Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! DieSitzung ist eröffnet.Auf der Ehrentribüne hat der Präsident der National-versammlung der Republik Korea, Herr Park KwanYong, mit einer Abgeordnetendelegation Platz genom-men. Ich darf Sie von hier aus im Namen des ganzenHauses herzlich begrüßen.
Unsere beiden Länder verbindet die Erfahrung der Tei-lung von Staat und Nation. Uns Deutschen war es ver-gönnt, sie glücklich zu überwinden – in Ihrem Land dau-ert sie an. Mit umso mehr Interesse und Sympathieverfolgen und unterstützen wir Ihre Bestrebungen, dieLasten der Teilung zu lindern und die Chance zu wahren,die nationale Einheit in Frieden und Freiheit wiederzuge-winnen. Ich hoffe, dass Sie diese Anteilnahme bei Ihren Ge-sprächen und Begegnungen hier in Berlin spüren werden.Ich danke Ihnen für Ihren Besuch und wünsche Ihneneinen angenehmen Aufenthalt in unserem Land.
Der Kollege Dr. Ingo Wolf hat am 8. November 2002auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag ver-zichtet. Als Nachfolgerin hat die Abgeordnete GiselaPiltz am 11. November 2002 die Mitgliedschaft im Deut-schen Bundestag erworben. Ich begrüße die neue Kolle-gin herzlich.
Nach § 5 Abs. 1 des Gesetzes vom 17. März 2000 ent-sendet der Deutsche Bundestag in das Kuratorium der„Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“seinen Präsidenten sowie je ein Mitglied des DeutschenBundestags pro angefangene 100 Mitglieder der im Deut-schen Bundestag vertretenen Fraktionen.Die Fraktion der SPD benennt die AbgeordnetenEckardt Barthel , Monika Griefahn undMichael Roth , die Fraktion der CDU/CSUdie Abgeordneten Karl-Theodor Freiherr von und zuGuttenberg, Günter Nooke und Annette Widmann-Mauz, die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN denAbgeordnetenVolker Beck und die Fraktion der FDP denAbgeordneten Hans-Joachim Otto . Sind Siemit diesen Vorschlägen einverstanden? – Ich höre keinenWiderspruch. Damit werden die genannten Kolleginnenund Kollegen als Mitglieder in das Kuratorium der „Stif-tung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ ent-sandt.Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundeneTagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnenvorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der SPD unddes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Aktuelle Vorwürfevon Verstößen gegen das Parteiengesetz durch mögliche il-legale Finanzzuflüsse bei der FDP2 Überweisung im vereinfachten VerfahrenBeratung des Antrags der Abgeordneten Eckhardt Barthel
, Ernst Bahr (Neuruppin), Hans-Werner Bertl, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordne-ten Dr. Antje Vollmer, Grietje Bettin, Katrin Dagmar Göring-Eckardt, Krista Sager und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Den Deutschen Musikrat stärken– Drucksache 15/48 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendHaushaltsausschuss3 Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU : Bestim-mung des Verfahrens für die Berechnung der Stellenanteileder Fraktionen im Ausschuss nach Art. 77 Abs. 2 desGrundgesetzes
– Drucksache 15/47 –4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: Haltungder Bundesregierung zur Situation der öffentlichen Haus-halte unter Berücksichtigung der zu erwartenden aktuellenSteuerschätzung und der damit möglichen Notwendigkeiteines Haushaltssicherungsgesetzes5 Weitere Überweisung im vereinfachten VerfahrenErste Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Bosbach,Hartmut Koschyk, Günter Baumann, weiteren Abgeordnetenund der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs einesErsten Gesetzes zur Korrektur des Versorgungsänderungs-gesetzes 2001– Drucksache 15/45 –
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Präsident Wolfgang ThierseÜberweisungsvorschlag:Innenausschuss
FinanzausschussAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungHaushaltsausschuss gemäß § 96 GO6 Erste Beratung des von der Fraktion der CDU/CSU einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zum Fördern und Fordernin der Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe– Drucksache 15/46 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
SportausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaftAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für TourismusHaushaltsausschuss mitberatend und gemäßt § 96 GO7 Erste Beratung des von den Abgeordneten Dirk Niebel, RainerBrüderle, Gudrun Kopp, weiteren Abgeordneten und der Frak-tion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Re-form der Arbeitnehmerüberlassung– Drucksache 15/55 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
RechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionVon der Frist für den Beginn der Beratung soll – soweiterforderlich – abgewichen werden. Sind Sie damit ein-verstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist sobeschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf:a) Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregie-rungNATO-Gipfel am 21./22. November 2002 in Pragb) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Friedbert Pflüger, Dr. Wolfgang Schäuble,Christian Schmidt , weiterer Abgeordneterund der Fraktion der CDU/CSUDie NATO auf die neuen Gefahren ausrichten– Drucksache 15/44 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
VerteidigungsausschussAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dieAussprache im Anschluss an die Regierungserklärungeineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Wider-spruch. Dann ist so beschlossen.Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärunghat der Bundesminister des Auswärtigen, Joseph Fischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! ZwölfJahre nach dem Ende des Kalten Krieges hat die Welt füruns ein anderes Gesicht bekommen. Wo sich früher zweiBlöcke in militärischer Konfrontation erstarrt gegenüber-standen, sehen wir uns heute mit einer wesentlich kom-plexeren weltpolitischen Lage konfrontiert. Auf der einenSeite können wir vor allem in Europa enorme Fortschrittebei Frieden, Stabilität und Freiheit feststellen. Auf der an-deren Seite erfahren wir täglich von neuen regionalenKonflikten, sozialen Unruhen oder terroristischen An-schlägen.Spätestens die Schrecken des 11. September 2001 ha-ben uns verdeutlicht, dass wir von diesen Bedrohungendirekt betroffen sind. Besonders der Terrorismus richtetsich direkt gegen uns alle, die wir in offenen Gesellschaf-ten leben.Aber auch regionale Konflikte und soziale Problemewerden in einer zunehmend globalisierten Welt für unszur immer größeren Gefahr. Unsere Landesgrenzen schüt-zen uns vor diesen asymmetrischen Bedrohungen nur sehrunzureichend.Unser Ziel ist, dass alle Menschen in Sicherheit undFreiheit leben können. Terrorismus muss militärisch ent-schlossen bekämpft werden. Aber gleichzeitig dürfen wiruns nicht darauf beschränken; sonst droht ein Scheitern.Wir müssen politische und soziale Konflikte lösen, dieden Nährboden für die Entstehung der Gewalt und desTerrorismus darstellen.
Krisenprävention ist genauso wichtig wie Krisenreak-tion. Um dies zu erreichen, brauchen wir mehr denn je einSystem globaler kooperativer Sicherheit. Nur über dieZusammenarbeit von Nationen kann dies umfassend ge-leistet werden. Nur in multilateralem Rahmen können wirauf allen relevanten Ebenen entschlossen gegen das Ge-fährdungspotenzial unserer Zeit angehen. Wir müssenweg von einer rein militärisch angelegten Reaktion aufKonflikte und hin zu einem umfassenden Sicherheitsbe-griff. Europa und Amerika stehen vor einer neuen, weitüber unsere Kontinente hinausreichenden und politischentscheidenden Ordnungsaufgabe.Vor diesem Hintergrund treffen sich die 19 NATO-Mit-gliedstaaten am kommenden Donnerstag in Prag. Für dastransatlantische Bündnis und seine Rolle in einem Systemglobaler kooperativer Sicherheit beginnt in der tschechi-schen Hauptstadt eine neue Ära. In Prag werden sich dieFähigkeiten des Bündnisses zeigen, sich an eine wan-delnde Welt anzupassen. Die Allianz wird dort einen wei-teren Schritt auf dem Weg zur Lösung der großen europä-ischen Sicherheitsfragen vollziehen.Der Gipfel wird uns nochmals verdeutlichen, dass dieNATO weit mehr als ein reines Verteidigungsbündnis ist.Sie ist eine über den Atlantik reichende Wertegemein-schaft, die entscheidend zur Sicherheit und Stabilität inder Welt und zur Stärkung von Demokratie und Rechts-staatlichkeit ihrer Mitglieder beiträgt.
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Im Mittelpunkt der Diskussionen werden drei zentraleAufgaben stehen: Es geht um die Öffnung derNATO fürneue Mitgliedstaaten, die Beziehungen der NATO zuihren Partnern und die Anpassung der NATO an neue He-rausforderungen. Alle drei Themen sind für die Zukunftder Organisation von großer Bedeutung und damit auchfür die deutsche Außenpolitik entscheidend.Zum zweiten Mal nach Ende des Kalten Krieges öffnetsich die NATO für neue Mitglieder. Der Konsens der Bünd-nisstaaten, sieben weitere Staaten zum Beitritt in die Alli-anz einzuladen, wird immer wahrscheinlicher. 13 Jahrenach dem Fall der Mauer wird die NATO somit wichtigeLänder in Süd- und Osteuropa sowie das Baltikum in dasBündnis integrieren. Diese anstehende Erweiterung ist so-wohl für die Allianz als auch für die Beitrittskandidatenselbst ein Erfolg. Sie leistet einen Beitrag zur europäischenStabilität, sie festigt die transatlantischen Beziehungenund sie beschleunigt notwendige Reformen in den Mit-gliedstaaten.
Die nächste Erweiterungsrunde liegt auch in unseremInteresse. Daher hat der Bundestag im April dieses Jahresdieser Einladung mit überwältigender und fraktionsüber-greifender Mehrheit zugestimmt. Diese Einladung erfolgtnach gründlicher Evaluierung der Bereitschaft und Fähig-keit der Kandidaten, dem Bündnis beitreten zu können.Ihr gingen Jahre intensiver Vorbereitung voraus. Deutsch-land hat dabei aktiv mitgearbeitet. Mit der Entsendungmilitärischer und ziviler Berater, mit Materialhilfe undAusbildungsunterstützung haben wir dazu einen wichti-gen und anerkannten Beitrag leisten können. ZahlreicheExperten halten viele der heutigen Beitrittsländer für bes-ser vorbereitet als die drei Kandidaten der ersten Erweite-rungsrunde 1997.Alle Aspiranten haben in den vergangenen drei JahrenReformen durchgeführt und erhebliche Fortschritte ge-macht. Ihre Anstrengungen beschränkten sich nicht nurauf Strukturreformen im militärischen Bereich. Auch dieBeilegung interner und externer Konflikte, die Durchset-zung von Menschenrechten und die demokratische Kon-trolle der Streitkräfte gehörten dazu.All diese Vorhaben sind noch nicht ganz abgeschlos-sen. Es ist klar, dass auch die Kandidaten, die in Prag ein-geladen werden, diese Anstrengungen fortsetzen müssen.Die NATO ist keine statische Organisation. Alle ihre Mit-gliedstaaten müssen sich fortlaufend neuen Herausforde-rungen anpassen. Die Beitrittsstaaten werden sich in einemSchreiben an den NATO-Generalsekretär verpflichten,ihre Anstrengungen zur Beseitigung noch vorhandenerDefizite auch nach der Einladung fortzusetzen.Aber nicht alle Staaten, die Mitglied der NATO werdenwollen, können in Prag eingeladen werden. Wir müssendaher mit den Ländern, die dieses Mal noch nicht dabeisind, in intensivem Kontakt bleiben. Wir werden sie in derErklärung des Prager Gipfels ausdrücklich ermutigen,ihre Anstrengungen fortzusetzen. Die NATO muss auch inZukunft weitere Mitglieder aufnehmen können; ihre Türmuss offen bleiben. Dies ist für die deutsche Politik vongroßer Bedeutung und darüber besteht auch innerhalb derMitgliedstaaten Konsens.Die letzten zehn Jahre haben gezeigt: Die Perspektiveeines NATO-Beitritts hat – dies ist eines der wichtigstenpolitischen Ergebnisse; das ist sehr schnell und unmittel-bar schon im Beitrittsverfahren deutlich geworden – zuKonfliktabbau und Konfliktprävention beitragen können.Diese Aussicht fördert und dynamisiert den Reformkursder Kandidaten. Sie trägt zur Stabilisierung von Ländernund Regionen bei. Eine Erweiterung der Allianz bedeutetimmer auch eine Erweiterung und Festigung der trans-atlantischen Wertegemeinschaft. Zusammen mit der Er-weiterung der Europäischen Union ist sie daher eindeutigin unserem Interesse.
Es ist offensichtlich, dass die Frage nach den Bezie-hungen der NATO zu ihren Partnern außerhalb desBündnisses in direktem Zusammenhang zu ihrer Erweite-rung steht. Wir müssen neben der Öffnung des Bündnis-ses auch die Kooperation mit den Staaten in der Nachbar-schaft der NATO weiterentwickeln. Zunächst ist hierbeiunsere Zusammenarbeit mit Russland zu nennen. In Pragwollen sich die Außenminister im Rahmen des NATO-Russland-Rats mit ihrem russischen Kollegen treffen,um die Ziele künftiger Zusammenarbeit festzulegen unddas bislang Erreichte zu bewerten.Insgesamt ist die Bilanz erfreulich. Seit dem Gipfel inRom am 28. Mai hat sich unsere Kooperation mit Russ-land deutlich verbessert. Vieles beurteilen die Partnermittlerweile einheitlich. Besonders bei der Bewertung derLage auf dem Balkan herrscht zunehmend Übereinstim-mung mit unseren russischen Partnern. Für gemeinsamefriedenserhaltende Operationen haben wir ein realisierba-res Konzept entwickelt. Diese Schritte zu einer engen Ko-operation, für die wir uns immer eingesetzt haben, sind– wer die Vergangenheit kennt, weiß das – eine beacht-liche Leistung beider Seiten.
Sie sollten uns auch in die Lage versetzen, über Mittel undWege zur gemeinsamen Lösung von Sicherheitsproble-men zu reden. Unser Ziel ist dabei, zu übereinstimmendenBeurteilungen zu kommen. Beim Tschetschenien-Kon-flikt beispielsweise sind wir unverändert der Auffassung,dass auf der Basis territorialer Integrität, des Kampfes ge-gen den Terrorismus und der Wahrung der Menschen-rechte nur eine politische Lösung zum Erfolg führen kann.
Die engen Beziehungen zwischen der NATO und Russ-land sind für Stabilität und Sicherheit im euroatlantischenRaum von großer Bedeutung. Ihre Intensivierung hatletztlich dazu geführt, dass die NATO-Erweiterung fürRussland kein ernsthaftes Problem mehr darstellt. Dieswar vor ein paar Jahren noch völlig anders.Meine Damen und Herren, ein weiterer wichtigerNATO-Anrainer und -Partner ist die Ukraine. Auch mitBundesminister Joseph Fischer
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Bundesminister Joseph Fischerihrem Kiewer Kollegen wollen sich die Außenministerder Mitgliedstaaten in Prag treffen, um zu diskutieren, wiedie Ukraine stärker in die euroatlantischen Strukturen ein-gebunden werden kann. Wir wollen dabei einen Aktions-plan verabschieden, der die Ziele unserer Zusammenar-beit klar definiert. Im Mittelpunkt stehen dabei dieIntensivierung des politischen Dialogs und die Unterstüt-zung der Ukraine bei ihrer Verteidigungsreform.Dabei werden allerdings auch kritische Punkte in denBeziehungen zwischen der NATO und der Regierung inKiew auf dem Programm stehen. Unsere Zusammenar-beit wird gegenwärtig von dem Vorwurf an Kiew über-schattet, Waffen in Krisengebiete exportiert und Tech-nologie illegal an den Irak geliefert zu haben. Wirfordern von unseren Partnern die Einhaltung des inter-nationalen Rechts und der Beschlüsse der Vereinten Na-tionen ohne Wenn und Aber. Daran darf es keinen Zwei-fel geben.
