns auch dazu, hier keineswegs in Jubel auszubrechen, wenn wir uns Ihren Haushalt ansehen, denn er trägt weiß Gott Ihre Handschrift.
Zwar steigen die investiven Ausgaben, aber die Quote bleibt die gleiche, weil Sie j a auch insgesamt den Umfang des Haushalts vergrößert haben. Die Quote bleibt bei 13,1 %; das verschweigen Sie, wenn Sie mit den Steigerungen der investiven Ausgaben hausieren gehen.Als Mogelpackung entpuppt sich auch Ihr Programm für kleine und mittlere Unternehmen sowie für Existenzgründungen. Zwar wird auch hier — insgesamt um 60 Millionen — erhöht, aber gleichzeitig kürzen Sie im selben Haushalt — im übrigen im investiven Bereich — die Kokskohlebeihilfe, die
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982 7759
Frau SimonisHilfe zum Bau von Kohleheizkraftwerken und die Hilfen zum Ausbau der Fernwärme um insgesamt 260 Millionen DM.
Netto wird hier also weniger ausgegeben, als Sie sagen.Schon heute liegt die nationale Kohlereserve bei 10 Millionen t. Hinzu kommt eine Halde von mehr als 20 Millionen t. Fernwärme wäre eine Möglichkeit, unsere Importabhängigkeit vom Rohöl zu mildern, Blockheizkraftwerke könnten die Halden abbauen.
Für beides ist von Ihnen kein Geld zu bekommen.Am ärgerlichsten ist — das will ich Ihnen einmal sagen — die Kürzung der Kokskohlezuschüsse um mehr als 160 Millionen Mark. Noch vor vier Wochen hat Ihr Haus, Herr Wirtschaftsminister, im Haushaltsausschuß vorgetragen, daß dann, wenn dieses Geld nicht sofort freigegeben und Ihnen zur Verfügung gestellt wird, Stahl und Kohle in der Bundesrepublik zusammenbrechen. Wir haben Ihnen damals geglaubt. Und was ist dieses Geld jetzt? Ihre Spardose, mit der Sie nach außen zeigen wollen, wie gut Sie sparen. Nein, was Sie machen, ist dies: Sie lassen ganze Regionen kaputtgehen und kommen mit Ihren Existenzgründungsprogrammen in der Hoffnung, daß jemand sie in Anspruch nimmt. Aber jeder Mensch, der Vernunft im Kopf hat, kann sich ausrechnen, daß das Ergebnis Ihrer Politik — Kürzungen bei den Werften, bei der Luftfahrt, beim Bergbau, beim Stahl — mehr Arbeitslose sein muß. Warum um Gottes willen soll dann jemand in diesen Regionen eine neue Existenz gründen?
Das hieße doch wirklich das Geld gleich zum Fenster hinauswerfen.
Eine Nebenbemerkung: Dies ist übrigens dem Parlament gegenüber nicht seriös, um nicht ein anderes Wort zu gebrauchen. Vor allem aber ist es gegenüber den Arbeitnehmern in diesen Ländern bzw. in diesen Regionen nicht seriös; die müssen nämlich jetzt feststellen, daß für Sie, für die neue Regierung, das Sparen einen höheren Stellenwert als die Sicherheit von Arbeitsplätzen hat.
Da nützt es auch überhaupt nichts, daß Sie die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe um 50 Millionen DM erhöht haben. Das ist doch Gießkanne! Hier ein Märkchen, dort ein Märkchen, noch ein Märkchen über das ganze Land verteilt, aber in den wichtigen Industriezentren bricht Ihnen alles zusammen, und von Ihrer Seite kommt überhaupt nichts!
Herr Finanzminister, auch der tröstliche Hinweis, die Überweisungen an die Bundesanstalt für Arbeit seien j a eine Konjunkturstützungsmaßnahme, nützt dem einzelnen Arbeitslosen ja nun überhaupt nichts. Der will nämlich einen Arbeitsplatz. Der will keine Finanzakrobatik, der will keine Definitionsfreiübungen, der will einen Arbeitsplatz.
Wenn 8 Milliarden DM an die Bundesanstalt eh Konjunkturstützungsmaßnahmen sind, warum tun Sie es nicht gleich in die Wirtschaft, sondern lassen es erst über den Umweg der Bundesanstalt für Arbeit als Arbeitslosengeld laufen, anstatt hier eine vernünftige Wirtschaftspolitik zu machen?„Neue Probleme", so haben Sie damals geschrieben, Herr Genscher, „erfordern neue Mehrheiten." Ich widerspreche Ihnen ausdrücklich. Neue Probleme erfordern zunächst neue Antworten, dann kann man sich um neue Mehrheiten bemühen. Das Kleben an einem Ministersessel ist weiß Gott noch keine Antwort.
Statt uns konkrete Antworten auf die Frage zu geben, wie Sie Arbeitsplätze für Frauen, für Jugendliche, für Behinderte, für Ausländerkinder schaffen wollen, die nostalgische Sehnsucht, nahtlos an die 50er Jahre anzuknüpfen. Nun ist Nostalgie weiß Gott eine liebenswürdige persönliche Schwäche, in der Politik aber führt sie zur Realitätsblindheit, denn sie verkennt schlichtweg die Veränderungen, die seit 1950 stattgefunden haben. Sie kann und will auch nicht wahrhaben, daß es in der Wirtschaftspolitik, in der Außenpolitik, aber auch in unseren eigenen Wertvorstellungen seit den 50er Jahren Veränderungen gegeben hat.
Eine Politik, die auf die Probleme von heute Antworten von vor 30 Jahren geben will, kann ihrem eigenen Anspruch einer geistigmoralischen Erneuerung überhaupt nicht gerecht werden;
denn zur geistig-moralischen Erneuerung gehört nun einmal, daß man Realitäten so erkennt, wie sie sind.
Die drastische Erhöhung unserer Ölpreisrechnung, die Abschottung ausländischer Märkte, insbesondere der amerikanischen Märkte, die Überbewertung des amerikanischen Dollar, die Zahlungsunfähigkeit unserer wichtigsten Handelspartner, dies alles kommt in der Nostalgie nicht, wohl aber in der Realität vor. Daß der sinkende Zins keineswegs die Wirtschaft belebt, wie Sie es immer glaubten — der Immobilienmarkt ist nach Auskunft des Ringes Deutscher Imobilienmakler praktisch tot, die Auftragslage macht im Moment eine Talfahrt durch —, zeigt doch, daß die Wirtschaft zwar Nostalgie schätzt, wenn man sie vermarkten kann, aber als politischen Faktor nicht ernst nimmt.
Nichts, aber auch nichts hat bis jetzt die Unternehmer dazu bewegen können, ihre Zukunftsplänenach oben zu korrigieren. Warum denn auch? Bei
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Frau Simonisnicht ausgelasteten Kapazitäten und Ihren Parolen, den Gürtel enger zu schnallen, wird Nachfrage breiter Schichten abgewürgt, und das ist immer noch ein wichtiger Faktor
für jemanden, der eine Investition tätigen will. Dem Charme der Angebotsökonomie fehlt leider nur der Nachweis, daß sie wirkt. Betrachten Sie einmal, was 1981 stattgefunden hat. Die Gewerkschaften haben sich mit Lohnerhöhungen zufriedengegeben, die unter der Preissteigerungsrate lagen. Keineswegs wurden diese Gewinne — das sind ja Gewinne, wenn man es durchrechnet — von den Unternehmern investiert.
Nein, die haben sogar noch ihre Anlageinvestitionen zurückgefahren um mehr als 4 %. Daran wird höchstwahrscheinlich schuld gehabt haben,
daß die reale Nachfrage im Verbrauch um 1 % gesunken ist.
— Das ist tatsächlich dumm, Ihre Politik, da haben Sie wirklich einmal ein wahres Wort gelassen ausgesprochen.Insgesamt haben die Unternehmer nicht investiert, sondern sie haben ihre Finanzausstattung um 2,5 % verbessern können, weil sie nämlich Gewinne nicht entnommen und Abschreibungen vorgenommen haben.Wenn nicht Tausende von Arbeitnehmern dafür bitter zu bezahlen hätten, könnten wir mit einiger Gelassenheit abwarten, wie Sie sich aus der Sackgasse, in die Sie sich hineinmanövriert haben, weil Sie alles, aber auch alles fehleingeschätzt haben, wieder hinausbekommen. Ich denke, was wir brauchen, ist eine Wende von Ihrer Wende, denn sonst werden wir am Ende feststellen müssen: Die Operation ist gelungen, der Patient ist tot. Die Forderung nach einer Lohnpause paßt weder in Ihr marktwirtschaftliches Konzept noch paßt sie in die momentane wirtschaftliche Lage. Wir brauchen keine Lohnpause, sondern wir brauchen eine Stärkung der Nachfragefähigkeiten vieler kleiner Nachfrager auf unserem Markt.
Wann wollen Sie eigentlich Schluß machen mit Ihrer die Talfahrt nur beschleunigenden Wirtschaftspolitik?
Herr Stoltenberg, spätestens beim nächsten Nachtragshaushalt, den Sie uns hier vorlegen müssen — anders geht es überhaupt nicht, Sie kommen gar nicht anders über die Runden —, werden wir uns über die Zahlen unterhalten müssen bei den Arbeitslosen, die Sie dann zu verantworten haben.Dann ist das Erblastthema Ihr Thema und nicht mehr unser Thema.
Wir, Herr Stoltenberg, werden Ihnen die Höhe der Nettokreditaufnahme nicht zum Vorwurf machen, sondern wir werden Sie fragen: Was haben Sie mit diesem Geld gemacht?
Die alte Koalition hat bis 1980 innerhalb von sechs Jahren 900 000 neue Arbeitsplätze geschaffen. Das machen Sie uns bitte erst einmal nach, und dann kommen Sie mit Ihrem Nachtragshaushalt und mit Ihrem Erblastthema.
Im übrigen: Wenn Sie darauf hoffen, daß bei unausgelasteten Kapazitäten schlichtweg mit Wachstumspolitik die neue Wende herbeigeführt werden kann, dann lesen Sie bitte einmal den Report Nr. 11 der Prognos AG, die Ihnen vorrechnen wird, daß das nicht geht.
Ein 6 %iges Wachstum unseres Produktionsvolumens, wie es beispielsweise die Bundesbank fordert, würde dazu führen, daß wir unser Produktionsvolumen in der Bundesrepublik alle zehn Jahre verdoppeln würden. Daran, daß Sie das schaffen, glauben Sie doch selber nicht. Wir wollen es auch gar nicht.
Wenn es nicht gelingt, das zu verhindern, wird das, was wir zum Thema Umwelt und schonende Technologien auch von Ihnen gehört haben, reine Makulatur und ist nicht einmal das Papier wert, auf dem es geschrieben ist.Wir erwarten von Ihnen, daß Sie neue Schwerpunkte setzen
und mit uns diskutieren, wie wir diese Schwerpunkte umsetzen können. Wir erwarten von Ihnen, daß sie tatsächlich Arbeitsplätze schaffen und dies nicht nur zum Problem Nummer eins erklären; wir erwarten von Ihnen, daß Sie was tun.
Wir erwarten von Ihnen, daß Sie sich mit dem Problem der Arbeitszeitverkürzung nicht nur in der Presse durch Herrn Blüm, sondern hier mit uns im Parlament auseinandersetzen, damit technischer Fortschritt nicht zum Jobkiller Nummer eins wird.
Mit einer Arbeitszeitverkürzung, Herr Bundeskanzler, ist übrigens auch den Frauen mehr gedient als
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Frau Simonismit dem in der „Bild-Zeitung" bezeugten Respekt vor den deutschen Hausfrauen und Müttern.
Auch deutsche Hausfrauen und Mütter wollen mehr als nur Respekt. Sie wollen einen Arbeitsplatz, Herr Bundeskanzler, allerdings ohne job-sharing. Aber wenn denn schon job-sharing: Wieso findet sich in Ihrer Regierungserklärung nicht ein Wort darüber, daß sich auch einmal ein Mann auf diese Art und Weise die Freizeit erkaufen kann, um sich beispielsweise um seine Kinderchen zu kümmern?
In Ihrer Regierungserklärung kein Wort dazu; hier im Parlament kein Wort, aber in der „Bild-Zeitung" der Respekt.Wir Sozialdemokraten sind keineswegs gegen technischen Fortschritt, wenn er sozial kontrolliert wird und wenn seine sozialen Kosten gerecht und gleichmäßig verteilt werden. Deswegen fordern wir den Ausbau der Mitbestimmungsrechte für Arbeitnehmer; auch dazu in Ihrer Regierungserklärung kein einziges Wort. Wir fordern ein Programm, das volkswirtschaftlich sinnvollen, öffentlichen Investitionen, beispielsweise in den Umweltschutz, in die Massenverkehrsmittel, in Kläranlagen, in Fernwärme, Vorrang vor privatwirtschaftlichen Investitionen gibt und damit „vernünftige" Arbeitsplätze schafft.
Zum Schluß noch eine Bemerkung: Im Wahlkampf in Amerika hat der amerikanische Präsident es für nötig befunden, sich bei den Arbeitslosen zu entschuldigen. Ich wünsche und hoffe, daß wir alle als der Deutsche Bundestag uns nicht eines Tages bei den sozial Schwachen und den Arbeitslosen in dieser Republik für die Folgen Ihrer Politik zu entschuldigen haben. — Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hoppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Noch nie bin ich so schweren Herzens an dieses Pult gegangen. Der Beitrag der lieben Kollegin Simonis
hat es für mich nicht einfacher gemacht, nicht weil sie kräftig draufgehalten hat; auch Übersteuerungen sind hier durchaus verständlich. Aber was die Operationsformel angeht, so habe ich bei der zweiten Lesung des Haushalts 1982 formuliert: Wennwir die mit der Operation '82 eingeschlagene Politik nicht konsequent weiterführen, dann wird es eines Tages heißen: Operation geglückt, Operationsteam tot. Ich bin nicht stolz darauf, recht behalten zu haben.Meine Damen und Herren, es ist in den letzten Wochen in der Finanzpolitik so viel von der Erblast gesprochen worden. Ich stehe hier als Erblasser und Erbe zugleich. Diese Doppeleigenschaft ist eher bedrückend als beglückend. In der Tat kann die Haushaltssituation auch nicht fröhlich stimmen. Bei der hohen Neuverschuldung des Bundes in den Jahren 1982 und 1983 kommt wahrlich keine Stimmung auf.Im Ringen um richtige Lösungen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und zur Wiederbelebung der Wirtschaft beginnen wir ein neues Spiel. Aber, um in der Tennissprache zu bleiben, dies geschieht mit einem Doppelfehler. Denn 1982 und 1983 schnellt der Kreditbedarf auf über 40 Milliarden DM in die Höhe. Eigentlich wäre es angebracht, die Etats der Jahre 1982 und 1983 mit Trauerrand zu drucken.Bevor sich hier jedoch Resignation ausbreitet, sollten wir aus diesen Zahlen den stummen Schrei nach jener Solidität in der Finanzpolitik heraushören, die von Willy Brandt in seiner Regierungserklärung 1969 versprochen wurde.Meine Damen und Herren, ich stehe hier auch als Teil jener politischen Gruppe, die „weggeharkt" werden soll. Diese Empfehlung ist zwar abgemildert worden, aber meine Betroffenheit ist geblieben. Es klingt für mich schon seltsam, wenn ausgerechnet der frühere Bundeskanzler jetzt dafür wirbt, die SPD zur neuen Heimat für Liberale zu machen.
Helmut Schmidt war ein großer Kanzler und ein unerhört kenntnisreicher Ökonom,
Außen- und Sicherheitspolitiker.
Aber ein Ausbund an Liberalität war er wahrhaftig nicht.
Er wäre — Sie wissen es selbst so gut wie ich — als Bundeskanzler mit einem Parlamentsbeauftragten gut ausgekommen.
Wir stehen heute vor der alles überragenden Aufgabe, die Folgen gravierender wirtschaftlicher Umbrüche Zug um Zug in den Griff zu bekommen. Diese Erkenntnis ist keineswegs neu. Das Problembewußtsein war zweifellos schon in den letzten Jahren deutlich gewachsen. In der sozialliberalen Koalition ist spätestens mit den sich rasant verändernden ökonomischen Rahmenbedingungen und der daraus resultierenden Wachstumsschwäche versucht worden, dem durch eine zupackende Finanz-
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Hoppeund Haushaltspolitik Rechnung zu tragen. Die nachhaltige Begründung des Bundesfinanzministers in seiner Haushaltsrede vom 16. September 1981 ist dafür ein bleibender Beleg. Und doch müssen wir erkennen, daß die für die finanzpolitische Tendenzwende, von der Herr Matthöfer damals gesprochen hat, mit der Operation '82 getroffenen Entscheidungen von der negativen Entwicklung überrollt wurden. Sind es die äußeren Umstände, die uns den Erfolg verwehrten, oder haben wir die Fähigkeit zu den notwendigen Eingriffen nicht mehr gehabt und uns immer mehr mit dem gerade noch möglichen Koalitionskompromiß zufriedengegeben? Tatsache ist jedenfalls, daß schon einen Monat nach der auf den Weg gebrachten Operation '82 Theo Sommer in der „Zeit" das herbe Urteil fällte, daß die Koalition im wahrsten Sinne des Wortes abgewirtschaftet habe. Wir waren gerade wieder in ein Konjunkturloch gefallen. Die sich auftuenden Haushaltsdefizite verschreckten die Öffentlichkeit und entzogen unserer Politik das Vertrauen. Dennoch haben wir versucht, uns nicht von dem einmal für richtig erkannten Weg abbringen zu lassen. Und tatsächlich haben wir es geschafft, trotz sich verschärfender Probleme den Haushalt in den für die finanzpolitische Kurskorrektur notwendigen Eckdaten zu halten. Aber den Erfolg dieser Leistung konnte die Koalition nicht auskosten.Noch im Januar wurden wir von dem damaligen Bundeskanzler mit der von ihm durchgesetzten Gemeinschaftsinitiative unnötig und überflüssigerweise an den politischen Marterpfahl des Bundesrates gebunden. Im Endeffekt hat diese Prozedur die Durchsetzungskraft der Regierung beschädigt, zusätzliche Finanzierungslücken aufgetan und Mißstimmung in die Koalition getragen. Dennoch wurde diese kritische Phase überwunden und mit den Entscheidungen für den Haushalt 1983 eine von vielen nicht mehr für möglich gehaltene Einigung zustande gebracht.
Die große Übereinstimmung, mit der beide Fraktionen diesem Ergebnis zustimmten, war in der Tat beeindruckend. Leider hat dieser Zustand nicht lange angedauert. Und es führt kein noch so glänzend inszenierter letzter Akt nach dem Drehbuch und der Dramaturgie des Herrn Bölling an der Wahrheit vorbei, daß die SPD vor der massiven Kritik und den angekündigten bundesweiten Protesten der zahlreichen Einzelgewerkschaften zurückwich.
Meine Damen und Herren, wie war die Lage wirklich? Vor der entscheidenden Kabinettsentscheidung vom 1. Juli und dem danach einsetzenden Aufmarsch der Gewerkschaften hatte Bundeskanzler Schmidt vor seiner Fraktion am 22. und 30. Juni die Lage treffend gekennzeichnet. Ich will Ihnen nur eine Zusammenfassung vortragen, obschon die ökonomische Brillanz, mit der damals die innen- und außenpolitische, wirtschaftliche Analyse dort vorgetragen wurde, in der Tat Anerkennung verdient. Probleme hat es aus dieser Erkenntnis auf der Grundlage der vorgetragenen wirtschaftspolitischen Notwendigkeiten zwischen demdamaligen Bundeskanzler und der FDP-Fraktion wahrlich nicht gegeben.
Herr Abgeordneter Hoppe, wenn Sie die Absicht haben, Herrn Abgeordneten Spöri, der eine Zwischenfrage stellen will, dies zu ermöglichen, geben Sie mir bitte ein Zeichen.
Herr Spöri, bitte.
Herr Kollege Hoppe, Sie haben gerade davon gesprochen, daß der Bundeskanzler uns alle mit dem sogenannten Dreisprung zu Anfang dieses Jahres an den Marterpfahl des Bundesrates gebunden habe. Würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß dieser Dreisprung — Investitionszulage, Finanzierung über die Mehrwertsteuer, Weitergabe der Mehrwertsteuererhöhung in Form einer direkten Einkommensteuersenkung — im Hause des früheren und heutigen Wirtschaftsministers konzipiert worden ist?
Lieber Herr Spöri, eine solche Überlegung, die dort im Hause angestellt worden ist, war mir sehr wohl bekannt. Aber Sie wissen auch, wie die Öffentlichkeit, nämlich die, die es zu begünstigen galt, darauf reagiert hat und wie meine Fraktion daraufhin in ihrer Meinungsbildung zu einem Ergebnis gekommen ist. Ich bitte Sie herzlich: Zwingen Sie mich nicht dazu — ich war bei den Verhandlungen dabei —, hier auszubreiten, was mit geradezu ultimativem Druck eines Rücktritts damals mit dem Versprechen durchgesetzt wurde: Ich sorge für die Mehrheit im Bundesrat.
Verehrter Herr Spöri, deshalb lassen Sie mich kurz sagen, was Sie gehört haben; denn damals ist vor Ihrer Fraktion vom Bundeskanzler ausgeführt worden:Seit 1980, seit die Weltwirtschaftskrise voll auch auf unser Land durchschlägt— Sie brauchen sich das nicht stehend anzuhören —,
sind die Voraussetzungen, unter denen die finanzwirtschaftliche Entwicklung der letzten 12 Jahre noch erträglich war, nicht mehr gegeben. Jemand, der meint, er könne beschäftigungswirksame Maßnahmen aus zusätzlichen Krediten finanzieren, versündigt sich am nächsten Jahr. Wer mehr beschäftigungswirksame Maßnahmen machen will, muß sehr viel tiefer in die Sozialleistungen schneiden.Das haben Sie schon öfter gehört. Nun kommt nach meiner Meinung eine wichtige Passage, die lautet:Dieses ist angesichts dessen, was unsere Arbeitnehmer, unsere Gewerkschaften von uns erwarten, nach meinem Eindruck gegenwärtig noch nicht verkraftbar. Es ist auch gegenwärtig nicht wirklich nötig.
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HoppeMeine Damen und Herren von der SPD, von Ihrer Fraktionsführung wurde der damalige Koalitionskompromiß in einem Brief vom 6. Juli 1982 dann so kommentiert:Die Bonner Koalition aus Sozialdemokraten und Freien Demokraten ist auch unter erschwerten ökonomischen Bedingungen handlungs- und entscheidungsfähig geblieben.Das Konzept, so hieß es, sei gesamtwirtschaftlich vernünftig, sozial verantwortbar und trage den finanzpolitischen Notwendigkeiten ebenso Rechnung wie den gesetzgeberischen Gestaltungsmöglichkeiten. Genau dieses Konzept wurde von der SPD dann nicht mehr mit der notwendigen Geschlossenheit verteidigt. Nicht zuletzt unter dem Druck der Gewerkschaften, die auf breiter Front mit Demonstrationen gegen weitere Sparmaßnahmen drohten — die wir jetzt ja auch ablaufen sehen —, entzog sich die SPD der Pflicht zur Fortschreibung des Konsolidierungsprogramms, das der damalige Finanzminister hier noch als notwendig und erforderlich angekündigt hatte.Ich trage das jetzt nicht als Anklage, sondern als Beschreibung objektiver Umstände vor; denn keine der Parteien hat Grund zur Selbstgerechtigkeit. Wir alle haben nicht rechtzeitig und nachdrücklich genug die notwendigen Konsequenzen aus der sich radikal verändernden wirtschaftlichen Lage gezogen. Wir alle haben gesündigt,
wir alle haben uns von den Wachstumsraten der Vergangenheit beeinflussen und verlocken lassen, und wir haben immer wieder auf baldige Besserung gehofft. Um so harscher muß jetzt die Notbremsung ausfallen.Ein Auf- und Alarmruf zur wirtschafts- und sozialpolitischen Neubesinnung war notwendig und längst überfällig. Aber zahlreiche Appelle auch der Freien Demokratischen Fraktion, aus den veränderten wirtschaftlichen Rahmendaten Konsequenzen zu ziehen, sind in der Vergangenheit häufig ungehört geblieben. Wir haben in den Haushaltsdebatten der vergangenen Jahre immer wieder und fast wie einsame Rufer in der Wüste nach finanzpolitischer Umkehr und nach der Abkehr des Staates von dem kreditfinanzierten Gießkannenleistungsprinzip verlangt. Dies noch zu einer Zeit, als Umkehr möglich war. Die Zeitbombe tickt, sagte ich 1978. Jetzt droht sie, uns mit Splitterwirkung um die Ohren zu fliegen. Mittlerweile nimmt das fast jeder wahr. Fast jeder ist jetzt für ihre Entschärfung. Aber das verlangt viel Entschlossenheit, viel Mut zu unpopulären Entschlüssen.Es geht um nichts weniger als um den Ausstieg aus der j ahrzehntelang gewucherten Anspruchsmentalität. Mehr Eigeninitiative, mehr Eigenverantwortung, mehr gegenseitige Hilfsbereitschaft, das Prinzip der Subsidiarität, Konzentration der staatlichen Hilfe auf das Wesentliche, d. h. auf die konkrete Unterstützung der tatsächlich Schwachen und Benachteiligten — das ist die Linie, an der sich heute und in Zukunft staatliches und persönliches Handeln orientieren muß.„Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat", heißt es in Art. 20 unseres Grundgesetzes. Gerade weil wir diese Kernsubstanz unseres Staatswesens sichern wollen, nämlich die Demokratie und die Sozialstaatlichkeit, müssen wir von den unfinanzierbaren Fortschreibungen der kostenträchtigen Gesetze der Vergangenheit Abschied nehmen. Wir werden sonst ins Haushaltschaos steuern und damit jede politische Gestaltungsmöglichkeit verlieren.Die Fundamente staatlichen Handelns und staatlicher Unterstützung für all die Bürger in unserem Land, die darauf angewiesen sind, müssen neu gefestigt und abgestützt werden. Darin sehen die Freien Demokraten ihre Hauptaufgabe.
Dafür werden sie wieder einmal mit Unterstellungen und Verdächtigungen überzogen. Sie werden gescholten und bedroht, und sie werden unter Druck gesetzt. Das alles haben wir mehr als einmal erlebt, immer dann, wenn wir überfällige, neue Aufgaben anpackten. So Ende der 60er Jahre, als wir den Entwurf eines Generalvertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vorlegten, so, als wir mit den Sozialdemokraten die Initiative für eine konkrete Entspannungspolitik mit den Staaten Osteuropas und für die langfristige Sicherung Berlins ergriffen. Leider wiederholt sich das alte Spiel — nur das Thema hat gewechselt.Die Freien Demokraten richten alle Kraft darauf, bessere Bedingungen für die Erholung der Wirtschaft zu schaffen und zugleich das System der sozialen Leistungen durch neue Strukturen zu sichern.
Ich bin davon überzeugt: Auch die Sozialdemokraten werden diese existentielle Reform auf Dauer nicht mit dem Vorwurf der Ellenbogengesellschaft diffamieren können.
Alle müssen Hand anlegen, wenn der soziale Konsens nicht vor Partei- und Gruppenegoismen zum Teufel gehen soll.Muß ich wirklich in aller Breite ausmalen, welche Risiken und Gefahren auf den Haushalt, ja auf den Staat selbst und auf das Gesellschaftsgefüge zukommen, wenn das Problem Nr. 1, die Arbeitslosigkeit, ausufert? Mir scheint, in dieser Beurteilung unserer kritischen Lage sind wir alle einig. Aber das Manko der inhaltlichen Auseinandersetzung über die Lösung des Problems wurde, wie mir scheint, schmerzhaft und grell ausgeleuchtet, als auf Anforderung des Bundeskanzlers Wirtschaftsminister Graf Lambsdorff es wagte, seine persönliche Vorstellung zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in eine Denkschrift zu fassen. Ich war jedenfalls bestürzt, mit welcher Bereitwilligkeit und Schnelligkeit das Konzept des Bundeswirtschaftmi-
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Hoppenisters zum Prügel gegen die Freien Demokraten umfunktioniert wurde.
Dabei hatten FDP-Fraktion und -Präsidium ausdrücklich festgestellt, daß diese Anregungen vor allem Diskussionsgrundlage sein sollen, daß Verbesserungsvorschläge und Korrekturen erwünscht seien. Aber, meine Damen und Herren, die SPD hat sich dem inhaltlichen Dialog entzogen und das Papier rein instrumental behandelt.Der frühere Bundeskanzler gab am 17. September im Deutschen Bundestag ein schlimmes Stichwort, als er unter Bezugnahme auf die von ihm angeforderte Schrift von der „Abwendung vom demokratischen Sozialstaat" sprach und als angebliche Zielrichtung die Ellenbogengesellschaft ausmachte. Das war nicht fair;
ebenso nicht das Verfahren, nach dem vom Bundeskanzler herbeigeführten Ende der Koalition dann „Verrat!" zu rufen.Es war dies letztlich das öffentlich gemachte, wenn auch brillant gegen uns Freie Demokraten gerichtete Eingeständnis, daß eine Diskussion in der Sache nicht mehr erwünscht sei.
— Herr Ehmke, mir müssen Sie nicht kommen. Wenn Sie sich melden, dann kommen Sie mir wie in der literarischen Mannschen Verfremdung vor.Wir Freien Demokraten bekennen uns zu unserer Verantwortung an der Politik der sozialliberalen Regierung. Gerade das vorausgegangene Tun zwingt uns zum Handeln. Erst Untätigkeit macht schuldig und verlangt Sühne.
— Nein, Sühne bei der Wahl. Sie wissen ganz genau, um was es geht, Herr Kollege Kühbacher. Wir brauchten uns eigentlich in der, wie ich meine, geradezu kollegial-freundschaftlichen Verbundenheit, zu der wir durch die Arbeit gelangt sind, nicht mit Schlagworten zu bedienen.
Der heutige Bundesfinanzminister, Herr Stoltenberg, hat in der Aussprache über die Regierungserklärung vom 27. November 1980 gemeint, Graf Lambsdorff und ich gerieten in der SPD-geführten Koalition zunehmend in die Rolle des Chores der antiken Tragödie, der zwar viele Sachverhalte richtig beschreiben, den falschen Gang der Ereignisse gelegentlich auch beklagen kann, aber den verhängnisvollen Weg letztlich nicht zu ändern vermag.Herr Dr. Stoltenberg, jetzt befinden wir uns plötzlich in ein und demselben Chor. Ich kann nur wünschen, daß wir von einer kritischen Öffentlichkeit dazu angehalten werden, im wohlverstandenen Interesse unseres Landes und seiner Bürger zu handeln und nicht länger zu heulen.
Meine Damen und Herren, ich wünsche mir, daß bei der notwendigen politisch-parlamentarischen Arbeit die Opposition das, was hier in Redebeiträgen angekündigt ist, wahr macht und mittut. Gegeneinander werden wir das, was Willy Brandt vornehm die „Reform der Reformen" genannt hat, nämlich die Straffung unserer sozialen Leistung, nicht erreichen.
Das Wort hat der Herr Bundesminister der Finanzen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie werden es verstehen, daß ich nach den zahlreichen Reden des gestrigen Nachmittags und Abends und des heutigen Vormittags mit einigen kurzen Zwischenbemerkungen in die Diskussion eingreifen möchte. Vielleicht eröffnet das auch die Chance, der Opposition einige Überlegungen nahezubringen, die sie veranlassen sollten, ihre Argumente noch einmal zu prüfen und für den ausstehenden Teil der Debatte besser zu gewichten. Denn ich muß sagen, daß es mich enttäuscht hat, daß nach der ersten haushaltspolitischen Auseinandersetzung — Herr Kollege Hoppe hat daran erinnert —, die wir nach der Regierungserklärung des Bundeskanzlers zur späten Stunde hatten, hier vieles an Schlagworten, irreführenden Darstellungen und Behauptungen — übrigens nicht zuletzt auch über das schöne Land Schleswig-Holstein — unbeirrt wieder vorgetragen wird.
Es war sicher ein Mißgriff, daß der damalige Sprecher der Opposition, Kollege Apel, die Regierungserklärung des Bundeskanzlers pauschal als ein Dokument der Bösartigkeit bezeichnet hat. Wir haben das hier mit der nötigen Deutlichkeit zurückgewiesen. Das Echo auf derartige Totschlagformeln auch in der Ihnen nahestehenden Publizistik war denkbar schlecht.Insofern bin ich überrascht, daß Herr Kollege Walther in seinem ersten Beitrag für die SPD gestern sozusagen in der geistigen Linie des Herrn Apel den Bundeshaushalt und die Begleitgesetze als Dokumente des Wortbruchs und des sozialen Zynismus gekennzeichnet hat. Mit derartigen Primitivformeln, meine Damen und Herren, werden Sie nicht einmal mehr die nachdenklichen Anhänger der Sozialdemokratischen Partei erreichen,
zum Teil nicht einmal innerhalb dieses Saales.Ich habe natürlich den Versuch gemacht, die wegweisenden neuen Entscheidungen, die wir in den wenigen Wochen getroffen haben, herauszustellen
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Bundesminister Dr. Stoltenbergund zu begründen. Ich habe es aber auch nicht versäumt, auf die Problematik und die Risiken einzelner Elemente, die wir übernommen haben oder die wir neu gestalten mußten, hinzuweisen. Dies alles ist doch von mir — und nicht nur von mir — als eine Einladung zu einer anspruchsvollen, sachorientierten, kritischen Diskussion über die gewaltigen Probleme verstanden worden, die wir vor uns haben. Ich möchte Sie wirklich einladen, dieses Angebot in dem noch ausstehenden Teil der Haushaltsdebatte nachhaltiger anzunehmen, als es bisher der Fall war.
Meine Damen und Herren, wer richtig zitieren will, muß vollständig zitieren, jedenfalls im Sachzusammenhang vollständig. Das gilt auch für Sie, sehr geehrte Frau Kollegin Simonis. Sie haben mir hier einen Satzteil — vielleicht war es auch eine Schlagzeile — aus einer Zeitung vorgehalten, in der ich zu den Grundproblemen des Haushalts gesagt haben soll: Die entscheidende Veränderung ist eine Verschlechterung. Sie haben sich darüber ein bißchen lustig gemacht. Ohne jetzt den Zeitungstext zur Hand zu haben, erinnere ich mich dennoch sehr genau, was ich gesagt habe. Ich habe gesagt: Die entscheidende Veränderung, die sich für uns ergab, ist eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage und der wirtschaftlichen Aussichten für 1983. Das hört sich doch etwas anders an, als Sie es hier dargestellt haben. Denn die Tatsache, daß wir in wenigen Wochen einen auf falschen, viel zu optimistischen Annahmen aufgebauten Haushaltsentwurf auf die Realität dieser Woche und der neuen Perspektiven umstellen mußten,
können Sie doch nicht ernsthaft dem neuen Bundesfinanzminister oder der neuen Koalition anlasten, meine Damen und Herren.
Die Feststellung, daß derjenige, der richtig zitieren will, vollständig zitieren muß, gilt natürlich auch für die ausgewählten und bruchstückhaften Zitate zu einzelnen bedeutsamen Problemen, wie etwa der Frage der Mehrwertsteuer. Herr Kollege Hauser hat das gestern in der Diskussion an Hand der Texte bereits deutlich gemacht. Es bestürzt mich etwas auch im Hinblick auf die Wechselwirkung zwischen Gegenrede und Rede in diesem Parlament, dem ich ja jetzt viele Jahre nicht die Ehre hatte anzugehören, daß so etwas am zweiten Tag als Argument überhaupt nicht mehr aufgenommen ober beachtet wird.Nein, der Haushalt ist trotz dieser drastischen Verschlechterung der Ausgangsbedingungen, die wir alle miteinander beklagen, wobei die politische Verantwortung, soweit sie zuzuordnen ist, doch völlig eindeutig ist, in seiner Qualität besser geworden, wenn wir die zentralen Probleme der Wirtschaftsbelebung, der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und der Verbesserung der Berufschancen der jungen Generation sehen. Er ist nach unseren Vorstellungen natürlich nicht vollkommen. Ich kann mich hier auf vieles beziehen, was mein Freund Alfred Dregger gesagt hat.Aber, verehrte Frau Simonis, wenn Sie hier schlicht sagen, wir hätten jede Bastion dessen geräumt, was die Maßstäbe in der Vergangenheit für uns waren, dann weise ich das als eine völlige Verzerrung zurück. Nein, wir vertreten unsere Grundsätze auch in den konkreten Einzelentscheidungen
unter veränderten Bedingungen. Ich habe das gestern Punkt für Punkt nachgewiesen und dargestellt.
Meine Damen und Herren, Herr Kollege Hauser hat Ihnen hier gestern dargestellt, daß Politiker der CDU/CSU — ob nun Herr Kollege Häfele, ob Herr Kollege Strauß, ob ich oder andere, die in den letzten Jahren die finanzpolitische Diskussion geführt haben — eine Umstrukturierung unseres Steuersystems immer für erwägenswert und richtig gehalten haben und daß wir die Frage einer Anhebung der Mehrwertsteuer immer im Zusammenhang mit einer gleichwertigen, im selben Gesetz festzulegenden Entlastung bei anderen Steuern gesehen haben. Das ist die schlichte Wahrheit, nicht das, was Sie hier an bruchstückhaften und verfälschten Zitaten der deutschen Öffentlichkeit sagen wollen.
— Lassen Sie es uns ruhig und gelassen machen. Wenn Sie sich erregen, werde ich ein bißchen härter und deutlicher sprechen, als Sie es wünschen.
Verzeihen Sie, Herr Bundesminister!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich bitte um Entschuldigung. Ich möchte gern, Herr Westphal, wegen der Terminlage anderer im Gesamtzusammenhang nicht zu lange sprechen.
Gut.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Daß wir unsere Handschrift in diesem neuen Haushaltsentwurf in der Linie unserer Forderungen und Erklärungen der letzten Jahre verankert haben, will ich noch einmal an Hand weniger Beispiele hier deutlich machen.Wir haben gegenüber Ihrer Vorlage die öffentlichen Investitionen sichtbar gestärkt. Daran führt überhaupt kein Debattieren und Relativieren vorbei. Eine halbe Milliarde mehr gegenüber Ihrer Beschlußlage für die großen Gemeinschaftsaufgaben von Bund und Ländern ist eine Tat, die im Multipli-
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Bundesminister Dr. Stoltenbergkatoreffekt draußen im Land von der Bauwirtschaft, den Bauarbeitern, den Handwerkern, den berufstätigen Menschen in den Wirkungen gespürt wird, auch bei wichtigen öffentlichen Aufgaben:
Sofortprogramm für den Wohnungsbau, Entlastungen bei der Gewerbesteuer und Kürzungen bei den nichtinvestiven Ausgaben. Wollen Sie ernsthaft behaupten, daß wir diese Kürzungen bei den nichtinvestiven Ausgaben in den vergangenen Jahren verschwiegen hätten? Ich bin bereit, Ihnen die Protokolle über die großen Debatten im Bundestag und im Bundesrat bis zur „Operation 1982", aber auch vor der letzten Bundestagswahl zur Verfügung zu stellen. Wir haben nie einen Zweifel daran gelassen, daß das notwendig ist und mit dem übereinstimmt, was Helmut Schmidt ja noch im Juni in Ihrer eigenen Fraktion gemacht hat.
Wir haben Punkte benannt. Jeder wußte seit Jahren, daß wir die jetzt beschlossenen Veränderungen im Rahmen der Neuordnung des BAföG vorgesehen hatten und anstrebten. Wir haben das offen als Opposition gesagt. Wenn Frau Simonis jetzt das Wort von den „BAföG-Geschädigten" einführen will, muß ich Ihnen sagen: Was in dem über viele Generationen oder Jahrzehnte sozialdemokratisch geprägten Schweden selbstverständlich ist, nämlich daß Studenten ein zinsloses Darlehen bekommen
und es in einer Zeit, in der sie ein gesichertes, angemessenes, ihrer akademischen Ausbildung entsprechendes Einkommen haben — nicht vorher —, zurückzahlen, das kann in der Bundesrepublik Deutschland nicht als unsozial gebrandmarkt werden.
Schauen Sie sich einmal in der westlichen Welt um, auch in sozialdemokratisch geprägten Ländern, nicht nur wenn es um Schuldzuweisungen für die Krise geht, sondern auch wenn es um die Frage geht, wo wir im Vergleich zu anderen fortgeschrittenen, leistungsstarken sozial geprägten Ländern ein Stück Korrektur in einer Zeit vertreten können, in der wir leider nicht mehr alles bezahlen können.Frau Simonis, ich habe mich sehr über Ihre Bemerkung gewundert, daß wir die Privatisierung des Beschäftigungsrisikos fordern oder fördern.
Ist das nicht die bittere Erfahrung von Millionen Selbständigen und Arbeitslosen, Arbeitnehmern, die ihre Existenz verloren haben? Seien Sie vorsichtig mit dieser Diskussion, denn zu viele erinnern sich noch an die leichtfertige und dann nicht eingehaltene Vollbeschäftigungsgarantie eines Bundeskanzlers Willy Brandt.
Diese Zusage konnte nicht eingehalten werden; in der Form, wie Brandt sie damals verkündete, kann sie auch von keiner Regierung eingehalten werden, was unsere Verantwortung als Regierung und Parlament für die Verbesserung der Voraussetzungen der Rahmenbedingungen für Vollbeschäftigung und Gesundung der Wirtschaft in keiner Weise einschränkt.Meine Damen und Herren, ich habe mich auch ein bißchen darüber gewundert, was Sie über das schwierige Thema der direkten Förderung von in Existenznot geratenen Großbetrieben hier kritisch an meine Adresse gesagt haben. Mir ist — gemeinsam mit dem Kollegen Graf Lambsdorff und dem ganzen Kabinett — natürlich die Entscheidung, einem Großunternehmen wie Arbed jetzt kurzfristig mit einem möglichen Rahmen von vielen hundert Millionen DM erneut zu helfen, nicht leichtgefallen; ich weiß übrigens auch, daß sie meinen sozialdemokratischen Vorgängern in den letzten Jahren ebenfalls nicht leichtgefallen ist. Aber es ist doch vollkommen klar, daß, wenn wir Steuergelder mit einem Risiko für ein einzelnes Unternehmen dieser Art verwenden — in einer Zeit, in der wir anderen Leistungen wegnehmen müssen, in der wir vielen kleinen Betrieben nicht helfen können, die in dieser Konkurswelle jetzt schließen müssen —, alle Beteiligten stärker als bisher einen Solidarbeitrag zu leisten haben.
— „Alle" heißt: die Banken, die Eigentümer und die Arbeitnehmer, um das auf Grund Ihres Zurufs zu konkretisieren; die Banken, Herr Kollege Westphal, nach dem Kabinettsbeschluß stärker als in der Vergangenheit, die Eigentümer, was bei einem internationalen, in Luxemburg verankerten Konzern nicht einfach ist, aber auch die Arbeitnehmer. Wenn Sie kritisieren, daß wir darauf bestehen — das sage ich hier noch einmal zu Zeitungsberichten der letzten Tage —, daß die Arbeitnehmer durch Vereinbarungen welcher Art auch immer — abgeschlossen mit der Gewerkschaft oder dem Betriebsrat — ein halbes Monatsgehalt als zinsloses Darlehen ihrem Unternehmen zur Verfügung stellen, dann will ich Ihnen hier ganz offen sagen: Ich habe gelernt, daß bei der Muttergesellschaft der Arbed die dortigen luxemburgischen Gewerkschaften und die Arbeitgeber bereits echte dauerhafte Einkommenskürzungen vereinbart haben. Es ist schwer, eine Muttergesellschaft im Ausland und ihre Arbeitnehmer zu bewegen, Geld in ein deutsches Unternehmen einzuschießen, wenn das von Ihnen hier bezweifelt oder in Frage gestellt wird, meine Damen und Herren.
Das sind die Tatsachen, die man sehen muß. Ohne einen solchen Solidarbeitrag aller wird es nicht gehen. Das ist auch ein Maßstab für andere, die uns um Hilfe bitten werden.Verehrte Frau Simonis, Sie haben zum Teil schlicht falsch zitiert. Sie haben gesagt, das Ergebnis unserer Politik sei eine Kürzung der Werfthilfe.
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982 7767
Bundesminister Dr. StoltenbergEs ist falsch; wir kürzen bei Werften und bei der Seeschiffahrt nichts von dem, was die frühere Bundesregierung beschlossen hat. Ich bitte Sie herzlich, sich mit den Tatsachen vertraut zu machen, bevor Sie vor dem Deutschen Fernsehen hier Angst bei Menschen erzeugen,
die Grund haben, sich Sorgen um ihre berufliche Existenz zu machen. Aber wenn ich Ihnen hier einmal das Panorama der Eröffnungsbilanz der Politik der letzten Jahre für Werften und Seeschiffahrt entwickeln würde, dann wäre die Bilanz für manche sozialdemokratischen Verantwortlichen düster. Bei der Kokskohlenhilfe gibt es keine Verschlechterung der Förderungsbedingungen. Es gibt einen geringeren Bedarf. Das begründet einen neu bestimmten Haushaltsansatz, weil j a leider auch hier die Produktion rückläufig ist.
— Es gibt — Herr Ehrenberg, nehmen Sie das doch bitte als Information zur Kenntnis — gegenüber den Beschlüssen der früheren Bundesregierung keine Verschlechterung der Förderungsbedingungen.Meine Damen und Herren, ich will schnell vorankommen und Ihnen, Frau Simonis, noch sagen: Ich habe mich sehr gewundert, als Sie heute morgen erklärt haben, ich hätte verschwiegen, daß die Gesamtausgaben steigen. Ich frage mich, ob Sie gestern bei meiner Haushaltsrede nicht hier waren.
Für mich war der Hinweis auf die steigenden Gesamtausgaben gegenüber dem Haushaltsentwurf der Regierung Schmidt ein sehr wichtiger Punkt. Das Wachstum des neu gefaßten Haushalts beträgt 2,9 % gegenüber 1,9 % des alten Entwurfs. Der Grund ist doch klar: Wir müssen Milliarden mehr für die Bundesanstalt für Arbeit bereitstellen, um die Hilfe für die steigende Zahl der Arbeitslosen zu sichern. Natürlich ist dies auch eine Nachfragestützung. Herr Kollege Walther, die Art und Weise, daß Sie uns hier sogleich vorsorglich 300 000 Arbeitslose mehr für den Winter in unsere Rechnung politischer Verantwortung einstellen wollen, ist ein unglaubliches Stück der politischen Entgleisung.
Es ist ein unglaubliches Stück, ohne jeden Versuch einer ernsthaften Begründung einer Regierung Schuldzuweisungen zuzuschieben, die gerade darangeht, eine unerhört schwierige Situation aufzuarbeiten. Der Wendekreis der Wirtschafts- und Finanzpolitik ist in seinen Wirkungen nicht so schnell wie das Tempo mancher hier vorgetragenen Reden, meine Damen und Herren.
Es ist — daran gibt es keinen Zweifel; ich habe das sehr nachdrücklich unterstrichen — eine Arbeit nicht nur von Monaten, sondern von Jahren,
die gewaltigen Hypotheken abzutragen.Nun sind Herr Kollege Jansen als Landesvorsitzender der SPD und Frau Simonis auf das Lieblingsthema der Sozialdemokraten in diesem Hause zu sprechen gekommen: das schöne Land Schleswig-Holstein. Ich muß Sie nochmals fragen: Waren Sie denn nicht hier, als ich vor drei Wochen — zugegebenermaßen zu später Stunde — die genauso falschen Behauptungen und Darstellungen der Herren Kollegen Apel und Ehmke über die Lage des Landes Schleswig-Holstein Punkt für Punkt korrigiert habe? Wie oft sollen wir das noch hören, was Sie hier mit Blick auf kommende Landtagswahlen in den Deutschen Bundestag hineinschwemmen?
Ich habe hier die amtliche Statistik des Bundesministeriums der Finanzen. Frau Simonis, Sie haben recht, wenn Sie sagen, man muß bei einem solchen Vergleich die Schulden der Länder und Gemeinden zusammenrechnen. Aber um das hier kurz zu sagen — ich könnte Ihnen alle Zahlen vorlesen —: Nach dieser letzten amtlichen Statistik über die Schulden der Länder und Gemeinden aus Kreditmarktmitteln ist es so, daß das Land Bremen, in dem die Sozialdemokraten seit über 30 Jahren regieren, mit 9 610 Mark eine einsame und erschrekkende Spitzenstellung bei der Verschuldung hat.
— Eine besondere Situation ist auch in Schleswig-Holstein gegeben, das in der Nachkriegszeit das Flüchtlingsland Nummer 1 war und das einmal als das Armenhaus der Bundesrepublik bezeichnet wurde.
Nehmen Sie ohne weitere Kommentierung die Richtigstellung zur Kenntnis. Es folgt das Saarland, es folgt Hamburg.
Es folgen die Länder Rheinland-Pfalz, Niedersachsen, Hessen, Nordrhein-Westfalen und an achter Stelle Schleswig-Holstein — von der Wirtschafts- und Finanzkraft sicher prädestiniert, hier im Vergleich mit einer wesentlich höheren Verschuldung dazustehen. Besser gestellt sind Berlin — vom Bund zu Recht in Vergangenheit und Zukunft auf Grund seiner besonderen Situation nachhaltig gefördert — und in Westdeutschland die blühenden und — wie Schleswig-Holstein — seit langem gut regierten Länder Baden-Württemberg und Bayern, meine Damen und Herren.
Hören Sie auf mit diesen Märchenerzählungen, mitdiesen Konditionsübungen für die Landtagswahl
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7768 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982
Bundesminister Dr. Stoltenbergund die Bundestagswahl! Meine Damen und Herren, das wird Ihnen allen nicht sehr gut bekommen.
Nun will ich Ihnen, nur um den Trend deutlich zu machen, zwei Vergleichszahlen nennen.
— Das ist sehr interessant, auch für Sie, Frau Timm! Hören Sie bitte einmal zu! — Nehmen wir einmal Bremen und Schleswig-Holstein. Bremen ist so interessant, weil Schleswig-Holstein und Bremen im Jahre 1970 praktisch dieselbe Pro-KopfVerschuldung hatten.
— Nun, wir rechnen doch Länder und Gemeinden zusammen. Methodisch hat Frau Simonis das ja klargestellt. Es ist richtig, das so zu machen. Die wenigen Punkte des Einvernehmens mit Ihrer Sprecherin brauchen Sie jetzt nicht noch in Frage zu stellen.Das Land Bremen hatte 1970 eine Pro-Kopf-Verschuldung aus Kreditmarktmitteln von 993 DM, Schleswig-Holstein eine Verschuldung von 992 DM. Das sind Landes- und Gemeindeschulden; es sind praktisch dieselben Werte.
Bremen hat 1981 eine Pro-Kopf-Verschuldung von 9 610 DM gehabt, Schleswig-Holstein eine solche von 4 226 DM.
Meine Damen und Herren, darin kommt auch ein gewisser Unterschied zwischen christlich-demokratischer und sozialdemokratischer Landespolitik in Norddeutschland zum Ausdruck.
Hinter diesen verzerrten Darstellungen und Polemiken steckt ja ein ernstes Problem. Es ist ja wahr, daß im Trend der Gesamtentwicklung der 70er Jahre auch die Schulden bei Ländern und Gemeinden — mit gewissen Differenzierungen — zu stark angestiegen sind.
Die Wirkungen einer expansiven Bundesgesetzgebung, die Wirkungen großer Erwartungen des Bundes an die Länder sind unübersehbar. Darf ich Sie einmal an die Auseinandersetzung über den Bildungsgesamtplan nach 1970 erinnern. Wenn wir das alles, was Sie damals gefordert haben, gemacht hätten, hätten wir alle in unseren Ländern und Gemeinden noch 50 % mehr Schulden. Das ist die schlichte Wahrheit.
Zu den neuen Weichenstellungen dieser Regierung gehört — der Bundeskanzler hat das nicht nur mit Reden deutlich gemacht — auch der Versuch einer wesentlich besseren Zusammenarbeit mit Ländern und Gemeinden. Es ist doch keine vier Monate her, daß der sozialdemokratische Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen, Herr Schnoor, die Politik der Regierung Schmidt gegenüber Ländern und Gemeinden als einen verfassungspolitischen Skandal bezeichnet hat.
Ich wäre dankbar, wenn auch der verehrte Herr Kollege von Dohnanyi diese Maßstäbe der Vergangenheit ein bißchen in die kritische Auseinandersetzung mit der neuen Regierung einfließen ließe; das darf ich hier meinem ehemaligen Kollegen als vorsorglichen Wunsch übermitteln.Aber, meine Damen und Herren, das sind im Grunde kleinere Nebenkriegsschauplätze. Wir stellen uns den großen Aufgaben nationaler Politik in Verbindung mit den weltwirtschaftlichen Problemen und Sorgen, die nicht neu sind und die wir bisher auch nicht verschwiegen haben. Wir sind bereit, diese Verantwortung auf uns zu nehmen. Ich hoffe, sehr geehrter Herr Kollege Hoppe, daß es möglich ist, daß sich das, was ich bezüglich der alten Koalition einmal als die Rolle des Chors in der antiken Tragödie bezeichnet habe, jetzt zu einem gemeinsamen handlungsfähigen Team in der neuen Koalition entwickelt, das Probleme nicht nur beklagt, sondern auch meistert. — Schönen Dank.
Das Wort hat der Präsident des Senats und Erste Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundesminister der Finanzen hat eben an dieser Stelle erneut für eine sachliche Diskussion über die Wirtschafts- und Beschäftigungskrise und über die Antwort, die der Haushaltsentwurf des Bundes auf diese Krise geben will, geworben. Ich stimme ausdrücklich zu: die Bewältigung der Wirtschafts- und Beschäftigungskrise ist unsere wichtigste Aufgabe, und diese Aufgabe können wir gemeinsam nur mit Sachlichkeit lösen.
Meine Damen und Herren, aber gerade deswegen muß ich doch einige Vorbemerkungen machen. Eine sachliche Diskussion über Wirtschaftsfragen, Herr Kollege Stoltenberg, hat dieses Haus während der vergangenen 13 Jahre kaum erleben dürfen. Im Februar 1970 — ich erinnere mich genau — sprach der damalige CDU/CSU-Oppositionssprecher in Wirtschaftsfragen, der Kollege Müller-Hermann, bereits wenige Monate nach dem Regierungswechsel — der Stuhl des Finanzministers war gewissermaßen noch warm von dem breiten Sitz des Kolle-
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982 7769
Erster Bürgermeister Dr. von Dohnanyi
gen Franz Josef' Strauß — von einer hausgemachten Inflation der sozialliberalen Koalition.
Die CDU/CSU hat im Bundestag und im Bundesrat die wirtschaftspolitische Debatte mit der Bundesregierung stets ohne Berücksichtigung der weltwirtschaftlichen Entwicklung und ohne Blick auf die wirtschaftliche, politische und soziale Entwicklung anderer Demokratien geführt.
Der früheren Bundesregierung wurde hier fast immer polemisch und gelegentlich unter bewußter Verdrehung der Tatsachen begegnet.
Sie sind, Herr Kollege Stoltenberg, bis heute, so scheint mir, ein Gefangener dieser Argumentation des vergangenen Jahrzehnts. Denn die auch gestern und heute wieder von Ihnen und dem Kollegen Dregger vorgetragenen Vokabeln von der angeblichen „Erblast" und von der „Hypothek der Vergangenheit"
sind zwar als politische Polemik verständlich, haben aber mit einer sachlichen Diskussion überhaupt nichts zu tun.
Der Kollege Stoltenberg hat auch gestern auf die Ölpreisexplosion und den wachsenden Wettbewerb der Drittländer verwiesen. Aber Sie unterliegen, Herr Bundesminister, doch einem gefährlichen Irrtum, wenn Sie gestern meinten, der Funke der Exportkonjunktur sei wegen hausgemachter Probleme 1981/82 nicht auf die Binnenkonjunktur übergesprungen. Die wahre Ursache für diesen Konjunkturverlauf des Jahres 1981/82 ist doch, daß die exportierenden Unternehmen aus bestehenden Kapazitätsreserven produzieren können und deswegen eine zusätzliche Binnennachfrage nach Investitionsgütern der Exportkonjunktur nicht folgen konnte. Noch immer will die CDU/CSU, will die Bundesregierung die wahren Ursachen der Krise, in der wir leben, nicht zur Kenntnis nehmen. Es handelt sich um eine Systemkrise der demokratischen Marktwirtschaften,
um eine Krise der internationalen Arbeitsteilung und um eine Krise der internationalen politischen Entscheidungsprozesse.
Meine Damen und Herren, noch immer glauben Sie in mangelnder Einsicht in die wirkliche Lage — —
— Ach, Herr Kollege!
Der Bundesfinanzminister hat um eine sachliche Diskussion gebeten. Daß Sie dazu nicht imstande sind, wußten wir vorher, aber Sie konnten ihm doch wenigstens heute folgen.
Herr Präsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Gerster?
Ich würde das gern zu Ende führen, dann gerne.
Noch immer meint die CDU/CSU, eine Rückkehr • zu den Rahmenbedingungen der Jahre vor Brandt und Schmidt werde zugleich die günstigen Daten von Beschäftigung, Preisstabilität, Außenhandel und öffentlichen Finanzen der 60er Jahre zurückholen können, vielleicht mit einigen Abstrichen an den Wachstumsraten. Dies, meine Damen und Herren, ist ein gefährlicher Irrtum. Dieser Irrtum zeugt zugleich von einer mangelhaften geistigen Durchdringung der wirtschaftlichen Probleme unserer Zeit.
Bitte sehr, Herr Kollege.
Herr Bürgermeister, ist Ihnen noch bekannt, daß der sozialdemokratische Finanzminister Alex Möller im Jahre 1971 und der sozialdemokratische Finanz- und Wirtschaftsminister Karl Schiller im Jahre 1972 u. a. mit der Begründung zurückgetreten sind, daß die Bundesregierung, die damalige Bundesregierung Brandt, eine unverantwortliche Politik in die Verschuldung hinein betreibe? Ist Ihnen das noch bekannt?
Herr Kollege, die Tatsache der beiden Rücktritte ist mir bekannt. Aber mir ist auch bekannt, daß die damalige Bundesregierung eine ernste Diskussion über die Bewältigung aktueller Probleme geführt hat, die hier heute von Ihnen nicht geführt wird. —
Diesem gefährlichen Irrtum erlag nach meiner Meinung auch der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Herr Dregger, der heute hier Schulden aus dem Jahre -1969 mit Schulden aus dem Jahre 1982
verglichen hat. Wer nicht verstanden hat, was inzwischen an Entwicklungen in allen öffentlichen Haushalten aller demokratischen Staaten stattgefunden hat, hat die ganze Entwicklung des vergangenen Jahrzehnts nicht begriffen.
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7770 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982
Erster Bürgermeister Dr. von Dohnanyi
Herr Kollege Stoltenberg, Sie haben sich soeben so freundschaftlich
mit den Finanzzahlen der Bundesländer auseinandergesetzt. Nun ist es natürlich durchaus legitim, die Pro-Kopf-Schulden von Schleswig-Holstein mit den Pro-Kopf-Schulden anderer Bundesländer oder Stadtstaaten zu vergleichen. Aber man muß wohl, wie Sie wissen, wenn Sie den Bundeshaushalt mit dem Haushalt von Schleswig-Holstein vergleichen, den Bezug auf die jeweilige Steuerkraft nehmen. Fragen wir also einmal danach, wie sich die Bundesländer in den vergangenen Jahren, bezogen auf ihre Steuerkraft verschuldet haben. Da will ich in die Steuerkraft des Landes Schleswig-Holstein auch gern noch den Finanzausgleich aus Hamburg einbeziehen;
das machen wir ja gern. Aber wenn wir das tun, Herr Kollege Stoltenberg, dann entspricht Ihre Einlassung hier nicht Ihrem Anspruch, eine sachgemäße Diskussion zu führen.
Denn bezogen auf die Steuerkraft ist die Verschuldung von Land und jeweiligen Gemeinden in folgender Reihenfolge zu sehen: An erster Stelle liegt — das haben Sie richtig gesagt, wenn Sie die Stadtstaaten mit einbeziehen — Bremen, an zweiter Stelle das Saarland, an dritter Stelle Niedersachsen, an vierter Stelle Rheinland-Pfalz, an fünfter Stelle Schleswig-Holstein, erst an sechster Stelle Nordrhein-Westfalen. Dann folgen, wie Sie richtig gesagt haben, an siebenter und achter Stelle Baden-Württemberg und Bayern, wobei ich hinzufügen will, daß Sie den Platz von Hamburg ganz falsch angegeben haben; der Platz von Hamburg liegt
knapp bei Baden-Württemberg. Herr Kollege Stoltenberg, wenn man also eine Sachdiskussion über solche Fragen, die ja an sich neben der Sache liegen, hier führt, dann sollte man sie mit den richtigen Zahlen führen.
Ich komme auf den Ausgangspunkt zurück: Die weltwirtschaftliche Krise, in der wir uns befinden, ist gefährlich. Noch gefährlicher kann aber, meine Damen und Herren, eine politische Führung werden, die die Ursachen der großen Krise verkennt. Denn der Arzt, der mit einer falschen Diagnose behandelt, kann am Ende gefährlicher werden als die Krankheit.
Die Art und Weise, wie die CDU/CSU die wirtschaftspolitische Debatte seit 1969 geführt hat, hat erhebliche negative Folgen für unser Land gehabt.Denn mehr als ein Jahrzehnt haben die einen mit dem Argument der sozialistischen Umverteilung und der Reformverschwendung
angegriffen und alles erklärt, die anderen, die sozialliberale Regierung, haben dann mit dem internationalen Vergleich verteidigt — nach meiner Einschätzung auch zu pauschal. Beide Seiten sind der wirklichen Sachfrage, Herr Kollege Stoltenberg, damit nicht gerecht geworden. Eine der wahren Lage und den wirklichen Gefahren angemessene wirtschaftspolitische Debatte hat es in unserem Land im vergangenen Jahrzehnt eigentlich nicht gegeben. Die SPD wird in der Opposition den falschen Weg der polemischen Vereinfachung — ich bin dessen sicher — nicht gehen: weder mit den Mitgliedern dieses Hauses noch von der Bank des Bundesrates aus, wo wir im vergangenen Jahrzehnt durch Debatteneingriffe des Kollegen Franz Josef Strauß mit Sachlichkeit auch nicht gerade verwöhnt worden sind.
Unser Land braucht endlich Klarheit über die wahren Ursachen der Krise, in der wir uns gemeinsam mit den anderen Industriestaaten befinden.Herr Kollege Stoltenberg, was nun die sachliche Auseinandersetzung angeht, so möchte ich einige Positionen der Bundesregierung, die gestern von Ihnen vorgetragen wurden, beleuchten. Herr Bundesfinanzminister, Sie haben gestern in einer langen Aufzählung der hausgemachten Ursachen den Kostenanstieg in der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere die Entwicklung der Lohnnebenkosten, für die zunehmende Arbeitslosigkeit entscheidend verantwortlich gemacht. Hinter Ihrem Argument steht die Behauptung, der Anstieg der Sozialleistungen sei wesentlich verantwortlich für die Arbeitslosigkeit. Man hört diese These oft — ich gebe das zu —, besonders oft in Arbeitgeberkreisen.Herr Kollege Stoltenberg, diese These ist jedoch nachweisbar falsch. Es ist irreführend, von den Lohnnebenkosten auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft zu schließen. Die Bundesrepublik Deutschland ist nämlich auch während des vergangenen Jahrzehnts, während der 13 Jahre seit 1969
und trotz einer gleichzeitigen Aufwertung der D-Mark um ein Drittel gegenüber dem Dollar an der Spitze der Welthandelsnationen geblieben. Wir haben trotz des Einbruchs Japans in die Weltmärkte in diesen Jahren nicht einmal Marktanteile am Weltmarkt verloren.
Unser Exportüberschuß in diesem Jahr, 1982, wird der höchste unserer Geschichte werden. Es ist einfach unzulässig und unsachlich, so zu tun, als ob z. B. die Werftkrise von heute durch niedrigere Löhne oder niedrigere Lohnnebenkosten bewältigt
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982 7771
Erster Bürgermeister Dr. von Dohnanyi werden könnte, wie dies der Herr Bundesfinanzminister gestern angedeutet hat.
In Wahrheit — um diese Wahrheiten geht es doch, über die wir reden müssen — ist die Werftkrise doch das Ergebnis der Entwicklung unvorstellbarer internationaler Überkapazitäten, eines stagnierenden Welthandels, rückläufigen internationalen Transportvolumens und, damit verbunden, eines Rückgangs der Nachfrage nach Schiffen.
Es liegt heute mehr Tonnage auf, als die Weltschiffsbaukapazität für ein ganzes Jahr produzieren kann. Das muß man sich doch einmal klarmache, ehe man von Lohnnebenkosten als Ursache spricht.
Herr Kollege Stoltenberg, verschärft wird die Lage der Werften durch einen ruinösen internationalen Subventionswettlauf, wie wir ihn uns bisher nicht haben vorstellen können. Es sind auch Staaten der EG, die sich, wie uns der Verband der Schiffbauindustrie vorrechnet, mit Baukostensubventionen, Kreditverbilligungen und Zinszuschüssen untereinander ständig zu überbieten versuchen. Hier funktioniert eben der internationale, der politische Entscheidungsmechanismus nicht mehr. Herr Bundesminister, ich habe — ich nehme das mit auf meine eigene Kappe — im Auftrag der Bundesregierung und Seite an Seite mit Graf Lambsdorff ein Jahrfünft versucht, in Brüssel Änderungen herbeizuführen. Ich gebe offen zu: erfolglos. Nur müssen wir doch dann den Finger auf die Wunden legen, die die wirklichen Wunden sind, und nicht über Dinge reden, die mit den Tatsachen eigentlich nichts zu tun haben.
Herr Erster Bürgermeister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Lammert?
Auch wenn wir heute 20 % niedrigere Löhne an den Werften hätten, was ich den Werftarbeitern wirklich nicht wünschen würde,
würden wir nicht mehr Schiffe verkaufen, als wir dies heute tun. Das muß man offen aussprechen, wenn man mit den Problemen fertig werden will.
Bitte sehr, Herr Kollege.
Herr Regierender Bürgermeister, würden Sie mit Blick auf Ihre Ausführungen über die angeblich unveränderte Position der Bundesrepublik im Welthandel die Reduzierung unseres Anteils am Welthandel in der Zeit von 1970 bis 1981 von 10% auf 6,8% bei gleichzeitigem Anstieg des auch von Ihnen gerade zitierten japanischen Anteils von 5,9 % auf 7,5 % für eine unveränderte Ausgangsposition halten?
Herr Kollege, ich halte die Statistik für einen Irrtum bei Ihnen. Meine Kenntnis ist, daß wir einen Anteil von 10,5% haben, etwa genauso hoch wie die Amerikaner. Wir liegen Seite an Seite mit den Amerikanern im Welthandel. Ich lasse mich gerne berichtigen, wenn ich mich geirrt habe. Ich bin aber eigentlich ziemlich sicher, daß ich recht habe.
Aber wir können gern nachher darüber reden. Meine Erinnerung ist: 10,5% als heutiger Stand.Herr Kollege Stoltenberg, angesichts nationaler und internationaler Überkapazitäten ist es doch leicht erklärbar, warum eine Exportkonjunktur im Jahre 1981/82 eben nicht Initialzündung für eine Binnenkonjunktur werden konnte. Angesichts massiver internationaler Überkapazitäten, abnehmender internationaler Kaufkraft bei unseren wichtigen Abnehmerländern, angesichts ihrer zunehmenden Auslandsverschuldung und angesichts der zum Teil erheblichen Kapazitätsreserven in der deuschen Industrie wäre nach meiner Einschätzung — um auf Ihre gestrige Rede hier zu antworten — das Überspringen eines Funkens ein Wunder gewesen. Bedenken Sie doch bitte, daß die deutsche Industrie heute mit einer Auslastung von 77 % ihrer Kapazität fährt. Ich sage: Wer an ein solches Wunder, nämlich das Überspringen eines Funkens, so, wie Sie es gestern erwartet haben, geglaubt hat, der — entschuldigen Sie, wenn ich das so offen sage — muß seinen Sachverstand selbstkritisch überprüfen.
Ich muß das leider besonders an die Adresse des Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU sagen.Herr Stoltenberg hat hier gestern ebenfalls gesagt, die steigenden Personalkosten hätten in den Betrieben zu einem erheblichen Rationalisierungsdruck geführt. Auch diese Behauptung hört man immer wieder,
besonders in Wirtschaftskreisen. Hohe Löhne und hohe Lohnnebenkosten, so lautet eine der Geschichten aus dem Märchenbuch konservativer Wirtschaftspolitik, wären die wahre Ursache für den Rationalisierungsfortschritt der deutschen Industrie, die dann Arbeitskräfte freisetze und damit Arbeitslosigkeit schaffe. Meine Damen und Herren, sicherlich gibt es auch Beispiele für diese Behauptung; aber jeder, der selbst einmal in der Wirtschaft gearbeitet hat und der die Wirtschaft von heute nicht nur vom Hörensagen kennt, weiß, daß mit jeder neuen Maschine, die als Ersatz für eine bestehende Maschine angeschafft wird, Produktivitätssprünge von 30, 50 oder 100 % verbunden sind.
— Ich sage nicht, daß das schlecht wäre. Ich komme auf den Punkt.
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7772 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982
Erster Bürgermeister Dr. von Dohnanyi Selbst wenn Sie, meine Kollegin oder Herr Bundesminister, z. B. die Packfrauen am Auslieferband eines Zeitungsverlages heute auf den halben Lohn setzten, könnten diese nicht mit den Verpackungsmaschinen mithalten, die Tausende von Zeitungen in einer Stunde legen, falten und verpacken.
Oder nehmen Sie das Beispiel eines Industrieroboters, einer Technologie, die gerade dabei ist, große Verbreitung zu finden: Ein Roboter ersetzt im Schnitt — Herr Kollege, lassen Sie uns doch wirklich einmal versuchen, sachlich über die Fragen zu sprechen —
vier Arbeitskräfte. Die Amortisationszeit der Geräte liegt bei zweischichtigem Einsatz — und sie müssen wegen der Kapitalkosten zweischichtig eingesetzt werden — häufig unter einem Jahr. Wer wird dann bei der Alternative „Mensch oder Maschine?" noch die menschliche Arbeitskraft einsetzen? Das heißt: die Lohnkosten sind bei der Neuanschaffung einer Maschine vielleicht ein, aber meist doch nur noch ein Nebenfaktor.Im übrigen — wenn Sie selber darüber nachdenken —: Wie wäre es denn sonst zu erklären, daß Japan bei niedrigeren Löhnen zugleich — und hierfür häufig gelobt — die meisten Industrieroboter einsetzt? Oder warum finden Sie auch in den Niedriglohnländern meistens nur Maschinen der letzten Maschinengeneration? Die Wahrheit ist eben, daß auch bei bloßen Ersatzinvestitionen die Rationalisierungssprünge heute so groß sind und auch die zusätzlichen technischen Möglichkeiten jeder neuen Maschine hinsichtlich Präzision und Flexibilität so groß sind, daß sie einen erheblichen Sprung gegenüber der bisherigen Maschinengeneration bedeuten, auch dann, wenn nur Ersatzbeschaffung gemacht wird. Ersatzinvestitionen, meine Damen und Herren, sind deswegen entscheidend Rationalisierungsinvestitionen. Wer das nicht versteht, sondern glaubt, hier würden in erster Linie Lohnnebenkosten eine zentrale Rolle spielen, der hat die zentralen Fragen unserer wirtschaftlichen Entwicklung einfach nicht verstanden.