In Prag wird auch evaluiert, wie die Beziehungen mitden anderen Partnern in Nachbarschaft zur NATO prak-tischer ausgestaltet werden können. In den letzten Mona-ten haben wir gerade mit unseren Partnerländern in Zen-tralasien intensiv zusammengearbeitet. Wie wichtigderen Rolle als Bindeglied in Bezug auf Asien ist, hat unsdie Kooperation bei der Krisenbewältigung in Afghanis-tan gezeigt. Ähnliches gilt für europäische Partnerländer,mit denen wir beispielsweise im Rahmen der SFOR undder KFOR ausgezeichnet zusammenarbeiten.Schließlich wollen wir auch unseren Dialog mit denMittelmeerländern aufwerten. In Prag sollen Vorschlägehierzu vorgelegt werden. Diesem Austausch messen wirgroße Bedeutung bei; denn er kann zur Verbesserung derregionalen Stabilität beitragen und gegenseitiges – –
– Ich kenne das auch mit Megafon, Herr Kauder. Ich kannaber auch ohne Mikrofon oder Megafon reden.
– Das meinen Sie doch nicht im Ernst. Also, substanz-reich war die Rede. Das können Sie ja wohl nicht be-streiten.
Ich lasse es mir gern gefallen, wenn Sie ein bisschenRecht haben; aber da haben Sie wirklich überhaupt nichtRecht.
– Das freut mich, dass Sie hier mit spitzen Ohren weiterlauschen wollen.
Verehrter Kollege, ich komme nun auf das Thema Mit-telmeerländer zu sprechen. Das ist ein wichtiges Thema,wie mir bei meinem Besuch in Spanien gerade wieder ver-mittelt wurde, wo es bezogen auf EU und NATO die großeSorge gibt, dass die regionale Erweiterungsausrichtungnach Osten und Südosten wirklich zu einer Abwendungvon den Mittelmeerländern führt. In der EU spielt das einenoch größere Rolle; es ist aber auch im NATO-Zusam-menhang wichtig. Deswegen hören Sie gut zu!
Schließlich wollen wir, verehrter Kollege, auch un-seren Dialog mit den Mittelmeerländern aufwerten. InPrag sollen Vorschläge hierzu vorgelegt werden. Die-sem Austausch messen wir aus den Gründen, die ich ge-rade schon genannt habe, große Bedeutung bei; denn erkann zur Verbesserung der regionalen Stabilität beitra-gen und gegenseitiges Verständnis fördern. Allerdingsist die Bereitschaft zur Zusammenarbeit in diesem Rah-men unmittelbar von der Lage im Nahostkonflikt be-stimmt.In einem dritten großen Themenfeld wollen sich dieNATO-Mitglieder in Prag damit beschäftigen, dass dieheutigen Herausforderungen neue Anpassungen notwen-dig machen. Nach dem Ende des Kalten Krieges mit Russ-land tritt die klassische Territorialverteidigung in den Hin-tergrund. Wir werden uns zunehmend fragen müssen: Wiereagieren wir in der NATO auf die neuen Bedrohungen?Wie können wir zu ihrer Bekämpfung, zu ihrer Eindäm-mung und zur Prävention von Krisen und Konfliktennachhaltig beitragen?Seit dem 11. September 2001, seit den brutalen Ter-roranschlägen in Djerba und Bali haben diese Frageneine bedrückende Aktualität. Der Albtraum eines großenterroristischen Anschlages ist für uns alle erschreckendeWirklichkeit geworden. Diesen neuen Herausforderungenmuss sich das Bündnis stellen. In Prag muss die NATO da-her die notwendigen Prioritäten setzen, um in denDimensionen eines umfassenden Sicherheitsbegriffs pla-nen und agieren zu können.Zum einen wird es in Prag um Möglichkeiten zur Ver-besserung der militärischen Fähigkeiten gehen. Neue Ge-fahren erfordern angemessene Reaktionen der NATO-Mitglieder. Auf dem Gipfel steht die Initiative des PragueCapabilities Commitment zum Beschluss an. Sie setztklare Prioritäten auf den Ausbau der militärischen Fähig-keiten der NATO-Mitgliedstaaten, etwa die Stärkung derVerteidigungsfähigkeit gegen Angriffe mit Massenver-nichtungswaffen oder die Bereitstellung von sicherer mo-derner Führungstechnologie, von strategischem Luft-transport und von Aufklärungstechnik.In diesem Zusammenhang halten wir die amerikanischeInitiative zur Schaffung einer NATO-Response-Force für
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einen konstruktiven Vorschlag. Dieser multinationale An-satz kann dazu beitragen, die heutigen Sicherheitsheraus-forderungen zu bewältigen und gleichzeitig die integrier-ten NATO-Strukturen zu stärken. Daher unterstützen wirden Plan, in Prag einen Auftrag zur Ausarbeitung einesKonzeptes für diese NATO-Response-Force zu erteilen.Wir sind allerdings der Auffassung, dass dafür drei Vor-aussetzungen erfüllt sein müssen: Die Entscheidungenüber Einsätze dieser Truppe müssen dem NATO-Rat vor-behalten bleiben; eine deutsche Beteiligung ist aufgrundder geltenden Rechtslage nur mit vorheriger Zustimmungdes Bundestages möglich;
das Vorhaben – das ist ein sehr wichtiger Punkt – muss mitdem Aufbau europäischer Krisenreaktionskräfte im Rah-men der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspo-litik vereinbar sein, Doppelungen sollten ausgeschlossenwerden.
In Prag wird es aber nicht nur um militärische Fähig-keiten gehen. Wenn die Staats- und Regierungschefs dieinternationale Lage erörtern, wird es auch darum gehen,wie Konflikte besser eingedämmt und Krisen verhütetwerden können. Eine klugeVerzahnung von Politik undMilitär – das hat die Erfahrung gerade auch auf dem Bal-kan gezeigt – kann hier zum Erfolg führen. Der NATO-Einsatz in Mazedonien hat uns bewiesen, dass der recht-zeitige, präventive Einsatz von Streitkräften in engerAbstimmung mit politischen und diplomatischen Initia-tiven helfen kann, Konflikte auf friedliche Art und Weisezu lösen, bevor sie gewaltsam eskalieren.
Wir messen der Weiterentwicklung solcher Strategiengroße Bedeutung bei. Vor allem im Rahmen eines umfas-senden und effizienten Kampfes gegen den Terrorismushalten wir diese enge Verzahnung, gründend auf einemumfassenden Sicherheitsbegriff, für unerlässlich für denErfolg.Meine Damen und Herren, mit der anstehenden Erwei-terung, mit der Intensivierung des Dialogs mit unserenPartnern, mit der Anpassung unserer Mittel und Strategienan die aktuelle Lage und schließlich mit der Vertiefungmultilateralen, gemeinsamen Handelns stellt die NATOihre Dynamik, ihre Flexibilität und auch ihren umfassen-den Anspruch unter Beweis, eine transatlantische Werte-gemeinschaft zu bilden. Die NATO ist das wichtigste Bin-deglied für die Beziehungen im nordatlantischen Raum.Sie ist Ausdruck der historischen Verbundenheit und desgemeinsamen Engagements von Europa und Amerika. Sieist wichtiger Pfeiler in einem System globaler koopera-tiver Sicherheit, wie es die Welt heute mehr denn jebenötigt. Die Bundesregierung wird daher die Vorhabendes Gipfels in Prag nachhaltig unterstützen und an ihrerUmsetzung engagiert arbeiten.Ich danke Ihnen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Tonregie be-
hauptet – ich sage das ganz vorsichtig –, dass das Mikro-
fon wieder geht. Lieber Kollege Schäuble, wollen Sie es
probieren? Wir können nur durch Probieren herausfinden,
ob diese Behauptung stimmt.
Ich erteile Ihnen also hiermit das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Es hallt ein wenig nach; aber das Mikrofon scheint zufunktionieren.Die Regierungserklärung, die wir soeben vom Bun-desaußenminister vorgetragen bekommen haben, hat we-nig Falsches enthalten.
All dem, was Sie zum Thema Erweiterung gesagt haben,das in der Planung für Prag ursprünglich das Hauptanlie-gen des NATO-Gipfels gewesen ist, stimmen wir zu, auchwas die Beziehungen zu Russland anbetrifft; ebenso fin-det das, was Sie zu Tschetschenien gesagt haben, imGrundsätzlichen unsere Zustimmung.
Unsere Zustimmung findet, Herr Bundesaußenminis-ter, auch Ihr Satz, dass der Prager Gipfel angesichts neuerBedrohungen für Frieden und Sicherheit die angemes-senen Prioritäten setzen muss. Aber Ihre Regierungs-erklärung hat die angemessenen Prioritäten unter diesemGesichtspunkt in keiner Weise gesetzt.
Die eigentliche Frage ist – deswegen wird der PragerGipfel wirklich eine entscheidende Bedeutung für dieweitere Entwicklung der atlantischen Gemeinschaft ha-ben –, ob wir in der Lage sind, das transatlantische Ver-hältnis so auszubauen und weiterzuentwickeln, dass esFrieden und Sicherheit für uns alle in der Zukunft schüt-zen kann. Gegen dieses Ziel ist in den vergangenen Mo-naten schwer verstoßen worden. Deswegen wird sich aufdem Prager Gipfel zeigen, ob es gelingt, die Störungen imtransatlantischen Verhältnis, für die niemand mehr Ver-antwortung trägt als diese Bundesregierung, zu beseiti-gen, oder nicht.
Bundesminister Joseph Fischer
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Dr. Wolfgang SchäubleDas Wort Irak, Herr Bundesaußenminister, ist in IhrerRegierungserklärung nicht vorgekommen. Ich sage Ihnenvoraus: Sie werden in Prag auf dem NATO-Gipfel nichtdarum herumkommen, sich mit der Problematik des Irakzu beschäftigen. Deshalb hätten Sie dem Deutschen Bun-destag dazu etwas sagen müssen.
Ich lese heute in einem Interview des Bundeskanzlers– darüber muss gesprochen werden –, dass er auf dieFrage, ob die Deutlichkeit, mit der Ihre Position zu Irakartikuliert wurde, eine symbolische Bedeutung gewonnenhabe und ob das nicht als eine Zäsur im Verhältnis zu denUSA verstanden worden sei, geantwortet hat: Nein, denndas lag in der Konsequenz unserer neuen Außenpolitik.Was, bitte, ist diese neue Außenpolitik?
Ist diese neue Außenpolitik, dass wir den Menschen inDeutschland einreden, Frieden und Sicherheit wären füruns in Deutschland nicht mehr bedroht, wenn wir uns nurso verhalten, als wären wir in einer Nische und als wür-den die Gefahren nur irgendwo anders eintreten? Dannmüssen Sie aber den Präsidenten des Bundesnachrichten-dienstes, Hanning, stoppen, damit er nicht mehr jeden Tagneue Meldungen lanciert, dass der nächste terroristischeAnschlag bei uns in Deutschland drohen kann. Es kannnur das eine oder das andere die Wahrheit sein.Ich fürchte, Herr Hanning hat mit seiner LageanalyseRecht. Ich fürchte, dass das Tonband, das wir gerade überal-Dschasira wahrscheinlich von Bin Laden gehört ha-ben, auch bestätigt, dass die Gefahr des internationalenTerrorismus viel größer ist, dass wir davon betroffen sindund dass wir uns nur durch eine Stärkung der NATO so-wie der europäischen und der transatlantischen Zusam-menarbeit dagegen schützen können. Dann darf man dieseBindungen aber nicht mit „neuer Außenpolitik“schwächen. Das ist der falsche Weg.
Das sagen wir nicht aus Solidarität mit unseren ameri-kanischen Partnern, sondern aus Eigenverantwortung undEigeninteresse im Blick auf die Zukunft unseres Landesund die Sicherheit der Menschen, die uns als Politiker ins-gesamt und Ihnen als Regierung in besonderer Weise an-vertraut sind.Das eigentlich Problematische ist Folgendes: Auf-grund der Auflösung von staatlichen Strukturen, der viel-fältigen Ursachen für Spannungen, die es in der Ge-schichte der Menschheit immer gegeben hat und die mitden neuen technischen Möglichkeiten noch verstärkt wer-den, aufgrund der Tatsache, dass Massenvernichtungs-waffen immer mehr verbreitet werden, dass Trägertech-nologien in der Lage sind, die Gefahren von jedem Punktder Erde an jeden anderen Punkt zu transportieren, unddass die alten Formen von Sicherheit nicht mehr funktio-nieren, wird in Amerika über die Frage der nationalenSicherheitsstrategie eine intensive Debatte geführt.Sie lassen zu, dass über diese Gefahren, die sich auchfür uns aus der Kombination von internationalem Terro-rismus, Massenvernichtungswaffen und Trägertechnolo-gien ergeben, bei uns keine ernsthafte und substanzielleDebatte geführt wird. Sie müssen sich auf dem NATO-Gipfel in Prag mit diesen Fragen beschäftigen. Das sinddie eigentlich entscheidenden Fragen für die Zukunft hin-sichtlich Frieden, Freiheit und Sicherheit für die Men-schen in Deutschland und in Europa.Sie haben in den letzten Monaten in einer unverant-wortlichen Weise Kriegsangst und Antiamerikanismusgeschürt und ausgebeutet.
– Ich habe eine Mappe von entsprechenden Zitaten vormir liegen. Ich kann sie Ihnen vorlesen, wenn Sie siehören wollen. Wir brauchen nicht darüber zu streiten, dasses so gewesen ist.Indem Sie so gehandelt haben – das will ich Ihnen jetztvorhalten –, haben Sie etwas viel Schlimmeres gemacht:Sie haben nämlich verhindert – Sie leisten mit dieser ArtRegierungserklärung auch einen Beitrag dazu –, dass inDeutschland ernsthaft darüber diskutiert wird, worin dieGefahren für uns liegen und was wir tun müssen, damitwir auf die bestmögliche Weise Vorsorge zur Vermeidungdieser Gefahren treffen. Das ist das eigentliche Problem.
Sie tun so, als wäre das Handeln der Verantwortlichenin den Vereinigten Staaten von Amerika, die sehr vielmehr Verantwortungsbereitschaft gezeigt und Vorsorgegetroffen haben, als Sie es in den letzten Monaten getanhaben und in Ihrer Regierungserklärung zum Ausdruckgebracht haben, die eigentliche Gefahr für den Frieden inder Zukunft.
– Natürlich, damit wird doch an den Antiamerikanismusappelliert.Wenn man den Artikel liest, den der frühere Staatsmi-nister im Kanzleramt, Herr Naumann, dieser Tage in der„Zeit“ veröffentlicht hat, dann erkennt man, dass die po-litische Linke einen Generalangriff gegen die Grundlagendes Bündnisses zwischen Amerika und Europa führt. Dasist offenbar die neue Außenpolitik.
Sie haben nicht ein einziges Wort zu der Frage gesagt,die für eine verantwortungsvolle Sicherheitspolitik ent-scheidend ist: Wie können wir angesichts der Bedrohun-gen durch Massenvernichtungswaffen, Terrorismus undTrägertechnologien in der Zukunft Sicherheit gewährleis-ten? Die alte Form der Abschreckung kann dies nichtmehr leisten. In Amerika wird über die neue Sicherheits-strategie diskutiert. Sie aber weisen das von sich, indemSie davon sprechen, dass jemand Präventivschläge durch-führen wolle. Man kann diese Gefahren aber nur vermei-den, indem man Anschläge und den Einsatz von Massen-vernichtungswaffen verhindert. Mit Vergeltung, also
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einem Zweitschlag, schützen Sie unsere Bevölkerungnicht. Deswegen muss eine entsprechende Debatte in Pragund in Deutschland geführt werden. Dazu haben Sie keinWort gesagt. Das ist das eigentliche Problem.