Ich will an dieser Stelle ein Versprechen abgeben. Ich gehe mit jedem von Ihnen aus der CDU/CSU in jeden Betrieb, den Sie mir nennen, und spreche dort mit der Geschäftsleitung unter Auslassung der Betriebsräte. Die Geschäftsleitung wird Ihnen und mir genau die Antworten geben, die ich hier soeben gegeben habe. Ich gehe nämlich zweimal in der Woche in Betriebe, und ich weiß, wovon ich spreche.
Ich will, Herr Bundesminister, noch einen weiteren Punkt aus Ihrer gestrigen Rede nehmen, der angeblich zu den hausgemachten Ursachen der Wirtschafts- und Beschäftigungskrise zählt. Sie haben darauf hingewiesen, daß die öffentlichen Investitionen an den öffentlichen Haushalten anteilmäßig zurückgegangen sind — übrigens bei allem, was hier über Grün gesagt wurde, nicht in Hamburg — und daß die sogenannten konsumtiven Sozialausgaben gestiegen seien. Dann haben Sie gestern in Ihrer Rede daraus negative Beschäftigungsfolgen abgeleitet. Es ist richtig, daß z. B. die Ausgaben für Gesundheit, also der Anteil der Krankenversicherungsbeiträge, nicht unerheblich gestiegen sind. Ich habe hier die Zahlen aller anderen Industriestaaten vor mir. Dies hat überall stattgefunden, und zwar faktisch im gleichen Ausmaß in Japan und in den USA, in der Steigerungsrate nicht anders als in der Bundesrepublik. Die Entwicklung zeigt, daß alle Staaten Wert darauf legen, die persönlichen Risiken gerechter zu verteilen, und dagegen ist ja wohl auch nichts einzuwenden. Ich finde es richtig, daß die ältere Generation, die in unserem Lande so hart gearbeitet hat, auch berechtigt ist, am Fortschritt der Medizin voll teilzunehmen.
Aber den Gesichtspunkt in Ihrer Argumentation, daß dies negative Beschäftigungsfolgen gehabt habe, kann ich überhaupt nicht nachvollziehen. Sie sprechen von Konsumausgaben immer so, als müsse das zwangsläufig zur Arbeitslosigkeit führen. Ich kann nur feststellen: Im Gesundheitsbereich sind inzwischen 1970 und 1980 140 000 Menschen zusätzlich beschäftigt worden, und zwar für eine sinnvollere Sache — ich sage das einmal so klar — als vielleicht für Videorekorder oder Walkman' in den Ohren.
So ohne weiteres kann man also nicht davon sprechen, daß nur die Investitionen Beschäftigung bewirken. Ich sage deswegen zu Ihnen, Herr Bundesminister: eine sachliche Diskussion, die wir führen müssen, von der ich sage, daß wir sie im vergangenen Jahrzehnt in der Sache nicht tief genug geführt haben,
wobei ich hinzufüge, daß beide Seiten daran schuld waren, verlangt mehr Respekt vor den Fakten, als es in falschen Vereinfachungen, wie Sie sie gestern in Ihrer Haushaltsrede aufgeführt haben, wiederkehrt.
Herr Kollege Dregger, Wahrheit kann einfach sein; sie ist es nicht immer. Verfälschungen können auch einfach sein, und die Schlichtheit der Argumente, Herr Kollege Dregger, ist noch kein Wahrheitsbeweis in dieser Welt.
Wer in der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft, in der Höhe der Löhne oder in der sogenannten Staatsquote die wahre Ursache der Krise sieht, der hat die Probleme nicht verstanden.
Er kann nicht erklären, Herr Kollege Dregger,warum in Ländern mit niedrigeren Löhnen und hö-
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982 7773
Erster Bürgermeister Dr. von Dohnanyi herer Investitionsquote eine noch höhere Arbeitslosigkeit herrscht. Er kann nicht verständlich machen, warum bei gleicher Sozialgesetzgebung z. B. die Arbeitslosigkeit in Norddeutschland und in Süddeutschland so unterschiedlich ist. Er kann nicht erklären, warum ein Land wie Schweden mit hoher Staatsquote eine niedrige Arbeitslosigkeit und ein Land wie die USA mit niedriger Staatsquote eine besonders hohe Arbeitslosigkeit aufweist. Aber wer die Krise nicht verstanden hat, dem kann man sich auch bei der Bewältigung der Krise nicht anvertrauen.
— Herr Kollege, Sie sind doch ein Beweis für meine These. Sie machen den Einwurf: Wer hat die Krise erzeugt?, und Sie meinen Brandt und Schmidt. Wenn man sich in der Welt umguckt, weiß man doch, woran es liegt. Entschuldigen Sie — das ist nicht ganz parlamentarisch, aber —, ein solches Maß an Dummheit ist in der wirtschaftspolitischen Debatte eigentlich unzulässig.
— Entschuldigen Sie, ich nehme den Ausdruck Dummheit als ein Zeichen meines Temperaments zurück. Ich hatte es so nicht gemeint. Ich habe den parlamentarischen Ausdruck dafür noch nicht gefunden. —
Ich will versuchen, einige der wichtigen Ursachen zu nennen. Da steht an erster Stelle die hochgradige Sättigung diverser Binnenmärkte im gewerblichen Bereich, z. B. bei den Haushaltsgeräten, wo wir ja bundesweit Krisen in den Unternehmen haben. Da ist die unvermeidlich überproportionale Steigerung der Dienstleistungskosten. Es ist ja eine alte volkswirtschaftliche Regel, daß die Kosten des Friseurs, der die Handarbeit machen muß, überproportional zu den Gesamtkosten steigen. Unter diesem Problem leidet der Staat; denn er hat sehr stark personelle Dienstleistungen zu verwalten.Da sind der rapide technische Fortschritt und die damit verbundenen Rationalisierungsfolgen, z. B. durch die Mikroprozessoren. Da ist die internationale Nachfragedämpfung als Ergebnis zunehmender Auslandsverschuldung. Da ist der verschärfte internationale Wettbewerb. Da ist schließlich die Unsteuerbarkeit eines international immer enger verflochtenen Wirtschaftssystems, in dem Land für Land die Rolle des Staates an Bedeutung zunimmt, das aber als international verflochtenes System keine gemeinsame politische Führung bilden kann.Diese Ursachen nennt die Bundesregierung überhaupt nicht. Mit der Krise des Systems setzt sich die Bundesregierung weder in der Regierungserklärung noch in der Rede des Kollegen Stoltenberg
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nach meinem Eindruck haben weder Sie sie gestern und heute noch hat sie der Kollege Dregger heute während meines Zuhörens geführt. Eine kritische Debatte war das nicht.
Was unser Land braucht, sind Antworten auf diese Probleme. Antworten auf die Frage der Marktsättigung bei heutiger Einkommensverteilung. Wo soll — so lautet die Frage — der Bedarf für die Produktionskapazitäten herkommen? Antwort auf die Frage nach der Bewältigung des Rationalisierungsschubes durch neue technische Entwicklungen. Was machen wir, wenn die Mikroelektronik eine ganze Generation von Angestellten in Frage stellen sollte? Antwort auf die Frage nach dem zukünftigen Umgang mit den hohen Schulden unserer großen Exportmärkte. Müssen wir diese von uns vorfinanzierten Einkäufe eines Tages vielleicht endgültig übernehmen, um die Märkte für uns zu erhalten? Antworten auf die Frage, wie wir als offener Markt mit Protektionismus und Subventionswettlauf insbesondere in Europa fertig werden wollen. Müssen wir auf einen Kurs einschwenken, den wir für falsch halten, weil alle anderen ihn inzwischen gehen, oder gibt es für uns einen anderen Ausweg? Antwort auf die Frage, wie wir mit dem Problem fertig werden sollen, daß wir zunehmend von dem abhängiger werden, was andere entscheiden. Ich will das mal sehr spitz ausdrücken: Am Ende macht jedes Land in der Welt nur noch das, von dem es befürchtet, daß ein anderes Land es tun könnte, wenn es dies nicht selbst tut. Wir entscheiden dann nur noch nach Befürchtungen: Sonst machen es die Japaner. Die Japaner entscheiden am Ende nur noch aus der Befürchtung: Sonst machen es die Deutschen und die Europäer.Unsere Abhängigkeit bei den Zinsen hat sich deutlich gezeigt. Ich habe hier ganz zufällig die „Süddeutsche Zeitung" vom 6./7. November.
Da stehen drei Artikel: „Auf dem Videomarkt brechen die Dämme"; „Flugzeugmarkt in Turbulenzen"; „Mit Chips in die Arbeitslosigkeit".
— Meine Damen und Herren, wenn Sie meinen, ich sollte Ihnen in dieser Frage noch helfen: Ich komme noch einmal in den Bundestag, Herr Kollege, und spreche mit Ihnen persönlich über diese Fragen. —
Es müssen also Antworten gefunden werden auf Fragen der internationalen Verflechtung, die uns die Steuerbarkeit unserer eigenen Volkswirtschaft weitgehend entzieht und an der wir doch ein vitales Interesse haben, denn wir sind eine große Exportnation. Wir müssen teilhaben am Weltmarkt, wir müssen offenbleiben für die Produkte des Weltmarktes. Aber zunehmend wird uns die Steuerbarkeit entzogen.
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7774 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982
Erster Bürgermeister Dr. von Dohnanyi
Die Haushaltsvorlage 1983 und die mit dieser Haushaltsvorlage verbundenen mittelfristigen Perspektiven, Herr Bundesminister, geben nach meiner Ansicht keine Antworten auf diese Fragen und damit auch keine Lösungen für die Wirtschafts- und Beschäftigungskrise.
Zum einen — darüber ist bereits gesprochen worden — dämpft die Haushaltsvorlage der Bundesregierung die Binnennachfrage mit einem Nachfrageentzug in Höhe von 10 bis 15 Milliarden DM, wie dies heute geschätzt wird. Damit werden Arbeitsplätze in der Bundesrepublik, damit wird die Binnennachfrage gewiß nicht zusätzlich gestärkt.
Die Vorschläge der Bundesregierung hinsichtlich zusätzlicher Einsparungen haben aber neben dem hier ja schon behandelten Element der sozialen Ungerechtigkeit auch noch eine ökonomische Folge. Wenn es, Herr Bundesminister, nämlich richtig ist, daß die höheren Einkommensschichten in der Bundesrepublik eher dazu neigen, Geldkapital zu bilden und dieses zu hohen Zinsen anzulegen, während die unteren Einkommensschichten noch einen erheblichen Nachholbedarf haben, dann sind auch aus ökonomischen Gründen die Verteilungswirkungen der Haushaltsentscheidungen der Bundesregierung unvertretbar.
Politik müßte es doch sein, denjenigen Bevölkerungsschichten, die noch zusätzlichen Bedarf haben, auch zusätzliche Kaufkraft zuzuführen. Die Politik der Bundesregierung aber tendiert in die entgegengesetzte Richtung.
Herr Bundesminister, beispielsweise soll ein alleinstehender Sozialhilfeempfänger mit zwei Kindern jährlich mit zusätzlich 408 DM belastet werden.
Ein Sachbearbeiter soll nach dem Willen der neuen Bundesregierung, wenn er selbst in der Tarifgruppe V c ist, zusätzlich zu den schon zuvor beschlossenen und geplanten Maßnahmen mit über 1 000 DM im Jahr belastet werden.Jene Selbständigen aber, wiederum unverheiratet mit zwei Kindern, die ein monatliches Einkommen von etwa 10 000 DM verbuchen können, haben, wenn man es netto rechnet, wohl keine zusätzlichen Belastungen zu erwarten.
— Richtig. Das ist aber bei allen vergleichbar.
Selbst da, Herr Bundesminister, ergibt sich durch den Steuerfreibetrag eine besondere Situation. Ich bin bereit, diese Zahlen auch in der Diskussion im einzelnen korrigieren zu lassen.Nur: Die Richtung, Herr Bundesminister, ist unbestreitbar. — Wie kann die verteilungspolitische Ungerechtigkeit eines solchen Programms drastischer zum Ausdruck kommen als durch solche Beispiele? Ich stimme Ihnen ja zu, daß wir Korrekturen brauchen, auch im sozialen Bereich. Aber wenn solche Korrekturen gemacht werden, dann doch bitte gerecht und ökonomisch richtig.
Wenn es an Nachfrage fehlt — davon ging ich aus — und diese Haushaltsbeschlüsse die Nachfrage dämpfen, muß ich fragen: Stellt denn die Bundesregierung statt dessen nach einer entschiedenen Schwächung der privaten Nachfrage dem eine Stärkung der öffentlichen Nachfrage gegenüber? Ich meine: Nein. Richtig ist, daß Sie 1983 die Kreditaufnahme erneut erhöhen.Erlauben Sie mir hierzu eine persönliche Bemerkung: Ich finde dieses Hickhack darüber, wer was vorher oder hinterher gesagt hat, für die Menschen in unserem Lande eigentlich nicht mehr so interessant.
Wir müssen an dieser Stelle die Zukunft und nicht die Vergangenheit bewältigen.Die Bundesregierung geht offenbar davon aus, daß der Anteil des Staates, d. h. die Steuerlastquote, in den kommenden Jahren eher zurückgehen als ansteigen sollte. Wenn es aber richtig ist, daß die private Nachfrage auf Grund der Sättigung in bestimmten wichtigen Produktionsbereichen auch zukünftig begrenzt sein wird, und wenn es zugleich richtig ist, daß wichtige öffentliche Aufgaben die privatwirtschaftlich nicht bewältigt werden können — z. B. bestimmte Bereiche des Umweltschutzes, Maßnahmen der Energieeinsparung —, noch eine erhebliche binnenwirtschaftliche Nachfrage ermöglichen, dann muß man dieses binnenwirtschaftliche Nachfragepotential doch finanzierbar machen. Da sage ich Ihnen, Herr Bundesminister: Eine rückläufige Steuerlastquote kann dem nicht dienen.
Würden wir die Steuerlastquote, also das, was dem Staat zukommt — nicht die Abgabenquote, in der auch die Beiträge zur Kranken-, zur Arbeitslosen- und zur Rentenversicherung enthalten sind —, der ersten Hälfte der 60er Jahre heute unter Berücksichtigung des Kindergeldeffekts anwenden, dann würden die Gesamteinnahmen von Bund, Ländern und Gemeinden im Jahr 1983 um rund 18 Milliarden DM größer sein. Würden wir die Steuerlastquote von 1977 wieder erreichen, dann wäre der Betrag bei etwa 25 Milliarden DM.Wenn nun die Bundesregierung, Herr Bundesminister, eine tarifliche Entlastung bewirken möchte, dann darf das nur mit dem Ziel erfolgen, zugleich die Steuerlastquote schrittweise wieder auf das Niveau von etwa 25 % zu heben. Die Erhöhung der Spitzensteuersätze unter Berücksichtigung des nicht entnommenen Gewinns — das füge ich aus-
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Erster Bürgermeister Dr. von Dohnanyi drücklich hinzu — ist ein Ansatz in die richtige Richtung.
Denn nur mit verbesserten Einnahmen der öffentlichen Hände können die öffentlichen und die beschäftigungspolitischen Aufgaben in der Bundesrepublik auf Dauer wirksam gelöst werden.Nur so sind die Finanzierungsmöglichkeiten für den Umweltschutz, für die Säuberung unserer Flüsse, für die Sicherung der Wasserversorgung, für die Erneuerung der Kraftwerke zu finden. Diese Maßnahmen wiederum würden nicht nur Beschäftigungswirkungen haben, sondern zugleich auch dem öffentlichen Bedarf entsprechen. Ich füge hinzu: Das von der SPD-Bundestagsfraktion angekündigte Beschäftigungsprogramm wird genau in diese Richtung gehen.Ob man dies auch von der Verkabelung der Bundesrepublik Deutschland sagen kann, daran läßt sich zweifeln.
Zwar sage ich in aller Offenheit, daß es wahrscheinlich unvermeidlich ist, daß auch die Bundesrepublik diesen Weg irgendwann geht; aber erstens, wenn möglich, doch mit Techniken, die dann auch zukunftsträchtig sind.
Zweitens muß man sich doch darüber im klaren sein,
daß die in Aussicht gestellten positiven Beschäftigungseffekte von sehr kurzer Dauer sein werden. Die Unternehmen, die eingeschaltet werden — ich bin bereit, mit Ihnen auch zu diesen Unternehmen zu gehen —, praktizieren die Arbeit an diesen Vorhaben unter bestimmten Zeitvorgaben, meist mit Überstunden. Mittelfristig muß bei den so betroffenen Branchen eher mit einem drastischen Abbau von Arbeitsplätzen gerechnet werden. Wer aus Arbeitsplatzgründen die Verkabelung der Bundesrepublik Deutschland betreibt, der macht in der Tat eine kurzsichtige Politik.
Im übrigen — auch dies als Bemerkung zu dem vorgelegten Haushalt — gibt es unterschiedlichen Bedarf zwischen dem Norden und dem Süden der Bundesrepublik. Wer die Aufgaben der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik heute näher betrachtet, muß auf die großen regionalen Unterschiede — besonders bei der Arbeitslosigkeit — zwischen Nord und Süd stoßen. Ich vermisse, Herr Bundesminister, in Ihrer Rede ebenso wie in der Regierungserklärung jeden Hinweis auf die Aufgabe des Bundes, diesem Gefälle entgegenzuwirken.
Es ist doch die Aufgabe der Bundesregierung, fürgleiche Lebensverhältnisse in der Bundesrepublikzu sorgen. Ich gebe offen zu, daß diese Aufgabe inden vergangenen Jahren nicht ausreichend bewältigt wurde.
— Aber, Herr Kollege, wenn Sie von einem neuen Anfang sprechen und wenn ein früherer Ministerpräsident aus dem Norden der Republik Bundesfinanzminister wird, dann hatte ich mir davon insgeheim mehr Hilfe für die norddeutschen Küstenländer versprochen. —
Weder Hamburg noch Bremen noch Niedersachsen noch Schleswig-Holstein können diese Probleme heute allein bewältigen.Wenn Sie Einwürfe gegenüber der früheren Bundesregierung machen, Herr Kollege, nehme ich sie, da ich lange Mitglied dieser Bundesregierung war, selbstkritisch entgegen. Wir haben in dieser Bundesregierung über diese Fragen öfters gesprochen, aber zum Teil — ich komme darauf zurück — auf Grund der Konstellation in dieser Bundesregierung, die ja auch Sie heute als Konstellation haben, große öffentliche Beschäftigungsprogramme mit einer entsprechenden Gegenwirkung gegen das Nord-Süd-Gefälle oder Süd-Nord-Gefälle nicht in Gang setzen können.
Wenn die Bundesregierung zu einer vernünftigen Lastenverteilung und zu einer Verteilung der großen Investitionsschübe in der Bundesrepublik in Richtung auf den Norden nicht entscheidend beiträgt, wird die Entwicklung der norddeutschen Küstenländer weiter negativ verlaufen.Schließlich fehlt es dem Ansatz der Bundesregierung an der Betonung der Notwendigkeit einer Arbeitszeitverkürzung, die eine der Antworten auf die Frage darstellt: Was tun wir denn gegenüber den großen Rationalisierungssprüngen in unserer Wirtschaft? Inzwischen ist das Thema Arbeitszeitverkürzung in der Öffentlichkeit umfassend diskutiert worden. In der Regierungserklärung habe ich es nicht aufgenommen gesehen, auch nicht in der Rede des Bundesfinanzministers gestern. Dies erscheint angesichts der breiten öffentlichen Diskussion höchst verwunderlich. Es ist letztlich nur ideologisch zu erklären.
Sicher können die notwendigen Arbeitszeitverkürzungen nicht mit vollem Lohnausgleich erfolgen. Das Gewicht Arbeitszeitverkürzung gegenüber dem Gewicht Lohnzuwachs wird bei den künftigen Tarifvereinbarungen zugunsten der Arbeitszeitverkürzung verschoben werden müssen. Aber dies ist auf seiten der Gewerkschaften j a auch einsichtig.Nur, Herr Bundesminister, der Bund als Arbeitgeber, ist, scheint mir, verpflichtet, mit der Fantasie, die Sie gestern hier gefordert haben, z. B. an das Problem von mehr Teilzeitarbeit im öffentlichen Dienst heranzugehen. Die Frauen in der Bundesre-
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Erster Bürgermeister Dr. von Dohnanyi publik sind daran interessiert, aber auch Männer sind daran interessiert. Eine vernünftige Organisation von Teilzeitarbeit, die nicht Job-sharing im engeren Sinn ist, eine solche vernünftige Politik muß auch vom Bund getragen werden.
Im übrigen geht es bei der Arbeitszeitverkürzung j a wohl in erster Linie um die Verkürzung der Lebensarbeitszeit. Und die, scheint mir, muß man nicht notwendigerweise immer bei den älteren Menschen ansetzen. Es ist j a nicht einzusehen, warum wir in der Bundesrepublik immer noch rund 300 000 Jungarbeiter zwischen 15 und 18 haben, die ohne jede Ausbildung in ihr späteres Berufsleben gehen und dann dort häufig nach 20jähriger Berufstätigkeit, oft schon wenn sie 35 sind, die erste dauerhafte Arbeitslosigkeit erleben. Wir sollten deswegen darüber nachdenken, wie wir schrittweise, wenn notwendig, durch die Einführung einer Ausbildungspflicht, erreichen können, daß jeder Jugendliche eine Ausbildung bis zu seinem 18. Lebensjahr durchläuft.
Herr Bundesminister, die Bundesregierung gibt in dem Haushalt auch keine befriedigende Antwort für diejenigen, die angesichts zunehmender Rationalisierung in den Betrieben entweder arbeitslos werden oder, wie besonders die Älteren, aber auch Frauen, die in den Arbeitsmarkt zurückkehren wollen, Behinderte und Jugendliche, keine Arbeit wieder finden können. Es erscheint auf Grund der internationalen Erfahrung völlig unzureichend, diese Probleme mit Investitionsanreizen oder Verbesserungen der Rahmenbedingungen für die mittelständische Wirtschaft zu erreichen. Diese Verbesserung der Rahmenbedingungen gibt es in anderen Ländern. Man hat es versucht, ohne daß die Folgen für den Arbeitsmarkt bisher meßbar positiv gewesen wären.
Wenn, meine Damen und Herren, jetzt die britische Industrie von der britischen Regierung ein Beschäftigungsprogramm fordert, dann sollte die CDU/ CSU/FDP-Koalition das wirklich sehr nachdenklich stimmen.
Deswegen muß sich die Bundesrepublik Deutschland darauf einrichten, daß neben dem klassischen, dem — ich will es einmal so nennen — „ersten" Arbeitsmarkt, ein „zweiter" Arbeitsmarkt entwikkelt wird,
der insbesondere für ältere Arbeitnehmer, für Frauen, die in den Beruf zurückkehren wollen, für Behinderte, für Jugendliche zu entwickeln ist.
— Ich würde mit solchen Einwürfen vorsichtig sein.Sie wissen, daß die Debatte um den „zweiten" Arbeitsmarkt eine inzwischen breit entfachte Debatte ist, die insbesondere auch von der evangelischen Kirche aufgegriffen wurde. Mir scheint das Thema zu ernst, als daß man den „zweiten" Arbeitsmarkt mit dem Einwurf Schwarzarbeit kritisieren könnte.
Der „zweite" Arbeitsmarkt könnte als wesentliche Finanzierungsquelle die Mittel der Bundesanstalt für Arbeit sowie die von den Gemeinden aufgebrachten und aufzubringenden Mittel für Sozialhilfe einsetzen. Ein Programm zur Arbeitsbeschaffung kann diejenigen wichtigen öffentlichen Aufgaben anpacken helfen, die bei den heutigen Steuereingängen sonst nicht finanzierbar sind.
So würde die Beschäftigung zahlloser arbeitsloser Menschen in unserem Lande möglich werden; die Teilnahme dieser bisher Arbeitslosen an dem Arbeitsprozeß würde auch zur Wiedergewinnung ihres Selbstbewußtseins beitragen und ihnen die Chance geben, wirklich in der Gesellschaft mitzuarbeiten.Ohne einen solchen direkten Ansatz bei der Beschäftigung werden wir das Beschäftigungsproblem in der Bundesrepublik Deutschland nicht erfolgreich lösen können. Das müßte, so scheint mir, auch die Bundesregierung eigentlich heute sehen. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen auf einem „zweiten" Arbeitsmarkt sind ein unerläßlicher Bestandteil der Arbeitsmarktpolitik in dieser Krise.Aber was macht die Bundesregierung? Sie engt den Spielraum für eine Politik des „zweiten" Arbeitsmarktes ein. Für 1983 sollen die Mittel der Bundesanstalt für Arbeit für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen um 100 Millionen DM gekürzt werden, obwohl die ökonomische Logik und die gesellschaftspolitische Verantwortung doch dazu führen müßte, eine deutliche Steigerung der Mittel für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen vorzunehmen.
Ich richte hier den dringenden Appell an die Bundesregierung und an den anwesenden Bundesarbeitsminister, in der Frage — wir sprachen auch bei anderer Gelegenheit schon davon — der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wirklich ein offenes Ohr und ein offenes Auge zu haben. Nichts ist doch vernünftiger, meine Damen und Herren, als daß wir die Mittel, die wir den Arbeitslosen sonst dafür zahlen, daß sie nichts tun, so umlenken, daß der Arbeitslose davon sinnvoll für die Bewältigung der Aufgaben tätig werden kann, die in unserer Gesellschaft noch ungelöst sind.
Wir versuchen jetzt in Hamburg, ein solches Modell in Bewegung zu bringen. Wir haben die Mittel für Arbeitsbeschaffung von 20 Millionen DM auf 100 Millionen DM im nächsten Jahr gesteigert. — Herr Bundesminister Blüm, ich hoffe sehr, daß wir die Unterstützung der Bundesregierung haben werden, wenn wir im kommenden Jahr und in den Jahren danach den Versuch machen werden, in den Bereich hineinzugehen mit Aufgaben, die vielleicht
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Erster Bürgermeister Dr. von Dohnanyi
in der klassischen Definition als Pflichtaufgaben der Gemeinden bezeichnet werden.
Wir müssen hier produktiver sein. Die Bevölkerung erwartet doch von uns, daß wir nicht Sozialhilfe und Arbeitslosengeld an Menschen zahlen, die zu uns kommen und sagen: Habt ihr denn für dieses Geld nichts für uns zu tun,
können wir denn nicht produktiv bei euch tätig sein? Dieser Ansatz wird jetzt von der Bundesregierung begrenzt, anstatt daß sie ihn phantasievoll und mit Kraft erweitert.
Hierzu bedarf es allerdings auch einer Stärkung der Länder- und Gemeindefinanzen. Ich will durchaus zugeben, daß der Bundesminister der Finanzen, der Kollege Stoltenberg, den Ländern ein großzügigeres Angebot gemacht hat, als wir es von seinem Vorgänger, dem Kollegen Lahnstein, bekommen haben. Das ist richtig.Zugleich gibt es aber auch kritische Bemerkungen zu machen hinsichtlich des Ansatzes bei der Gewerbesteuer. Herr Kollege Dregger, ich spreche Sie jetzt als früheren Oberbürgermeister von Fulda an. Ich glaube, Sie werden mir zugestehen, daß, wenn die Gemeinden — in dieser Zeit, in der zwangsläufig die Belastung mit Sozialhilfe fast unkalkulierbare Größen bekommt — den Eindruck haben müssen, daß an ihrer wichtigen Einnahmequelle, der Gewerbesteuer, durch Bundesoperationen manipuliert werden könnte, dies für die Gemeinden ein ganz kritischer Punkt werden muß. Ich bitte also bei diesen Fragen wirklich mit großer Sorgfalt vorzugehen. Wir können es uns nicht leisten, daß Gemeinden, die für den regionalen Arbeitsmarkt eine so zentrale Verantwortung tragen, nun in ihrer Steuerkraft durch Maßnahmen der Bundesregierung eingeschränkt werden.
Meine Damen und Herren, die Regierung Kohl hat ihre Arbeit in einer schwierigen Zeit übernommen.
Niemand wird dieser Regierung den Stand der Dinge gewissermaßen auf das Negativkonto schreiben. Ich füge hinzu: Wir sind alle — ob nun Sozialdemokraten, Freidemokraten oder Christdemokraten, ob Bundesland, Gemeinde oder Bund — auf den Erfolg einer Bundesregierung in schwierigen Zeiten angewiesen. Denn die Regierung entscheidet maßgeblich über unser aller Zukunft. Und wir — auch das sage ich hier — wollen dieser neuen Regierung helfen.
— Ich verspreche Ihnen: Wir sind an einem Erfolgjeder Regierung interessiert. Wer in Deutschlandkönnte denn an einem Mißerfolg einer Bundesregierung interessiert sein?
Ich spreche der Bundesregierung, auch dem Bundesfinanzminister, nicht die guten Absichten ab. Aber ich sage deutlich: Die Politik, die sich in diesem Haushalt darstellt, führt nicht heraus aus der Arbeitslosigkeit, sie führt tiefer hinein in die Arbeitslosigkeit.
Die neue Bundesregierung wird sich daran messen lassen müssen, ob die Bundesrepublik Deutschland, die im internationalen Vergleich immer noch eine Spitzenstellung eingenommen hat, diese Spitzenstellung auch in den kommenden Monaten bewahren kann. Ich sage deutlich: Mir scheint — aber die Debatte kann da jetzt noch einiges ergeben —, daß die Bundesregierung aus der internationalen Entwicklung, die in anderen Ländern längst vor der Ölkrise angefangen hat, weswegen ja auch der Hinweis auf die Ölkrise allein eine völlig unzureichende Erklärung der Probleme war, offenbar wenig oder nichts gelernt hat. Ich fürchte, bei diesem Haushalt fängt die Bundesregierung da an, wo andere konservative Regierungen längst gescheitert sind.
Die Weltwirtschaftskrise, in der wir stehen, ist eine viel größere Bedrohung, als Sie zu verstehen scheinen. Meine Damen und Herren, Bundeskanzler Helmut Kohl beruft sich oft auf die Geschichte. Ich halte das für richtig. Aber hat die Bundesregierung aus den Vorkrisenjahren 1928 und 1929 denn überhaupt nichts gelernt? Ich spreche nicht von zahlreichen Einzelheiten dieser Haushaltsvorlage, über die man reden kann; ich spreche davon, daß der Weg dieser Haushaltsvorlage in die falsche Richtung führt.
Er soll in die Bedingungen der 50er und der 60er Jahre zurückführen. Aber dies ist ein Irrweg. Es gibt in der Geschichte keinen Weg zurück!Herr Bundeswirtschaftsminister Graf Lambsdorff, ich sage Ihnen in aller Freundschaft — aber mit der Freundschaft ist es ja jetzt vielleicht schwierig geworden; sprechen wir also von unserer guten alten Bekanntschaft —: Der große Irrtum des heutigen Wirtschaftsministers war auch der Irrtum des früheren Wirtschaftsministers,
der glaubte, allein über den Markt die Probleme dieser Gesellschaft lösen zu können.
Ja, meine Damen und Herren, ich sage, es war richtig — und es hat sich ja auch auf dem SPD-Parteitag, von dem hier so oft gesprochen wird, als ein Signal gezeigt —: Wir hätten eine Wende nötig gehabt, eine Wende zur Rationalität und zur wirtschaftlichen Vernunft, aber nicht eine Wende zu-
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Erster Bürgermeister Dr. von Dohnanyi rück, wie sie jetzt von der Bundesregierung vorgenommen wird.
Ein weiser Mann hat einmal gesagt: Wenn alles so bleiben soll, wie es ist, muß sich alles ändern. Dieser Haushalt ist eine Fortschreibung der Frühgeschichte unserer Republik,
dieser Haushalt geht zurück und nicht nach vorn.
Ich fürchte, meine Damen und Herren, die Bundesregierung muß auf diesem Wege scheitern; ich fürchte das für unser Land.
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Wirtschaft.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Herr von Dohnanyi, Sie haben uns — ich möchte sagen, freundlicherweise — schon über die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" von heute angekündigt, was in etwa der Inhalt Ihrer Philosophie und Ihrer Meinung sein werde.
Aber gleichzeitig kann man dem Bericht der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" entnehmen, daß Sie sich in Hamburg — und dann selbstverständlich auch hier und heute — mit Ihrem Hamburger Parteifreund, dem Altbundeskanzler Helmut Schmidt, in der Frage der Beurteilung der wirtschaftspolitischen Möglichkeiten deutlich auseinandergesetzt und sich von ihm distanziert haben.
Nun kann man, Herr von Dohnanyi, selbstverständlich über unterschiedliche Meinungen sprechen, und man kann das auch in einer Partei. Aber eines lassen Sie mich im Sinne unserer alten und guten Bekanntschaft sagen — im übrigen sehe ich, meine Damen und Herren, nicht ganz ein, warum das Wort „Freundschaft" aus dem Bereich menschlicher Beziehungen gestrichen werden muß, wenn man in einer anderen Koalition sitzt, aber das ist für jeden einzelnen eine Beurteilungsfrage —:
Daß Sie, Herr Kollege von Dohnanyi, hierher kommen und dem Hause mitteilen, es habe hier in den vergangenen zehn Jahren keine angemessene wirtschaftspolitische Debatte gegeben, das allerdings ist ein von Ihnen angemeldeter Anspruch, angesichts dessen ich Ihnen doch einige Namen — und zwar Namen aus Ihrer Partei und Ihrer Fraktion — vorhalten möchte. Ich beginne einmal mit Klaus Dieter Arndt: keine angemessene wirtschaftspolitische Debatte? Mit dem Kollegen Ehrenberg auch nicht? Mit Herrn Lahnstein nicht? Mit Herrn Matthöfer nicht? Auch nicht mit Helmut Schmidt? Herr von Dohnanyi, so hoch kann man, glaube ich, seine Ansprüche nicht hängen!
Aber vielleicht erkenne ich jetzt den Hintergrund für das mindestens den Zeitungen zu entnehmende Gerücht, daß sich der zukünftige Spitzenkandidat der Sozialdemokratischen Partei, Herr Vogel, des sachverständigen Rates von Karl Schiller bedienen will. Auch der hat offensichtlich zu den angemessenen wirtschaftspolitischen Debatten der letzten zehn Jahre nach dem Urteil des Hamburger Bürgermeisters nichts beigetragen.
Ich kann es nur begrüßen, wenn das zustande käme, weil das zur Versachlichung der Debatte dienen und weil er dazu beitragen würde, Sie anzuhalten und Sie anzumahnen, einige Tassen — aber unzerbrochen — im Schrank stehenzulassen, wie er das schon früher getan hat.
Verzeihen Sie, Herr Bundeswirtschaftsminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Westphal?
Nein, ich möchte jetzt hier weitersprechen.Herr von Dohnanyi, Sie sagen, wer die Krise nicht verstanden habe, dem könne man sich nicht anvertrauen. Das mag eine so allgemein richtige Feststellung sein. Aber Sie werden mir und, wie ich weiß, auch vielen anderen im Lande erlauben, daß wir die Meinung vertreten, Sie hätten wohl die Krise nicht richtig verstanden, und dann kann man sich eben auch Ihnen nicht anvertrauen.
Die Rezepte, Herr von Dohnanyi, die Sie vorschlagen, haben doch alle, vom zweiten Arbeitsmarkt angefangen über viele andere Dinge, die Sie angesprochen haben, einen ganz ungewöhnlichen Pferdefuß: Sie nehmen nicht die geringste Rücksicht auf die Notwendigkeit der Konsolidierung unserer öffentlichen Haushalte, sondern setzen einen Weg fort, von dem die meisten im Hause und im Lande nicht überzeugt sind, den wir in den letzten Jahren teils gezwungen, teils aber auch nicht ganz so gezwungen gegangen sind und der uns zu übertrieben hohen Defiziten mit allen Konsequenzen und Lasten geführt hat.
— Ich sage dazu auch noch etwas. Ich bin Ihnen dankbar, Herr Ehmke, daß Sie den wenig sachverständigen Zwischenruf „Reagan" schon wieder machen. Ich sage dazu nachher noch etwas.Herr von Dohnanyi, wir können darüber reden, und wir sind auch bereit, darüber zu reden, daß Arbeitszeitverkürzung ein flankierendes Mittel,
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Bundesminister Dr. Graf Lambsdorffaber auch nicht mehr, zur Bewältigung der gegebenen Probleme sein kann. Wir sollten nach meiner Überzeugung nicht darüber reden, daß man mehr Ausbildungsplätze dadurch erreichen kann, daß man eine Ausbildungspflicht einführt, denn in demselben Augenblick, in dem Sie das tun, indem Sie eine ernsthafte öffentliche Debatte darüber herbeiführen, werden Sie die freiwillige Bereitschaft derjenigen, die ausbilden, auch noch ruinieren.
Das ist weder im Interesse unserer Wirtschaft, noch ist es im Interesse unserer Arbeitnehmer. Wir haben allen Anlaß, uns für die großen Anstrengungen des Mittelstandes, insbesondere des Handwerks, für die Zurverfügungstellung von Ausbildungsplätzen auch in diesem schwierigen Jahr wieder zu bedanken.
Ich stehe nicht an, wie ich das in vielen öffentlichen Veranstaltungen gesagt habe, die Wirtschaft auch von dieser Stelle aus aufzufordern: Jede Beschäftigung muß einen Rentabilitätsgesichtspunkt und -hintergrund haben, sonst kann das nicht lange dauern; bei Ausbildungsplätzen aber sollte das zurückgestellt werden können — in vertretbarem Umfang. Bei Ausbildungsplätzen, meine ich, sind die Aspekte — nicht nur die Vermittlung von Berufsfertigkeiten, sondern auch die Vermittlung von Vertrauen in das wirtschaftliche System, in dem wir leben — es wert, daß man in gewissem vertretbaren Umfange die Ertragserwartungen oder Ertragsüberlegungen zurückstellt.
Sie haben dann dem neuen Bundesarbeitsminister die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ans Herz gelegt. Ich muß Ihnen sagen, daß dies eine theoretisch einleuchtende Diskussion ist und sein kann. Aber offensichtlich haben Sie sich nicht die Mühe gemacht, obwohl Sie hervorgehoben haben, daß Sie wöchentlich zwei Betriebsbesuche absolvieren — da wird dann immer so getan, als wenn andere Leute von der betrieblichen Praxis und Wirklichkeit überhaupt keine Ahnung hätten, meine Damen und Herren; ganz so ist das ja wohl nicht —, einmal in die Praxis der Politik, die da betrieben und mit diesem Gelde durchgeführt worden ist, hineinzusehen. Ich empfehle Ihnen dringend zum Studium einen Aufsatz, der, mit drei Sternen gezeichnet, vor etwa drei bis vier Wochen in der „Zeit" erschienen ist und der über die Praxis aus der Arbeitsverwaltung in einer Weise berichtet, daß man nur erschrocken zusammenfahren konnte und nur hoffen kann, daß da endlich einiges verbessert wird.
Zum Schluß eine grundsätzliche Bemerkung: Herr von Dohnanyi, Sie sagen, dieser Haushalt soll in die 50er und 60er Jahre zurückführen. Niemand von uns hat dies vor. Sie sagen, es sei schon immer der Irrtum des alten und des neuen Wirtschaftsministers gewesen, daß alles allein über den Marktsich regele und geregelt werden könne. Nein, es ist Ihr Irrtum, Herr von Dohnanyi, und der einiger Ihrer Kollegen — nicht aller —, daß Sie mir das unterstellt, nachgesagt oder von mir angenommen haben. Aber in einem Punkte unterscheiden wir uns: Dort, wo Sie in vielen Fällen durch Eingriffe des Staates dafür gesorgt haben, daß die Funktionsweisen des Marktes beschädigt oder außer Kraft gesetzt worden sind, werde immer ich dafür eintreten, daß diese Funktionsweisen zunächst wiederhergestellt werden, bevor wir die ganze Angelegenheit in toto dem Staat übergeben. Das allerdings, meine ich, ist richtig; dabei muß es auch bleiben.
Daß wir alle wissen, daß man in der Bundesrepublik Deutschland nicht in einer chemisch reinen marktwirtschaftlichen Ordnung lebt — man kann es auch nicht; man kann es nicht einmal anstreben —, ist so klar, wie eins und eins gleich zwei ist. Wer in der vergangenen Woche und in dieser Woche die Diskussionen über Stahl und Kohle miterlebt hat, weiß das j a nur zu genau.Nein, meine Damen und Herren, ich halte die Kritik der Opposition und der Gewerkschaften draußen auf den Marktplätzen an der Finanz- und Haushaltspolitik der Bundesregierung sowohl für ungerechtfertigt als auch für gefährlich. Ungerechtfertigt ist sie, weil wir die Wirtschaft nicht kaputtsparen, weil wir keine Umverteilung von unten nach oben betreiben, weil es sich nicht um soziale Demontage oder Roßtäuschertricks oder um die Einführung des Faustrechts handelt. Das ist alles bare Demagogie. Die muß immer dann herhalten, wenn es an Argumenten fehlt.
Die Kritik ist aber auch gefährlich, meine Damen und Herren. Denn Haushalts- und Finanzpolitik ist — das wissen wir alle — eine komplizierte, eine sehr komplizierte Materie; sie fordert sehr viel Information. Wie soll sich der Bürger auf dem Hintergrund demagogischer und polemischer Debatten eigentlich ein eigenes Urteil bilden können? Hier möchte ich ausdrücklich sagen, Herr von Dohnanyi, daß Sie hier eine Ausnahme gemacht haben. Ich teile zwar Ihre Darlegungen und Schlußfolgerungen nicht, aber der Stil, wie Sie es vorgetragen haben, war für die Menschen im Lande informativer als manches, was ich in der Debatte bisher gehört habe. Polemik und Demagogie, wie sie gestern hier geboten wurden, führen zu weiterer Verunsicherung, und zwar bei Investoren und Verbrauchern. Das ist genau das, was wir jetzt nicht brauchen können.Hier muß ich, meine Damen und Herren, auch ein Wort zu den Demonstrationen und Protestkundgebungen, die insbesondere vom Deutschen Gewerkschaftsbund veranstaltet werden, sagen. Ich finde es keine sehr ehrliche Position — von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, ist es nämlich nicht geschehen —, nicht darauf hinzuweisen, daß man auf den Transparenten, die für diese Demonstrationen gemalt wurden, j a nur noch den Nachnamen des Kriti-
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7780 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982
Bundesminister Dr. Graf Lambsdorffsierten zu ändern hatte; der Vorname blieb stehen. Erst ging das nämlich alles gegen Helmut Schmidt, jetzt geht das alles gegen Helmut Kohl. Nur die Transparente gegen mich konnten aus Gründen der Kostenersparnis beibehalten werden.
Nein, meine Damen und Herren, diese Art und Weise, sich mit unserer Politik auseinanderzusetzen und einfach schlicht das zu übertragen, was man vorher kritisiert hat, ohne das zu sagen
— es ist sehr zurückhaltend gesagt worden, Herr Duve; in den meisten Fällen ist es fröhlich unterschlagen worden —, ist nicht in Ordnung. Es wurden dabei Forderungen bis hin zur Verstaatlichung der Großunternehmen, zur Investitionslenkung und zur Bildung von Wirtschaftsräten aufgestellt. Wem eigentlich hilft das in der gegenwärtigen Situation? Niemandem!
Wir müssen uns darüber im klaren sein, daß das Hauptproblem deutscher Innenpolitik, mit dem wir es in den nächsten Jahren zu tun haben werden, die Verbesserung der Beschäftigungslage, die Beseitigung oder mindestens die Eindämmung der Arbeitslosigkeit ist. Lassen Sie mich bitte auch an dieser Stelle sagen, was ich meinen eigenen Parteifreunden — der Bundesparteitag der FDP ist vorhin von Herrn Dregger angesprochen worden — gesagt habe: Es nutzt nichts, in Sonntagsreden oder auch von diesem Pult herab zu erklären, die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit hat erste Priorität, aber dann bei jeder erstbesten Gelegenheit für sich selbst festzustellen, daß man ein bestimmtes Problem als noch wichtiger ansieht und ihm den Vorzug gibt, auch dann, wenn das beschäftigungspolitisch vielleicht negative Auswirkungen hat. Bekennen wir uns dazu, daß wir in dieser Zeit alles zu unterlassen haben, was die Bereitschaft zur Investition, zur Innovation und zum Anbieten und Schaffen neuer Arbeitsplätze behindert, so wünschenswert es unter normalen Umständen sein könnte. Hier, in einer Verbesserung der beschäftigungspolitischen Situation, liegt das zentrale Problem der Finanz- und Haushaltspolitik. Hier haben wir es mit der hohen Staatsverschuldung zu tun. Sie ist zu einem Hemmschuh für die wirtschaftliche Entwicklung geworden. Herr von Dohnanyi, wenn Sie der weiteren Ausdehnung der Staatsverschuldung, ich will nicht sagen: das Wort reden, aber das eben hinnehmen, dann sage ich Ihnen: Eine solche Politik — da gibt es massive Unterschiede zwischen uns — gefährdet Arbeitsplätze, schafft keine neuen und sichert keine.
Eng verbunden mit diesem Zustand ist die Entwicklung der Sozialausgaben, die in ihrer Dynamik den Staatshaushalt zunehmend überfordern. Die Dimensionen sind schon beachtlich: In den letzten 12 Jahren stiegen sie um 40 % mehr als das Sozialprodukt! Der Spielraum des Staates ist nicht zuletzt dadurch ganz erheblich eingeengt. Angesichts der hohen Zahl von Arbeitslosen werden staatliche Ankurbelungsprogramme gefordert mit der Begründung, daß es an Nachfrage fehle. Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion hat mit ihrem 30-Milliarden-Programm jüngst ein Beispiel geliefert. Wer so argumentiert, argumentiert und denkt nach meiner Meinung zu kurz. Staatliche Ankurbelungsprogramme müssen finanziert werden, entweder durch Steuern oder durch Kredite. Steuerfinanziert erhöhen sie die Abgabenlast, mindern die Leistungs- und Investitionsbereitschaft und fördern die Schattenwirtschaft. Die Abgabenbelastung ist schon heute viel zu hoch, und zwar bis in den Facharbeiterbereich hinein.
Kreditfinanziert würden sie das Vertrauen in die Finanz- und Haushaltspolitik weiter untergraben, und — was ökonomisch unmittelbar spürbar würde — der Zinsrückgang, der jetzt so wichtig ist — wir haben das auch in der alten Koalition alle immer gesagt —, würde aufgehalten oder vielleicht sogar umgekehrt.Deswegen möchte ich noch einmal festhalten, was der Kollege Wieczorek hier gestern gesagt hat: Die Nettoneuverschuldung tragen wir mit, die Begleitgesetze nicht. Das heißt: Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß!
Das ist ja die Position: Dort, wo es wirklich ernst wird und wo es wirklich harte Entscheidungen zu treffen gilt, da wollen Sie im Keller die Druckmaschine für neues Geld laufen lassen. Das haben Sie wörtlich so gesagt: Nettoverschuldung tragen wir mit, die Begleitgesetze lehnen wir ab.
— Nein, Herr Ehmke, das hat Ihnen ja Ihr Altbundeskanzler schon in Ihrer Fraktionssitzung gesagt: Eine zukünftige Politik, damit es weitergehen kann, scheitert an euch!
Niemand ist gegen eine Erhöhung der Ausgaben für investive Zwecke. Eine kontraproduktive Finanzierung aber können wir uns nicht leisten. Wir brauchen den Mut zur Umschichtung. Diesen Mut hat die alte Regierung nicht mehr aufgebracht. Herr Hoppe hat das vorhin dargelegt. Eine solide, glaubhafte und beschäftigungswirksame Finanz- und Haushaltspolitik muß in unserer heutigen Situation anders angelegt sein. Konsolidierung und Umstrukturierung zugunsten eines investitions- und leistungsfreundlicheren Haushalts sind das Gebot der Stunde.Ich war nicht ganz einverstanden, als der Kollege Gärtner hier sagte: Investitionen kann man nur dann subventionieren oder fördern, wenn sie sich von vornherein rechnen. Wenn wir überhaupt über das Subventionsunwesen und die Notwendigkeit von Subventionen sprechen, dann eigentlich doch nur in den Fällen, in denen notwendige technische Entwicklungen wegen der Größe, wegen des Risi-
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Bundesminister Dr. Graf Lambsdorffkos, wegen der geringen Ertragserwartung von Teilnehmern am privaten Wirtschaftssystem nicht mehr bewältigt werden können. Airbus ist ein Musterbeispiel. Wir haben uns zwar immer vorgerechnet, bei einem bestimmten Hochlauf würde sich das eines Tages auszahlen, wir werden aber wohl den Mut aufbringen müssen, zu sagen: Gerade solche Investitionen, die durch andere Begleitumstände — technische Lernprozesse, die z. B. mit dem Airbus zusammenhängen — volkswirtschaftlich und gesamtwirtschaftlich vernünftig und rentabel sind, müssen auch dann gefördert werden, wenn sie sich einzelwirtschaftlich und betriebswirtschaftlich nicht rechnen.Aber eine solche Politik der Konsolidierung und Umstrukturierung kann, meine Damen und Herren, nicht ohne Rücksicht auf die wirtschaftliche Ausgangslage betrieben werden. Darüber wird es keine Meinungsverschiedenheiten geben.Angesichts der schlechten Konjunkturlage ist dabei eine schwierige Doppelaufgabe zu lösen. Die Konjunkturschwäche darf nicht noch dadurch verstärkt werden, daß der Staat mittels restriktiver Haushaltspolitik den Defiziten hinterherläuft. Gleichzeitig brauchen wir ein überzeugendes, vertrauensbildendes Konsolidierungskonzept. Beides ist nur vereinbar, wenn die konjunkturbedingten Defizite weitgehend hingenommen werden und gleichzeitig eine glaubwürdige Politik der Rückführung struktureller Defizite auf mittlere Frist verfolgt wird.Ich weiß sehr wohl, daß die Trennung zwischen konjunkturellen und strukturellen Defiziten schwierig, ja, mit Genauigkeit sogar unmöglich ist. Aber wir müssen uns doch damit auseinandersetzen, weil die ökonomischen Entstehungsgründe und die wirtschaftspolitischen Folgerungen ganz unterschiedlich sind.Konjunkturelle Defizite sind Defizite, die vorübergehend sind, die sich wieder zurückbilden, wenn sich die Wirtschaft erholt hat. Beispiele dafür sind die Steuerausfälle oder die Mehraufwendungen für die gestiegene Zahl der Arbeitslosen, die auf Grund der Wirtschaftsschwäche entstehen.Das strukturelle Defizit ist der Teil, der dadurch entstanden ist, daß die Ausgaben des Staates permanent stärker stiegen, als das nominale Sozialprodukt zunahm oder hätte zunehmen können. Es ist also der Block, der unabhängig von der wirtschaftlichen Entwicklung in den letzten Jahren immer weiter zugenommen hat.
Der Sachverständigenrat beziffert dieses strukturelle Defizit des öffentlichen Gesamthaushalts 1981 auf 40 Milliarden DM bei einem Gesamtdefizit von fast 70 Milliarden DM.Die Haushaltsoperation 1982 und die Gemeinschaftsinitiative haben erste Fortschritte bei der Rückführung des strukturellen Defizits gebracht, z. B. durch die strukturellen Maßnahmen beim Arbeitslosengeld und der Arbeitslosenhilfe, durch die Stellenkürzungen im öffentlichen Dienst oderdurch die Anpassungen beim Wohngeld. Der Sachverständigenrat veranschlagt den Rückgang des strukturellen Defizits von 1981 auf 1982 auf immerhin rund 8 Milliarden DM. Aber weitere Schritte müssen hier folgen.Ein überzeugendes Konsolidierungskonzept muß deshalb durch eine frühzeitige Festlegung untermauert werden. „Konsolidierung per Termin" hat der Sachverständigenrat das genannt. Die Beteiligung der Rentner an den Kosten ihrer Krankenversicherung ab 1. Juli 1983, jetzt schon festgelegt für die Folgejahre, ist eine solche Konsolidierung per Termin. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung.In der öffentlichen Diskussion besteht immer noch hier und da der Eindruck, die alte Regierung hätte mit einem Defizit von 28 Milliarden DM den Haushalt 1983 bestreiten können oder bestritten,
die neue Regierung dagegen trete jetzt mit 40 Milliarden DM an. Tatsächlich liegen die Dinge anders: Wenn die alte Regierung keine Maßnahmen ergriffen hätte — und da sehe ich nicht, an unsere Auseinandersetzung eben anknüpfend, Herr Ehmke, wie diese hätten zustande kommen können —, dann beliefe sich das Defizit im Bundeshaushalt 1983 nicht auf 28 Milliarden DM, sondern auf weit über 50 Milliarden DM; denn entgegen den Erwartungen aller Prognostiker — und ich werde der Kollegin Simonis eine Tabelle über die Prognoseergebnisse des Bundeswirtschaftsministeriums in den vergangenen zehn Jahren überreichen; das sieht gar nicht so schlecht aus; aber wir gewöhnen uns daran, daß Prognose immer falsch zu sein hat; das ist wie bei der Wettervorhersage — hat sich die wirtschaftliche Lage nach den Kabinettsbeschlüssen vom Sommer, wie wir alle wissen, rapide — und ich unterstreiche, leider, das Wort „rapide" — verschlechtert.Die neue Bundesregierung geht jetzt einen vorsichtigen Kurs. Sie setzt die Konsolidierung allmählich fort, indem sie das strukturelle Defizit langsam senkt. Gleichzeitig bemüht sie sich darum, die Gefahr des Übersparens zu vermeiden. Das Defizit 1983 wird etwas über 40 Milliarden DM ausmachen und damit noch höher als das von 1982 sein. Von Kaputtsparen kann angesichts dieser Zahl wirklich nicht gesprochen werden,
zumal der Ausgleich des Haushalts 1982 auch noch zwei nicht unbeträchliche Nachtragshaushalte erfordert.Es ist richtig, meine Damen und Herren — auch darauf haben Herr von Dohnanyi, aber auch andere Redner hingewiesen —, daß eine Reihe der Maßnahmen, die das Kabinett für 1983 beschlossen hat, die Entwicklung der Einkommen dämpft. Dazu gehören z. B. die Mehrwertsteuererhöhung, die Kindergeldsenkung, die Verschiebung der Rentenanhebung, die Regelungen zur Besoldung im öffentlichen Dienst oder die Investitionshilfeanleihe. Rechtfertigt das aber den Vorwurf, die Bundesregierung schenke der Nachfrage keine Beachtung?
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7782 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982
Bundesminister Dr. Graf LambsdorffRechtfertigt das den Vorwurf des Kaputtsparens? Nach meiner Meinung eindeutig: nein.Wir verfrühstücken das Geld nicht. Wir verwenden es für investive Zwecke, genau für das, was wir jetzt zur Schaffung neuer Arbeitsplätze dringend brauchen.Sie machen den Zwischenruf: Wie ist das mit der Lohnpause? Ich will ihn gern beantworten. Ich habe große Zweifel, daß diese Anregung des Kollegen Blüm zu den von ihm angestrebten faktischen Ergebnis führen kann. Aber ich finde, daß eines in seiner Argumentation auch draußen im Lande sehr beachtenswert ist. Es wird ein halbes Jahr Pause zugemutet: Rentnern, Kriegsbeschädigten, Fürsorgeempfängern, Beamten. Wenn es nicht zur Lohnpause kommt, dann, meine ich, sollte der Gedanke an diese Gruppen mindestens in die Tarifverhandlungen eingehen, und es sollte bedacht werden, daß andere ein Opfer auf sich nehmen und daß man hier ein Äquivalent bieten sollte. Insofern finde ich die Idee und die Aktion des Kollegen Blüm sehr verdienstlich.
Wir verwenden dieses Geld — ich sage noch einmal: es wird nicht verfrühstückt — für investive Zwecke, genau für das, was wir jetzt zur Schaffung neuer Arbeitsplätze dringend brauchen. Wir stärken die Investitionsbereitschaft, insbesondere der mittelständischen Wirtschaft, die Gewerbesteuern — jawohl, Herr von Dohnanyi — werden gesenkt. Es liegt wohl nur nahe, daß die Zurechnung von Dauerschuldzinsen angesichts unserer Eigenkapitalsituation und der hohen Kreditkosten auf Dauer eingeschränkt werden muß. Ich sehe die Probleme der Gemeinden durchaus; aber wir haben dafür j a auch einen Ersatzvorschlag gemacht.Die Beratung mittelständischer Unternehmen wird verbessert, die Existenzgründungen werden verstärkt gefördert. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich ein deutliches Wort sagen, das über den wirtschaftspolitischen Ansatz hinausgeht, da Herr von Dohnanyi die Hilfe für Existenzgründungen kritisiert. Ich sage Ihnen: Wir brauchen in diesem Lande eine große Zahl selbständiger Existenzen, je mehr, desto besser, und zwar nicht nur wirtschaftspolitisch, sondern auch gesellschaftspolitisch.
Obwohl ich mich — das wissen Sie — sehr zu Ihrem Mißvergnügen immer eingesetzt habe — —
— Lieber Herr Ehmke, so pauschal nein zu sagen, wenn ich mich für etwas eingesetzt hätte, das wäre ganz neu von Ihnen. Ich habe mich immer eingesetzt
für bestimmte Rechte — die Sie nicht mochten — der leitenden Angestellten.
Aber eines weiß ich auch, ohne daß ich jemandemzu nahetreten möchte: Es gibt sicherlich mehr angepaßte leitende Angestellte als angepaßte Zimmermeister oder Metzgermeister. Deswegen müssen wir die letzteren haben und müssen deren Existenzen fördern, auch aus gesellschaftspolitischen Gründen.
Ich weiß, daß das eine Denkweise ist, die bei Ihnen nicht auf Zustimmung stoßen kann.
Meine Damen und Herren, in ganz besonderer Weise werden wir den Wohnungsbau stärken. Wir haben uns hier nicht gescheut — ich habe mich schon gewundert, daß Sie uns das nicht unter die Nase gehalten haben —, in den Instrumentenkasten des Lord Keynes zu greifen. Das reicht von steuerlichen Begünstigungen über Bausparzwischenfinanzierungsprogramme bis zur Förderung des sozialen Wohnungsbaus. Die Bauwirtschaft ist in der gegenwärtigen Lage konjunkturell besonders stark betroffen. Dies ist ein Bereich, der mit seiner Nachfrage in fast alle Sektoren der Volkswirtschaft hineinwirkt. Wir können davon ausgehen, daß von hier aus rasch Produktions- und Beschäftigungswirkung kommen. Angesichts der schwierigen konjunkturellen Lage erscheint mir derzeit dieser Aspekt wichtiger als die Kritik, die diese Maßnahme vor allem in der Wissenschaft gefunden hat. Das heißt nicht, daß ich die Erwägungen, die mit der Kritik verbunden sind, beiseite schiebe. Bei unserer mittelfristigen Orientierung müssen sie beachtet werden.Es ist zu fragen: Hätte man die wachstumspolitischen Impulse auch ohne Steuererhöhung haben können, die allerdings — das sei auch gesagt — die Steuerlastquote insgesamt nicht vergrößert? Meine Antwort: Nein. Herr von Dohnanyi, wenn Sie vortragen, die Steuerlast werde gesenkt, und wenn ich von Herrn Ehmke schon wieder den Zwischenruf „Reagan, Reaganomics" höre, sage ich Ihnen mit aller Eindeutigkeit: Eine solche Politik, supply side economics, nämlich Steuern senken ohne Rücksicht darauf, welche Defizite entstehen, und hoffen, daß daraus Investitionen kommen, ist weder Gegenstand dieses Haushaltes — die Steuerlastquote wird nicht gesenkt; es wird umgeschichtet — noch
— nein, sie wird nicht gesenkt — ist sie — wenn ich das für mich persönlich hinzufügen darf — mit einem einzigen Satz oder einem einzigen Hinweis in dem von Ihnen nicht geschätzten Papier enthalten, das ich im Sommer verfertigt habe. Der Hinweis, ihr macht eine Politik à la Reagan oder à la Thatcher, ist schlichter Unfug — von Monetarismus ist nichts zu verspüren —, hat sich aber bei einigen von Ihnen inzwischen zum Spruch einer Gebetsmühle entwickelt.Ich frage noch einmal: Kann man die wachstumspolitischen Impulse auch ohne Steuererhöhung haben? Ich glaube, nein. Die Forderung klingt gut, sie ist es aber nicht, weil man eben auch hier an die Folgen denken muß, weil jede zusätzliche Steigerung des Defizits das Vertrauen weiter untergräbt,
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982 7783
Bundesminister Dr. Graf Lambsdorffdie Zinssenkung verzögert und genau das konterkariert, was wir wollen: mehr Investitionen für Arbeitsplätze. Hier liegt der deutliche Unterschied zu der Politik, von der Sie behaupten, wir betrieben sie.Umstrukturierung, wie wir sie mit unseren Maßnahmen vorgenommen haben, ist in dieser Lage die bessere Alternative als Defizitausweitung. Es ist möglich, daß die dämpfenden Effekte der ergriffenen Maßnahmen etwas eher eintreten könnten als die belebenden. Das ist nicht zu bestreiten.
— Ja, Herr Mitzscherling, wir haben darüber schon einmal gesprochen. Das schreibt auch der Sachverständigenrat. Er sagt, ihr müßt das in Kauf nehmen. — Aber es muß nicht so sein. Viele Privathaushalte werden ihr Ausgabenniveau kurzfristig gar nicht mehr senken wollen, einige auch nicht mehr senken können.
Sie haben ihren Konsum schon stark umschichten müssen zu Lasten der variablen Ausgaben, weil feststehende Ausgabenblöcke — Miete, Heizung, Lebensmittel, Verkehrsleistungen — nicht reduziert werden können. Aber es gibt natürlich einen Teil frei disponibler Verfügungsmöglichkeiten.
— Es ist sehr die Frage, ob der zurückgeht, Herr Duve. Nach allem, was wir heute wissen, geht die Sparquote zurück und wird ein Teil entspart oder weniger gespart, um diesen Konsumanteil, den man nicht beschneiden möchte, aufrechterhalten zu können.
— Nein, nein. Diese zig Milliarden, die gespart werden, werden nicht nur von reichen Leuten gespart. Das wissen Sie sehr genau.Dieser Teil spielt in der Disposition des privaten Verbrauchs eine große Rolle. Wofür er ausgegeben wird, das kann bei uns glücklicherweise noch jeder frei und selbst entscheiden. Das wird ihm nicht vorgeschrieben.
— Wenn Sie mit Devisenbeschränkung, Luxussteuer und ähnlichen Dingen kommen, weiß ich ja nicht, wie lange das noch gelten würde, wenn Sie allein zu sagen hätten.Es ist eben noch jedermanns eigene Entscheidung, zu sagen: Ich will weniger reisen, ich will länger reisen, ich will die teuren Karten für die Bundesligaspiele nicht mehr bezahlen oder ich überschlage einmal ein Spiel. Glücklicherweise ist das so, und es soll in einer freien Gesellschaft auch so bleiben.Unsere Politik, die wir betreiben, ist auf Stärkung des Vertrauens ausgerichtet; Vertrauen der Wirtschaft, aber auch des Konsumenten. Wenn es uns gelingt, wieder Mut zu schaffen, wird nicht nur wieder mehr investiert, sondern auch mehr konsumiert. Mut zum Konsum, nicht Angstsparen! Aber dann müssen Sie aufhören, von Konsumterror zu reden; jedenfalls einige von Ihnen.
— Einige von Ihnen. — Das nämlich ist es, was wir brauchen — Mut zum Konsum —, und das ist es, was wir auch schaffen werden. In diesem Sinne ist unsere Politik auch eine Politik der Verbrauchsankurbelung, weil es ohne Vertrauen nicht geht.
Diese Maßnahmen sind kein Kaputtsparen, und sie sind — lassen Sie mich das mit allem Nachdruck sagen — auch keine soziale Demontage oder Umverteilung von unten nach oben.Erstens. Die Sozialabgaben machten 1960 rund 20% des Sozialprodukts aus, 1970 über 25%. 1980 lag ihr Anteil bei knapp 30%. Können wir nicht unschwer einen Konsens darüber finden, daß das Niveau der sozialen Leistungen schon 1960, mindestens aber 1970, auf sehr hohem Niveau lag, in der Welt immer an vorderster Stelle? Jetzt ist es zu Fehlentwicklungen gekommen, die korrigiert werden müssen. Was heißt „soziale Demontage", wenn unser soziales Sicherungssystem sonst aus den Fugen geriete?
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Ehrenberg?
Bitte sehr, gern.
Herr Bundeswirtschaftsminister, wollen Sie freundlicherweise den Abgeordneten hier und auch der deutschen Öffentlichkeit bei Ihrem Hinweis auf die Sozialabgabenquote mitteilen, daß vier Punkte davon für das Arbeitslosengeld und andere Ausgaben der Bundesanstalt ausgegeben werden und keine Verbesserung des Leistungsniveaus bedeuten?
Es gibt natürlich eine ganze Menge, was keine Verbesserung des Leistungsniveaus bedeutet, Herr Kollege Ehrenberg, was sich aber in Abgaben niederschlägt. Das muß jeder einzelne, wenn er monatlich seinen Lohnstreifen sieht, als Abzug feststellen. Dieser Anteil ist zu hoch geworden. Wir wissen, wie hoch der Zugriff durch Steuern und Sozialabgaben auf jede zusätzlich verdiente Mark geworden ist. Ich bestreite die Richtigkeit Ihrer Bemerkung, die in der Frage liegt, nicht.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Professor Ehmke?
Bitte sehr.
Kollege Lambsdorff, Sie haben eben mit Recht darauf hingewiesen, welche große Rolle das Vertrauen spielt. Sind Sie der Meinung, daß Ihr Verhalten, Herr Kollege Lambsdorff, und
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7784 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982
Dr. Ehmkedas Verhalten von Herrn Kollegen Genscher — erst im Auseinandernehmen der alten Regierung und dann beim Fehlstart der neuen Regierung — Vertrauen in der Wirtschaft geschaffen hat, oder war nicht vielmehr Ihr Verhalten einer der Gründe dafür, daß auch nach dem Regierungswechsel nicht die erhoffte Wende eingetreten ist, sondern die tatsächlichen Daten der Wirtschaft, die auch psychologisch bedingt sind, alle nach unten gehen?
Herr Kollege Ehmke, wenn Sie schon so fragen, erlauben Sie auch eine zugespitzte Antwort: Ich glaube, daß das Vertrauen in der Wirtschaft zugenommen hat, weil Sie durch diese Operation aus der Regierung ausgeschieden sind.
Meine Damen und Herren, das soziale Sicherungssystem in seiner Dynamik überfordert den Staat, führt zur übermäßigen Belastung derjenigen, die dieses System durch Arbeit finanzieren, und es bestärkt viele darin, von der Erzielung von Leistungseinkommen abzusehen. Gefordert ist der Umbau unseres sozialen Sicherungssystems in Richtung auf mehr Selbstverantwortung und Eigenvorsorge. Dieser Umbau muß mit einer Rückführung der Überforderung verbunden sein.
Zweitens. Die Belastungen, die wir den Bürgern zumuten, sind so gerecht wie möglich verteilt.
— Ich sage: so gerecht wie möglich. Gleichzeitig haben wir dafür Sorge getragen, daß die Leistungs- und Investitionsbereitschaft so wenig wie möglich beeinträchtigt wird. Wir haben die Höherverdienenden durch die Einziehung von Einkommensgrenzen beim Kindergeld belastet. Meine Damen und Herren, es würde mich richtig verlocken, die Unterhaltung zwischen der Kollegin Fuchs, Herrn Offergeld und Herrn Hauff in der nächtlichen Sitzung im NATO-Saal des Bundeskanzleramts über die Einführung von Einkommensgrenzen beim Kindergeld hier einmal in aller Breite zu erzählen. Es wäre ein Vergnügen.
Ich will es mir heute mit Rücksicht auf die Zeit versagen.
— Das wird deswegen erwähnt, Herr Duve, weil hier unentwegt behauptet wird, die Besserverdienenden würden nicht zur Kasse gebeten. Damals ist es an der internen Diskussion in Ihrer Fraktion gescheitert, so etwas überhaupt anzubieten. Aber wir machen es jetzt.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Westphal?
Bitte sehr.
Herr Kollege Lambsdorff, würden Sie bezüglich dieser Nacht, von der Sie gerade sprachen, bestätigen, daß wir mit aller Intensität die Frage durchüberlegt haben, ob es sinnvoll und dem Bürger plausibel zu machen ist, eine Einschränkung des Kindergelds durch Einkommensgrenzen vorzunehmen, wenn man das in Relation zu den Lasten sieht, die dadurch bei der Verwaltung entstehen? 2 000 Stellen fordert die Bundesanstalt für Arbeit allein für das, was Sie jetzt vorhaben.
Würden Sie mir außerdem bitte auch die Frage beantworten, ob nicht das, was Sie uns hier als soziale Komponente in Form einer Einschränkung beim Kindergeld für die Höherverdienenden vorlegen, zur gleichen Zeit wieder dadurch rückgängig gemacht wird, daß Sie einen echten neuen Kinderfreibetrag mit der Entlastung für die Reichen einführen?
Wenn Sie es gegeneinanderrechnen, dann sieht letzteres wohl etwas anders aus. Diese Rechnung kann man anstellen. Daß hier eine gewisse Einschränkung vorliegt, ist zutreffend.Zweitens. Die Diskussion in der besagten Nacht, Herr Westphal, konzentrierte sich keineswegs nur auf die Kosten. Herr Stoltenberg hat gestern ausdrücklich gesagt: Wir sind bereit, die Mehrverwaltungskosten im Sinne von mehr Gerechtigkeit und sozialem Ausgleich bei dieser Kindergeldregelung in Kauf zu nehmen. Ich erinnere mich sehr wohl, daß in der Debatte gesagt wurde: Eine solche Einschränkung trifft schon den Facharbeiter, der mit einer Textilarbeiterin verheiratet ist, weil auch da schon Geld weggenommen wird.
— Da haben Sie nämlich zum erstenmal gesehen, wohin Ihre Vorschläge alle hintreffen würden. Sie haben dann sogar mit Schrecken festgestellt, daß es Ihre eigenen Wähler treffen könnte.Meine Damen und Herren, in dem Zusammenhang möchte ich etwas zum Kollegen Gobrecht sagen. Ich glaube, er ist nicht hier. Was er gesagt hat, fällt in dieselbe Denkkategorie. Nur haben wir da andersherum entschieden. Wir hatten es übrigens in der alten Regierung schon nahezu fertig, konnten es aber letztlich nicht entscheiden. Ich meine die Neuregelung der Grunderwerbsteuer. Herr Gobrecht nannte sie „unsozial".Nun will ich nicht behaupten — das wäre böse Nachrede —, daß jemand, der aus einem steuerberatenden Beruf kommt, ein Interesse daran haben müßte, daß das Steuersystem so kompliziert und unübersichtlich bleibt, wie es zur Zeit bei der Grunderwerbsteuer mit ihren unzähligen Befreiungsmöglichkeiten aussieht. Aber hier ist ein Punkt, wo wir in den vergangenen Jahren immer die Wahl hatten, wie wir sie jedes Mal haben, zwischen der Gerechtigkeit einer steuerlichen Regelung und ihrer Einfachheit. Nachdem wir das Prin-
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Bundesminister Dr. Graf Lambsdorffzip der Gerechtigkeit überstrapaziert haben und dabei die Einfachheit über Bord haben gehen lassen, müssen wir zu einem vernünftigen Weg zurückkommen, auch wenn das jetzt einige benachteiligt und mit Mehrkosten belegt. Das System, das praktisch nur noch aus Ausnahmen besteht und bei dem nur noch ein Trottel die volle Grunderwerbsteuer bezahlte, weil er schlecht beraten war, kann doch wohl nicht aufrechterhalten werden.
Wir verlangen auch die Investitionshilfeanleihe bewußt nur von denen, die besser verdienen. Herr Gobrecht hat gestern zur Investitionshilfeanleihe gesagt: Nur die Dummen zahlen. Meine Damen und Herren, wenn es möglichst wenig Dumme gäbe, wäre das Ziel erreicht, weil dann nämlich die anderen investieren; und dies soll ja wohl geschehen. Daß man sich durch Investitionen davon freizeichnet, ist durchaus das Ziel, das wir anstreben.
— Ich will gar keine Schnacks machen, Herr Duve. Ich will Ihnen offen sagen: Ich bin immer gegen die Ergänzungsabgabe gewesen, weil ich sie für investitionsfeindlich halte. Ich bin auch von dieser Zwangsanleihe nicht begeistert. Nach meiner persönlichen Meinung hätten wir besser auf sie verzichtet, weil ich — ich will dazu nachher gern noch ein Wort sagen — der Vorstellung des Sachverständigenrats folge, daß man, wie es der Sachverständigenrat formuliert hat und wie Sie es heute noch einmal z. B. in einem Artikel von Herrn Barbier in der „Süddeutschen Zeitung" lesen können, ohne eine gewisse verteilungspolitische Robustheit — so der Sachverständigenrat wörtlich — das Problem der Investitionen und der Innovationen nur schwerer wird lösen können.Das gehört auch in den Problemkreis hinein, wenn ich sage: Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit hat erste Priorität. Alles, was ihr entgegensteht, sollte möglichst vermieden werden.
— Ich weiß. Aber ich bin, glaube ich, derjenige gewesen, der an diesem Pult zum erstenmal gesagt hat, daß der soziale Konsens ein Produktionsfaktor ist und man in dieser Richtung dann Konzessionen machen muß, die letztlich, auch wirtschaftlich gesehen, vernünftig und sich auszahlende Konzessionen sind oder sein können.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Ehrenberg?
Herr Kollege Lambsdorff, würden Sie mir zugeben, daß Kollege Gobrecht das Ausweichen vor der Erfassung nicht durch Investieren gemeint hat, sondern durch die Vielzahl immer noch bestehender Steuerschlupflöcher?
Nein.
— Da müssen wir ihn einmal fragen, was er gemeint hat. Das können Sie und ich nicht wissen. Gesagt hat er: Die Grunderwerbsteuerregelung ist unsozial. Und er hat gesagt: Nur die Dummen zahlen die Investitionshilfeanleihe.Meine Damen und Herren, wir haben für diejenigen, die sichere, unkündbare Arbeitsplätze haben und damit nicht einem Beschäftigungsrisiko ausgesetzt sind, also für die Beamten, den Einkommenszuwachs 1983 im vorhinein auf 2 % begrenzt. Die Kürzungen und Belastungen im Sozialbereich dienen allein dazu, das System der sozialen Absicherung in der Bundesrepublik Deutschland wieder auf eine solide Grundlage zu stellen. Wer sich dem widersetzt, der trägt zur Demontage des sozialen Systems bei.Drittens. Ich scheue mich nicht zu sagen, daß es ein gewaltiger Unterschied ist, ob jemand sein Einkommen als Sozialtransfer bezieht, das aus der Tasche der Steuerzahler finanziert wird, oder ob jemand ein schwer erarbeitetes und bereits steuerlich hoch belastetes Leistungseinkommen bezieht. Nach meiner Auffassung wäre es sehr viel unsozialer, dem Facharbeiter oder dem selbständigen Handwerksmeister, dessen zusätzlich verdientes Einkommen schon jetzt zu 60 % und mehr mit Steuern und Sozialabgaben belastet ist, eine noch höhere Abgabenbelastung aufzubürden, als dem Studenten eine Umwandlung des BAföG vom Zuschuß in Darlehen zuzumuten.
Viertens. Wer von Umverteilung von unten nach oben spricht, der sollte auch im Kopf haben, wie die Entwicklung der Unternehmenseinkommen in den letzten Jahren war. Die Bruttoeinkommen aus Unternehmertätigkeit gingen 1980 um gut 5%, 1981 um 8% zurück. 1982 hat sich der Rückgang zunächst fortgesetzt; inzwischen scheint sich die Entwicklung gefangen zu haben.
Die Bruttoeinkommen aus unselbständiger Arbeit dagegen erhöhten sich, und zwar 1980 um gut 8% und 1981 um 5%. Für 1982 schätzt der Sachverständigenrat einen Anstieg von nur etwa 2,5 Prozent.Eine solche Schere der Entwicklung zwischen Unternehmenseinkommen und Arbeitnehmereinkommen kann auf Dauer, zumal in konjunkturell schwachen Zeiten, niemandem dienen. Sie verstärkt die konjunkturelle Misere. Deswegen schrieb der Sachverständigenrat in seinem letzten Gutachten:Es gibt in der Wirtschaftsgeschichte keine Beispiele für Perioden allgemeiner wirtschaftlicher Prosperität, in denen die Gewinne der Unternehmen nicht gut waren.Deshalb bedarf der Unternehmensbereich jetzt der Stärkung.
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7786 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982
Bundesminister Dr. Graf LambsdorffAuch die Tarifpartner müssen sich unsere gesamtwirtschaftliche Situation vergegenwärtigen. Ich glaube, daß die Forderung nach verteilungspolitischer Robustheit, die der Sachverständigenrat aufgestellt hat
— nein, das habe ich nicht! —, im Interesse derjenigen, die arbeitslos sind — und um die sollte es gehen —, nicht unbillig ist. Denn die größte soziale Unausgewogenheit und Ungerechtigkeit ist die hohe Arbeitslosigkeit.
Wir schaffen sie nur durch arbeitsplatzschaffende Investitionen weg.
Zieht man die Bilanz der Maßnahmen der Bundesregierung, die erst ein erster Schritt sind, dem weitere nach dem 6. März folgen müssen, dann stelle ich fest, daß die Richtung stimmt. Sie sind ein erster Schritt zur Konsolidierung und damit zur Vertrauensstabilisierung. Sie sichern den Zinssenkungsprozeß. Sie sind einer erster Schritt zur Umstrukturierung der öffentlichen Haushalte. Sie stärken die Investitions- und Leistungsbereitschaft. Sie geben Anstöße für die Nachfrage, deren Produktions- und Beschäftigungswirkung im Zweifel erheblich sind, vor allem im Wohnungsbau. Sie bemühen sich um soziale Ausgewogenheit. Und sie dienen der Sicherung des sozialen Friedens, indem sie das Fundament einer soliden Wirtschaft in einer freiheitlichen Gesellschaft erhalten. — Ich bedanke mich für Ihr Zuhören.
Meine Damen und Herren, wir treten in die Mittagspause ein. Die Sitzung wird um 14 Uhr fortgesetzt.
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Meine Damen und Herren, heute morgen haben wir die Nachricht erhalten, daß der Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und Vorsitzende des Präsidiums des Obersten Sowjets der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, Leonid Iljitsch Breschnew, plötzlich verstorben ist.
Leonid Breschnew hat über eine lange Zeit in führenden Stellungen in der Sowjetunion hohe Verantwortung getragen. Seit 1964 stand er an der Spitze von Partei und Staat und hat deren Politik entscheidend geprägt. Er gehört zu den Persönlichkeiten, deren Rang und Einfluß in der internationalen Politik historische Bedeutung haben.
Wir erinnern uns besonders auch an die drei Besuche in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1973, 1978 und 1981 und an den starken Eindruck, den seine Persönlichkeit in unserem Lande hinterlassen hat.
Namens des Deutschen Bundestages spreche ich der Führung und den Völkern der Sowjetunion zu dem schweren Verlust, der sie mit dem Tode von Leonid Breschnew getroffen hat, unsere aufrichtige Anteilnahme aus.
Meine Damen und Herren, Sie haben sich zu Ehren des Verstorbenen von Ihren Plätzen erhoben. Ich danke Ihnen.
Wir fahren in der Aussprache fort. Als erster Redner hat der Abgeordnete Dr. Ehrenberg das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Durch den Zeitablauf bis zur Mittagspause war Klaus von Dohnanyi nicht mehr in der Lage, auf einige Äußerungen des Bundeswirtschaftsministers zu antworten. Er hat mich gebeten, hier einen Punkt vorweg klarzustellen. Ich sehe den Kollegen Lambsdorff leider nicht, nehme aber an, Herr Grüner, daß Sie es ihm übermitteln werden.Der Bundeswirtschaftsminister hat hier zu Beginn gerügt, daß Klaus von Dohnanyi seiner Meinung nach freundschaftliche Beziehungen nach einem Koalitionswechsel nicht mehr für möglich halten würde. Dazu will ich gern im Auftrag von Klaus von Dohnanyi sagen, daß er sehr wohl der Meinung ist, daß freundschaftliche Beziehungen über die Parteigrenzen hinweg und auch nach Koalitionsveränderungen notwendig und nützlich sind. Er hat nur in diesem speziellen Falle, Herr Grüner, nachdem Graf Lambsdorff ihn neuerlich in Hamburg in der Öffentlichkeit so angenommen hatte, nicht mehr gewußt, ob Herr Lambsdorff Wert darauf legt, dazugezählt zu werden. Aber er will das gerne wieder pflegen. Das aber nur als ein persönlicher Vorspruch, den ich hier im Auftrag von Klaus von Dohnanyi zu absolvieren hatte.Im Anschluß an die, wie ich fand, sehr bemerkenswerten Ausführungen des Hamburger Bürgermeisters zu dem, was wirtschaftspolitisch in diesem Lande not tut, hat der Bundeswirtschaftsminister gesagt, den Rezepten meines Freundes Dohnanyi fehle vor allem, daß er keine Rücksicht auf die Konsolidierung nehme. Hier muß Graf Lambsdorff nicht ganz zugehört haben. Denn Klaus von Dohnanyi hat ausdrücklich sehr nachhaltig von der Einnahmenseite des Haushalts und seinen möglichen Verbesserungen über die Erreichung der alten Steuerlastquote hier gesprochen. Das wäre eine Konsolidierung, die verteilungsgerecht wäre, was man von dem vorliegenden Haushaltsentwurf der Bundesregierung nicht sagen kann.Ich würde dem Kollegen Lambsdorff sehr empfehlen, sich doch für die Möglichkeiten, die vor uns liegen, einmal sehr gründlich das Sachverständigengutachten und noch gründlicher die Gemeinschaftsanalyse der Forschungsinstitute anzusehen. Zu diesem Thema schreibt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin:Eine hohe Neuverschuldung des Staates ist inder gegenwärtigen Situation unvermeidlich.
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982 7787
Dr. EhrenbergEin Unterschied besteht freilich, ob sie eingegangen werden muß, um immer wieder neue konjunkturbedingte Einnahmeausfälle und Mehrausgaben zu finanzieren, ober ob sie der Stärkung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage und der Wachstumskräfte dient. Das DIW hält die Bereitwilligkeit, das zweitgenannte Ziel zu verfolgen, für die entscheidende Voraussetzung dafür, daß die akute Schwächephase überwunden und die mittelfristigen Perspektiven verbessert werden können. Nur dann kann die notwendige Konsolidierung erfolgreich sein.Diese gründliche wissenschaftliche Analyse kann man verkürzt auch auf die Formel bringen: Jetzt Wachstumskräfte stärken und später konsolidieren. Und nur, wenn wir das tun, meine Damen und Herren von der Regierung, werden Sie mit Ihrer Konsolidierung Erfolg haben und nicht umgekehrt.
Jetzt sind Sie nämlich dabei, wie Ihr gesamter Haushaltsentwurf und noch viel mehr die haushaltsbegleitenden Gesetze zeigen, genau das Gegenteil zu tun, nämlich mit Ihren Konsolidierungsmaßnahmen das letzte bißchen, was wir an kümmerlichen Wachstumskräften noch sehen können, gründlich kaputtzumachen durch eine massiv von der Bundesregierung verordnete Nachfrageschrumpfung. — Herr Stoltenberg, es hilft nichts, den Kopf zu schütteln; die Zahlen beweisen das.
Ich will es Ihnen gleich im einzelnen aufzählen. Vorher bitte ich Sie aber, dies dem Kollegen Lambsdorff weiterzusagen.Ich stimme ihm völlig darin zu, daß wir, wie er hier gesagt hat, großen Wert darauf legen müssen, eine große Zahl selbständiger Existenzen zu erhalten und möglichst noch zu vermehren. Er hat ausdrücklich den Einzelhandel und das Handwerk genannt. Ich kann das nur unterstreichen. Aber gerade die Einzelhändler und die Handwerker werden von den Kürzungen der Renten und Sozialhilfeleistungen besonders betroffen. Das ist keine Stärkung des Einzelhandels, was in den Begleitgesetzen vorgenommen wird.
Ich würde den Kollegen Lambsdorff auch gerne bitten, das mittelständische Credo, das er hier so sehr deutlich vorgetragen hat, nicht nur hier vom Pult zu sagen, sondern es in die Tat umzusetzen, indem er beispielsweise bei der Situation der freien Tankstellen und Minerallhöändler unter Beweis stellt, daß ihm wirklich am Mittelstand etwas gelegen ist.
Wenn der Bundeswirtschaftsminister hier vom Pult aus sagt, er habe große Befürchtungen, daß die berechtigten Demonstrationen der Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften Unruhe stiften könnten, zu gefährlichen Entwicklungen führen könnten, und er sie auch in der Sache nicht für berechtigt halte, weil nämlich weder ein Kaputtsparen nocheine Umverteilung von unten nach oben aus dem Haushaltsentwurf und den begleitenden Gesetzen herausgelesen werden könne, dann muß ich doch den Bundeswirtschaftsminister und natürlich auch den Bundesarbeits- und den Bundesfinanzminister bitten, nochmals sehr gründlich in das Sachverständigengutachten hineinzuschauen und sich dann die Fakten der Begleitgesetze in ihrem ganzen quantitativen Ausmaß und in ihren qualitativen Verschlechterungen vor Augen zu halten.
Am 4. November hat die neue Mehrheit den „Entwurf eines Gesetzes zur Wiederbelebung der Wirtschaft und Beschäftigung und zur Entlastung des Bundeshaushalts" vorgelegt. Im Vorblatt heißt es u. a.:Die Zielsetzung des Gesetzentwurfs wird unter möglichst gleichmäßiger Verteilung der Lasten verfolgt.Beides, sowohl die Aussage, hier solle eine Wiederbelebung der Wirtschaft erreicht werden, als auch die Aussage „unter möglichst gleichmäßiger Verteilung der Lasten", ist schlicht unwahr und wird auf jeder Seite dieses Gesetzentwurfes widerlegt.
Meine Damen und Herren, Klaus von Dohnanyi hat schon eine Reihe von Einzelbeispielen dafür genannt, wie die beschlossene Verschiebung der Anpassung öffentlicher Leistungen um ein halbes Jahr in Einzelhaushalte hineinwirkt. Ich will Ihnen einmal vorführen, was das im Gesamtvolumen bedeutet. Auch der Sachverständigenrat geht davon aus — und ich habe bisher von der neuen Bundesregierung keinen Widerspruch gehört —, daß sich der Preisanstieg im Jahre 1983 bestenfalls auf 4 % begrenzen lassen wird. 4 % im Jahresdurchschnitt, das heißt im ersten Halbjahr mindestens 4 bis 5 %. Wenn die Rentenanpassung und alle an ihr orientierten dynamisierten Leistungen um ein halbes Jahr verschoben werden, heißt das 4 bis 5 % realer Kaufkraftschwund für die davon Betroffenen.Die Betroffenen sind — Herr Kollege Blüm, Sie wissen das sicher sehr gut,
aber da es sicher nicht alle wissen, will ich die Zahlen hier einmal nennen — 13 Millionen Rentenempfänger, 1,1 Millionen Unfallversicherungsleistungsempfänger, 1,9 Millionen Bezieher von Kriegsopferversorgungsleistungen, 2,1 Millionen Sozialhilfeempfänger, 0,6 Millionen Bezieher landwirtschaftlicher Altershilfe und 0,2 Millionen Lastenausgleichsberechtigte. Wenn man Mehrfachleistungen aussortiert und die Familienangehörigen hinzuzählt, ist das ein Drittel der Bevölkerung unseres Landes. Ein Drittel wird im ersten Halbjahr des nächsten Jahres nach diesen Beschlüssen in seiner Kaufkraft um 4 bis 5 % abgesenkt, und da sagt Herr
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7788 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982
Dr. EhrenbergLambsdorff, das sei keine Umverteilung von unten nach oben!
Er hat auch gesagt: Die Nachfragewirkungen werden nur schwach sein, weil viele in den letzten Jahren ihr Konsumniveau so eingependelt haben, daß man davon nichts mehr abstreichen kann. Er stellt Veränderungen der Sparquote nach unten fest und folgert daraus, daß wir jetzt vor allen Dingen ein wenig Mut zum Konsum brauchen. Ich will das sehr unterstreichen; ich bin durchaus für Mut zum Konsum. Nur fehlt bei diesem Personenkreis, bei diesem Drittel der Leistungsempfänger, nicht der Mut, da fehlt es an Kasse, um konsumieren zu können.
Diese sowieso schon etwas angeschlagene Kasse wird dann durch die Kohl-Blümschen Operationen, die sich hinter dem schönen Titel „Atempause in der Sozialpolitik" verstecken, noch für ein halbes Jahr in der Größenordnung von 4 bis 5 % geschmälert!Auch im Sachverständigengutachten wird immer wieder deutlich davor gewarnt, daß Nachfrageschrumpfungen das, was an Wachstumsimpulsen vorhanden ist, übertreffen könnten. In der Ziffer 70 heißt es — und ich bitte die Herren aus Regierung und Regierungsfraktionen darum, das sehr sorgfältig nachzulesen —:Damit wieder mehr und längerfristig investiert wird, müssen sich auch die Aussichten auf mehr Nachfrage verbessern, muß das Vertrauen bei Konsumenten und Investoren wiederkehren, daß die Einkommen zukünftig wieder steigen werden ...Im ersten Halbjahr kann ein Drittel der Bevölkerung nur mit um 4 bis 5% sinkenden realen Einkommen rechnen. Wenn sich dann noch jene inzwischen vielleicht wieder gestorbene Idee des Arbeitsministers von der Lohnpause — ich hoffe, er nimmt sie heute wieder zurück — durchsetzen sollte, dann haben wir bei 80% der Bevölkerung im Jahre 1983 sinkende Einkommen. Welcher Unternehmer soll dann wohl investieren, wenn er solch eine Nachfrageentwicklung vor Augen hat?!
Da würde ich gerne wissen, wer investieren soll, wenn ihm dieses an Nachfrageentwicklung vorgesetzt wird.
Nun zeigt der Haushaltsentwurf durchaus einige positive Anreize für Investitionen. Nur lohnt sich auch da ein genaues Hinsehen, wie denn die Operation '82, die j a massive Verbesserungen der Produktionsbedingungen durch weitgehende Abschreibungserleichterungen gebracht hat, und die Investitionsprämie gewirkt haben. Beides zusammen bringt für Investitionen des Jahres 1982 eine Verdoppelung der Steuerersparnis. Trotzdem wird nicht mehr, sondern es wird weniger investiert. Wenn ich also mit so massiven Steuererleichterungen nicht mehr Investitionen hervorgebracht habe, woher nimmt dann die Bundesregierung, allen voran der Bundeswirtschaftsminister, den Mut zu glauben, mit neuen Steuererleichterungen würde mehr investiert, wenn gleichzeitig die Nachfrage so massiv gedrosselt wird, wie es hier aus den Zahlen hervorgeht?Das summiert sich zu 15 bis 16 Milliarden DM. Das ist mehr als 1% des Sozialprodukts. Wenn sich dann noch die Philosophien des Bundesarbeitsministers über die Lohnpause durchsetzen sollten, dann ist ja wohl mit irgendeiner Aussicht auf mehr Investitionen überhaupt nicht mehr zu rechnen.Nun ist gestern der Bundesfinanzminister dem Bundesarbeitsminister zur Seite gesprungen und hat versucht, ihm zu helfen, die Idee dieser Lohnpause hier zu verkaufen, indem er darauf hingewiesen hat, daß der unvergessene, langjährige Vorsitzende der Industriegewerkschaft Metall, Otto Brenner, in seiner Verantwortung für Konjunktur und Beschäftigung bei der hausgemachten Rezession 1966/67 schon einmal dies, was der Kollege Blüm jetzt vorschlägt, praktiziert habe. Ich würde Ihnen allen, bevor Sie das wiederholen, was der Herr Stoltenberg gesagt hat, empfehlen, sich beim Hauptvorstand der Industriegewerkschaft Metall einmal das Tarifregister zeigen zu lassen und dort hineinzuschauen, bevor das wiederholt wird. Da Sie das so schnell nicht können, will ich Ihnen die Tarifabschlüsse zwischen 1966 und 1969 vorlesen. Am 1. Januar 1966 schloß die Industriegewerkschaft Metall einen Lohntarifvertrag über zwölf Monate ab, am 1. Januar 1967 über 15 Monate gleichzeitig mit einer kräftigen Arbeitszeitverkürzung, am 1. April 1968 auf neun Monate, am 1. Januar 1969 auf acht Monate und am 1. September 1969 auf 13 Monate. Sie haben in diesem gesamten Zeitraum, Herr Bundesfinanzminister, den Sie hier angesprochen haben, lückenlose Tarifverträge, die aufeinander folgten. Wenn über zwei Jahre der eine Tarifvertrag eine Laufzeit von 15 Monaten und der andere von neun Monaten hat, dann wird man diese Verschiebung, die zugunsten einer Vereinbarung über kräftige Arbeitszeitverkürzungen erfolgt ist, wohl nicht mit dem Titel einer Lohnpause versehen können. Hier wird Otto Brenner für etwas in Anspruch genommen, das er nie gewollt und nie getan hat. Ich bitte Sie sehr herzlich, die Gewerkschaft hier nicht mehr als Beweis anzuführen; er stimmt nämlich nicht.
In der gegenwärtigen Situation von Kürzungen der öffentlichen Leistungen und einer Lohnpause auszugehen, das übersieht völlig — ich hatte eigentlich gedacht, der Arbeitsminister wüßte das —, daß im ersten Halbjahr 1982 die Arbeitnehmereinkommen um 2,7 % und die Unternehmereinkommen um 8,2 % gestiegen sind. Für 1983 sagt der Sachverständigenrat einen Anstieg der Unternehmereinkom-
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Dr. Ehrenbergmen um 10 % und der Arbeitnehmereinkommen um 4 % voraus.
— Ich stimme Ihnen zu, Herr Cronenberg, Ihnen und dem Sachverständigenrat, daß ein Aufschwung, eine Verbesserung der wirtschaftlichen Tätigkeit kräftige Unternehmergewinne braucht. Ich kritisiere die Annahme des Sachverständigenrates hinsichtlich des Gewinnzuwachses von 10 % nicht. Aber ich kann keinen Arbeitsminister verstehen, der die für die Arbeitnehmer verbleibenden 4 % zugunsten einer Ideologie und nicht auf Grund eines ökonomischen Tatbestandes noch um die Hälfte reduzieren will.
Darum geht es, nicht um die steigenden Unternehmergewinne; die sind für einen Wirtschaftsaufschwung notwendig.Noch notwendiger aber als steigende Unternehmergewinne sind für einen Wirtschaftsaufschwung sich verbessernde Absatzerwartungen der Unternehmer. Wenn die Gewinne auf Grund von Steuererleichterungen, auf Grund von Lohnzurückhaltung, auf Grund von Abbau öffentlicher Leistungen steigen, dann werden mehr Investitionen und damit mehr Beschäftigung aus den steigenden Gewinnen nur dann kommen, wenn es auch steigende Absatzerwartungen gibt.
Gibt es diese nicht, werden die steigenden Gewinne langfristig in hochverzinslichen Kapitalmarktpapieren angelegt und eben leider nicht investiert. Das ist die Situation, vor der wir stehen.
Damit fängt es dann auch an, fragwürdig zu werden.Herr Bundeswirtschaftsminister, Sie haben hier vorhin gesagt, Umverteilung von unten nach oben gibt es nicht. Wir haben — von Ihnen noch verstärkte, in den letzten Jahren schon beschlossene — Erhöhungen der Sozialversicherungsbeiträge, in der Rentenversicherung wie in der Arbeitslosenversicherung. Für beide werden Einkommen nur bis 4 700 DM im Monat erfaßt. Einkommen, die höher sind, werden durch die Beitragsbemessungsgrenze außen vor gelassen und von der Beitragserhöhung nicht erfaßt.Wo liegt denn nun der Beitrag der Besserverdienenden? Er soll in diesem verteilungspolitischen Bastard,
genannt Zwangsanleihe, liegen, die dann an die Besserverdienenden zurückgezahlt werden soll, wenn die Konjunktur es erlaubt. Abgesehen von dem riesigen Verwaltungsaufwand:
Es ist doch schon eine sehr merkwürdige Art vonVerteilungsgerechtigkeit, daß der Stabilitäts- undWachstumsbeitrag der Gutverdienenden zurückgezahlt werden soll, während bei Ihnen natürlich niemand daran denkt, erhöhte Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung jemals zurückzuzahlen. Es wird auch nicht gehen, die zurückzuzahlen. Nur, unterlassen Sie es dann bitte, die in der Verfassung vorgesehene Ergänzungsabgabe, mit der wir an die höheren Einkommen herangehen wollen, zu kritisieren. Im übrigen sollten Sie dabei nicht außer acht lassen, daß wir in München und bei allen anderen Gelegenheiten — auch in dem Beschluß der SPD vom 11. Oktober zur wirtschaftlichen Tätigkeit — ausdrücklich bestätigt haben, daß investiv verwendete Einkommen nicht erfaßt werden sollen. Aber die anderen, die Zahnärzte, Wirtschaftsprüfer, die leitenden Angestellten, die gutverdienenden höheren Beamten, die von keiner Beitragserhöhung jemals erfaßt werden, sollen nach Ihrer Vorstellung lediglich eine Vorschußleistung erbringen, die dann später zurückgezahlt wird. Sie haben zwar die Mehrheit, das so zu tun, aber Sie müssen sich dann auch gefallen lassen, daß Arbeitnehmer dies nun wirklich als Umverteilung von unten nach oben bezeichnen, weil es genau das ist.
Es wird zur Störung des sozialen Friedens wesentlich beitragen, wenn das so weitergeht.Dem Bundesarbeitsminister würde ich gern empfehlen, nicht mehr über die Lohnpause zu reden, sondern sich so intensiv, wie er es vor wenigen Tagen in einem Interview getan hat, um Arbeitszeitverkürzungen zu bemühen. Sie sind unverzichtbar, wenn wir zu besserer Beschäftigung kommen wollen als Ergänzung beschäftigungsfördernder Investitionen. Es gilt hier, die begrüßenswerten Initiativen verschiedener Gewerkschaften zu unterstützen, allen voran Nahrung, Genuß, Gaststätten und die Industriegewerkschaft Chemie, Papier, Keramik, die durchaus bereit waren, in ihren Lohnverhandlungen eine weitgehende Vorschußleistung zu erbringen, um zu einem Abschluß über Tarifrente zu kommen. Das wird aber nur möglich sein, wenn es ein entsprechendes Rahmengesetz mit der Einbindung der Bundesanstalt für Arbeit gibt, das dafür sorgt, daß Tarifrente statt Arbeitslosengeld gezahlt werden kann. Herr Bundesarbeitsminister, vielleicht können Sie da den Bundeswirtschaftsminister besser überzeugen — ich habe das im Frühjahr vergeblich versucht —, damit wir hier vorankommen. Ich wünsche Ihnen viel Glück dabei.Wenn Sie dann noch in die Schublade der Fachabteilung greifen, finden Sie dort ein rundum fertig erarbeitetes modernes Arbeitszeitgesetz. Wenn Sie den Bundeswirtschaftsminister auch dafür zur Zustimmung dazu veranlassen, bin ich bereit, Ihnen zuzugeben, daß Sie als Arbeitsminister etwas erreicht haben. Aber das müssen Sie bitte leisten.
— Ich kann es nur hoffen. Wenn Sie es machen, werde ich sehr daran interessiert sein mitzuarbeiten.
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7790 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982
Dr. Ehrenberg— Es kommt nicht? Dann werden Sie sich weiterhin gefallen lassen müssen, daß Arbeitnehmer von „Umverteilung von unten nach oben" reden.
Meine Damen und Herren, nicht nur, daß in diesen haushaltbegleitenden Gesetzen die mögliche gesamtwirtschaftliche Nachfrage so weit gedrosselt wird, daß damit alle Wachstumsimpulse in einer vielfachen Weise erdrückt werden und es somit insgesamt durch Ihre Beschlüsse zu weniger und nicht zu mehr Wachstum kommen wird; auch dort, wo Sie mit Recht davon reden, daß die investiven Ausgaben gestärkt werden müssen, findet sich im Haushaltsentwurf leider das Gegenteil. Es werden — gestern in der Aktuellen Stunde ist schon darüber gesprochen worden — die Zuschüsse zum Bau von Kohleheizkraftwerken und zum Ausbau der Fernwärmeversorgung um die Hälfte reduziert. Bei dem so wichtigen Bereich Fernwärme werden die Ansätze um die Hälfte zurückgenommen, und damit wird gleichzeitig energiepolitisch und arbeitsmarktpolitisch größter Schaden angerichtet.Es werden auch die Ansätze — zwar nur geringfügig, aber immerhin — der Förderung der Luftfahrttechnik und der Zuschüsse zur Entwicklung von zivilen Flugzeugen zurückgenommen. Herr Bundeswirtschaftsminister, ein großer Teil der Flugzeugbauer sitzt an Standorten, die heute schon 10% und mehr Arbeitslosigkeit haben, von Friesland bis zur Unterweser und auch in Bremen selbst. Auch Hamburg hat keine wirklich gute Arbeitsmarktstruktur. An all diesen Standorten werden auch geringfügige Kürzungen bei der Luftfahrt als Signal verstanden, daß es weiter abwärts gehen muß. Ich bitte Sie sehr, diesen Titel im Interesse der Arbeitsplätze an den krisengeschüttelten Küsten noch einmal zu überprüfen. In Hamburg und Bremen wartet man darauf.
Das ist leider nur einer von vielen Widersprüchen zwischen dem Anspruch im Titel der Begleitgesetze, zur Wiederbelebung der Wirtschaft beizutragen, und dem, was tatsächlich in diesen Gesetzen steht. Steuererleichterungen werden nach den bisherigen Erfahrungen nur dann etwas bringen, wenn eben gleichzeitig die Unternehmer mit höheren Absatzerwartungen rechnen können. Wie sollen sie das bei Kürzungen öffentlicher Leistungen, die ja alle Umsätze sind, weil sie an Familien ohne Sparquote gehen? Welcher Unternehmer soll in dieser Situation investieren, wenn er mit auf Grund der Regierungsbeschlüsse schrumpfenden Umsätzen rechnen muß?Der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat hier heute früh gesagt, es würden Vernunft, Verantwortungsbewußtsein und Solidarität verlangt. Im Haushaltsentwurf 1983 und in den Begleitgesetzen dazu muß die ökonomische Vernunft mit der Lupe gesucht werden, Verantwortungsbewußtsein wird gegenüber den Gutverdienenden bewiesen und unter Solidarität haben die Rentner, Arbeitnehmer, Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängeretwas sehr anderes verstanden, als ihnen jetzt in diesen Begleitgesetzen zugemutet wird.
Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion, meine Damen und Herren, wird in der nächsten Sitzungswoche einen Ergänzungsentwurf vorlegen, aus dem hervorgehen wird, wie diesem Haushaltsentwurf zusätzliche beschäftigungswirksame Maßnahmen hinzugefügt werden können. Nur wenn das geschieht, wird es möglich sein, mit dem Haushalt und den Begleitgesetzen tatsächlich einen wesentlichen wachstumsverstärkenden, beschäftigungsfördernden Beitrag zu leisten.
— Selbstverständlich. Wir haben noch nie etwas ohne Finanzierungsvorschläge vorgeschlagen, Herr Friedmann.
Wir werden ein durchgerechnetes Programm vorlegen. Sie werden finden, daß wir jene Projekte, die zur Verbesserung der Energieversorgung, zur Verbesserung des Umweltschutzes notwendig sind, heute, bei Vorhandensein nicht genutzter Baukapazitäten, in Angriff nehmen wollen und nicht erst dann, wenn durch noch mehr Schrumpfung auch diese Kapazitäten vernichtet sind und später neue aufgebaut werden müssen.
Ich hoffe sehr, daß durch diesen Antrag die Einsicht bei Ihnen zunehmen wird, daß man bei sinkender Nachfrage nicht auf wirtschaftlichen Aufschwung und bessere Beschäftigung rechnen kann, sondern nur dann, wenn man eine entsprechende Möglichkeit — vernünftig finanziert — zu mehr Wachstum findet. Die Ergänzungsabgabe ist immer noch das konjunktur- und verteilungsgerechteste Instrument dazu, weil sie dort zugreift, wo die Einkommen hoch sind. Wenn man die investiv verwendeten Einkommen ausspart, ist sie sehr viel konjunkturunschädlicher als jede Beitragserhöhung.Sie reicht natürlich nicht für so ein Programm, Herr Friedmann. Aber man könnte überlegen, ob man sie nicht dafür verwenden könnte, davon den Kapitaldienst für auf dem Kapitalmarkt zu finanzierende Projekte zu bestreiten. Mit 2 Milliarden DM könnten Sie dann rund 10 bis 15 Milliarden DM Investitionsvolumen in Bewegung setzen. Wenn wir das nicht tun, werden Sie mit Ihren Beschlüssen von der weltwirtschaftlich bedingten Rezession in eine hausgemachte Depression hineinmarschieren. Genau das steht Ihnen bevor.
Der Bundeswirtschaftsminister hat hier zum Schluß gesagt: Die Richtung stimmt. — Ich bezweifle, daß sie stimmt. Sie zeigt, jedenfalls vorläufig, nach unten. Und ich glaube nicht, Herr Kollege Lambsdorff, daß Sie diese Richtung gemeint haben. — Herzlichen Dank.
Als nächster Redner hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue mich, daß Herr Abgeordneter Ehrenberg mich für lernfähig erklärt hat. Ich muß Ihnen sagen: Ich habe in den fünf Wochen in diesem Amt schon sehr viel gelernt. Ich habe gelernt, daß die Steuereinnahmen um 10 Milliarden DM geringer sind, als sie von Ihnen angegeben worden waren. Ich habe gelernt, daß der Zuschußbedarf für die Bundesanstalt für Arbeit um 7 Milliarden DM größer als von Ihnen angegeben ist.
— Haben Sie das vorher gewußt?
Herr Bundesminister, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Reuschenbach?
Nein, ich muß das jetzt zu Ende führen.
Wenn Sie das alles vorher gewußt haben, dann haben Sie allerdings den Wählern die Unwahrheit gesagt.
Ich habe das jedenfalls von Ihnen nicht erfahren.
— Sind die Zahlen schmerzhaft? Die Zahlen wird man hier doch einmal ganz ruhig aussprechen können.
Im zweiten Halbj ahr 1982 sind die Eingänge bei der Rentenversicherung um 1,2 Milliarden DM geringer. Im Oktober hatten wir die höchste Oktober-
Arbeitslosenzahl, seitdem in Deutschland Arbeitslose gezählt werden. Wir hatten im September die größte Zahl von Konkursanträgen und eröffneten Vergleichsverfahren seit der Währungsreform. Das sind alles die Neuigkeiten der ersten vier Wochen.
Herr Bundesminister, erlauben Sie jetzt eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Reuschenbach?
Ich werde Ihr Informationsbedürfnis im Laufe meiner Rede ganz bestimmt befriedigen.
— Sie werden mir vielleicht gestatten, zunächst ein paar Gedanken auszubreiten, bevor ich eine Antwort auf Zwischenfragen gebe.
Ich halte fest — Sie müssen entscheiden, ob Sie das vorher schon gewußt haben —: weniger Einnahmen, mehr Ausgaben, mehr Arbeitslose, mehr Firmenzusammenbrüche. Das sind die Eckfahnen des Spielfeldes, auf dem wir unsere Regierungsarbeit beginnen.
In der Tat sind wir — das ist unsere erste Aufgabe — ein Aufräumungskommando, das unter den Bedingungen von Einsturzgefahr arbeiten muß. Das macht die Arbeit in dieser Regierung schwer.
Wir können viel über Begründung von Wechsel philosophieren; ich finde, die Tatsachen sprechen für sich. Dieser Wechsel kam in der letzten Minute, in der unser Sozialsystem gesichert werden konnte. Ohne Aufräumungsarbeiten, ohne das, was wir jetzt unternommen haben, wäre das Defizit der Bundesanstalt für Arbeit 1983 13,4 Milliarden DM. Das ist soviel, wie wir für Kriegsopferversorgung und Kriegsopferfürsorge ausgeben. Wie hätten Sie dieses Defizit eigentlich gedeckt, ohne unsere Anstrengungen? Ohne das, was wir jetzt in diesen fünf Wochen unternommen haben, was Sie beklagen, wäre die Rentenversicherung im August/September nächsten Jahres zahlungsunfähig gewesen.
Das ist nicht dummes Zeug, das ist das Ergebnis von Zahlen.
Die zwei Millionen Arbeitslosen kosten die Rentenversicherung netto 5 Milliarden DM Einnahmeausfall. Die ganze Verschiebung bringt der Rentenversicherung nur vier Milliarden DM. Gäbe es die Arbeitslosen nicht, hätten wir die Atempause in der Sozialpolitik nicht nötig, und die Arbeitslosen werden Sie uns hoffentlich nicht zum Vorwurf machen.
In dieser schlimmen Lage ergreife ich Zuflucht zu einem alten Hausmittel, und das alte Hausmittel heißt: Die Wahrheit sagen, ungeschminkt die Wahrheit sagen! Es hat in der Politik keinen Sinn, dem Bürger die Wahrheit ratenweise zu erzählen. Die Bürger sind erwachsen genug. Sie müssen die schlimme Lage nicht schonend beigebracht bekommen, wie man kleinen Kindern schlimme Sachen schonend beibringt. Wir wollen die Lage ungeschmälert, ungeschminkt schildern, weil nur durch die ungeteilte Wahrheit die Kräfte mobilisiert werden, die zur Überwindung der Krise notwendig sind.Die erste Wahrheit ist, daß vor uns ein beschwerlicher Weg liegt. Die zweite Wahrheit ist, daß die Arbeitslosen nicht morgen von der Straße verschwunden sind. Unser erster Erfolg wird es sein, den Anstieg der Arbeitslosenzahl zu stoppen und diese Zahl dann Schritt für Schritt abzubauen. DasDeutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982 7791
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7792 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982
Bundesminister Dr. Blümwird ein langer, beschwerlicher Weg, der vor uns liegt. Die dritte Wahrheit ist
— Sie können noch mehr Wahrheiten bekommen, vielleicht begnügen Sie sich vorerst mit drei Wahrheiten zur Sozialpolitik —,
daß wir von realistischen Zahlen ausgehen, daß wir die Zahlen, die wir in unsere Rechnungen einstellen, nicht schönen. Die alte Regierung ist in der Schätzung der Arbeitslosenzahl
von 1 850 000 ausgegangen.
Die neue Regierung geht von 2 350 000 Arbeitslosen aus, und wir liegen dabei noch um 50 000 über dem, was sehr viele Sachverständige schätzen. Daß wir so vorsichtig schätzen, daß wir nicht die optimistischste Variante von Zukunftserwartung nehmen, ist ein Stück Liquiditätssicherung. Wir machen nicht „gute" Prognosen, die anschließend durch schlechte Wirklichkeiten dementiert werden. Wir lassen uns lieber durch die Wirklichkeit überholen. Wenn die Wirklichkeit besser ist, um so besser für die Rentenkassen.
Wir machen eine vorsichtige Rentenpolitik. Wir sollten allerdings auch allen sagen: Das Rentenniveau sinkt trotz der Anpassungsverzögerung im nächsten Jahr nicht. Das Nettorentenniveau eines Rentners, der 40 Jahre lang Beitrag gezahlt hat, war außer im Jahre 1977 noch nie so hoch. Es beträgt im nächsten Jahr 65,4 %. Daß ausgerechnet Sie, Herr Ehrenberg, mir die Verschiebung der Rentenanpassung vorwerfen,
finde ich erstaunlich. Soviel Mut hätte ich Ihnen nicht zugetraut. Ausgerechnet Sie! Gegenüber Ihren Rentenverschiebungen bin ich doch noch Anfänger. In Rentenverschiebungen sind Sie doch deutscher Meister.
— Ja, sogar Weltmeister.Sie haben die Renten zum 1. Juli 1977 und dann erst eineinhalb Jahre später angepaßt. Was war das anderes, Herr Ehrenberg, als eine halbjährige Anpassungspause?
— Ich gehe noch weiter, Herr Ehrenberg; das Sündenregister ist noch nicht voll. — Sie haben in den folgenden drei Jahren von der bruttolohnbezogenen Rente Abstand genommen. Und dann müssen Sieauch noch das 20. Rentenanpassungsgesetz berücksichtigen. Ich will Ihnen einmal die Zahlen in Erinnerung rufen: Sie haben 1979 um 4,5 % angepaßt. Wenn das 20. Rentenanpassungsgesetz berücksichtigt worden wäre, hätten Sie um 8,2 % anpassen müssen. Im nächsten Jahr haben Sie um 4 % angepaßt; Sie hätten um 7 % anpassen müssen.
— Da wollen wir doch noch einmal festhalten: Die alte Regierung hat den Rentenkassen in drei Jahren durch Abkopplung von der bruttolohnbezogenen Rente über 30 Milliarden DM erspart. Wir halbieren nur in einem Jahr. Das ist, was die Gesamtersparnis anbelangt, rund ein Drittel. Dann kommt ausgerechnet Herr Ehrenberg und wirft uns vor, wir würden die Rentner schädigen.
Herr Bundesminister, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Ehrenberg?
Bitte, Herr Ehrenberg.
Herr Bundesarbeitsminister, würden Sie dem Hause bitte bestätigen, daß es bei der Rentenverschiebung 1977 um die Zurücknahme einer vorgezogenen Anpassung ging — im Jahre 1973 ist zweimal angepaßt worden — und daß damals die Erhöhung 9,8 % betrug, d. h. die Rentenerhöhung im Jahr 1978, wenn man es auf das ganze Jahr umrechnet, immer noch 4,9 % bei einem Preisanstieg von unter 3 % betrug, daß es also immer noch eine Verbesserung der realen Kaufkraft der Rentner um 2 % gab, während sie sich nach Ihrem Vorschlag über das Jahr gerechnet real um 2 bis 3 % vermindert? Würden Sie diese Fakten dem Hause bitte bestätigen?
Herr Ehrenberg, würden Sie im Gegenzug bestätigen, daß der Unterschied zwischen der tatsächlichen Rentenanpassung von 4,5 % und der geforderten von 8,3 % eine Rentenkürzung von 3,8 % in einem Jahr bedeutet, während durch unsere halbjährige Verschiebung 2,3 % herauskommen? So nach Adam Riese.
Wir machen das aber nur für ein Jahr. Wir können die Rechenexempel fortführen, wenn Sie wollen.
Wir können uns vielleicht darauf verständigen, noch ein paar Zahlen auszutauschen. Die alte Regierung wollte den Bundeszuschuß zur Rentenversicherung um 1,3 Milliarden DM kürzen. Die neue Regierung kürzt den Bundeszuschuß um 900 Millionen DM. Das sind 400 Millionen DM weniger, als
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Bundesminister Dr. BlümSie vorhatten, die Sie von günstigeren Arbeitslosenzahlen ausgegangen sind, allerdings von falschen.
Bei einem Viertel mehr Arbeitslosen kürzen wir die Bundeszuschüsse um ein Drittel weniger als Sie.Sie wollten der Bundesanstalt für Arbeit Zuschüsse in Höhe von 900 Millionen DM geben. Wir geben ihr 5,4 Milliarden DM.Ich fasse zusammen: Wir kürzen in der Sozialversicherung weniger als die vorhergehende Regierung, und wir geben der Sozialversicherung mehr Geld, als es die vorhergehende Regierung vorgesehen hat. Wie kommen Sie eigentlich angesichts dieser Tatsache, daß wir weniger kürzen und mehr geben, zu der Behauptung, wir würden die Sozialversicherungskassen plündern?
Meine Damen und Herren, wir haben in der Sozialpolitik in diesen vier, fünf Wochen nicht nur Reparaturarbeiten unternommen, sondern bei allen Rettungsarbeiten versucht, eine strukturelle Sozialpolitik zu betreiben, keine Tür zuzuschlagen, die zu einer weitergehenden Entwicklung führt. Wir haben versucht, bei allen Reparaturarbeiten die Fundamente des sozialen Sicherungssystems nicht zu beschädigen.Ich finde, eine wichtige weitergehende strukturelle Maßnahme ist es, die Trennungslinie zwischen Staat und Sozialversicherung sauberer, schärfer zu ziehen. Das heutige Mischsystem auch bei der Finanzierung ist in sehr vielen Fällen doch ein Verantwortungsverwischsystem. Wir möchten, daß derjenige, der die Kompetenz hat, auch die Konsequenzen tragen muß, und wer die Konsequenzen tragen muß, muß auch die Kosten aufbringen. Wir wollen wieder Verantwortung unter einem Dach versammeln und davon Abstand nehmen, daß sich jeder auf den anderen berufen kann.Dazu ist es notwendig, die Fremdaufgaben der Sozialversicherung stärker von den eigentlichen Versicherungsaufgaben zu trennen. Wenn wir das machen wollen — und wir wollen das machen —, müssen zunächst einmal die Beziehungen zwischen den einzelnen Sozialversicherungen auf verläßlichere Grundlagen gestellt werden. Wir wollen den Verschiebebahnhof,
den Sie perfekt beherrscht haben, stillegen. Der Verschiebebahnhof in der Sozialpolitik wird demontiert. Das ist das einzige, was wir in der Sozialpolitik demontieren.
Von einem Verschiebebahnhof kann gesprochen werden, wenn die Beziehungen zwischen den einzelnen Sozialkassen allein von Finanznotwendigkeiten abhängig sind. In jener Sozialkasse, wo Geldist, wird Geld genommen, um es der zu geben, die Geld braucht.
Das ist der Verschiebebahnhof.Wir haben für die Transaktionen zwischen einer Sozialversicherung und einer anderen ein in der Sache begründetes und vom Gesetzgeber nicht zu manipulierendes Kriterium gefunden. Alle Leistungen der Sozialversicherung, die an die Stelle des Lohns treten, die sogenannten Lohnersatzleistungen sind in Zukunft die Bemessungsgrundlage, der Bezugspunkt für Leistungen von einer Sozialversicherung an die anderen Sozialversicherungen.
Die Beiträge für das Arbeitslosengeld, das Kurzarbeitergeld, das Schlechtwettergeld und das Unterhaltsgeld sind abhängig von der Höhe des ausgezahlten Geldes. Sie haben bisher gesagt: 70 %. Das hat Ihnen irgendein Buchhalter ausgerechnet. Sie hätten genausogut 80 % und übermorgen 50 % sagen können. Keine Verläßlichkeit! Bei uns aber besteht die Verläßlichkeit in der Sache darin: Steigt das Arbeitslosengeld, steigen auch die Beiträge an die Rentenversicherung; sinkt das Arbeitslosengeld, sinken auch die Beiträge. Das ist kein manipulierbarer Begriff, sondern ein in der Sache begründetes Prinzip.
Herr Bundesminister, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Glombig?
Bitte schön.
Herr Bundesminister, Sie haben eben davon gesprochen, daß wir Meister der Verschiebebahnhöfe gewesen seien. Wie ist das denn mit der Heruntersetzung der Bemessungsgrundlage für die Beiträge der Bundesanstalt für Arbeit an die Rentenversicherung von 100 % auf 45 %, die dazu führt, daß die Bundesanstalt nun über 4,5 Milliarden DM zusätzlich verfügt, die aber der Rentenversicherung fehlen? Wie ist es denn mit den 1,2 Milliarden DM Kürzung des Beitragszuschusses an die Krankenversicherung für die Krankenversicherung der Rentner von seiten der Rentenversicherung?
Sind das keine Verschiebebahnhöfe? Bringen Sie damit nicht die Rentenversicherung 1984 an den Rand des finanziellen Ruins?
Herr Glombig, ich bin Ihnen sehr dankbar für die Frage, weil sie mir Gelegenheit gibt, den Unterschied zwischen Ihrer und unserer Politik wirklich deutlich zu machen.
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Bundesminister Dr. BlümSie haben ja die Beiträge auf 70% gesenkt und damit zugestanden, daß die Theorie von der absoluten Unabhängigkeit der Rentenversicherung von der Arbeitsmarktlage offenbar auch bei Ihnen nicht durchgehalten werden kann.Ich möchte hinzufügen: Diese Unabhängigkeit der Rentenversicherung von der Arbeitsmarktlage ist eine Scheinunabhängigkeit. Keine Sozialversicherung kommt über die Tatsache hinweg, daß Beiträge immer nur von denen gezahlt werden, die Arbeit haben. Ob sie es auf diese oder jene Weise organisieren, ist lediglich eine Frage der politischen Organisation. Das kann ich Ihnen nämlich leicht nachweisen.Von 1978 bis 1982 hat der Bundeshaushalt an die Bundesanstalt für Arbeit Zuschüsse in Höhe von 17,3 Milliarden DM gegeben. 17,3 Milliarden DM in vier Jahren! In denselben vier Jahren hat die Bundesanstalt für Arbeit an die Rentenversicherung einen Zuschuß von 17,1 Milliarden DM gezahlt. Das ist die Sozialpolitik auf dem Karussel. Dieses Geld hätten Sie gleich an die Rentenversicherung zahlen können. Dann hätten Sie sich allerdings um den Schein gebracht, die Rentenversicherung sei von der Arbeitsmarktlage unabhängig. Ich denke, in diesem Schein steckt eine Lebenslüge der Sozialpolitik, nämlich die Lebenslüge, sie könne von den wirtschaftlichen Gegebenheiten abheben. Diese Lebenslüge werde ich nicht mitmachen.
Jetzt will ich Ihnen auch noch etwas zu dem zweiten Teil sagen. Warum zahlt die Krankenversicherung an die Rentenversicherung pauschal 1,2 Milliarden DM? Weil auch das Krankengeld Lohnersatz ist und weil auch vom Krankengeld an Rentenversicherungsbeitrag gezahlt werden soll. Nur weigere ich mich, diese komplizierte Frage gesetzlich in vier Wochen zu regeln. Denn auch hier liegt ein Unterschied: Wir machen Sozialpolitik nicht mit heißer Nadel, wie Sie sie gemacht haben; das gibt es bei uns nicht mehr.
Hier wird solide etwas vorbereitet. Im Vorgriff auf die Neuregelung erhält die Rentenversicherung von den Krankenkassen 1,2 Milliarden DM.Im übrigen erfahren die Krankenkassen durch die Änderungsgesetze, die von Ihnen mit vorbereitet worden sind, eine Entlastung um 1,1 Milliarden DM. Dadurch, daß die Zusatzeinkommen krankenversicherungspflichtig werden, erhalten sie 600 Millionen DM. Sie haben eine Belastung von 1,2 Milliarden DM und durch die Verschiebung der Rentenanpassung und damit auch die Verschiebung des Beitrags zur Rentnerkrankenversicherung einen Verlust von 370 Millionen DM. Wenn Sie alles zusammenzählen, werden Sie sehen: Obwohl die Krankenversicherung 1,2 Milliarden DM an die Rentenversicherung zahlt, wird die Krankenversicherung von uns nicht mehr belastet, sondern sogar um 130 Millionen DM entlastet. Wenn Sie an der Regierung geblieben wären, hätte sie von der Bun-desanstalt für Arbeit sogar 1,3 Milliarden DM bekommen. Wenn Sie schon mit mir rechnen, dann rechnen wir das ganze Exempel durch.Im übrigen, meine Damen und Herren, möchte ich an dieser Stelle auch der Selbstverwaltung der Krankenversicherung meinen Respekt und meine Anerkennung aussprechen. In dieser schwierigen Lage haben eine Reihe von Ortskrankenkassen in Westfalen, Betriebskrankenkassen in Niedersachsen und auch die Betriebskrankenkasse Siemens ihre Beiträge gesenkt. Ich will das ausdrücklich anerkennen und Mut machen, daß auch die Selbstverwaltung an der Sparaktion mitwirkt. Das entlastet den Gesetzgeber. Je mehr die Selbstverwaltung selber zustande bringt, um so überflüssiger ist der Gesetzgeber.
Dafür, daß wir — das wird kritisiert — darauf verzichten wollen, daß Bagatellmedizin aus den Kassen der Krankenversicherung finanziert wird, will ich noch einmal den Hintergrund beleuchten. Ich meine, wir stehen vor der gemeinsamen Aufgabe, den Leistungskatalog der Krankenversicherung zusammenzudrücken. Die Krankenversicherung kann nicht für alles zuständig sein. Wenn wir hier nicht einen Riegel vorschieben, wenn das ausufert, dann ist die Krankenversicherung sozusagen die allzuständige Sozialversicherung. Nur kann sie dann nicht mehr finanziert werden.Ich gebe zu, daß dieser weitere Weg — wir machen ja nur den ersten Schritt — besser von der Selbstverwaltung unternommen wird, weil diese näher an der Praxis ist. Was wir jetzt machen, hat lediglich eine Hebammenfunktion.Lassen Sie mich diesen Teil auch zu einem Gesamtüberblick über Sozialpolitik nutzen, wie ich sie verstehe. Ich wünsche mir und auch meinen Kindern nicht, in einer Gesellschaft zu leben, in der für alles immer die anderen zuständig sind: der Staat, der Betrieb, die Gewerkschaft, die Sozialversicherung. Ich denke, wir müssen auch einer Gesellschaft die Bahn brechen, in der es noch ein paar Sachen gibt, für die der Mensch Selbstverantwortung hat, selber zuständig ist.
Ich halte es nicht für einen Fortschritt in Sachen Humanität, wenn man völlig auf Schuldfragen verzichtet. Wo es keine Schuld gibt, gibt es auch keine Sühne. Wo keine Fehler eingestanden werden, gibt es auch keine Wiedergutmachung.
Auch die Krankheit bedeutet ein Stück Aufgabe, wieder zu gesunden, die auch aus eigener Kraft vollbracht werden muß. Wir müssen die Menschen von den Apparaten abhängen. Wir müssen sie davon befreien, in der Sozialpolitik nur noch als Objekte aufzutauchen.
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Bundesminister Dr. BlümWir werden uns, nachdem wir die Lohnersatzfunktion abgeklärt haben, auch der Frage zuwenden — nicht mehr in dieser Legislaturperiode, sondern in der nächsten; wir haben ein langfristiges Programm —, die Ausfallzeiten neu zu regeln, mit anderen Worten, für die Bewertung von beitragsfreien und beitragsgeminderten Zeiten neue Maßstäbe zu finden. Die Bewertung ist heute sehr willkürlich. Wir wollen beitragsfreie Zeiten neu bestimmen und neu bewerten. Wer viele Jahre Beitrag gezahlt hat, der bekommt seine Ausfallzeiten und seine beitragsfreien Zeiten anders bewertet als der, der nur kurz Beitrag gezahlt hat und dann möglicherweise lang beitragsfreie Zeiten in Anspruch nimmt.
Diese beitragsfreien Zeiten werden ja alle mit den Groschen der Arbeiter bezahlt, die 40, 50 Jahre Beitrag zahlen. Wer beitragsfreie Zeit hat, der muß das stärker in die Nähe des Versicherungsprinzips bringen: Leistung für Gegenleistung. Wir fordern das im Interesse der Arbeitnehmer.
— Herr Kollege Glombig, lassen Sie mich die Gedanken doch im Zusammenhang darstellen. Ich bin sicher: Eine Reihe Ihrer Fragen wird im Laufe meiner Darstellungen hier noch beantwortet.
Drei Dinge sind wichtig: Neuregelung der Lohnersatzfunktion, Neubewertung der Ausfallzeiten und Eingrenzung der Fremdleistungen. Dann machen wir die Sozialversicherung selbständig. Die Sozialversicherung ist inzwischen erwachsen und mündig. Wir sollten sie von der Hektik des Gesetzgebers abhängen, damit die Selbstverwaltung in Selbstverantwortung ihre Geschäfte erledigen kann.
Sie sehen: Trotz aller Hast, trotz aller Zwänge, trotz großer Finanznot haben wir uns davor gehütet, nur die Feuerwehr zu spielen, haben wir uns davor gehütet, nur eine Sozialpolitik aus dem Handgelenk zu machen. Ich behaupte: Wir betreiben eine Sozialpolitik mit Sinn und Verstand und einem ganz langen Atem.
Ausdrücklich lenke ich in dieser sozialpolitischen Darstellung den Blick auch auf die Wirtschaftspolitik. Denn ein Grund für die Misere ist sicher gewesen, daß Sozialpolitik und Wirtschaftspolitik auf getrennten Spielfeldern gespielt wurden. Es ist im Sinn einer sozialen Wirtschaftspolitik und einer Sozialpolitik, die weiß, woher das Geld kommt, daß Sozialpolitik und Wirtschaftspolitik zusammen gesehen werden.Ich finde, das Wichtigste ist Vollbeschäftigung. Wir brauchen zur Vollbeschäftigung eine Regeneration unserer Produktionsstruktur. Wir haben zum Teil eine veraltete Produktionsstruktur. Eine Politik noch so großer Nachfrage verändert nicht die veralteten Strukturen. Wenn Sie nur Nachfragepolitik machen, schicken Sie möglicherweise die Nachfrage ins Ausland, wo die Produkte billiger zu haben sind.
50 % der Importe sind Fertiggüter. Eine reine Nachfragepolitik geht möglicherweise am deutschen Markt vorbei, weil der deutsche Markt eine Produktionsstruktur hat, die veraltet ist.
Moderne Arbeitsplätze kosten Geld. Das Geld, das die Arbeitsplätze kosten, kann vorher nicht konsumiert werden. Das ist eine alte Erfahrung. Dazu brauche ich keine Volkswirtschaft gelernt zu haben. Der Kuchen kann nicht zweimal gegessen werden. Das wußten auch die Leute früher, die noch nichts von Volkswirtschaft verstanden haben. Eine Sozialpolitik, die Investitionen behindert, sägt den Ast ab, auf dem sie sitzt.
Ich bin ganz stolz, daß es den Sozialpolitikern der Regierungsfraktionen gelungen ist, durch eine, wie ich zugebe, schmerzhafte — gern macht das niemand — Sparpolitik einen Beitrag zu leisten, der Haushaltssanierung näherzukommen und damit die Voraussetzung für eine Zinssenkung zu schaffen. Denn mir scheint das beste Beschäftigungsprogramm eine Zinssenkung zu sein. Ein Prozent Zinssenkung bringt acht Milliarden Nachschub für Investitionen. Ihre ganzen mickrigen Beschäftigungsprogramme bringen nicht das, was ein Prozent Zinssenkung bringt.
Ich höre Sie über eine fünfprozentige Ergänzungsabgabe diskutieren, die bei Verheirateten bei 50 000 DM und bei Ledigen bei 100 000 DM einsetzen soll. Wissen Sie, was sie bringt? 2,7 Milliarden DM. Das ist rund ein Drittel von dem, was wir mit einem Prozent Zinssenkung hinbekommen.
Im übrigen: Die staatlichen Beschäftigungsprogramme — das weiß man aus Erfahrung — bleiben zum Teil in den Bürokratien hängen und treffen nicht immer diejenigen, denen eigentlich geholfen werden muß.
Herr Kollege Blüm, Sie haben vorhin eine Bitte des Kollegen Glombig, eine Zwischenfrage stellen zu dürfen, zurückgestellt. Wollen Sie während Ihrer Rede keine Zwischenfragen mehr beantworten? Ich frage dies nur, damit ich Bescheid weiß.
Herr Präsident, meine Erfahrung ist: Wenn ich Zwischenfragen zulasse, komme ich nicht an das Ende meiner Rede. Deshalb, so würde ich
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7796 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982
Bundesminister Dr. Blümsagen, lassen Sie mich zunächst einmal meine Rede vortragen.
Meine Damen und Herren, ich fürchte, wir haben auch einen Teil der Umstellung in der Welt verschlafen, regelrecht verschlafen. Es hat ja eine gigantische Umverteilung auf der Welt stattgefunden. Die Ölländer haben sich einen größeren Teil des Kuchens geholt; er ist größer als der, den früher die Dritte Welt entnahm. Die Rohstoffe haben sich verteuert. Nur, meine Damen und Herren: Was uns der Ölschock und die Energiekrise genommen haben, haben wir uns nicht vom Konsum abgezwackt, das haben wir uns von den Investitionen abgezwackt.
Die Umverteilung ist auf Kosten unserer Investitionen gegangen.Das kann ich sehr leicht nachweisen. Die Investitionsquote ist von 1970 bis 1982 um 5 % zurückgegangen. Das wären 80 Milliarden DM mehr Investitionen gewesen. Dann bräuchten Sie heute kein Beschäftigungsprogramm. Wahrscheinlich hätten wir auch keine Arbeitslosen.
Die Eigenkapitalquote in den Firmen ist von 1967 mit 30 % auf 21 % zurückgegangen. Mit anderen Worten: Wir haben den Konsum, die alten Gewohnheiten fortgesetzt und haben bei den Investitionen gespart. Das ist so ähnlich, als wollte ein Bauer in der Not sein Saatgut verfuttern. Das wäre ein dummer Bauer.
Die Umstellung ist uns erspart geblieben, weil die Regierung nicht die wahre Lage geschildert hat, weil sie über alle neuen Erfordernisse heiapopeia hinweggegangen ist. Das ist vorbei. Wir sagen die Wahrheit, damit die Umstellung von jedermann erkannt werden kann.Im übrigen halte ich angesichts dieser Zahlen den Vorwurf, wir hätten uns kaputtgespart, für verfehlt. Wir haben uns in der Vergangenheit bestenfalls kaputtkonsumiert, aber kaputtgespart haben wir uns nicht. Wir wollen uns gesundinvestieren. Das ist unsere Politik!
Meine Damen und Herren, wie man bei über 40 Milliarden DM Neuverschuldung sagen kann, wir würden uns kaputtsparen, verstehe ich nicht. Stellen Sie sich vor, ein Arbeitnehmer, der 2 000 DM verdient, macht 16 % Schulden. Das entspricht ja ungefähr der Relation zwischen Haushalt und Neuverschuldung. Dann hätte er im Jahr, wenn ich richtig gerechnet habe, 3 840 DM Schulden gemacht. Würden Sie diesem Arbeitnehmer sagen, er hätte sich kaputtgespart? Das wäre doch völlig aus der Luft gegriffen.
Insofern, meine Damen und Herren, trifft der Vorwurf des Kaputtsparens nicht unsere Haushaltspolitik, von der ich zugebe, daß sie den mittleren Wegzwischen einer angebotsorientierten und einer nachfrageorientierten Politik zu gehen versucht. Ich jedenfalls glaube, die beste nachfrageorientierte Politik besteht darin, daß wir den geburtenstarken Jahrgängen neue Arbeitsplätze beschaffen, auf denen sich viel Geld verdienen läßt, jedenfalls mehr, als man als Arbeitsloser erhalten würde. Das ist die beste Konsumnachfrage, die wir schaffen können: Arbeit und damit Nachfrage derjenigen, die Arbeit haben.
Herr Kollege Ehrenberg hat j a meinen Vorschlag bezüglich einer Lohnpause aufgegriffen. Ich will der Vollständigkeit halber sagen, daß er nur die halbe Wahrheit vorgetragen hat.
Halbe Wahrheiten sind immer gefährlich. Ich habe immer von Lohn- und Preispausen gesprochen. Ich habe nie von einseitigen Opfern der Arbeitnehmer gesprochen. Es ist ja gerade mein Vorschlag, daß das Opfer, das die Rentnerin bringt, Maßstäbe setzt. Wieso sollen denn eigentlich nur Kriegsopfer eine halbjährige Verzögerung bei der Anpassung hinnehmen? Wieso geht nicht ein Ruck durch die Nation unter der Beweislast, daß die Rentnerin mit wenig Rente ihre Erhöhung ein halbes Jahr später bekommt? Muß jetzt nicht jeder mitmachen, wenn er sich nicht als Egoist entlarven will?
Meine Damen und Herren, es gibt Leute, die sagen: Das mit den Preisen geht doch gar nicht. — Ich will das doch gar nicht so wie Ihr sozialistischer Genosse Mitterrand machen. Der macht das mit gesetzlichem Zwang. Davon bin ich weit entfernt. Wenn Sie sich darüber beschweren wollen, dann bin ich die falsche Adresse für Lohn- und Preisstopp. Ich will Umstellung freiwillig. Im übrigen haben auch die Sachverständigen darauf hingewiesen, daß man mit Revisionsklauseln in den Tarifverträgen sogar das Kunststück fertigbringen könnte, das Interesse an Preis- und Lohnstabilität unter einem Dach zu versammeln. Das wäre doch einmal etwas ganz Neues. Was haben Arbeitnehmer denn von einer 5 %igen Lohnerhöhung, wenn sie anschließend durch eine 6 %ige Preiserhöhung wieder wettgemacht wird? Was haben Arbeitnehmer davon?
In Vorausschau dessen, was Sie hier vortragen, Herr Ehrenberg, habe ich mir vom DGB die Liste beschafft, aus der Sie zitiert haben. In der Tat steht im DGB-Bericht „Tarifbewegung 1968" über die IG Metall:Die zum 30.6. 1967 fristgerecht gekündigten Verträge wurden Ende 1967 bzw. Anfang 1968 mit Tariflohnersatz- und Lohnrahmenänderungen bis zum 31. 3. 1968 (Bayern: 31.5. 1968) wieder in Kraft gesetzt, bei denen— Herr Ehrenberg, hören Sie zu, Zitat DGB —
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982 7797
Bundesminister Dr. Blümausdrücklich vereinbart wurde, daß sie sich nicht auf die Effektivverdienste auswirken sollten.Mit anderen Worten: Effektiv war das eine Lohnpause, so wie das die ÖTV mit sechs Monaten gemacht hat, so wie das im Bereich Bau mit drei Monaten, im Bereich Textil mit sieben Monaten gemacht wurde.
Wenn Sie mich unbedingt reizen wollen, lese ich noch mehr aus dem DGB-Bericht vor.
Im Gesamtüberblick über die Tarifbewegung 1967 steht da:Für fast die Hälfte der Arbeitnehmer wurden die vereinbarten Lohn- und Gehaltserhöhungen ein Vierteljahr nach dem Kündigungstermin des vorangegangenen Vertrags wirksam. 36 % der Arbeitnehmer mußten Verzögerungen von vier bis zwölf Monaten hinnehmen. Für nur 13 % traten die Lohn- und Gehaltserhöhungen fristgerecht in Kraft.Das war 1967. Ich stütze mich auf Berichte aus dem DGB, sehr verehrter Herr Kollege Ehrenberg.Im übrigen machen das kluge Gewerkschaften auch in Amerika, natürlich — und darauf lege ich Wert — für Gegenleistungen — umsonst fordert das niemand —, für Gegenleistungen der Arbeitgeber in der Vermögenspolitik, auch in der Arbeitszeitpolitik. Ich meine, wir müssen jetzt alle über unseren Schatten springen. Die alten, ausgetretenen Wege haben dorthin geführt, wo wir heute sind, nämlich in die Krise. Es besteht keine Hoffnung, daß wir auf denselben Wegen zurück wieder aus der Krise herauskämen. Wir brauchen neue Wege.
Freilich denke ich, daß sich die Investitionen, die durch eine zurückhaltende Lohnpolitik möglich gemacht werden, auch bei den Arbeitnehmern als Vermögen niederschlagen müssen. Es ist nicht zumutbar, daß sich die Arbeitnehmer in der Lohnpolitik zurückhalten und das entstehende Vermögen an ihnen vorbeigeht. Wenn die Arbeitnehmer durch ihre Arbeit und durch ihre Lohnpolitik Investitionen ermöglichen, dann ist es ein Gebot der Gerechtigkeit, daß nun endlich Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand zum Durchbruch kommt.
Wir wollen keine altmarxistischen Sperren gegen die Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand. Wir wissen, Arbeitnehmer können genausogut wie jeder andere Stand mit Vermögen und Eigentum umgehen. Deshalb werden wir einen Gesetzentwurf zur Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand vorbereiten und vorlegen.Meine Damen und Herren, sicherlich gibt es keinen Königsweg, kein Zaubermittel, um Arbeitslosigkeit zu beseitigen. Investitionen stehen bei uns im Vordergrund. Aber keineswegs ist damit schon alles gelöst. Ich glaube auch, daß wir noch bildungspolitische Anstrengungen unternehmen müssen. Ich will mich ausdrücklich dem Appell von Graf Lambsdorff anschließen, dem Appell an die Wirtschaft, auch in diesen Krisenzeiten, in den Zeiten, in denen geburtenstarke Jahrgänge vor der Türe stehen, mehr auszubilden, als im Augenblick notwendig ist. Ausbildung auf Vorrat, das ist ein Gebot der Solidarität und einer weitsichtigen Unternehmenspolitik.
Den Eltern und jungen Mitbürgern kann man nur sagen: Ein Beruf ist immer noch besser als kein Beruf. Wer einen Beruf lernt, auch wenn es nicht sein Traumberuf ist, hat bessere Voraussetzungen, später dorthin zu kommen, wo sein Wunschziel ist, als dann, wenn er es aufgibt und nichts lernt.Ich erkläre mich ausdrücklich auch zu dem Programm, das wir in der Regierungserklärung vorgelegt haben, die flexible Altersgrenze zu senken. Ich trage das hier nicht nur als eine arbeitsmarktpolitische Defensive vor, sondern sehe darin ein Stück Humanisierung des Arbeitslebens. Der einzelne soll selbst bestimmen, wann sein Pensionsdatum ist. Das ist ein Stück mehr Freiheit im Arbeitsleben. Das schafft uns auch die Zwänge vom Hals, in denen die Industriegesellschaft die Lebensalter bisher voneinander abgeschottet hat: Jugend vom Erwachsenenalter, Erwachsenenphase vom Rentenalter. Wir müssen die Übergänge wieder natürlicher gestalten. Wir müssen die Lebensrhythmen mit dem Arbeitsrhythmus verbinden. Die Technik beinhaltet nicht nur die Bedrohung von Arbeitsplätzen, sondern bietet auch die Möglichkeit, die Arbeitsplätze mehr dem Bedürfnis, dem Lebensrhythmus der Menschen anzupassen. Im Zusammenhang mit den Bemühungen um Senkung der flexiblen Altersgrenze sei gesagt: Zwei Zahlen sind doch Alarmzeichen: Nur 11 % der Arbeitnehmer erreichen mit 65 Jahren die Rente. Alle anderen sind schon früher in die Rente gegangen, 50 % über Erwerbsunfähigkeit oder Berufsunfähigkeit. Wenn wir das nicht gesetzlich regeln, bleiben nur noch die Arbeitnehmer übrig, die in einem Großbetrieb arbeiten, der die 60jährigen über einen Sozialplan in den Ruhestand befördert; und diese Sozialpläne werden über die Preise auch von den Arbeitnehmern in den kleinen Betrieben, die sich solche Sozialpläne nicht leisten können, mitbezahlt.