– Damit es alle hören – eigentlich darf er von der Regie-rungsbank keine Zurufe machen –, wiederhole ich denZuruf des Außenministers. Er hat mich gefragt, ob ich fürPräventivschläge sei. Ich frage zurück: Ist das die ganzeAntwort der Bundesregierung?
Ich frage Sie: Was unternehmen Sie gegen die Bedrohung,dass biologische Kampfstoffe demnächst vielleicht einge-setzt werden? Wir haben in Deutschland beispielsweisenoch nicht einmal ausreichend Impfmittel gegen Pocken.Was unternehmen Sie gegen die Gefahr, dass schmutzigeAtomwaffen eingesetzt werden? Was unternehmen Siegegen die Gefahr, dass demnächst mit neuen Raketen, diees überall gibt, von irgendeinem Ort Anschläge verübtwerden? Bin Laden – ich gehe davon aus, dass er auf demTonband zu hören ist – hat angedroht, dass Deutschlanddemnächst von einem Anschlag betroffen sein könnte.Wie wollen Sie im Hinblick darauf Vorsorge treffen? Sieaber antworten auf diese Fragen nur mit dem Zuruf, ob ichfür Präventivschläge bin.
Das ist zu wenig und reicht hinten und vorne nicht.
Das ist Ausdruck Ihrer Politik.Ich sage es noch einmal: Das Schüren von Antiameri-kanismus hat in Wahrheit zur Folge, dass wir eine realis-tische Bedrohungsanalyse in Deutschland nicht vorneh-men. Damit werden wir unserer Verantwortung für dieSicherheit unseres Landes nicht gerecht. Über diese Fra-gen muss in Prag gesprochen werden.
Sie haben kein Wort zum Thema Irak gesagt, obwohlsich in diesen Tagen erweist, dass diejenigen Recht gehabthaben, die in einer Kombination aus Druck und Handelnder Vereinten Nationen am ehesten die Chance gesehenhaben, eine militärische Eskalation zu vermeiden. Des-wegen muss man einen Tag, nachdem der Irak die Reso-lution des UN-Sicherheitsrates akzeptiert hat – wir wis-sen natürlich, dass Saddam Hussein in den nächstenWochen und Monaten sein Spiel weitertreiben wird –, ein-mal seinen Dank sagen und Respekt dafür zeigen, dass un-ter amerikanischer Führung dieser große Erfolg erreichtworden ist, anstatt kein Wort dazu zu sagen. Darauf wer-den Sie in Prag eine Antwort geben müssen.
Ich habe öffentlich darauf hingewiesen – ich habe michdafür eingesetzt; Sie sind ja schließlich die Regierung un-seres Landes –, dass Sie mit unserem wichtigsten Ver-bündeten vernünftige Beziehungen haben müssen.
Nur, welche Pressearbeit machen Sie im Hinblick aufIhre Hofschranzen!
Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Im Fernsehen war zu se-hen, dass der Außenminister bei Colin Powell war. ColinPowell hat ihn mit dem seltenen amerikanischen Gruß be-grüßt: „Good to see you!“ Bereits daraus ist die Meldunggemacht worden: Das war eine Liebeserklärung zwischenzwei Außenministern.
– Herr Bundesaußenminister, es wäre schön gewesen,wenn Sie uns in Ihrer Regierungserklärung, die Sie zuBeginn der heutigen Bundestagssitzung abgegeben ha-ben, ein paar substanzielle Auskünfte gegeben hätten, an-statt hier ein so nichtssagendes und allgemeines Larifarizu verlesen, dass sogar das Mikrofon verzweifelt.
Der Verteidigungsminister war jetzt bei Herrn Rumsfeld.Es ist in Ordnung, dass die miteinander gesprochen haben.
Wenn aber der amerikanische Verteidigungsminister aufdie Frage, wie die deutsch-amerikanischen Beziehungenjetzt seien, mit sarkastischem Lachen sagt: „Unpoisoned!“,dann sollten Sie daraus keine großen Erfolgsmeldungenmachen, sondern begreifen, welchen Substanzverlust Sieden deutsch-amerikanischen Beziehungen, der europä-ischen Handlungsfähigkeit und damit den Zukunftsinte-ressen unseres Landes zugefügt haben.Ich sage noch einmal: Ich wünsche mir, dass es or-dentliche Beziehungen gibt. Sie sind die Regierung unse-res Landes. Sie sollten sich nicht lächerlich machen. DieArt, wie Sie sich jetzt in Amerika aufführen, macht Sielächerlich. Ich möchte nicht, dass unser Land eine lächer-liche Regierung hat. Sie ist schlecht genug und die Zeitensind sehr ernst.
Sie werden auf dem Gipfel in Prag nicht darum he-rumkommen, auf die neuen politischen BedrohungenAntworten zu geben. Der Verteidigungsminister hat die-ser Tage in einer Fernsehsendung – das ist mir berichtetworden; ich selber habe sie nicht gesehen – gesagt, er habees satt und er wolle jetzt keine Fragen mehr dahin gehendDr. Wolfgang Schäuble
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002
Dr. Wolfgang Schäublebeantworten, was wäre, wenn. Sie haben einen ganzenWahlkampf damit geführt, dass Sie Fragen beantwortethaben, die niemand gestellt hat. Sie haben sich dabeiziemlich lächerlich gemacht.
Es geht um die politische Unterstützung der Politikder Vereinigten Staaten und des Atlantischen Bündnis-ses. Dazu muss in Prag eine klare Auskunft gegebenwerden. Ansonsten wird der Gipfel in Prag in Bezug aufdie Entwicklung der atlantischen Gemeinschaft zwareine Weichenstellung darstellen, aber eine zum Schlech-teren.Wenn Sie jetzt die Entschließung des UNO-Sicher-heitsrats begrüßen – das tun Sie ja –, dann müssen Sie fol-gende Frage beantworten, und zwar jetzt – das ist keineWas-wäre-wenn-Frage, aber das ist eine Frage an dieBundesregierung, die weder im Ausschuss noch im Ple-num beantwortet worden ist –: Wird die Bundesregierung,die den Beschluss des Weltsicherheitsrats unterstützt,auch die ernsten Konsequenzen, die der Weltsicherheits-rat formuliert hat, unterstützen und mittragen, ja odernein? Sie wollen Ihre eigenen Wähler täuschen; das ist derPunkt. Sie müssen diese Frage beantworten.
Dann müssen Sie in Prag noch etwas tun. Sie dürfennicht nur sagen: Wir werden den Auftrag erteilen, eineKonzeption für die NATO-Reaction-Force zu entwi-ckeln. Wenn – und weil – die technologische Lücke zwi-schen beiden Seiten des Atlantiks immer größer wird, be-steht die Gefahr, dass die NATO in Zukunft nicht mehr dieSchutzfunktion für uns leisten kann, wie dies bisher derFall gewesen ist. Dabei gibt es zwei Gefahren:Erstens. Die militärischen Fähigkeiten und die techno-logische Entwicklung sind so unterschiedlich, dass dieZusammenarbeit immer schwerer wird.Zweitens. Das größere Problem ist – davon habe ichgesprochen –, dass wir zu keiner gemeinsamen Bedro-hungsanalyse und zu keiner Klärung der politischenGrundlagen dessen, was für die zukünftige Sicherheit not-wendig ist, mehr fähig sind.Wenn Sie die Lücke in den technologischen Fähigkei-ten schließen wollen, dann ist die NATO-Reaction-Forceein guter Ansatz. Dann darf man aber nicht sagen: Dasprüfen wir einmal und dann werden wir sehen, wie wir esmit den ESVP-Strukturen kompatibel machen können.Das bekommen Sie mit der Art, in der Sie zurzeit Ihre Si-cherheitspolitik betreiben, nicht hin. Beides steht nur aufdem Papier, dann ist es natürlich auch kompatibel. Beidesmuss aber in die Wirklichkeit umgesetzt werden. DieHelsinki-Komponente müsste schon längst umgesetztworden sein.Demnächst führen wir die Haushaltsdebatte. Unserewichtigsten europäischen Verbündeten erhöhen ihren oh-nehin höheren Anteil der Verteidigungsausgaben amBruttoinlandsprodukt in den nächsten Jahren. Frankreichsteigert ihn wesentlich, Großbritannien noch mehr. InDeutschland aber sinkt nach dem Stand der Planungen derBundesregierung der Anteil des Verteidigungshaushaltsam Bruttoinlandsprodukt weiter. Man wird Sie in Prag da-nach fragen und wenn Sie keine befriedigende Antwortgeben können, schwächen Sie die NATO. Das ist derfalsche Weg; denn wir brauchen die NATO, um auch inZukunft Frieden und Sicherheit zu bewahren.Wir müssen mit unseren technologischen Fähigkeiteneinsteigen. Dazu brauchen wir auch eine Bundeswehr-reform. Das Entscheidende aber ist, dass wir den politi-schen Willen haben, die Wahrung der Sicherheit auch inZukunft als prioritäre Aufgabe zu begreifen und die wirk-lichen Bedrohungen nicht zu verharmlosen oder wegzu-reden. Wir müssen sie ernst nehmen und ihnen ins Augeschauen, um dann auch das Menschenmögliche an Vor-sorge zu treffen. Das ist die Weichenstellung, das ist derAuftrag für den NATO-Gipfel in Prag.Sie haben dazu kein Wort gesagt und das macht michbesorgt. Ich bin während Ihrer Regierungserklärung ganzunglücklich geworden. Ich habe Ihnen vor ein paar Wo-chen gesagt, dass wir Ihnen nicht den Weg verstellen wer-den, wenn Sie nach dem unverantwortlichen Wahlkampf,den Sie geführt haben, zu den Grundlinien der Außen-und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland,die wir über Jahrzehnte gemeinsam formuliert haben,zurückkehren wollen. Das können wir gar nicht und daswollen wir auch gar nicht, weil uns die Zukunft unseresLandes wichtiger ist als kleinliche parteipolitische Aus-einandersetzungen.
– Wenn Sie sich so echauffieren, dann legen Sie doch ein-fach einmal die Zeitung weg, dann können wir uns einbisschen auseinander setzen. Es gibt doch ein paar Min-destvoraussetzungen.
Dass Sie Zeitung lesen, ist egal, aber dann machen Sieauch keine Zwischenrufe. Lassen Sie sich doch beim Zei-tunglesen nicht stören!
Ich will Ihnen sagen, was mich wirklich besorgtmacht: Unser Land befindet sich in einer ungewöhnlichschwierigen Lage. Das Problem ist übrigens nicht dasverantwortungslose Gerede von Bundeskanzler undführenden Mitgliedern der Bundesregierung in den letz-ten Monaten.
Das Problem, Herr Fraktionsvorsitzender Müntefering,ist, dass die Bundesrepublik Deutschland in Amerika undin vielen anderen Ländern der Welt als ein Absteigerlandangesehen wird. Die Kombination von der wirtschaft-lichen Lage und den wirtschaftlichen Perspektiven unddieser außenpolitischen Unzuverlässigkeit ist das eigent-liche Problem für Deutschland. Dabei wird einem angstund bange.
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Glauben Sie doch nicht, dass wir Freude daran haben,dass diese Regierung von Tag zu Tag immer mehr taumeltund nicht die geringste Idee entwickelt!
Auch wir lesen gelegentlich Zeitung, allerdings nichtdann, wenn wir Zwischenrufe im Bundestag machen. Ma-chen Sie sich doch nicht lächerlich!
– Ich sage doch etwas zur Sache. Dieses Land brauchteine Regierung, die wirklich weiß, was sie will, und dieverstanden hat, was die Stunde geschlagen hat.
– Sie haben die Wahl gewonnen, deswegen bilden Sie jaauch die Regierung. Ich möchte nur nicht, dass sich dieRegierung so lächerlich macht, wie sie es in den letztenWochen getan hat.Ich möchte, dass die Regierung endlich die eigent-lichen Aufgaben in diesem Land annimmt. Deswegensage ich: Ein noch größeres Problem als die außenpoli-tische Unzuverlässigkeit der Regierung ist, dass Deutsch-land in den Augen anderer in seinen wirtschaftlichenFähigkeiten immer schwächer beurteilt wird. Wir werdeneinen hohen Preis bezahlen; das können wir jeden Tag anjedem Punkt sehen. Deswegen ist meine Bitte: Wenn Sieschon finanz-, wirtschafts- und sozialpolitisch unfähigsind, die Probleme zu lösen, dann kehren Sie doch we-nigstens auf dem Prager Gipfel zu den Minimalia einerden Zukunftsinteressen unseres Landes entsprechendenAußen- und Sicherheitspolitik zurück!Die Wahlentscheidung ist getroffen. Wir akzeptierensie: Wir sind in der Opposition, Sie sind an der Regierung.Wir möchten aber, dass Sie ein bisschen besser regieren.Eine so perspektivlose, konzeptionslose und substanzlosePolitik hat dieses Land nicht verdient.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Markus Meckel,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Herr Kollege Schäuble, was Sieeben hier dargestellt haben, ist in meinen Augen wirklichzutiefst erschütternd,
weil Sie das transatlantische Verhältnis auf „Bild“-Zei-tungs-Niveau dargestellt haben. Das ist den Fragen, vordenen wir stehen, in keiner Weise angemessen.
Ich habe den Eindruck, dass Sie nicht verkraften, dassdie Bevölkerung unseres Landes gerade in außenpoliti-schen Fragen zu 80 Prozent hinter der Bundesregierungsteht.
Sie verkennen deutlich, was die Bundesrepublik Deutsch-land an internationaler Verantwortung in den letzten Jah-ren wahrgenommen hat, zurzeit wahrnimmt und was siedemnächst in Afghanistan im Rahmen der ISAF mit derFortsetzung von Enduring Freedom an Verantwortungübernehmen wird. 10 000 deutsche Soldaten befindensich auf der Grundlage von UNO-Beschlüssen in ver-schiedenen NATO-Einsätzen. Sie nehmen diese Aufgabe,die mit großen Risiken verbunden ist, aufgrund eines Be-schlusses und unter Führung dieser Bundesregierungwahr. Ich glaube, das haben Sie völlig aus dem Blick ver-loren.
Sie sprachen über Stimmungen im transatlantischenVerhältnis. Darüber können wir auch in der „Bild“-Zei-tung lesen, das ist dieser Frage allerdings keineswegs an-gemessen. Hier geht es um strategische Interessen und da-rum, wie wir auf der Grundlage unserer gemeinsamenWerte im transatlantischen Verhältnis und im Westen ge-meinsam den Schwierigkeiten der sicherheitspolitischenHerausforderungen unserer Zeit gerecht werden. Es istkeine Frage: Das ist für uns alle nicht einfach.Sie haben hauptsächlich über den Irak und wenig überden NATO-Gipfel gesprochen. Gerade hier wird aberdeutlich, wie wichtig die Diskussionen der vergangenenWochen und Monate waren und gerade sie der Hinter-grund der UN-Resolution sind. Die Resolution entsprichtmit Sicherheit nicht der Linie von Herrn Cheney; denn erhat in seiner Rede von ganz anderen Kategorien gespro-chen. Er sprach von einem Regimewechsel im Irak alsZiel und nicht von der Vernichtung von Massenvernich-tungsmitteln. Dies ist aber die Bedrohung, auf die dieUN-Resolution eingeht, und zwar multilateral und nichtunilateral.