Es bleiben dann die Arbeitnehmer übrig, die Hemmungen haben, zum Amtsarzt zu gehen und sich vorzeitig in den Ruhestand versetzen zu lassen. Das kann j a unsere Antwort nicht sein!Meine Damen und Herren, „kaputtsparen" war der eine Vorwurf, „Umverteilung von unten nach oben" der andere. Wie kann man das sagen, wenn man 300 Milliarden Schulden zurückläßt? Wie kann man sagen, jetzt beginne eine Umverteilung von unten nach oben? Meine Damen und Herren, Sie haben diese Umverteilung doch perfektioniert.
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7798 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982
Bundesminister Dr. BlümSchuldenpolitik ist doch eine Politik auf dem Rükken der kleinen Leute. Das weiß doch jedermann.
Nicht die kleinen Leute haben die billigen Zinstitel erworben, die der Staat zur Verfügung stellt. Das waren nicht die kleinen Leute, nicht die Sozialhilfeempfänger, nicht die Rentner. Diese Schuldenpolitik haben Sie doch auf den Knochen gerade der kleinen Leute finanziert, und deshalb war das, was Sie gemacht haben, eine Politik, die von unten nach oben umverteilte.
Meine Damen und Herren, zum Abschluß will ich mit ein paar Bemerkungen die Gelegenheit nutzen, einiges richtigzustellen. Der DGB hat j a gegen diese Politik — „kaputtsparen", „Umverteilung von unten nach oben" — und gegen das, was die Regierung vorlegt, in den letzten Wochen eine ganze Reihe von Demonstrationen veranstaltet. Ich will dazu nur folgendes sagen, und ich wende mich dabei gerade an meine Kollegen draußen,
weil wir Information nicht zur Agitation degenerieren lassen sollten.
Ich habe eine Reihe von Falschmeldungen, mit denen Arbeitnehmer zu Protesten veranlaßt werden, richtigzustellen. Hans Mayr, stellvertretender Vorsitzender der IG Metall, schreibt am 20. Oktober in der Metall-Zeitschrift, das Arbeitslosengeld sei gekürzt. Richtig ist: Vor und nach der Regierungsbildung betragen das Arbeitslosengeld 68% und die Arbeitslosenhilfe 58 %.
Zum anderen schreibt die Metall-Zeitung in der gleichen Ausgabe auf Seite 8:Die Arbeitslosen: Ihre spätere Rente wird erheblich gekürzt , weil die Bundesanstalt für Arbeit niedrigere Beiträge an die Rentenversicherung überweist.Richtig ist, daß wir das nicht auf die Rente durchschlagen lassen, daß beim Arbeitslosengeld nichts gekürzt wird. Die alte Regierung hatte vorgesehen, daß sich Arbeitslosigkeit mit 9 DM weniger Rente niederschlägt. Offensichtlich rechnet die IG Metall so: Die SPD hat „9 DM" gesagt, das nehmen wir mal zwei, also 18 DM, dann muß es bei der CDU landen.
Anders kann ich mir so etwas nicht vorstellen. Das ist Arbeiterverdummung, und gegen die wehre ich mich. Das machen wir nicht.
Eugen Loderer hat das in der November-Ausgabe der Funktionärszeitschrift der Gewerkschafter wiederholt: Auch mit Renteneinbußen werden die Arbeitslosen bestraft. Gestern hat der Hauptkassierer der IG Metall dasselbe behauptet: Rentenkürzungen im Alter.Meine Damen und Herren, all diese Behauptungen, mit denen Arbeiter zu Protesten veranlaßt wurden, stimmen nicht, und deshalb sind die Arbeitnehmer mit Falschmeldungen zu Protesten bewegt worden.
Fritz Steinkühler schreibt in der „Hamburger Morgenpost" vom 30. Oktober: Wenn Karenztage im Krankheitsfall wieder eingeführt werden, wird es zum Streik kommen. — Ja, wer will sie denn einführen?
In keiner Regierungserklärung, in keiner Koalitionsvereinbarung steht das, und ich erkläre hier: Karenztage wird es mit dem Arbeitsminister Norbert Blüm nicht geben. Schminken Sie sich den dauernden Versuch ab, sich eine Vogelscheuche zu bauen, auf die Sie einschlagen können!
Sie können sich Ihre Gegner nicht so machen, wie Sie sie gern hätten; Sie müssen schon bei den Tatsachen bleiben.
Für die DGB-Kundgebung in Stuttgart ist ein Flugblatt verteilt worden, in dem stand, daß Lohnfortzahlung eingeschränkt, Mutterschaftsgeld abgeschafft und das Arbeitslosengeld gekürzt wird: Drei Meldungen, dreimal falsch, kann ich da nur sagen. Das kann bei keiner Einheitsgewerkschaft ungestraft durchgehen.
Meine Damen und Herren, ich bin für harte Auseinandersetzungen. Das gehört zur demokratischen Diskussion. Nur fair muß sie bleiben. Ich appelliere nur an das Fairneßgefühl der Arbeitnehmer, weil ich sicher bin, die große Mehrheit der Arbeitnehmer will eine faire Auseinandersetzung über die Sache und keine Verteufelung.
Ich bin ebenso sicher, daß die Zahl derjenigen, auch wenn sie lautstark sind, die den Klassenkampf wollen, ganz klein ist. Das ist eine Randgruppe in der Arbeitnehmerschaft.
Ich bin dessen sicher, was unsere Großeltern, was alle, die vor uns waren, wußten: In Notzeiten muß man zusammenstehen. Wenn das Haus brennt, kann man nicht streiten,
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982 7799
Bundesminister Dr. Blüm1 wenn es stürmt auf See, muß die Mannschaft zusammenhalten. Ich weiß auch, die Regierung allein wird es nicht schaffen. Die Gewerkschaften allein werden es auch nicht schaffen. Die Arbeitgeber werden es auch nicht schaffen. Je mehr wir zusammenstehen, um so schneller sind wir aus der Krise heraus.
Deshalb bedanke ich mich bei all denjenigen, dieihren Beitrag geleistet haben. Ich bedanke michausdrücklich bei den Ärzten für die Honorarpause.
Im übrigen kann ich Sie beruhigen: diese Bundesregierung hat gestern abend eine Gebührenordnung beschlossen, die nicht den Wünschen der Ärzte entspricht. Auch in dieser Situation sind nirgendwo Nachgiebigkeiten zu erwarten. Dasselbe Opfer, das wir von der Rentnerin verlangen, das erwarten wir von jedermann. Deshalb werden wir in dieser Situation niemandem zu Gefallen handeln.Ich bedanke mich beim Bundesverband der Deutschen Arbeitgeberverbände, der die Vorstandsmitglieder, die außertariflich Angestellten zu Einkommensverzichten aufgefordert hat. Ich würde mir wünschen, daß noch mehr von Arbeitgeberseite geliefert wird: Einstellungen, Preisstabilität, ganz undogmatische Gespräche mit den Gewerkschaften auch über die Frage, wie wir aus der Misere herauskommen.Ich bedanke mich bei den Kirchen. Die evangelische Synode hat sehr beachtenswert über die Solidarität der Arbeitsbesitzer mit den Arbeitslosen und von der Notwendigkeit der Lohnzurückhaltung gesprochen. Die katholische Kirche fordert zum Solidaritätspakt auf. Meine Damen und Herren, wir brauchen so etwas wie einen moralischen Rückenwind. Eine Politik, die Geschenke verteilt, ist populär. Die braucht keinen moralischen Rückenwind. Wir brauchen für die Politik, die gegen Gewohnheiten geht, für eine Politik, die unkonventionell ist, für eine Politik, die nicht bequem ist, moralischen Rückenwind.
Ich zitiere einen Mann, der für mich eine hohe moralische Autorität ist und der in der Arbeitnehmerbewegung über jeden Verdacht erhaben ist: Nell-Breuning. Er hat von viel mehr gesprochen. Er hat nicht von Lohnpause, sondern von Lohnverzicht gesprochen. Er hat davon gesprochen, daß man Arbeit und Lohn teilen müsse. Ich bin sicher, daß sich die Einsicht weiter herumgesprochen hat, daß es nicht einfach so weitergeht wie bisher. Deshalb bin ich Optimist. Ich bin ein grenzenloser Optimist.
Ich glaube, daß die Mehrheit der Bevölkerung die Notwendigkeit der Opfer, die Bereitschaft zur Gemeinsamkeit versteht. Deshalb lade ich alle ein, auch die, mit denen gestritten werden muß, einen Strich unter die vergangenen Auseinandersetzungen zu ziehen und an den Tisch der Vernunft zu kommen, Gewerkschaften, Arbeitgeber und Regierung: Laßt uns miteinander reden, wie wir den Arbeitslosen helfen können.
Als nächster Redner hat das Wort Herr Abgeordneter Rappe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister, Sie haben heute wieder eine Rede gehalten,
die etwa der Rede gleicht, die Sie im Rahmen der Debatte über die Regierungserklärung am Freitagvormittag gehalten haben. Es war eine Rede mit dem notwendigen, Ihnen eigenen Schuß Demagogie. Das gibt ja dann auch Beifall von Ihren Freunden, aber es trägt möglicherweise nicht sehr zur Sache bei.
Nun, meine Damen und Herren, ich will zunächst einmal ein paar Stichworte aufnehmen und versuchen, dazu ein paar Gedanken zu entwickeln — und das nicht nur, wie Sie wissen, Herr Minister, in der Funktion, in der ich hier stehe, sondern auch noch im Rahmen der anderen Verantwortung.Sie sind — das muß man, glaube ich, vorausschikken — der erste Arbeitsminister, der bedauerlicherweise versucht, zwischen Gewerkschaftsmitgliedschaft in den Betrieben — vielleicht sogar der Arbeitnehmerschaft — und ihren gewählten Funktionären zu trennen.
Ich finde, meine Damen und Herren, dies sollten wir einmal in Ruhe durchdenken. Vielleicht gibt es ein paar Gedanken, die uns einander näherbringen.Die Kundgebungen, die der Deutsche Gewerkschaftsbund durchgeführt hat und die hier nun fast jeder Redner von Ihnen kommentiert, sind zunächst einmal ganz vernünftig und demokratisch vorbereitete und abgelaufene Demonstrationen — im Gegensatz zu manchen anderen im Lande.
Sie sind Ausdruck einer demokratisch und politisch verantwortlichen Organisation.Weiter: Diese Kundgebungen — das ist richtig, das könnten wir vielleicht auch einmal aus dem Feuer nehmen — sind Anfang September in einer DGB-Bundesausschußsitzung geplant worden, bei der ich anwesend war. Sie sind damals ausweislich des Protokolls des Bundesausschusses für drei Problembereiche festgelegt worden:
erstens an die Adresse der alten Koalition wegenbestimmter Koalitionskompromisse, zweitens an
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7800 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982
Rappe
die Adresse der Landesregierungen, sprich: Bundesratsmehrheit, drittens zur Mobilisierung der Mitbestimmungskampagne des DGB unter dem Stichwort „Mehr Mitbestimmung", auch als Antwort der Gewerkschaften mit Blick auf die Krisenbekämpfung.
Diese drei Punkte sind festgehalten worden; sie sind Gegenstand der geplanten Kundgebungen gewesen.Auch fand ein Gespräch des DGB-Bundesvorstandes mit der SPD-Bundestagsfraktion am 2. September statt. Vor weiteren allgemeinen Verurteilungen der Gewerkschaften würde ich doch empfehlen, sich einen bestimmten Absatz des Protokolls über dieses Gespräch vor Augen zu führen. Da heißt es nämlich:Beide Seiten erkennen an, daß in Zeiten geringeren Wachstums auch der Sozialetat nicht von notwendigen Kürzungen ausgenommen werden kann. Die sozialökonomische Krise kann, insbesondere bei einer damit einhergehenden Verschärfung des innenpolitischen Machtkampfes, aber nur bewältigt werden, wenn eine ausgewogene, gerechte Verteilung der Lasten erreicht wird. Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion wird auf der Basis der am 30. Juni 1982 gebilligten Eckdaten, die durch einen Kompromiß von SPD und FDP zustande gekommen sind, den Haushaltsplan insbesondere unter diesem Aspekt der sozialen Gerechtigkeit prüfen und beraten.Das war Gegenstand der Entscheidung und Ergebnis des Gesprächs zwischen SPD-Bundestagsfraktion und DGB-Vorstand. Mit uns, insbesondere mit denjenigen Sozialdemokraten, die gewerkschaftlich engagiert sind, braucht also niemand darüber zu diskutieren, daß es in der Bundesrepublik weltwirtschaftliche Schwierigkeiten gibt, mit einem technologischen Prozeß einhergehend, der j a auch Arbeitsplätze kostet. Das ist doch eine Sache, über die wir nicht zu streiten brauchen.Der Streitpunkt war die Frage, wie man denn die Krise bekämpft und was wir an Krisenbekämpfungsmaßnahmen von einer Bundesregierung erwarten und verlangen. Sie kennen doch die Stellungnahmen des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Wir haben jede Krisenbekämpfungsstation, von 1974 an bis Mitte 1982, auch über den Weg höherer Staatsverschuldung und notwendiger Sparmaßnahmen auf verschiedenen Sektoren, voll gebilligt.Ich will Ihnen als Sozialdemokrat noch einmal sagen: Die Staatsverschuldung, die die alte Bundesregierung eingegangen ist,
war kein Fehler, sondern gewollte Politik einer bestimmten Strategie der Krisenbekämpfung.
— Ruhig Blut! Sie können sich mit mir doch ganzruhig unterhalten. Das muß doch nicht durch Zwischenrufe geschehen. Machen Sie doch weiterhin Debattenbeiträge!Die zweite Frage, die uns trennt, ist doch die, wie denn die Staatsverschuldung zurückgezahlt werden muß, und zwar unter Beachtung des Art. 115 des Grundgesetzes. Da aber — das weiß ich — juckt es natürlich Konservative, weil es da um die Frage von Privatquote und Sozialstaatsquote geht. Das ist mir völlig klar. Aber Sie können doch nicht erwarten, daß die Gewerkschaften oder diejenigen Sozialdemokraten, die gewerkschaftliche Positionen vertreten, diesen Zustand in gleicher Weise bejammern, wie Sie es aus ganz anderen, konservativen finanzpolitischen Überlegungen tun.
Herr Kollege Rappe, erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Nein, die erlaube ich nicht. Ich habe leider nur noch kurze Zeit.Herr Arbeitsminister, an diese Einschätzung, die Sie aus gewerkschaftlicher Sicht sehr wohl kennen, wollte ich in aller Ruhe und Sachlichkeit eine Bemerkung anknüpfen, die für Sie, aber auch für viele Ihrer Freunde, wie ich glaube, vielleicht notwendig ist. Ich denke, Sie sollten auch in einer schwierigen Zeit, in der Sie die Regierungsverantwortung haben und in der man manche Ihrer Stellungnahmen so oder so herum zu Koalitionskompromissen binnen sechs Wochen nicht mehr wiedererkennt, auch in der Sache, nicht in den Fehler verfallen, die Gewerkschaften anzugreifen und zu bekämpfen, auch nicht die Gewerkschaftsfunktionäre. Denn ich sage Ihnen als Gesamtbeurteilung voraus: Wir benötigen zur Krisenbewältigung alle miteinander starke Gewerkschaften, die auch in der Lage sind, einen Puff auszutragen, und die dies auch vermitteln können.
Sie sollten — oder Sie reiten die falschen Pferde — alles vermeiden, was danach riecht, als könne man gewählte Funktionäre von der Basis abtrennen.
Das könnte nicht nur Ihrer kurzen Regierungszeit, sondern dem gesamten System schweren Schaden zufügen.
Lassen Sie mich, Herr Kollege Blüm, an diese Feststellung noch einen zweiten Gedanken knüpfen, bei dem ich mich sehr erstaunt fühle; das ist sogar schon schwach ausgedrückt. Sie und Ihre Freunde appellieren, gerade im Rahmen der gewerkschaftspolitischen Auseinandersetzung um die Regierungsvorlagen, an einheitsgewerkschaftliche Gedanken. Sie wissen von mir und ich weiß von Ihnen, daß wir auf der Basis von Einheitsgewerkschaft — wenn wir es so verstehen, daß wir die Paten an der Wiege der Einheitsgewerkschaft waren — völlig im Gleichklang sind. Ich will Ihnen aber auch sagen, daß Sie mich nie, auch nicht in
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meiner anderen Funktion, auf Ihrer Seite finden werden, wenn Sie glauben, in konservativem Staatsverständnis — Leistungsprinzip, gepaart mit Subsidiarität — von sozialrechtlichen und sozialstaatlichen Grundsätzen abgehen zu sollen. Wenn Sie diesen Kurs einschlagen und dann an die Einheitsgewerkschaft appellieren, werden wir ihn angreifen; denn es gibt keinen Zweifel darüber, daß an der Wiege der Einheitsgewerkschaft fortschrittliche Ideen, Ideen der Umstrukturierung der Gesellschaft und Ideen der Mitbestimmung, nicht aber konservatives Staatsverständnis standen.
Insofern trifft Ihr dauernder Appell an die Einheitsgewerkschaft ins Leere. Wir werden ihn — das will ich Ihnen so offen sagen —, so entwickelt, so vorgetragen und so mit praktischer Politik verbunden, nicht respektieren können. Sie werden damit auch im DGB keinen Beifall erreichen, möglicherweise nicht einmal bei Ihren eigenen Freunden — auch dann nicht, wenn Herr Scharrenbroich ab und zu mal Ihre Freunde zusammenfaltet.
Noch einen anderen Punkt: Sie argumentieren, daß es bei dem, worum es in der Auseinandersetzung gehe, auch um Dinge gehe, die schon die alte Koalition in ihren Paketen gehabt habe, und daß dies insofern gar keine neue Sache sei. Herr Kollege Blüm, was uns, was die Arbeitnehmer oder die Wähler, die wir zu vertreten haben — nehmen Sie wegen meiner auch die Gewerkschaftsmitglieder —, an dem, was aus Ihrem Hause und auch aus manchem anderen kommt, so sehr beunruhigt, ist, wie auch davor, nicht die eine oder andere Maßnahme eines Koalitionskompromisses — da brauchen Sie mit mir und uns nicht zu diskutieren; auch wir wissen, was Koalitionskompromisse sind. Es kommt vielmehr auf die Bündelung von Maßnahmen und die Beantwortung der Frage, ob diese Bündelung einseitig ist, an.
Alle Maßnahmen, die Sie vorschlagen
— ich kann Ihnen einen langen Katalog verlesen, ich werde das auch gleich, so lange die Zeit reicht, tun —, treffen die Gruppen mit Einkommen etwa unter 2 000 DM monatlich. Ich kenne keine Maßnahme — ich weiß zwar, daß eine dabei ist, aber die ist getürkt —, die auf Gruppen mit Einkommen über diese Grenze zielt. Es ist die Bündelung, die uns so sehr belastet.Aus der Sicht der Gewerkschaften will ich Ihnen, allerdings auch an die Adresse der Arbeitgeber, sagen: Alles, was Sie bis zum 17. Dezember machen werden — ich gehe jetzt nicht auf jede Einzelheit ein, weil das in diesem Hause jedem bekannt ist —, kann in fünf Tarifbewegungen nicht wieder hereingeholt werden. So einseitig ist die Belastung für Bezieher von Einkommen um die 2 000 DM monatlich.
Alles, was Sie auf diesem Sektor tun, muß folgerichtig Auswirkungen auf die Kaufkraft haben. Ihr und mancher anderer Ihrer Redner Hinweis, daß das, was auf dem Binnenmarkt nicht abgesetzt werden könne, im Außenhandel abgesetzt werden könne, entbehrt der Grundlage; denn jeder weiß, daß das nicht geht — das ist die Krux —, weil die anderen Länder nicht zahlungsfähig sind. Was Sie jetzt mit Ihrer Mehrheit machen, führt zu Kaufkraftverlust und zu einer weiteren Umdrehung des Rades nach unten.
Darüber gibt es überhaupt keinen Zweifel. Da helfen auch keinerlei Bekenntnisse. Das ist ein ganz normaler Vorgang. Und Sie müssen wissen, was Sie tun.In diesem Zusammenhang will ich auch eine Bemerkung dazu machen, was uns, was — wenn Sie so wollen — die Gewerkschaftsmitglieder und die Arbeitnehmer in den Betrieben so sehr beunruhigt. Das ist das, was wir Bekämpfung der Arbeitslosigkeit nennen und was Sie vorgeben, auch tun zu wollen.
— Doch: Vorgeben, tun zu wollen, weil es mit dieser Methode des Kaufkraftverlustes nicht geht.
Einen anderen Ersatz können Sie dafür nicht anbieten.Nun will ich Ihnen sagen, wie wir Arbeitslosigkeit sehen und warum wir an dieser Stelle kompromißlos auch mit unseren Freunden in den Gewerkschaften diese Politik bekämpfen werden.
Arbeitslosigkeitsbekämpfung, Herr Kollege, ist von der alten Bundesregierung gegen Ihren Widerstand seit 1974 gemacht worden. Daß die Bedingungen in der Bundesrepublik auch für die Arbeitnehmer leichter waren als in anderen Ländern, war der Erfolg der alten und selbstverständlich nicht der neuen Bundesregierung. Da ist doch gar kein Zweifel.
Ich sage Ihnen dazu folgendes. Für denjenigen, der davon betroffen wird und arbeiten will — wir wollen einmal Diffamierungskampagnen aus Ihren Bereichen und Kreisen gegenüber Arbeitslosen draußen lassen —,
ist Arbeitslosigkeit Entwürdigung. Eine Arbeitslosigkeit ab einer bestimmten Größenordnung und eine Politik, die diese Tendenz verschärft — das ist Ihre Politik —, führt zu weiterer Arbeitslosigkeit.
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7802 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982
— Nein, Sie werden die Zahlen sehen, und an den Zahlen werden wir Ihre Politik messen. Ich sage Ihnen, daß Sie damit auch außerhalb des Hauses nicht nur auf keinen Beifall treffen werden, sondern Sie werden die geschlossene Front der Arbeiterbewegung gegen sich haben;
denn Arbeitslosigkeit ab einem bestimmten Maß führt zur Entwürdigung der Arbeiterbewegung in einem demokratischen Rechtsstaat. Darum wird es gehen.
Für uns steht Arbeitslosigkeitsbekämpfung im Mittelpunkt allen Geschehens.
— Entweder haben Sie überhaupt keinen Begriff von weltwirtschaftlichen Krisensituationen, oder Sie reden bewußt das Gegenteil. Das ist doch der Tatbestand.
Ich nehme es Ihnen ja nicht übel, aber ich muß sehr bedauern, daß Sie über volkswirtschaftliche Zusammenhänge, über Kreislauf- und Kaufkraftvorgänge keinerlei Möglichkeiten haben, dies übertragen zu können.
Ich sage Ihnen: Die Antriebskraft unseres politischen Handelns, die Darstellung gewerkschaftlicher Auseinandersetzungen kommt als Antwort auf Ihre konservative Politik wegen der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit aus unserer Sicht und des vorhandenen Mangels bei Ihnen, dieses Problem überhaupt verarbeiten und auch in praktische Politik umsetzen zu wollen.
Lassen Sie mich zum Schluß folgendes sagen. Ihre vom Kabinett, Herr Bundesarbeitsminister, am ersten Tag der Regierung vorgetragene und für die Öffentlichkeit dargestellte 5%ige Gehaltssenkung sollte ja wohl im Volke einen allgemeinen Sinn für das Sparen ergeben. Es ist so doppelbödig — Herr Minister, Sie merken das nicht einmal —, wenn Sie das Ärzteeinkommen und einen Stopp des Ärzteeinkommens mit einer Rente von 700 oder 800 DM vergleichen, daß man sich wundert, daß Ihnen das Wort nicht auf der Zunge hängenbleibt, daß Sieüberhaupt einen solchen Vergleich in den Mund nehmen.
Da wollen Sie noch erklären, dies sei vergleichbar. Ich sage Ihnen: Das begreift kein Gewerkschaftsfunktionär und kein Gewerkschaftsmitglied. Da werden wir uns in voller Übereinstimmung befinden.
Die Rentenerhöhung soll verschoben werden, und dann machen Sie daraus eine Gleichung mit zwei mal zwei gleich vier. Sie sagen: Weil ich die Rente kürze, müßt ihr eine halbjährige Lohnpause machen. Ich sage Ihnen, Herr Minister: Sie müssen nicht, und deswegen ist das auch keine Gleichung, die die Tarifvertragspartei Gewerkschaft annimmt. Wir Sozialdemokraten oder die Gewerkschaften zwingen Sie doch nicht, eine Rentenpause einzulegen. Wieso kommen Sie dazu, eine Gleichung mit zwei mal zwei gleich vier zu machen und zu sagen: Deshalb muß von den Tarifvertragsparteien eine halbjährige Pause eingelegt werden.
Kaufkraftverlust dreht die Krise weiter nach unten. Von keinem Arbeitnehmer, der auch nur halbwegs volkswirtschaftliche Zusammenhänge versteht, werden Sie dafür ein Ja hören, sondern es wird eine eindeutige Frontstellung geben. Beklagen Sie sich nicht! Es gibt keinen Grund zur Klage. Sie sind so, wie Sie sind. Sie wollen eine solche Politik. Dann nehmen Sie auch hin, daß es eine eindeutige Ablehnung dieser Politik seitens der Gewerkschaften geben wird! — Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Müller .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das scheint jetzt eine Runde der Gewerkschafter zu sein. Herr Kollege Rappe, ein Wort zu Ihren Ausführungen, die Sie zu den Kundgebungen des Deutschen Gewerkschaftsbundes gemacht haben. Niemand ist der Meinung, daß die deutschen Gewerkschaften solche Kundgebungen nicht durchführen dürfen. Niemand bestreitet den Gewerkschaften das Recht zum Protest. Es geht auch nicht um die Kundgebungen an sich, sondern wogegen wir uns und ich mich als Gewerkschafter wehre, ist der unverschämte Ton, der auf diesen Kundgebungen teilweise angeschlagen wird.
Ich habe schon auf Gewerkschaftskongressen, auf denen ich für meine Fraktion und Partei das Wort ergriffen habe, von der Vergeßlichkeit einiger Leute gesprochen, die offensichtlich 13 Jahre lang gegenüber der alten Regierung Protest im stillen Kämmerlein geübt haben und auf diesen Kundge-
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bungen jetzt aufgestaute Aggressionen loswerden wollen.
Weil der Kollege Rappe offenbar ebenfalls zu jenen gehört, die die Entwicklung der letzten Jahre gern vergessen machen wollen, lassen Sie mich noch einmal auf die Position eingehen, die wir in den drei Bereichen der klassischen Sozialversicherung vertreten. Mit den vorliegenden Ergänzungen und Nachträgen zum Haushalt 1982 und 1983 und einem umfassenden Haushaltsbegleitgesetz macht die von Helmut Kohl geführte Bundesregierung nun den ersten entscheidenden Schritt zur Überwindung der schwersten Wirtschafts-, Finanz- und Beschäftigungskrise in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Diese Krise drohte unser soziales Sicherungssystem in seinen Grundfesten zu erschüttern. Wir, die Union, haben schon seit Jahren warnend auf die Gefahren einer galoppierenden Staatsverschuldung hingewiesen, auf ein unzureichendes Wirtschaftswachstum und auf eine dramatisch ansteigende Arbeitslosigkeit. Aber das Ergebnis des jüngsten Kassensturzes übertrifft unsere schlimmsten Befürchtungen.
In der Sozialpolitik treten wir ein desolates Erbe an.
— Herr Kollege, solche Formulierungen — er könne nicht einmal buchstabieren — fallen auf Sie zurück. Das muß ich Ihnen sagen.
Ich gehöre diesem Hause seit 1961 an, und ich habe stets auf dem Gebiet der Sozialpolitik gearbeitet. Ich empfinde das, was Sie gesagt haben, als eine Beleidigung.
Herr Kollege Müller, ich habe den Eindruck, der Kollege Löffler hat Sie als Redner nicht gemeint.
Wir haben 1969 bei unserem Ausscheiden aus der Regierungsverantwortung im Bereich der Sozialversicherung volle Kassen hinterlassen. Heute sind die Kassen leer, die Rücklagen der Sozialversicherung sind abgeschmolzen.
Das Netz der sozialen Sicherheit ist zum Zerreißen gespannt.
Herr Kollege Müller, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lutz?
Nein, ich möchte keine Zwischenfragen zulassen.Millionenarbeitslosigkeit und Rezession haben schwere Schäden am sozialen Sicherungssystemhinterlassen. Die Rentenversicherung, die wichtigste Säule unseres sozialen Sicherungssystems, verfügte 1969 noch über eine Rücklage von acht Monatsausgaben. Heute, am Ende der 13jährigen SPD-Regierungsverantwortung, steht die Rentenversicherung trotz vieler von Ihnen zu verantwortender willkürlicher Eingriffe vor akuten Liquiditätsschwierigkeiten. Nach Berechnungen der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte wäre die Rentenversicherung bei Verwirklichung der Maßnahmen, wie sie von der SPD in der soganannten Operation '83 vorgesehen waren, bei keineswegs pessimistischen Annahmen — z. B. Lohnsteigerung 3,5% und 2,2 Millionen Arbeitslose — bereits 1983 in ernste finanzielle Bedrängnis geraten.
1984, meine Damen und Herren, hätte die Rücklage nur noch 0,4 Monatsausgaben betragen.
Für 1986 weist die Berechnung der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte für Ihr Konzept sogar ein Defizit von 0,7 Monatsausgaben aus.Ich stelle fest: Wir haben die Rentenversicherung 1969 mit einem dicken Finanzpolster übergeben. Diese Reserven hat die SPD in 13 Jahren Regierungsverantwortung verspielt,
wie es die Zahlen der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte beweisen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie mich meine Ausführungen einen Augenblick unterbrechen zur Verlesung eines Briefs, der auf Grund der Debatte gestern und heute morgen notwendig zu sein scheint. Der Präsident des Deutschen Bundestags hat an den Vorsitzenden der Fraktion der CDU/CSU, Herrn Dr. Alfred Dregger, im Hause, folgenden Brief geschrieben:Sehr geehrter Herr Kollege Dr. Dregger!Auf Grund der in die Öffentlichkeit getragenen Auseinandersetzung um die wirtschaftlichen Tätigkeiten des Abgeordneten Dr. Schwarz-Schilling, Bundesminister für das Post- und Fernmeldewesen, habe ich veranlaßt, daß die Angriffe gegen ihn geprüft wurden.Die Prüfung hat ergeben, daß ein Verstoß gegen die Verhaltensregeln nicht erkennbar ist. Die Mitglieder des Präsidiums teilen das Ergebnis der Prüfung.Mit freundlichen GrüßenStücklen
Ich glaube, ich brauche hierzu keinen Kommentar abzugeben.
Ich komme zurück zu den Fragen der Rentenversicherung. Die neue Regierung steht jetzt vor der
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schwierigen Aufgabe, die Rentenreform von 1957 an die veränderten wirtschaftlichen und demographischen Bedingungen anzupassen, damit sie auch in Zukunft Bestand hat. Die Rentenversicherung muß auf eine solide und langfristig tragbare finanzielle Grundlage gestellt werden. Dies ist die erste und die wichtigste Voraussetzung, um das durch die Entwicklung der letzten Jahre zu einem großen Teil verspielte Vertrauen der Rentner und Versicherten in die Rentenversicherung wiederherzustellen.Wir, die CDU/CSU, unterstützen die Bundesregierung uneingeschränkt bei ihren Anstrengungen, finanzielle Solidität wiederzugewinnen. Diese Mammutaufgabe ist nicht von heute auf morgen zu meistern. Die jetzt beschlossenen Sofortmaßnahmen zur Rettung der Rentenversicherung vor dem finanziellen Kollaps, insbesondere die halbjährige Atempause bei der jährlichen Rentenanpassung, sind so angelegt, daß Reformwege nicht verbaut und das bewährte System der bruttolohnbezogenen dynamischen Rente auf Dauer erhalten bleibt. Wir streben eine strenge Beitragsbezogenheit der Renten an und werden schon in Zukunft Überlegungen anstellen, wie die Rentenversicherung von Fremdleistungen entlastet werden kann.Ich bin der festen Überzeugung, daß wir nach einer Durststrecke die Rentenversicherung in Zukunft aus den Wirren der Wirtschafts- und Konjunkturentwicklung und aus den Turbulenzen der öffentlichen Haushalte heraushalten können. Wir wollen das System der bruttolohnbezogenen dynamischen Rente so gestalten, daß wieder Sicherheit, Verläßlichkeit und Stetigkeit für die Versicherten und Rentner gegeben sind.Ein zweiter Problemkreis. Durch die von ihr zu verantwortende Millionenarbeitslosigkeit hat die SPD die Arbeitslosenversicherung zu einem Faß ohne Boden gemacht.
Von 1970 bis heute mußte allein in der Arbeitslosenversicherung die gigantische Summe von zirka 200 Milliarden DM ausgegeben werden. Im Oktober, dem Monat des Regierungswechsels, waren 1,92 Millionen Menschen ohne Arbeit. Damit nicht genug! Insgesamt haben im Herbst 1982 über 2,7 Millionen Menschen unmittelbar unter den Arbeitsmarktproblemen zu leiden; denn weitere 828 000 Arbeitnehmer müssen kurzarbeiten. Das sind mehr als doppelt so viel wie vor Jahresfrist und weit mehr als viermal so viel wie im September 1980. Gleichzeitig sank die Zahl der gemeldeten offenen Stellen innerhalb eines Jahres von 154 000 auf den neuen Tiefstand von 69 800. Ein weiterer Anstieg der Arbeitslosenzahl auf rund 2,25 Millionen im Jahre 1983 erscheint nach übereinstimmender Auffassung aller Sachverständigen nahezu unausweichlich.So also, meine Damen und Herren, sieht die Hinterlassenschaft einer 13jährigen Regierungszeit der SPD aus.
Massenarbeitslosigkeit schafft für die betroffenen Menschen soziale und psychische Not. Der deutschen Volkswirtschaft bringt sie Milliardenverluste.Die katastrophale Entwicklung auf dem deutschen Arbeitsmarkt zeichnete sich aber seit vielen Jahren ab. Nach der übereinstimmenden Auffassung von Arbeitsmarktexperten handelt es sich hier um die bestprognostizierte Krise dieses Jahrhunderts.Der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt hatte das Problem durchaus erkannt. Wirksame Gegenmaßnahmen wurden aber nicht ergriffen. Die SPD und ihr damaliger Kanzler hatten sich vielmehr darauf beschränkt, das Problem durch Hinweis auf noch schlimmere Verhältnisse in anderen Ländern zu verharmlosen.Den deutschen Arbeitslosen müssen diese Ausflüchte wie eine Verhöhnung ihrer Person und eine Mißachtung ihres Schicksals vorgekommen sein.
Denn für die überwältigende Mehrheit der Arbeitslosen ist Arbeit eine schmerzlich vermißte Form der Selbstverwirklichung. Sie kann durch keine noch so hohe Arbeitslosenunterstützung aufgewogen werden.Arbeitslosigkeit ist zudem sehr teuer. Sie bürdet dem einzelnen und der Gesellschaft enorm hohe Kosten auf. So hat beispielsweise ein Arbeitnehmer mit durchschnittlichem Einkommen, der ein ganzes Jahr arbeitslos ist, fast 10 000 DM Einkommensverlust zu ertragen. 2 Millionen Arbeitslose kosten den Staat an Unterstützungszahlungen sowie an Steuer-und Beitragsausfällen rund 40 Milliarden DM im Jahr.Die Aufgabe, Millionenarbeitslosigkeit mit immer noch steigender Tendenz zu stoppen und abzubauen, ist die schwerste Hypothek, die der neuen Bundesregierung gegeben ist.
CDU/CSU und FDP haben diese Herausforderung angenommen. Wir werden den Haushalt 1983 konsequent auf die Förderung der Beschäftigung und auf den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit ausrichten.
Das Haushaltsbegleitgesetz 1983 enthält neben einer Umstrukturierung der öffentlichen Haushalte eine Fülle von Einzelimpulsen im Steuerbereich und im Wohnungsbaubereich, die zu mehr Investitionen in der Privatwirtschaft und damit zum Abbau der Arbeitslosigkeit führen werden.
Diese Umstrukturierung der öffentlichen Haushalte zur Erhöhung der Investitionsquote und zur Verringerung der konsumtiven Ausgaben muß nach der Wahl im März 1983 konsequent fortgesetzt werden.
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Zum Abbau der Arbeitslosigkeit gibt es eben keinen besonderen Weg, keinen, wie Norbert Blüm gesagt hat, Königsweg, sondern nur eine beharrliche und verläßliche Politik der tausend kleinen Schritte.Auch in der gesetzlichen Krankenversicherung, dem dritten wichtigen Bereich unseres sozialen Sicherungssystems, stehen wir vor einer Kosten- und Beitragsexplosion als Erbe sozialdemokratischer Regierungsverantwortung.
Seit 1970 sind die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung von 23,8 Milliarden DM auf 91,9 Milliarden DM in 1981 explosionsartig nach oben geschossen. Das ist ein Anstieg um 386 %. Das Bruttosozialprodukt ist in diesem Zeitraum dagegen um 228 % gestiegen. Trotz Entlastung durch die arbeitsrechtliche Lohnfortzahlung sind die Beiträge in diesem Zeitraum von 8 % auf heute 12 % gestiegen.Alle von der alten Bundesregierung in den letzten Jahren ergriffenen Maßnahmen haben sich offensichtlich als zu schwach und unwirksam erwiesen, um den generellen Trend der Kostenexplosion zu stoppen. Bei allen — ich betone: allen — Beteiligten im Gesundheitswesen ist besonders in den letzten zehn Jahren das Kostenbewußtsein immer mehr verlorengegangen.
Dieser Trend muß nun ernsthaft und entschieden gestoppt werden.Die Bundesregierung hat erste Schritte in diese Richtung vorgeschlagen. Diesen Maßnahmen müssen im März des kommenden Jahres weitere folgen. Wir stehen vor der Aufgabe, mittelfristig das Gesundheitswesen so zu reformieren, daß alle hieran Beteiligten ein unmittelbares Eigeninteresse an Sparsamkeit haben. Eine langfristige Kostendämpfung ist voraussichtlich nur möglich, wenn jeder Versicherte die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung nur dann in Anspruch nimmt, wenn es wirklich notwendig ist. Die Selbstverantwortlichkeit des einzelnen muß in Zukunft stärker aktiviert werden. Mehr Selbstverantwortung, mehr Subsidiarität im Krankenversicherungswesen ist notwendig und soll u. a. durch die Eigenbeteiligung beim Krankenhausaufenthalt und bei Kuren erreicht werden.Angesichts der den Leistungsempfängern unseres sozialen Sicherungssystems zugemuteten Opfer erwarten wir, daß sich im Gegenzug alle Anbieter von Gesundheitsleistungen: Ärzte, Pharmaindustrie, Krankenhäuser mit Honoraranpassungswünschen und Preiserhöhungen im nächsten Jahr strikt zurückhalten.
Noch mehr als beim Patienten muß auf der Anbieterseite des Gesundheitswesens gespart werden.Diese vernichtende Bilanz in den drei Kernbereichen der sozialen Sicherung nach 13 Jahren Regierungsverantwortung der SPD zeigt, daß die Sozial-politik bei der SPD in denkbar schlechten Händen war.
1969 hat die SPD so getan, als beginne mit ihrer Regierungsverantwortung das goldene soziale Zeitalter.
Heute stehen wir vor einem sozialpolitischen Scherbenhaufen, denn die Fundamente unserer sozialen Sicherung sind in diesen 13 Jahren schwer erschüttert worden.
Die Konsolidierung unseres sozialen Sicherungssystems ist jetzt derart vordringlich geworden, daß wir gewissermaßen zu einem Neuanfang gezwungen sind. Die Wechselwirkung von wirtschafts- und finanzpolitischen Ursachen und sozialpolitischen Auswirkungen hat uns jetzt eingeholt. Sie zwingt uns zum Kassensturz und zu einer umfassenden Neuorientierung. Wir stehen vor der Aufgabe, auch in Zeiten knapper werdender Mittel die Grundlagen einer sozial gerechten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung auf Dauer zu sichern. Gerade in Zeiten knapper Kassen steht das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit, d. h. die soziale Komponente der Marktwirtschaft, vor der eigentlichen Bewährungsprobe.Wir haben mit Genugtuung zur Kenntnis genommen, daß die neue Bundesregierung in der Sozialpolitik die Prinzipien der Solidarität und der Subsidiarität mehr in den Vordergrund stellen will.
Konkret auf das soziale Sicherungsnetz bezogen, heißt dies: Wir werden die Selbstverwaltung stärken, das soziale Sicherungssystem entpolitisieren und den Versicherungsgedanken wieder stärker in den Vordergrund rücken, um das soziale Sicherungsnetz zu erhalten und weiterzuentwickeln.
In der Endphase der Regierungsverantwortung der SPD legten unter dem Druck der Verhältnisse auch führende Sozialdemokraten — ich glaube: leider verspätet — eine bemerkenswerte Einsicht in die Notwendigkeit eines Kurswechsels in der Sozialpolitik an den Tag. So verkündete der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt am 30. Juni 1982 vor der SPD-Fraktion — ich wiederhole das hier —, daß noch sehr viel tiefer in Sozialleistungen hineingeschnitten werden müsse. Auch dem SPD-Vorsitzenden Brandt dämmerte schließlich die Erkenntnis, daß eine Reform der Reformen notwendig sei. Angesichts dieser späten Einsicht führender Sozialdemokraten scheint es mir jetzt pure Heuchelei zu sein, wenn die SPD nach dem verdienten Machtverlust jetzt von Klassenkampf von oben nach unten spricht.
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Es ist ein Gebot der sozialen Gerechtigkeit, daß alle Bürger entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit an den Sanierungsmaßnahmen beteiligt werden. In diesem Zusammenhang begrüße ich es besonders, daß die neue Bundesregierung diese Investitionsanleihe beschlossen hat.
Auch bei der Neuregelung des Kindergeldes haben wir die Grundsätze der sozialen Symmetrie beachtet und eine generelle Kürzung mit der sozialistischen Heckenschere vermieden.
Familien mit durchschnittlichem oder unterdurchschnittlichem Einkommen haben keinerlei Abstriche am Kindergeld zu befürchten. Lediglich die Besserverdienenden, die bei zwei Kindern rund 63 000 DM, bei drei Kindern 74 000 DM verdienen, müssen mit zumutbaren Kürzungen rechnen.
Ich komme zum Schluß. Aus aktuellem Anlaß will ich noch einmal zu den Gewerkschaften zurückkehren. Ich appelliere an meine Kollegen in den Gewerkschaften, unseren Weg zum Abbau der Arbeitslosigkeit zu unterstützen, wie sie es immer auch in unseren Gesprächen mit der Fraktion und der Partei gesagt haben.
Ich weiß, daß wir den Gewerkschaften und den von ihnen repräsentierten Arbeitnehmern Opfer zumuten. Aber die größte Zumutung ist eine Millionenarbeitslosigkeit.
Die großen wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Aufgaben, vor denen wir gemeinsam stehen, können nur gelöst werden, wenn die Bundesregierung, die sie tragenden Parteien und die Gewerkschaften vernünftig und partnerschaftlich im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit zusammenarbeiten.
Ungezügelte Polemik und Wortradikalismus, wie sie von einzelnen Funktionären und Publikationen aus dem Gewerkschaftslager derzeit zu beobachten sind, leisten keinen Beitrag zur Überwindung der Krise.
Ich darf hier vielleicht stellvertretend für viele Entgleisungen aus einem besonders üblen Pamphlet der IG Metall zitieren, das zum demokratischen Regierungswechsel offensichtlich Assoziationen zur Machtergreifung am 30. Januar 1933 erwekken möchte. In der Zeitung der IG Metall heißt es wörtlich:Kohl und Strauß bemächtigen sich mit einem Schlag gegen die Demokratie der Macht.
Diese sprachlichen Exzesse gefährden in hohem Maße das Prinzip der Einheitsgewerkschaft, Kollege Rappe.
Sie stellen eine Provokation von Millionen Gewerkschaftsmitgliedern dar, die uns von der CDU/CSU seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland bei Wahlen ihre Stimme gegeben haben und dies auch weiter tun werden.
Der törichte Versuch, den neuen Arbeits- und Sozialminister Norbert Blüm durch bösartige und ehrverletzende Angriffe bei diesen Arbeitnehmern und Gewerkschaftern zu diskreditieren, ist von da her von vornherein zum Scheitern verurteilt.
Konrad Adenauer, der erste Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, und Hans Böckler, der erste Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, haben einst Maßstäbe gesetzt für respektvollen und fairen Umgang zwischen Regierung und Gewerkschaften.
Den jetzt Verantwortlichen sei dieser Stil zum Wohle unseres Landes und zur Nachahmung empfohlen. — Ich danke Ihnen.
Ich erteile dem Abgeordneten Cronenberg das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der aufmerksame Beobachter dieser Debatte — nicht nur des sozialpolitischen Teils — wird den gleichen Eindruck haben wie ich: Er wird ein wenig verwundert sein. Bedauerlicherweise wird nämlich von den Kollegen der SPD vieles abgelehnt, was gestern noch gutgeheißen, mitgetragen und akzeptiert wurde. Und sie erhalten dafür Beifall. Dankenswerterweise wird von der CDU/CSU nun nicht weniges gutgeheißen, mitgetragen und akzeptiert, was sie gestern noch abgelehnt hat. Verantwortung fördert offenbar die Einsicht, und Opposition verführt offenbar zur Uneinsichtigkeit.
Kontinuität in diesem Punkt ist außerordentlich bedauerlich.
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CronenbergIch werde nun versuchen, unsere Position, die Kontinuität unserer Argumentation hier zu verdeutlichen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lutz?
Aber selbstverständlich. Vizepräsident Windelen: Herr Abgeordneter Lutz.
Herr Kollege Cronenberg, da Sie gerade die Debatte gewichten und wir vom vorigen Redner sehr eindrucksvoll dargestellt bekommen haben, wie Sie und wir angeblich die Sozialfinanzen ruiniert hätten, können Sie meinem Gedächtnis nachhelfen: Sind nicht alle diese kostenträchtigen Gesetze von der Mehrheit des ganzen Hauses getragen worden, quer durch alle Parteien?
Verehrter Herr Kollege Lutz, Sie bringen mich mit Ihrer Zwischenfrage in eine große Verlegenheit. In der Tat wollte ich später auf den Gesichtspunkt hinweisen, daß die gemeinsame Verantwortung des Hauses für den Ist-Zustand nicht zu leugnen ist.
Wir haben in der Vergangenheit auf die Probleme aufmerksam gemacht
und Lösungsvorschläge gemacht. Wie jedermann weiß, haben wir uns in der alten Koalition nicht immer und nicht in dem Umfang durchsetzen können, wie zumindest ich mir das gewünscht habe. Wir hoffen, daß unser Einfluß, auf die Sozialpolitik, in der derzeitigen und in der zukünftigen Koalition nicht geringer, sondern, wenn möglich, größer wird.
Sicher ist es notwendig, eine ordentliche Beschreibung unseres Ist-Zustandes vorzunehmen. Meine Damen und Herren, wir haben Probleme, und wir leugnen diese Probleme nicht. Aber, meine verehrten Kollegen von der CDU/CSU, ich möchte mit aller Deutlichkeit sagen, daß die Beschreibung des Kollegen Hauser, hier würde ein Scherbenhaufen übernommen, der repariert werden muß, den Fakten nun wirklich nicht entspricht.
— Abgesehen davon, daß man Scherbenhaufen, Herr Kollege Schwörer, nicht reparieren kann — denn dann müßte man wohl neu bauen —, muß man doch einmal die Feststellung treffen, daß es im Bereich der Sozialpolitik, die sicher einen erheblichen Teil unserer Probleme darstellt, fast kein Gesetz gibt, das nicht Ihre Zustimmung gefunden hat, im Gegenteil, es Anträge gegeben hat, noch mehr zu leisten.
Ich stehe auch nicht an, auch das hier jetzt zu sagen, so wie ich früher dem Koalitionspartner — nicht immer in Übereinstimmung — meine Meinung gesagt habe.Meine Damen und Herren, zwei Ursachen sind wesentlich für unsere Situation. Einmal die außenwirtschaftlich bedingten Ursachen. Einige sagen, da können wir nichts ändern. Richtig ist, daß ein erheblicher Teil unserer Schwierigkeiten außenwirtschaftlich bedingt ist. Aber ebenso richtig ist, daß wir diesen außenwirtschaftlich bedingten Teil selbstverständlich auch durch Maßnahmen hier bei uns korrigieren müssen. Wir sind ja nicht befreit von der Verpflichtung, gegen diese außenwirtschaftlich bedingten Ursachen vorzugehen.
Zweitens haben wir den hausgemachten Teil. Die Soziallastquote ist von 20 % 1960 auf 30 % 1981 gestiegen. Das geschah im wesentlichen, wie schon oft gesagt, auf Grund von Maßnahmen, die insbesondere die Große Koalition zu verantworten hat. Hier sind Korrekturen vorzunehmen. Wir wissen und betonen, daß der soziale Friede außerordentlich wichtig ist. Er ist, wie Graf Lambsdorff richtigerweise gesagt hat, ein Produktionsfaktor. Aber — jetzt möchte ich mich selber zitieren — der soziale Friede auf Pump bietet eben keine soziale Sicherheit. Deswegen appelliere ich an dieser Stelle an die Kollegen der SPD und möchte folgendes in ihre Erinnerung zurückrufen: Das, was unvermeidlich ist, was im Interesse von Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitsplätzen gemacht werden muß und was ja gemeinsam begonnen worden ist — das waren Schritte in die richtige Richtung, zu denen ich mich auch heute bekenne —, sollte von ihnen mindestens in diesem Umfange mitgetragen werden.Meine Damen und Herren, ich will nicht auf die einzelnen Maßnahmen eingehen, mit denen nun die notwendige Konsolidierung des Haushalts und der Sozialhaushalte vorgenommen wird. Aber ich möchte auf einen Aspekt aufmerksam machen, weil ich ihn für beispielhaft halte, und möchte hier eine Warnung, auch eine Warnung an uns selber, aussprechen.Wir haben die Bemessungsgrundlage für die Zuweisungen der Arbeitslosenversicherung an die Rentenversicherung von den fiktiven 100 % auf netto 68 % heruntergesetzt. Das ist eine Maßnahme, die insgesamt die notwendige Entlastung bei der Bundesanstalt für Arbeit bringt und die die Liquidität der Rentenversicherung zunächst einmal negativ beeinflußt. Aber, meine Damen und Herren, diese Maßnahme wird nur dann gerechtfertigt sein, wenn wir langfristig auch entsprechende Änderungen im Leistungsrecht vornehmen,
so wie wir es ursprünglich gemeinsam mit der SPD auf der Basis von 70% beschlossen hatten. Ich möchte hier selbstkritisch sagen: Neue Mehrheiten dürfen nicht alte Sünden fortsetzen.Deswegen bin ich sehr beruhigt, daß der Bundesarbeitsminister hier deutlich gemacht hat, daß er in
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7808 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982
Cronenbergdem gesamten Bereich der beitragsfreien Zeiten zu einem späteren Zeitpunkt eine Regelung vorzunehmen gedenkt. Ich mache aber wegen der sprachlichen Sauberkeit darauf aufmerksam, Herr Bundesarbeitsminister, daß diese Zeiten natürlich genaugenommen keine beitragsfreien Zeiten sind, denn es werden ja Beiträge geleistet. Nur unter Berücksichtigung dieser Zusage scheint mir also eine solche Verfahrensweise akzeptabel zu sein.Die Verschiebung der Anpassungstermine um ein halbes Jahr — das, was hier zustimmend, teilweise aber auch kritisch als „Atempause" bezeichnet worden ist — hat den Sinn und Zweck, die Konsolidierung in diesem Bereich voranzutreiben. Die Renten werden nicht, wie dargestellt, gekürzt, sondern ihr Zuwachs wird verlangsamt.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lutz?
Unterstellt, daß der Präsident das meiner Redezeit zurechnet, tue ich das gern.
Herr Kollege, ich muß Sie darauf hinweisen, daß der Präsident diese Möglichkeit nicht hat. — Herr Abgeordneter Lutz!
Herr Kollege Cronenberg, habe ich Sie jetzt dahin gehend richtig verstanden, daß Sie dem Hause signalisiert haben, daß die beitragsfreien bzw. in diesem Falle beitragsgeminderten Zeiten künftig eben doch mit 70 % angerechnet werden?
Ich habe dem Hause signalisiert, daß die Position, die wir gemeinsam vertreten haben, auch bei den zukünftigen Regelungen Berücksichtigung finden muß, nämlich die Position, daß die Beitragszahlungen Grundlage für die Berechnung der Ansprüche auf Rente sind. Ich stehe selbstverständlich auch hier in der Kontinuität meiner Argumentation, unabhängig davon, welcher Bundesarbeits- und -sozialminister auf der Regierungsbank sitzt.
— Kollege Lutz, mit Rücksicht darauf, daß ich wirklich nur wenig Zeit habe, bitte ich — wobei Sie wissen, daß ich Zwischenfragen an sich nicht scheue — um Ihr Verständnis, daß ich nein sagen muß.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich kurz auf ein anderes Kapitel eingehen. Es geht um die sogenannte Nachfrage- und Kaufkrafttheorie. Man redet vom „Kaputtsparen" und behauptet, daß ein Rückgang des Konsums mögliches Wachstum bremse. Heide Simonis, von Dohnanyi, Rappe, Ehrenberg, alle haben diese Theorie hier dargelegt. Zu diesem Bereich möchte ich Ihre Aufmerksamkeit zunächst einmal darauf lenken, daß es für das Wachstum letztlich nicht entscheidend ist, ob die Gesamtnachfrage Konsumnachfrage oder Investitionsnachfrage ist. Beide Arten von Nachfrage erzeugen Wachstum. Salopp ausgedrückt, es ist für das Wachstum an sich völlig schnuppe, ob mehr
Drehbänke gekauft werden oder mehr Damenstrümpfe. Ich will damit nicht sagen, daß die Qualität des Wachstums nicht von entscheidender Bedeutung ist. Nun kann sich nicht jeder Haushalt eine Tonne Stahl in den Garten stellen, und es kann auch nicht jedermann zur Verbesserung der Wirtschaftsstruktur Investitionen vornehmen. Insoweit ist Ihre Theorie — —
Herr Abgeordneter, interpretiere ich Sie richtig, daß Sie keine weiteren Zwischenfragen zulassen wollen?
Eine Zwischenfrage des Kollegen Ehrenberg will ich noch zulassen.
Herr Kollege Ehrenberg, Sie haben das Wort zu einer Zwischenfrage.
Vielen Dank. — In aller Kürze, Herr Kollege Cronenberg. Würden Sie mir zugeben, daß es zwar richtig ist, daß es auf die Gesamtnachfrage ankommt, daß aber in diesem Haushaltsentwurf plus Begleitgesetzen sehr viel mehr Kürzungen als gleichzeitige Impulse drin sind, daß also per saldo eine Kürzung der Gesamtnachfrage stattfindet?
Herr Kollege Ehrenberg, ich komme natürlich jetzt in meinem Vortragskonzept ein wenig durcheinander. Genau das ist der Punkt, auf den ich hinweisen will. Durch die Summe der Maßnahmen, die durch diesen Haushalt beschlossen werden, soll insgesamt mehr Arbeit geschaffen werden, indem die Wettbewerbsfähigkeit verbessert wird. Wir wollen die Nachfrage haben, die durch gezahlte und erarbeitete Löhne und Gehälter entsteht, und nicht die Nachfrage, die durch Transferleistungen wie z. B. Arbeitslosenunterstützung entsteht. Deswegen halten wir diesen Haushalt auch und gerade mit seinen Sparvorschlägen in dem sozialen Bereich für ein Antriebselement für mehr Wachstum. Dies ist Grundlage unserer Überlegungen. Investitionen fördern heißt, die Qualität der Nachfrage verändern, im Grunde genommen erreichen, daß durch Veränderung der Strukturen in der Wirtschaft mehr Wettbewerbsfähigkeit erreicht wird und daß durch mehr Wettbewerbsfähigkeit sowohl der Export gefördert, wie die Konkurrenzfähigkeit gegenüber importierten Produkten verbessert wird.Bei Ihren Überlegungen, Herr Kollege Ehrenberg, ist für meine Begriffe ein fundamentaler Fehler. Wir wollen eben nicht Nachfrage durch Transferleistungen erzeugen, also Nachfrage, die z. B. durch die Arbeitslosenunterstützung kommt, sondern wir wollen echtes Arbeitseinkommen haben. Bei den Transferleistungen — die wir angeblich unerträglich kürzen — muß man sich doch auch fragen, wie diese Transferleistungen, die natürlich auch Nachfrage sind, finanziert werden. Sie werden
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Cronenbergentweder durch höhere Sozialabgaben oder durch höhere Kredite
oder durch höhere Steuern, genau finanziert. Alle drei Möglichkeiten, egal ob Sozialbeiträge, Kredite oder höhere Steuern, verursachen natürlich an anderer Stelle Nachfrageausfall. Sie erzeugen also nur an anderer Stelle Nachfrage; denn die Leistungen, mit denen die Transferleistungen finanziert werden, fallen ja nicht vom Himmel. Die Finanzierung durch höhere Abgaben oder Kredit bedeutet an anderer Stelle Kaufkraftabzug. Sie ziehen Kaufkraft entweder im Konsum- oder im Investitionsbereich ab, und genau das wollen wir nicht. Diesen verhängnisvollen Kreislauf wollen wir nicht fördern, weil er letztlich zu einer Vernichtung weiterer Arbeitsplätze führt. Das ist der Grund, warum wir uns so und nicht anders verhalten.Ich möchte von dieser Stelle aus noch einmal wie schon der Vorredner an die Vernunft der Gewerkschaften appellieren. Daß mäßige Lohnabschlüsse insgesamt die Probleme mildern, ist in den letzten Jahren bewiesen worden. Wir können feststellen, daß die Lohnstückkosten in den letzten Jahren auf Grund relativ vernünftiger Abschlüsse gesunken sind. Dies ist ein Grund, warum der Export gestiegen und der Import gesunken ist. Deswegen können wir erfreulicherweise feststellen, daß sich die Probleme der Leistungsbilanz gemildert haben und wir dieses Jahr möglicherweise mit plus minus null abschließen.Das heißt, hier ist deutlich vorexerziert worden, daß der Mechanismus „moderate Lohnabschlüsse gleich mehr Wettbewerbsfähigkeit gleich mehr Exportmöglichkeiten gleich mehr Arbeit" im Prinzip funktioniert hat.
— Herr Kollege Ehrenberg, ich erläutere Ihnen hier das Prinzip und beweise Ihnen, daß wir mit den Maßnahmen und den Tarifabschlüssen aus der Zeit der gemeinsamen Regierungsverantwortung erfolgreich waren und bitte um Fortsetzung und Unterstützung der richtigen Politik. Um nichts anderes geht es mir.Deswegen wollen wir auch die Soziallastquote absenken und so die Kostenstruktur verbessern. Wir müssen uns immer wieder bewußt machen, daß die Beiträge zur Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung in der Kalkulation der Unternehmen nichts anderes als Kosten sind. Ich lade den Herrn von Dohnanyi ein, in einer sitzungsfreien Woche zu mir zu kommen und mit mir gemeinsam zu kalkulieren. Er hat hier den Eindruck erweckt, als seien diese Abgaben keine bedeutsamen Kosten.
Er soll sich einmal mit mir hinsetzen und kalkulieren, damit er sieht, wie ungewöhnlich schwierig esist, mit eben diesen Kosten exportfähige Produktezu erstellen, und gegen die importierte Konkurrenz anzukämpfen.
Das ist doch unser Problem
Es kommt doch entscheidend darauf an, daß die Gesamtlohnsumme, die Summe dessen, was alle Beschäftigten verdienen, möglichst hoch ist, und nicht darauf, daß die individuellen oder branchenbezogenen Einkommen möglichst hoch sind. Wir appellieren an die Gewerkschaften, uns bei dieser Politik zu unterstützen, uns die notwendigen Strukturveränderungen über diesen Weg zu ermöglichen. Deswegen appellieren wir an Sie, den richtigen, gemeinsam begonnenen Weg, nämlich die Sozialleistungen dort, wo möglich und verantwortbar, fortzusetzen, um so mehr Wettbewerbsfähigkeit und dadurch mehr Arbeit zu schaffen. Wir brauchen nicht mehr steuerfressende Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst, wie uns Herr von Dohnanyi das empfohlen hat. Wir brauchen vielmehr mehr steuererzeugende, produktive Arbeitsplätze. Wir sind mit unserer Politik genau auf diesem richtigen Weg,
einem Weg, den wir mit Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD, begonnen haben und von dem wir hoffen, daß Sie ihn, mindestens soweit Sie ihn mit uns in den Gesetzen gemeinsam festgelegt hatten, auch unterstützen. Soweit Sie dies nicht können, bitte ich Sie, uns bei unseren Bemühungen um mehr Arbeit und Arbeitsplätze wenigstens Erfolg zu wünschen — denn das liegt ja wohl im gemeinsamen Interesse —, auch wenn die Kollegin Frau Fuchs offensichtlich nicht gewillt ist, diesem Appell zu folgen. — Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich weiß nicht, ob der Herr Kollege Rappe da ist. — Herr Kollege Rappe, Sie nehmen es mir nicht übel,
wenn ich sage: Als Sie Ihre Rede hielten, habe ich mir überlegt, was wohl junge Leute gedacht haben, als sie Ihre Rede gehört haben.
Wir sprechen j a über den Etat Jugend, Familie und Gesundheit.
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7810 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982
Bundesminister Dr. GeißlerIch habe hier eine Liste von 41 Gesetzen, die unter der Regierungsverantwortung der Sozialdemokraten verabschiedet worden sind und die ohne jede Ausnahme Einschnitte in die Sozialgesetzgebung beinhalten: von der Einschränkung beim Übergangsgeld für Schwerbehinderte, vom Wegfall der Zuschüsse zur studentischen Krankenversicherung, von der Herabsetzung des Unterhaltsgeldes für Umschüler bis hin zur linearen Kürzung des Kindergeldes. Ich will das jetzt hier gar nicht alles vorlesen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, was Sie hier gesagt haben, Herr Kollege Rappe, ist für einen, der die Entwicklung in den letzten Jahren objektiv verfolgt hat — ich drücke es ganz sachlich und ruhig aus —, nicht mehr verständlich.
Ich will nicht auf das rekurrieren, was der Kollege Müller schon gesagt hat, als er die Bilanz des Jahres 1969 mit der verglich, die wir heute haben. Aber ich möchte Sie doch wirklich in allem Ernst fragen, auch wenn in vier Monaten die Bundestagswahl stattfindet, woher Sie eigentlich den Mut nehmen, uns in einer solchen Situation und angesichts dieser Bilanz Klassenkampf von oben nach unten, soziale Demontage und ähnliches vorzuwerfen. Wo nehmen Sie diesen Mut eigentlich her?
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie müßten doch jetzt einmal die Frage beantworten, da Sie ja darangehen, Vorschläge zu erarbeiten, wie wir aus dieser schwierigen Situation herauskommen, die heute zu Recht Ihnen zugeordnet worden ist, wie Sie aus dieser Situation herauskommen wollen, wenn Sie die Regierung wieder übernehmen würden,
angesichts der Konzeptionen, die Sie in dieser Debatte vorgelegt haben. Die Sozialdemokratische Partei muß doch zunächst einmal mit sich selber ins reine kommen. Sie muß dem Bürger, muß dem Arbeitnehmer einmal sagen, wie sie mit einer Politik, wie Willy Brandt, der Parteivorsitzende der SPD, sie nach der hessischen Wahl vorgezeichnet hat, nämlich mit dem Versuch, eine Mehrheit links von der Union zu bekommen, die Arbeitslosigkeit bekämpfen will. Darauf haben wir bis heute keine Antwort erhalten.Der Altbundeskanzler Helmut Schmidt ist inzwischen zum Zeugen der Anklage gegen Ihre eigene Partei geworden. Er hat vor Ihrer Fraktion bei seiner Abschiedsrede gesagt, daß er von der deutlichen Sorge um den zukünftigen politischen Kurs der SPD sprechen müsse, und er nannte die Kontroversen innerhalb der Sozialdemokratischen Partei. Er zählte sie auf, z. B. die wirtschafts- und finanzpolitischen Kontroversen, die sozialpolitischen Kontroversen, den Streit um die nukleare Energie, den Streit um die Möglichkeit einer radikaleren Umweltschutzpolitik, den Streit über den Doppelbeschluß des Bündnisses und den Streit über die Einheit von Verteidigungs- und Abrüstungsstrategie.Man muß sich einmal diese Aufzählung genau ansehen. Gibt es denn eigentlich noch irgendein wichtiges politisches Feld, in dem nach Aussage von Helmut Schmidt selber kein Streit in der SPD vorhanden ist?
Diese Frage müssen wir einmal stellen.
Jetzt müssen Sie doch angesichts dieser Situation, angesichts der Millionenarbeitslosigkeit, die wir haben, angesichts der Hoffnungslosigkeit vieler Menschen, angesichts von 200 000 arbeitslosen Jugendlichen, wenn Sie in die Zukunft sehen und eine wirklich glaubhafte Aussage machen wollen, zunächst einmal den Leuten erklären, wie Sie in dieser neuen Koalition von Sozialdemokraten und modernen Maschinenstürmern, Aussteigern, Leuten, die kein wirtschaftliches Wachstum mehr für richtig halten, wie Sie in einer solchen Koalition die Arbeitslosigkeit bekämpfen, wie Sie neue Arbeitsplätze schaffen wollen. Darauf hätten wir heute von Ihnen gern endlich mal eine Antwort erfahren.
Das, was Sie, Herr Kollege Rappe, hier gemacht haben, ist durchsichtig. Das erleben wir nun seit dem Jahre 1949 und verstärkt seit dem Jahre 1969. Sie wollen die Christlich-Demokratische Union und die Christlich-Soziale Union in eine ganz bestimmte Ecke stellen.
Sie wollen uns ein Etikett anhängen, ein Etikett, das Sie, wenn Sie hier redlich argumentieren, einfach nicht verantworten können.
Wir können uns über den sozialpolitischen und wirtschaftspolitischen Weg doch immer unterhalten, über verschiedene Wege auch miteinander streiten. Das gehört zu diesem Parlament. Aber Sie können einer Partei wie der Christlich-Demokratischen Union oder der Christlich-Sozialen Union nicht den Willen zur sozialen Verantwortung absprechen, wie Sie das heute wieder getan haben.
Wie sieht denn die Sozialgeschichte in den vergangenen drei Jahrzehnten aus?
— Entschuldigung, jetzt will ich Ihnen einmal folgendes sagen, damit ich einmal Ihrer Erinnerung nachhelfe. In aller Ruhe. Das können Sie nachprüfen. Die Probleme, die wir heute haben, sind gravierend. Sie rühren an den Nerv unserer Wirtschaftsordnung und an den Nerv des Sozialstaates. Deswegen tragen wir alle miteinander eine große Verantwortung.
Aber Sie werden dieser Verantwortung nicht gerecht,
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Bundesminister Dr. Geißlerwenn Sie in dieser Form gegen uns argumentieren. Sie werfen uns soziale Demontage vor. Sie sprechen uns offenbar die Fähigkeit ab, sozial gerecht politisch zu handeln.
Jetzt sage ich Ihnen folgendes: Alle großen, bedeutenden sozialpolitischen Gesetze, die das Bild Nachkriegsdeutschlands geprägt haben, sind von christlich-demokratischen Bundeskanzlern und von christlich-demokratischen Mehrheiten im Deutschen Bundestag verabschiedet worden,
in heftigen Auseinandersetzungen — zum Teil auch mit den Gewerkschaften, das ist wahr —, aber mit unseren Mehrheiten: Montan-Mitbestimmung, Betriebsverfassungsgesetz, Bundesversorgungsgesetz, Familienlastenausgleich, die große Rentenreform, das Bundessozialhilfegesetz, das 312-DM-Gesetz, die Arbeitsförderung, die Ausbildungsförderung, der große Lastenausgleich, was Sie wollen. Das sind alles Gesetze, die von 1949 bis 1969 verabschiedet worden sind. Das ist das Ergebnis christlich-demokratischer Politik gewesen und nicht sozialdemokratischer Politik.
Wie komme ich dazu? Ich spreche Ihnen doch nicht die soziale Verantwortung ab. In welches Geleise begeben Sie sich eigentlich, wenn Sie eine Volkspartei
— Herr Wehner, es ist gut, daß Sie aufwachen — wie die Christlich Demokratische Union
in dieser Form angreifen, wie Sie das hier getan haben, und Sie als Fraktionsvorsitzender dies zulassen, obwohl Sie die deutsche Geschichte genau kennen.
Die Auseinandersetzung ist ernst genug, und Sie können diese Auseinandersetzung haben, wenn Sie sie haben wollen.Die deutschen Arbeitnehmer, die Arbeiter und die Angestellten in der Bundesrepublik Deutschland werden sich von Ihnen nicht auf den Leim führen lassen. Davon bin ich überzeugt.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kirschner?
Ja, bitte schön, Herr Kirschner.
Herr Familienminister Dr. Geißler,
angesichts dessen, was Sie hier gerade behauptet haben, und angesichts dessen, was diese Regierung, in der Sie ein Ministeramt haben, vorhat, darf ich Sie fragen, ob Sie eigentlich noch zu dem stehen, was Sie am 4. März hier in diesem Deutschen Bundestag ausgeführt haben, nämlich:
Arbeiterfamilien mit Kindern werden durch die jüngsten Maßnahmen gleich dreifach belastet, einmal durch die geplante Erhöhung der Mehrwertsteuer, dann durch die Erhöhung der Beiträge in der Arbeitslosenversicherung und ferner durch die Kürzung des Kindergeldes?
Zu dieser Aussage stehe ich selbstverständlich.
— Ich habe Ihnen hier die Einsparungsvorschläge vorgelesen, die Sie selber gemacht haben. Wir haben die Regierung übernommen
und haben feststellen müssen, daß wir statt eines angeblichen Defizits von 28,5 Milliarden DM ein Defizit von über 50 Milliarden DM vorfinden. Jetzt erklären Sie uns doch einmal — wir können doch redlich miteinander diskutieren —,
wie wir innerhalb von vier Wochen mit der Bewältigung dieser Lücke von über 20 Milliarden DM, die Sie hinterlassen haben, fertig werden sollen? Natürlich haben wir jetzt Sparmaßnahmen ergreifen müssen. Glauben Sie vielleicht, wir hätten Sparmaßnahmen vorgeschlagen, weil uns dies besonders gefiele? Das kann uns doch niemand unterstellen. Wir haben diese Sparmaßnahmen vielmehr in der Fortsetzung dessen vorgeschlagen, was auch Sie haben machen müssen, um eine Grundvoraussetzung für den wirtschaftlichen Aufschwung zu schaffen, nämlich den Haushalt zu konsolidieren und ihn so solide zu machen. Was hätten wir denn tun sollen?
Herr Minister, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kirschner?
Nein, ich möchte jetzt bitte in meinen Ausführungen fortfahren.Herr Kollege Rappe, Sie müssen das verstehen. Auch wir haben uns in unserem politischen Leben für sozialpolitische Zwecke eingesetzt, möglicherweise in der einen oder anderen Form fehlerhaft
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Bundesminister Dr. Geißlerund mit einem geringeren Erfolg, aber mindestens mit demselben Engagement und mit derselben Bereitschaft zu Verantwortung wie viele von Ihnen. Da sagt der Herr Rappe hier, wir würden die Arbeitslosen diffamieren. In der Rede, die Sie gerade von mir zitiert haben, habe ich am Anfang gesagt: Arbeitslosigkeit ist nicht nur ein materielles Problem, es ist ein schweres menschliches Problem. Schweres menschliches Leid kommt auf diese Menschen zu. In allen Reden — lesen Sie unsere Parteitagsauseinandersetzungen nach — haben die Parteiführung und wir alle gesagt: Wir lassen es nicht zu, daß man den Arbeitslosen, nachdem sie ihren Beruf verloren haben, durch eine falsche Propaganda auch noch den guten Ruf raubt, indem man sie in eine bestimmte Ecke stellt.
Wie kommen Sie dazu, uns hier solche Vorwürfe zu machen?Ich bin mir darüber im klaren und ganz sicher: Wenn wir die 2 Millionen Arbeitslose und ihre Angehörigen nach dem, was sich in den letzten Jahren abgespielt hat, fragen, wem sie es mehr zutrauen,die Vollbeschäftigung wieder herzustellen, neue Arbeitsplätze zu schaffen, den Sozialdemokraten oder den Christlichen Demokraten, so habe ich keine Sorge, welche Antwort die Arbeitslosen geben werden.
Die Arbeitslosen werden ihre Zuflucht mit Sicherheit nicht bei den Sozialdemokraten und ihrer neuen Koalition mit den Grünen suchen. Davon bin ich überzeugt.
Ich habe am Anfang davon gesprochen, was junge Leute bei dieser Debatte wohl denken mögen. Es geht bei dieser Auseinandersetzung sehr wohl um die Frage der Zukunft unseres Landes und unseres Volkes. Ich habe immer den Eindruck gehabt — ich gehe auch nach wie vor davon aus, daß dies richtig ist —, daß diese Debatten auch den Sinn haben, Argumente auszutauschen und nicht von vornherein mit Vorbehalten dem zuzuhören, was der andere sagt. Ich meine, daß junge Leute von dieser Debatte erwarten, daß wir etwas über den politischen und den geistigen Hintergrund für die jungen Leute, für die Familien sagen, auf dem sich hier die Auseinandersetzung abspielt.
— Ich komme noch zu dieser Frage.Ich glaube, wir dürfen bei dieser Diskussion nicht vergessen, daß auch die jungen Leute, die jetzt 20 oder 22 Jahre alt sind, Enttäuschungen hinsichtlich dessen haben hinnehmen müssen, was man ihnen vor zehn Jahren auch regierungsamtlich gesagt hat. Da hat ein deutscher Bundeskanzler, Willy Brandt,den jungen Leuten versprochen, daß der Staat die Vollbeschäftigung garantieren könne.
Das ist doch die Wahrheit. Er sieht heute wahrscheinlich ein, daß es falsch war; aber es ist so gesagt worden. Es ist gesagt worden, der Friede werde immer sicherer. Jetzt stehen wir da, und die jungen Leute erleben, daß die Massenarbeitslosigkeit vorhanden ist und daß der Friede nicht sicherer geworden ist. Wir müssen die Situation einmal so sehen, wie sie heute geworden ist.
Herr Minister, der Abgeordnete Müntefering möchte Ihnen eine Zwischenfrage stellen. Sind Sie damit einverstanden?
Ich will die Debatte nicht verlängern. Ich bin gern bereit — —
Sie können nein sagen, Herr Minister. Ich muß es nur wissen.
Bitte schön, stellen Sie die Frage!
Herr Abgeordneter Müntefering, bitte.
Herr Minister, da Sie gerade über die Jugend sprechen, möchte ich Sie fragen: Meinen Sie nicht, daß die jungen Leute in unserem Lande darauf warten, daß Sie sich endlich für die Behauptung vom 1. Oktober 1982 entschuldigen, in diesem Hause habe ein Anschlag auf die Verfassung stattgefunden?
Verehrter Herr Kollege, bei dieser Behauptung bleibe ich. Ich habe nicht behauptet, daß hier ein Bombenanschlag stattfinde. Aber ich habe die Auffassung vertreten — das war der Sinn meiner Ausführungen —, daß die moralische Argumentation, mit der diejenigen bedacht worden sind, die der Auffassung waren — nach meiner Auffassung ebenfalls aus moralischen Gründen —, daß wir einen Regierungswechsel z. B. im Interesse der Arbeitslosen dringend notwendig hätten, mit dem Geist der Verfassung nichts zu tun hat. Das ist meine Auffassung gewesen, und dabei bleibe ich auch.Wir haben in dieser Debatte zu beachten, daß wir etwas über die Zukunft unseres Landes und auch darüber sagen sollten, wie wir uns die Welt von morgen vorstellen. Ich bin davon überzeugt — insofern ist heute morgen das eine oder andere gesagt worden, das nach meiner Meinung nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt —, junge Leute sehen die Situation anders als wir Älteren. Ich bin Jahrgang 1930. Ich habe noch bewußt miterlebt, was Unfreiheit bedeutet. Ich habe als junger Mensch auch Hunger gelitten. Unsere Jugend hat das nicht erlebt, hat insofern keine praktische Erfahrung. Die jungen Leute nehmen die Freiheit und den Wohlstand heute als etwas Selbstverständliches hin. Das
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Bundesminister Dr. Geißlerist ihr gutes Recht. Aber sie stellen heute vielleicht mehr als wir Älteren neben der Freiheit, die sie haben, auch die Frage nach anderen Werten.
— Ganz richtig. Ich will Ihnen einmal etwas sagen: Es gehört schon Verstand dazu, um zu erkennen, daß es Dinge gibt, an die der Verstand nicht heranreicht. Dazu gehört Verstand.
Die Jugend von heute stellt die Frage nach dem Sinn des Lebens. Die jungen Leute wollen Geborgenheit, Sicherheit erfahren. Sie wollen in einer überschaubaren Gesellschaft leben. Ich glaube, das müssen wir zur Kenntnis nehmen, wenn wir heute über die Zukunft und damit über die Jugend sprechen.Der Altbundeskanzler Helmut Schmidt hat eine seiner Regierungserklärungen mit der Überschrift „Mut zur Zukunft" versehen. Ich fand diese Überschrift gar nicht so schlecht. Aber wenn ich die vergangenen Jahre einmal Revue passieren lasse — ich will sogar die 60er Jahre einbeziehen; das ist also auch selbstkritisch an meine eigene Partei adressiert —, kann man doch das eine feststellen: Die Politik hat das Gleichgewicht zwischen den Interessen der Zukunft und den Interessen der Gegenwart verloren. Es ist überwiegend eine eindimensionale Politik getrieben worden, manifestiert in der Vernachlässigung der Familie, der Benachteiligung der Kinder, bis hin zur Energiepolitik, die nicht so gestaltet werden konnte, wie es z. B. der Altbundeskanzler wollte, weil die divergierenden Kräfte in seiner eigenen Partei zu stark waren.Dazu gehören die Benachteiligung der Innovationen, der Forschung, das Schüren der Technologiefeindlichkeit, das Verdächtigen des Unternehmers. Der Unternehmer ist ja sozusagen per definitionem ein Träger der Zukunft, weil er heute investiert, um morgen zu ernten. Aber nicht allein für sich, sondern für alle, die im Unternehmen arbeiten. Ich brauche hier j a nicht zu erläutern, wer und was zur Schwächung des unternehmerischen Gedankens in der Bundesrepublik Deutschland beigetragen hat. Das alles muß doch im Zusammenhang gesehen werden.In diesen Zusammenhang, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, gehört natürlich auch das Thema Staatsverschuldung. Das Thema Staatsverschuldung hat ganz sicher volkswirtschaftliche und finanzpolitische Aspekte und muß auch unter diesen Gesichtspunkten berücksichtigt werden. Aber die Staatsverschuldung hat natürlich auch eine gesellschaftspolitische Bedeutung, nämlich insoweit, als wir uns bei 300 Milliarden DM Staatsverschuldung allein auf der Bundesebene und einer Gesamtverschuldung der öffentlichen Hände von über 600 Milliarden DM doch die Frage stellen müssen, ob wir nicht in der Tat die Interessen der Gegenwart zu stark betont und die Interessen der Zukunft dadurch vernachlässigt haben. Denn diese 600 Milliarden DM müssen ja mitZins und Zinseszins abbezahlt werden und doch nicht, Herr Rappe, mit Ihrer etwas merkwürdigen Alternativlösung unter Heranziehung grundgesetzlicher Bestimmungen. Diese Schulden müssen von allen bezahlt werden: von denen, die ein höheres Einkommen haben, mehr, weil sie höhere Steuern bezahlen müssen, und von den anderen etwas weniger. Aber alle müssen diese Schulden abzahlen.Wir müssen uns jetzt doch die Frage stellen — das ist das zentrale Thema bei der Auseinandersetzung um diesen Bundeshaushalt —, ob wir in der Lage sind, klarzumachen, daß die Diskussion um die Staatsverschuldung auch eine Aufforderung an uns, die wir jetzt im Arbeitsprozeß stehen, die wir jetzt als Erwachsene die Entscheidungen zu treffen haben, bedeutet, bereit zu sein, uns einzuschränken, Opfer zu bringen, alle miteinander, damit wir für die Zukunft investieren können und unsere Kinder nicht mit Belastungen versehen, mit denen sie in 10 und 20 Jahren nicht fertig werden können.
Sie sprechen vom Klassenkampf von oben nach unten. Aber das ist doch fern der Realität. Das ist doch nicht das Problem, das uns heute beschäftigt. Nicht mehr eine Klasse lebt doch heute auf Kosten der anderen. Es ist eine alte soziale Frage des letzten Jahrhunderts. Was sind das eigentlich für Vorstellungen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die gegenwärtige Generation lebt auf Kosten der zukünftigen Generationen. Dies ist der eigentliche gesellschaftspolitische Konflikt, den wir haben.
Der Sozialismus — das will ich hier einmal anfügen — hat zwar im vergangenen Jahrhundert einige richtige Fragen gestellt, z. B. die alte soziale Frage, hat aber meistenteils keine richtigen Antworten gegeben. Die Sozialdemokraten laufen heute, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Gefahr, nicht einmal mehr die richtigen Fragen zu stellen. Das ist das Problem. Sie verschieben doch die Problematik und die Konflikte, die in unserer Gesellschaft vorhanden sind, wenn Sie jetzt den Klassenkampf des letzten Jahrhunderts zum Hauptgegenstand der politischen Auseinandersetzung machen. Das liegt fernab von der Wirklichkeit.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir müssen wieder eine wirtschaftliche und soziale Stabilität bekommen. Diese beruht eben darauf, daß jede Generation nicht nur für sich selbst sorgt, sondern auch Opfer für die Zukunft bringt, damit wir in der Tat genügend Mittel zur Verfügung haben, um für die Zukunft zu investieren. Darauf muß unsere Politik angelegt sein.Deswegen verstehe ich die Konsolidierung des Haushalts auch unter diesem Gesichtspunkt als eine sozialpolitische Entscheidung für die Kinder, für die Menschen, die nach uns kommen. Ich bin
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Bundesminister Dr. Geißlerfest davon überzeugt, daß die jungen Menschen verstehen, daß wir solche Entscheidungen treffen, auch wenn sie wehtun. Ich glaube auch, daß die Erwachsenen diese Entscheidung mittragen, weil wir nur so der Verantwortung für morgen gerecht werden können.Die Frage, um die es in diesem Zusammenhang in der gesellschaftspolitischen Entwicklung geht, ist ja in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers — ich möchte dies noch einmal aufgreifen — umschrieben worden. Es ist ein erkennbarer Trend vorhanden. Das gehört auch zur Bilanz der vergangenen Jahre. Diese Äußerungen sind aus Ihren eigenen Reihen gekommen, und das ist auch als Ergebnis der Jugend-Enquete-Kommission und vieler anderer Berichte zu sehen: Das ist der Trend zur Anonymität, zu kollektiven Lösungen, zu einer immer mehr um sich greifenden Bürokratie. Heute müssen 3 % des Umsatzes in der deutschen Wirtschaft für Bürokratiekosten aufgewendet werden. Das ist genauso viel, wie die deutsche Wirtschaft Erträge macht. Das ist eine erschreckende Entwicklung.Ich finde, diese Frage muß dadurch beantwortet werden, daß wir sagen: Wir müssen von diesem Trend weg, wir brauchen eine Umkehr. Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung gesagt: Wir brauchen eine Umkehr zu einer gesellschaftlichen Ordnung mit einem menschlichen Gesicht, weil eben die Menschen — ich habe es vorhin gesagt — auch junge Menschen, neben der Freiheit oder mit der Freiheit auch Geborgenheit, Wärme und Sicherheit haben wollen und neben dem Wohlstand auch die Frage nach dem Sinn des Lebens stellen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Familie, über die sich der eine oder andere auch heute noch — oft in unverständlichem Soziologendeutsch — lächelnd hinwegsetzt, ist nicht der einzige, aber wohl einer der wichtigsten Orte, wo Menschen diese Erfahrungen machen können. Wir sehen in der Familie nicht ein Idyll oder ein Refugium, sondern, ich würde sagen, für junge Menschen vor allem eine Chance, Menschlichkeit, Geborgenheit, Vertrauen, Wärme und Liebe zu erfahren.
Alle empirischen Untersuchungen beweisen — und wir wissen es eigentlich aus unserer eigenen Erfahrung —, daß Menschen, die solches in der Familie erleben, selbstsichere Menschen werden und daß sie diese Selbstsicherheit auch in das Leben als Erwachsene mitnehmen. In dieser Selbstsicherheit werden sie mit den Problemen des Lebens besser fertig, und ich glaube auch, daß sie dann gegen die Anfechtungen totalitärer Ideologien immuner sind als Kinder, die wir zwingen, in sogenannten antiautoritären Erziehungseinrichtungen aufzuwachsen.
Davon bin ich fest überzeugt.Deswegen ist es nicht irgendwie dahingeredet, wenn wir sagen: Die Familie muß im Mittelpunkt unserer Sozialpolitik stehen.Die Tätigkeit in der Familie und bei der Erziehung der Kinder verdient eine größere Anerkennung durch Staat und Gesellschaft. Wir haben eine berufliche Entwicklung und eine erwerbspolitische Entwicklung, meine sehr verehrten Damen und Herren, die die Familie weitgehend außer Betracht läßt.
Herr Minister, Herr Abgeordneter Ewen möchte Ihnen eine Zwischenfrage stellen. Sind Sie damit einverstanden?
Herr Dr. Geißler, würden Sie mir in der Meinung zustimmen, daß diese Selbstsicherheit der jungen Generation in der Familie dann besonders gut zu gewährleisten ist, wenn die Familie nicht durch Sorgen um die Finanzierung der Ausbildung von Jugendlichen und nicht durch Sorgen um die Höhe der Mieten belastet ist?
Ich stimme Ihnen in dieser Frage völlig zu. Ganz sicher ist es richtig — das ist meine feste Überzeugung, das ist die Überzeugung meiner Partei, und das ist die Überzeugung der Regierung —, daß der Familienlastenausgleich nicht ausreichend ist.
— Entschuldigung! Sie nehmen es mir vorweg. Ich kann es jetzt als Antwort auf Ihre Frage sagen. Genau aus diesem Grund haben wir nicht das gemacht, was Sie gemacht haben.
— Entschuldigung! Ich stand vor der Situation, auch das BAföG abzuhandeln. Es ist abgehandelt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir kriegen bei den Arbeitnehmern und den Familien große Zustimmung, wenn wir sagen, daß wir die Ausbildungsförderung auf die Schüler konzentrieren wollen, die sie tatsächlich brauchen.
Das ist das Ziel, um das es geht.
Was das Studenten-BAföG anlangt, ist hier schon so viel gesagt worden, daß ich es jetzt nicht zu wiederholen brauche. Wenn ich 200 000 junge Arbeitnehmer auf der Straße stehen habe, dann ist es kein unzumutbares Opfer, wenn ein Student, der einen Studienplatz hat, welcher ein paar hunderttausend Mark kostet und von den Arbeitnehmern mit Steuern bezahlt wird, später, wenn er einen Beruf hat, in dem er ein hohes Einkommen erzielt, seine Studienförderung langsam in Raten zurückzahlt.
Das sehen die Leute auch ein. Sie fallen auf dieDemagogie nicht herein, sondern sehen, daß diesein vernünftiger Vorschlag ist. Sie fragen sich ei-
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Bundesminister Dr. Geißlergentlich nur: Warum ist ein solch vernünftiger Vorschlag nicht schon früher gekommen?
Ich bin durch die Frage des Kollegen unterbrochen worden. Jetzt komme ich auf meinen Gedanken zurück. Wir müssen in diesem Zusammenhang natürlich über das hinausdenken, was wir bisher über die Berufstätigkeit gesagt haben. Die gesetzliche Anerkennung der Berufstätigkeit kann in der Zukunft — davon bin ich überzeugt — nicht mehr auf die Erwerbstätigkeit beschränkt werden, wie sie in der Reichsversicherungsordnung definiert ist. Wer so argumentieren würde, hätte nicht begriffen, daß unsere Arbeitsgesellschaft in den nächsten Jahren und Jahrzehnten einem tiefgreifenden Wandel unterworfen sein wird. Wir brauchen in der Zukunft keinen engen, auf die Industriegesellschaft verkürzten Arbeitsbegriff, sondern ein weites Verständnis menschlicher Arbeit, das vor allem die Tätigkeit in der Familie, in den Selbsthilfegruppen und im sozialen Bereich einschließt.Deswegen gehört es zu den wichtigsten Aussagen in der Regierungserklärung, daß wir von unserem Ziel nicht ablassen, für die Zukunft die Erziehungsleistung in der Familie für die Frauen, die sich für diese Aufgabe entscheiden, sozialversicherungsrechtlich anzuerkennen. Diese Forderung bleibt auf unserem Programm. Das ist ganz selbstverständlich. Das ist eine der wichtigsten Voraussetzungen, um für Frauen Gleichberechtigung durchzusetzen; die ja nicht in dem bestehen kann, was Friedrich Engels einmal gesagt hat, nach dem die Emanzipation darin besteht, daß man das gesamte weibliche Geschlecht in den Industrieprozeß einbezieht. Manches schimmert da noch durch. Wir hatten ja hier die Auseinandersetzung, warum eine Frau, die ein Kind bekommt, das Mutterschaftsgeld nur dann erhält, wenn sie vorher in einem Arbeitsverhältnis im Sinne der Reichsversicherungsordnung gewesen ist, nicht aber, wenn sie nicht in einem solchen Arbeitsverhältnis gewesen ist. Da schimmert der alte Pferdefuß noch durch, nicht wahr. Das ist der Punkt.
Wir können die Sache jetzt nicht finanzieren. Das ist auch mir klar.
— Moment! Ich sage nur: Dies bleibt auf dem Programm. Wir gehen davon aus, daß wir mit dem wirtschaftlichen Aufschwung eines Tages in der Lage sein werden, wieder mehr soziale Gerechtigkeit zu realisieren. Dann muß diese Forderung da sein. Dann darf sie nicht verschwunden sein. Sondern sie muß da sein, meine sehr verehrten Damen und Herren,
damit sie nicht in der Konkurrenz zu anderen ebenfalls dringenden Anliegen einfach nicht mehr gesehen wird.
Freiheit der Wahl für die Frauen zwischen Beruf und Familie ist das eigentliche Ziel, das wir in der Gesetzgebung realisieren müssen. Bei der Gleichberechtigung geht es auch um Frauen, die einen Beruf erlernt haben, sich dann für die Aufgaben in der Familie entscheiden, aber nach 20 Jahren in den Beruf zurückkehren wollen. Das Problem, diese drei Phasen miteinander zu vereinbaren, ist für alle schier unlösbar. Es ist noch nicht der Stein der Weisen gefunden worden, der es gestattete, für diese Frau, die 20 Jahre zuvor den erlernten Beruf aufgegeben hat, nahtlos einen Übergang ins Berufsleben zu finden. Das ist eine schwierige Aufgabe.Aber überlegen Sie einmal, ob nicht das, was die Frauenvereinigung der Christlich Demokratischen Union in ihrem Gesetzentwurf zur Arbeitsplatzteilung vorgelegt hat, ein Weg sein könnte, um dieses Problem aufzulösen, zwar nicht der einzige Weg, mit diesem Problem fertig zu werden, aber ein Weg zumindest für die Frauen, die bereit sind, ihre Arbeitskraft zu teilen, und die sagen: Ich möchte einen Teil meiner Arbeitskraft in den Beruf, den ich erlernt habe, investieren, aber gleichzeitig meine Aufgabe in der Familie erfüllen. Es gilt, diese Ziele parallel nebeneinander dadurch zu erreichen, daß wir etwas mehr Fantasie für den Arbeitsmarkt entwickeln, auch wenn wir in einer schwierigen Situation sind. Deswegen ist der Vorschlag der Frauenvereinigung der CDU für Jobsharing und Arbeitsplatzteilung und mehr Teilzeitarbeitsplätze ein Beitrag zu mehr Gleichberechtigung der Frau in einer modernen Gesellschaft. Davon bin ich überzeugt.
Vorhin ist die Frage nach der Familie und ihrer sozialen Situation gestellt worden. Ich habe klar gesagt, daß wir die soziale Situation der Familie als unzureichend ansehen — ich wiederhole das — vor allem nachdem Sie im vorigen Jahr das Kindergeld linear mit der Heckenschere — unabhängig davon, wieviel die Leute verdienen — gekürzt haben. Ich hatte die Aufgabe zu übernehmen, im Familienlastenausgleich insgesamt mehr als 1 Milliarde DM einzusparen.Die Alternativen waren klar. Da gab es Leute, die haben gesagt: Streicht doch das Kindergeld für das erste Kind. Dann gab es wieder welche, die haben gesagt: Kürzt linear wie die Sozialdemokraten. Wir waren nach einer sehr ausführlichen Diskussion der Auffassung, daß wir diesen Weg nicht gehen sollten, und zwar aus der Erkenntnis heraus, die ich hier vor vier oder fünf Wochen j a auch schon dargestellt habe, daß jemand der ein höheres Einkommen hat, z. B. wie wir hier im Saale oder andere, leichter eine Kürzung des Kindergeldes hinnehmen kann als andere Leute, die im Monat ein Einkom-
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Bundesminister Dr. Geißlermen von 2 000 oder 2 200 DM brutto haben. Das ist doch selbstverständlich.
Ich füge hinzu — das wird doch jedermann einsehen, das muß man einmal klar und deutlich aussprechen —: Leute, die ein höheres Einkommen haben, können in einer Zeit knapper Kassen — davon bin ich überzeugt — z. B. auch die Fahrtkosten und die Schulbücher für ihre Kinder aus der eigenen Tasche bezahlen.
Wir brauchen uns doch nicht vom Staat länger betreuen zu lassen, wenn wir unsere Aufgaben selber erfüllen können. Wenn wir mit der Gießkanne im Lande herumlaufen und das Geld auf alle verteilen, unabhängig davon, ob sie es brauchen oder nicht, dann werden uns die Mittel für die Aufgaben fehlen, die im Sinne der sozialen Gerechtigkeit vordringlich sind.
Jetzt wird also gegen diese Kindergeldlösung auch von Ihrer Seite polemisiert.
— Natürlich ist dies ein Opfer, das wir den Leuten zumuten. Wenn aber einer zwei Kinder hat und im Jahr mehr als 63 000 DM brutto verdient, dann kann man ihm doch zumuten, daß er einmal auf 30 DM Kindergeld verzichtet. Das tut ihm zwar weh, das bringt den Mann aber nicht um.
Wenn einer drei Kinder hat, dann wird ihm das Kindergeld gekürzt, wenn er 74 000 DM brutto und darüber verdient, bei vier Kindern, wenn er 86 000 DM brutto und mehr verdient.
Das wollten Sie — oder besser: einige von Ihnen wollten das durchsetzen — und haben es nicht fertig bekommen. Wir haben es fertig bekommen. Ich halte es für einen Vorteil im Sinne der sozialen Gerechtigkeit.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Huonker?
Ja, bitte schön.
Herr Abgeordneter Huonker, bitte sehr.
Herr Bundesminister, können Sie mir bestätigen, daß durch die von Ihnen gewählte Einkommensgrenze auch Facharbeiterehepaare, bei denen beide Ehepartner verdienen, von der Kürzung des Kindergeldes beim zweiten Kind erfaßt werden, und können Sie mir ferner bestätigen, daß dann, wenn man mit der Einkommensgrenze etwas höher gegangen wäre, die Einspareffekte durch die
Verwaltungskosten aufgefressen worden wären, und können Sie mir schließlich bestätigen, daß durch die Einkommensgrenze beim Kindergeld ein ungeheurer Verwaltungsaufwand unter dem Stichwort „mehr Bürokratie" stattfindet?
Nein, ich kann Ihnen weder das eine noch das andere bestätigen. Ich weiß nicht, welche Vorstellungen Sie eigentlich von der Arbeitswelt haben, wenn ich von 63 000 DM bei zwei Kindern oder von 74 000 DM bei drei Kindern ausgehe. Bei mir in Maximiliansau hat der Facharbeiter bei Daimler-Benz ein Bruttodurchschnittseinkommen in der Größenordnung von 32 000 bis 34 000 DM. Jetzt nennen Sie mir den Facharbeiter bei Ihnen in Ihrem Wahlkreis, der 64 000 DM brutto verdient. Wenn Sie ein Ehepaar meinen, dann nennen Sie mir die Facharbeiterin, die mit ihrem Ehemann zusammen als Facharbeiter auf 63 000 oder 64 000 DM brutto kommen.
— Den müssen Sie mir erst einmal nennen. Sie kommen vielleicht gerade daran. Dann müssen sie aber beide sehr hoch qualifizierte Facharbeiter sein. Dann bin ich aber auch der Meinung, wenn die beiden soviel verdienen, dann können die beiden Facharbeiter auch auf 30 DM Kindergeld verzichten.
— Ich stelle sogar eine Einmütigkeit mit der sozialdemokratischen Partei fest. Ich freue mich richtig, daß dies in dieser Haushaltsdebatte auch möglich ist.
Wir haben offenbar — mit Ausnahme des Kollegen
— vielleicht doch noch die richtigen Vorstellungen über das, was ein Facharbeiter in der Arbeitswelt verdienen kann.
Wir haben da nämlich aufgepaßt. Ich wollte vor dem Deutschen Bundestag erklären können, daß weder ein Arbeiter noch ein Facharbeiter noch ein Angestellter des mittleren und einfachen Dienstes von der Kindergeldkürzung betroffen ist, sondern allenfalls Leute ab Ministerialrat B 3 aufwärts und vergleichbare Einkommensgruppen. Ich glaube, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß wir dies jetzt gemeinsam als richtig festgestellt haben.
Ich komme zu den Fragen bezüglich der Verwaltungskosten. Darf ich sie gleich beantworten? Oder haben Sie eine zusätzliche Frage? — Herr Präsident, ich will nicht Ihre Aufgabe übernehmen.
Ich frage nur aus Höflichkeit.
Herr Minister, Sie sollten vielleicht zunächst die ersten Fragen beantworten, und danach können Sie entscheiden, ob Sie weitere zulassen.
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982 7817
Ich bedanke mich.
Die Frage nach dem Verwaltungsaufwand ist natürlich eine berechtigte Frage. Wir haben sie auch hier in dieser Haushaltsdebatte schon beantwortet. Nach unseren Berechnungen beträgt der Verwaltungsaufwand 80 Millionen DM. Ich bin aber der Auffassung, daß wir ihn reduzieren können, und zwar durch einen Datenabtausch zwischen Arbeitsämtern und Finanzämtern. Wir haben die Sache verwaltungsmäßig so einfach wie möglich gemacht. Die Formulare, die ausgefüllt werden müssen, beziehen sich auf die Lohnsteuererklärung der Arbeitnehmer im Vorjahr. Sie brauchen nur die Angaben aus den Lohnsteuererklärungen in die Formulare einzutragen, und dann läuft die Sache über den Computer. Das Kindergeld erfordert in der Verwaltung der Bundesanstalt für Arbeit ohnehin den geringsten Verwaltungsaufwand im Verhältnis zu dem anderer Sozialleistungsträger, nämlich einen Aufwand von 2,7 %. Der Verwaltungsaufwand der AOK liegt bei 8%. Durch die 80 Millionen DM wird dieser Aufwand von 2,7 % auf vielleicht 2,9 % steigen.
Im übrigen sehe ich hier einen Zusammenhang mit dem von uns angekündigten Familiensplitting ab 1. Januar 1984, eine der wichtigsten Entscheidungen der Koalition. Ich will nicht sagen, daß dies zu einer Revolutionierung des Steuerrechts führen wird, aber zu einer grundlegenden Reform des Steuerrechts im Interesse der Familien mit Kindern. Ich hoffe, daß wir im Zusammenhang mit der Einführung dieses Familiensplittings die Chance haben — ich greife jetzt einer Entscheidung des Kabinetts nicht vor —, langsam, aber sicher zu einer unbürokratischen Lösung weg vom Arbeitsamt und hin zum Finanzamt zu kommen. Dann sind die Probleme hinsichtlich des Verwaltungsaufwandes, die Sie hier angeführt haben, natürlich nicht mehr vorhanden. Ich glaube, daß der Weg, den wir hiermit eingeschlagen haben, auch insoweit der richtige Weg ist.
Lassen Sie mich noch einen Gesichtspunkt erörtern, der in der Auseinandersetzung auch mit den Sozialdemokraten immer eine große Rolle spielt, nämlich die Frage des Kinderfreibetrages. Die Regierung hat entschieden, daß der Kinderbetreuungsbetrag beseitigt und dafür — im Ergebnis im Grunde genommen halbiert — ein Kinderfreibetrag eingeführt wird.
Jetzt kommt von Ihrer Seite ständig das Argument, ein Kinderfreibetrag sei sozial ungerecht, denn dadurch würden die höheren Einkommen gegenüber den niedrigeren Einkommen begünstigt. Ich glaube, es ist wichtig, daß wir über diesen Punkt hier einmal ein paar Argumente austauschen. Ich habe als Sozialpolitiker dieses Argument nie verstanden — das will ich Ihnen ganz offen sagen —, und zwar aus einem ganz einfachen Grund. Die Leute, die durch einen Kinderfreibetrag eine größere Steuerersparnis bekommen, haben ja vorher auch höhere Steuern gezahlt.
— Ja, natürlich!
Dies ist das Ergebnis jedes Freibetrages.
— Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, wenn ein Vorstandsmitglied eines Großbetriebes in der Bundesrepublik Deutschland oder Herr Vietor Ihnen, was sicherlich schon einmal der Fall gewesen ist, eine Parteispende gegeben hat, dann hat er selbstverständlich auch eine höhere Steuerersparnis gehabt,
als wenn ein Facharbeiter Ihnen eine solche Spende gegeben hätte.
— Ja, natürlich! Das ist die Auswirkung jedes Steuerfreibetrages. Warum wollen Sie eigentlich, daß die Steuergerechtigkeit ausgerechnet bei der Familie und beim Kind haltmacht?
Außerdem finden Sie mit Ihrer Argumentation gar keinen Beifall bei der Arbeitnehmerschaft. Die Arbeitnehmer sind auf einen solchen Freibetrag aus einem ganz einfachen Grund angewiesen, weil nämlich über 50 % der deutschen Arbeitnehmer inzwischen in der Steuerprogression gelandet sind,
zum Teil dank Ihrer Steuerpolitik. Die sind dankbar dafür, wenn sie für die Belastung durch ihre Kinder auch eine Erleichterung über die Steuerpolitik bekommen.
Herr Minister, lassen Sie weitere Zwischenfragen zu?
Im Einvernehmen jetzt die letzte.
Frau Abgeordnete Simonis, Sie haben das Wort zu einer Zwischenfrage.
Herr Minister, ich bedanke mich sehr herzlich, daß Sie noch einmal eine Zwischenfrage zulassen. Ich möchte gerne von Ihnen wissen, ob ich aus Ihrer vorletzten Bemerkung schließen darf, daß es sich immer noch nicht bis zu Ihnen herumgesprochen hat, daß Spenden steuerlich nicht in unbegrenzter Höhe absetzbar sind.
Das ist zweifelsfrei richtig, hat aber nichts zu tun mit der grundsätzlichen Richtigkeit meiner Bemerkung, daß sich jeder Freibetrag, ob er für eine Parteispende gewährt wird oder ob es sich um einen Sonderabzug z. B. für Kinder handelt,
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7818 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982
Bundesminister Dr. Geißlernatürlich immer unterschiedlich auswirkt, abhängig davon, was einer verdient.
Vielleicht ist das etwas am Kern der Sache vorbeigegangen, was Sie gefragt haben.Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich noch eine Bemerkung machen. Ich habe am Anfang mit Bezug zur Regierungserklärung von der Jugend und ihrer Zukunft gesprochen. Da hat die Frage der Wehrgerechtigkeit eine große Rolle gespielt. Das wird natürlich auch in der Haushaltspolitik in den kommenden Jahren eine große Rolle spielen. Ich will davon ausgehen, daß wir noch in dieser Legislaturperiode über eine Neuregelung des Zivildienstes im Bundestag miteinander reden werden. Es wird dann der Ort sein, darüber zu sprechen. Ich möchte an dieser Stelle nur etwas Zusätzliches sagen.Wenn wir den Zivildienst neu regeln, dann muß gleichzeitig klargemacht werden — ich habe gestern abend eine lange Diskussion in einer katholischen Akademie über dieses Thema gehabt —, daß die Gewissensfreiheit nach Art. 4 Abs. 3 des Grundgesetzes ein Grundrecht ist. Unsere Koalition, die Christlich Demokratische Union, die Christlich-Soziale Union und die Regierung achten dieses Grundrecht. Wir sind Parteien der Gewissensfreiheit. Nach den vielen Diskussionen, die wir in den vergangenen Monaten gehabt haben, füge ich jetzt hinzu: Diejenigen jungen Menschen, die auch aus Überzeugung und vielfach aus Gewissensüberzeugungen sich dazu bereit erklären, ihren Dienst, ihren Friedensdienst in der Bundeswehr zu leisten, haben als Bundeswehrsoldaten in unserer Gesellschaft und in unserem Staat Anspruch auf mindestens — ich unterstreiche „mindestens", ich bin der Auffassung „mindestens" reicht nicht — dieselbe Achtung und Anerkennung wie die anderen.
Wenn wir an die Regelung des Zivildienstes herangehen, dann muß dies gesagt werden. Wir müssen auch eine Lösung im Sinne der Wehrgerechtigkeit für diejenigen finden, die weder Zivildienst noch Wehrdienst leisten. Das ist ebenfalls von uns so angekündigt worden.
Wenn wir eine Jugendpolitik machen, die in die Zukunft gerichtet ist, dann sollten wir uns Sorgen um die jungen Leute machen, die beginnen auszusteigen. Das ist wahr. Wir können diese jungen Leute nicht im Abseits lassen. Wir müssen Modelle weiterführen, wir müssen die Erfahrungen der Wissenschaftler und Pädagogen zu Rate ziehen, um diesen Menschen helfen zu können. Aber wir dürfen ob der Sorge um diese jungen Menschen nicht die anderen jungen Menschen vergessen, die nicht aussteigen,
sondern die ihren sozialen Dienst leisten, die tätig sind bei der Jugendfeuerwehr, beim Jugend-RotKreuz und die sich freiwillig bereit finden, in Sozialstationen ohne Entgelt Menschen zu pflegen, für ältere Mitbürger dazusein. Diese jungen Menschen haben auch einen Anspruch darauf, daß sie einmal im Deutschen Bundestag anerkannt werden und daß wir ihnen dafür Dank sagen, daß sie einen Dienst für die Gemeinschaft leisten.
Glaubwürdigkeit der Politik ist etwas, was junge Leute von uns verlangen. Sie beobachten uns sehr genau hinsichtlich der Frage, ob es tatsächlich so sein muß, daß Lüge, Täuschung und Betrug sozusagen in der Volksmeinung immer identifiziert werden mit der Politik, ob Goethe recht hat, daß „politisch Lied ein garstig Lied" ist. Es geht uns alle miteinander an, alle miteinander.Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Überlegung sollte uns alle etwas nachdenklich machen. Ich persönlich bin davon überzeugt, daß dies kein Naturgesetz ist, daß es kein Naturgesetz sein muß, Politik nur treiben zu können, indem man den anderen täuscht, indem man den anderen demagogisch in eine falsche Ecke stellt. Wir können uns miteinander auseinandersetzen in Klarheit, aber auch in Wahrhaftigkeit. Wir wollen einen Wahlkampf führen. Es ist vielleicht der erste Wahlkampf seit langen, langen Jahren, in dem wir, die Koalitionsparteien und die Regierung, den Menschen vor der Wahl die Wahrheit sagen, ihnen sagen, welche Opfer sie zu bringen haben, und nicht erst nach der Wahl damit herauskommen. Dies ist ein Kennzeichen dieses Wahlkampfes. Ich bin fest davon überzeugt, daß die Menschen, auch die jungen Menschen, einer Politik, die vor der Bundestagswahl sagt, welche Opfer gebracht werden müssen, mehrheitlich das Vertrauen aussprechen werden.
Ich gebe das Wort dem Herrn Abgeordneten Jaunich.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung hat hier vor wenigen Minuten den Ärzten für ihre vorbildliche Haltung gedankt. Ich weiß nicht, ob er zu dieser Zeit bereits im Besitz einer ddp-Meldung mit der Uhrzeit 14.24 Uhr war, die die Überschrift trägt: „Ärzte planen Verfassungsklage gegen neue Gebührenordnung".
Ich will das nicht so pauschal hier in den Raum stellen, denn es geht um eine ärztliche Organisation, es geht um den Hartmannbund, der da sagt, er werde diese Gebührenordnung bekämpfen mit allen Rechtsmitteln einschließlich einer Verfassungsklage.Herr Blüm, Sie haben den Eindruck erweckt, als wäre diese Gebührenordnung Ihre Erfindung. Das
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Jaunichhat j a wohl die vorige Bundesregierung bereits verabschiedet gehabt.
— Nein, es ist ja in Ordnung, daß Sie das gemacht haben. Ich will Ihnen nur das Prädikat mitteilen, was dieser Hartmannbund dieser Gebührenordnung und nunmehr auch Ihnen umhängt: sie fördere das sozialistische Ziel einer Einheitsgebühr. Dafür haben Sie sich hinreichend bedankt, Herr Blüm; dies ist Ihre Sache.Nun zu Ihnen, Herr Generalsekretär. Herr Minister Geißler, dies soll nicht billige Polemik sein, aber ich habe feststellen müssen, daß Sie mehr als die Hälfte Ihres Redebeitrages als Generalsekretär der CDU genutzt haben,
denn die Fragen Ihres Ressorts sind hierbei nur kurz weggekommen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Faltlhauser?
Bitte.
Herr Abgeordneter Faltlhauser.
Herr Kollege Jaunich, darf ich Sie daran erinnern, daß der Minister hier ausdrücklich gesagt hat, daß er entgegen der erwartbaren und tatsächlich feststellbaren Meinung der Ärzte gestern abend diese Gebührenordnung unterschrieben hat, und glauben Sie nicht, daß es gerade ein Zeichen der Ausgewogenheit der Politik dieser Bundesregierung ist?
Herr Kollege Faltlhauser, würden Sie bitte die Antwort am Saalmikrophon entgegennehmen.
Ich kann mich dieser Bewertung nicht anschließen, ich habe diesen Vorgang hier in das Geschehen eingebracht, weil dies ja wohl in einem diametralen Gegensatz zu der Feierrede steht, die Herr Blüm vor den Ärzten, den ärztlichen Verbänden gehalten hat.
Nun zu Ihnen, Herr Geißler. Wenn Sie hier schon als Generalsekretär gesprochen haben, dann erlaube ich mir, an Sie in dieser Funktion die Bitte zu richten, doch überall in Nordrhein-Westfalen, wo man der dortigen Landesregierung Vorwürfe macht, wenn es um die Beteiligung hochverdienender Eltern an den Kosten für Schulbücher oder an den Fahrtkosten geht, ein Wort an Ihre Fraktions- haben vortragen wollen —, die wir beschlossen haben, eigentlich den Mut nähmen, gegen Ihre Kürzungspolitik hier zu Felde zu ziehen. Nun, Herr Geißler, Sie sollten einmal die Reden nachlesen, die Sie in der Zeit gehalten haben, als wir zu solchen Maßnahmen greifen mußten. Dann ist wohl die Frage an Sie berechtigt, woher Sie denn nun eigentlich den Mut nehmen, uns jetzt Vorwürfe zu machen.bzw. Parteifreunde zu richten. Herr Geißler, Sie haben uns gefragt, woher wir angesichts einer Liste von Kürzungen — die Sie hier nicht vollständig Noch eins: Ich glaube nicht, daß wir unserem Volke dienen, wenn Sie hier versuchen, einen Gegensatz zwischen Helmut Schmidt und der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion aufzumachen.
Ich könnte Ihnen im übrigen jetzt kontern, indem ich Äußerungen von Herrn Strauß über Herrn Kohl oder auch Sie hier zum besten gebe. Ich werde mich hüten, das zu tun. Denn ich bin der Auffassung, daß die Bevölkerung diesen Streit sicherlich leid ist; ich will ihn nicht vertiefen.
In der Regierungserklärung vom 13. Oktober hat Bundeskanzler Kohl ausgeführt: „Ein zentraler Punkt unserer Politik ist die Familienpolitik." Im Wahlprogramm der CDU von 1980 steht dazu — alles sehr schön — noch viel mehr drin:Nach unserem Verständnis von Mensch, Gesellschaft und Staat hat die Familie eine überragende Stellung. Deshalb hat das Grundgesetz Ehe und Familie, die für uns nicht Leistungseinheit und Zufallsgemeinschaft sind, unter den besonderen Schutz des Staates gestellt. SPD und FDP waren unfähig oder nicht willens, diesem Verfassungsauftrag gerecht zu werden. Im letzten Jahrzehnt haben sich die Lebensbedingungen für die Familien deutlich verschlechtert. Wird die Politik von SPD und FDP hier nicht abgelöst, gerät die Familie auf die Schattenseite der Gesellschaft. Wir werden diese familienfeindliche Politik beenden.
Ein letzter Satz aus diesem Wahlprogramm: „Eine Politik, die jetzt an der Familie spart, wird uns allen teuer zu stehen kommen." Ich kann nur sagen: Wie wahr! Aber: Sie haben doch all die Jahre Familienpolitik ganz verkürzt als Kindergeldpolitik hier darstellen wollen. Familienpolitik ist aber umfassend. Zumindest wir haben sie als umfassende Fürsorge, als stützende Politik für Familien betrieben. Familienpolitik geht über reine Geldleistungsgesetze hinaus. Dies haben Sie all die Jahre negiert.Aber wie sieht es denn nun mit den Geldleistungsgesetzen aus, seitdem Sie die Richtlinien der Politik bestimmen? Anspruch und Wirklichkeit in der Familienpolitik haben nie so weit auseinandergeklafft, wie wir heute bei Ihnen unter Ihrer Federführung feststellen müssen. Nun kann man ja sagen: Das Wahlprogramm 1980 liegt schon lange zurück; da sind andere Entwicklungen eingetreten. Aber, meine Damen und Herren, die Regierungserklärung ist gerade erst vier Wochen alt, und in der sagen Sie j a sehr markig, daß Familienpolitik ein
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Jaunichzentraler Punkt Ihrer Politik sein solle. Wie aber sieht die Wirklichkeit aus? Kindergeld wird gekürzt, BAföG-Leistungen werden zusammengestrichen, in die Sozialhilfe wird nahezu brutal eingeschnitten, Wohngeld wird gekürzt, Mietrecht wird verändert mit der Folge steigender Mieten, die Mehrwertsteuer wird erhöht.Jetzt kommt eine für mich noch nicht zu beurteilende Situation, und deswegen frage ich Sie: Was soll denn im Haushaltsbegleitgesetz der Art. 11, der dort noch als „offen" bezeichnet wird? Was wollen Sie denn dort im Laufe der weiteren Beratungen noch hineinbringen? Diese offene Position findet sich genau zwischen Art. 12 — Bundeskindergeldgesetz — und Art. 10 — Bundessozialhilfegesetz —; das deutet also darauf hin, daß es im sozialen Bereich noch etwas geben wird, mit dem Sie uns überraschen werden. Soll es denn der schon einmal geplante Abbau der Unterhaltsvorschußkassen sein? Oder sollen es Eingriffe in den Mutterschaftsurlaub sein? Sie werden diese Fragen noch zu beantworten haben.Sie sprechen vom Kindergeld und tun oft so, als werde den Gutverdienenden da ein Opfer abverlangt, weil ja die soziale Symmetrie ansonsten nicht darzustellen ist: Der uns vorliegende Entwurf schließt nicht aus, daß das Einkommen um Verluste aus anderen Einkunftsarten gemindert wird oder daß Verluste des Ehepartners verrechnet werden und damit also die Einkommensgrenze, die Sie gezogen haben, unterlaufen wird. Diese Lücke wird doch wohl geschlossen werden müssen, damit nicht Abschreibungskünstler oder andere trotz hohen Einkommens von dieser Kürzung verschont bleiben.
Ich will in den Gesamtzusammenhang noch Ihre Freibetragsregelung hineinstellen. Sie haben das hier soeben so dargestellt, als sei es das Normalste von der Welt, wenn jemand, der ein hohes Einkommen hat und demzufolge viel Steuern zahlen muß, für sein Kind auch höhere Erstattungen bekommt. Nein, wir gehen von der Situation der Kinder in den Familien aus. Und da sind wir der Meinung, daß derjenige, der hohe Einkünfte hat und seinen Kindern daher ohnehin mehr bieten kann, vom Staat nicht auch noch eine höhere Prämierung erhalten muß. Nein, nein, so nicht! Das alles im Zusammenhang mit Familien-Splitting und ähnlichem läßt Dunkles befürchten.Ich will hier noch einmal die historische Wahrheit herausarbeiten. Als wir im Rahmen der „Operation 1982" — Herr Geißler, damals ging es um eine Vorgabe für die damalige Ministerin von 1,7 Milliarden DM — diese Kürzung — Rücknahme der Erhöhung, müßte man besser sagen — von 20 DM bei den Zweit- und Drittkindern für alle durch die Einführung von Einkommensgrenzen vermeiden wollten, hat dies unser damalige Partner FDP nicht mitgemacht. Der Herr Kollege Eimer wird mir zustimmen, und auch die jetzige Generalsekretärin der FDP wird das nicht bestreiten können. Das ist von Ihnen, meine Damen und Herren von der FDP, mit den hohen Verwaltungskosten begründet worden. Bei einem Einsparungsvolumen von 1,7 Milliarden DM standen damals 200 Millionen DM Verwaltungskosten zu Buche, die für Sie eine unüberwindbare Hürde waren. Nun, bei einem wesentlich geringeren Volumen, sind Sie plötzlich bereit, diesen Einkommensgrenzen zuzustimmen. Dies werden Sie noch erklären müssen.Wenn Sie, Herr Minister Geißler, jetzt die Verwaltungskosten auf 80 Millionen DM heruntergerechnet haben, so werden Sie uns bei den Ausschußberatungen noch sehr, sehr deutlich vorführen müssen, wie Sie zu nur 80 Millionen DM Verwaltungskosten gekommen sind. Ich bin gespannt auf die Reaktion der Kollegen von der FDP, die ja seinerzeit die Verwaltungskosten sehr hoch veranschlagt haben.Was uns also seinerzeit, als wir nur darüber nachdachten, wie man künftig Zuwächse beim Kindergeld vom Einkommen abhängig machen könnte, als sozialistische Gleichmacherei ausgelegt wurde, ist nunmehr wohl christliche Wohlfahrt: die Einziehung von Einkommensgrenzen beim Kindergeld.
Was die Einsparungen anbelangt, ist ja wohl auch noch nicht alles in trockenen Tüchern, Herr Minister Geißler. Da gibt es in Ihren Reihen eine ganze Menge von Stimmen, die befürchten, daß das maximal 500 oder 600 Millionen DM sein werden. Und Sie sind sich ja möglicherweise auch darüber im klaren, daß Sie, ausgehend von dem Bundesverfassungsgerichtsurteil, in bezug auf die Beamten noch eine Sonderlösung werden treffen müssen. Das müssen Sie doch hier in Rechnung stellen.Lassen Sie mich noch einen anderen Bereich ansprechen, und zwar den der Sozialhilfe. Anstelle einer dreiprozentigen Steigerung vom 1. Januar nächsten Jahres an, die die CDU-Mehrheit damals im Vermittlungsverfahren über den Bundesrat durchgesetzt hat, nun nur noch 2 %, und das ab 1. Juli nächsten Jahres! Herr Minister Geißler, ich trete Ihnen sicherlich nicht zu nahe, wenn ich Sie als den Erfinder der „neuen sozialen Frage" bezeichne. Wie muß Ihnen denn eigentlich zumute sein?
— Gut? Das wird Herr Geißler vielleicht gar nicht so gern hören; denn er hat ja in einem Zeitungsinterview versucht, etwas abzulenken, und hat gesagt, er habe dies nicht verhindern können, denn er habe der Bundesregierung damals noch nicht angehört. Nun nehme ich aber an, daß Sie als Generalsekretär an den Koalitionsvereinbarungen beteiligt waren. Wenn Sie das so sehen, wie Sie es bei der neuen sozialen Frage beschrieben haben, dann ist Ihre Haltung für mich nicht erklärlich. Und im übrigen haben wir doch in den letzten Tagen oder Wochen auch sehen können, daß es Dinge gibt, die in der Koalitionsvereinbarung stehen und die Sie dennoch versucht haben oder bereit sind zu reparieren.Die Sozialhilfeempfänger, sind das denn jene, die ein leistungsloses Einkommen haben? Sehen Sie
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Jaunichnicht, daß sich darunter auch Familien verbergen? Sie sprechen doch immer von der Situation der Familien in unserem Lande.
Schauen Sie sich doch einmal an, worin das Potential der Sozialhilfeempfänger überwiegend besteht! Das sind doch nicht die Penner und die Gammler! Sie haben vorhin voller Stolz erklärt, es sei schließlich Ihre Leistung gewesen, das Bundessozialhilfegesetz zu schaffen. Sie haben hier völlig den Kurs von Graf Lambsdorff übernommen. Ich kann Herrn Lambsdorff und anderen nur sagen: Verzichten Sie bitte einen einzigen Monat in Ihrem Leben auf Amtsbezüge, Ministergehälter, Vorstandsgehälter und was weiß ich sonst, leben Sie einen Monat lang mal von 338 DM, die ein erwachsener Sozialhilfeempfänger im Monat als Barleistung bezieht!
Wenn Sie nicht bereit sind, diesen Streit mit mir theoretisch zu führen, wird Ihnen vielleicht diese praktische Erfahrung zeigen, daß hier nichts zu sparen ist, daß hier nichts abzumagern ist, daß man 50 Gramm Zahnpasta im Monat, die in diesem Warenkorb enthalten sind, nicht noch verringern kann, daß 1 095 g Fleisch im ganzen Monat oder 850 g Kohl — Rotkohl ist übrigens auch dabei — für einen erwachsenen Menschen nicht als zuviel angesehen werden können. Und Sie haben aus der Koalitionsvereinbarung noch die Aufgabe, den Warenkorb abzumagern.Ich kann nur sagen: Das, was Sie hier getan haben, was zu tun Sie bereit sind, ist kein Anschlag auf die Verfassung, aber es ist ein Verrat an Prinzipien, die Sie einmal selbst aufgestellt haben. Und dies ist eine schlimme Sache.
Lassen Sie mich zum Abschluß, da ich auf andere Bereiche nicht mehr eingehen kann, nur noch zusammenfassend sagen: Schlimmer als dieser Leistungsabbau an vielen Ecken und Enden, den Sie vorhaben, ist, daß er vor allem sozial schwache Schichten trifft, daß er unsystematisch erfolgt und kein Mensch weiß, in welchem Umfang sich die Leistungsentzüge bei Familien und in bestimmten Familiensituationen kumulieren. Daß sich der Fortfall von Leistungen für viele Familien kumulieren wird, etwa hinsichtlich Kindergeld, Wohngeld, BAföG, steht doch außer Frage.
Wie und inwieweit vertretbar, darüber hat die neue Regierung keine Rechenschaft gegeben.
Sie weiß es nicht, sie weiß tatsächlich nicht, welche Wirkungen diese Maßnahmen haben, die wahllos aneinandergereiht sie durchzusetzen entschlossen ist.Und dies ist noch nicht alles. Zu diesem Abbau an verfügbarem Einkommen durch einschneidende Kürzung sozialer Leistungen tritt die Mehrwertsteuererhöhung, die die reale Kaufkraft der Ein-kommen weiter schmälert. Und es kommt die Lohnpause dazu, die man dann auch noch erwähnen muß. Der zunehmende Ausfall konsumtiver Endnachfrage trifft nicht nur die Lebensverhältnisse vieler Familien mit Kindern, sie drosselt auch die volkswirtschaftliche Entwicklung weiter ab.Diesen Weg mit Ihnen zu gehen, sind wir nicht bereit. Deswegen werden Sie auf unseren entschiedenen Widerstand treffen, der nicht alternativlos im Raume steht. Die Alternativen sind bereits in vielen Bereichen hinlänglich deutlich gemacht worden. Deswegen können Sie von uns nicht erwarten, daß wir Sie schonen, zumal einiges, was in Ihren Ankündigungen drinsteht, von Ihnen erst mit Wirkung ab 1984 ins Auge gefaßt ist. Sie werden damit rechnen müssen, daß wir dies in aller Schonungslosigkeit hier im Parlament, aber auch draußen, der Öffentlichkeit vermitteln.
Der Herr Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit hat um das Wort für eine kurze Erklärung gebeten. Ich erteile ihm das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe mich nicht gemeldet, um auf den Diskussionsbeitrag einzugehen,
mit Rücksicht auf die Kollegen, die noch drankommen. Wir können die Diskussion aber im Ausschuß fortsetzen. — Ich habe mich wegen etwas anderem gemeldet.
Ich habe auf einen Zwischenruf des Kollegen Wehner gesagt: „Herr Wehner, es ist gut, daß Sie aufwachen!" Ich möchte mich bei Ihnen, Herr Wehner, ausdrücklich dafür entschuldigen.
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Höpfinger.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vorweg möchte ich auf die Beiträge einiger Kollegen eingehen, deren Aussagen so nicht im Raum stehenbleiben dürfen.Herr Kollege Rappe, in einer Art, die man an und für sich von Ihnen sonst nicht gewohnt ist, haben Sie heute u. a. auch zur Arbeitslosigkeit Stellung genommen. Sie haben dann formuliert, wie wir die Arbeitslosigkeit sähen. Sie kamen zu der Aussage, daß es eine Diffamierungskampagne gegen Arbeitslose aus unseren Reihen gäbe. Herr Kollege Rappe, das ist eine pauschale Schuldzuweisung an uns. Ich weise diese Schuldzuweisung auf das entschiedendste zurück.
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7822 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982
HöpfingerWir sehen Arbeitslosigkeit, genau, wie Sie es gesagt haben, als menschliches Problem. Auch für uns ist Arbeitslosigkeit nicht nur ein finanzielles Problem, sondern in erster Linie ein menschliches Problem. Was sagen wir denn den Kolleginnen und Kollegen aus der Arbeitswelt, die mit 40, 42, 45 Lebensjahren zu uns kommen und denen das Arbeitsamt gesagt hat: Wir können Sie nicht mehr vermitteln? Die kommen aus Betrieben, in denen sie 20, 25, 30 Jahre gearbeitet haben. Nun sind sie arbeitslos geworden, weil die Betriebe geschlossen haben. Da spüren wir doch alle dieses menschliche Problem. Es ist ungerecht, Herr Kollege Rappe, einer Fraktion wie der CDU/CSU zuzuschreiben, sie würde eine Diffamierungskampagne gegen die Arbeitslosen betreiben. Das ist nicht der Fall.
Es trifft zu, daß es zu Beginn der Arbeitslosigkeit Stimmen über diese oder jene Sorte von Arbeitslosen gegeben hat. Ich bin der Meinung, diese Diffamierungen sind längst verstummt. Jeder in unserem Lande weiß, welches Kreuz und welche Last die Arbeitslosigkeit für die Betroffenen und für ein ganzes Volk ist.Das zweite. Herr Kollege Lutz, Sie haben den Kollegen Cronenberg über unser Verhalten, also über das Verhalten der CDU/CSU-Fraktion in der Oppositionsrolle gefragt. Als Angehöriger der CDU/ CSU-Fraktion darf ich sagen: Wir haben uns stets bemüht, eine verantwortungsvolle Oppositionsarbeit zu leisten. Wir haben Maßnahmen zugestimmt, wo wir sie für sinnvoll hielten, und wir haben nein gesagt, wo wir Systemveränderungen erkannten.Ich darf zwei Beispiele nennen. Zunächst meine ich den Krankenversicherungsbeitrag der Rentner. Da war Anfang September in Bad Godesberg eine Tagung des VdK. Es wäre ein leichtes gewesen, als Oppositionsabgeordneter so zu formulieren und so zu reden, daß man sich den Beifall der dort versammelten 2 000 oder 3 000 VdK-Angehörigen hätte erheischen können. Ich habe es abgelehnt und lieber gesagt, daß ich zum Krankenversicherungsbeitrag der Rentner stehe, weil ich ihn für sinnvoll halte, weil ich ihn für notwendig halte. Ich rufe den Kollegen Glombig, der als Vertreter der SPD-Fraktion dort gesprochen hat, und ebenso den Kollegen Hölscher von der FDP als Zeugen an.Wir sagen ja zu notwendigen Dingen, aber wir haben nein gesagt zum Finanzausgleich der Kassen, weil es eine Nivellierung im Gesundheitssystem ist, weil es nicht in unsere Landschaft paßt und weil es ordnungspolitisch falsch ist.
Wir haben also dort ja gesagt, wo es notwendig war, und nein dort, wo wir Systemveränderungen oder ordnungspolitisch falsche Schritte erkannten.Ein drittes Wort zum BAföG, weil das jetzt einige Male angesprochen worden ist. Dazu werden nachher unsere verehrten Kolleginnen und Kollegen, die ständig in diesem Bereich arbeiten, mehr sagen. Ich darf das als Abgeordneter sagen, zu dem viele Leute kommen und der sich bemüht, mit den jungen Leu-ten, mit den jungen Menschen viel Kontakt zu halten. Beim Schüler-BAföG bin ich der Meinung, daß es einen sehr schlechten Ruf erhalten hat, weil manche Eltern hier ein Fehlverhalten an den Tag legten. Das Geld sollte an und für sich in den Familienhaushalt einfließen. Aber es ist sehr oft bei den Schülern zur persönlichen Verwendung geblieben. Man braucht nur einmal die Diskussion unter den Schülern zu hören, jenen, die Schüler-BAföG bekommen, und jenen, die es nicht bekommen. Dann erfährt man, wie darüber gedacht wird.
Selbst wenn dieses Urteil hinkt, meine ich: Wo das Schüler-BAföG heute notwendig ist, weil der Schüler auswärts wohnen muß, soll es weiter gewährt werden, und diese Notbremse ist eingebaut. Aber wo junge Menschen glauben, aus dieser oder jener Entscheidung von zu Hause weggehen zu müssen, sich eine eigene Wohnung nehmen zu müssen, da müssen sie ihre Entscheidung selber finanzieren und dürfen die Last dafür nicht dem Staat auftragen. Dafür ist der Staat nicht verantwortlich.
Auch zum Studenten-BAföG ein ganz offenes und ehrliches Wort. Ist Bildung nicht ein persönlicher Wert? Wenn der Staat einem jungen Menschen hilft, daß er einen Bildungsgang durchstehen kann, daß er seine berufliche Bildung auf Grund von staatlichen Mitteln abschließen kann — der Staat ist doch die Summe aller Bürger und der Steuergelder aller Bürger —, ist es dann nicht angebracht, daß diese Studenten, wenn sie mit ihrer Ausbildung fertig sind und im Beruf stehen, dieses Geld dem wieder zurückgeben, der es ihnen gegeben hat, nämlich dem Staat?
Ein ganz einfaches Beispiel: Der Arbeiter, der ein Häuschen baut und vom Staat 20 000 oder 30 000 DM Staatsbaudarlehen bekommt, der diskutiert gar nicht darüber, ob man das zurückbezahlt. Im Gegenteil, er strengt sich an, sich möglichst bald zu entschulden. Das Häuschen ist ein persönlicher Wert. Die Bildung ist es auch, und ich glaube, unsere Jugend versteht das auch, wenn man sinnvoll mit ihr darüber redet.
Herr Kollege Jaunich, Sie haben die Rede des Ministers als die Rede des Generalsekretärs bezeichnet. Ich bin der Meinung, daß demokratische Parteien natürlich die Aufgabe haben, politische Fragen in ihren Parteigremien vorzudiskutieren, Linien aufzuzeigen, Wegweiser aufzustellen. Aber ich möchte schon in aller Deutlichkeit sagen: Der Herr Minister Geißler hat als Familienminister gesprochen. Das war durchaus erkennbar. Wir werden ja morgen, wenn der Minister zu uns in den Ausschuß kommt, erleben, daß er diese Fragen in seinem Amt als Familienminister auch im familienpolitischen Sinn behandeln wird.Dem von der Bundesregierung eingebrachten Haushalt liegen jetzt realistische Ausgangsdaten
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Höpfingerzugrunde. Auf Grund der der Wirtschafts- und Finanzlage entsprechenden Daten mußten Haushaltsansätze geändert werden; denn der Haushaltsentwurf, den der frühere Bundesfinanzminister vorgelegt hat, war alles andere als „stocksolide".
Der ganze Datenkranz war auf falschen Annahmen aufgebaut.
Es stimmten nicht die Daten über die Wirtschaftsentwicklung, es stimmten nicht die Daten über die Steuereinnahmen, es stimmten nicht die Aussage über die Arbeitslosenzahlen, und es stimmte nicht die Aussage über die Zuschüsse an die Bundesanstalt für Arbeit.Ihre Frage ist berechtigt, Herr Kirschner. Ich komme gleich darauf zu sprechen; denn ich bin der Auffassung: Natürlich hat der frühere Bundesfinanzminster auch gewußt, daß die Zahlen vom Juni 1982
im September 1982 nicht mehr stimmten. Nur habe ich den Verdacht, daß es im Herbst 1982 auf zwei Termine ankam, die in der politischen Landschaft standen: die Wahl in Hessen und die Wahl in Bayern. Deshalb wollte man vor diesen Wahlen mit den Zahlen vom Juni und nicht mit den Zahlen arbeiten, die inzwischen längst bekannt waren. Man wollte also diese Termine abwarten. Nachher ist es nicht mehr zur Offenlegung gekommen.
Die geringeren Haushaltsansätze im Haushalt des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit sind die negative Folge der Wirtschaftskrise und der seit Jahren anhaltenden und immer schlimmer gewordenen Arbeitslosigkeit; eine negative Entwicklung, für die die frühere Bundesregierung einzustehen hat. Manche Vertreter der SPD-Opposition erwecken ja den Eindruck, als seien sie nie Regierungspartei gewesen. Reden, wie sie der Kollege Rappe heute nachmittag gehalten hat, werden uns dazu veranlassen, immer wieder darauf hinzuweisen: Die zurückliegenden 13 Jahre haben Sie zu verantworten;
denn als die SPD 1969 die Regierung übernahm, übernahm sie eine gesunde Wirtschaft, geordnete Finanzen und einen Arbeitsmarkt, der durch Vollbeschäftigung gekennzeichnet war.Damals gab es rund 150 000 Arbeitslose, und auf jeden von ihnen entfielen vier offene Stellen. Das ist ja das Erschütternde an der Arbeitsmarktzahl vom 5. November dieses Jahres: daß neben der hohen Arbeitslosigkeit von 1 920 000 eine so niedrige Zahl — die niedrigste Zahl, die es je gab — an offenen Stellen zu melden war, nämlich 69 800. Als Sie jetzt von der Regierungsverantwortung abgelöst wurden, hinterließen Sie eine stark geschwächteWirtschaft, leere Kassen, Schulden und 2 Millionen Arbeitslose. Das also ist die Bilanz Ihrer Regierungszeit.Sie verweisen auf die Wirtschaftskrise in der Welt. Ich möchte ganz ehrlich gestehen: Ich habe bei keiner meiner Versammlungen im Wahlkreis oder sonst irgendwo im Lande die wirtschaftlichen Schwierigkeiten in der Welt verschwiegen, weil wir ein rohstoffarmes Land, weil wir ein energieabhängiges Land sind. Aber da fängt es doch schon an. Was ist denn in Ihrer Regierungszeit hinsichtlich der Frage der Energieversorgung geschehen? Pläne, Diskussionen, wieder zurückgezogen, wieder neu eingebracht, erneut Diskussionen. Ich habe manchmal den Eindruck, wir erschweren uns das Leben in unserem Lande schon selber genug. Wenn irgendwo ein Straßenbau geplant ist, hat man 5 000, 10 000 Unterschriften dagegen, ehe man eine Unterschrift einer Behörde hat. Wir rufen nach Arbeitsplätzen. Wenn wir selber die Entwicklung hemmen, werden wir dann zu neuen Arbeitsplätzen kommen?
Wir dürfen aber auch Ihre Fehler nicht verschweigen.In diesem Zusammenhang möchte ich doch an einen Brief erinnern, den Herr Dr. Ehrenberg an den Herrn Parteivorsitzenden Brandt geschrieben hat, nachdem er von seinem Amt als Bundesarbeitsminster entbunden worden war. In diesem Brief wird ausgesagt, daß ja Professor Schiller und der damalige Finanzminister Alex Möller deshalb zurückgetreten sind, weil sie darauf aufmerksam gemacht haben, daß die Reformeuphorie des Herrn Brandt nicht zu finanzieren ist und zu einer enormen Verschuldung führen muß. Herr Ehrenberg hat damit selbst bestätigt, was wir in unserer Partei bzw. in der CDU/CSU-Fraktion fortwährend gesagt und worauf wir ständig hingewiesen haben.
Sie haben also keinen Grund, die neue Bundesregierung anzugreifen, die den Versuch unternimmt, die Talfahrt abzubremsen, den ständig steigenden Staatsausgaben Einhalt zu gebieten, die Wirtschaft anzukurbeln, um auf diese Weise der jungen Generation eine berufliche Zukunft zu ermöglichen und den Arbeitslosen wieder eine Arbeitsplatzchance zu verschaffen.Diese Aufgabe ist sicher schwer. Sie führt an Einschränkungen nicht vorbei und fordert die Bereitschaft aller.Meine Damen und Herren, wir wollen das soziale Netz nicht zerschneiden,
sondern straffen, ehe es reißt, und wollen seine Stützpfeiler stärken, ehe sie brechen. Einschränkungen sind unangenehm; das bestreitet niemand. Doch wichtig ist die Frage, ob diese Einschränkungen vertretbar sind, und wichtig ist, wofür diese Einsparungen Verwendung finden.
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HöpfingerHier sind einige Leistungsbereiche anzusprechen, die finanzielle Auswirkungen auf die Familie haben. Ich möchte aber zunächst vorausschicken, daß für die Familienpolitik drei Formen der Hilfe erforderlich sind. Zum ersten die Wertschätzung, die Ehe und Familie verdienen, d. h. die Anerkennung gegenüber unseren Familien.
Das zweite ist der rechtliche Schutz, auf den Ehe und Familie Anspruch haben.Das dritte ist die materielle Hilfe, die die Mehrbelastung der Familie ausgleichen soll. Kindergeld ist Familienlastenausgleich.Gehen wir nun noch einmal zurück zur Kindergelderhöhung im Februar 1981. Die Erhöhung des Kindergeldes — für das erste Kind blieb es bei 50 DM, für das zweite Kind bei 120 DM, und für das dritte Kind und jedes weitere Kind gab es 240 DM — haben Sie ja nur mitgetragen, weil Ihnen die Länder dafür 1 Milliarde DM zur Verfügung gestellt haben.
Vor einem Jahr wurde von der alten Bundesregierung beim Kindergeld für das zweite und dritte Kind eine pauschale Kürzung vorgenommen.Auch hier möchte ich offen sein: Ich habe bei einer Reihe von Kollegen festgestellt — ich brauche nur an Herrn Kollegen Westphal zu erinnern —, welche Bitternis das bei ihnen ausgelöst hat. Sie haben nämlich die Familien pauschal getroffen. Diese Regelung hat vor allem die einkommensschwachen Familien spürbar getroffen.Dieser Weg soll nicht weiter beschritten werden. Die Haushaltssituation zwingt zwar zu weiteren Einsparungen im Kindergeldbereich, doch sollen diese Einsparungen von 980 Millionen DM durch die Einführung von Einkommensgrenzen im Kindergeldbereich erreicht werden. Es ist also keine Kürzung nach der Heckenscherenmanier, sondern es ist eine ausgewogene und zumutbare Belastung.
Ich sage nicht: Die können leicht verzichten. Das wäre vermessen. Ich bin der Meinung: Das, was jetzt kommt, bedeutet für die betroffenen Familien eine Kürzung des Familieneinkommens. Aber ist es zumutbar, daß eine Familie mit zwei Kindern und 3 500 DM Nettoeinkommen im Monat auf 30 DM monatlich verzichten muß?
Herr Abgeordneter, lassen Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Jaunich zu?
Ja.
Bitte, Herr Abgeordneter Jaunich.
Herr Kollege Höpfinger, wenn Sie dies als zumutbar empfinden: Wollen Sie uns dann bitte erklären, warum Sie seinerzeit großen Widerstand gegen die Kappung des Ehegattensplittings geleistet haben?
Ich habe das nicht verstanden.
Wenn Sie dies als annehmbar hinstellen, Herr Kollege Höpfinger: Wollen Sie uns dann bitte Ihren damaligen Widerstand gegen die Kappung des Ehegattensplittings für Hochverdienende erklären?
Ich war persönlich gegen die Kappung des Ehegattensplittings, weil ich den Eindruck hatte: Da wird zwar zunächst oben angefangen, aber das ist wie bei einer Schraubenmutter, die man oben ansetzt: Von Jahr zu Jahr wird weitergedreht, und allmählich ist man unten. — Das war für mich der Grund, warum ich zur Kappung des Ehegattensplitting nein sage.