Diese Diskussion hat übrigens die Reaktion der Bundes-regierung hervorgebracht.Ich halte es für ausgesprochen wichtig, dass wir in derFrage der Bedrohung durch Massenvernichtungswaffendifferenzierter miteinander reden. Es ist gar keine Frage,dass der Irak eine ganz zentrale Bedrohung darstellt, aufdie der UN-Sicherheitsrat jetzt – ich denke, in angemes-sener und erstaunlich geschlossener Weise – reagiert hat.Wir können nur hoffen, dass dies zum Erfolg führt. Das istaber nicht das Einzige, was mit dem internationalen Ter-rorismus zu verbinden ist. Natürlich haben wir alle dieSchreckensvorstellung, dass Terroristen Massenvernich-tungswaffen in die Hand bekommen. Im Augenblick gibtes aber kaum Belege dafür. Die Verbindung zwischenal-Qaida und dem Irak ist bisher nicht in der Weise, wiemanche es glauben, nachgewiesen. Gleichzeitig abermuss man deutlich sagen, dass die Möglichkeit einesDr. Wolfgang Schäuble
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Markus MeckelMilitärschlags gegen den Irak die Gefahren des inter-nationalen Terrorismus erhöht.
Dies birgt die Gefahr, dass die internationale Koalition ge-gen den Terrorismus zerbricht.Das alles müssen wir uns deutlich machen. Es gibt einSpannungsverhältnis und keine einfache Linie, aufgrundderen man sagen kann: Führer – USA– geh voran, wir fol-gen dir.
Das geht nicht. Wir brauchen eine eigene Bedrohungs-analyse und diese ist die Grundlage der Position der Bun-desregierung.
Dazu haben wir in den letzten Wochen durchaus eineganze Menge sehr Klares gehört.Wenn es um Massenvernichtungswaffen geht, geht eseben nicht zuerst um einen Militärschlag, sondern umNonproliferation, die Stärkung internationalen Rechtsund Rüstungsbegrenzung. Dies sind die Instrumente, diewir stärken müssen. Wir müssen versuchen, alle Beteilig-ten dazu zu gewinnen, daran möglichst entschlossen undgeschlossen teilzunehmen.
Natürlich stehen wir gerade angesichts der Militär-strategie der USA vor einer strategischen Diskussion imRahmen der NATO. Es ist schon die Frage, wie wir alsNATO auf diese US-Militärstrategie reagieren und obman auf Gefahren mit präventiven Schlägen reagiert. HerrSchäuble, diese Frage ist legitim. Darüber müssen wirmiteinander sprechen. Wir müssen auch darüber reden,wie dies mit dem Völkerrecht vereinbar ist. Ich sehe je-denfalls nicht, dass die NATO sich darauf einigen könnte,dieser amerikanischen Strategie einfach zu folgen. Sagendoch auch Sie das ehrlich oder sagen Sie, dass Sie daswollen! Lassen Sie uns eine ernsthafte Debatte führen, inder nicht einfach nur der Bundesregierung unverantwort-liches Handeln vorgeworfen wird! Dies kann ich in keinerWeise akzeptieren, weil es der Sache nicht gerecht wird.
Kollege Meckel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schäuble?
Ja.
Herr Kollege Meckel, könnten wir nicht einfach danach
fragen, was wir tun können, um Vorkehrungen gegen die
Bedrohungen durch Terrorismus, Massenvernichtungs-
waffen und Trägertechnologien zu treffen? Bevor wir
diese Fragen beantwortet haben, sollten wir nicht danach
fragen, was alles nicht geht. Ich kenne in Deutschland
viele Debatten darüber, was alles nicht geht. Mir fehlen
aber die Antworten, was geht. Meine Frage ist: Was kann
zum Schutz gegen die neuen Gefahren getan werden?
Herr Kollege Schäuble, dazu kann man eine ganze
Menge sagen. Übrigens ist auch eine ganze Menge getan
worden. Dem Terrorismus kann eben nicht nur militärisch
begegnet werden. Sowohl die Europäische Union als auch
die USA haben sehr viel getan: in Fragen der Geheim-
dienstkooperation und in Fragen der inneren Sicherheit,
die von der äußeren Sicherheit nicht zu trennen ist.
Gleichzeitig geht es um Proliferationsfragen.
Hier aber geht es zuallererst um die Stärkung des in-
ternationalen Rechtes und hier sind viele Fragen offen.
Übrigens sind auch auf internationaler Ebene manche
Dialoge offen, die wir intensiv miteinander führen müs-
sen. Das betrifft dann auch manche Großmacht.
Es muss ganz klar gefragt werden: Inwieweit stärken wir
gemeinsam dieses internationale Recht? Ich bin der festen
Überzeugung, dass wir gerade auch in der NATO zu einer
Debatte darüber kommen müssen.
Kollege Meckel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen von Klaeden?
Ja.
Herr Kollege Meckel, Sie sprechen von der Stärkung des
internationalen Rechts. Sind Sie auch bereit, sich an der
Durchsetzung des internationalen Rechts zu beteiligen?
Verehrter Kollege, die deutschen Soldaten tun dies inwichtigen Zusammenhängen der internationalen Sicherheit
mit 10 000 Soldaten. Diese Zahl übersteigt bisherige Vor-stellungen weit. Jetzt übernehmen wir gemeinsam mit denNiederländern die Führung von ISAF in Afghanistan.Dies ist wahrhaftig ein Beweis dafür, dass wir genau dazubereit sind.
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Meine Damen und Herren, ich will in der mir verblei-benden Redezeit auch noch auf Prag zu sprechen kom-men. Eines ist klar: Wir werden die Debatte zu den Fra-gen, die wir eben angesprochen haben, in Prag beginnenmüssen; sie wird dort nicht abgeschlossen werden. Es er-scheint mir aber wichtig, den Rahmen der NATO zu nut-zen, um diese Debatte auch im Rahmen des Rates zuführen. Hier sehe ich übrigens große Defizite. Bisher istes so, dass die Behandlung solcher Fragen im NATO-Rateher abgewürgt als dass wirklich debattiert wird.Ich halte es auch für wichtig, dass die europäischenLänder, die natürlich ihre eigene Tradition und ihren ei-genen Zusammenhalt haben und im Rahmen der europä-ischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ihre eigenenStrukturen entwickeln, versuchen, gemeinsame Positio-nen zu finden, und diese auch in der NATO miteinandervertreten. Dies ist bis heute leider nicht der Fall. Hier brau-chen wir neue Strukturen, einen stärkeren europäischenZusammenhalt und einen stärkeren gemeinsamen europä-ischen Willen, diesen Herausforderungen zu begegnen.Zu den anderen Fragen – es gibt viele Fragen, die denTerrorismus betreffen, also gar nicht zuallererst militä-rische Fragen sind – wird es übrigens einen europäisch-amerikanischen Dialog auf ganz anderen Ebenen als derNATO-Ebene geben müssen.Auf Prag zurückkommend möchte ich doch noch aufetwas hinweisen, was der Herr Bundesaußenminister be-reits zu Beginn dieser Debatte gesagt hat, nämlich auf denwirklich historischen Schritt, den wir als NATO bei derGestaltung Europasmiteinander gehen. Anders als 1997in Madrid, als es während des NATO-Gipfels viele Dis-kussionen über die Frage der Erweiterung gab, darüber,welche Staaten aufgenommen werden können oder nicht,gibt es jetzt schon im Vorfeld einen breiten Konsens, so-dass es dazu in Prag selber wohl keine große Debatte mehrgeben wird. Es geht aber um eine gewaltige Erweiterungum sieben Staaten Ost- und Mitteleuropas, die früher demkommunistischen Block angehörten. Damit wird eine völ-lig neue Gestaltung Europas vollendet. Dies ist etwas, wasman sich vor zwölf oder 13 Jahren kaum hätte vorstellenkönnen. Damit vollendet sich, was 1989/90 mit der Ver-änderung Europas begonnen hat, nämlich die Gestaltwer-dung einer europäischen Demokratie und Freiheit. Diesgilt auch für die Frage, wie wir als gemeinsames Europakünftig unser Verhältnis zu den Nachbarregionen undüberhaupt in der ganzen Welt gestalten wollen.Wir haben – ich spreche hier als Ostdeutscher – schon1989/90 diese Perspektive klar beschrieben, indem wirgesagt haben: Wir als Ostdeutsche, die mit der deutschenVereinigung unmittelbar Mitglied von EU und NATOwurden, wollen, dass unsere östlichen und südöstlichenNachbarn auch die Chance bekommen, Teil dieser Struk-turen zu werden. Uns war klar, dass dies ein längerer Wegwerden würde. In diesen Wochen werden wir auf diesemWeg auch im Rahmen der Europäischen Union weiterewesentliche Fortschritte machen, werden wir zu Ent-scheidungen kommen, sodass in zwei Jahren sowohl dieEU als auch die NATO um weitgehend die gleichen Län-der erweitert sein werden. Dies ist ein wahrhaft histori-scher Schritt, den es trotz aller Debatten, die wir hier sonstmiteinander führen, zu würdigen gilt. Darüber hinausmüssen wir aber auch sehen, wie wir gemeinsam mit die-sen Ländern dieser neuen Rolle und diesen neuen He-rausforderungen begegnen.
Angesichts der neuen Herausforderungen, über die wirgesprochen haben, halte ich es für ausgesprochen wichtig,dass wir die alten und gewissermaßen traditionellen Kern-funktionen der NATO nicht aus dem Blick verlieren. Da-mit meine ich nicht nur die Frage der Verteidigung; dazuist das Nötige gesagt worden. Diese bleibt natürlich einewesentliche Grundlage. Gerade in den Umbruchzeiten1989/90 war es wichtig, dass die neuen Demokratien Ost-und Mitteleuropas nicht allein eine nationale Sicherheits-politik betrieben haben, sondern dass sie sich in inte-grierte Streitkräftestrukturen und in ein europäisches ge-meinsames Sicherheitsdenken hineinbegeben haben. Dasinternationale Krisenmanagement, das in den 90er-Jah-ren so ungeheuer wichtig war, um Friedensprozesse über-haupt erst in Gang zu setzen und auch heute noch zu si-chern, wird eine bleibende Aufgabe der NATO sein. Wieschon vom Bundesaußenminister dargestellt, wird es inPrag ebenfalls wichtig sein, die partnerschaftlichen Be-ziehungen zu Russland, zur Ukraine, zum Kaukasus unddem Mittelmeerraum zu pflegen.Ich denke, dass diese Aufgaben nun unsere Aufmerk-samkeit brauchen. Dann wird es auch wichtig sein, dieneuen Kapazitäten – dazu werden andere Redner meinerFraktion sprechen – so zu gestalten, dass wir unseren Bei-trag dazu sowohl im Rahmen der NATO als auch im Rah-men der Europäischen Union leisten können. Dies musskompatibel sein.Auch muss klar bleiben: Die Bundeswehr, die dieseAufgaben für uns erfüllt, ist ein Heer dieses Parlamentsund dieses Parlament hat über seine Einsätze zu entschei-den.Ich danke Ihnen.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Werner Hoyer, FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! HerrKollege Meckel, Sie haben dem Kollegen Schäuble vor-geworfen, er habe auf „Bild“-Zeitungs-Niveau argumen-tiert, als er vom deutschen Abstiegsplatz gesprochen hat.Ich glaube, Sie tun nicht nur ihm Unrecht, sondern sichselbst, weil ich weiß, dass Sie auch andere Gazetten die-ser Welt lesen. Beim Lesen der Weltpresse werden Siefeststellen, dass die Weltöffentlichkeit fassungslos vor derTatsache steht, dass Deutschland seine Führungspositionin der Weltwirtschaft aufgrund eigener Reformunfähig-keit aufs Spiel setzt oder bereits verspielt hat und darüberMarkus Meckel
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002
Dr. Werner Hoyerhinaus sich noch der Möglichkeit begibt, große weltpoli-tische Entscheidungen mit zu beeinflussen, wie wir dasbei der Irak-Resolution der Vereinten Nationen gesehenhaben. Bei dieser Irak-Resolution ist festzustellen, dassder Weltsicherheitsrat und die dort Tätigen ein Meister-stück diplomatischer Kunst abgeliefert haben und das Er-gebnis nicht zuletzt dem beharrlichen Verhandlungsge-schick sowohl unserer amerikanischen, aber vor allenDingen auch einiger unserer europäischen Freunde, ins-besondere in Frankreich und auch in Russland, zu ver-danken ist. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich vonvornherein jeder Möglichkeit begeben, hierzu einen Bei-trag zu leisten. Dieses hätte eine Sternstunde europäischerDiplomatie sein können;
es ist eine Sternstunde französischer Diplomatie gewor-den, weil Deutschland darauf verzichtet hat mitzuwirken.Der NATO-Gipfel ist sicherlich viel mehr als ein Er-weiterungsgipfel. Es ist gut, dass die Entscheidungen überdie weiteren Beitritte jetzt in trockene Tücher kommen.Das ist eine große Entscheidung für Europa. Ich würde,Herr Meckel, von Vollendung aber erst sprechen, wennauch die Dimension der Europäischen Union dazukommt.Wir sollten das immer zusammen sehen und den Schluss-strich erst ziehen, wenn Kopenhagen ebenfalls unter Dachund Fach ist. Wichtig ist auch, dass die NATO Wort ge-halten hat. Die Tür ist nach der ersten Erweiterungsrunde,als die ersten drei Staaten beitreten konnten, nicht zuge-schlagen worden, wie es viele Partner in Europa befürch-teten.Prag ist viel mehr als nur Erweiterung. Die öffentlicheDiskussion in Deutschland wird natürlich von der Irak-Frage geprägt. Gleichzeitig erwarten viele fasziniert,wie die Verbiegungen aussehen werden, die die HerrenSchröder, Struck und Fischer auf sich nehmen, wenn sieihre Versuche der Wiederannäherung an die VereinigtenStaaten, an unsere amerikanischen Freunde, unterneh-men. Wir drohen dabei die wirkliche Substanz des NATO-Gipfels zu verschlafen.Die Amerikaner gehen mit klaren Vorstellungen nachPrag. Sie wollen zwölf Jahre nach Ende des Kalten Krie-ges eine neue NATO aus der Taufe heben, eine NATO, inder die europäischen Partner bereit sind, mehr Lasten zutragen, vor allen Dingen aber eine NATO, in der die Eu-ropäer für ihre amerikanischen Freunde auch militärischrelevant sind. Das ist für die Amerikaner sicherlich einwichtiger Punkt. Die Tatsache, dass die militärisch-tech-nologische Kluft in den letzten Jahren immer breiter ge-worden ist, muss endlich Konsequenzen haben. Genaudavon ist bei dieser Bundesregierung nichts zu spüren.