Ich wollte aber noch fortfahren und fragen: Ist das Opfer zumutbar, wenn eine Familie mit vier Kindern bei einem monatlichen Nettoeinkommen von 4 800 DM im Monat 210 DM einbüßt? Spürbar ist das. Aber ich glaube, auf Grund der augenblicklichen Kassensituation, auf Grund der leeren Kassen, die Sie uns hinterlassen haben, muß man dieses Opfer verlangen.Ich bin z. B. der Auffassung, daß man die Meinung der Union der Leitenden Angestellten nicht einfach in den Wind schlagen sollte. Man sollte nicht immer so tun: Die haben's ja, die können's ja. — Auch dort summieren sich die Leistungen. Ich glaube der Aussage der Union der Leitenden Angestellten, daß es für eine Familie aus diesem Kreis mit vier Kindern schon ein spürbares Opfer ist, wenn sie im Jahr 6 000 DM, monatlich also 500 DM einbüßt. Es ist ein Opfer, das wir anerkennen und von dem wir sagen müssen: Das muß gegenwärtig verlangt werden, und wir hoffen, daß es getragen wird.Ich möchte noch kurz den Sozialhilfebereich ansprechen. Dort sind meines Erachtens neue Überlegungen notwendig. 1970 hatten wir 1,5 Millionen Sozialhilfeempfänger. 1981 waren es 2,2 Millionen. Der Anstieg der Sozialhilfeausgaben weist eine ganz andere Steigerung aus: 1970 3,3 Milliarden DM, 1981 14,8 Milliarden DM.Herr Kollege Jaunich hat auf die Sozialhilfeempfänger im familiären Bereich hingewiesen. Ich möchte auf eine ganz neue Gruppe von Sozialhilfeempfängern hinweisen, die leider viel zu wenig gesehen wird. Für Personen, die in Heimen untergebracht sind, betragen die Ausgaben für Hilfen in besonderer Lebenslage 8,6 Milliarden DM. Vier Fünftel der pflegebedürftigen alten Menschen sind auf Grund der Kostenentwicklung in den Heimen zu Sozialhilfeempfängern geworden. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ein pflegebedürftiges Rentnerehepaar mit mehr als 4 000 DM monatlichen Ruhegehalt bedarf der Bundessozialhilfe, wenn es
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HöpfingerPflegeplätze im Alten- oder Pflegeheim in Anspruch nehmen muß. Das ist eine völlig neue Situation.Meine Damen und Herren, die Lebenserwartung der Menschen nimmt zu. Wir haben die Chance, älter zu werden. Wie es im Alter mit dem Gesundheitszustand bestellt ist, wissen wir nicht. Und wie die letzten Lebensjahre oder -monate aussehen, vermag keiner zu sagen. Dieses neue soziale Problem bedarf dringend einer Lösung, wenn dem Pflegebedürftigen eine menschenwürdige Behandlung gesichert und die Länder und Kommunen von den enormen Kosten der Sozialhilfe entlastet werden sollen.Herr Kollege Jaunich, das war der Grund, warum von 3 % auf 2 % zurückgegangen wurde:
weil damit der Bund um 2 Millionen, die Länder um 11 Millionen, die Gemeinden um 90 Millionen DM entlastet werden.Ich glaube, was erreicht werden muß, ist ein Umdenken in den Generationen. Es sind nicht nur die Eltern für ihre Kinder verantwortlich, sondern die Kinder sind auch für ihre alten Eltern verantwortlich. Das gilt es wieder deutlich herauszustellen.
Herr Abgeordneter, Sie sind zwar am Ende Ihrer Redezeit; dennoch muß ich Sie fragen, ob Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kirschner zulassen.
Jetzt nicht mehr, Herr Präsident. — Herr Kollege Kirschner, wir haben sicher zu einer anderen Zeit Gelegenheit, über verschiedene Fragen zu diskutieren. Meine Redezeit ist abgelaufen. — Herr Präsident, die Ordnung in der Zeit ist meines Erachtens der Anfang der Ordnung im Leben. Darum jetzt zum Schluß!
Es geht darum, das Ziel im Auge zu haben. Unser Nahziel heißt: Heraus aus der Krise, Investitionen ermöglichen, Arbeitsplätze schaffen, Arbeitslosigkeit lindern, der Jugend eine Berufschance geben, die Verschuldung abbremsen, die Staatsausgaben drosseln. Wir wollen einen Weg gehen, der trotz aller Beschwernisse zu besseren Verhältnissen führt, zu Verhältnissen, in denen der Sozialstaat Eigenverantwortung, Leistungsanerkennung, Mitmenschlichkeit und Gemeinschaftsbezogenheit fördert. Wir wollen erreichen, daß der Staat hier wieder seine Bestätigung findet. — Danke schön.
Ich erteile dem Abgeordneten Eimer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit Beginn dieser Legislaturperiode steht das Wort „Sparen" als Überschrift über allen Haushaltsplänen. Weil wir es offensichtlich mit dem Sparen nicht so ganz hingebracht haben, wie wir es uns vorgestellt hatten, ist ja wohl die alte Koalition zerbrochen. Wir wissen, wie notwendig dieses Sparen auch in Zukunft ist, und wir wissen
auch, was es bedeutet, daß wir im Bereich der sozialen Gesetzgebung die Hauptlast zu tragen haben.
Auch das Kindergeld ist leider wieder in die Schußlinie gekommen. Der Finanzminister hat ein Modell vorgetragen, bei dem die höheren Einkommen belastet, die Bezieher kleinerer Einkommen aber ohne Kürzungen bleiben sollen. Solche Einkommensgrenzen hat unser Bundesvorsitzender j a schon in der sozialliberalen Koalition angeboten. Sie sind damals wegen der zu aufwendigen Bürokratie gescheitert.
Herr Jaunich, ich muß zugeben, daß meine Bedenken heute wie damals die gleichen sind. Sie haben sich nicht geändert. Sie beziehen sich nicht nur auf die aufwendige Bürokratie.
Trotz aller Bedenken, die es in unserer Fraktion gegen dieses Verfahren gibt, hat unser Bundesvorsitzender Genscher damals Ihnen — wie auch der heutigen Koalition — diese Einkommensgrenzen zugebilligt, damals auch zur Rettung der Koalition. Es war leider nicht möglich. Die Einkommensgrenzen sind — das müssen Sie zugeben — damals in erster Linie wegen der zu aufwendigen Bürokratie gescheitert.
Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, daß alleinerziehende Personen mit Kindern bei der geltenden Besteuerung zu hoch belastet werden und daß Abhilfe bis 1984 geschaffen werden muß.
Herr Abgeordneter, der Abgeordnete Jaunich möchte Ihnen eine Zwischenfrage stellen. Sind Sie damit einverstanden?
Ja.
Bitte, Herr Abgeordneter Jaunich.
Herr Kollege Eimer, sind Sie bereit, mir zuzugestehen, daß seinerzeit bei der sogenannten Operation '82 die Einführung von Einkommensgrenzen beim Kindergeld an Ihnen und Ihrer Fraktion gescheitert ist,
und sind Sie weiterhin bereit anzuerkennen, daß Sie, nachdem es die großen Bedenken gegen die hohen Verwaltungskosten bei Ihnen gegeben hat, diese Frage auf eine Ebene mit Karenztagen und Absenkung des Arbeitslosengeldes gezogen haben?
Herr Jaunich, ich kann es nicht bestätigen.
Die Einkommensgrenzen wären gescheitert, wenn sich meine Meinung durchgesetzt hätte. Aber damals hat unsere Fraktion und unser Bundesvorsitzender Ihnen die Einkommensgrenzen zugebilligt. Ich habe nach wie vor Bedenken gegen Einkommensgrenzen. Doch ich werde mich in dieser Koalition den Mehrheiten genauso beugen, wie ich es damals getan habe. Aber nochmals: Damals sind die
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Eimer
Einkommensgrenzen an dem hohen Verwaltungsaufwand gescheitert.
Lassen Sie mich fortfahren. Ich bin vorhin bei der Forderung des Bundesverfassungsgerichts stehengeblieben. Diese Forderung des Bundesverfassungsgerichts deckt sich mit den löblichen Absichten dieser Regierung, ein Familiensplitting einzuführen und dadurch das alte Ehegattensplitting zu ersetzen. Alle Kinderfreibeträge oder ähnliche Konzeptionen werden nach meiner Überzeugung dadurch überflüssig. Auch die Funktion des Kindergelds wird wohl eine andere sein.Ich frage mich deshalb, ob es sich wirklich lohnt, wegen eines Jahres für Einkommensgrenzen beim Kindergeld eine umständliche und teure Bürokratie aufzubauen. Ich meine nach wie vor, daß es besser und einfacher, vielleicht auch gerechter wäre, wenn wir zu einer steuerlichen Lösung kämen oder wenn man auf die Kinderfreibeträge von 432 DM, die ja aus dem alten Kinderbetreuungsbetrag entstanden sind, verzichten könnte.Ich sage aber gleich dazu, daß ich damit nicht mit einem unsittlichen Antrag auf unseren neuen Koalitionspartner zukommen will und Sie dazu überreden will, diese Freibeträge ganz abzuschaffen. Denn wenn das Familiensplitting vielleicht etwas später kommt, möchte ich Ihnen nicht zumuten, mit leeren Händen dazustehen. Ich meine, es würde genügen, wenn man die Freibeträge für ein Jahr aussetzen könnte. Wir würden uns dann, glaube ich, eine Menge Bürokratie ersparen. Betroffen sind in beiden Fällen die Bezieher höherer Einkommen; das ist also genauso wie bei Einkommensgrenzen.Mir sind natürlich die Schwierigkeiten bekannt, vor allem im Bereich des Finanzausgleichs mit dem Bundesrat. Der Bundesrat will ja bekanntlich das, was er damit bekommen würde, nicht mehr so gern hergeben. Aber wenn ich auf der anderen Seite diese Bürokratie sehe, dann muß es doch möglich sein, hier etwas weiterzukommen. Damit aber kein Irrtum entsteht: Ich will hier einen Vorschlag machen. Wenn sich diese Lösung nicht verwirklichen läßt, stehen wir selbstverständlich zu dem, was wir in der Koalition ausgemacht haben, so wie wir auch in der sozialliberalen Koalition dazu gestanden hätten.
Lassen Sie mich auf das Familiensplitting zurückkommen. Ich möchte hier dem Minister einige Anregungen geben. Wenn man das Familiensplitting einführt, ist es notwendig, daß man dabei bedenkt, daß die Bezieher von sehr niedrigen Einkommen nicht sehr viel davon haben, während die Bezieher von sehr hohen Einkommen große Vorteile haben. Ich denke, das sollte bei der Konzeption des Familiensplittings auf alle Fälle berücksichtigt werden.Ich bin dem Minister Geißler sehr dankbar für die Ankündigung der Wehrdienstnovelle. Die FDPbegrüßt das. Die Abschaffung der Gewissensprüfung ist überfällig. Die FDP steht seit Beginn der Legislaturperiode — wenn man das bei diesem Thema sagen darf — Gewehr bei Fuß. Wir wollen handeln. Ich fasse diese Ankündigung des Ministers als den Beginn dazu auf. Die Jugendlichen bei uns warten dringend auf diese Lösung. — Vielen Dank.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Schmidt .
Sehr geehrte Frau Präsident! Meine Herren und Damen! Es ist jetzt sehr wohltuend, daß es uns endlich zu später, zu vorgerückter Stunde gelungen ist, einmal eine Runde ohne die mehr oder weniger hilfreiche und vor allen Dingen sehr lange Einleitung eines Ministers zu beginnen.
Lieber Herr Kollege Höpfinger, es ehrt Sie sehr— darauf möchte ich kurz eingehen —, daß Sie gesagt haben, Sie hätten z. B. unseren Vorschlag auf Einführung eines Krankenversicherungsbeitrages für Rentner in der Öffentlichkeit mitgetragen. Sie bestreiten aber, daß wir manche Dinge von Ihnen mittragen. Selbstverständlich werden wir — wenn sie vernünftig ausgestaltet ist — die einkommensabhängige Kürzung des Kindergeldes ebenfalls mittragen und auch in der Öffentlichkeit vertreten. Sie muß allerdings vernünftig ausgestaltet sein, und es dürfen nicht bestimmte Ungereimtheiten entstehen, wie sie mein Kollege Jaunich angesprochen hat.Ein weiterer Punkt, lieber Kollege Höpfinger. Sie— das haben auch andere Redner im Verlauf der Debatte gesagt — sagen die ganze Zeit, unser soziales Sicherungssystem sei nicht mehr finanzierbar. Das wird nicht dadurch wahrer, daß man es immer und immer wieder betont. Ich will nicht abstreiten, daß bestimmte Umstrukturierungen notwendig sind. Sie zitieren gern Leute von uns, etwa Alex Möller. Auch ich will jetzt — aus dem Gedächtnis heraus — jemanden zitieren, der Ihnen wohl nahesteht, nämlich Nell-Breuning. Er sagt: Selbstverständlich ist unser soziales Sicherungssystem finanzierbar. Es wurde ja bisher und es wird auch heute noch erwirtschaftet. Nur: Wir Politiker haben nicht den Mut, uns das Geld dort zu holen, wo es an und für sich vorhanden ist, nämlich bei einem Großteil der privaten Haushalte.
Das gestehe ich zu. Wir hatten in der Vergangenheit manchmal vielleicht auch zu wenig von diesem Mut; wenn wir ihn dann hatten, wurden wir von den Kollegen der FDP kräftig gebremst.
— Ich sagte nicht „beim Sparen".Zum nächsten Punkt. — Herrr Dr. Geißler ist ja leider nicht mehr da. Er hat seine Rede als Minister
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Frau Schmidt
abgeliefert und geht jetzt offensichtlich wieder seinen Verpflichtungen als Generalsekretär nach.
— Wo ist er denn nun? Bis vor wenigen Minuten ist sein Haushalt hier besprochen worden. Allerdings hat er zu diesem Haushalt nur sehr wenig gesagt. Ich meine, daß unsere deutschen Arbeitnehmer jetzt allmählich etwas leid sind: die dauernden Schuldzuweisungen, teilweise auch von uns, das dauernde Besprechen der Vergangenheit. Für die Zukunft aber werden nur Worthülsen abgeliefert, über die Zukunft wird überhaupt nichts ausgesagt.
— Ich werde noch sehr konkret, liebe Kollegen, sehr konkret! — Ich glaube, daß unsere Arbeitnehmer inzwischen einen Anspruch darauf haben zu wissen, wo es im nächsten Jahr eigentlich entlang geht,
wie es in ihren Portemonnaies ausschauen soll. Sie möchten das deshalb wissen, weil es ihnen so arg gut nicht geht. Viele müssen am 20. nach wie vor rechnen, ob das Geld noch bis zum 30. langt.Deshalb möchte ich zum Thema BAföG konkret werden. Wenn man die reinen Zahlen betrachtet, lohnte es sich an und für sich überhaupt nicht, über eine Haushaltseinsparung von 200 Millionen Mark im Jahre 1983 bei einem Volumen von insgesamt 254 Milliarden Mark zu reden,
wenn nicht, liebe Kollegen, mehr als 400 000 Familien betroffen würden, wenn nicht ein in allen wesentlichen Punkten gemeinsam verabschiedetes Gesetz — gemeinsam verabschiedetes Gesetz! — damit de facto abgeschafft und zu den Akten gelegt würde.Wenn ich hier jetzt einige Beispiele nenne, um die Auswirkungen des Art. 15 des Haushaltsbegleitgesetzes zu erläutern, dann tue ich dies nicht, um auf die Tränendrüsen zu drücken, und nicht, weil ich klassenkämpferische Hetzparolen verbreiten will, wie sich der Herr Kollege Häfele auszudrücken beliebt. Nein, ich tue dies aus drei Gründen.Erstens. Wir haben vor einem knappen Jahr hier gemeinsam ein Vermittlungsergebnis gebilligt, von dem wir in einem mühsamen Verfahren Teile wieder zurückgenommen haben. Nicht wenige von uns allen entschuldigten sich damit, daß sie nicht im Detail wußten, was sie mit den Veränderungen des Bundessozialhilfegesetzes beschlossen haben. Die Folge waren Nachteile für und erhebliche Verunsicherungen vor allem bei alten und behinderten Menschen. Daher soll diesmal ganz klarwerden, was die Regelungen auf den Seiten 31 bis 33 der Drucksache 9/2074 bewirken werden.Der zweite Grund. Ich will an Hand von Beispielen darstellen, daß wir — ich sage noch einmal ausdrücklich: wir alle zusammen! — ein Gesetz ge-schaffen haben, das zielgerichtet zu einem sehr hohen Prozentsatz genau denen zugute kommt, die Hilfe brauchen — Hilfe zur Selbsthilfe wohlgemerkt, Hilfe zur Verbesserung der eigenen Chancen, Hilfe, die aber auch unserem Volksvermögen zugute kommt, wenn Sie mit mir darin einiggehen, daß eines der wichtigsten Guthaben unseres rohstoffarmen Landes gut ausgebildete, leistungsfähige breite Bevölkerungsschichten sind.
Der dritte Grund. Wir verstecken uns zu oft hinter Statistiken und beruhigen uns zu oft mit Statistiken. Wir vergessen hinter den großen Zahlen und dem eilfertigen Hin-und Herwenden zu häufig die Menschen — Menschen, die einen Anspruch darauf haben, nicht als statistische Größen betrachtet zu werden, Menschen, mit deren Schicksal wir uns auseinandersetzen müssen, auch in einer Massengesellschaft, Menschen, die sich im Regelfall nur alle vier Jahre wehren können, diesmal hoffentlich ein ganz klein bißchen früher, wenn Sie mit uns diesen Weg mitgehen sollten.
Aus diesen drei Gründen führe ich also die folgenden Beispiele an. 2422 DM brutto, 1758 DM netto standen auf dem Lohnzettel eines Kollegen, der mich fragte, wie es für seine Familie mit BAföG weitergeht. Er ist Alleinverdiener, hat zwei Kinder; eines ist 14, das andere 17. Für die älterer Tochter in Klasse 11 des Gymnasiums bekommt er heute 275 Mark. Ab Herbst 1983 ist dieses Geld weg und damit 13 1/2 — 13 1/2%! — des bisherigen Familieneinkommens.
— In Klasse 11 des Gymnasiums.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Frau Abgeordnete?
Ja. Vizepräsident Frau Renger: Herr Daweke.
Würden Sie bestätigen, daß in dem vorliegenden Gesetzentwurf für die Schülerin, die Sie hier als Beispiel zitieren, eine Härteregelung vorgesehen ist, so daß sie in der Klasse 12 und in der Klasse 13 weiter BAföG bekommt, wenn auch mit einem abgesenkten Satz?
Nein, weil nämlich ihr Vater leider 1 758 DM Nettoeinkommen hat und nicht etwa, wie es notwendig wäre, nur ungefähr 1 560 DM.
Weshalb bekommt sie dann jetzt BAföG?
Weil sie jetzt zu Hause wohnt und das Einkommen des Vaters die Grenze nicht überschreitet; die Freibeträge machen das möglich. Herr Daweke, ich habe den Gesetzent-
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Frau Schmidt
wurf gestern sehr genau gelesen. Das Beispiel stimmt garantiert.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Ja, aber bitte eine schnelle!
Wenn Sie die Absenkung der Freibeträge berücksichtigen, haben Sie mit Ihrem Beispiel sicher recht;
aber können Sie mir zugleich bestätigen, daß die alte Bundesregierung ebenfalls vor die Notwendigkeit gestellt war, Freibeträge abzusenken, und zwar deshalb, weil sie mit dem Plafond nicht hingekommen wäre?
Herr Daweke, ich komme auf diese Notwendigkeit noch im Detail zurück. Sie geben mir aber zu, daß ich mit meinem Beispiel recht habe, und das sollte doch wohl einmal klargestellt werden.
Dieser Fall, den ich gerade geschildert habe, ist kein unglücklich gewählter Einzelfall.
— Ich habe die Beträge genannt; rechnen müssen dann schon Sie. — Dieser Fall ist eher der typische Fall der Schülerförderung.Da ist dann auch noch die alleinerziehende Verkäuferin mit zwei Kindern und einem Nettoeinkommen von 1 400 DM, die für ihre beiden Kinder in Gymnasium bzw. Fachoberschule bisher — und auch jetzt stimmt es wieder, Herr Daweke — BAföG bezogen hat und der vom nächsten Jahr an 550 DM für ihre Kinder fehlen werden, mehr als ein Viertel ihres Einkommens. Da ist — Herr Daweke, auch das stimmt wieder — die Witwe mit einer Rente von weniger als 900 DM, die vom nächsten Jahr an für ihren Sohn, der die Berufsaufbauschule besucht, die bisherigen 490 DM auch nicht mehr bekommen wird. Da sind all diejenigen, die versuchen, über den zweiten Bildungsweg versäumte und als notwendig erkannte Schulabschlüsse nachzuholen.
Für diejenigen, die das Pech haben, den von Frau Minister Dr. Wilms als den „uneigentlichen" bezeichneten zweiten Bildungsweg als Ausbildungsgang gewählt zu haben, also den Weg über Berufsfachschulen, Berufsaufbauschulen und Fachoberschulen, bedeutet der Herbst 1983 das Ende ihrer Förderung und damit häufig auch das Ende ihrer Zukunftspläne. Dieser „uneigentliche" zweite Bildungsweg ist inzwischen der wegen seiner Vielseitigkeit am meisten in Anspruch genommene, und wir von der SPD haben ihn bisher zwar nicht als gleich, aber als gegenüber den Abendschulen und Kollegs gleichwertig angesehen. Ich sehe nicht ein, was diese Unterscheidungen sollen. Wir können den Betroffenen diese Unterschiede nicht klarmachen,und Sie können es genauso wenig, noch dazu, wenn für diejenigen, die vom Wohnort ihrer Eltern aus eine geeignete Schule nicht erreichen können, alles beim alten bleibt. Sollen wir Eltern geförderter Kinder raten, weit genug von der nächsten Schule wegzuziehen,
damit sie nach wie vor Schüler-BAföG bekommen?
— Dazu kann ich Ihnen praktische Beispiele nennen!
Vor diesem Hintergrund mutet es wie Hohn an, wenn der Herr Staatssekretär Häfele uns weismachen will, daß höherverdienende Bürger vergleichbare Mehrbelastungen haben. Dankenswerterweise hat er das gleich selber ausgerechnet, und da stehen dann den Mehrbelastungen von 275 DM bei 2 500 DM Bruttoeinkommen die von 60 DM bei 5 500 DM gegenüber. Da stehen 550 DM weniger bei rund 2 000 DM Einkommen den 177 DM weniger bei 6 300 DM gegenüber, und da stehen 490 DM weniger bei einem Einkommen von 900 DM den 194 DM weniger bei 7 800 DM gegenüber.
Dann müßten wir uns doch überlegen, ob wir nicht an die mit 7 800 DM herangehen, also an uns selber, die wir hier sitzen.
In Prozenten nimmt sich das so aus: 1,4 bis 3,6 weniger bei Einkommen von 5 500 DM an aufwärts, 13,5 bis 34 % weniger bei Einkommen bis 2 500 DM allein durch den Wegfall der Schülerförderung. Wenn wir Sozialdemokraten das anprangern, sehr geehrte Kollegen, dann ist das kein Klassenkampf, dann haben wir ein Recht, im Namen der Betroffenen zu fragen:
Was ist daran sozial? Was ist daran gerecht? Wo ist das finanzpolitische und das ordnungspolitische Konzept?
Wurden die Auswirkungen bedacht, nicht nur für den einzelnen? Stimmt es denn etwa nicht, wenn Hanna Renate Laurien für die Ballungsgebiete im allgemeinen und für Berlin im besonderen einen dramatischen Rückgang der Schülerzahlen für die betroffenen Schularten befürchtet? Wieviel weniger
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Frau Schmidt
beschäftigte Lehrer, wieviel mehr Arbeitslose bedeutet denn dieses Gesetz?
Wieviel mehr Ausbildungsplätze brauchen wir?Für die Kinder aus meinem Beispiel vorhin suchen die Eltern derzeit Ausbildungsplätze. Alle haben gute Noten und weiterführende Schulen besucht. Sie werden also mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Ausbildungsplatz finden. Auf der Strecke bleiben werden ihre ehemaligen Mitschüler aus Haupt- und Realschule. Woher sollen denn die zusätzlichen Ausbildungsplätze kommen, wenn auch nur ein Drittel der bisher Geförderten, also — niedrig gerechnet — 130 000 junge Menschen zusätzlich einen Ausbildungsplatz suchen? Was kostet uns denn diese Art von Sparen? Was kosten die Länder und Gemeinden solche eigenartigen Regelungen, daß im Monat August in keinem Fall Schülerförderung, auch nicht für den verbleibenden zweiten Bildungsweg, bezahlt wird? Wovon sollen diese Schüler denn eigentlich leben? Fehlt uns denn die Phantasie dafür? Auf welchen Arbeitsmarkt werden sie denn verwiesen? Wir sollten vielleicht unsere Erfahrungen bei der Suche nach einem Ferienjob für Abgeordnetenkinder nicht für unbedingt übertragbar halten. Für viele wird nur der Gang zum Sozialamt bleiben. Dieser Gang bleibt auch denen, die bisher keine Förderung bekommen haben und zu den Familien gehören, die ein sehr geringes Familieneinkommen haben.Ich frage noch einmal: Was bedeutet diese Art zu sparen für Länder und Gemeinden? Wo und wie sollen vor diesem Hintergrund die Länder dem Ansinnen der Bundesregierung Rechnung tragen, nämlich wieder die Schülerförderung unter ihre Obhut zu nehmen? Zur Erinnerung: Um genau das zu vermeiden, nämlich zur Verhinderung unterschiedlicher Förderungsrichtlinien von Schleswig-Holstein bis Bayern, wurde das Grundgesetz von uns gemeinsam geändert. Die Ausbildungsförderung wurde als Aufgabe dem Bund übertragen.So ist Franz Josef Strauß nur zuzustimmen, wenn er am 23. August 1980 im „Bayernkurier" — nicht unbedingt mein Leib- und Magenblatt — schreibt:Die Frage der Ausbildungsförderung wird durch das Bundesausbildungsförderungsgesetz geregelt. Der Bund muß hier nur die gegebenen Zusagen einhalten. Die CSU ist der Auffassung, daß diese Ausbildungsförderung an die allgemeine Lohnentwicklung angepaßt werden muß.Wo er recht hat, da hat er dann wohl recht.
Wahrscheinlich soll aber auch mit der Härteklausel den Ländern Sand in die Augen gestreut werden, eine Härteklausel, die die zu Hause wohnenden Schüler und ihre Familien, die derzeit schon BAföG bekommen, schlechter stellt, als wenn sie Sozialhilfe bekämen. Der Wirrwarr wird nun vollständig: Die einen, die bisher nichts bekamen, können bei sehr niedrigem Einkommen der Eltern Sozialhilfe beziehen. Die zweiten, die bisher etwas bekommen haben, erhalten bei gleich hohem Einkommen keine Sozialhilfe, dafür aber BAföG, nur sehr viel weniger als bisher. Die dritten, die bisher BAföG bekommen haben und nicht bei ihren Eltern wohnen, bekommen auch bei höherem Einkommen nach wie vor BAföG, genau so viel wie vorher. Die vierten, die im zweiten Bildungsweg einen berufsbildenden Ausbildungsgang besuchen und bisher gefördert wurden, bekommen nichts mehr. Die fünften, die im zweiten Bildungsweg eine allgemeinbildende Schule besuchen, bekommen dasselbe wie zuvor, egal ob sie zu Hause wohnen oder nicht, usw., usw., usw.
Dies ist in meinen Augen nicht Ordnungspolitik, dies ist Unordnungspolitik!
Vielleicht sollten wir das Bundesausbildungsförderungsgesetz zumindest für den Teil der Schülerförderung umtaufen — Vorschlag von mir — in „Gesetz über die Förderung von Wohnorten von Schülern unter besonderer Berücksichtigung von allgemeinbildenden Schulen".
Nun enthält der Art. 15 neben dem schrittweisen totalen Wegfall der Schülerförderung auch noch die Umstellung der Studentenförderung auf Volldarlehen. Haushaltsentlastung im Jahre 1983: Null, im Jahre 1984: Null, im Jahre 1985: Null. Und so können wir weitergehen bis zum Jahre 1992. Dann sind die ersten nennenswerten erhöhten Rückzahlungsbeträge zu erwarten. Auswirkungen wird dieses Gesetz selbstverständlich schon im Jahre 1983 haben.Unbestritten von uns allen ist, daß sich die Berufsaussichten für Akademiker verschlechtert haben, die Einkommensaussichten ebenfalls. Das Risiko, studiert zu haben und nie in dem Beruf, für den man ausgebildet wurde, arbeiten zu können, ist größer als je zuvor. Die Juristin als Bürokraft, der Chemiker als Taxifahrer sind zwar nicht die Regel, aber eine nicht allzu seltene Ausnahme. Unter diesen Voraussetzungen werden Eltern gerade aus einkommensschwachen Familien, gerade aus Familien, in denen bisher kein Elternteil studiert hat, ihren Kindern abraten, bei derartig ungewissen Zukunftsaussichten bis zu 40 000 DM Schulden auf sich zu nehmen, waren doch die ca. 9 000 bis 12 000 DM eines BAföG-geförderten Studenten für sie heute schon sehr viel.Nun erscheint auf den ersten Blick die Begründung für diese Regelung recht einleuchtend. Die heutige Studentengeneration, die künftigen Akademiker, die trotz allem noch die besten Berufsaussichten, die mit 6 % niedrigste Arbeitslosenquote haben, sollen sich in Solidarität mit der nächsten Studentengeneration üben,
haben sie doch auf Kosten der Steuerzahler studiert und zwar keine sehr hohen, aber immer nochbessere Einkommenschancen als der Durch-
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Frau Schmidt
schnittsbürger. Der zweite Blick zeigt uns aber, daß daran so gut wie alles falsch ist.Erstens. Ich halte es für eine ungeheure Anmaßung von Angehörigen meiner, unserer Generation, die wir hier sitzen, so zu argumentieren. Meine Generation, die die besten Berufsaussichten und keine Ausbildungssorgen hatte, die durch ihr Studium wirkliche Chancen hatte, hohe und höchste Einkommen zu erzielen — wo ist eigentlich deren Solidaritätsbeitrag für die heutige oder die nächste Studentengeneration?Zweitens. Belastet werden soll nur eine Gruppe von Studierenden, nämlich die BAföG-geförderten, also diejenigen aus einkommensschwächeren Familien. Die Steuerzahler müssen aber für die Bildungsinstitutionen, für alle Studenten aufkommen, und zwar mit Beträgen pro Student, die weit höher sind als für die Ausbildungsförderung. Es kann nicht angehen, daß die eine Gruppe mit Darlehensbeträgen von 40 000 DM und mehr belastet wird und die zweite ohne Belastung beliebig lange die Hochschuleinrichtungen in Anspruch nehmen kann.
Lassen Sie mich an dieser Stelle aus der Debatte über die 7. Novelle meine Kollegin Carola von Braun-Stützer zitieren, die gesagt hat:Worüber man aber überhaupt nicht diskutieren kann, weil es einfach nicht zu bestreiten ist, ist die abschreckende Wirkung von Darlehen.Dann frage ich natürlich die FDP: Was hat sich eigentlich Grundsätzliches seit dieser Zeit geändert außer ihrem Koalitionspartner?
— Es geht nicht mehr, Kollege Daweke; tut mir leid.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage? — Nein.
Der dritte Punkt. Wird über Darlehen gefördert, können diese Beträge nicht als eigenes Einkommen des Kindes gewertet werden. Dies hat zur Folge, daß alle Eltern die Ausbildungsfreibeträge voll in Anspruch nehmen können. Auch hier ist die Frage: Was müssen wir, und zwar jetzt gleich, ausgeben, um für das Jahr 1992 so zu sparen?Nur als Skandal kann man die Rückzahlungsklausel bezeichnen. Daß schnelles Studieren mit 5 000 DM belohnt wird, mag wohl angehen; daß gute Noten bis zu 10 000 DM wert sind, erscheint dagegen schon sehr fragwürdig. Sollen diese guten Noten nach allgemein gültigen Kriterien für das ganze Bundesgebiet ermittelt werden? Oder ist etwa an eine Fleißprüfung, wie sie Herr Dr. Kohl mehrfach genannt hat, gedacht? Wie soll den Gerichtsprozessen begegnet werden, die daraus zwangsläufig resultieren werden, geht es doch um erhebliche Beträge für den einzelnen? Daß aber dann noch eine Zahnarztklausel eingeführt wird mit einem Erlaßvon 50 % der Restdarlehenssumme für diejenigen, die den Gesamtbetrag in den ersten fünf Jahren nach Studienabschluß zurückzahlen, ist nicht zu akzeptieren, das ist skandalös.
Herr Minister Stoltenberg hat uns das von Sozialdemokraten regierte Schweden als leuchtendes Beispiel vorgehalten. Sosehr ich dafür bin, es den Schweden nachzumachen, sosehr bin ich dafür, nur Vergleichbares zu vergleichen.
In Schweden gibt es keine Unterhaltspflicht der Eltern für ihre über 18 Jahre alten Kinder. Deshalb erhalten alle, die sie beantragen, Ausbildungsförderung. Deshalb beträgt die Ausbildungsförderung das Durchschnittseinkommen eines Arbeiters. Deshalb müssen alle alles zurückzahlen. Weil das sehr erhebliche Belastungen bedeutet, erhalten diese Akademiker gesetzlich festgelegte Zuschüsse von ihrem Arbeitgeber zu ihrem Tarifeinkommen. Sollen wir es den Schweden immer noch nachmachen, Herr Dr. Stoltenberg? Wieviel Geld bekommt der Einzelplan 31 zusätzlich?
Abschließend zum Studenten-BAföG. Die Maßnahmen dieser Bundesregierung fangen erst im nächsten Jahrzehnt an, haushaltsentlastend zu wirken. In allen Presseverlautbarungen des Ministeriums und der Kollegen der CDU und FDP liest man aber allenthalben, daß andere, gerechtere Modelle geprüft werden sollen. Warum also, frage ich, diese unangemessene Eile? Warum prüfen wir nicht zuerst und ändern dann bewährte Gesetze, die wir gemeinsam geschaffen haben?
Nun will ich gar nicht abstreiten, daß auch wir Schwierigkeiten für die mittelfristige Finanzierung des BAföG gesehen haben, Schwierigkeiten vor allem deshalb, weil wir eine Anpassung der Freibeträge im Herbst 1983 für unabdingbar gehalten haben. Eine Anpassung der Bedarfsätze hätte auch nicht auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben werden können. Wir wollen nämlich keine Werkstudenten, die die Bildungseinrichtungen 18 Semester und mehr in Anspruch nehmen müssen.Nun frage ich: Haben Sie denn wirklich geprüft, ob diese Einschnitte, ob dieser Kahlschlag im Schüler- und Studenten-BAföG unabweisbar ist? Dazu will ich einige wenige Denkanstöße geben.Haben Sie geprüft, BAföG zu erhalten, aber den steuerlichen Kinderfreibetrag mit eben den von Minister Geißler geschilderten Wirkungen für höhere Einkommen abzuschaffen? Haben Sie die beabsichtigte Umstellung des Ehegatten- in ein Familien-Splitting mit seinen ähnlichen Auswirkungen gesehen? Finden Sie nicht, daß BAföG als Bestandteil des Familienlastenausgleichs gezielter wirkt und gerade denjenigen Familien hilft, die sich nicht aus eigener Finanzkraft helfen können?
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Frau Schmidt
Wäre es nicht mindestens für 1983 ein Beitrag zum Haushaltsausgleich, wenn die Bundesregierung nur die tatsächlich zu wenig ausgegebenen 850 Millionen DM an die Länder aus deren Kindergeldbeteiligung zurückerstattet und nicht, wie vorgesehen, 1 Milliarde DM? — Wenn meine Fraktion mir noch zwei Minuten geben könnte? — Danke.
— Das ist ein Gesetz für beinahe 1 Million Menschen. Ich finde, dafür können wir einmal eine halbe Stunde aufwenden.
Auch wir, die SPD, sehen mit Mißvergnügen, daß es im BAföG nach wie vor ungerechtfertigte Mitnahmeeffekte gibt. Neben den finanzpolitischen Problemen führt das immer noch zu Akzeptanzproblemen. Bereits in der Debatte zur siebenten Novelle habe ich das bedauert. Diese Mitnahmeeffekte liegen aber vor allem an der Schwierigkeit, im Ausbildungsförderungsgesetz einen gerechten Einkommensbegriff zu definieren. Hohe Abschreibungsmöglichkeiten bei nur einer Einkunftsart sind immer noch möglich. Das führt dann dazu — was der Kollege Höpfinger vorhin gesagt hat —, daß man dann das Geld den Kindern direkt als Taschengeld zur Verfügung stellen kann. Das wollen auch wir nicht. Wir sind gerne bereit, mitzuarbeiten und diese Lücken zu schließen, wenn wir damit vermeiden können, daß mit der Sense über dieses Gesetz gegangen wird. An Ideen, so dürfen Sie versichert sein, fehlt es uns dabei nicht.Der letzte Denkanstoß. 3,7 Milliarden DM sind als BAföG-Darlehen derzeitig vergeben und noch nicht zurückgezahlt. Ist geprüft worden, ob für diejenigen Darlehensnehmer mit heute guten Einkommen auch rückwirkend schnellere Rückzahlungsbedingungen geschaffen werden können?
Sind Schritte eingeleitet, um endlich einen effektiven Darlehenseinzug zu erreichen? Würde uns eine Kombination all dieser Maßnahmen nicht die Abschaffung der Ausbildungsförderung und diesen bildungspolitischen Wirrwarr ersparen und so ein wichtiges familienpolitisches Konzept erhalten? Oder ist es vielmehr so, daß hinter all dem doch ein Konzept steht, wenn auch kein finanzpolitisches, sondern ein gesellschaftspolitisches, das in die 50er Jahre und dahinter zurückführt, ein Elite-Denken, das bei Konservativen
— Klassenkampf von welcher Klasse? Von Ihrer! — offensichtlich auch heute noch große Vorliebe genießt?
Die Privilegien der Kinder der Privilegierten sind nämlich gefährdet, wenn alle eine Chance auf Bildung bekommen.
Das wollen Sie verhindern. Und nur dann macht das Ganze einen Sinn.
Weil das so ist und weil Sie sich, Frau Dr. Wilms, erstaunlicherweise nicht als Interessenvertreterin der Studenten, Schüler und Lehrer betrachten und nicht, wie es Nell-Breuning fordert, den Mut haben, sich die Finanzierung unserer Sozialgesetze von denen sicherstellen zu lassen, die das notwendige Einkommen haben, kündige ich für meine Fraktion an: Wir werden diesen Änderungen so nicht zustimmen.
Wir werden, wenn wir wieder in der Regierungsverantwortung stehen, im Schüler-BAföG den alten Zustand wiederherstellen und im Studenten-BAföG die Umstellung auf Volldarlehen rückgängig machen.
— Wenn wir wieder in der Regierungsverantwortung sind, am 7. März schätzungsweise. — Danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Daweke.
Frau Präsident! Ich habe die Aufgabe, in relativ kurzer Zeit zusammen mit zwei weiteren Kollegen auf die sehr ausführliche Begründung der Haltung der SPD und der Kollegin Schmidt zu antworten. Ich will das versuchen.Frau Schmidt, Sie haben hier eine Rede gehalten, so, wie wir alle viele Reden gehalten haben, auch wir von der Union, als die Zeiten anders waren. Aber es ist wohl, glaube ich, das Kernproblem, das Sie begreifen müssen:
Die Zeiten sind anders. Sie haben hier so geredet, wie die Bildungspolitiker geredet haben, als die Bildungspolitik abgekoppelt von der Finanz- und Wirtschaftspolitik gelaufen ist,
als man den Linken in der SPD und den Linken in der FDP sozusagen die Spielwiese Bildungspolitik gegeben hat, damit sie den Kanzler in der Wirtschafts- und Finanzpolitik sonst in Ruhe ließen.
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7832 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982
DawekeAber jetzt — und das halte ich für eine Chance der Bildungspolitik — müssen wir diese Bildungspolitik in die finanz- und wirtschaftspolitische Situation einreihen.Sie reden so, als gäbe es keine 2 Millionen Arbeitslosen, als brauchten wir im Bundeshaushalt keine Investitionen vorzusehen, als gäbe es nicht 300 000 junge Leute, die keinen Job haben. Sie reden vielmehr von denjenigen, die in den Schulen sind, die im Bildungssystem sind. Wir wollen etwas tun, damit diejenigen, die draußen sind, reinkommen. Das ist unser Problem.
Das müssen Sie zur Kenntnis nehmen.
Wenn Sie so tun, als ob wir diejenigen wären, die böse sind, dann müssen Sie einmal sehen, wer die Kasse geplündert hat, wodurch es uns unmöglich gemacht ist, noch zu verteilen. Sie haben die Kasse geplündert. Jetzt zeigen Sie mit dem Finger auf uns und vergessen, daß drei Finger auf Sie zurückzeigen, wenn Sie den Finger ausstrecken.
Der eine Finger ist: Sie haben doch im Arbeitsförderungsgesetz für die Gesellen, die ihre Meisterprüfung machen wollen, die Förderung auf Darlehen umgestellt. So ist das also: Den Akademiker schützen Sie, und den Gesellen, der seine Meisterprüfung machen will, stellen Sie in der Förderung auf Darlehen um. Den Blaumann haben Sie diskriminiert und ihm noch zusätzliche Schwierigkeiten gemacht.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Kuhlwein?
Nein. Das geht nicht. Ich habe nur sieben Minuten.Der zweite Finger, der auf Sie zurückzeigt: Sie haben eine Gruppe schon 1978 aus dem BAföG hinausgekegelt, nachdem Sie sie kaum drinhatten: die Berufsgrundschüler. Das ist nach all dem, was wir wissen, die bedürftigste Gruppe.
Da haben Sie von vornherein gesagt: Wir haben nicht mehr das Geld, um die Berufsgrundschüler im System zu lassen. Sie haben sie rausgeschmissen. Das ist nun wirklich eine Gruppe, die es nötig hat. Und jetzt tun Sie so, als könnten Sie im BAföG weitermachen als wäre nichts gewesen.Wir machen all das doch nicht aus Jux und Tollerei. So sind wir doch nicht. Das wissen Sie doch.
Wir machen es vielmehr mit einem Ziel.
Auch Sie hätten es machen müssen.
Am 16. Juni sagte sinngemäß der Staatssekretär Granzow, 300 Millionen DM allein beim Bund würde die BAföG-Anpassung dieses Jahr kosten.Im wesentlichen sehe er drei Möglichkeiten, dieses Problem zu lösen. Erstens. Wir verzichten auf die Anpassung, und damit fliegen immer mehr aus der Förderung raus. Zweitens. Wir erreichen, daß der Plafond weiterentwickelt wird. — Das war nicht möglich; das wußte er selber. — Drittens die zusätzlichen Mittel werden über Darlehen aufgenommen. Das hat Herr Granzow vor einigen Monaten als Maßnahmen der Regierung verkündet.Sie hätten doch auch kein Geld zaubern können. Deshalb dürfen Sie nicht so tun, als lebten wir in einer schönen Bildungswelt, in einer schönen Sozialpolitik, als sei draußen alles noch so wie 1965. Daß Sie dies nicht sehen, ärgert mich, weil ich natürlich auch weiß, was Sie für Beispiele haben. Aber ich sage es noch einmal: Tun Sie doch nicht so, als hätten Sie eine andere Lösung gefunden! Sie hätten sich weiter bei den Saudis zu 13 % Zinsen Geld leihen müssen, um es hier zu verteilen, und Ihr Finanzminister hätte es auch nicht mehr mitgemacht.
Nun lassen Sie mich in einem letzten Versuch etwas anderes sagen. Wenn Sie sich die Mittel des Bundeshaushalts 1983 ansehen, dann ist das im Bildungsbereich nicht nur ein Haushalt des BAföG. Er ist es auch, aber er hat auch wesentliche Impulse, die zu dem Ziel, das ich genannt habe, passen. Davon nehmen Sie offensichtlich überhaupt keine Kenntnis, weil Sie nur drei Seiten aus diesem Haushalt gelesen haben. Aber lesen Sie sich doch erstens einmal durch, daß wir die Forschungsförderung mit einem Plus von 4 % bei einem Plus von 2,9 % des gesamten Bundeshaushalts darin haben. Das ist doch ein Wort.
Wollen Sie bitte zweitens zur Kenntnis nehmen, daß wir für einige tausend Wissenschaftler das Graduiertenförderungsprogramm, das Sie haben auslaufen lassen, wieder im Haushalt haben? Das ist doch für einige tausend junge Wissenschaftler ein Wort,
die Sie ohne Perspektive für sich selbst, aber auch ohne Perspektive für die Wissenschaft in diesem Land lassen wollten. Diese haben in diesem Haushalt eine Perspektive.Wollen Sie drittens bitte zur Kenntnis nehmen, daß Ihre Regierung 1980 einen Anfang gemacht hat, indem sie die investiven Mittel im Hochschulbau und bei der Großgeräteförderung um insgesamt 20 % abgesenkt hat, und daß die neue Regierung die Mittel in diesem wichtigen Bereich um mehr als 20 % erhöht hat, weil dies den Numerus clausus betrifft, weil dies die Regionalpolitik in der Wirtschaft betrifft und weil dies eine weitere wichtige bildungspolitische Perspektive enthält. Das ist ein Wort, das Sie gar nicht zur Kenntnis nehmen, aber zur Kenntnis nehmen müssen. Das ist nämlich wieder Politik mit Blick in die 80er Jahre. Ich meine, da sind die Schwerpunkte anders gesetzt, aber richtig.
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DawekeZum Schluß möchte ich sagen: Ebenso richtig ist der Einbau des Studentenwohnraumbaus. Das ist zwar nicht in unserem Ressort, aber der Bundesbildungsminister hat dafür gesorgt, daß im Bauministerium 100 Millionen DM — das ist die Zahl, die wir wünschen — zur Verfügung stehen, um Impulse durch Zinsvergünstigungen und dergleichen zu geben, damit wieder Wohnraumbau stattfindet. Auch aus diesem Bereich hatten Sie sich verabschiedet.Deshalb sage ich es noch einmal: Wenn Sie mit dem Finger auf uns zeigen, dann müssen Sie wissen: Drei Finger zeigen auf Sie zurück. Man könnte noch hinzufügen, was im Rahmen des Austausches für junge Schüler und Arbeiter passieren wird.Dies ist ein Haushalt, der nicht zum Jubeln Anlaß gibt. Das ist klar. Wenn alle Ressorts sparen, müssen auch wir sparen. Das ist doch wohl selbstverständlich.
— Wir haben die Schwerpunkte anders als Sie gesetzt. Wir werden im Ausschuß darüber zu reden haben, ob Sie das richtig finden, ob wir noch Änderungen wünschen. Ich finde, es ist sicherlich kein Haushalt zum Jubeln, aber er setzt neue Schwerpunkte, er bringt uns in wichtigen Bereichen voran. Deshalb möchte ich sagen: Unser Minister ist die einzige Frau im Kabinett, aber sie hat ihren Mann gestanden. — Danke schön.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Rossmanith.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das, was wir von der SPD-Kollegin zum Haushalt des Bildungsbereiches gehört haben, ist natürlich das, was im vergangenen Jahrzehnt hier von dieser SPD zur Bildung ausgesagt wurde. Es wurde einfach ignoriert, daß Bildung nicht allein im Hochschulbereich zu finden ist, sondern auch die berufliche Bildung ihren Stellenwert hat, daß Bildung genauso den Lehrling und den Ausbilder betrifft, die draußen in den Betrieben ihre Arbeit machen.
— Wenn Sie so schreien, muß ich sagen, daß Sie das vorhin in 30 oder 35 Minuten hätten sagen können. Dann hätten Sie sich nicht so zu erregen brauchen, sondern hätten deutlich sagen können, was Sie dazu meinen. Da Sie vorhin wahrscheinlich nicht hier waren, lesen Sie einmal nach, was Ihre Kollegin dazu gesagt hat!Ich bedauere, daß der Minister a. D. Engholm nicht da ist. Er hat zur Unruhe beigetragen, indem er im Frühjahr gesagt hat: 100 000 Lehrlinge werden im Herbst keine Lehrstellen finden, und wir werden in diesem Bereich eine Bildungskatastrophe haben. Die Katastrophe haben wir — das ist richtig —, allerdings in dem Bereich, in dem SieIhre Schwerpunkte im vergangenen Jahrzehnt mit gesetzt haben.
Jeder soll das kriegen, wozu er auch berechtigt ist, wenn er seine Leistung bringt. Kein Mensch zweifelt daran. Voraussetzung dafür ist allerdings auch, daß er ein Wirtschafts- und Ausbildungssystem vorfindet, in dem es nicht — wie das heute der Fall ist — 2 Millionen Arbeitslose gibt und in dem allein der Bund 300 Milliarden DM an Schulden hat. Das haben doch Sie zu verantworten. Sie können doch jetzt nicht so pharisäerhaft hintreten und sagen: Das ist nicht unser Bier, wir wollen weiterhin das Füllhorn ausschütten. So geht es nun einmal nicht.
— Dann hätten Sie sagen müssen, wo Sie sparen wollen. Im übrigen hätten Sie das in den vergangenen 13 Jahren machen können. In dieser Zeit hätten Sie die Möglichkeit zum Sparen gehabt.
Ihr Versuch war und ist untauglich.
Man muß sich einmal vor Augen führen, wie die Zahlen der Lehrlinge nach dem Bericht der Bundesanstalt für Arbeit aussehen: Ende September 36 000 Jugendliche, die noch eine Lehrstelle gesucht haben. Dem standen 20 000 Lehrstellen gegenüber. Wir alle, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wissen doch, was das bedeutet. Dem Arbeitsamt werden doch nicht alle Ausbildungsstellen gemeldet. Sie wissen doch, daß soundso viele Lehrstellen heute noch in vielen gewerblichen Bereichen frei sind.
Ich brauche z. B. nur den Bau- oder den Baunebenbereich zu nennen.
— Sie haben keine Ahnung. Das ist allerdings richtig. Das darf ich Ihnen schon sagen.
Sie sollten sich einmal darüber Gedanken machen, wem es zu verdanken ist, daß wir in diesem Jahr 16 000 Insolvenzen und Vergleiche zu verzeichnen haben werden.Es ist j a tatsächlich ein Wunder, daß trotz dieser Politik in den vergangenen Jahren noch 440 000 zusätzliche Ausbildungsstellen geschaffen wurden. Auch davon sprechen Sie nicht. Ich habe kein Wort des Dankes an die Lehrlinge gehört, die bereit sind, mobil zu sein. Kein Wort des Dankes an die Ausbilder, die sich dieser jungen Menschen annehmen. Das hört man von Ihnen einfach nicht. Das ist wahrscheinlich von Ihrer Seite nicht erforderlich. Ich möchte den jungen Menschen für meine Fraktion den Dank dafür aussprechen, daß sie sich nicht in das starre System, das Sie aufbauen wollten, ha-
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Rossmanithben einzwängen lassen und daß sie wirklich Mobilität gezeigt haben und nach wie vor zeigen.
Was getan wurde, war, die angeblich „Schuldigen" ausfindig zu machen — Herr Engholm hat das ja bis zum Schluß getan —: Die Schuldigen waren diejenigen, die sich noch um die Ausbildung bemüht haben. Sie wollte er auch noch zwiebeln, sie wollte er auch noch zwirbeln.
Er hat ja erreicht, daß mit den überbetrieblichen Ausbildungsstätten jetzt eine weitere „Entlastung" eintritt. Und jetzt komme ich auf diesen Bereich wieder zurück: Sie haben erst die Handwerkskammern in dieses System hineingelockt, haben ihnen Versprechungen gemacht, was sie alles machen könnten und was sie alles erhalten sollten. Eine Ihrer ersten Maßnahmen bestand dann aber darin, daß Sie für die laufenden Kosten den Unterhalt gestrichen haben. Ich finde, das ist keine faire Sache. Ich muß sagen, irgend etwas stimmt doch in diesem System nicht mehr, das Sie propagieren. Es war höchste Zeit, daß dieses System geändert wurde.Ich stimme mit Ihnen vielleicht überein, Frau Kollegin. Sie sagen, irgendwann nach dem 6. März wollten Sie die Welt wieder so in Ordnung bringen, wie Sie sie hinterlassen hätten. Vielleicht im Jahr 2000 oder noch später. Nur, bis dahin werden wir einiges wieder ausgebügelt haben. Das kann ich Ihnen von dieser Stelle aus sehr klar versprechen.
Ich möchte zum Schluß der Bundesministerin Frau Wilms herzlich dafür danken, daß sie endlich mit der Untugend Schluß gemacht hat, nur im Akademikerbereich Bildung zu sehen, daß sie der beruflichen Bildung und dem dualen System in ihren Aussagen und ihrer Arbeit wieder den Stellenwert eingeräumt hat, der ihnen auch gebührt.
Dafür ihr herzlichen Dank, aber auch den Jugendlichen und den Ausbildern herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, ich habe das hier so übernommen. Jetzt käme noch ein CDU-Abgeordneter. Meinen Sie nicht auch, daß das ein bißchen viel hintereinander wäre?
Graf von Waldburg-Zeil, dann haben Sie jetzt das Wort.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, das Thema ist es wert, daß wir uns noch ein wenig darüber unterhalten. In der Tat: Über BAföG haben Sie sich während Ihrer Regierungszeit ja auch unterhalten. Denken Sie zurück an die Diskussionen um das Hochschul-BAföG. Da gab es einige unterschiedliche Meinungen zwischen dem Herrn Altbundeskanzler und dem Herrn Bildungsminister. Der Herr Altbundeskanzler hat ein Problem gesehen, das ich genauso sehe: daß der junge Arbeiter mit seinen Steuern die Lebenshaltungskosten des Studenten gezahlt hat, der nachher ein höheres Einkommen beansprucht hat.
Diese Problematik ist bei Ihnen genauso gesehen worden wie bei uns. Diese Problematik wird mit dem Darlehensmodell beseitigt. Diese Koalition hat genau dieses Problem angepackt und das Darlehensmodell eingeführt. Ich halte das für richtig.
Es ist bei dem Darlehensmodell, wie es die Regierung nun anbietet, erstens gewährleistet, daß der Student den Ersatz seiner Lebenshaltungskosten weiter garantiert bekommt. Bei einem Einfrieren der Fördermittel wäre dies nicht möglich gewesen; denn das hätte bei steigenden Studentenzahlen und steigenden Lebenshaltungskosten nicht funktioniert.Der fertige Akademiker wird zweitens in die Solidaritätspflicht genommen. Der Student aus einem einkommensschwachen Elternhaus wird nicht abgeschreckt, meine sehr verehrten Damen und Herren; denn er zahlt erst einmal fünf Jahre gar nichts zurück, und dann zahlt er 20 Jahre weiter. Er zahlt weniger, als im Grunde die Zinsen für das Darlehen ausmachen. Das ist auch der Grund dafür, daß derjenige, der schnell zurückzahlt, einen Nachlaß erhält. Der fleißige, schnelle und rasch zurückzahlende Darlehensempfänger erhält einen Teilerlaß.Das wichtigste am Darlehensmodell ist, daß die Eigenverantwortung für ein sinnvolles Studium beim Studienanfänger verstärkt wird und dadurch Holzwege der Bildung verhindert werden.Im übrigen sind für die Zukunft noch durchaus Wege offen, durch eine Umstellung etwa auf ein Bankenfinanzierungsmodell noch ganz erhebliche Einsparungen zu erzielen.
Meine Damen und Herren, was das Schüler-BAföG angeht, war keine Einstimmigkeit festzustellen. Das hat damals der Bildungsminister mit Klauen und Zähnen verteidigt, obwohl zu bedenken ist, daß die Bundesrepublik auf der ganzen Welt das einzige Land ist, das eine Ausbildungsförderung an Schüler zahlt. Dies mag sicher Spitze gewesen sein, aber wir sind eben am Ende des Schlaraffenlands angelangt.Deshalb kann die Frage nur lauten: Wie kann erreicht werden, daß auch bei einer Reduzierung, die in Zukunft, wie in allen Ländern der Erde, d e m Schüler kein Geld mehr in die Hand drückt, der eine Vollzeitschule, die für ihn geeignet ist, von zu Hause aus erreichen kann, Härten vermieden wer-
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Graf von Waldburg-Zeilden, eine einkommensbedingte Steuerung von Schülerströmen verhindert wird und Sonderförderungen trotzdem möglich bleiben?Die Regierungsvorlage bemüht sich genau darum dadurch, daß zum einen eine Härtefallregelung getroffen wird, die genau in den Fällen der Einkommensschwächsten den abrupten Ausfall der Förderung verhindert. Sehr verehrte Frau Kollegin Schmidt, sie haben vorhin das Beispiel der alten Witwe angeführt. Genau die ist nach dem alten System nicht gefördert worden, weil das Waisengeld angerechnet wurde. Das ist ein Mißstand, auf den ich bereits in der letzten BAföG-Rede hingewiesen habe, der aber von Ihrer Koalition nie beseitigt wurde.
Zweitens wird die Förderung des Besuchs von Schulen, die von zu Hause aus nicht erreichbar sind, weitergehen, wenn dieser Besuch notwendig ist.Drittens werden die echten Einrichtungen des zweiten Bildungswegs weiter gefördert. Eine eignungs-, neigungs- und leistungsgerechte Weiterförderung für Einkommensschwache — sei es durch die Begabtenwerke der Länder, sei es durch andere Alternativen — ist ausdrücklich mit angekündigt worden. Die Bundesregierung will darüber mit den Ländern verhandeln. Es ist deshalb wichtig, daß mit den Ländern darüber verhandelt und dies von Länderseite aus gemacht wird, weil die tatsächlichen Kosten des Schülers unterschiedlich sind. In dem einen Bundesland gibt es hohe Beteiligungen an den Schülertransportkosten und hohe Beteiligungen an den Lernmitteln. Das muß unterschiedlich gehandhabt werden. Deshalb ist es gut, wenn dies in Absprache mit den Ländern erfolgt.Erlauben Sie mir eine abschließende Bemerkung. Winfried Sommer hat in einer Längsschnittuntersuchung über gut begabte Hauptschüler die verblüffende Entdeckung gemacht, daß der durchschnittliche Einkommens-, Lebens- und Sozialerfolg von dem ihrer Kameraden im Gymnasium nicht abwich. Auch sie haben ihre Chancen wahrgenommen, allerdings über Beruf und Fortbildung.Sparsames Einschränkungsdenken wäre zu wenig, wenn nicht gleichzeitig ein bildungspolitischer Umbesinnungsprozeß einsetzen würde, der endlich die Gleichwertigkeit des beruflichen und des allgemeinbildenden Schulwesens ernst nimmt.Die ab 1970 Geborenen haben überall die Chancen — sowohl in der Ausbildung als auch im Beruf, als auch im Studium. Unser Problem sind die geburtenstarken Jahrgänge 1960 bis 1970, die bis 1985/86 in die Ausbildung, 1989/90 in die Hochschulen strömen. Welcher Weg wird für sie erfolgreicher sein? Erst Beruf mit frühen Chancen und Fortbildung dann, wenn sie es wünschen, in den 90er Jahren? Oder erst Studium mit lange blockierten Chancen und Frustration, wenn man keinen akademischen Beruf bekommt? Hier berühren sich notwendige Sparmaßnahmen mit Überlegungen für die Zukunftschancen der jungen Generation. — Ich danke Ihnen.
Das Wort hat Frau von Braun-Stützer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir waren uns einig, daß wir hier nicht den gesamten Einzelplan 31 diskutieren wollten. Die FDP-Fraktion hat, soweit es haushaltsrelevant ist, ihre bildungspolitischen Grundpositionen bereits in der Debatte zur Regierungserklärung vom 13. Oktober zum Ausdruck gebracht. Unsere endgültige Stellungnahme zu den anstehenden Problemen wird erst nach Beratung in den Ausschüssen und zwischen den Koalitionspartnern erfolgen. Deshalb hier nur eine Erwiderung auf die Erklärung der Opposition, insbesondere zum Thema BAföG.Liebe Renate Schmidt, Ihre Erklärung hat sich so angehört, als ob das BAföG geradezu das Lieblingsleistungsgesetz der SPD-Fraktion wäre. Tatsache ist aber — daran werden wir uns alle schmerzlich erinnern —, daß wir schon im vorigen Jahr einige Kraftanstrengungen gemeinsam gebraucht haben, um größere Einschnitte zu verhindern, wie sie im Kabinett mit ausgesprochener Unterstützung des damaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt vorgesehen waren.
— Ja. Aber Tatsache ist, daß wir bereits damals kämpfen mußten, als er in der Verantwortung stand.Zum Thema Darlehen. Auch da wäre ich dankbar gewesen, wenn man das volle Zitat gebracht hätte. Ich habe das damals nämlich mit vollem Bedacht sehr vorsichtig formuliert. Ich habe es noch im Kopf. Ich habe damals gesagt: Selbst wenn wir möglicherweise langfristig eine Umstellung auf Volldarlehen nicht verhindern können, bleibt für uns nach wie vor der befürchtete Abschreckungseffekt bestehen. — Genauso habe ich es formuliert. Ich habe also nicht ausgeschlossen, daß die Mehrheiten in diesen Fraktionen — darauf werden wir jetzt gleich zu sprechen kommen — möglicherweise anderer Ansicht als die Bildungspolitiker sind.Wir stehen nach wie vor dazu, daß wir einen Abschreckungseffekt befürchten. Dieser ist unserer Ansicht nach um so größer, wenn nur BAföG-Bezieher zahlen müssen und der Besuch der Hochschulen — also der Besuch der teuersten Bildungsinstitutionen überhaupt — im übrigen umsonst ist.Wir sind deshalb, wie ich hier bereits mehrfach erklärt habe, der Ansicht, daß es gerechter ist, wenn alle für den Besuch der Hochschulen zahlen müssen. Wir hoffen, daß wir damit auch die Umstellung auf Volldarlehen verhindern können, mindestens aber das BAföG aus der, wie es so schön heißt, Akzeptanzkrise herausholen können.Im übrigen mache ich darauf aufmerksam — darauf lege ich Wert —, daß der Darlehensanteil wirk-
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Frau von Braun-Stützerlich bereits seit längerem existiert, und zwar auf Drängen der SPD-Fraktion und gegen den damals erklärten Willen der FDP-Fraktion. Wir sollten hier also nicht so tun, als würde in dieser Frage die Unschuld erst jetzt verloren.Meine Damen und Herren, die Freie Demokratische Partei hat auf ihrem Berliner Parteitag am vergangenen Wochenende mit großer Mehrheit folgendes beschlossen: Die individuelle Ausbildungsförderung für Schüler, Berufsschüler und Studenten ist in ihrer Substanz zu sichern, damit auch künftig Bildungschancen nach Eignung und Leistung der jungen Menschen und nicht nach der finanziellen Situation ihrer Eltern verteilt werden. Unabhängig davon ist der Gedanke der Selbstvorsorge auch durch Einführung eines staatlich geförderten Bildungssparens zu stärken. — Hier liegt also eine ganz klare Betonung der Bedeutung des Förderinstruments, eine Stärkung des Gedankens der Selbstvorsorge beispielsweise durch Bildungssparen und andere Überlegungen, die ich hier schon in der Debatte zur Regierungserklärung angedeutet habe.Trotzdem, das BAföG ist in der Öffentlichkeit, wie wir finden, ungerechtfertigterweise — und da sind wir uns sicher alle einig — eines der unbeliebtesten Leistungsgesetze überhaupt geworden, obwohl es im Vergleich mit allen anderen Leistungsgesetzen am zielgerichtetsten denen zugute kommt, für die es eigentlich gedacht ist. Die Bildungspolitiker aller Fraktionen, auch der Koalitionsfraktionen, sind der Ansicht, daß das BAföG ein bedeutsames Förderinstrument ist — nicht nur um seiner bildungspolitischen Ziele willen, sondern auch um seiner gesellschaftspolitischen Ziele willen.Dafür spricht die gemeinsame Stellungnahme aller Fraktionen im Ausschuß für Bildung und Wissenschaft zum Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Jugendprotest im demokratischen Staat", die Frau Kollegin Dr. Engel erarbeitet hat, wie Sie sich erinnern werden, und der wir gestern morgen alle zugestimmt haben — was ich im Hinblick auf die Oppositionsfraktion ausdrücklich würdigen möchte. Ich rufe den Beschluß in Erinnerung, dem alle drei Fraktionen im Ausschuß zugestimmt haben. Es geht um die individuelle Ausbildungsförderung:In dieser Situation kann nicht darauf verzichtet werden, durch die Ausbildungsförderung Schüler mit ihren Familien zu entlasten, die besondere Kosten für die Ausbildung zu tragen haben oder eines besonderen Anstoßes für die Aufnahme einer Ausbildung bedürfen. Dies ist notwendig a) sowohl im Hinblick auf die Wahrung der Bildungsgerechtigkeit, b) als auch im Hinblick auf den Abdrängungseffekt, c) schließlich auch um des Vertrauens in unseren Staat willen, daß er jedem Jugendlichen das Recht auf Bildung gewährleistet.
— Vorsicht! Vorsicht! Es kommt j a noch. Ganz ruhig! — Weiter:Der Ausschuß sieht die Gefahr der Resignation bei einer einseitigen Belastung der Studenten aus Familien mit geringerem Einkommen durch Volldarlehen. Deshalb sollten Modelle geprüft werden, nach denen eine gerechte Belastung mit Studienkosten aller Nutzer erreicht wird, d. h. auch derjenigen, die zwar nicht Förderungsleistungen zur Bestreitung des Lebensunterhalts erhalten, denen aber die hohen institutionellen Aufwendungen zugute kommen.Dem haben alle drei Fraktionen zugestimmt.
Ich erkläre deshalb an dieser Stelle für die Bildungspolitiker der FDP-Fraktion, daß wir uns gemeinsam mit den Kollegen der CDU/CSU-Fraktion darum bemühen, eine Deckungsmöglichkeit für die in der Koalitionsvereinbarung vorgesehene Sparsumme von 200 Millionen DM zu finden, um zu verhindern, daß ein Kahlschlag beim BAföG eintritt. Wir befinden uns hier in konkreten Verhandlungen und werden unsere Überlegungen nach Abschluß der Beratungen mitteilen.Ich würdige in diesem Zusammenhang ausdrücklich die Bemühungen des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft, Frau Dr. Wilms, im Kabinett Regelungen durchzusetzen, die die allergrößten Härten mildern und einen gewissen Vertrauensschutz gewährleisten sollen. Wie schwer das ist, kann schon der Kollege Engholm bestätigen.Ich möchte an dieser Stelle noch einige grundsätzliche Überlegungen zum Thema Bildung und Beschäftigung und zur Bedeutung der bildungspolitischen Förderinstrumente in diesem Zusammenhang darstellen. Die Bildungspolitiker aller Parteien und Fraktionen wissen, wie schwer es ist, ja daß es fast unmöglich ist, bestimmte zwingende Zusammenhänge zwischen Bildung und Beschäftigung und Ausbildungsförderung zu verdeutlichen. Wir alle werden in den nächsten Jahren unsere ganze Kraft gemeinsam darauf verwenden müssen, klarzumachen, daß dies ein zusammenhängendes System ist. Gewissermaßen ein System der kommunizierenden Röhren.Ich führe einige Beispiele auf. Die Hochschulen sind voll, übervoll. Die Arbeitsmarktchancen von Akademikern sinken, obwohl sie durchschnittlich immer noch erheblich höher als die von Absolventen anderer Bildungsgänge sind. Aber die simple und, wie ich finde, erschreckend falsche Reaktion einiger Landespolitiker auf dieses Problem ist, die Hochschulen zu schließen oder damit zu drohen oder den Numerus clausus einzuführen. Diese Schlußfolgerung ist deshalb so gefährlich falsch, weil sie lediglich eine Verschiebung des Problembergs zu einem Zeitpunkt bewirkt, wo wir ohnehin nicht wissen, wohin mit unseren Jugendlichen, und wo der Ausbildungsstellenmarkt ohnehin schon zu ist.Das zweite Beispiel. Wer heute die Schülerförderung völlig kappt, muß damit rechnen, daß Schüler aus einkommensschwachen und bildungsfernen Elternhäusern ebenfalls vom weiterführenden Bildungsweg weg in die berufliche Bildung drängen.
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Frau von Braun-StützerAuch das bewirkt nur ein Verschärfen der Ausbildungsstellensituation im Augenblick. Dieses Problem sehen wir ebenso wie die Bildungspolitikerkollegen der CDU/CSU.
— Natürlich, die Bildungspolitiker sitzen hier auch wieder alleine. Deshalb ist die Frontstellung hier — —
— Nein, da sitzen auch noch ein paar andere. Ich komme gleich noch darauf zu sprechen.Ein drittes Beispiel, das die Problematik der kommunizierenden Röhren zeigt. Wir haben jahrelang von der Gleichwertigkeit der akademischen und der beruflichen Bildung gesprochen. Es gab ein paar Jahre, in denen uns die Abiturienten diese „Mär" geglaubt haben; denn de facto ist die Gleichwertigkeit der akademischen und der beruflichen Bildung nicht gegeben. In den Abiturientenjahrgängen 1976 bis etwa 1978/79 haben viele Abiturienten an diese Mär geglaubt und sind nach dem Abitur direkt in die berufliche Bildung eingestiegen. Sie haben dann gedacht, sie hätten nach Abschluß der beruflichen Bildung die gleichen Aufstiegschancen wie auch Akademiker. Sie haben dann ganz schnell lernen müssen, daß dies in Wirklichkeit nicht so ist, daß ihnen da etwas vorgeschummelt worden ist. Jetzt haben wir das Problem, daß zusätzlich zu den geburtenstarken Jahrgängen, die im Moment in die Hochschulen drängen, von der Seite auch noch diejenigen ehemaligen Abiturienten hineindrängen, die eine abgeschlossene berufliche Ausbildung haben.Ich zeigte nur die drei Beispiele — es gibt auch noch eine Menge anderer Beispiele —, die alle verdeutlichen, daß das Zuschlagen einer Tür — also beispielsweise eines Bildungsweges — oder das Kappen eines Förderinstrumentes oder die Behinderung von Aufstiegsmöglichkeiten alle gemeinsam eines bewirken: nämlich das Umlenken von Bildungsströmen in Richtung auf solche Türen, die man noch für offen hält. Was wir deshalb verhindern müssen, ist das Zuschlagen wichtiger Türen, wenn die externen Probleme ständig zunehmen und andere Türen bereits verschlossen sind.
Der Ausbildungsstellenmarkt ist zu, die Hochschulen sind überfüllt, der Arbeitsmarkt wird aus ganz anderen Gründen ständig problematischer, stellt aber immer höhere Qualifikationsanforderungen. Deshalb ist die bildungspolitische Öffnungspolitik so wichtig, sind Förderinstrumente wie das BAföG so bedeutsam wie eben auch echte Aufstiegsmöglichkeiten, die wir de facto endlich schaffen müssen. Ich meine, daß der öffentliche Dienst hier Vorreiter sein muß. Auch da werden die Bildungspolitiker aller drei Fraktionen gemeinsam Überzeugungsarbeit in ihren Fraktionen leisten müssen.Die Bildungspolitiker der FDP-Fraktionen werden sich dafür einsetzen, daß diese Argumente auch in einer breiteren Öffentlichkeit allgemeine Erkenntnis werden, damit so populäre Vokabeln wie „Akademikerproletariat" endlich verschwinden.Wir begrüßen in diesem Zusammenhang ausdrücklich die Erklärung von Frau Minister Dr. Wilms, daß sie an der bildungspolitischen Öffnungspolitik festhalten will. Ich füge hinzu: Wir werden jeden willkommen heißen, der uns dabei helfen wird, die Mehrheiten in den Fraktionen des Bundestages, der Länder- und Gemeindeparlamente von der Richtigkeit dieser bildungspolitischen Öffnungspolitik zu überzeugen.Ich habe den Eindruck — damit komme ich zum Schluß —, daß auch die Bildungspolitikerkollegen der Opposition bei ihren Kollegen im Haushaltsausschuß hier erst noch Mehrheiten überzeugen und gewinnen müssen. — Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Kuhlwein.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will nur auf einige der Äußerungen eingehen, die hier gemacht worden sind, weil die Regierungsfraktionen ja so viel Redezeit in Anspruch nehmen, daß wir uns nun nicht in Bescheidenheit zurückziehen wollen, sondern — dem Gewicht der Opposition entsprechend — auch das quantitativ und natürlich auch qualitativ
hier ausreichend vertreten wollen, was wir dazu zu sagen haben.Frau Kollegin von Braun-Stützer ist auf das eingegangen, was wir in dieser Woche im Ausschuß für Bildung und Wissenschaft zur Jugend-Enquete gesagt haben. Frau Kollegin von Braun-Stützer, mir ist deutlich geworden, daß auch Sie das, was jetzt beim BAföG passieren soll, als Kahlschlag ansehen, den Sie gerne wieder rückgängig machen wollten. Wenn es uns gelingt, das in Beschlüsse im Deutschen Bundestag umzusetzen, was wir im Ausschuß in dieser Woche gemeinsam zur Jugend-Enquete gesagt haben, dann wäre das eine ganz hervorragende Sache. Ich sehe bloß, daß Sie in der letzten Woche vor Weihnachten hier in diesem Hohen Hause — wenn dann endgültig abgestimmt wird —, große Schwierigkeiten haben werden, das wahrzumachen, was wir am Mittwoch gemeinsam im Ausschuß verabredet haben.
Der Kollege Daweke hat gemeint, der Kahlschlag sei nötig, um Maßnahmen gegen die Arbeitslosigkeit in anderen Etats finanzieren zu können. Herr Kollege Daweke, Sie wissen genauso wie ich, wie es sich kurzfristig auswirken wird, wenn wir Leute durch Streichung von BAföG aus allgemeinbildenden und beruflichen Vollzeitschulen in das duale System lenken werden. Wir werden — die Frau Kollegin Schmidt hat das gesagt; sie hat auch Zahlen hochgerechnet — damit rechnen müssen, daß
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7838 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982
Kuhlwein100 000, 150 000, vielleicht sogar 200 000 zusätzlich zu Nachfragern auf dem Markt für Ausbildungsplätze werden.
Eine Zwischenfrage, bitte.
Bitte, gern.
Schönen Dank, Sie haben auch mehr Zeit, als wir vorhin.
Herr Kollege Kuhlwein, glauben Sie nicht, daß diese Aussage eine Prämisse enthält, über die wir gemeinsam einmal nachdenken sollten, nämlich die, daß viele junge Leute, die heute gefördert werden, sei es durch Zuschuß oder durch Darlehen, das Schulsystem oder das spätere tertiäre System eigentlich nur wahrnehmen, weil sie materiell unterstützt werden, oder ist es nicht vielmehr so, daß Bildung auch einen Wert an sich hat und daß viele in die Bildung gestrebt sind, weil sie diesen Wert anerkennen und weil sie sich von diesem Wert für ihre Zukunft im Berufsleben und auch sonst als Mensch etwas versprechen?
Herr Kollege Daweke, natürlich ist Bildung auch ein Wert an sich. Aber manche Werte können sich manche Kinder aus vielen Familien nicht leisten, weil zu Hause das Geld nicht ausreicht, um sie weiter auf die Schule gehen zu lassen.
— Ich bedaure, daß wir uns in diesem Punkt unterscheiden. Ich habe Sie bisher immer ein bißchen anders eingeschätzt.
Im übrigen übersieht die Union, daß bessere Bildung und Ausbildung gerade auch ein Mittel gegen Arbeitslosigkeit in der Zukunft sein kann. Darüber waren wir uns in den Diskussionen in den letzten Monaten doch einig!
Wer im Bildungsbereich kürzt und wer jungen Leuten weiterführende Bildungsgänge abschneidet, weil er keine Ausbildungsförderung mehr bezahlt, der trägt mit dazu bei, daß wir in Zukunft mehr schlecht qualifizierte junge Leute haben werden und damit auch mehr Arbeitslose.
Herr Kollege Kuhlwein, erlauben Sie noch eine Zwischenfrage?
Herr Kollege Rossmanith, ich will auf Ihre Punkte noch eingehen. Vielleicht melden Sie sich dann zu einer Zwischenfrage, damit Sie nicht etwas vorwegnehmen, was ich ohnehin noch sagen will. Ich will mich noch mit dem Kollegen Daweke auseinandersetzen.Wir haben bei uns im Ausschuß große Schwierigkeiten gehabt beim Arbeitsförderungs-Konsolidierungsgesetz, die Kürzung der Mittel für die Aufstiegsfortbildung zu akzeptieren. Lesen Sie einmal nach, was Ihre Bundesregierung in dem „Gesetz zur Wiederbelegung der Wirtschaft und Beschäftigung und zur Entlastung des Bundeshaushalts" — Drucksache 9/2074 — auf der Seite 120 schreibt. Dort heißt es in der Ziffer 2 unter den Maßnahmen „Bundesanstalt für Arbeit":Durch die Einschränkung der Förderung der Aufstiegsfortbildung ergeben sich Minderausgaben von 60 Millionen Mark.Damit setzen Sie den Akzent gerade nicht anders, sondern Sie verstärken einen Fehler, den wir schon einmal gemacht haben. Sie werden dafür sorgen, daß Meisterfortbildung fast überhaupt nicht mehr stattfinden kann. Sie werden die bildungspolitischen Konsequenzen zu tragen haben. Jedenfalls lassen uns wir von Ihnen nicht vorwerfen, daß wir das schon einmal gekürzt hätten. Dann müssen Sie auch mittragen, daß Ihre neue Bundesregierung da noch viel schärfer einschneidet.Sie haben den Hochschulbau angesprochen. Dazu muß man sicherlich einige Sätze sagen. Im Prinzip begrüßen wir, daß der Etatansatz dafür um 230 Millionen Mark erhöht werden soll. Aber wir machen auch darauf aufmerksam, daß wir uns sehr genau ansehen werden, ob mit diesen Millionen wirklich zusätzliche Studienplätze geschaffen werden. Wir sind skeptisch, weil die Wahrscheinlichkeit groß ist, daß sich die Länder aus Maßnahmen, die sie vorzufinanzieren vorhatten, zurückziehen werden, was den Bundesanteil angeht. Wir befürchten, daß aus diesem Programm eben kein zusätzlicher Stein auf den anderen gesetzt wird.Wir sind auch nicht sicher, daß die Länder die frei werdenden Mittel in die Finanzierung von Überlasten an den Hochschulen einsetzen werden. Ich gehe vielmehr davon aus — ich glaube, der Verdacht ist nicht ganz unbegründet —, daß die das Geld nehmen werden, um sich in ihren Landesetats anderweitig zu entlasten. Bildungspolitisch bringt es also wahrscheinlich nicht viel. Aber die Bundesregierung wird uns das im Ausschuß vortragen — ich hoffe, so fundiert vortragen, daß wir dann wirklich davon überzeugt werden, daß das etwas bringt.Sie haben weiter die Diskussion um den Darlehensanteil angesprochen. Der frühere Staatssekretär Granzow, Herr Kollege Daweke, hat nicht gesagt, daß wir auf Volldarlehen umstellen müßten, sondern er hat gesagt, eine maßvolle Anhebung des Darlehensanteils käme in Frage. Darüber sind wir auch bereit zu reden. Darüber haben wir schon im Sommer mit positiver Tendenz mitdiskutiert. Bloß: Zwischen einer maßvollen Anhebung des Darlehensanteils von 150 auf vielleicht 200 Mark und der vollen Umstellung auf Darlehen liegen nicht einfach nur die 460 Mark. Für den Vollgeförderten, dessen Förderung ganz auf Darlehen umgestellt wird, bedeutet das eben sehr viel mehr. Im Augenblick ist weniger als ein Viertel seiner Fördersumme Darle-
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Kuhlweinhen. In Zukunft sollen das 100 % sein. Da liegt eine ganze Menge mehr dazwischen.Der Kollege Rossmanith hat uns, insbesondere dem bisherigen Bundesbildungsminister Engholm, vorgeworfen, wir hätten von einer „Ausbildungskatastrophe" gesprochen, und er hat gemeint, die Zahlen am Ende dieses Jahres gäben das nicht her. Herr Kollege Rossmanith, ich frage Sie, ob nicht mindestens für die 36 000, die bisher noch als Ausbildungsplatzsuchende bei den Arbeitsämtern registriert sind, das, was sie erleben, wirklich eine individuelle bildungsmäßige Katastrophe ist.
Ich meine, man sollte das nicht herunterspielen.Sie sollten auch nicht vergessen, daß noch mehrere Zehntausend zusätzlich in Überbrückungsmaßnahmen stecken, also solche, die wahrscheinlich zum Teil — was BGJ angeht, was Berufsvorbereitungsjahr angeht, was berufsbefähigendes Jahr angeht, was Arbeitsamtsmaßnahmen angeht — im nächsten Jahr wieder als Nachfrager bei den Arbeitsmämtern auftauchen werden, die im nächsten Jahr das Problem vergrößern werden und die dazu beitragen werden, daß unsere Hoffnungen, wir wären 1985 über den Schulabgängerberg, wahrscheinlich trügen werden, weil wir 1986, 1987 und 1988 noch mit sehr großen Zahlen von Nachfragern zu rechnen haben werden. — Jetzt, Herr Kollege Rossmanith, bin ich gern bereit, Ihre Frage zu beantworten.
Bitte, Herr Abgeordneter Rossmanith.
Herr Kollege Kuhlwein, gehen Sie mit mir darin einig, daß Herr Bildungsminister a. D. Engholm im Frühjahr, obwohl die Zahlen für dieses Jahr bereits erkennbar waren, von über 100 000 unversorgten Jugendlichen gesprochen hat, daß die Zahlen, die die Bundesanstalt für Arbeit jetzt veröffentlicht hat, den Stichtag „30. September" beinhalten und daß sehr viele Betriebe ihre Lehrstellen dem Arbeitsamt gar nicht mehr melden?
Herr Kollege Rossmanith, ich wußte schon, was Sie fragen wollten. Ich will dazu einmal auf Plattdeutsch sagen — ich weiß nicht, ob es parlamentarisch ist, wenn man das so sagt —: dumm Tüch.
Der Kollege Engholm hat von Monat zu Monat die Zahlen der Bundesanstalt für Arbeit referiert, aus denen eindeutig erkennbar war, daß zwischen den Zahlen von 1982 und den jeweiligen Zahlen von 1981 eine gewaltige Schere klafft. Nur so kam die Zahl von 100 000 zustande; denn beispielsweise im Mai waren bei den Arbeitsämtern noch immer über 100 000 registriert, soundso viel Prozent mehr als im Vorjahr, und es waren sehr viel weniger Angebote als im Vorjahr da. Ich glaube, daß das Endergebnis, das wir jetzt haben, das sehr viel ungünstiger als
1981 aussieht, bestätigt, daß es notwendig gewesen ist, rechtzeitig darauf hinzuweisen. Wenn es nicht schlimmer gekommen ist, so hat der Kollege Engholm ein gut Teil dazu beigetragen, daß es nicht schlimmer gekommen ist.
Im übrigen sind Ihre Bekenntnisse zur Berufsausbildung manchmal auch nicht mehr als Lippenbekenntnisse. Wenn man sich den neuen Ergänzungshaushalt zum Einzelplan 31 ansieht, stellt man fest, daß gerade bei den Modellvorhaben und -programmen im Bereich der beruflichen Bildung 5 Millionen DM gekürzt werden, und das trifft dann — Herr Kollege Rossmanith, vielleicht ist Ihnen das bisher entgangen; dann sollten Sie sich das noch einmal ansehen — die Integration von allgemeiner und beruflicher Bildung, was Sie sowieso nicht mögen, obwohl Sie immer sagen, Gymnasiasten müßten eigentlich auch etwas ganz anderes lernen; es trifft auch das Berufsgrundbildungsjahr, und zwar sowohl in schulischer als auch in kooperativer Form, und es trifft auch und vor allem die Programme für die Berufsausbildung von Frauen in gewerblich-technischen Berufen, wo wir ja einen ersten Durchstieg dahin erreicht hatten, daß Frauen in Zukunft bessere Berufschancen als in der Vergangenheit haben. Das werden Sie wieder reduzieren, Sie werden an den Programmen gerade im Bereich der beruflichen Bildung kürzen, und das macht viele Ihrer offiziellen Bekenntnisse in Sonntagsreden zu Lippenbekenntnissen.
Eine letzte Bemerkung: Wir haben den Eindruck, Sie wollen die höhere Bildung wieder zu einem Privileg Weniger machen. Das ergibt sich zwar nicht aus dem, was Sie sagen, aber aus dem, was Sie an Zahlen in Ihren Haushaltsentwurf geschrieben haben.
Wir werden das weder gesellschaftspolitisch noch familienpolitisch noch wirtschaftspolitisch für akzeptabel halten. Insgesamt, Frau Kollegin von Braun-Stützer — ich sehe gerade, sie ist nicht mehr hier —, ist das, was als Aufrechterhaltung der „Öffnungspolitik" deklariert wird, faktisch eine „Schließungspolitik" unseres Bildungssystems für die Kinder aus den sozial schwächeren Familien. Wir werden das nicht mitmachen!
Das Wort hat der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir müßten wahrscheinlich heute abend die Diskussion über BAföG und manch andere uns gemeinsam bedrückende Probleme nicht führen, wenn wir in einer anderen finanziellen und wirtschaftlichen Situation ständen.
Ich glaube, es ist notwendig, auch wenn wir heuteden ganzen Tag über Haushalt diskutieren, daß wirdas heute abend um 19.15 Uhr noch einmal sagen,
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Bundesminister Frau Dr. Wilmsdaß wir vor dem Hintergrund eines Haushaltes diskutieren und angesichts einer Wirtschafts- und Finanzlage, die uns doch hoffentlich alle gemeinsam bedrückt. Wir müssen gemeinsam sehen, wie wir aus dem Erbe, das Sie uns leider hinterlassen haben, noch etwas machen. Wir würden sicher alle miteinander, gerade wir Bildungspolitiker, lieber aus dem Füllhorn schöpfen, wie es vielleicht einmal vor zehn und 15 Jahren möglich war; aber leider stehen wir nicht mehr in dieser Situation. Es kommt jetzt darauf an, mit den wenigen noch vorhandenen finanziellen Mitteln etwas anzustellen. Mir ist deshalb mancher Debattenbeitrag heute etwas gespenstisch vorgekommen. So etwas entspricht auch nicht ganz dem Ernst der Situation.
Ich möchte deshalb einige wenige Anmerkungen machen:Studenten-BAföG. Meine Damen und Herren, wir erwarten in den nächsten Jahren einen Anstieg der Zahl der Studenten auf 1,5 Millionen. Ich setze mich dafür ein, daß wir die Hochschulen, solange es eben möglich ist, offenhalten.
Wenn wir die Hochschulen offenhalten, müssen wir auch über die nächsten zehn und 15 Jahre hin den Studenten eine gewisse finanzielle Unterstützung gewährleisten können.
Sie von der alten Regierung wissen genauso gut wie wir, daß wir diese Finanzierung in den nächsten zehn und 15 Jahren mit der bisherigen Studentenförderung nicht mehr hinbekommen hätten. Das wissen wir doch.
Es geht doch jetzt darum, ein neues Modell zu finden, eine neue Linie zu gewinnen, eine neue Weichenstellung vorzunehmen, damit wir sagen können, nicht nur der Student von heute, auch noch der Student von übermorgen hat die Aussicht, eine finanzielle Förderung zu bekommen.
Wenn Sie dieses Thema der Studentendarlehen in Arbeitnehmerkreisen ansprechen, dann kann ich nur sagen: Der Arbeitnehmer wundert sich eigentlich schon lange, daß er keine billigen Darlehen, daß er keine Stipendien bekommt, wenn er sich weiterbilden will; auch die Selbständigen in Handel und Handwerk wundern sich darüber. Ich meine, dies dürfen wir doch wohl nicht ganz vergessen.
Entscheidend ist, daß ein Student ab 1984, wenn wir auf Darlehen umstellen, im Grunde genommen dieselbe Unterstützung wie heute bekommt, nur daß es kein verlorener Zuschuß ist, sondern ein Darlehen. Dieses Darlehen gibt ihm die Möglichkeit— so sind die Modalitäten jetzt angelegt —, daß er bei guter Leistung sehr starke Erlaßmöglichkeiten hat. Sie kennen das, ich muß das nicht alles im einzelnen wiederholen. Wenn er etwa bei 40 000 DM Darlehen landet — ich komme gleich noch einmal auf diese Zahlen zurück —, kann er nach fünf Jahren einen Erlaß haben, durch den sein Darlehen auf 13 400 DM zurückgeht. Dies, Frau Kollegin Schmidt, habe ich von Ihnen natürlich auch nicht gehört.Ich höre auch nie, auch nicht in der öffentlichen Diskussion, die wir jetzt alle miteinander erleben, daß auch bislang nur 30 % der Studenten Vollförderung erhalten. Natürlich trifft es einige hart, aber es trifft nicht alle hart, und darauf sollten wir auch ein bißchen achten.Was die Rückzahlung angeht, meine Damen und Herren, möchte ich daran erinnern, daß schon jetzt — und so wollen wir es beibehalten — die Rückzahlung der Darlehensquote gebunden ist an die Einkommenssituation und die familiäre und soziale Lage des Studenten. Ich glaube, auch hier sollten wir, wenn wir miteinander diskutieren, ehrlich diskutieren.Ich mache weiter darauf aufmerksam, daß diese Bundesregierung jetzt ein neues Gesetz zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses auf den Weg bringt. Davon habe ich auch nichts gehört. Die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses betrifft ja auch junge Leute. Das sind ja nicht welche, die auf dem Mond, sondern welche, die hier unter uns leben. Ich bin sehr froh, daß wir hierzu auch mit den Ländern in eine vernünftige Beratung hineinkommen.Herr Kollege Kuhlwein, Sie haben hier so ein bißchen mit der rechten oder linken Hand abgetan, daß wir 230 Millionen DM mehr für den Hochschulbau ausgeben. Nun, der Bund war da j a unter Ihrer Regierung gegenüber den Ländern in Verzug geraten.
Die Länder sahen sich hier allmählich auch ein bißchen betrogen, weil die Bundeszusagen nicht eingehalten wurden. Wir versuchen jetzt, Ihre Schulden gegenüber den Ländern ein Stückchen abzubauen, um den Ländern damit auch wirklich eine Veranlassung zu geben, den Hochschulbau weiterzuführen.
Frau Bundesminister, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Kuhlwein?
Nein, ich möchte jetzt fortfahren.
— Meine Damen und Herren, die Zeit ist heuteabend schon vorangeschritten. Im übrigen habenwir j a noch ausreichend Gelegenheit, auch im Aus-
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Bundesminister Frau Dr. WilmsSchuß über diese Dinge miteinander zu diskutieren.Meine Damen und Herren, ich möchte noch ein paar Worte zum Schüler-BAföG sagen.
Angesichts der Finanzsituation, die wir nicht zu vertreten haben — das Erbe haben wir von Ihnen übernommen —, ist — das ist von den Kollegen der CDU und CSU hinlänglich dargelegt worden — eine Kürzung, eine Umstrukturierung des Schüler-BAföG notwendig. Daß wir nicht zu einem totalen Kahlschlag kommen, sehen Sie doch aus den vorhandenen Unterlagen. Es werden nach wie vor Schüler gefördert, die auswärtige Schulen besuchen müssen, es werden die gefördert, die Abendgymnasien, Kollegs und ähnliches besuchen, und wir haben die Härteregelung für die Übergangszeit. Meine Damen und Herren — das sage ich gerade den bildungspolitischen Fachkollegen —, Sie haben schon im vergangenen Jahr um eine Milliarde DM kürzen müssen. Sie wissen ganz genau, daß Sie noch weiter hätten kürzen müssen. Die Folge wäre dann gewesen, daß dann alle praktisch nur noch ein bißchen bekommen hätten, was niemandem mehr geholfen hätte.
So haben wir für diejenigen, die wirklich besondere Ausgaben und besondere Belastungen haben, wenigstens noch eine gewisse Hilfe.Die Beispiele, die jetzt hier und anderwärts kursieren, stimmen zum großen Teil natürlich auch nicht. Sie stimmen deshalb nicht, weil in den ganzen Einkommensberechnungen gewisse Transferleistungen, etwa Wohngeld, zum Teil völlig übersehen werden. Es wird auch übersehen, daß ein Teil der Leute über das Bundessozialhilfegesetz sehr wohl Leistungen bekommen kann.
— Nein. Darauf habe ich gewartet; vielen Dank, Herr Kollege. Sie haben nämlich bei Ihrem Wort „Verschiebebahnhof" nicht bedacht — auch dies habe ich in vielen Zeitungsartikeln von Sachkennern vermißt —, daß das BAföG bekanntlich zu zwei Dritteln vom Bund und zu einem Drittel von den Ländern finanziert wird.
Wenn also der Bund im nächsten Jahr, 1983, 200 Millionen DM einspart, sparen die Länder 100 Millionen DM. Selbst wenn also eine Reihe von Familien in die Sozialhilfe geraten, die Leistungen dort in Anspruch nehmen, sparen die Länder und Kommunen, um auch dies hier einmal klar zu sagen, immer noch Geld.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch eines sagen: Ich glaube, daß die Diskussion hier unseren Bürgern draußen wenig hilfreich ist. Ich hätte mir gewünscht, daß von allen, gerade auch von Ihnen, von der Opposition, ein Wort der Ermutigung an die Familien und Kinder gerichtet worden wäre, daß sie ihre Kinder trotz Belastungen, trotz größerer Opfer, die ohne Zweifel da sind — ich beschönige da nichts —, weiter auf weiterführende Schulen, auf berufsbildende Schulen schicken. Ich glaube, es ist notwendig, daß wir von hier aus wirklich ein Wort der Ermutigung in diese Richtung geben und hier nicht nur immer jammern und klagen. Zu jammern und zu klagen ist, glaube ich, der falsche Ansatz.
Ich darf Ihnen sagen, daß die Bemühungen der Bundesregierung dahin gehen, die Dinge — erstens — im Rahmen des Familienlastenausgleichs auf eine bessere Basis zu stellen; das hat der Kollege Geißler heute ausgeführt. Zweitens werden wir mit den Ländern in Gespräche treten, um die Ausbildungsförderung für Schüler insgesamt, einschließlich der Fahrtkostenzuschüsse, der Lehrmittelfreiheit usw., neu zu durchdenken, neu zu besprechen und damit auch dem Art. 74 Nr. 13 des Grundgesetzes zu entsprechen, weil auch hier schon Sorgen in der Richtung geäußert worden sind, wir würden uns vielleicht grundgesetzwidrig verhalten.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich als drittes noch folgendes sagen: Sie haben — das hat mich doch ein bißchen verwundert — dem Thema Ausbildungsmöglichkeiten von jungen Menschen in der Wirtschaft heute gar keinen Raum gewidmet; das hat der Kollege Rossmanith dankenswerterweise getan. Ich möchte von hier aus noch einmal darauf hinweisen, wie notwendig es ist, daß alle, die Wirtschaft, die Gewerkschaften und die staatlichen Institutionen, ihre Bemühungen fortsetzen, verstärken, um dort, wo es geht Ausbildungsplätze zu schaffen.Wir werden — und ich bin froh, daß wir das auch haushaltsmäßig verankern können — die Programme für die Benachteiligten weiterführen und, wie ich hoffe, verstärken, noch weiter verbessern, so daß gerade für diese Problemgruppen unter den Jugendlichen die Chancen da sind. Wir hoffen auch, in den Förderungen und Weiterentwicklungen von Abiturientenprogrammen ein Stück weiterzukommen.Verehrter Herr Kollege Kuhlwein, wenn Sie sagen, wir kürzten im Modellbereich an der falschen Stelle, so kann ich nur sagen: Wir kürzen in den Modellvorhaben in den Bereichen, in denen der Bund nichts zu suchen hat, nämlich in den Schulfragen. In allen anderen Fragen der beruflichen Bildung, der Weiterbildung, der Hochschulbildung werden wir die Dinge in vernünftiger Weise weiterführen.Insgesamt bin ich noch insoweit zufrieden, als der Haushalt BMBW jetzt einen Anstieg um 2,4% verzeichnet; im alten Haushaltsplan betrug der Anstieg 2,1 %. Das ist nicht gerade sehr befriedigend, ist nicht zum Glücklichwerden; es ist nichts, um Freudentöne auszustoßen; aber ich bin froh, daß wir wenigstens noch ein bißchen mehr bekommen
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7842 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982
Bundesminister Frau Dr. Wilmskonnten, gerade für gezielte Programme, als es der alten Regierung möglich war. — Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Lennartz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Minister Wilms, ich spreche nicht zum BAföG, aber eines darf ich Ihnen mitgeben: Wir haben hier heute nicht gejammert und geklagt — auch gestern nicht —, sondern wir haben nur den Sachverhalt dargestellt, daß Sie eine Politik des sogenannten Klassenkampfes betreiben. Dies haben Sie, Frau Ministerin, mit dem Begleitgesetz hier und heute bewiesen. Tun Sie also nicht so, als hätten wir hier klassenkämpferische Töne angeschlagen! Sie haben mit dem Haushaltsbegleitgesetz 1983 den Klassenkampf eingeführt.
Sie haben die Prinzipien verletzt, die den inneren Frieden und damit das wirtschaftliche Klima wesentlich mitbetimmt haben. Die Gleichberechtigung der Arbeitnehmer und die soziale Gerechtigkeit werden weitgehend aufgehoben.
Herr Kollege Lennartz, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Keine Zwischenfrage.Lassen Sie mich zwei Punkte hervorheben: Investitionshilfe, sogenannte Zwangsanleihe, und Mehrwertsteuererhöhung.Zum Thema Zwangsanleihe; Sie drücken es vornehm aus: Investitionshilfe. Da tauchen aber die Fragen auf: Wer investiert, und wem wird geholfen? Der Winterkanzler Dr. Kohl hat in seiner Regierungserklärung vor knapp vier Wochen erklärt — ich zitiere mit Genehmigung des Präsidenten—,--
— Ich könnte es noch anders formulieren; da haben Sie recht, Herr Dr. Schäuble. Ich zitiere:Das, was Rentnern und Sozialhilfeempfängern zugemutet werden muß, muß für alle gelten.Wer sind denn „alle"? Sind damit auch die Zahler der Zwangsanleihe gemeint?Ein Beispiel: Ein Lediger mit einem steuerpflichtigen Einkommen von 50 000 DM hat eine Steuerschuld von 15 000 DM. Er soll 5% Zwangsabgabe zahlen, also 750 DM, zwei Jahre lang, zinslos, es sei denn, er investiert das Fünffache, also ca. 3 750 DM pro Jahr, im eigenen Unternehmen. Den Arbeitsplatz möchte ich erst mal sehen, der mit dieser zusätzlichen Investition von ca. 4 000 DM geschaffen wird!
Aber angenommen, er investiert nicht. Dann bekommt er das Geld ohne Verzinsung zurückgezahlt. Er hat — unterstellen wir das bitte einmal — einen Verzinsungsverlust von ca. 7 %. Das wären 5,83 DM Zinsverlust pro Monat.Ein Sozialhilfeempfänger mit einem Jahreseinkommen von 4 000 DM hat durch die von Ihnen vorgenommene Verschiebung der Erhöhung der Sozialhilfe vom 1. Januar auf den 1. Juli 1983 und durch die Reduktion von 3 % auf 2 % einen Solidarbeitrag zu leisten von 4,42 DM im Monat.Ich darf das wiederholen, damit es klar wird: Jahreseinkommen 50 000 DM, Solidarbeitrag 5,83 DM;
Jahreseinkommen 4 000 DM, Sozialhilfeempfänger, Solidarbeitrag 4,42 DM. Meine Damen und Herren, das ist Umverteilung von unten nach oben!
Das ist Klassenkampf, den Sie hier mehr oder weniger praktizieren.
Das ist keine Zwangsanleihe für Besserverdienende, meine Damen und Herren, das ist ein Zwangsverdienst durch eine bessere Anleihe. Das ist Ihr Gesetz. Ist das die Politik des sozialen Ausgleichs im Geiste Ihrer Regierungserklärung? Prüfen Sie das mal bitte.
— Das war zutreffend. Das war schlecht für Sie, da haben Sie recht.
Die Frau FDP-Generalsekretärin — ich habe sie leider in den beiden Tagen nicht sehen können; vielleicht fängt sie die Tausende von FDP-Mitgliedern ein, die in den letzten paar Tagen weggelaufen sind — sprach von einem Umbau des sozialen Netzes.
Die Kollegin sprach von einem Umbau im sozialen Netz.
Ich frage Sie: Ist das der Anfang? Sagen Sie uns vor dem 6. März 1983, was Sie darunter verstehen. Sie müssen es jetzt sagen. Werden Sie jetzt deutlich, meine Damen und Herren!
Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie treffen ja mit der Zwangsanleihe auch den gut verdienenden Facharbeiter oder den Angestellten im mittleren Bereich, der nichts zu investieren hat und
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982 7843
Lennartzauch nicht einmal nebenbei einen Daimler-Benz als betriebliche Investition zum Abschreiben hat.
Wenn er dann Weihnachtsgeld oder sonstige Vergütungen bekommt, Herr von Wartenberg, gerät er schnell an die Bemessungsgrenze. Dann greift Ihre Zwangsanleihe. Ist das gerecht? Dazu kommt, daß der Arbeitnehmer die Rückzahlung erst im darauffolgenden Jahr mit dem Lohnsteuerjahresausgleich erwarten kann. Das ist Bürokratie. Das ist ungerecht, meine Damen und Herren. Dieses Programm, das Sie vorlegen, ist ein sogenanntes Honorarerhöhungsprogramm für Steuerberater, sonst überhaupt nichts.
Beantworten Sie die Frage: Was wollen Sie in der Bürokratie dort verändern, und wie wollen Sie es ändern?Eine weitere Ungerechtigkeit: Arbeitnehmer müssen mit der Lohnsteuer die Zwangsabgabe sofort zahlen, Selbständige — wenn überhaupt — ein Jahr später bei der Veranlagung, und Unternehmer können sich durch Investitionen, die vielleicht eh schon nicht mehr aufschiebbar waren, ganz entziehen.Sie müssen noch einiges erklären. Die CDU/CSU hat der sozialliberalen Koalition immer wieder vorgeworfen, ihre Politik führe in den dirigistischen Steuer- und Abgabenstaat.
— Entschuldigen Sie bitte, was hat dann der Herr Häfele, als er noch Sprecher des Herrn Kohl war, über die weitere Entwicklung der Abgaben gesagt? Mein Kollege Gobrecht hat Ihnen das doch gestern hier ins Stammbuch geschrieben. Haben Sie es denn vergessen? Seitenlang hat Herr Häfele doch darüber vorgetragen, hämisch hat er darüber Ausführungen gemacht. Nur, meine Damen und Herren: Heute läßt er sich auf dem Titelblatt eines Unternehmerblattes feiern mit der Überschrift: „Steuern sparen wie noch nie". Das ist Ihre Politik: Steuern sparen wie noch nie. Aber für wen, Herr von Wartenberg.
Für wen werden die Steuern gespart? Nicht für den Sozialhilfeempfänger, wie ich ihn eben genannt habe.Meine Damen und Herren, was der Wirtschaftsgraf zu der Ergänzungsabgabe abgesondert hat, brauche ich wohl niemandem ins Gedächtnis zu rufen. Die Ergänzungsabgabe war für ihn der Anlaß für den Koalitionsbruch mit der SPD. Aber was kommt heute? Heute formulieren Sie es anders. Vielleicht erklärt das die relative Zurückhaltung der Wirtschaftsliberalen gerade in dieser Frage, SPD und CDU hatten im Grundsatz beide eine Abgabe in irgendeiner Form gefordert. Heute feiern Sie eine Maßnahme, die als Prototyp eines überbürokratischen, dirigistischen Verfahrens gelten kann. Ich frage Sie: Steht diese Politik nicht im krassen Widerspruch zu den von Ihnen bisher vertretenen Grundsätzen: weg von der Bürokratie, weg vom Dirigismus. Genau das Gegenteil beinhaltet diese Politik.
Ich komme zur Mehrwertsteuer. Die sozialliberale Koalition hatte für 1983 eine Erhöhung der Mehrwertsteuer beschlossen — zur Finanzierung der Investitionszulage, zur Sicherung und zum Ausbau von Arbeitsplätzen —, aber es kam ein zweiter Punkt hinzu: Entlastung bei der Lohn- und Einkommensteuer von 1984 an. Unsere Auffassung dazu bleibt unverändert. Das ist ein Stück Kontinuität sozialdemokratischer Politik. Dieses geschlossene Gesetzespaket wurde von Ihnen im Bundesrat abgelehnt. Heute verstehen Sie sich darauf, die Belastung der Arbeitnehmer mit direkten Abgaben weiter zu erhöhen. Sie, meine Damen und Herren von der FDP — ich muß Sie ansprechen —, müssen doch heute die Frage beantworten, warum Sie von dem richtigen Ziel, die Kleinen zu entlasten, abgegangen sind. Das haben Sie noch im Frühjahr 1982 mit uns gemeinsam im Bundesrat gegenüber Herrn Stoltenberg vertreten, meine Damen und Herren.Ich darf hier noch einmal Herrn Staatssekretär Häfele zitieren. Er formuliert: „Der Konsum wird verhältnismäßig gering, Erträge und Substanz dagegen werden viel zu hoch besteuert." — Herr Häfele — er ist nicht hier —, sagen Sie das einmal einem Kumpel von Rhein-Braun, der eine vierköpfige Familile zu ernähren hat, der ein Bruttoeinkommen von 2 700 DM hat — nicht wöchentlich, sondern monatlich! Er soll nämlich nicht nur die Mehrwertsteuererhöhung auffangen, sondern auch die sogenannte Lohnpause von Herrn Blüm, den BAföG-Kahlschlag, die Mieterhöhungsgesetze sowie höhere Beiträge zur Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung. All das soll er noch zusätzlich in Kauf nehmen.
Das, meine Damen und Herren, ist nur ein Auszug aus Ihrem Belastungspaket.Herr von Wartenberg, ich kann Sie verstehen. Ich habe Ihre Rede gestern aufmerksam verfolgt. Sie gehen von einem Einkommen in einer Größenordnung von über 5 000 DM aus. Wer so viel verdient, kann das natürlich vertreten und ertragen, aber nicht derjenige, der ein durchschnittliches Monatseinkommen zwischen 2 200 und 2 700 DM hat. An Ihren Personenkreis mit einem Einkommen von 5 800 DM an aufwärts — habe ich recht? — können Sie sich wenden, aber nicht an den normalen Arbeitnehmer.
Meine Damen und Herren, Herr Häfele führte weiter aus, daß die Erhöhung der Mehrwertsteuer — ich zitiere — „nicht als Abgabenerhöhung ver-
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Lennartzstanden werden darf". — Aber als was denn sonst? Etwa als Entlastung? — Ich zitiere weiter: „Sie dient in vollem Umfang der Umschichtung von Steuern." — Das kann ich mir denken. Hier kommt die Katze aus dem Sack. Die für 1983 vorgesehenen Steuererleichterungen sollen laut Finanzminister Stoltenberg ca. 1,5 Milliarden DM ausmachen. Gleichzeitig kündigt er für die Zeit ab 1984 weitere steuerliche Erleichterungen für den Mittelstand an. Sagen Sie uns klipp und klar: Wo kommen diese Mittel her? Aus einer weiteren Erhöhung der Mehrwertsteuer, also aus einer weiteren Belastung der kleinen und mittleren Einkommen und aus den Einbußen der Kommunen bei der Gewerbesteuer?Meine Damen und Herren, damit schwächen Sie die Nachfrage. Sie schaffen keine Waren, Sie schaffen keine Käufer. Was das im Hinblick auf die Arbeitslosenzahlen bedeutet, Herr Kollege von Wartenberg, können Sie in den USA und in England sehen. Ronald und Margret, kann ich nur sagen, lassen bei ihrer Politik schön grüßen.
Um die Gewerkschaften in Watte zu packen, kündigen Sie eine verstärkte Vermögensbildung für Arbeitnehmer aus Mitteln der Mehrwertsteuererhöhung an. Den Klein-Klein-Anteil möchte ich gerne sehen, der dabei zum Schluß herauskommt. Ich stelle Ihnen heute die Frage: In welcher Größenordnung kommt die Vermögensbildung, und womit finanzieren Sie sie?Es bleibt dabei: Von den Reichen leihen, von den Ärmeren nehmen — das ist das Rezept der schwarz-gelben Koalition. Sagen Sie, wann kommt die steuerliche Entlastung für kleinere und mittlere Einkommen, wann kommt die Reform der Einkommensteuer und der Lohnsteuer? Ich habe die Tabelle hier.
Herr Kollege Lennartz, darf ich Sie einen Augenblick unterbrechen. Ihre Redezeit, die Ihre Fraktion angemeldet hatte, ist schon wesentlich überschritten. Ich will Ihnen das Wort aber nicht abschneiden, weil ich weiß: Ihre Fraktion hat noch Redezeitreserven. Mit dem Einverständnis der Fraktionen können Sie weiterreden.
Ich bedanke mich, Herr Präsident.
Bitte sehr!
Ich kann mir vorstellen, daß Ihnen das reicht.
Nur, ich nehme den Faden auf. Ich habe hier die Tabelle über die Entwicklung der Lohnsteuer vom Jahre 1979 bis zum Jahre 1982.
— Natürlich, Lohnsteuer!
Die niedrigste Zuwachsrate betrug 4,5 %, die höchste 14,9 %. Ich bin bereit, Ihnen zu sagen, was das in Milliarden Mark bedeutet: 97 Milliarden DM 1979, 123 Milliarden DM 1982.
— Entschuldigen Sie bitte!
Herr Kollege Lennartz, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. von Wartenberg?
Nein.
— Was Sie heute durcheinandergebracht hat, habe ich gerade an Ihrer Unruhe gemerkt. Ich bringe Sie durcheinander, nicht Sie mich.
Meine Damen und Herren, Sie haben bisher nicht gesagt, wie Sie diese Vermögensbildung finanzieren wollen. Nach Ihren eigenen Ankündigungen — darauf habe ich sorgfältig geachtet — ist noch nicht einmal abzusehen, wann sie kommt. Das Fazit ist: Sie belasten die kleinen und mittleren Einkommen weit über ihre Abgabefähigkeit hinaus. Gleichzeitig schaffen es Großverdiener — ich nenne auch Einkommensgrößen — mit einem Einkommen von 1 oder 1,5 Millionen DM mit Steuertricks, keine müde Mark Steuern zu zahlen.
— Hören Sie doch mit dieser Legendenbildung auf! Wer hat denn mit einer fetten schwarzen Mehrheit im Bundesrat eine steuerliche Entlastung verhindert? Das waren Sie doch mit Ihrer Mehrheit.
So ist es doch. Wer hat denn die Steuerentlastungen der Größeren durchgeführt? Das waren Sie! Sehen Sie sich doch die Protokolle der Debatten über den Haushalt 1981 und 1982 an.
— Entschuldigen Sie bitte, das ist reine Legendenbildung, die Sie hier bringen. — Ich frage Sie: Wann kommt die Gesetzesvorlage, daß Großverdiener mindestens den Mindeststeuersatz zahlen müssen?
Sie sind in der einmaligen Situation, mit der Mehrheit im Bundestag — auch mit unseren Stimmen — und mit der Mehrheit im Bundesrat ein solches Gesetz zu beschließen. Sie haben doch die Möglichkeit; wir werden Sie unterstützen. Ich frage Sie: Wann sind Sie bereit, dieses Gesetz mit uns durchzuziehen?Der Vorsitzende des CDU-Landesverbandes — ich habe das gestern von dem Kollegen Herrn Car-
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Lennartzstens gehört — verwahrte sich gegen die Begriffsbezeichnung „Ellenbogengesellschaft"; mit Vehemenz wurde sich dagegen verwahrt. Er hat gesagt, das Wort „Ellenbogengesellschaft" komme in der christlichen Soziallehre nicht vor. Das ist richtig. Aber wo kommt in Ihrer Politik die christliche Soziallehre vor? Das ist die Frage, die man sich stellen muß.
Sie nehmen das Wort „Ellenbogengesellschaft" zwar nicht in den Mund, aber Ihre tägliche Politik ist die Politik der Ellenbogengesellschaft.Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, Sie haben Ihr Konto Glaubwürdigkeit nicht nur in puncto Gerechtigkeit weit überzogen, um das sogenannte Vertrauen der Wirtschaft und der Finanzmärkte zu gewinnen. Das haben Sie bereits verspielt. Muß ich Sie an die großen konservativen Zeitungen, den Wirtschaftsteil der FAZ,
das „Handelsblatt" und „Die Zeit", wo der neue Regierungssprecher herkommt, erinnern? Sehen Sie sich doch einmal an, was der Herr Piel geschrieben hat: Flickschusterei. — Die Erwartungshaltungen haben sich nicht erfüllt. Auch dort haben Sie versagt. Demzufolge kommen die Investitionen nicht, die Sie sich so sehr wünschen.Sie haben auf Grund dieser Politik von CSU und CDU die Menschen — ich darf mir diesen polemischen Ausdruck gestatten — verblümt und verkohlt. Der Grundkonsens in unserer Gesellschaft und damit auch das Investitionsklima wurden dadurch gleichermaßen gefährdet. Sollte es zu dem Wahltermin am 6. März 1983 kommen,
kann ich nur hoffen und wünschen, daß wir entblümt und entkohlt werden. — Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Struck.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mit einer persönlichen Bemerkung beginnen. Wir führen hier eine Debatte über den Haushaltsentwurf der neuen Bundesregierung. Wenn ich jetzt einmal auf die Regierungsbank blicke, dann stelle ich fest: In der ersten Reihe sitzt niemand; aus dem Finanzministerium sitzt ein Staatssekretär da. Nun erinnere ich mich noch sehr gut an den Kollegen Haase, der intelligente Zwischenfragen stellte, bevor ein Redner überhaupt anfing, und danach fragte, wo denn die Regierung sei. Ich will das nicht so primitiv machen. Aber ich finde es schon bezeichnend, wie diese Regierung dieses
Parlament dadurch bewertet, daß sie überhaupt nicht anwesend ist.
Herr Kollege Struck, erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Aber bitte sehr!
Einfach nur um der guten Ordnung willen: Ist Ihnen, Herr Kollege, entgangen, daß sich hier mindestens sechs Mitglieder der Bundesregierung befinden,
die es allerdings vielleicht noch nicht so verstanden haben, sich so in den Mittelpunkt des Fernsehens zu drängen, wie dies die frühere Regierung getan hat?
Herr Kollege, ich werde Ihnen folgendes dazu sagen. Wenn wir hier eine Haushaltsdebatte führen — habe ich hier Ihre Aufmerksamkeit? Sonst können Sie sich gerne wieder setzen — dann erwarte ich, daß der Bundesminister der Finanzen diese Haushaltsdebatte intensiv von der Regierungsbank aus verfolgt und nicht von irgendeinem anderen Standort in diesem Gebäude. Das halte ich für eine Selbstverständlichkeit. Seine sozialdemokratischen Vorgänger sind jedenfalls immer hier gewesen.
Wo ist denn der Herr Bundeskanzler? Ich möchte den Bundeskanzler gerne einmal persönlich ansprechen.Es wird ja von ihm kolportiert, daß er sich in der direkten Nachfolge des Bundeskanzlers Konrad Adenauer befindet und fühlt. Dem Bundeskanzler Konrad Adenauer wird als Handlungsanweisung der Satz zugeschrieben: Was schert mich mein Geschwätz von gestern?
— Ich begrüße Sie persönlich, Herr Finanzminister. Ich werde mich nämlich in bestimmten Punkten noch sehr an Sie wenden.
Wenn die Kontinuität zur Adenauer-Politik darin besteht, daß man sich an diesen Grundsatz hält „Was schert mich mein Geschwätz von gestern!", dann muß ich sagen, Herr Bundeskanzler: Sie haben alles das erfüllt, was wir von Ihnen erwartet haben.Das gilt auch für Ihre steuerpolitischen Beschlüsse. Die Mehrwertsteuererhöhung, die Nettokreditaufnahme, den Bundesbankgewinn — all diese Punkte haben Sie so behandelt, als ginge Sie das alles nichts mehr an, was Sie vor der Übernahme der Regierung dazu gesagt haben.
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7846 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982
Dr. StruckDas gilt vor allen Dingen in einem besonders sensiblen Bereich, nämlich der Finanzlage der Städte und Gemeinden. Die Rechtskoalition ist auf dem Marsch zur Abschaffung der Gewerbesteuer. Sie, Herr Minister Stoltenberg, und Ihre Freunde aus der Koalition legen damit die Axt an die Wurzeln der Gemeindefinanzen.
Wenn das so weitergeht, ist die kommunale Selbstverwaltung am Ende. Das sage nicht ich; so kommentierte der Deutsche Städtetag, das, was Sie in Art. 4 des Haushaltsbegleitgesetzes niedergelegt haben.Der Deutsche Städte- und Gemeindebund sagt dazu etwas vornehmer:Die Gewerbesteuer ist eine unverzichtbare Säule des kommunalen Steuersystems. Die beabsichtigte massive Reduzierung der Hinzurechnung von Dauerschulden und Dauerschuldzinsen bei der Gewerbesteuer ist ein erneuter schwerwiegender Eingriff in die Realsteuergarantie und wird deshalb abgelehnt.
So der Deutsche Städte- und Gemeindebund.Dieser Anschlag auf die finanzielle Autonomie der Gemeinden steht im krassen Widerspruch zu früheren Äußerungen der Union. Herr Dr. Dregger — er ist leider auch nicht mehr hier — hat am 5. Februar 1982 in der Debatte über die Lage der Finanzen der Städte und Gemeinden folgendes gesagt — ich darf das einmal zitieren —: „Ich bin gegen die Abschaffung der Gewerbesteuer." Er hat das am 5. Februar 1982 von dieser Stelle aus gesagt. Nun frage ich den Herrn Kollegen Dregger: Was ist denn nun damit? Sind Sie immer noch gegen die Abschaffung der Gewerbesteuer, oder halten Sie sich an das, was diese Regierungskoalition jetzt vorgelegt hat?
— Ich werde Ihnen das erklären, Herr Schäuble; das dauert noch ein bißchen.Der Herr Kollege Waffenschmidt, jetzt Parlamentarischer Staatssekretär im Innenministerium — er ist leider auch nicht mehr anwesend —, hat in derselben Debatte gesagt — ich habe das hier —: keine weiteren Gesetze und Pläne des Bundes zu Lasten der kommunalen Finanzen.
Was schert mich mein Geschwätz von gestern, kann ich nur als Kommentar zu dem sagen, was jetzt von Ihnen vorgelegt wird.Schließlich, meine Damen und Herren von der CDU/CSU-Fraktion — ich darf Sie direkt ansprechen —, haben Sie in einem Entschließungsantrag auf Drucksache 9/1301 am 3. Februar 1982 gefordert:Der Bundestag wolle beschließen:1. Der Deutsche Bundestag wird in seiner zukünftigen Gesetzgebungsarbeit verhindern, daß den Städten, Gemeinden und Kreisen zusätzliche erhebliche finanzwirtschaftliche Belastungen ohne entsprechenden Ausgleich zugemutet werden.
2. Die Bundesregierung wird aufgefordert, diesen Grundsatz bei ihren zukünftigen Gesetzesinitiativen zu beachten.Wenn die CDU/CSU das für richtig hält, muß sie wie die Sozialdemokraten den Art. 4 des Haushaltsbegleitgesetzes, nämlich den Weg zur Abschaffung der Gewerbesteuer, ablehnen, meine Damen und Herren.
Die Gemeinden und Städte in der Bundesrepublik Deutschland werden bitter bestraft, gerade diejenigen, die den größten Teil der öffentlichen Investitionen tragen sollen.Nun komme ich zu dem angebotenen Ausgleich. Die Behauptung der Bundesregierung, die Gemeinden erhielten einen Ausgleich für den Ausfall bei der Gewerbesteuer durch die Senkung der Gewerbesteuerumlage, ist schlicht falsch. Erstens wäre ein voller Ausgleich nur bei einer Senkung auf 45 Punkte und nicht auf 58 bzw. 52 Punkte erreicht. Das ist eine Berechnung des Deutschen Städte- und Gemeindebundes.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wie sind Sie eigentlich auf die Zahlen 58 und 52 gekommen? Haben Sie das mit dem Daumen gemacht? Ich weiß, daß da diskutiert worden ist. Sie haben dann gesagt: Dann nehmen wir eine runde Zahl, auf jeden Fall keine Zahl, die einen vollen Ausgleich für die Gemeinden bringt. Genau das beanstandet der Deutsche Städte- und Gemeindebund. Auch wir beanstanden das.Zweitens zum Thema Ausgleich. Selbst bei einem vollen Ausgleich, der j a nicht gewährt wird, entstehen unüberwindliche Schwierigkeiten, weil die einzelnen Städte und Gemeinden davon sehr unterschiedlich betroffen wären. Der Deutsche Städtetag sagt dazu — Mitteilung des Deutschen Städtetages —:In vielen Städten liegt der auf den Hinzurechnungen basierende Teil ihres Gewerbesteueraufkommens weit über dem durchschnittlichen Anteil für alle Gemeinden. Gerade strukturschwache Städte, die schon von der Abschaffung der Lohnsummensteuer benachteiligt waren, wären erneut auf der Verliererseite.Dazu möchte ich Ihnen aus der „Welt der Arbeit" — das ist eine Zeitung, die Sie, Herr Bundesminister der Finanzen, wie ich annehme, nicht so häufig lesen — eine Überschrift zur Kenntnis geben: „Ein Griff in die Kassen der Ruhrgebietsstädte". — Ich wäre Ihnen schon sehr dankbar, wenn Sie sich einmal von dieser Stelle aus zu diesem Vorwurf äußerten.
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982 7847
Dr. StruckSollten wir denn nicht alle, meine Damen und Herren, aus dem Fehler — ich sage deutlich: aus dem Fehler — der Abschaffung der Lohnsummensteuer lernen? Wir Sozialdemokraten sind dazu bereit. Auch Sie müßten dazu eigentlich bereit sein. Bei der FDP bin ich da sehr skeptisch, weil ich die nicht mehr für sehr lernfähig halte.Herr Bundesminister, einige Städte haben ausgerechnet, was ihnen die Senkung der Gewerbesteuerumlage bringen würde. Das ist eine sehr schwierige Sache, weil dabei sehr viele Zahlen zu überprüfen sind. Ich nenne dazu nur zwei Städte. Die erste Stadt ist Duisburg. Mein Kollege Wieczorek hat gestern darauf hingewiesen. Der Eingriff bei der Gewerbesteuer, gegengerechnet gegen die Senkung der Gewerbesteuerumlage, kostet die Stadt Duisburg 22 Millionen DM netto. Diesen Betrag verliert der Kämmerer der Stadt Duisburg.Wenn Ihnen Duisburg nicht reicht, nenne ich Ihnen eine kleinere Stadt: Lünen.
— Das können Sie nicht wissen, weil Sie aus Berlin kommen. Aber die Stadt gibt es. — Die Gewerbesteuerumlagesenkung bringt der Stadt Lünen 213 000 DM Ausgabeminderung. Durch die Gewerbesteuersenkung aber entstehen ihr Ausfälle von 1,5 Millionen DM. Somit können Sie sich sehr leicht ausrechnen, daß die Behauptung in der Begründung der Bundesregierung, den Gemeinden werde dafür ein Ausgleich gewährt, falsch ist. Das gilt nicht nur für die von mir genannten Städte, sondern auch für viele andere.Nun möchte ich hinzufügen: Wir haben hier am 5. Februar dieses Jahres eine Debatte über die Finanzlage der Städte und Gemeinden geführt. Wir haben diese Debatte sehr sachlich geführt. Wir haben verschiedene Entschließungsanträge — den Ihrigen haben Sie inzwischen weggelegt — diskutiert mit der Zielrichtung: Wir sind uns darüber einig, daß bei der Beurteilung der Finanzlage der Städte und Gemeinden etwas passieren muß. Die Gespräche sind zwischen den Fraktionen geführt worden. Wir wollten das nicht kontrovers diskutieren.Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, haben diese gemeinsame Gesprächsbasis aber jetzt dadurch zerstört, daß Sie unsere Prämisse, wir wollten einmal gemeinsam darüber nachdenken, was man im Bereich der Gemeindefinanzen tun könne, verlassen haben, indem Sie jetzt an die Wurzel der Gemeindefinanzen, an die Gewerbesteuer, herangehen. Damit haben Sie die Geschäftsgrundlage verletzt. Wir Sozialdemokraten sehen keine Möglichkeiten der Übereinstimmung mehr mit Ihnen.
Ich bedaure das sehr, weil es sich hier um ein Thema handelt, das sich nicht für kontroverse politische Auseinandersetzungen eignet, weil hier das gemeinsame Interesse an einer Verbesserung der Finanzlage der Städte und Gemeinden im Vordergrund stehen sollte.Der Haushalt 1983 und das Haushaltsbegleitgesetz sind auch aus anderen Gründen kommunalfeindlich: Die Mehrwertsteuererhöhung und die geplanten Änderungen im Bereich der Rentengesetzgebung, der Ausbildungsförderung, des Kindergelds und des Wohngelds führen zu erheblichen finanziellen Belastungen der Gemeinden. Es geht nicht nur um die Gewerbesteuer; es geht auch darum, daß auf die Gemeinden all das niederprasseln wird, was sich an Auswirkungen der Streichungen im sozialen Netz und in der Sozialhilfe in deren Haushalten ergeben wird.Was wird denn ein Kämmerer eigentlich noch machen können? Der Kämmerer wird sich überlegen, ob er Gebühren erhöhen muß. Der Kämmerer wird sich überlegen müssen, ob er Schulen weniger intensiv ausstattet. Er wird sich überlegen müssen, ob er ein Hallenbad schließen muß. Er wird sich überlegen, ob er einen Kindergarten schließen muß.Und dann ist das nicht mehr ein Problem der Kämmerer der Städte und Gemeinden, sondern ein Problem eines jeden Bürgers, der davon erheblich betroffen sein wird. Die freiwilligen sozialen Dienste von Gemeinden werden durch diese Gesetzes-maßnahmen erheblich eingeschränkt werden müssen.
Ich will jetzt zu dem Thema Erhöhung der Mehrwertsteuer etwas sagen.
Herr Kollege Struck, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Herrn Kollegen Klejdzinski?
Bitte sehr.
Herr Kollege Struck, bei uns im Münsterland haben die CDU und die KPV in allen Zeitungen erklärt, daß es auf Grund dieser Regierungserklärung den Gemeinden wesentlich besser als bisher oder früher gehen wird. Und jetzt bin ich ein bißchen verwirrt. Denn wenn ich gegenwärtig versuche, Ihnen zu folgen, habe ich genau den gegenteiligen Eindruck. Ich bitte Sie, mir das einmal zu erklären.
Herr Kollege Klejdzinski, Ihre Verwirrung verstehe ich. In der Tat ist das, was die neue Regierung jetzt macht, genau das Gegenteil dessen, was sie bisher zu diesem Thema immer behauptet hat.
Herr von Wartenberg möchte sich noch schlaufragen. Bitte sehr.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Struck, würden Sie bitte meinen Vorzwischenf rager darauf hinweisen, daß Sie es unterlassen haben, darauf hinzuweisen, daß die Gemeinden ja auch durch 1,2 Milliarden infolge der Änderung der Beamtenbesoldung und -versorgung entlastet werden?
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7848 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982
Dazu, Herr von Wartenberg, will ich Ihnen etwas sagen. Das ist eine Milchmädchenrechnung,
und zwar deshalb, weil im Gegensatz zu den Berechnungen aus dem Haus des Bundesfinanzministeriums die Beschäftigten bei den Städten und Gemeinden nicht alle aus Beamten bestehen; sondern da gibt es sehr viele Arbeiter und Angestellte. Der Prozentsatz der Beamten in den Gemeindeverwaltungen ist ungefähr 15%. Nun können Sie natürlich sagen, Herr von Wartenberg: Die 2 % Besoldungserhöhung für Beamte werde ich natürlich auch für Arbeiter und Angestellte durchsetzen. Da sage ich Ihnen als Mitglied einer Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes, nämlich der Gewerkschaft ÖTV: Da werden wir Ihnen schon zeigen, wo eine Harke steht, wenn Sie hier die 2 % festlegen wollen.
Das wird sich eine Gewerkschaft nicht gefallen lassen können.
Bitte sehr.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Aber, Herr Kollege Struck, Sie werden mir doch zugeben, daß man bei einer Berechnung, wo man darstellt, daß die Gemeinden weniger einnehmen, das Gesamtpaket nehmen muß und daß Sie bei der Gesamtaddition und -subtraktion feststellen müssen, daß die Gemeinden insgesamt — das schließt Einzelfälle, die Sie dargestellt haben, nicht aus — nicht darunter leiden.
Herr von Wartenberg, das ist verkehrt, was Sie sagen. Deshalb kann ich Ihnen das nicht zugestehen.
— Nein, das ist nicht richtig. Sie müssen sich schon ein bißchen sachkundig machen. Gucken Sie sich doch einmal an, was der Deutsche Städte- und Gemeindebund zu diesem Paket genau gesagt hat. Ich komme auf den Herrn Rommel zurück, Herr von Wartenberg. Ich werde das im Anschluß behandeln.Ich sage jetzt nur folgendes: Die Mehrwertsteuererhöhung ist in diesem Haus ja schon einmal diskutiert worden. Ich lese Ihnen dazu ein Zitat vor:Ich sage hier deutlich: Eine neue Mehrwertsteuererhöhung würde gerade bei den Gemeinden zu sehr hohen zusätzlichen Kosten führen,
insbesondere im Sozialbereich und im Baubereich. Sie ist jetzt eindeutig ein Schritt in die falsche Richtung und die Mehrwertsteuererhöhung ist auch aus kommunaler Sicht abzulehnen.Nun frage ich Sie, meine Damen und Herren: Wasmeinen Sie wohl, wer das gesagt hat? Das hat derKollege Waffenschmidt, der Vorsitzende der Kommunalpolitischen Vereinigung der CDU, am 5. Februar an dieser Stelle gesagt.
Karl Marx hat gesagt: Das Sein bstimmt das Bewußtsein.
Wenn man auf der Regierungsbank dort sitzt, vergißt man alles, was man vorher gesagt hat. Das geht nach dem Motto: Was schert mich mein Geschwätz von gestern! Das ist keine Politik, die wir Sozialdemokraten machen. Aber Sie betreiben diese Politik.
— Ich verstehe j a, daß Ihnen das peinlich ist. Wenn der Herr Waffenschmidt hier wäre, wäre er wahrscheinlich schnell hinausgegangen, damit er sich nicht bei diesen Sachen hier erwischen läßt.
Aber Ihnen ist das natürlich peinlich. Das ist völlig klar. Wir wollen doch einmal hören, was der Bundesminister der Finanzen dazu sagt.
— Ja, Entschuldigung, „in diesem unserem Lande". — Es ist doch ganz und gar unerträglich, daß in diesem unserem Lande denjenigen, die wirklich noch investieren können und auch investieren müßten und die bisher die Hauptlast der Investitionen getragen haben, den Gemeinden nämlich, auch noch die letzten Reserven durch die einschränkenden Maßnahmen bei der Gewerbesteuer und durch die Folgemaßnahmen bei den sozialen Schnitten weggenommen werden. Was soll denn ein armer Kämmerer in irgendeiner Stadt machen? Wie soll er sich denn überhaupt auf seine Aufgaben als Wahrer der Einnahmen seiner Stadt oder seiner Gemeinde einstellen, wenn er überhaupt nicht weiß, was die Bundesregierung mit ihm noch vorhat? Wer sagt denn hier deutlich — dazu erwarte ich schon ein klärendes Wort —, daß die CDU/CSU-Fraktion die Vorstellungen der FDP, die Gewerbesteuer total abzuschaffen, nicht mittragen wird? Wenn Sie das nicht wollen, dann kommen Sie hier herauf und sagen das.
Ich bin da sehr gespannt. Nach dem, was in der letzten Zeit passiert ist, habe ich da meine Zweifel.Wir Sozialdemokraten werden jedenfalls die gegen die Gemeinden gerichteten Maßnahmen nicht mitmachen. Für uns ist Stetigkeit, Berechenbarkeit und Verläßlichkeit der Kommunalfinanzen oberstes Ziel unserer Politik für die Gemeinden.
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982 7849
Dr. StruckDie Grundlage der Selbstverwaltung, nämlich die Finanzautonomie, wird immer von uns geachtet werden. Die Abschaffung der Gewerbesteuer ist für uns kein Thema. Die Gewerbesteuer ist und bleibt ein Hauptpfeiler des kommunalen Steuersystems. Wir werden deshalb im Finanzausschuß sehr sorgfältig über die Art. 4 und 7 des Haushaltsbegleitgesetzes diskutieren. Wir werden auch eigene Vorschläge dazu einbringen, und wir sehen mit großem Interesse dem Gespräch entgegen, das der Herr Bundeskanzler mit dem Deutschen Städtetag führen wird.Mir liegt hier eine Meldung des „Handelsblatts" vor. Herr Rommel hat dort eine Stellungnahme dazu abgegeben, was die neue Bundesregierung im Hinblick auf die Gemeindefinanzen vorhat. Dort heißt es:Rommel verhehlte zwar nicht, daß die Aussichten auf eine Meinungsänderung der Regierung nicht allzu groß seien,— der Herr Rommel kann den Herrn Kohl also schon richtig einschätzen —beharrte jedoch darauf, daß der Städtetag hier eine klare Position beziehen müsse.Dann verweist er auf das Gespräch mit dem Bundeskanzler Helmut Kohl am 23. November.
Mir tut der Herr Bundeskanzler leid
— ja, doch, das muß man schon; man muß ja irgendwo auch einmal berechtigtes Mitleid haben —, weil er bei der Gewerbesteuer der Gemeinden eine Politik verfolgt, die sich natürlich ein Städte- und Gemeindebund nicht gefallen lassen kann. Ich bin einmal sehr gespannt, was der Herr Rommel dem Bundeskanzler erzählen wird und wie der Herr Bundeskanzler sich dort aus der Affäre ziehen wird.Für uns Sozialdemokraten bleibt eines richtig und wichtig: Für uns gilt der Grundsatz: Die Finanzhoheit der Gemeinden wird nicht ausgehöhlt. Die kommunale Selbstverwaltung bleibt unantastbar.
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Deres.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich habe die große Freude, zum späten Abend in diesem Hause meine ersten Ausführungen zu machen, Gott sei Dank zur Kommunalpolitik und zu den Fragen, die in diesen Tagen hier angeschnitten worden sind.Zunächst möchte ich aber Herrn Lennartz — ich weiß nicht, ob er noch da ist;
— ja, Herr Lennartz, wir haben ja gleiche Sprachtöne; deswegen verstehen Sie mich vielleicht besser— einmal darauf hinweisen, daß man mit dem Begriff „Ellenbogengesellschaft" doch etwas vorsichtiger umgehen sollte. Wissen Sie, wenn „in diesemunserem Lande" inzwischen zwei Millionen Menschen die Hände in die Seite stemmen, dann wird daraus eine Ellenbogengesellschaft. Das ist im Grunde genommen eine Arbeitslosengesellschaft,
und die haben in erster Linie Sie zu verantworten.
Herr Dr. Struck, noch eine Vorbemerkung zu Ihnen. Sie haben eben gesagt: Was schert mich mein Geschwätz von gestern?
Ich habe den Eindruck, Sie leben nach dem Grundsatz: Was scheren mich meine Fehler aus den letzten 13 Jahren?
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bundesregierung hat mit ihrer Regierungserklärung Signale für einen neuen Anfang in der Politik für die Länder und die Gemeinden gesetzt.
— Ich habe schon in manchen Chören gesungen und hoffe, auch hier jubeln zu können. — Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion gilt der Satz — ich zitiere aus dem Grundsatzprogramm der CDU —:Föderalismus und kommunale Selbstverwaltung sind wesentliche Gestaltungsprinzipien unseres Staates.Wir sehen unsere Mitverantwortung, die Mitverantwortung des Bundes, für die Finanzen der Länder und Gemeinden anders als die frühere Bundesregierung.
Diese Grundeinstellung, meine sehr verehrten Damen und Herren, wird durch die Praxis der vorliegenden Gesetze schon bewiesen.
Die Änderungen bei der Gewerbesteuer betreffen zwar im Augenblick die Gemeinden, aber hier wird im gleichen Zuge im Gesetzgebungsvorgang ein voller Ausgleich — und mehr als das — in den ersten Jahren für die Gemeinden sichergestellt.
Meine Damen und Herren, vornehmstes Ziel der Änderung der Gewerbesteuer ist es, durch die Beschränkung der Zurechnungen den Unternehmen ein Stück Steuerlast zu nehmen und Ertragskraft zu geben. Das ist das erste Ziel all dieser Dinge.
Wenn Sie sich an die Rede des Bundesfinanzministers über die Eigenkapitalausstattung unserer Un-
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7850 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982
Deresternehmen erinnern — in einigen Jahren Rückgang von über 30% auf gut 20 % —, dann wissen Sie alle, wie notwendig das ist.
Dieses erste Ziel, das wir damit erreichen wollen, soll uns wieder gesunde Betriebe in unseren Gemeinden bringen.
Das ist die erste Voraussetzung für Arbeitsplätze und für solide Finanzpolitik in unseren Gemeinden und Städten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die durch die Beschränkung der Hinzurechnung entstehenden Ausfälle werden durch die Senkung der Gewerbesteuerumlage ausgeglichen, in den kommenden Jahren sogar überkompensiert. In den einzelnen Gemeinden gibt es da sicher Probleme. Die können sehr unterschiedlich sein. Die mögen auch sehr unterschiedliche Ursachen haben. Hier sind, glaube ich, in erster Linie die Länder gefordert, diesen Spitzenausgleich herbeizuführen, wenn er von Ihnen für notwendig erachtet wird.Ein Wort zu den Grundsätzen und der Haltung unserer Fraktion zur langfristigen Veränderung der Gewerbesteuer. Nicht von heute auf morgen kann es sein, daß wir die Gewerbesteuer abschaffen wollen. Meine Damen und Herren, wir suchen nach Lösungen, um die ertragsunabhängigen Elemente dieser Steuer herunterzusetzen. Denn nichts ist wichtiger, als daß der Gemeinde Einnahmen zufließen, und zwar kontinuierlich. Es darf nicht sein, daß sie in den Zeiten, in denen das Geld knapp wird, überhaupt nicht mehr investieren kann. Das ist eine der größten Gefahren. Dort wird dann am wenigsten für die Bürger geleistet.Meine Damen und Herren, es gibt weitere sehr positive Elemente. Die Beamtenbesoldung ist von meinen Kollegen schon angesprochen worden. Ich will nur noch darauf hinweisen, daß wir es als sehr erfreulich betrachten, daß die Erhöhung der Investitionsmittel im Bereich der Krankenhausfinanzierung um 60 Millionen DM und im Bereich der Stadterneuerung um ebenfalls 60 Millionen DM in diesen Gesetzen enthalten ist.Insgesamt möchten wir feststellen, daß die Bundesregierung erste wesentliche Schritte in die richtige Richtung eingeleitet hat, um die Finanzen der Gemeinden und Länder zu verbessern. Sie wird damit ihrer Mitverantwortung für alle öffentlichen Haushalte — einer Mitverantwortung, die wir alle fordern — gerecht,
und das, meine Damen und Herren,
ist eine Umverteilung im positiven Sinne,
nämlich eine Umverteilung für den Bürger von oben nach unten, vom Bund auf die Gemeinde; in erster Linie dort wollen wir die Bedürfnisse der Bürger befriedigen können.
Meine Damen und Herren, ich darf abschließend sagen: In Anbetracht der Kindergeldmilliarde und auch des einen Prozentpunktes aus der Umsatzsteuer bitten wir die Länder, diese zusätzlichen Mittel im Finanzausgleich zu berücksichtigen, und wir bitten die Gemeinden, die auf sie zukommenden Mittel zusammen mit denen auf Grund von Sparmaßnahmen, die man vor Ort am besten einschätzen kann, in den investiven Bereich zu stecken, so daß wir auch von dieser Ebene Unterstützung bekommen, um zu Beginn nächsten Jahres die Wirtschaft richtig anzukurbeln. Ich hoffe, daß wir so auf dem richtigen Wege sind. — Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Purps.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Rede, die Herr Bundesfinanzminister Stoltenberg hier gestern gehalten hat, ist mir ein Satz aufgefallen, und den habe ich mir sehr eingehend zu Gemüte geführt, Herr Finanzminister.
— Aufgefallen ist mir dieser eine Satz, Herr Kollege. Viele der anderen Sätze mußte man nicht gerade mit dieser Bewertung des doppelten Lesens versehen, denn das lohnte sich nicht; schon bei einfachem Lesen war klar, daß hier immer wieder die gleiche Tendenz vorgeführt wurde, nämlich daß uns das Hinterlassen von Erblasten unterstellt wurde,
während man im eigenen Lande offensichtlich immer alles richtig gemacht hat, insbesondere bei der Darlehensaufnahme; aber darauf komme ich gleich.Herr Minister, Sie haben gesagt, im Zusammenhang mit der Aufnahme von Darlehen — von Schulden, wie Sie sagen — sei eine sittlich im Hinblick auf die kommende Generation nicht verantwortbare Praxis zu beobachten.
Ich habe mir in diesem Zusammenhang überlegt, wer diesen Satz gesagt hat. Diesen Satz hat der ehemalige Ministerpräsident eines Landes gesagt, der selbst in einem sehr hohen Maße Darlehensaufnahmen in seinem Landeshaushalt eingestellt hat,
und das hat ja heute morgen auch die Debatte mit der Richtigstellung von Herrn von Dohnanyi deutlich gemacht.
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982 7851
PurpsNun glaube ich, daß diese Darlehen nicht aufgenommen worden sind, um sie im Kabinett in Kiel zu verfrühstücken. Damit wird man sicherlich im Lande Schleswig-Holstein durchaus in wesentlichen Bereichen investiert haben, man wird etwas für die Strukturverbesserung getan haben, man wird etwas zur Hebung der Lebensqualität in den Gemeinden und in den Städten getan haben. Nur muß ich mich dann fragen, warum das, was heute morgen auch von Herrn Dregger dahin gehend interpretiert wurde, es sei eine gute, eine qualitativ hervorragende Arbeit gewesen, die man dort mit den Darlehen geleistet habe, für Schleswig-Holstein gelten soll, für den Bund aber offensichtlich nicht. Ich finde, daß Sie sich eines Tages doch entscheiden müssen. Sie müssen anerkennen, daß in der geänderten weltwirtschaftlichen Situation in allen Ländern zusätzliche Kreditaufnahmen unumgänglich notwendig sind, um die Systeme so zu erhalten, daß eine sozial gerechte Gesellschaft existieren kann.
Das Haushaltsbegleitgesetz enthält — wie man, wenn man es durchliest, schon auf den ersten Blick erkennt — eine ganze Menge gute Bekannte. Nur ist mit diesen guten Bekannten etwas geschehen: Durch einen Umtaufakt, durch ein Versetzen in den Stand neuer Gnade, haben sich sogenannte sozialistische Marterwerkzeuge oder konjunkturell angeblich vollkommen verfehlte Mittel verwandelt. Das sieht man an der Diskussion zur Mehrwertsteuererhöhung, die wir im Frühjahr dieses Jahres hatten. Damals ging es um die Finanzierung der Investitionszulage, aber diese Form der Finanzierung wurde von Ihnen rundweg abgelehnt. Daraus sind nun schlicht und ergreifend die richtigen Instrumente geworden, die haushalts- und konjunkturgerecht und der Sachlage adäquat sein sollen. Ich finde, da drängt sich doch die Frage auf, ob nicht von Ihnen in der Vergangenheit ein politisch unwürdiges Spiel getrieben worden ist. Entweder hat man jetzt nach der Regierungsübernahme höhere Weihen bekommen und bessere Einsichten, so nach dem Motto: „Wenn man ein Amt bekommt, dann bekommt man auch den Verstand dazu", oder man hat in der Vergangenheit wider besseres Wissen eine Strategie betrieben, die aus Sonthofen vorgegeben war. Ich finde, daß das letztere das Wahre ist.Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, Sie haben in allen Ihren Wahlkämpfen, ob das im Bund, im Land oder in den Gemeinden ist, z. B. immer den Vorwurf erhoben, es würde durch die Sozialdemokraten zuviel Bürokratisierung betrieben.