Wir Europäer sind von den neuen Sicherheitsbedrohun-gen – sie sind ja schon von zwei Rednern dargestellt wor-den – mindestens so stark betroffen wie unsere Freundejenseits des Atlantiks, wenn nicht deutlich stärker. WirEuropäer brauchen als Antwort auf diese neuen Bedro-hungen die NATO dringender als die Amerikaner; dasmuss uns stets bewusst sein.Umgekehrt müssen wir sehen: Wer über so viel Machtund militärische Überlegenheit verfügt wie die Amerika-ner, der ist natürlich ständig versucht, dem Unilateralis-mus das Wort zu reden. Wir spüren das seit dem Ende desKalten Krieges immer wieder. Dennoch haben sich dieAmerikaner letztendlich doch als bereit und bemüht er-wiesen, sich den neuen Bedrohungen multilateral zu stel-len. Das ist ihnen auch aufgrund der innenpolitischen De-batte nicht immer leicht gefallen, aber wir solltenanerkennen, dass sie es am Ende getan haben, übrigensauch nach dem 11. September, als viele in diesem Hauseder Meinung gewesen sind, die Amerikaner würden ohneRückkoppelung blindwütig draufschlagen. Hinterher wa-ren sie erstaunt, wie sehr sie sich rückgekoppelt haben,wie sehr sie Allianzen geschmiedet und eine weltweiteAktion ermöglicht haben. Das haben am Anfang manchehier nicht für möglich gehalten.Die Amerikaner sagen aber auch: In unserer neuenStrategie spielt die NATO eine wichtige Rolle. Die Ame-rikaner sind also durchaus bereit, der NATO eine Rollezuzuweisen. Wir Europäer müssen hingegen sehr vielmehr tun, als uns eine Nische zuweisen zu lassen. Wir sel-ber müssen die europäische Rolle in der NATO definierenund die eigene Handlungsfähigkeit im Rahmen der euro-päischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik herstellen.Wir müssen uns auf der Basis eines fundierten, gewisser-maßen mit konzeptioneller Klarheit und militärischerHardware unterlegten europäischen Selbstbewusstseinsder Strategiedebatte mit unseren amerikanischen Freun-den stellen. Wie weit sind wir davon eigentlich entfernt?Damit sind wir nach der wachsenden militärtechnolo-gischen bei der zweiten, möglicherweise noch gefährli-cheren transatlantischen Kluft. Das sicherheitspolitischeund das militärstrategische Denken in den USAhat sich inden letzten Monaten entscheidend weiterentwickelt. DieBush-Doktrin enthält neben Bekenntnissen zur friedli-chen Krisenprävention und Krisenbeilegung, zur Allianzund zum Völkerrecht das Prinzip der militärischenPräemption als eine zwingende Handlungsalternative.Amerika will sich angesichts der neuen Bedrohungennicht mehr ausschließlich auf die Wirksamkeit militäri-scher Abschreckung verlassen. Es will sich dann, wenndiese zu versagen droht, militärische Präventiveinsätzevorbehalten. Verglichen damit sind wir Europäer, speziellwir Deutschen, noch in der militärstrategischen Diskus-sion der 50er-Jahre gebunden. Die Amerikaner dürftenmit ihren Analysen so Unrecht nicht haben. Nukleare undkonventionelle Abschreckung, komplizierte konsensualeEntscheidungsprozesse und eine Beschränkung auf denWendekreis des Krebses mögen beim Umgang mit inter-national agierenden Terroristen, mit Problemen der Proli-feration von Massenvernichtungswaffen und mit Regio-nalkonflikten an ganz fernen Enden der Welt, diegleichwohl zu uns herüberschwappen können, nicht mehrausreichen. Dennoch dürfen wir das Kind nicht mit demBade ausschütten.
Das Beharren auf der Herrschaft des Völkerrechts, aufdem Gewaltmonopol der Vereinten Nationen, auf demVorrang friedlicher Konfliktlösung und Prävention ist et-
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was anderes als das Verharren in schönen europäischenIllusionen. Das ist der epochale Fortschritt vor allem in derzweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts, der aus unsererKultur und vor allen Dingen aus unseren historischenLernprozessen gespeist wurde. Man mag dies nicht 1 : 1auf den Rest der Welt übertragen können. Aber man darfdiesen Fortschritt auch nicht leichtfertig über Bord gehenlassen. Das bedeutet auch, dass dann, wenn Präemptionoder Prävention erforderlich sein sollten, die völker-rechtliche Einbindung wichtiger denn je und die Rolleder Vereinten Nationen von größerer Bedeutung als je zu-vor sind.
Noch ein Wort zur NATO-Response-Force: Natürlichist eine solche Truppe im Prinzip zu begrüßen. Aber ent-scheidende Fragen sind noch unbeantwortet. Es ist zumBeispiel nicht klar, welche Rolle die NATO-Response-Force im strategischen Konzept der Vereinigten Staatenspielen soll. Die „New York Times“ schreibt von einer„Fremdenlegion des Pentagon“. Das kann es ja wohl nichtsein. Wir stellen uns darunter mehr vor. Die Frage, wie dieNATO-Response-Force zu den geplanten europäischenKrisenreaktionskräften passt, ist ebenfalls unbeantwortet.Es darf ja wohl nicht sein, dass mit dem einen Projekt dasandere unterlaufen wird.
Wir müssen unsere eigenen Vorstellungen klar definieren.Wir müssen deutlich machen, dass wir uns hier nicht ab-koppeln lassen, und aufpassen, dass sich die amerikani-sche Lokomotive nicht von dem abkoppelt, was in Europageschieht. Wenn wir aber einen Platz im Führerhäuschender Lokomotive beanspruchen, dann müssen wir auchstarke Beiträge leisten.Wenn sich die NATO – damit komme ich zumSchluss – wirklich zu einer neuen NATO entwickelt, wer-den viele Partner, sicherlich auch wir, an verfassungs-rechtliche Grenzen stoßen. Wir werden uns bald fragenmüssen, ob der NATO-Vertrag wirklich all das hergibt,was die NATO tut und tun muss. Ich kenne das Argument,dass man einen besseren NATO-Vertrag so leicht nicht be-kommen werde. Auch ich sehe, dass Rot-Grün aus gutemGrunde eine Debatte über eine möglicherweise notwen-dige Anpassung des Grundgesetzes an die neuen Heraus-forderungen scheut wie der Teufel das Weihwasser; dennsonst würden alte Konflikte sehr schnell wieder aufbre-chen. Aber die Rechtsgrundlagen unseres Handelns sindnicht unbegrenzt dehnbar. Denken Sie nur an die verfas-sungsrechtliche Rolle des Bundestages bei jedem Mili-täreinsatz! Sie gilt auch für eine NATO-Response-Forceoder eine EU-Truppe.
Aus diesem Grund empfehle ich Ihnen sehr, sich mitdem Antrag, den die Fraktion der FDP zu der Frage derBeteiligung des Deutschen Bundestages bei Entscheidun-gen über Einsätze der Bundeswehr eingebracht hat, zu be-schäftigen. Wir werden die Rechte des Parlaments, das füreine Parlamentsarmee verantwortlich ist, zu wahren ha-ben, wenn die neuen Vorstellungen der NATO über ihreeigene Zukunft Wirklichkeit werden.Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Ludger Volmer,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! In der Rede von Herrn Schäuble war genau eine Er-kenntnis richtig, nämlich dass alles mit allem irgendwiezusammenhängt.
Das hat er bestens ausgedrückt. Aber es haperte schon ander Analyse, wie genau die Zusammenhänge aussehen.
Herr Schäuble, Sie haben richtig erkannt: Die Außen-politik ist ein äußerst komplexes Gebiet. Sie haben abernicht erkannt, dass man deshalb einzelne Bereiche be-trachten muss. Der Bundestag hat sich eine Tagesordnunggegeben, in der einzelne Aspekte behandelt werden. Wirbehandeln heute den NATO-Gipfel und nicht alle Aspekteder Sicherheitspolitik. Das haben wir am letzten Mitt-woch in der Debatte um Enduring Freedom getan undwerden es auch morgen tun. Ich bin mir sicher, dass derAußenminister morgen eine umfassende Grundlinie zurBekämpfung des internationalen Terrorismus vorstel-len wird. Das hat er im Auswärtigen Ausschuss übrigensschon getan. Wir haben auch gestern im Ausschuss, demSie ja angehören, darüber diskutiert. Als Herr Hanning da-vor warnte, Gerüchte über eine angebliche Bedrohung inDeutschland in die Welt zu setzen,
haben Sie gefehlt. Sie tun heute genau das, wovor derAuswärtige Ausschuss gestern gewarnt hat. Deshalb fälltdie Kritik, die Sie an der Bundesregierung geäußert ha-ben, auf Sie zurück.
Jeder ist sich darüber im Klaren, dass der Kampf gegenden Terrorismus eine militärische Dimension braucht. Dassagen auch diejenigen, die in der Vergangenheit militäri-schen Optionen außerordentlich zurückhaltend gegenüber-gestanden haben. Wir wissen aber auch, dass die Hauptele-mente des Kampfes gegen den Terrorismus politische seinmüssen und dass sich schon bei der Fragestellung entschei-det, wie die dazugehörige Strategie aussehen wird. Auch indiesem Punkt hat es in Ihrer Rede ganz erheblich gehapert.Wenn wir – darin sind wir uns völlig einig – den internatio-nalen Terrorismus als die Bedrohung Nummer eins ansehenund wenn wir festhalten, dass der Irak in den letzten Jahreneine massive Sicherheitsbedrohung dargestellt hat, dannDr. Werner Hoyer
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002
Dr. Ludger Volmermüssen wir uns die Frage stellen, in welchem Zusammen-hang die Bedrohung, die vom Irak ausgeht, mit dem inter-nationalen Terrorismus steht. Gedanken hierzu haben inIhrer Rede völlig gefehlt.Wenn man diese Frage stellt, dann ergibt sich notwen-digerweise die Antwort, dass es im Moment alles andereals sinnvoll wäre, die Gefährdung, die vom Irak ausgeht,ins Zentrum der internationalen Politik zu stellen. Das wardie Analyse, die die Bundesregierung – wie ich finde: völ-lig zu Recht – dazu gebracht hat, vor einem militärischenAngriff auf den Irak zu warnen. Wie richtig diese Politikist, hat sich spätestens gestern herausgestellt, als der Dik-tator Saddam Hussein den Brief bei der UNO hinterlegthat, in dem er zugesteht, dass die Inspekteure nun endlichins Land kommen können.
Es waren unsere Politik, die Politik der Bundesregie-rung, die völlig klaren Äußerungen des Bundeskanzlersund des Außenministers, die dazu geführt haben, dass dievor einigen Monaten anschwellende Diskussion darüber,ob man nicht militärisch eingreifen sollte, um SaddamHussein zu stürzen, nicht etwa um Inspektoren ins Land zubringen, abgeflaut ist und dass der multilaterale Weg, ver-mittelt über die UNO, eingeschlagen wurde, der vorsieht,die Inspekteure ins Land zu bringen, damit die Waffenar-senale von Saddam Hussein vernichtet werden können.Das ist ein Erfolg, den auch die deutsche Politik zusammenmit den Franzosen erzielt hat, die ständig konsultiert wur-den, die im Gegensatz zu uns Mitglied des Sicherheitsratessind und deswegen an der Resolution mitarbeiten konnten.Ich meine, der Bundestag sollte der Bundesregierung fürdie klare Haltung zur Irakpolitik Respekt zollen.
Herr Schäuble, Sie lassen, um es wohlwollend auszu-drücken, im Unklaren, ob Sie für Präventivschläge sind.Ich denke, dies impliziert, dass Sie Präventivschläge imPrinzip für möglich halten. Sie haben – genauso wie IhrKanzlerkandidat während des Wahlkampfs – eine Nicht-Position bezogen. Herr Stoiber hat nie klar gesagt, ob ermilitärische Optionen gegen den Irak für nötig hält. Statt-dessen hat er alles dazu gesagt: Anfangs fand er sie nötig,dann blies ihm die öffentliche Meinung ins Gesicht und erwar dagegen. Dann wurde er fischig und schlängelte sichdurch, indem er sagte: Eigentlich sind wir dagegen, wennaber alle anderen dafür sind, machen wir irgendwie mit. –Das war auch Ihre Position heute.
Wofür sind Sie denn nun? Sind Sie für eine militärischeOption gegenüber dem Irak oder nicht?Wenn Sie dagegen sind und das aussprechen, haben Sieein Diskussionsproblem mit unseren wichtigsten Freun-den und Partnern.
Im Moment gibt es einen sehr begrenzten Disput, der dasgrundlegend gute Verhältnis zu den Vereinigten Staatennicht berührt und nicht nachhaltig beeinträchtigt, wie wirbei den Besuchen des Außenministers und des Verteidi-gungsministers in Washington jetzt erleben konnten.
Herr Schäuble, wenn Sie Präventivschläge für möglichhalten, frage ich Sie: Wo führen diese eigentlich hin?Wem wollen Sie denn präventiv begegnen? Wer sind ei-gentlich die Länder oder Regionen, in denen die Gefähr-dungen, die Sie per Präventivschlag ausschalten wollen,am stärksten sind? Führt Sie Ihre Präventivschlagoptiontatsächlich gegen den Irak oder gibt es nicht ganz andereKandidaten, die ebenfalls auf der Liste stehen müssten?
Kollege Volmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Pflüger?
Bitte.
Herr Kollege Volmer, Sie haben eben, wie wir alle, be-
grüßt, dass Saddam Hussein einlenkt und die Waffen-
inspekteure ins Land kommen lässt. Stimmen Sie zu, dass
er sie weniger wegen der freundlichen Appelle der Bun-
desregierung, sondern eher wegen des internationalen
Drucks, der mögliche Militärschläge der internationalen
Staatengemeinschaft – leider unter Ausschluss der Bun-
desrepublik Deutschland – einschließt, ins Land kommen
lässt?
Herr Pflüger, ich stelle vor allen Dingen fest, dasssich – vermittelt durch die UNO und nach sehr intensivemEinsatz zahlreicher Staaten, unter anderem auch der Bun-desrepublik – jetzt die Linie durchsetzt, die wir im Wahl-kampf als wünschenswert vertreten haben, dass nämlichUNO-Inspekteure ins Land kommen, um die biologischenund chemischen Potenziale von Saddam Hussein zu be-seitigen.
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Wir freuen uns, dass wir diese UNO-Resolution mit denAmerikanern und allen anderen verabschiedet haben undauf dieser Basis gemeinsam wieder handlungsfähig wer-den.
Gestatten Sie eine Zusatzfrage des Kollegen Pflüger?
Bitte nicht. Im Ausschuss und kürzlich in öffentlichen
Fernsehdiskussionen gab es so viele Gelegenheiten dazu.
Es soll kein Dialog werden.
In diesem Zusammenhang möchte ich daran erinnern,
dass in Prag auch über die Mittelmeerdimension der
NATO-Politik gesprochen wird. Dieser Aspekt wurde von
einem Ihrer Redner in einer der letzten Debatten abgetan,
und zwar in dem Sinne: Mittelmeer, mein Gott, welches
Nebenthema. – Wir meinen, dass die Mittelmeerdimen-
sion der Sicherheitspolitik immer bedeutsamer wird. Un-
sere Nachbarn südlich des Mittelmeers sind nun einmal
arabisch-islamische Staaten. Wir haben völlig richtig ana-
lysiert, dass das Hauptproblem, nämlich der internatio-
nale Terrorismus, aus dieser gesamten Region stammt und
dort seinen Ursprung hat. Deshalb muss es in unserem un-
mittelbaren Interesse liegen, unsere sicherheitspolitische
Zusammenarbeit mit den arabisch-islamischen Staaten zu
verbessern.
Wir sehen, dass sich diese Zusammenarbeit unter an-
derem deshalb nicht richtig entfalten kann, weil der un-
gelöste Nahostkonflikt noch im Raum steht. Nun frage
ich Sie: Werden die Chancen, den Nahostkonflikt zu lö-
sen, durch militärische Optionen gegenüber dem Irak ver-
schlechtert oder verbessert? Unsere Analyse war völlig
eindeutig: Die Bedingungen für eine Lösung des Nahost-
konflikts würden durch einen militärischen Angriff auf
den Irak verschlechtert.
Der Nahostkonflikt ist nicht nur irgendein Konflikt,
sondern an ihm macht sich viel Frustration in der ara-
bisch-islamischen Welt fest. Über die Frage, ob dies zu
Recht oder zu Unrecht der Fall ist, kann diskutiert werden.
Wenn aber die Frustration, die mit den Nährboden für den
Terrorismus bildet, abgebaut werden soll, dann muss sich
die Strategie der internationalen Politik darauf richten,
den Nahostkonflikt energisch anzupacken und zu lösen,
statt einen weiteren in der Tat vorhandenen Konflikt über
die Schwelle der militärischen Eskalation zu führen.
Deshalb waren wir dagegen, dass der Konflikt mit dem
Irak militärisch eskaliert. Deshalb waren wir für die
UNO-Lösung bzw. für die Entsendung von Waffenin-
spektoren und deshalb sind wir mit der UNO-Resolution
einverstanden. Wir hoffen, dass die internationale Ge-
meinschaft die Kraft hat, Saddam Hussein zu nötigen, alle
Bedingungen zu erfüllen, die ihm gestellt worden sind.
Das wäre für die Regionalpolitik im Nahen Osten sicher-
lich ein Segen und würde die Rahmenbedingungen er-
heblich verbessern, um sowohl konstruktiv auf den Nah-
ostkonflikt einzuwirken als auch dem internationalen
Terrorismus beizukommen.
Lassen Sie mich noch einen Satz zur NATO-Erweite-
rung sagen. Ich erinnere mich an die Diskussion vor fünf
Jahren im Plenum, als sehr viel Skepsis zum Ausdruck ge-
bracht wurde. Ich nehme mich selbst nicht davon aus; ich
gehörte damals eher zu den Kritikern, die ihre Befürch-
tungen vorgebracht haben. Heute kann ich feststellen,
dass sich zum Glück alle Befürchtungen nicht erfüllt ha-
ben. Das hängt damit zusammen, dass die NATO-Erwei-
terung damals durch begleitende Strategien, wie den
NATO-Russland-Pakt, den NATO-Ukraine-Pakt und die
transatlantische Partnerschaft flankiert wurde. All diese
Maßnahmen stehen nicht nur auf dem Papier, wie da-
mals befürchtet wurde, sondern sie wurden mit Leben
erfüllt.
Wir sehen heute mit großer Genugtuung, dass diese Si-
cherheitspartnerschaft mit Russland bei allen Streitpunk-
ten – Tschetschenien ist der wichtigste – gewachsen ist.
Von daher beurteilen wir es nicht mehr mit Skepsis, son-
dern begrüßen es, dass weitere mittel- und osteuropäische
Staaten in die NATO aufgenommen werden. Dabei han-
delt es sich um einen wichtigen Schritt, um den Transfor-
mationsstaaten Stabilität zu verschaffen und Sicherheit in
den mittel- und osteuropäischen Raum zu exportieren.
Wir meinen, dass eine in diesem Sinne erweiterte NATO,
die eng mit der OSZE und dem Europarat zusammenar-
beitet, einen wichtigen Schritt zu einem System koopera-
tiver Sicherheit darstellt, das sich unter Anerkennung der
Zuständigkeiten der UNO für die globalen Fragen um die
Sicherheit im gesamten Raum zwischen Vancouver und
Wladiwostok bemühen wird. Dabei handelt es sich um
eine sehr positive Entwicklung. Wir ermuntern die Bun-
desregierung, in Prag mit demselben Selbstbewusstsein,
mit dem sie in den vergangenen Monaten Außenpolitik
betrieben hat, zu verhandeln.
Nun hat der Kollege Dr. Gerd Müller, CDU/CSU-Frak-
tion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Die Rede von Herrn Volmer zur NATO kann man nurverstehen, wenn man einige Jahre zurückblickt. Vor achtJahren waren die Grünen noch für die Auflösung derNATO und einige Jahre davor wurden bei öffentlichenGelöbnissen noch „Mörder, Mörder!“-Rufe skandiert. –Das ist der Hintergrund.
Dr. Ludger Volmer
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Dr. Gerd MüllerDie NATO ist kein Aggressionsbündnis, Herr Volmer,sondern ein Friedensbündnis.
Ich würde sogar sagen, die NATO ist die größte Friedens-und Freiheitsbewegung in Europa. In Prag findet in derTat ein historischer Gipfel statt.Ich habe in der Vorbereitung auf diese Debatte die Pro-tokolle der großen NATO-Debatte gelesen, die 1955 imDeutschen Bundestag stattfand. Mit Blick auf die EinheitEuropas und den Beitritt der Bundesrepublik Deutschlandzur NATO – schließlich muss heute besonders den jungenLeuten das Bild der NATO nach innen und außen erklärtwerden – hat Bundeskanzler Konrad Adenauer am15. Dezember 1954 in dieser Debatte erklärt:Mit dem Abschluss der Pariser Verträge wird dieBundesrepublik eine sichere Basis gewinnen, vonder sie die Politik der Wiedervereinigung mit Be-dacht führen kann. ... Die Verwirklichung der Ver-träge gewährleistet der Bundesrepublik Wohlfahrt,Freiheit und Sicherheit.Adenauer hatte Recht und er bekam von der GeschichteRecht.
Wenn ich aus der Debatte von damals weiter zitierenwürde, dann würde ersichtlich – das wissen Sie sehrwohl –, dass Sie von der SPD damals gegen den BeitrittDeutschlands zur NATO gestimmt haben. Die NATO alsVerteidigungs- und Wertebündnis, die Freundschaft zuAmerika und den NATO-Partnern waren für uns inDeutschland und in Europa der Garant der Sicherheit, desFriedens, der Freiheit und der Demokratie.Zum historischen Gipfel in Prag. In der Debatte am27. Februar 1955 hat von Brentano ausgeführt – daranwird deutlich, welche Entwicklung wir die letzten50 Jahre genommen haben –:Immer stärker empfinden wir, dass der Zweite Welt-krieg im Jahre 1945 keinen Abschluss gefunden hatund dass die Waffenruhe, die vor nunmehr zehn Jah-ren eingetreten ist, nur scheinbar einen Friedenszu-stand geschaffen hat. ... So ist es nicht gelungen, dieLänder am östlichen Rande des europäischen Konti-nents zu befrieden. Sie wurden nicht befreit, sondernerobert und mit den Mitteln des Terrors und der Un-terdrückung in den sowjetischen Machtbereich ein-gegliedert.Mit dem Gipfel von Prag ist auch für diese Länder dieSpaltung Europas überwunden. Das ist die große histo-rische Bedeutung dieses Gipfels.
Nach Polen, Ungarn und Tschechien – dafür habenHelmut Kohl und Volker Rühe die Voraussetzungen ge-schaffen – werden jetzt die baltischen Staaten, Slowenien,die Slowakei, Bulgarien und Rumänien dem westlichenFriedensbündnis beitreten können. Die Tür bleibt auchfür eine noch engere Zusammenarbeit mit Russlandoffen.Für uns, die mittlere Generation – ich bin 1955 gebo-ren –, war und ist es ein Traum: Europa in Frieden und inFreiheit. Aber leider ist dieser Traum nicht Realität ge-worden. Wir erleben die Bedrohung durch den internatio-nalen Terrorismus: die Anschläge vom 11. September 2001,in Bali und in Moskau. Saddam Hussein ist der gefährlichs-te Diktator der Welt und fordert uns heraus. Er droht mit demEinsatz von Massenvernichtungswaffen. Der Gipfel vonPrag muss ein Signal der Entschlossenheit und Solidaritätnach Bagdad geben. Wir in der NATO stehen an der Seiteder Amerikaner bei der Durchsetzung der UN-Resolution.Es darf keinen deutschen Sonderweg geben.
Herr Bundesaußenminister, Herr Bundeskanzler, nachdem 11. September 2001 haben Sie den Amerikanern dasVersprechen der „uneingeschränkten Solidarität“ gege-ben. Dann war Wahlkampf und es kam die Kehrtwende:Sie stempelten Bush zum Aggressor dieser Welt. Jetztstellt sich die Frage: Wie kommen Sie aus dieser Situationwieder heraus? Mit ein paar Fernsehbildern und kurzenSmalltalks in Washington gelingt Ihnen das nicht. Wiekommen Sie aus der Ecke der internationalen Isolation imBündnis und in der Weltvölkergemeinschaft heraus? HerrBundesaußenminister, Herr Bundeskanzler, der Preisdafür kann nicht der Beitritt der Türkei zur EuropäischenUnion sein.
Für dieses Kompensationsgeschäft auf dem Gipfel inKopenhagen haben Sie kein Votum, keine Mehrheit imVolk. Dies ist im Übrigen nicht der richtige Weg.Die Türkei ist in Europa und in der NATO ein heraus-gehobener Partner. Ich betone das, damit es nicht zu Miss-verständnissen kommt. Wir wollen Sonderbeziehungenund einen ehrlichen, offenen Weg der Kooperation undZusammenarbeit mit der Türkei. Volker Rühe hat einenWeg dazu angedacht. Es gibt weitere Möglichkeiten derEntwicklung von Sonderbeziehungen. Aber der Preisdafür, aus der internationalen Isolation herauszukommen,kann nicht die Vollmitgliedschaft der Türkei in der Euro-päischen Union sein.
Noch nie seit 1949 hat ein deutscher Bundeskanzler,innenpolitisch motiviert, außenpolitisch einen solchenSchaden angerichtet. Saddam Hussein bedroht mit einemArsenal von biologischen und chemischen Kampfwaffen,mit Terrorkommandos und Trägerraketen, mit Milz-branderregern, Nervengas und Pockenviren auch Berlin,Düsseldorf, Frankfurt.
– Natürlich auch die Menschen in München. Herr Bun-desaußenminister, es ist nicht Ihre Pflicht, auf der Regie-rungsbank zu gähnen, ein gelangweiltes Gesicht zu ma-chen und dann wieder fröhlich dreinzublicken. Sieerinnern mich an den Violinisten auf der „Titanic“: La-
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chen bis zum Untergang. – Sie werden dem Ernst der Lagenicht gerecht.
Es ist die Pflicht der Bundesregierung, der Öffentlich-keit die Wahrheit über den Ernst der Gefährdung mitzu-teilen. Herr Bundesverteidigungsminister, Sie werden imAnschluss reden. Ich frage Sie: Warum warnen die Ge-heimdienste vor Anschlägen in Deutschland? Wie schüt-zen Sie die Bevölkerung in Deutschland und in Europa?Die Kernfrage: Welchen Beitrag wird Deutschland leis-ten, wenn Saddam die Forderungen der UN nicht erfüllt?Sie drücken sich um die Beantwortung genau dieser Kern-frage: Welchen Beitrag ist Deutschland in der Weltvöl-kergemeinschaft zu leisten bereit, wenn Saddamdiese Forderung der UN nicht erfüllt? Taten sind gefragt,meine sehr verehrten Damen und Herren. Es geht darum,Saddam zu entwaffnen.
Die Entwaffnung von Saddam ist nur mit unserenPartnern und nur mithilfe unserer amerikanischenFreunde möglich, nicht durch einen deutschen Sonder-weg, nicht durch einen Alleingang. Wir fordern Sie, HerrBundeskanzler und Herr Bundesaußenminister, deshalbdazu auf: Korrigieren Sie Ihre antiamerikanischen Äuße-rungen und korrigieren Sie Ihre politische Fehleinschät-zung! Fehler in der Wirtschafts- und Finanzpolitik sindfür jeden Bürger messbar. Wir erleben es dieser Tage. Esist eine katastrophale Bilanz: blauer Brief, 4,2 MillionenArbeitslose usw. Es ist eine lange Reihe. Fehler in derAußenpolitik sind unermesslich und Sie haben auf diesemGebiet unermessliche Fehler gemacht.Machen Sie auch gegenüber der deutschen Bevölke-rung klar, dass Saddam der Feind ist, der unsere innere Si-cherheit und unser Leben bedroht! Machen Sie deutlich,dass die Durchsetzung der UN-Resolution der Weg zuFrieden und Sicherheit ist! Wir können hierbei nicht ab-seits stehen. Prag muss dazu ein Signal setzen. Wir müs-sen dabei aktiv mitwirken.
Eine Schlussbemerkung. Herr Struck, in Prag geht esnatürlich auch um die Frage der NATO-Weiterentwick-lung. Wir sagen ein klares Ja zur NATO-Eingreiftruppeim Sinne von Art. 5. Natürlich sind die Fragen der euro-päischen Eingreiftruppe und der NATO-Response-Forceoffen. Beide Organisationen stehen auf dem Papier, sindPapiertiger. Wie finanzieren Sie diese Projekte? Wir brau-chen Investitionen beim strategischen Transport – Trans-portflugzeug –, bei der Kommunikation, bei der Auf-klärung usw. Herr Bundesverteidigungsminister, neueSchwerpunkte im Sicherheitsbereich bedeuten auch, dassdem im Verteidigungshaushalt Rechnung getragen wer-den muss. Wir brauchen eine moderne und mobile Bun-deswehr. Deshalb ist Ihr Kurs, die Bundeswehr jetzt ka-puttzusparen, unsere Soldaten ohne modernstes Gerät undohne beste Ausrüstung in Auslandseinsätze zu schicken,falsch und unverantwortlich. Sie müssen zu der Frage, mitwelchem Risiko deutsche Soldaten in einen Einsatz in Ka-bul, in Afghanistan geschickt werden, Stellung beziehen.Herr Verteidigungsminister, wo sind Ihre Vorschläge füreine gemeinsame Streitkräfteplanung in Europa und füreine Koordinierung der Verteidigungshaushalte? Wo sinddie Vorschläge zur Vergemeinschaftung der Sicherheits-politik in Europa? Das ist ein eigenes Thema.In der derzeitigen Bedrohungslage brauchen wir denSchulterschluss mit Amerika. Wir brauchen den Schulter-schluss im Bündnis. Unsere Bürger erwarten in diesenKernfragen auch den Konsens in diesem Haus. Die Unionstellt sich ihrer Verantwortung.Danke schön.
Ich erteile Bundesminister Peter Struck das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Nach den Beiträgen der Oppositionsredner zum PragerGipfel fragt man sich: In welcher Welt leben Sie eigentlich?
Was glauben Sie denn, was wir in den Ausschusssitzun-gen über die internationale Bedrohung vorgetragen ha-ben? Ich kann mir Ihren Beitrag, Herr Schäuble, nur da-durch erklären, dass Sie bei den Ausschusssitzungen nichtanwesend gewesen sind.
Wir informieren die Abgeordneten in den Ausschüssenüber die Bedrohungslage und wir diskutieren sogar hierim Parlament darüber. Angesichts dessen lasse ich mirvon Ihnen nicht den Vorwurf gefallen, wir ließen dieDeutschen in Unsicherheit. Das ist ein unredlicher Vor-wurf, aber bei Ihnen nicht neu.
Nun will ich etwas zu dem Prager Gipfel sagen.Erstens. Es muss völlig klar sein, dass wir in einer his-torischen Situation sind und dass neue Aufgaben auf unszukommen, übrigens auch auf diejenigen Länder, die wirzu Beitrittsverhandlungen auffordern. Das ist nicht ein-fach. Ich habe darüber in der letzten Woche mit dem bul-garischen Präsidenten gesprochen. Was die Verbesserungihrer militärischen Fähigkeiten und ihrer Infrastrukturein-richtungen angeht, kommt einiges auf diese Länder zu. Eswird ein langer Weg für diese Länder sein. Trotzdem sindwir froh, dass dieser Schritt gelingt. Es ist eine konse-quente Fortsetzung des begonnenen Weges und ich hoffe,dass noch weitere Länder Mitglieder der NATO werden.