Mein Kollege Gobrecht hat gestern schon darauf hingewiesen, daß man dieses, wenn man das Haushaltsbegleitgesetz einmal durchliest, weiß Gott kaum halten kann, denn da feiert der Bürokratismus ganz fröhliche Urstände. Oder glauben Sie etwa, daß die Zwangsanleihe und ihre Rückzahlbarkeit kein Mehr an Bürokratie bringt, daß die Kindergeldregelung, die Sie vorschlagen, nicht ein Mehr an Bürokratie bringt? Gehen Sie doch bitteeinmal an die Steuerfront zu den Finanzämtern und fragen Sie dort die Beamten, wie die das denn beurteilen. Es gibt also unter dem Strich mehr Bürokratie. Herr von Wartenberg, wenn Sie hier die Grunderwerbssteuerreform ansprechen und sagen, daß dort dann weniger Bürokratie sei, so kann das nicht darüber hinwegtäuschen, daß, insgesamt gesehen, dieser Vorwurf „mehr Bürokratie" gegenüber Ihren Vorschlägen mit Sicherheit berechtigt ist.
Herr Abgeordneter, lassen Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Gerster zu?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja, bitte schön.
Herr Abgeordneter Gerster.
Herr Kollege, nachdem Sie hier den Verstand der Regierenden zu strapazieren versucht haben:
Ist Ihnen bekannt, daß der frühere Bundeskanzler Willy Brandt auf die Frage, wieviel eine Milliarde Mark sei, geantwortet haben soll: 100 Millionen?
Das kann ich Ihnen, da ich erst neu im Bundestag bin, nicht beantworten.
Aber der Verstand der neuen Regierung — das haben ich gesagt — hat offensichtlich eine Wende dahin genommen, daß sie das, was früher verteufelt wurde, neuerdings selbst in ihre Haushalte einsetzt und zur Deckung der Lücken benutzt.Auch zum Bereich der Familienpolitik — das ist in den Wahlkämpfen der Vergangenheit immer sehr deutlich herausgestellt worden — müssen Sie sich, nachdem Sie das Haushaltsbegleitgesetz vorgelegt haben, fragen lassen: Wie halten Sie es denn wirklich mit der Familienpolitik? Im weiteren Umfeld schlagen Sie erst einmal das BAföG weg. Das gehört j a auch zum Familienlastenausgleich, nämlich im Bildungsbereich. Ich kann mich noch sehr gut erinnern, als die 7. BAföG-Novelle hier behandelt wurde — ich war damals beteiligt —, daß von der CDU gesagt wurde, was die SPD dort vorschlage, das sei ein Steckrübenwinter für Studenten. Ich stelle nur fest, daß Sie jetzt für die Schüler die Null-Diät als notwendig betrachten.
Wenn Sie die Kinderbetreuungskosten nun in einen Kinderfreibetrag umwandeln und wenn Sie in der Zukunft vorhaben, nun auch noch das Familiensplitting einzuführen, so habe ich den Verdacht — und ich glaube, der läßt sich sehr wohl begründen —, daß Sie von einem allgemeinen Kindergeld weg wollen und das Ganze wieder ins Steuerrecht hineinbringen wollen. Dort läßt sich auch besser verstecken — da wird das vielleicht gar nicht so bemerkt —, daß nämlich der, der viel mehr verdient, nun auch viel mehr erhalten wird. Auch die Kinder-
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7852 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982
Purpsgeldkappung, die Sie als Deckmäntelchen benutzen, wird nichts daran ändern können, daß nach dem, was Sie vorhaben, letztlich der Begüterte der Begünstigte sein wird, sonst niemand.
Zur Kindergeldkappung: Wenn Sie einmal in den Unterlagen, die die Begleitgesetze erläutern, genau nachlesen, dann werden Sie daraus sehen, daß es durchaus möglich ist, daß man 100 000 DM im Jahr verdient und dennoch von der Kindergeldkappung nicht betroffen sein wird.
Wo ist denn dann die große soziale Komponente, die Sie darin sehen?Die Konsequenz: Kinder wohlhabender Eltern werden steuerlich höher bewertet. Ob das etwas damit zu tun hat, daß man Kinder eigentlich gleich zu bewerten hat, was doch eine moralisch-sittliche Pflicht sein sollte, das wage ich sehr zu bezweifeln. Aber vielleicht ist das eben Ihre Art, auf dem Weg in die propagierte geistig-moralische Erneuerung Marksteine zu setzen.Darüber hinaus bringen Sie nun, indem Sie vom Bundeskindergeld weggehen und es in den steuerlichen Bereich verlagern, auch noch Schwierigkeiten für Länder und Gemeinden hinein, die Sie j a entlasten wollen. Es ist ja nun nicht so, daß es eine Entlastung für Länder und Gemeinden bedeutet, wenn dies alles durchgeführt wird. Vielmehr bedeutet dies sicherlich auch für Länder und Gemeinden einen Steuerausfall. Das, Herr Stoltenberg, relativiert ja in einem gewissen Sinne Ihre gestrige Aussage, daß von Ihnen nun für Länder und Gemeinden etwas mehr getan werde. Es wird sich in Zukunft schon wieder dahin einpendeln, daß es hierdurch, auf dieser Schiene weggenommen wird.Dasselbe sehen wir beim Schuldzinsenabzug; das gleiche Prinzip: steuerliche Entlastung mit der breiten Schaufel nach oben, steuerliche Entlastung — zugegeben — auch nach unten hin, aber mit dem Sandkastenschippchen. Demjenigen, der nicht bauen kann, demjenigen, der — wegen der Grundstückspreise oder weil er in einem Ballungsgebiet lebt — zur Miete wohnt und sich einen Bauplatz für 100 000 DM nicht leisten kann, garantieren Sie eine Mieterhöhung, und obendrein, als Schlagsahne, kürzen Sie auch noch das Wohngeld. Das ist Ihre Erneuerung, Ihre geistig-moralische Erneuerung, mit der doch — das frage ich Sie einmal —, wenn sie denn in diesem Lande wirklich gebraucht würde, der hart arbeitende Stahlarbeiter in der Conti-Schicht nichts anfangen kann, wenn er nämlich merkt, daß dieser Ausspruch mit der konkreten Wahrheit der Umverteilung von den Nichtbesitzenden hin zu den Besitzenden einhergeht. Das kratzt Sie.
Deswegen wehren Sie sich dagegen. — Das ist diekonkrete Wahrheit. Das können Sie aus all IhrenGesetzen, aus all Ihren Vorlagen herauslesen. Das kratzt Sie, das weiß ich.
Deswegen sagen Sie, wir sollten mit dem törichten Geschwätz von der Umverteilung aufhören. Sie wollen die konkrete Wahrheit nicht hören.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Daweke?
Ja, bitte schön.
Herr Kollege, weil Sie Westfale sind und wir uns deshalb als Nachbarn verstehen, wollte ich Sie als alter Lipper — es sind hier noch mehr Lipper im Saal — fragen, ob wir uns denn nicht darauf verständigen könnten, daß wir beim Begriff „Sparen" unsere Semantik überprüfen müssen. Für einen Lipper ist Sparen, wenn man Geld zurücklegt; ich glaube, für einen Westfalen auch. Das, was wir jetzt machen, ist das Herunterfahren der Neuverschuldung. Meinen Sie nicht, daß deshalb die ganze Semantik, wenn Sie von Geschwätz reden, hier zu überprüfen wäre?
Also, lieber Herr Kollege Daweke, wir kennen uns zwar aus dem Bildungsausschuß, aber ich muß a) den falschen Haushaltsplan und b) das falsche Begleitgesetz gelesen haben. Denn nirgendwo wird bei dem, was Sie tun, die Verschuldung heruntergefahren. Ich kann das da nicht entdecken. Aber vielleicht nehmen Sie einmal Ihren Lipper Haushalt; in dem ist das vielleicht der Fall.
Unter diesem Aspekt, meine Damen und Herren, befürchte ich sehr stark, daß die Solidarität, die hier vom Herrn Finanzminister beschworen worden ist, durch Ihre Maßnahmen, die Sie jetzt hier vorschlagen, eher gefährdet wird, als daß die Solidargemeinschaft dadurch gestützt wird.
Ich darf ein kurzes Fazit ziehen: Das, was diese Übergangsregierung in den Begleitgesetzen zum steuerlichen Sektor hier vorlegt, ist im Düsenjettempo zusammengestoppelt, und zwar zum Nutzen und Frommen der Passagiere in der ersten Klasse und zu Lasten und auf Kosten des Bodenpersonals. Das müssen Sie verantworten.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
— Ja, zum Tagesordnungspunkt 8, wenn ich das richtig sehe, Herr Kollege.
— Dann ist mir das falsch übermittelt worden. Ich korrigiere mich. Ich erfahre soeben, daß der Kollege Hoffmann für die Tagesordnungspunkte 2 bis 7 ge-
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Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982 7853
Vizepräsident Windelenmeldet worden war. Die Aussprache ist damit nicht geschlossen.Ich erteile dem Abgeordneten Hoffmann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bedanke mich sehr, daß die Möglichkeit besteht, noch zu später Stunde hier einen kurzen Abschlußbeitrag vorzutragen. Ich wende mich — die Gunst der Stunde nutzend, kann man das kurz machen, weil es ruhig ist — direkt an den Herrn Finanzminister, weil ich glaube, ohne daß am heutigen Tage irgend etwas zu wiederholen ist: Es gibt einen Punkt, der in der Diskussion keine Rolle gespielt hat, der aber nach meiner Auffassung ein einmaliger Vorgang in der Parlamentsgeschichte ist:Verteidigungsminister Wörner — ich zitiere die heutige Presse — hat in Washington eine Zusage gemacht, die sich weder mit den Beschlüssen des Haushaltsausschusses deckt noch in irgendeiner anderen Weise gerechtfertigt ist, sogar gegen einen einstimmig gefaßten Beschluß des Haushaltsausschusses verstößt. Ich halte das für eine Einmaligkeit, und deshalb möchte ich das heute abend noch vortragen.Ich zitiere die heutige „Frankfurter Allgemeine". Es gibt entsprechende Meldungen über den Ticker; sie sind alle nicht dementiert worden:Daß der deutsche Verteidigungsminister nicht mit leeren Händen kam, sondern die Zusage des Bundeskabinetts mitbrachte, im Laufe der nächsten Jahre 350 Millionen Mark zur Erhöhung und Fortführung des NATO-Infrastrukturprogramms aufzubringen, trug zu dem befriedigenden Verlauf erheblich bei. Dies war mehr als die Bereitstellung von Geld. Es war zugleich eine Geste von symbolischem Wert, die auch so verstanden wurde. Denn keine andere Einzelfrage hat so sehr zu Spannungen beigetragen — bis hin zum persönlichen Eklat zwischen Weinberger und Wörners Vorgänger Apel — wie die Weigerung der alten Bundesregierung, dem Drängen der NATO-Oberbefehlshaber und der Amerikaner nach einer Erhöhung des Infrastruktur-Etats nachzugeben. Daß Wörner dies korrigiert hat, dürfte von vielen in der NATO als das Ende einer Blockade empfunden werden.Soweit das Zitat aus der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung".
— Herr Kollege, ich will es Ihnen ja gerade in Nüchternheit und Ruhe erklären. Sie brauchen sich nicht zu einer Zwischenfrage zu melden, bevor ich den Sachverhalt dargestellt habe, Herr Kollege. Ich möchte das zuerst vortragen. Vielleicht haben Sie dann noch Lust zu fragen. Ich weiß aber nicht, ob die Lust dann noch bleibt.Wir haben im Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages — ich bitte die Haushaltskollegen, genau zuzuhören, denn es ist ein Präzedenzfall — —
— Hören Sie mal, ich erkläre es Ihnen doch gerade. Seien Sie nicht so ungeduldig! Wir haben j a noch die Minute Zeit. — Wir haben im Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages — Herr Gerster, hören Sie genau hin — mehrfach über das NATO-Infrastrukturprogramm gesprochen. Wir haben festgestellt, daß es allein von 1981 auf 1982 um über hundert Prozent angehoben worden ist. Und dann haben wir gesagt: Das ist j a nun eine tolle Sache — nachdem wir da ein bißchen draufgekommen sind— und haben im Haushaltsausschuß einstimmig folgenden Beschluß gefaßt, und zwar zu diesem Kapitel NATO-Infrastruktur:Die Mitglieder des Haushaltsausschusses zeigen sich wegen der außerordentlichen Steigerungsraten in diesem Kapitel besorgt.Einstimmig, also auch mit Ihren Stimmen! Zweiter Punkt:Sie beantragen, daß das Bundesverteidigungsministerium und das Bundesfinanzministerium jährlich über die Durchführung des laufenden NATO-Infrastrukturprogramms und den Mittelabfluß informiert.Einstimmig beschlossen!Dann haben wir einen dritten Punkt mit den Stimmen von SPD und FDP beschlossen:Der Haushaltsausschuß fordert die Bundesregierung auf, darauf hinzuwirken, daß über die zum NATO-Infrastrukturprogramm festgelegten Steigerungsraten hinaus keine weiteren Mittel vereinbart werden. Dies gilt auch für eine Erhöhung des deutschen Schlüssels.Zu diesem Punkt hat der Berichterstatter der CDU/ CSU gesagt, er könne ihm deshalb nicht zustimmen, weil er vermute, daß man in der Öffentlichkeit ein Mißverständnis über den NATO-Doppelbeschluß provozieren wolle. Das heißt, inhaltlich, in der Tendenz des Beschlusses, hat er zugestimmt.Vierter Punkt — aber das ist jetzt der ausschlaggebende, und den haben wir wiederum einstimmig beschlossen —:Sollten im Programmvolumen 1983/84 finanzielle und technologische Veränderungen vorgesehen werden, so ist das Parlament rechtzeitig vor Abschluß internationaler Verhandlungen zu konsultiern. Dies gilt auch für jedes weitere NATO-Infrastrukturprogramm.Meine Damen und Herren, wir haben also im Haushaltsausschuß einstimmig beschlossen, daß wir jede Erhöhung auf diesem Sektor vor irgendwelchen Zusagen in der politischen, finanziellen und militärischen Dimension diskutieren wollen, damit wir uns überhaupt sachkundig und entscheidungsfähig machen. Und dann geht Herr Wörner hin und bezahlt in den USA ein Eintrittsgeld in
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Hoffmann
Form einer Zusage von 350 Millionen DM! Diese Zusage muß er natürlich politisch einlösen, denn sonst war ja alles, was er dort erzählt hat, Quatsch. Das heißt, daß das Parlament hier in seinen Entscheidungsbefugnissen hinsichtlich 350 Millionen DM betrogen worden ist.
Das ist mehr, meine Damen und Herren, als im nächsten Jahr beim BAföG gestrichen werden soll. Und das ist so.Ich bestehe darauf. Ich werde diesen Vorwurf so lange hier erheben, bis Herr Wörner nachweist, daß er das, was heute in der Presse steht, in Washington nicht versprochen hat. Das möchte ich vom Podium hier erleben. Das muß nicht heute sein. Er hat Zeit genug, das zu tun.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage des Abgeordneten Biehle?
Bitte sehr.
Herr Abgeordneter Biehle.
Herr Kollege, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß der Verteidigungsminister Dr. Wörner in Washington das, was Sie angeführt haben, nämlich 350 Millionen DM für die NATO-Infrastruktur aufzuwenden, als eine politische Willensaussage der Bundesregierung mit dem ausdrücklichen Hinweis kundgetan hat, daß es dazu noch der Beschlüsse der entsprechenden Gremien des Bundestages, insbesondere des Haushaltsausschusses, bedürfe, und daß in diesem Sinne heute auch die Mitglieder des Verteidigungsausschusses informiert worden sind und diese Aussage ohne Gegenrede zur Kenntnis genommen wurde?
Herr Kollege, wie naiv sehen Sie eigentlich den Zusammenhang eines politischen Versprechens eines Ministers einer Bundesregierung mit dem, was nachher formal im Parlament abläuft? Glauben Sie denn im Ernst, eine solche hochangelegte politische Zusage in Washington könnte nachträglich über den Haushaltsausschuß oder den Verteidigungsausschuß korrigiert werden? Glauben Sie das tatsächlich?
Ich halte es, gelinde gesagt, für einen Skandal, wie man mit dem Parlament umgeht. Wir haben zwei Jahre lang im Fachausschuß über diese Frage an den entscheidenden Stellen diskutiert und die entsprechenden Minister und ihre Staatssekretäre — die, die das mitgehört haben, sind im übrigen nicht abgelöst worden — —
— Ach, hören Sie mal! Ich will Ihnen einmal etwas sagen: Wenn Sie die Diskussion im Haushaltsausschuß einigermaßen seriös annehmen, aber den Beschluß, den die Kollegen der CDU/CSU mit uns zusammen einstimmig gefaßt habe, für nichtig oder Unsinn erklären wollen, tun Sie das bitte; aber erklären Sie mir vorher noch, warum Sie dann zugestimmt haben.
Herr Abgeordneter, sind Sie mit einer weiteren Zwischenfrage des Abgeordneten Biehle einverstanden?
Bitte schön.
Bitte, Herr Abgeordneter Biehle.
Herr Kollege, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß das, was der Bundesverteidigungsminister in Washington gesagt hat, in keiner Art und Weise im Widerspruch zu den Haushaltsbeschlüssen steht,
und würden Sie weiter zur Kenntnis nehmen, daß der ehemalige SPD-Bundeskanzler mit den Franzosen Vereinbarungen über die gemeinsame Produktion des Kampfpanzers '90 getroffen hat, selbst gegen den Willen der eigenen Fraktion, und wir jetzt diese Erblast bereinigen müssen?
Man kann natürlich aus der Diskussion um die Erblast auch die Diskussion um die Erbsünde machen. Dann haben Sie nachher den Apfel, der herumgereicht worden ist. — Das ist doch dummes Zeug!Sie wissen doch ganz genau, daß die Diskussionslage beim Kampfpanzer eine ganz andere ist, auch die Entscheidungslage eine ganz andere ist. Sie müßten es doch eigentlich wissen.Sie haben mir hier die Frage gestellt, ob das nicht vereinbar wäre. Ich sage: Es hat offensichtlich einen Kabinettsbeschluß gegeben, nicht nur eine Absichtserklärung eines einzelnen Ministers, sondern offensichtlich eine Kabinettsentscheidung.
Ich würde gerne entgegennehmen, daß Sie sagten, daß das nicht so ist.
— Nun setzen Sie sich mal. — Oder bleiben Sie von mir aus stehen. Aber lassen Sie mich wenigstens ausreden.
— Ich habe Sie darum gebeten, mich ausreden zu lassen. Jetzt hören Sie doch mal ein bißchen zu.
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Hoffmann
Ich sage Ihnen: Hier gibt es offensichtlich einen Kabinettsbeschluß. Dieser Kabinettsbeschluß ist gefaßt worden, obwohl aktenkundig ist, daß der Haushaltsausschuß darauf aufmerksam macht, daß die Steigerungsraten bei den Aufwendungen für die NATO-Infrastruktur so nicht weitergehen können, weil sie zu große Umfänge erreichen. In den Jahren von 1979 bis 1985 sollen die Jahresbeträge vervierfacht werden, nicht um 3 % oder 5 % real aufgestockt, nein, vervierfacht. Und da geht nun der Herr Wörner hin und verspricht noch 350 Millionen dazu.Ich halte das für eine politische Verunglimpfung des Parlaments selbst und insbesondere des Haushaltsausschusses.
Herr Abgeordneter, der Abgeordnete Gerster würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen. Sind Sie damit einverstanden?
Das ist aber dann die letzte, die ich zulasse.
Herr Abgeordneter Gerster.
Herr Kollege Hoffmann, wir Haushälter sind dafür bekannt, daß wir harte Maßstäbe an die jeweils Regierenden anlegen. Ich denke, das war in der Vergangenheit so, und das wird auch in der Zukunft so sein.
Vor diesem Hintergrund darf ich Sie fragen: Warum waren Sie, wenn Sie in einer politischen Absichtserklärung einen politischen Skandal sehen, nicht bereit, vor etwa zwei Jahren von einem politischen Skandal zu reden, als der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt am Vorabend der französischen Präsidentschaftswahlen bei einem Diner im Elsaß entgegen Willensbildungen im Haushaltsausschuß, der Derartiges mitzumachen nicht bereit war, wenn nicht das Problem des Mundatwaldes und des Sequesterlandes gelöst würde, dem französischen Staatspräsidenten Giscard d'Estaing 250 Millionen DM für eine Stiftung zur Wiedergutmachung für die ehemaligen zwangsrekrutierten Elsässer und Lothringer zugesagt hatte?
Warum haben Sie bei dieser Zusage gegen den Willen des Haushaltsausschusses damals nicht vom politischen Skandal gesprochen, was wir nicht getan haben,
weil wir einem Regierenden politische Absichtserklärungen zugestehen?
Also, Herr Gerster, ich halte viel von parlamentarischen Spielregeln, auch daß man Zwischenfragen zuläßt.
Sie sind das beste Beispiel dafür, wie man das wirklich über Gebühr strapazieren kann. Denn ich müßte, um Ihre Frage richtig zu beantworten, auf das Problem Mundatwald und Sequester kommen, was ich hier nicht kann. Nur weiß jeder von uns, daß das auf der französischen Seite ein Junktim hatte. Wenn Sie das in einem solchen Zusammenhang anführen, dann weiß ich ganz genau, daß Sie nichts weiter machen wollen, als von diesem Vorfall abzulenken, der hier passiert ist.
Am Anfang Ihrer Frage haben Sie von einer Absichtserklärung gesprochen. Hier gibt es offensichtlich einen Kabinettsbeschluß. Ist das nichts? Deshalb fordere ich die Bundesregierung auf, klar zu sagen, ob sie einen Kabinettsbeschluß gefällt hat, ob es zutrifft, daß Herr Wörner in den USA zusätzlich 350 Millionen DM versprochen hat, und ich fordere Sie auf zu erklären, wie Sie dann zum einstimmigen Beschluß des Haushaltsausschusses zu dieser Frage stehen.
— Ich möchte jetzt weiter keine Zwischenfragen zulassen; denn ich habe jetzt nur noch zwei Minuten Zeit, und ich hatte mir vorgestellt, noch einige andere Themen aufzugreifen.
Herr Abgeordneter, Ihre Fraktion hat noch soviel Redezeit zur Verfügung, Sie werden in Ihrem Rederecht hier nicht eingeschränkt.
Ich bedanke mich sehr, Herr Präsident, aber ich weiß natürlich, daß die Kollegen hier schon sehr lange sitzen, und deshalb möchte ich es trotzdem sehr kurz machen.Der zweite Punkt, den ich heute ansprechen möchte, weil er auch eine aktuelle Entscheidung angeht, ist folgender. Diese möchte ich zunächst einmal nicht kritisieren. Vielleicht hat man dafür das geneigte Ohr der Regierungskoalition. Die Bundesregierung hat gestern die Entscheidung der Europäischen Kommission zur Kenntnis genommen, wonach bestimmte Finanzhilfen an die saarländische Stahlindustrie kritisiert werden. Die Bundesregierung hat die Mittel ausgezahlt. Sie weiß, daß bestimmte Auflagen von seiten der Europäischen Kommission gemacht worden sind. Ich möchte zuerst feststellen, daß ich es begrüße, daß sie diese Mittel ohne Verzögerung — dazu hätte es einen Anlaß gegeben — hat fließen lassen, weil das ansonsten eine unmittelbare Konsequenz für die saarländische Industrie gehabt hätte. Ich bedanke mich dafür.Andererseits möchte ich eine Kritik anbringen oder zumindest eine Bitte äußern. Diese Art von Finanzentscheidungen läuft offensichtlich auch hier am Parlament vorbei. Nun weiß ich natürlich,
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Hoffmann
daß man nicht in jedem Einzelfall, gerade wenn es schnelle Entscheidungen geben soll, das Parlament einberufen kann. Aber man kann eines tun, Herr Finanzminister; man kann nämlich den entsprechenden Berichterstattern eine Information zukommen lassen und sie um ihre Meinung bitten, damit man zumindest auf diese Art und Weise eine parlamentarische Mitverantwortung bzw. einen Ratschlag von dieser Seite bekommt.Es gibt leider Gottes in diesem Zusammenhang, auch wieder vom heutigen Tag, Meldungen, die das, wo Sie mithelfen wollen, in der Grundlage erschüttern werden, wenn wir uns nicht um eine bestimmte, korrekte Diktion bemühen. Der Herr Wirtschaftsminister, der leider nicht da ist, hat vor 14 Tagen hier von dieser Stelle in bezug auf Stahl und Saar gesagt, man brauchte Bürgschaften und unmittelbare Zuwendungen nicht mehr auseinanderzuhalten; denn jeder wäre unehrlich, der sagen würde, dies sei nicht längst schon sozusagen à conto verbucht. Nun finde ich heute in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" die Feststellung der Bundesregierung zu diesem Problemzusammenhang — es dreht sich hier um die Brüsseler Diskussionen —:Der Bundesregierung wurde unterstellt, sie setze die Kommission mit ihren Angelegenheiten unter Druck und erfülle gar nicht die Voraussetzungen für die Zustimmung Brüssels. Das gilt besonders für die Saarstahlhilfe, bei der der Kapazitätsabbau umstritten ist. Auf eine Verringerung der überschüssigen Kapazitäten bei den neuen Staatszuschüssen hatte gerade die Bundesrepublik immer gedrängt. In dieser Auseinandersetzung, die am Mittwoch zugunsten Bonns entschieden wurde, können die Deutschen zwar darauf verweisen, daß das Subventionsunwesen von den anderen begonnen wurde und daß sie jetzt in Zugzwang geraten sind, doch Tatsache bleibt, daß nun offenbar auch in der Bundesrepublik Staatshilfen für kranke Unternehmen als letzter Ausweg gesehen werden.Nun will ich nicht weiter ein Saar-Thema vortragen, sondern ich möchte auf die generelle Problematik hinweisen. Wenn wir zulassen, daß unter uns eine solche Diktion herrscht, sind wir in der Gefahr, das, was wir im internationalen Wettbewerb aus wohlerwogenen volkswirtschaftlichen Gründen zu beschließen und zu halten versuchen, ohne Not zu verschenken. Deshalb bin ich eigentlich ein bißchen betrübt darüber, daß die Anregungen, die Klaus von Dohnanyi heute vorgetragen hat, auf Ihrer Seite eigentlich kein Echo gefunden haben.Die Fragestellung in diesem Zusammenhang ist nicht, ob wir in allen diesen Krisenbranchen wie beispielsweise Stahl, Textil, Schiffsbau subventionieren dürfen: ja oder nein. Wenn diese Industrien auf ein neues, modernes technisches Niveau gebracht worden sind, wenn sie Arbeitsplatzrationalisierung, wenn sie Kapazitätsreduktion betrieben haben, wenn sie also bei einem vorhandenen Wettbewerb praktisch überleben könnten, es deshalb aber nicht können, weil die Staatssubventionen dieses Konzept gegenseitig zerschlagen, dann stelltsich für uns die Kernfrage: Sind wir bereit, eine politische Grundsatzentscheidung darüber zu fällen — ja oder nein —, was wir aus volkswirtschaftlichen Gründen als Minimumstandard dieser Produktion in der Bundesrepublik erhalten wollen? Das ist für mich eine Schlüsselfrage, nicht nur in bezug auf Saarstahl, nicht nur in bezug auf den Schiffsbau an der Küste.Diese Frage geht ein weites Stück über die einfache Diskussion über den Protektionismus hinaus. Ich habe versucht, mich kundig zu machen, ob denn unser Wirtschaftsminister dazu etwas sagt. Er sagt in seinem Buch „Bewährung" eine ganze Menge über die Ablehnung von Protektionismus. Er sagt nichts darüber, wie wir denn finanz- und wirtschaftspolitisch auf diese Herausforderung reagieren sollen, wenn wir sozusagen am Ende marktwirtschaftlicher Verhaltensweisen sind. Es gibt also keinerlei Strategie im Zusammenhang mit der Fragestellung: Was machen wir mit unseren kritischen Industriebereichen bei technisch besserem Niveau, bei abgeschmolzenem Personalstand, bei verminderten Kapazitäten?Ich finde, in eine Debatte zum Haushalt, durch den die Mittel verteilt werden, gehört zumindest der Ansatz einer industriepolitischen Perspektive. Sie muß hier vorgetragen werden. Leider Gottes ist es zu spät, um heute abend noch Ihre Geduld zu strapazieren.Als der letzte Haushälter unserer Seite, der heute abend gesprochen haben wird, möchte ich versuchen, ganz kurz, in einer Minute zusammenzufassen, wie wir die Diskussion des heutigen Tages bewerten:Erstens. Die konservative Bundesregierung hat den Haushaltsentwurf 1983 der sozialliberalen Bundesregierung nicht zurückgezogen, sondern nur ergänzt. Die Aussage, das Zahlengerüst des damaligen Ministers Lahnstein sei insgesamt unbrauchbar, ist damit nachweislich falsch und Polemik.
Zweitens. Vielen in der Substanz unveränderten Einzelpositionen des Bundeshaushalts können wir nach wie vor zustimmen.Drittens. Wir halten es für richtig, daß das Instrument der Nettoneuverschuldung weiterhin eingesetzt wird, insbesondere für finanzielle Auswirkungen von Konjunktureinbrüchen.Viertens. Wir lehnen es ab, die Kosten der Krise einseitig zu Lasten der geringer Verdienenden und der sozial Schwachen zu verteilen.
— Beispiele: BAföG-Kahlschlag, Sozialhilfekürzung, Mieterhöhung, Wohngeldkürzung. Ich glaube, daß diese Beispiele genügend Hintergrund sind, um zu zeigen, daß das eine zynische Umverteilungspolitik ist.
Fünftens. Wir halten es für ein Betrugsmanöver, die einkommensbezogene Kindergeldkürzung oder
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Hoffmann
die angebliche Kürzung von Ministergehältern oder die rückzahlbare Zwangsanleihe zum Kronzeugen für ausgewogene Lastenverteilung zu machen.
Gegenüber diesen kleinen Einschränkungen werden den Reichen doppelt und dreifach Löhne ausgezahlt,
Gewinne zugestanden durch KinderfreibetragsAbschreibungs- und Steuervorteile.Sechstens. Wir stellen fest, daß die schwierigen Strukturfragen von Arbeitsmarkt und Wirtschaft von den Konservativen weder gestellt noch beantwortet wurden. Die Denkanstöße von Dohnanyi sind auf der rechten Seite des Hauses ohne irgendein Echo geblieben.Siebtens. Wir, die SPD, werden versuchen, diesen Anforderungen, die wir damit an uns selbst stellen, gerecht zu werden. Deshalb werden wir ein kurz- und mittelfristiges Programm zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und zur Überwindung der wirtschaftlichen Krise vorlegen, das einen konkreten Maßnahmenkatalog und seine Finanzierung umfassen wird. Wenn die Zeit nicht so weit vorgeschritten wäre, würde ich Ihnen das kurz vortragen. Ich sage deshalb nur: Das ist ein Erinnerungsposten. Sie werden uns daran messen können, ob wir es vorlegen werden.Achtens. Die langfristigen Herausforderungen, so die Strukturkrisenbewältigung, so die Weiterentwicklung des Sozialsystems, so eine sozial verträgliche und gerechte Steuer- und Verteilungspolitik und so auch die Versöhnung von Ökonomie und Ökologie, werden von uns angenommen. Wir werden uns bemühen, daß die Mehrheit der deutschen Bevölkerung die Gewißheit haben kann, in den Sozialdemokraten den besseren Anwalt für das Recht auf Arbeit und für die soziale Sicherheit zu finden.
Neuntens. Freiheit, Solidarität und Sicherheit in unserer Republik sind eng verbunden mit Freiheit, Solidarität und Sicherheit unserer Partner in Süd, Ost und West.Zehntens und letztens schließlich. Diese Grundsätze werden bei Beratung des Haushalts 1983 unsere Mitarbeit und unser Abstimmungsverhalten bestimmen. Sie werden uns an dieser Frage, an unserer konstruktiven Mitarbeit im Haushaltsausschuß messen können.
Das Wort hat der Herr Bundesminister der Finanzen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie — diejenigen, die noch hier sind — werden es alle verstehen, daß ich die Fülle der erneut formulierten Anklagen und Vorhaltungen zu dieser späten Stunde nicht mehr aufnehmen möchte. Wir haben dazu gestern und heute das Nötige gesagt. Es steht auch in den Protokollen.Ich fühle mich aber nach den Attacken, die gegen den Kollegen Wörner vorgetragen wurden, verpflichtet, Ihnen doch die Position der Bundesregierung zu erläutern. Es gilt selbstverständlich für diese Bundesregierung, daß sie unter voller Beachtung des Haushaltsrechts des Deutschen Bundestages internationale Gespräche oder Verhandlungen führt.
Das gilt selbstverständlich auch für den Kollegen Wörner. Ich bin — obwohl ich nicht dabei war und nur einige Zeitungsberichte gelesen habe — ganz sicher, daß er als erfahrener Parlamentarier diesen Grundsatz in Washington voll zugrunde gelegt hat.Zum zweiten. Herr Kollege Hoffmann, es gilt aber auch: Sie müssen einer neuen Regierung zubilligen, daß sie bei internationalen Gesprächen auch neue Elemente einführt. Auch das ist das Recht einer neuen Regierung,
vor allem, wenn es um die Fragen des Atlantischen Bündnisses und der Beziehungen zu unserem bedeutsamsten Verbündeten, den Vereinigten Staaten von Amerika, geht. Es ist richtig, daß die Bundesregierung nach einer Grundsatzdebatte und nach intensiven Gesprächen, die Herr Kollege Wörner vorher mit mir geführt hat, der Meinung ist, daß es gute Gründe gibt, die ich nun zu dieser späten Stunde nicht mehr darlegen kann und soll, die auch der Verteidigungsminister noch besser vortragen kann, eine Verstärkung des NATO-Infrastruktur-programmes ins Auge zu fassen, daß es auch Gründe gibt, die in den ganz besonderen Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland liegen. Alles, was darüber hinausgeht, wird hier zu vertiefen und sicher vor allem auch in den zuständigen Ausschüssen des Deutschen Bundestages, dem Verteidigungs- und Haushaltsausschuß, näher zu begründen sein. Auf der Grundlage dieser Meinungsbildung im Kabinett hat Herr Kollege Wörner zur Vorbereitung einer endgültigen Entscheidung Gespräche geführt. Diese Entscheidung kann übrigens gar nicht, wie Ihnen bekannt sein dürfte, bilateral in Washington, sondern sie wird in bevorstehenden Sitzungen der NATO getroffen werden. Da gibt es Begriffe wie midterm-review. Herr Kollege Leber kennt das viel besser als ich. Das ist ja nicht ein bilaterales agreement, sondern es ist eine Vorbereitung von Entscheidungen in dem Gesamtrahmen der NATO, die dann selbstverständlich auch unter dem Vorbehalt der Beschlußfassung des Deutschen Bundestages stehen.Ich teile nach einer gründlichen Erörterung diese Auffassung, auch aus der Sicht des Bundesministers der Finanzen. Denn die Bereitschaft, hier zu verhandeln, bedeutet auch, daß sehr viele andere Wünsche, die es im Bündnis und von dem größten Partner gibt, nach meiner Einschätzung in voraus-schaubarer Zeit aus finanziellen Gründen nicht aufgenommen werden können. Ich sage Ihnen das auch als einem Mitglied des Haushaltsausschusses.
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Bundesminister Dr. StoltenbergHier ist eine Prioritätsentscheidung für die weiteren Verhandlungen getroffen worden. Aber Priorität für eines heißt auch Posteriorität für manches andere, was es an Erwartungen gibt. Mehr will ich im Augenblick dazu nicht sagen.Nun ist ja die Lage so, daß wir, falls es hier zu einer endgültigen Beschlußfassung oder Vereinbarung kommt, die Vorlagen für den Deutschen Bundestag für das Jahr 1984 fristgerecht und ordnungsgemäß erstellen werden; denn hierbei geht es um eine Überlegung, die für die Jahre 1984 bis 1986, nicht für den jetzt zur Entscheidung anstehenden Haushalt, wirksam werden sollen. Ich glaube, daß, nachdem ich dies deutlich gemacht habe, manches von dem, was Sie hier in Erregung gesagt haben, nicht gerechtfertigt war. Ich verstehe zwar Ihr Informationsbedürfnis mit kritischem Ansatz; aber Vokabeln wie „zynische Mißachtung" waren vollkommen überzogen und haben mit dem Sachverhalt nichts zu tun.
Ich will noch ein paar Sätze zu dem Thema „Arbed" hinzufügen. Die jetzt auch von Ihnen begrüßten, kurzfristig bewilligten Mittel für 1982 kommen aus einem vom Parlament bewilligten Titel. Der Haushaltstitel für dieses Jahr erlaubt es, diese Mittel noch ohne Überschreitung zu bewilligen. Über die Frage, was ab 1983 geschehen soll, wird in Kürze zu entscheiden sein. Natürlich wird sie die Ausschüsse des Deutschen Bundestages beschäftigen müssen. Ich sage aber noch einmal, damit es kein Mißverständnis gibt: Mich beunruhigt, was ich gestern und heute in großen Zeitungen über einige Diskussionen mit Beteiligten gelesen habe. Nur damit es hier im Protokoll festgehalten ist: Die Bedingungen und die Erwartungen an die Beteiligten und Betroffenen sind unverzichtbar.
Wer glaubt, er könne sie durch Taktieren und Lavieren hier ausmanövrieren, muß unter allen Aspekten die Mitverantwortung für die Zukunft dieser Firma und ihre Arbeitnehmer übernehmen. Es bleiben j a, wie Sie wissen, nur noch wenige Wochen Zeit; denn dieser große Betrag — 150 Millionen DM haben der Bund und das Saarland zur Verfügung gestellt — ist nur eine Überbrückungshilfe für Wochen, wobei auch die Größe des Folgeproblems sichtbar wird. Die Beteiligten haben nur wenige Wochen Zeit, und sie müssen verbindliche Beschlüsse im Sinne der von der Bundesregierung genannten Voraussetzungen fassen.Ich bitte alle sehr herzlich — wer die Beteiligten sind, haben wir heute schon einmal kurz erwähnt —, ihren Einfluß geltend zu machen, daß dies ernst genommen wird und daß dies geschieht.Damit, meine Damen und Herren, möchte ich schließen.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Ich schließe deswegen die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Gesetzentwürfe und des Sondergutachtens unter den Tagesordnungspunkten 2 bis 7 an die Ausschüsse vor. Die Überweisungsvorschläge des Ältestenrates ersehen Sie aus der ausgedruckten Tagesordnung. Außerdem ist interfraktionell vereinbart worden, das Haushaltsbegleitgesetz 1983 — Tagesordnungspunkt 4 — zusätzlich zur Mitberatung an den Rechtsausschuß zu überweisen.
Ist das Haus mit den Überweisungsvorschlägen zu den Tagesordnungspunkten 2 bis 7 einverstanden? — Es erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Berlinförderungsgesetzes
— Drucksache 9/2086 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
Meine Damen und Herren, ist das Haus damit einverstanden, daß für die Beratung dieses Tagesordnungspunktes von der in unserer Geschäftsordnung vorgesehenen Frist für den Beginn der Beratung abgewichen wird? — Es erhebt sich kein Widerspruch. Ich stelle fest: Sie sind mit dieser abweichenden Regelung einverstanden. Das ist mit der erforderlichen Mehrheit so beschlossen.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache 30 Minuten vorgesehen. — Auch dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist auch dies so beschlossen.
Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Dann eröffne ich die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Kittelmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu später Stunde ein ernstes Thema, aber erfreulicherweise — wie ich hoffe — kein kontroverses.Die CDU/CSU begrüßt den vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung des Berlinförderungsgesetzes. Vor allen Dingen begrüßt sie es, daß es möglich war, diesen Gesetzentwurf als Initiative aller drei Fraktionen des Deutschen Bundestages einzubringen. Die CDU/CSU sagt ja zur Gewährung jeder erforderlichen Unterstützung, um eine termingerechte Verabschiedung dieses Gesetzes zu ermöglichen.Der vorliegende Gesetzentwurf basiert auf einem Vorschlag des Berliner Senats. Inhalt ist eine Umgestaltung der Herstellerpräferenz. Nach der bisherigen Regelung gingen Leistungen in die Berliner Wertschöpfung ein, obwohl sie — teilweise sogar überwiegend — im übrigen Bundesgebiet erbracht wurden. Dieses hatte die negative Folge, daß vor allem Arbeitsbereiche in zentralen Unternehmenskomplexen, wie z. B. in Verwaltung, Werbung, For-
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Kittelmannschung und Entwicklung, weder nach Berlin verlegt wurden noch dort aufrechterhalten werden mußten, um die Wertschöpfung in der Berliner Produktionsstätte positiv zu beeinflussen.Durch das bisherige Gesetz wurden umsatzstarke, aber wertschöpfungsschwache Produktionen am stärksten begünstigt. Dadurch wurden den Unternehmen kaum Anreize vermittelt, zusätzliche wertschöpfungswirksame Aktivitäten in Berlin zu entwickeln. Der wesentliche Zweck des vorliegenden Gesetzentwurfes ist es, diese Tendenzen umzukehren.Im Mittelpunkt der Gesetzesinitiative stehen — dieses ist erfreulicherweise gemeinsame Meinung des Landes Berlin und der Bundesregierung — zwei wichtige Reformaspekte. Erstens. Es wird eine stärkere Differenzierung der Präferenzsätze und zweitens eine additive Ermittlung der Berliner Wertschöpfung aus einzelnen Komponenten vorgenommen.Dadurch sollen folgende strukturpolitische Ziele erreicht werden: erstens die Verbesserung der industriellen Produktionsstruktur durch Umschichtung von wertschöpfungsarmen zu wertschöpfungsintensiven Fertigungen; zweitens die Sicherung bestehender und Schaffung neuer, vor allem hochwertiger und langfristig wettbewerbsstabiler Arbeitsplätze;
drittens die Erzielung zusätzlicher Produktions- und Einkommenseffekte auf den Vorleistungsstufen durch Intensivierung der wirtschaftlichen Verflechtung in Berlin.Meine Damen und Herren, bitte haben Sie Verständnis, daß ich bei der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit die komplizierten Lösungsvorschläge nicht weiter erläutern möchte.
Dies war für die anwesenden Fachleute aber zu sagen notwendig, um in etwa zu verstehen, worum es geht.Ich darf es aber einfacher ausdrücken: Wer in Zukunft die Berlin-Förderung voll ausnutzen will, muß die Wertschöpfung auch in Berlin erbringen.
Anders formuliert: Wer Berlin als verlängerte Werkbank benutzen will, wird mit einer erheblichen Einschränkung der Präferenzierung rechnen müssen.
Die CDU/CSU möchte dem Berliner Senat dafür danken, daß er nicht der Versuchung unterlegen ist, die anstehende Novellierung für neue kostenintensive Gesetzesänderungen zu nutzen. Ich sage sehr deutlich: Der Gesetzesvorschlag ist kostenneutral.
Dies haben zahlreiche Berechnungen mit dem zurVerfügung stehenden Datenmaterial ergeben. Unabdingbar ist allerdings eine Übergangsregelungaus Gründen des Vertrauensschutzes. Die damit verbundenen Mehrkosten werden von der CDU/ CSU für notwendig gehalten und ausdrücklich gebilligt.Die CDU/CSU begrüßt nicht nur einhellig die Initiative des Berliner Senats, die seit langem fällig gewesene Neuregelung endlich auch in Angriff zu nehmen, sondern dankt auch allen Fraktionen des Abgeordnetenhauses von Berlin und den gesellschaftlichen Gruppierungen, daß es möglich war, zu einem einheitlichen Votum in Berlin zu gelangen.
Besonders erfreulich ist auch, daß die neue Regierung wesentlich mittelstandsfreundlicher ist als die bisherige.
Diese durch langanhaltende Diskussionen erreichte Übereinstimmung macht es dem Deutschen Bundestag sehr viel einfacher, seiner Verpflichtung nachzukommen, die Standortnachteile Berlins auszugleichen. Wir sind überzeugt, daß der vorliegende Gesetzentwurf dazu ein richtungsweisender Beitrag sein wird.
Wir hoffen, daß es damit möglich ist, das strukturelle Zurückbleiben Berlins langfristig wieder aufzuholen und Berlin zumindest dem Durchschnitt des übrigen Bundesgebietes wieder anzugleichen.Die CDU/CSU sieht mit großer Sorge, daß seit 1970 jeder dritte Arbeitsplatz im verarbeitenden Gewerbe in Berlin weggefallen ist, während es im übrigen Bundesgebiet nur jeder siebente ist. Wir sehen mit großer Sorge, daß in Berlin die Angestelltenquote seit 1970 um ein Viertel gesunken ist, während sie in westdeutschen Großstädten anstieg. Wir sehen mit großer Sorge, daß z. B. der Akademikeranteil in der westdeutschen Investitionsgüterindustrie zweieinhalbmal so hoch ist wie in Berlin. Dies alles sind Fakten, die wir in Erinnerung rufen müssen, damit Sie Verständnis für die notwendige Änderung des Gesetzes haben.In Berlin stellen wir ein überproportionales Wachsen von kapital- und rohstoffintensiver Produktion fest, aber ein Schwinden dispositiver Funktionen im Unternehmen. Die Tendenz, Berlin zur verlängerten Werkbank zu machen, hat in den letzten Jahren stetig zugenommen.
— Herr Diederich, lassen Sie mich diese eine Erwiderung auf Ihre polemische Zwischenbemerkung machen: Wenn Sie ehrlich sind, dann sind Sie genauso glücklich wie fast alle Deutschen, daß Berlin als Krisenherd dabei ist, endlich wieder aus den Schlagzeilen in der deutschen Öffentlichkeit herauszukommen.
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7860 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982
KittelmannWenn Berlin auf Dauer nicht ausbluten soll, muß dies endlich geändert werden. Wir sind optimistisch, daß die Umgestaltung der Präferenzierung ein wesentlicher Beitrag dazu sein kann.Der Deutsche Bundestag — ich hoffe es — wird seine Pflicht tun.Jetzt aber sind auch die Unternehmer gefordert, das Ihrige zu tun, um ihren Verpflichtungen für Berlin nachzukommen. Es darf vor allen Dingen für die großen Unternehmen — dabei nehme ich auch die Bundesunternehmen,
eine alte Forderung, nicht aus — nicht nur ein Lippenbekenntnis bleiben, sich für die wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung Berlins mehr zu engagieren.Berlin begrüßt jede Form von Solidarität, ist aber eindeutig auf Taten angewiesen. Alle Voraussetzungen sind gegeben, um mehr qualitative Arbeitsplätze in Berlin zu schaffen.Ich darf diesen politischen Appell mit den Worten der Industrie- und Handelskammer von Berlin apostrophieren: Auch die Industrie muß endlich ein Berlin-Bewußtsein entwickeln.Die CDU/CSU dankt Bundeskanzler Helmut Kohl ausdrücklich dafür, daß er am 10. und 11. Dezember dieses Jahres in Berlin eine Berlin-Konferenz durchführt. Die CDU/CSU geht davon aus, daß die Industrie schon auf dieser Konferenz Ansätze beraten und Zeichen setzen wird, die Berlin helfen können. Berlin ist dabei, zunehmend zu beweisen, daß es die gegebenen Hilfen auch positiv umsetzen kann. Mit Steuerpolitik allein — das wissen wir alle — kann man keine Strukturpolitik machen, aber doch wesentliche Voraussetzungen dafür schaffen. Die Chancen müssen von den Unternehmen selbst umgesetzt werden.Die CDU/CSU appelliert auch an den Bundesrat, die Initiative des Deutschen Bundestages zu unterstützen, so daß damit alle Voraussetzungen gegeben sind, daß das Berlinförderungsgesetz mit der neuen Präferenzierung noch in den nächsten Wochen verabschiedet und, wie wir hoffen, am 1. Januar 1983 in Kraft treten kann. — Schönen Dank.
Herr Abgeordneter Dr. Spöri, ich erteile Ihnen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist vielleicht ganz sinnvoll, daß wir hier zu vorgerückter Stunde ein schwieriges Thema behandeln, das zwar ein bißchen trokken ist, das aber wichtig ist und das uns vor allen Dingen finanzpolitische und steuerpolitische Gemeinsamkeit zum Abschluß dieses recht kontroversen Tages erlaubt.Ich möchte zum Ausdruck bringen, daß auch meine Fraktion schon seit längerem vollinhaltlich hinter dem Entwurf dieses neuen Berlinförderungsgesetzes steht. Wir halten eine Reformierung des zentralen Instruments der Berlin-Förderung, derUmsatzsteuerpräferenzen, seit langem für überfällig.Wir sehen das Problem vor allen Dingen vor dem Hintergrund der relativ dramatischen Entwicklung des Arbeitsmarktes in Berlin. Meine Damen und Herren, es sind nicht so sehr die spektakulären Stillegungsfälle, z. B. von AEG an der Brunnenstraße, sondern es ist die schon jahrelang zu beobachtende Abwärtsentwicklung — z. B. auf dem verarbeitenden Sektor, dem wichtigsten Beschäftigungssektor in Berlin; hier haben wir in den letzten Jahren eine Abwärtsentwicklung um 34 % zu verzeichnen, was weit überdurchschnittlich ist —, die uns beunruhigt.Was uns vor diesem Hintergrund besonders Kummer macht, ist nicht nur die absolute Abwärts-entwicklung, sondern auch die Tatsache, daß die Berliner Wirtschaft hinsichtlich der Beschäftigungsstruktur qualitativ nicht mehr mit vergleichbaren Großstädten in der Bundesrepublik mithalten kann. Herr Kittelmann, das mit den Akademikern ist zwar auch ein wichtiger Aspekt. Mir ist ein anderer jedoch wichtiger. Sieht man sich an, wie sich der Anteil der Facharbeiter in der Berliner Wirtschaft im Vergleich zu dem in anderen Großstädten in der Bundesrepublik entwickelt hat — München, Stuttgart oder anderen Städte —, dann stellt man fest, daß er dort um 15 % — oder gar um 25 %; Herr Kollege Diederich, wenn ich Sie ansehe, merke ich, daß ich das falsch gesagt habe — höher liegt als in Berlin. Das ist ein dramatisches Zeichen.
Bei den Angestellten sieht es ähnlich schlecht aus, meine Damen und Herren. In den letzten zehn Jahren hatten wir eine Abnahme um 23 % in Berlin, während im Bundesdurchschnitt der Anteil der Angestellten relativ konstant gewesen ist.Vor diesem Problemhintergrund war es für alle Beteiligten wohl ein schmerzlicher Lernprozeß, daß man sehen mußte, daß das bisherige Fördersystem über die Umsatzsteuerpräferenzen nicht richtig funktioniert hat, daß es schon eher kontraproduktiv gewirkt hat, zumindest unbefriedigende Ergebnisse nach sich gezogen hat. Es stimmt, was hier gesagt worden ist, daß dieses System zu der Tendenz geführt hat, daß Berlin zu einer verlängerten Werkbank der westdeutschen Industrie geworden ist. Das liegt daran, daß es dieses System nicht bestraft hat, wenn anspruchsvollere Arbeitsplätze, z. B. aus dem Bereich der Entwicklung oder aus dem Bereich des Marketing, innerhalb von Konzernen in westdeutsche Betriebsstätten herausverlagert worden sind. Es war vielmehr gerade umgekehrt: Diejenigen, die qualitativ anspruchsvolle Arbeitsplätze herausverlagert und im Gegenzug Massenproduktion mit geringer Fertigungstiefe, mit geringen Wertschöpfungsanteilen, mit geringen Know-how-Anteilen in Berlin angesiedelt haben, haben sich bei dieser materialintensiven und kapitalintensiven Massenproduktion eine goldene Nase verdienen können. Ich bin der Überzeugung, daß alle Berliner
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Dr. SpöriParteien hinter dieser Reformnotwendigkeit stehen,
genauso die Gewerkschaften und die Unternehmer. Diese haben inzwischen erkannt, daß hier eine Reformierung notwendig ist, wenn das zunehmende Mißverhältnis von Förderkosten und Förderwirkung verbessert werden soll.Meine Damen und Herren, die sozialdemokratische Bundestagsfraktion hat es daher begrüßt, daß noch die sozialliberale Bundesregierung unter Bundeskanzler Helmut Schmidt auf einer Kabinettssitzung am 29. September Eckwerte für eine veränderte Förderung in Berlin über die Umsatzsteuerpräferenzen beschlossen hat. Es ist notwendig, darauf hinzuweisen, daß das nicht eine erste heroische Großtat von Bundeskanzler Kohl gewesen ist. Sie haben das vergessen zu erwähnen, Herr Kittelmann. Es war sicherlich das letzte Kabinett von Bundeskanzler Schmidt, das hier sozusagen den entscheidenden Knoten hinter dieser langwierigen Diskussion geknüpft und damit einen wichtigen Zwischenschritt getan hat. Ich muß das hier anmerken, weil Sie es nicht erwähnt haben.
Der heute von allen Fraktionen begrüßenswerterweise gemeinsam eingebrachte Gesetzentwurf orientiert sich an den Eckwerten dieses Kabinettsbeschlusses der letzten Bundesregierung, was sicherlich die zügige parlamentarische Beratung hier in unserem Hause erleichtert. Die Stoßrichtung des Entwurfs läuft darauf hinaus, daß künftig im Gegensatz zur Vergangenheit wirklich die Umsatzsteuerpräferenzen nach der echten Berliner Wertschöpfung stärker differenziert werden und daß der Lenkungs- und Anzugseffekt deswegen stärker ausfällt. Diese Methode nennt sich additive Wertschöpfungsmethode; das ist ein furchtbares Kauderwelsch, und ich führe das hier technisch nicht im einzelnen aus. Entscheidend ist, zu wissen, daß, von der Wirkung her gesehen, nach diesem neuen System — wir haben es genau überprüft — künftig wirklich die Beibehaltung und die Ansiedlung von qualifizierten Arbeitsplätzen und von qualifizierten Ausbildungsplätzen in Berlin sehr stark honoriert wird. Das ist das Entscheidende.Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion ist im Interesse der Berliner, insbesondere der von Arbeitslosigkeit betroffenen Arbeitnehmer, bereit, diesen Entwurf zeitlich so zu beraten, daß die Wirtschaft nach dieser langwierigen Diskussion möglichst bald klare Orientierungsdaten hat.Ich muß aber im Hinblick auf den Terminfahrplan, der j a nach unseren Wünschen vor Weihnachten endet, eines anmerken. Es ist sicherlich notwendig, daß wir einige offene Punkte, die bisher Fragen aufwarfen, noch im Ausschuß klären, z. B. den Punkt, den die Steuerfachleute im Bundesfinanzministerium aufgeworfen haben, nämlich die Frage der Praktikabilität. Herr Kittelmann, Sie wissen, daß die Länder dazu gefragt worden sind, und wir müssen diese Antworten der Länder dazu noch verarbeiten.Der zweite Punkt, der geklärt werden muß, ist die Frage, wie der gesamte Verwaltungs- und Prüfungsaufwand bei diesem neuen Fördersystem in vernünftigen Grenzen gehalten werden kann. Ich bin der Auffassung, daß wir hier optimistisch sein können, glaube also, daß die Ergebnisse dieser Prüfung positiv ausfallen werden und daß wir unseren Terminfahrplan einhalten können.Gestatten Sie mir aus Anlaß der Beratung dieses gemeinsamen Gesetzentwurfes abschließend noch die Schilderung eines persönlichen Eindrucks, den ich in der Diskussion über diesen Gesetzentwurf gewonnen habe. Wenn ich mir heute den Herrn Kittelmann angesehen habe, wie er dieses neue Förderkonzept begeistert unterstützt hat, und wenn ich gesehen habe, wie sich andere, etwa die Berliner Senatoren Kunz und Pieroth, engagiert für diesen Paradefall an struktureller Investitions- oder Produktionslenkung eingesetzt haben, so fällt mir auf, daß sich eigentlich die ganzen ordnungspolitisch überhöhten Debatten, die ideologisierten Gegensätze beim Thema „Strukturpolitik" sehr schnell verflüchtigen, wenn wir hier einmal konkret über Maßnahmen für einzelne Städte, für einzelne Regionen oder für einzelne Branchen diskutieren.
Man kann an diesem Beispiel nachvollziehen, daß sich das, was Sie ansonsten gegen strukturpolitische Konzepte der Sozialdemokratie an Einwänden und an empörten ordnungspolitischen Attacken vorbringen, schnell als ein abstrakter Schaum herausstellt, wenn man einmal konkret in die Förderbereiche hineingeht,
in denen es um konkrete Hilfsmaßnahmen geht.Meine Damen und Herren, das habe ich nicht gesagt, um hier zum Abschluß Ärger und Kontroversen hervorzurufen. Das war vielmehr eine ganz dezente Anmerkung zu den Eindrücken, die ich gewonnen habe. Ich bin der Auffassung, Sie sollten aus diesem Anlaß, was die ständigen ordnungspolitischen Angriffe auf die sozialdemokratischen strukturpolitischen Konzepte anlangt, ein bißchen kritisch in sich gehen und einmal darüber nachdenken, welche ehrgeizigen Lenkungsziele Sie sektoral und strukturpolitisch in Berlin mit diesem Gesetz verfolgen.Meine Damen und Herren, wir haben hier — das haben wir an den letzten beiden Tagen gesehen — eigentlich genügend Möglichkeiten für sachpolitische und finanzpolitische Konfrontation gehabt. Wir brauchen in diesem Hause nicht noch zusätzlich in der Strukturpolitik ordnungspolitische Gespensterschlachten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,dann, wenn wir dies beherzigen, wird die Beratungdieses Gesetzentwurfes schließlich zu einem Erfolg,
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Dr. Spörizu einem Erfolg für Berlin und für die Berliner werden. — Danke schön.
Ich erteile dem Abgeordneten Dr. Solms das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will mich kurz fassen, so daß nicht der Präsident und ich zum Schluß hier die einzigen sind.
— Die Berliner bleiben hier, das ist sehr gut.
Verehrter Herr Kollege Spöri, nachdem das ein interfraktioneller Antrag ist, brauchen wir uns, glaube ich, über die Vaterschaft bei diesem Gesetzentwurf nicht lange zu streiten. Es kommt mehr darauf an, daß die Wirkung so ist, wie wir sie alle gemeinsam haben wollen. Mit Verlaub gesagt, der Ausnahmefall Berlin ist als Beispiel für eine ordnungspolitische Grundsatzdebatte nicht gerade angebracht. Ich würde dazu überspitzt sagen: Lenkungspolitische Ausnahmen von der Ordnungspolitik lassen sich eben nur durch überzeugte Ordnungspolitiker durchführen, so daß diese dadurch wieder kontrolliert werden.Die FDP-Bundestagsfraktion unterstützt wie die beiden anderen Fraktionen den Antrag zur Änderung des Berlinförderungsgesetzes. Wie Sie alle wissen, werden schon heute das Land Berlin, die Berliner Wirtschaft und die Berliner Arbeitnehmer vom Bund und den Ländern steuerlich genauso wie haushaltspolitisch in hohem Maße gefördert. Ich will bei den steuerlichen Förderungen nur Stichworte anführen: Erstens die Gewährung der steuerlichen Investitionszulage, zweitens die erhöhten Abschreibungen nach § 14 des Berlinförderungsgesetzes mit der Folge, daß Wirtschaftsgüter innerhalb von fünf Jahren bis zu 75% abgeschrieben werden können; weiterhin die Ausnahme im Fall Berlin, bei der der sogenannte Verlustrücktrag, also die Grundlage für die Abschreibungsgesellschaften, im Gegensatz zum Bereich der Bundesrepublik voll erhalten geblieben ist; drittens der verbindliche Rechnungszinsfuß bei den Pensionsrückstellungen, der in Berlin nur 4 vom Hundert im Gegensatz zu 6 vom Hundert im Bundesgebiet beträgt. Dadurch werden höhere Pensionsrückstellungen steuerlich erst zugelassen. Und viertens ergibt sich die größte Anreizwirkung durch die Umsatzsteuerpräferenzierung der Hersteller in Berlin bzw. der Abnehmer von in Berlin hergestellten Waren im Bundesgebiet. Bei Lieferungen von Waren und Dienstleistungen durch Berliner Hersteller an bundesdeutsche Abnehmer haben die Abnehmer eine steuerliche Präferenz von 4,2 vom Hundert des Entgelts und die Hersteller in Berlin einen Kürzungsanspruch von 4,5 vom Hundert im geltenden Recht.Der vorliegende Gesetzentwurf befaßt sich nun allein mit der Änderung der umsatzsteuerlichen Herstellerpräferenz. Diese Präferenz ist seit ihrer Einführung in ihrer jetzigen Form umstritten undist kritisiert worden. Ich erinnere dabei an das Gutachten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, das bereits im Jahre 1969 darauf hinwies, daß die Ziele einer Verbesserung der industriellen Produktionsstruktur durch Umschichtung von wertschöpfungsarmen zu wertschöpfungsintensiven Fertigungslinien sowie durch die Schaffung neuer und hochwertiger Arbeitsplätze in Berlin durch die bisherige Regelung nicht erreicht worden ist. Die Folge ist eine Neigung multiregionaler Unternehmen, Berlin vorwiegend, wie vorhin auch gesagt, nur als verlängerte Werkbank zu begreifen. Lohnintensive Fertigungen mit hohem Veredelungsgrad, aber mit relativ geringen Umsätzen sind eindeutig benachteiligt im Verhältnis zu umsatzstarken, aber wertschöpfungsschwachen kapital- und rohstoffintensiven Produktionen wie z. B. Kaffeeröstereien, Zigarettenfabriken usw. Sie kennen die Beispiele.Im vorliegenden Gesetzentwurf wird der Wertschöpfungsbegriff nun neu gefaßt und die Präferenzstruktur neu geordnet. Die Mindestwertschöpfungsquote wird wie bisher 10 vom Hundert betragen, die Sockelpräferenz aber wird von 4,5 vom Hundert auf 3 vom Hundert gesenkt. Die Präferenz steigt dann allmählich, so daß sie im Höchstbetrag 10 vom Hundert des Entgelts erreicht. Die Wertschöpfung wird durch die additive Methode sachgerechter erfaßt und die Steuervergünstigung auf die in Berlin geschaffenen Wertschöpfungen konzentriert.Notwendig ist diese Änderung dadurch geworden, daß in Berlin die Zahl der Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe seit 1970 um 34 % abgenommen hat, während sie im Bund während der gleichen Zeit um 15 % abgenommen hat. Insgesamt hat die Zahl der Beschäftigten im gleichen Zeitraum in Berlin um 12 % im Bundesgebiet um 4 % abgenommen.Ich will aber in diesem Zusammenhang bei dem hier behandelten Gesetzentwurf nicht verschweigen, daß die Absenkung der Sockelpräferenz von 4,5 v. H. auf 3 v. H. möglicherweise Probleme auslösen wird. Wirtschaftszweige mit relativ geringer Wertschöpfung in Berlin könnten dadurch kurzfristig in Schwierigkeiten kommen
— Wir haben eine zweijährige Übergangszeit. Aber wir müssen natürlich vermeiden, daß Betriebe wegen der Senkung dieser Sockelpräferenz in dieser Übergangszeit aus Berlin abziehen und verdrängt werden, ohne daß die Betriebe, die wir nach Berlin locken wollen, schon nach Berlin gegangen sind. Wenn ein solcher Zustand eintreten sollte, dann müssen wir bereit sein, innerhalb der nächsten zwei Jahre eine entsprechende Änderung durchzuführen.
— Ich glaube, da müssen wir uns einfach anpassungsfähig erweisen. Wir müssen sehen, wie sichdiese Änderung kurzfristig auswirkt, und dann,
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Dr. Solmswenn wir die nötigen Erkenntnisse haben, entsprechende Entscheidungen herbeiführen.
Lassen Sie mich zum Abschluß noch ein Wort zur Berlinförderung insgesamt sagen. Sie wissen ja alle, daß die Förderung ein beträchtliches Ausmaß erreicht hat. Die steuerliche Präferenzierung für Berlin macht ein Volumen von etwa 7 Milliarden DM aus. Die Haushaltsausfälle des Bundes zugunsten von Berlin belaufen sich auf 10,5 Milliarden DM. Dazu kommen die Ausgaben für die Verkehrswege nach Berlin und den Schutz der Berliner Gewässer in Höhe von 680 Millionen DM. Das ergibt zur Förderung und zur Erhaltung der Stadt Berlin ein Volumen von jährlich gut 18 Milliarden DM.Wenn wir dieses Volumen einsetzen und trotzdem keine wirklich durchgreifende Wirkung erzielen, sondern nur hinhaltende Arbeit leisten, dann sollten wir uns, glaube ich, in den nächsten Jahren einmal grundsätzliche Gedanken über die verschiedenen Elemente der Berlinförderung im Gesamtzusammenhang machen und überlegen, ob wir nicht — zumindest teilweise — bessere Methoden finden, die die Stadt Berlin in die Lage versetzen, ihre Existenz allein zu sichern und für die Zukunft weniger abhängig vom Bund zu sein.
— Die Wirtschaft, Herr Kollege Diederich, wird nur investieren, wenn sie auch entsprechende Gewinne erzielen kann; das ist j a nun die Funktion der Wirtschaft.
— Diese Chance hat sie in Berlin und im Bundesgebiet zur Zeit in einem ganz geringen Maße. Es geht darum, die Existenz und Konkurrenzfähigkeit von Berlin auf Dauer sicherzustellen. — Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundeskanzler.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich bitte um Entschuldigung, daß ich Ihre Zeit, obwohl es sehr spät ist, noch einige Minuten in Anspruch nehme. Aber die Bundesregierung hält es für richtig, bei einem so wichtigen Gesetz wenigstens eine kurze Stellungnahme abzugeben.
Meine Damen und Herren, ich darf zu dem, was mein Vorredner gesagt hat, vorweg folgendes bemerken: Natürlich müssen wir alles tun, damit Berlin seine wirtschaftlichen und finanziellen Probleme in steigendem Maße aus eigener Kraft lösen kann. Aber solange Berlin — außerhalb des übrigenBundesgebietes liegend — eine gespaltene Stadt ist, deren freier Teil keinen normalen Zugang zu seiner natürlichen Umgebung hat und der von einem anderen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem umgeben ist, wird das wohl kaum gelingen. So lange werden wir verpflichtet sein, Berlin bei der Bewältigung seiner Probleme zu helfen. Die Bundesregierung begrüßt daher die Initiative aller Fraktionen des Deutschen Bundestages — sie tut das, Herr Kollege Spöri, insoweit durchaus in Kontinuität mit ihrer Amtsvorgängerin — zur Änderung des Berlinförderungsgesetzes. Insbesondere der Herr Bundesfinanzminister war bemüht, die Initiative durch Formulierungshilfe zu unterstützen, und er dankt allen Fraktionen, daß sie sich auf diesen schnellen Weg der Beratung geeinigt haben. Die Bundesregierung bittet den Bundestag, alles Erforderliche zu tun, damit das Gesetz noch in diesem Jahr verabschiedet werden kann.Die ungewöhnliche Eile ist deshalb geboten, weil die anhaltende wirtschaftliche Schwächeperiode Berlin besonders hart getroffen hat. Es ist hier schon mehrfach ausgeführt worden, daß in den letzten zehn Jahren 34 bis 35 % der Berliner Arbeitsplätze in der Industrie und im produzierenden Handwerk verlorengegangen sind. Wir alle wissen, daß diese Zahlen alarmierend sind, denn sie sind ungleich höher als in jedem anderen Bundesland und auch in jedem anderen industriellen Ballungsgebiet in unserem Land, und sie wirken sich angesichts der isolierten Lage der Stadt auch schärfer aus.Es ist daher nach Auffassung der Bundesregierung die gemeinsame Aufgabe des Bundestages, der Bundesregierung, des Berliner Abgeordnetenhauses und des Berliner Senats, die notwendigen Maßnahmen zu treffen, um die Wirtschaftskraft der Stadt langfristig zu sichern.Meine Damen und Herren, diese Maßnahmen dürfen sich nicht nur auf geringfügige Entlastungen beschränken. Das wichtigste Ziel ist es — es ist hier mehrfach gesagt worden —, dem Arbeitsplatzabbau im verarbeitenden Gewerbe in Berlin Einhalt zu gebieten.Die Bundesregierung will deshalb alles in ihrer Macht Stehende tun, um die Rahmenbedingungen der Berliner Wirtschaft zu verbessern. Dazu dient auch die geplante Konferenz der Repräsentanten der deutschen Wirtschaft, die der Bundeskanzler und der Regierende Bürgermeister von Berlin für Dezember nach Berlin einberufen haben.
Um dieses Ziel zu erreichen, ist eine Änderung des Berlinförderungsgesetzes erforderlich. Die Bundesregierung begrüßt es, daß alle Beteiligten, auch die Gewerkschaften und die Verbände der Wirtschaft, von der Notwendigkeit der geplanten Reform überzeugt sind. Die bisherige Umsatzsteuerregelung hat einseitig kapitalintensive Investitionen begünstigt und zuwenig Anreize für innovations-freudige Produktionen mit höher qualifizierten Arbeitsplätzen enthalten. Aber gerade zukunftsorientierte Industrien mit entsprechenden Mitarbeitern
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7864 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. November 1982
Parlamentarischer Staatssekretär Lorenzsind wichtig, um den Ruf Berlins als moderner und leistungsfähiger Industriestandort zu sichern.
Die Bundesregierung hofft, daß es mit dem neuen Förderungssystem gelingt, die Berliner Industriestruktur mittel- und langfristig zu modernisieren. Darin sieht sie auch eine Voraussetzung dafür, daß die Stadt für Wirtschaft und für Arbeitskräfte aus allen Teilen unseres Landes interessant erhalten wird.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung appelliert bei dieser Gelegenheit auch an die deutsche Industrie, mehr als bisher in Berlin zu investieren, mehr Aufträge an die Stadt zu vergeben und Berlin als attraktiven und lohnenden Industriestandort neu zu entdecken.
Nicht nur die Neufassung des Berlinförderungsgesetzes schafft dafür gute Voraussetzungen, sondern ich möchte darauf hinweisen, daß sich auch sonst die Rahmenbedingungen in Berlin deutlich verbessert haben. Forschung und Entwicklung haben inzwischen einen Standard erreicht, wie ihn kaum eine andere Stadt in Deutschland aufzuweisen hat. Auch das Wohnungsangebot, in der Vergangenheit immer ein besonders schwieriges Problem, hat sich deutlich gebessert, und die Lockerung und schrittweise Aufhebung der Mietpreisbindung wird nach meiner Überzeugung weiter zur Entspannung auf dem Wohnungssektor beitragen. Das Kulturangebot Berlins im weitesten Sinne hat ein Niveau erreicht, das die Stadt zu einem besonderen Anziehungspunkt macht.Meine Damen und Herren, Berlin ist also ein bedeutendes Engagement wert. Und seine Lebensfähigkeit zu erhalten, ist darüber hinaus auch eine nationale Aufgabe für uns alle. Zu ihr sollte auch die Wirtschaft verstärkt ihren Beitrag leisten.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP auf Drucksache 9/2086 zu überweisen: zur federführenden Beratung an den Finanzausschuß und zur Mitberatung an den Ausschuß für Wirtschaft und den Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen sowie zur Beratung nach § 96 unserer Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß.
Ist das Haus mit den vorgeschlagenen Überweisungen einverstanden? — Kein Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen.
Meine Damen und Herren, wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 12. November 1982, 8 Uhr ein. Wir werden mit einer Fragestunde beginnen, die von 8 Uhr bis 9 Uhr dauern wird.
Die Sitzung ist geschlossen.