Dr. Gerd Müller
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Bundesminister Dr. Peter StruckAuf dem Prager Gipfel geht es natürlich auch um dieVerbesserung unserer militärischen Fähigkeiten. DieBundesregierung klärt im Moment mit ihren NATO-Part-nern ganz intensiv ab, an welcher Stelle die militärischenFähigkeiten verbessert werden können. Deutschland hatin vielen Bereichen sogar die Federführung bei der Ver-besserung dieser Fähigkeiten übernommen, zum Beispiel– um nur einen Fall zu nennen – bei Medical Care. Wirdiskutieren zurzeit darüber, ob wir zwischenzeitlich überInterimslösungen eine Lufttransportkapazität schaffenkönnen, bevor die A400M geliefert werden, was auch un-ter Federführung der Bundesregierung geschieht. Dasheißt, in vielen einzelnen Panels – so werden diese Berei-che in NATO-Kreisen genannt – gibt es eine Verbesserungder militärischen Fähigkeiten.Wir müssen natürlich auch bündeln und Konzentratio-nen vornehmen. Ich sage Ihnen, Herr Kollege, der Sie vormir gesprochen haben: Ich handele natürlich auch im Hin-blick auf die Haushaltssituation in der BundesrepublikDeutschland. Ich mache das, was wir dort angemeldet ha-ben und was nachher umgesetzt wird, selbstverständlichauch von meinen finanziellen Möglichkeiten abhängig.Ich verspreche der NATO in Prag keinerlei Luftschlösser.Diese kann und will ich nicht verantworten.
Ich verstehe allerdings überhaupt nicht, wie Sie zu demSchluss kommen, ich sorgte nicht dafür, dass unsere Sol-daten ordentlich ausgestattet sind. Ich will Ihnen hier nocheinmal sagen – wir werden morgen im Zusammenhangmit Enduring Freedom und vor allen Dingen im Dezem-ber, wenn es um die Fortsetzung des ISAF-Mandats geht,darüber reden –: Unsere 9 500 Soldaten, die im Ausland,auf dem Balkan und vor allen Dingen in Afghanistan,sind, sind so ausgestattet, wie es erforderlich ist. Sie ha-ben den Schutz, auf den sie zur Erfüllung dieses schwie-rigen Mandats einen Anspruch haben. Die Bundeswehrverfügt dafür über eine gute Ausstattung. Was diese Aus-sage angeht, machen wir keine Abstriche, Herr Kollege.Ich will gar nicht bestreiten, dass wir im Zusammen-hang mit den Finanzproblemen, die sich aufgrund derwirtschaftlichen Entwicklung ergeben haben, natürlichauch über den Verteidigungshaushalt nachdenken. Werwäre ich denn, wenn ich bestreiten würde, dass auch dasVerteidigungsministerium einen Beitrag zum Konsolidie-rungskurs leisten muss. Aber tun Sie doch nicht so, alsstellten wir unser Land damit schutzlos! Diesen Eindruckhat Herr Schäuble zu erwecken versucht. Das ist typischSchäuble und das ist typisch falsch.
Ich komme auf die NATO-Response-Force zu spre-chen. Die Vorschläge, die die Amerikaner zunächst inWarschau unterbreitet haben und die vor kurzem konkre-tisiert worden sind, begrüßen wir. Es gibt natürlich dieGefahr – das haben die Redner der Opposition und derKollege Markus Meckel völlig zu Recht angesprochen –,dass es Kollisionen mit der EU-Truppe – wir sind dabei,sie aufzubauen – gibt. Ich kann Ihnen nur sagen: Wir wer-den kein Konkurrenzverhältnis zulassen, das daraus er-wächst, dass man dem Motto „Es gibt jetzt nur noch dieNATO-Response-Force; die europäische Sicherheits- undVerteidigungspolitik vergessen wir“ folgt. Wir setzen zu-sammen mit Javier Solana auf die Weiterentwicklung dereuropäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
Das ist unsere Aufgabe. Ich denke, darüber besteht zwi-schen der Opposition und uns Konsens. Es ist gut, dasswir diesen Konsens haben. Man muss die weiteren Ent-wicklungen dann im Einzelnen abklären.Es gibt Vorschläge der Amerikaner, die von einerTruppe von 21 000 Soldaten ausgehen. Wir haben in deninternen Vorbesprechungen dazu erklärt, dass wir uns vor-stellen können, Einheiten der Marine, der Luftwaffe unddes Heeres für eine solche Truppe bereitzustellen. Aberdas muss noch abgeklärt werden. Mir sind in diesem Zu-sammenhang zwei Dinge wichtig.Erstens. Auch wenn es zu einer NATO-Response-Force kommt, gilt das Konsensprinzip. Das heißt nicht:Einer bestimmt und die anderen müssen mitmachen. Viel-mehr müssen alle 19 NATO-Mitglieder – später werden es26 sein – entscheiden.
Zweitens. In diesem Zusammenhang muss man die be-sondere verfassungsrechtliche Situation in unserem Landbedenken. Das heißt, es wird vor jedem Einsatz einer sol-chen NATO-Response-Force mit deutscher Beteiligungeinen Bundestagsbeschluss geben müssen. Das muss manwissen. Wir lassen den Parlamentsvorbehalt nicht ein-fach fallen; das dürfen und wollen wir nicht.
– Darüber kann man dann reden, wenn es so weit ist. – Beider NATO-Response-Force sind wir noch gar nicht soweit. Nehmen wir einmal an, diese würde tatsächlich indie Tat umgesetzt: Nach den bisherigen Planungen istdann davon auszugehen, dass diese Truppe nicht vor demJahr 2004 bereit wäre, die entsprechenden Aufgaben zuübernehmen. Wir werden uns das alles genau und in Ruheüberlegen und darüber auch in den Ausschüssen diskutie-ren. Aber dass unser Verfassungsrecht gilt, daran willwohl keiner rütteln, auch Sie nicht.Lassen Sie mich noch etwas zum Verhältnis zwischenden Vereinigten Staaten von Amerika und unserem Landsagen: Sie haben hier ein Zerrbild gezeichnet. Ich kann ab-solut nicht bestätigen, dass alles ganz katastrophal sei. Ichhabe ein angenehmes und freundliches Gespräch mit mei-nem Kollegen Donald Rumsfeld geführt. Ich habe aller-dings den Eindruck, dass es Ihnen von der CDU lieber ge-wesen wäre, wenn wir uns geprügelt hätten. Diesen Gefallenwollte ich Ihnen aber nicht tun, meine Damen und Herren.
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– Nein, ich hätte nicht den Kürzeren gezogen. – Wir ar-beiten eng zusammen und diese enge Zusammenarbeitwird natürlich fortgesetzt werden. Rumsfeld und ich ha-ben vereinbart, dass wir uns auch am Rande des Gipfelsvon Prag noch über verschiedene bilaterale Fragen unter-halten.Der Kollege Donald Rumsfeld hat gesagt – lassen Siemich das hier auch noch darstellen –, dass er dankbar fürden Beitrag ist, den Deutschland im Kampf gegen den in-ternationalen Terrorismus leistet. Zu Recht ist er dafürdankbar.
Wir sind nach den Vereinigten Staaten von Amerika dasLand, das das größte Kontingent stellt. Andere, die Siehier lobend erwähnen, stehlen sich langsam aber sicherschon wieder durch die Hintertür heraus: So reduziereneinerseits Staaten bei ISAF in Afghanistan oder auf demBalkan ihre Kontingente, beschwören aber andererseits inmächtigen Worten die internationale Solidarität. Wirbrauchen uns nichts vorwerfen zu lassen. Es ist gut, dassdie amerikanische Administration das auch im Rahmenmeiner Gespräche mit Donald Rumsfeld anerkannt hat.Unsere Zusammenarbeit wird sich weiterhin gut ent-wickeln.
Nun haben sich gestern die Amerika-Experten,Herr Pflüger und andere, darüber aufgeregt, dass HerrRumsfeld auf die Frage, wie er heute die Beziehungen be-urteile, gesagt hat, sie seien „unpoisoned“. Ich habe ihmgesagt, er habe eine sehr gute Antwort gegeben. Das Wortvon den vergifteten Beziehungen traf nämlich nicht dieRealität der deutsch-amerikanischen Beziehungen undstammte nicht von Rumsfeld, sondern, wie wir wissen,anderswoher.
Wir Verteidigungsminister untereinander haben gute Ar-beitsbeziehungen. Manche sagen, dass die Persönlich-keitsstrukturen von Rumsfeld und mir in etwa gleichgelagert seien und uns das helfen würde. Das gilt fürdie Arbeitsebene ohnehin. Es hat zwischen Deutschlandund Amerika bei der Vorbereitung der „Prague Capabili-ties Commitment“-Gespräche nie Probleme gegeben.Das haben Sie allerdings nicht mitbekommen, weil Siean solchen Gesprächen als Opposition nicht beteiligtsind; Sie können kritisieren, die Regierung muss arbei-ten.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort Kollegen Karl Lamers, CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Herr Minister Struck, wenn überhaupt jemand in die-sem Haus in einer Traum- und Scheinwelt lebt, dann ist esdie rot-grüne Bundesregierung und insbesondere derenVerteidigungsminister, der hier den Eindruck zu erweckenversucht, als befinde sich die Bundeswehr in einem Top-zustand, als sei sie top ausgerüstet, finanziell gut ausge-stattet und in der Lage, glaubwürdig ihren Beitrag in derNATO zu leisten. Das Gegenteil ist der Fall. Sie, meineDamen und Herren, tragen für diesen Zustand die Verant-wortung.
Der NATO-Gipfel in Prag stellt eine historische Weg-marke dar. Wir freuen uns, dass nach der ersten Öffnungim Jahre 1999 nun weitere Länder die Chance bekommen,Mitglied der NATO zu werden. Dies stärkt die Stabilitätin Europa.Aber eines muss an diesem Tag auch gesagt werden:Das Tor der Allianz muss auch in Zukunft für neue Mit-glieder offen bleiben. Der Wappenspruch der NATO,„Wachsamkeit ist der Preis der Freiheit“, ist unverändertgültig. Verändert aber hat sich die Welt, in der wir leben.Grundlegend verändert haben sich die Gefahren, denenwir uns heute, 53 Jahre nach Gründung der NATO, aus-gesetzt sehen. Bedroht sind wir von der unheiligen Alli-anz des internationalen Terrorismus und von Massenver-nichtungswaffen.Deshalb stellt sich für mich die zentrale Frage so: Istdie NATO heute ausgerichtet auf die neuen Gefahren? Istsie in der Lage, unsere Bürger so zu schützen, wie sie daszu Zeiten des Kalten Krieges über viele Jahrzehnte erfolg-reich getan hat? Haben wir gegenüber diesen globalen Be-drohungen eine gemeinsame Strategie im Bündnis? Und,Herr Minister Struck, haben wir wirklich die notwendigenmodernen militärischen Fähigkeiten?
Was tut eigentlich diese Bundesregierung, um alszweitgrößtes NATO-Land einen wesentlichen Beitrag zurSicherheit in Europa und in der Welt zu leisten?
Diese Bundesregierung, der Bundeskanzler, der Außen-minister und weite Teile von Rot-Grün haben im Wahl-kampf unserem Land und der NATO schwersten Schadenzugefügt.
In einer Art spontaner Wahlkampfeinlage mit Ihrer Total-verweigerung, die quasi in dem Spruch gipfelte: „Nur werSchröder wählt, wählt den Frieden“, haben Sie Deutsch-land als Bündnispartner isoliert und so einen dramati-schen Vertrauensverlust heraufbeschworen.
Das Gewicht unseres Landes als zuverlässiger Bünd-nispartner wurde minimalisiert. Das war Ihnen egal. DieBundesminister Dr. Peter Struck
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Dr. Karl A. Lamers
Drohkulisse gegenüber dem Irak wurde durch die Haltungder deutschen Regierung geschwächt. Auch das hat Sienicht gestört. In der deutschen Öffentlichkeit entstand garder Eindruck, die USA seien gefährlicher als die Massen-vernichtungswaffen des irakischen Diktators SaddamHussein. Wundern Sie sich da, dass die Medien im Irak überdiese unvermutete Schützenhilfe aus Deutschland jubelten?Die lange Geschichte der NATO zeigt eines deutlich:Die Stärke unseres transatlantischen Bündnisses lag undliegt in der Solidarität seiner Mitglieder, im Konsens undin der Geschlossenheit des Handelns.
Darum haben Sie sich keinen Deut geschert, ganz nachdem Motto: Lieber ohne Skrupel wieder ins Amt als se-riös in die Opposition.
– Bleiben Sie ruhig und hören Sie zu, da können Sie nochetwas lernen!Ihnen ging es um Wahlkampf pur. Für die Operation„Wiederwahl“ waren Sie bereit, jeden Preis zu zahlen.Jetzt muss Schluss sein mit einem deutschen Sonderweg!
Gehen Sie heraus aus Ihrer selbst verursachten Isolierung!Beseitigen Sie durch glaubwürdiges Handeln allen Zweifelan der bündnispolitischen Verlässlichkeit Deutschlands!Um es hier einmal auf den Punkt zu bringen: Die Ver-einigten Staaten von Amerika sind nicht nur unsere Ver-bündeten, sie sind auch unsere Freunde.
Seit Konrad Adenauer bis hin zu Helmut Kohl sind wirstets vertrauensvolle Freunde Amerikas gewesen. Dasmuss wieder so werden. Jeder weiß, was wir Amerika ver-danken. Jeder weiß aber auch, dass dies im ureigenstendeutschen Sicherheitsinteresse liegt. Allein sind wir aufverlorenem Posten.
Nur so gewinnt Deutschland Einfluss und die Chance, Po-litik auf internationaler Ebene wieder entscheidend mit-zugestalten, zurück. Frankreich und Großbritannien ha-ben Ihnen gezeigt, wie man es macht.Im Bundesrat hat der Bundeskanzler den netten Satzgesagt: Erst das Land, dann die Partei.– Ja, Herr Bundes-kanzler, das gilt auch international: Erst das Land und dasBündnis, dann lange gar nichts und dann, wenn über-haupt, die Partei. Halten Sie sich daran im Interesse unse-res Landes und des Bündnisses!
Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen, HerrMinister Struck. Als Verteidigungspolitiker treiben michunsere militärischen Fähigkeiten um. Sie übernehmenseit Jahren immer wieder neue Verpflichtungen in derNATO, in der Europäischen Union und in den VereintenNationen. Sie verpflichten sich, im Rahmen der DefenseCapability Initiative der NATO wichtige Beiträge zu leis-ten. Sie geben Erklärungen ab und Ihre Pläne füllen Tau-sende von Seiten. Nur eines haben Sie vergessen, nämlichIhren Erklärungen auch Taten folgen zu lassen.
Seit Jahren ist die Misere im Bereich des Verteidi-gungshaushaltes offensichtlich. Es gibt nicht mehr, son-dern immer weniger Geld für immer mehr Aufgaben. Umschöne Worte sind Sie nie verlegen. Reales Minus heißtbei Ihnen „Verstetigung“. Aber die Bundeswehr brauchtkeine Lyrik, sondern sie braucht Zuwendung und mehrGeld
sowie eine bessere Ausrüstung und eine bessere Ausstat-tung. Nach der Wahl folgt nun die Krönung des Ganzen:nochmals eine halbe Milliarde Euro weniger für den Ver-teidigungshaushalt.Ich frage Rot-Grün und den Minister: Wo sind denn dieHaushaltsmittel, mit denen die Bundeswehr modernisiertwerden soll und Fähigkeiten wie strategische Aufklärungund Lufttransport ausgebaut und gesteigert werden sol-len? Wie wollen Sie, Herr Minister Struck, sicherstellen,dass Europa technologisch nicht noch weiter von Amerikaabgehängt wird?Eine dritte Anmerkung. Auf der Tagesordnung in Pragsteht das Projekt einer schnellen Eingreiftruppe, NATO-Response-Force, mit der das Bündnis auf Bedrohungendurch Terrorismus und Massenvernichtungswaffen rea-gieren soll. Alle spüren, dass wir bedroht sind. Deswegenmüssen wir etwas tun. Um keinen Zweifel aufkommen zulassen: Wir unterstützen dieses Vorhaben; es dient unsererSicherheit.
Aber auch hier gilt das, was ich zuvor gesagt habe: Esreicht nicht aus, dass die Bundesregierung auf Gipfelkon-ferenzen den „strammen Max“ spielt, aber anschließendin Deutschland den Geldhahn zudreht. So kann es in derSicherheitspolitik nicht weitergehen.
Wachsamkeit ist der Preis der Freiheit. Geschlossen-heit und mehr Geld für Verteidigung ist der Preis für un-sere Sicherheit. Deshalb unsere Forderung an Sie: StellenSie sicher, dass Deutschland tatsächlich einen substan-ziellen Beitrag leisten kann und achten Sie darauf, dass eszu sinnvollen Ergänzungen und nicht zu doppelten Struk-turen und zu Konkurrenz zu den ebenfalls wichtigen unddringend erforderlichen europäischen Krisenreaktions-kräften kommt! Unsere Sicherheit kann heute an jedemPunkt der Erde herausgefordert werden. Dieser Heraus-forderung muss sich die NATO als Ganzes stellen. Die
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NATO-Response-Force wird auch für uns Deutsche inZukunft ein wesentlicher Garant unserer Sicherheit sein.Die Botschaft lautet: Deutschland muss wieder ein be-rechenbarer Partner im Bündnis werden, auf den man sichauch in Krisenzeiten verlassen kann. Dazu wollen undmüssen wir alle einen glaubwürdigen Beitrag leisten, ins-besondere aber die Damen und Herren der Bundesregie-rung und von Rot-Grün.Ich danke Ihnen.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Winfried Nachtwei,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Beim bevorstehenden NATO-Gipfel in Prag steht im Mit-telpunkt des öffentlichen Interesses, wie auf die neuenHerausforderungen des internationalen Terrorismus ge-antwortet werden soll. Darüber scheint mir aber das an-dere Thema, nämlich die zweite NATO-Osterweiterung,zu sehr in den Hintergrund zu treten, als sei es nur einRoutinevorgang. Das ist es aber ganz und gar nicht.Tatsächlich ist die bevorstehende Einladung an siebenStaaten in Mittelost- und Südosteuropa ein historischerSchritt mit erheblich stabilisierender Wirkung für Europa.
Das wird besonders deutlich, wenn wir uns die Situationaus der Perspektive der beteiligten Staaten ansehen.Ich nenne zunächst das Baltikum. Vor 62 Jahren wurdedas Baltikum von der Sowjetmacht und vor 60 Jahren vonder deutschen Wehrmacht besetzt. Ein großer Teil der bal-tischen Juden war zu diesem Zeitpunkt schon ermordetworden. Vor 58 Jahren wurde das Baltikum von den Na-zis befreit und dann wieder der sowjetischen Herrschaftunterworfen. Man kann sich vorstellen, dass diese Ver-gangenheit, die darin bestand, zwischen den großenMächten zu liegen und ihnen dadurch immer ausgeliefertzu sein, eine traumatische Erfahrung für diese Staaten, fürdiese Völker war.Vor diesem Hintergrund ist die Einladung zum NATO-Beitritt ein wirklich historischer Schritt: heraus aus dieserprekären Zwischenlage und hinein in ein System kollek-tiver Sicherheit, wobei das Reißen neuer Gräben verhin-dert wurde.
Dieser Erweiterungsprozess ohne Brüche wurde möglich,weil die Erweiterung als ein Prozess gestaltet wurde, deraus Dialog, Kooperation, inneren Reformen und Kon-fliktbeilegungen bestand.Bei den Balkankrisen und -kriegen in den 90er-Jahrengehörte die NATO zunächst mit zu den vielen, die zu spätkamen. Inzwischen hat sie sich bei den von ihr geführtenEinsätzen in Bosnien-Herzegowina, Kosovo und Maze-donien bestens bewährt. Diese Einsätze dienen der Frie-densunterstützung im Auftrag der Vereinten Nationen undim Rahmen der UN-Charta und finden in enger Koopera-tion mit den anderen internationalen Organisationen, mitden Vereinten Nationen, der OSZE usw., mit staatlichenund nicht staatlichen Akteuren statt.Mit dem 11. September 2001 ist der Wandel hin zuasymmetrischen Bedrohungen und Konfliktmustern of-fensichtlich geworden. Die Bedrohung durch den interna-tionalen Terrorismus, durch privatisierte Gewalt und Re-gionalkonflikte sowie durch die Weiterverbreitung vonMassenvernichtungswaffen steht nun im Vordergrund.Darauf muss sich die NATO selbstverständlich konzep-tionell und in ihren Fähigkeiten einstellen.Im Antrag der CDU/CSU werden darauf leider sehreinfache, verkürzte und gefährliche Antworten gegeben.
– Lesen Sie sich Ihren Antrag noch einmal durch! – Siereden in diesem Zusammenhang von der NATO als einzi-gem Akteur.
Sie fordern den weltweiten Einsatz gegen den Terroris-mus und Massenvernichtungswaffen und schweigen da-bei darüber, was in diesem Zusammenhang ein zuallererstbewährtes Mittel ist – Kollege Meckel hat zum Beispieldarauf hingewiesen –: Rüstungskontrolle, Nichtverbrei-tung, Abrüstungszusammenarbeit, wobei wir gerade mitRussland erhebliche Erfolge erzielen.
Wenn Sie hier schweigen und nur von der militärischenBekämpfung der Bedrohung durch Massenvernichtungs-waffen sprechen, dann ist die eindeutige Schlussfolge-rung, dass man gegen Besitzer von Massenvernichtungs-waffen militärisch vorgehen will. So wie ich Sie von derCDU/CSU kenne, können Sie das nicht ernst meinen.
– Jetzt könnten auch Sie von der CDU/CSU ruhig klat-schen.Die Antworten auf die neuen Herausforderungenmüssen demgegenüber folgenden zentralen Anforderun-gen genügen:Erstens. Den hochkomplexen Bedrohungen kann er-folgreich nur multidimensional, also im Rahmen politi-scher Gesamtkonzepte, mit dem ganzen Spektrum ver-schiedenster Instrumente und Maßnahmen begegnetwerden.Zweitens. Der Rahmen dabei muss selbstverständlichdas Völkerrecht, die Charta der Vereinten Nationen, dieDr. Karl A. Lamers
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Winfried NachtweiStärkung des Rechts sein. Willkür darf selbstverständlichnicht mit Willkür begegnet werden; denn Willkür würde– so sind die handgreiflichen Erfahrungen aus sehr vielenJahrzehnten der Terrorismusbekämpfung – neuen Bedro-hungen Aufschwung geben, anstatt sie einzudämmen.
Drittens. Jede internationale Organisation und jederStaat – so mächtig er ist – ist mit der Bewältigung derneuen Bedrohungen hoffnungslos überfordert. Entschei-dend ist das komplementäre, also sich ergänzende, Zu-sammenwirken im multilateralen Rahmen. Der Vor-schlag einer NATO-Response-Force kann in dieseRichtung wirken. Eine solche neue Fähigkeit darf abernicht der notwendigen Stärkung der Europäischen Si-cherheits- und Verteidigungspolitik zuwiderlaufen, siegar unterlaufen.Viertens. Wir diskutieren in diesem Zusammenhang– richtigerweise – sehr viel über neue Fähigkeiten. Dabeisollten wir aber etwas anderes nicht vergessen: Die NATOerhebt den Anspruch einer Wertegemeinschaft. Das giltnach innen und außen. Angesichts des Terrorkriegs inTschetschenien und angesichts von Tendenzen, das inter-nationale Gewaltmonopol unter der Überschrift „offen-sive Selbstverteidigung“ zu unterhöhlen, ist eine Werte-diskussion in der Sicherheitspolitik und in der NATOüberfällig.In diesem Sinne wünschen wir dem NATO-Gipfel ei-nen erfolgreichen Verlauf und der Bundesregierung dabeieine sehr wirkungsvolle Rolle.Danke schön.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Monika Heubaum,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Da-men und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DerNATO ist es in den letzten Jahren gelungen, in geradezubeispielhafter Weise militärische und zivile Instrumentemit dem gemeinsamen Ziel der langfristigen Friedens-sicherung und Krisenprävention zu vereinen.Entgegen einer landläufigen Meinung ist die NATOkeineswegs ein reines Verteidigungsbündnis. Der Nord-atlantikvertrag vom 4. April 1949 bekennt sich zu denGrundsätzen der Satzung der Vereinten Nationen. DieVertragspartner setzen sich für die Grundsätze der Demo-kratie, für die Freiheit der Person und die Herrschaft desRechts ein. Sie wollen zu friedlichen, freundschaftlicheninternationalen Beziehungen beitragen und sind bestrebt,Gegensätze in ihrer Wirtschaftspolitik zu beseitigen unddie wirtschaftliche Zusammenarbeit zu fördern. DieNATO hat sich über die Kernaufgabe der kollektiven Ver-teidigung hinaus der internationalen Konflikt- und Kri-senprävention und -bewältigung zugewandt. Das sindstarke zivile Dimensionen.
Seit 1949 haben sich die Weltsicherheitslage und dienationalen Gesellschaften erheblich verändert. Das wirdinsbesondere am NATO-Beitritt von Polen, Ungarn undder Tschechischen Republik im Jahre 1999 deutlich. Da-ran wird doch erkennbar: Aus früherer Konfrontation istKooperation geworden. Das gemeinsame Eintreten füreine demokratische Werteordnung der NATO-Mitglied-staaten ist in den letzten Jahren beeindruckend unter Be-weis gestellt worden.Durch das Engagement der NATO im Rahmen der in-ternationalen Gemeinschaft konnte der politische Prozessder inneren Versöhnung und der Normalisierung der Le-bensbedingungen vor allem auf dem Balkan weiter vo-rangebracht werden. Die Intervention der NATO verhin-derte beispielsweise in Mazedonien einen Bürgerkriegund ermöglichte dort im September dieses Jahres demo-kratische Wahlen.Vor einigen Tagen wurde im Kosovo auf kommunalerEbene gewählt. In den neuen Gemeindegremien werdenbedeutend mehr Frauen vertreten sein, sie stellen nun-mehr immerhin 28 Prozent aller Ratsmitglieder. Dieseneue Sitzverteilung stellt eine deutliche Veränderung undeinen erheblichen Zuwachs im Vergleich zu den 8 Prozentbei früheren Wahlen dar.Der Aufbau solcher demokratischer Strukturen wirdauch durch den Einsatz unserer Soldatinnen und Solda-ten ermöglicht. Ihnen gebührt an dieser Stelle für ihreLeistungen Dank und Anerkennung.
Aufgrund der Krisenabwendung und der Entschärfungvon Konflikten im Voraus durch den Einsatz der NATOkonnten in der Vergangenheit Zivilgesellschaften aufge-baut werden, in denen die Rechtsstaatlichkeit, die Wah-rung der Menschenrechte, die wirtschaftliche Stabilitätund die Aussöhnung der Bevölkerungsgruppen gedeihen.Die NATO steht mittlerweile für Krisenmanagementbei präventiven Friedenseinsätzen. Eine der Hauptaufga-ben der NATO ist dabei, Verlässlichkeit und Vertrauen zuvermitteln. Diese Politik führt zu langfristigen sicher-heitspolitischen Auswirkungen. Nur dort, wo Vertrauenund Sicherheit herrschen, kann Rechtsstaatlichkeit gedei-hen, können wirtschaftliche Beziehungen zu Wohlstandund Fortentwicklung führen und Stabilität gesichert wer-den.
So heißt es im strategischen Konzept des Nordatlan-tikpaktes, dass Sicherheit und Stabilität sowohl politische,wirtschaftliche, soziale und umweltpolitische Elementeals auch die unverzichtbare Verteidigungsdimension ein-schließen. Die Erhaltung der natürlichen knapper wer-denden Ressourcen, beispielweise von Trinkwasser undfossilen Energieträgern – auch das ist mit elementarer Si-cherheitspolitik verbunden –, zählt zu den gemeinsamenglobalen Zielen.
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Eine solche friedliche Entwicklung ist auch im deut-schen Interesse. Dabei können wir nicht außer Acht las-sen, dass es aufgrund der immer schwieriger werdendenWeltlage erforderlich ist, noch bessere Fähigkeiten zurAbwehr neuer Bedrohungen zu entwickeln.Die Aufnahme weiterer Mitgliedstaaten in die NATOwird ein großer Gewinn an Sicherheit und Stabilität fürEuropa sein.
Eine abgestimmte Aufgabenverteilung und die Zusam-menarbeit der NATO mit der sich ständig vergrößerndenEuropäischen Union werden die zukünftigen europä-ischen Sicherheitsstrukturen maßgeblich prägen. So müs-sen zum Beispiel der euro-atlantische Raum gestärkt,Krisen bewältigt und verhütet und die Verbreitung vonMassenvernichtungswaffen unterbunden werden. Europaund die NATO haben dazu mehrere Instrumente geschaf-fen, zum Beispiel die EU-NATO-Arbeitsgruppen zur Ent-wicklung formaler Beziehungen zwischen beiden Organi-sationen oder den neu geschaffenen NATO-Russland-Rat.Die NATO hat dabei die sich aus dem Ende des KaltenKrieges ergebende Chance zur Verbesserung der Norma-lisierung der Beziehungen zu Russland genutzt. Zu den imNATO-Russland-Dialog vereinbarten Themen gehörenunter anderem die Sicherheit im euro-atlantischen Raum,gemeinsame friedenserhaltende Operationen, nukleareSicherheit, Transparenz und Vertrauensbildung. Die Öf-fentlichkeitsarbeit der NATO konnte seit dem Frühjahr2001 durch die Einrichtung eines NATO-Informations-büros in Moskau verbessert werden. Man kann also mitRecht sagen, dass durch diesen Dialog zwischen derNATO und Russland aus ehemaligen Gegnern Partner ge-worden sind.Aber auch die Funktion der Parlamentarischen Ver-sammlung der NATO, der außer den 19 NATO-Mit-gliedstaaten weitere 17 assoziierte Parlamente – zu ihnenzählen auch die nun an der NATO-Erweiterung teil-nehmenden Staaten – angehören, darf nicht unterschätztwerden. Diese Institution hat sich im Laufe der Jahre zueinem euro-atlantischen Parlament entwickelt. Das Gre-mium sieht seine Hauptaufgabe darin, die Zusammenar-beit der Mitgliedstaaten in allen verteidigungs- und si-cherheitspolitischen Fragen zu fördern, die Vorstellungender Atlantischen Allianz bei der Formulierung nationalerPolitiken einzubringen, zur Entwicklung einer atlanti-schen Solidarität in den Ländern der Allianz beizutragenund als Bindeglied zwischen den nationalen Parlamentenund der NATO zu dienen. Durch ihre verabschiedetenEmpfehlungen und Entschließungen geben die Parlamen-tarier neue Impulse, unter anderem für die Arbeit des Nord-atlantikrats.Der Beitritt der neuen Mitgliedstaaten, die die hierfürfestgelegten Kriterien erfüllen müssen – sie bekommen dieMitgliedschaft ja nicht geschenkt – und Reformen durch-führen müssen – sie mussten es und sie müssen es weiter-hin tun, um noch bestehende Defizite zu beseitigen –, wirdein großer Gewinn an Sicherheit und Stabilität für Europasein. Dadurch wird eine demokratische Einheit in Europavon der Ostsee bis zum Balkan geschaffen. Deutschlandhat die Vorbereitung der Aspirantenstaaten auf eine Mit-gliedschaft aktiv unterstützt und wird diese Unterstützungauch weiterhin geben. Die Bedeutung der NATO alsFundament einer europäischen Friedensordnung und alsGrundlage für die Sicherheit Deutschlands bleibt dabeiselbstverständlich bestehen. Die sich abzeichnenden Bei-tritte sind ein Erfolg für beide Seiten: für die Beitritts-länder, aber auch für die NATO.Die Unterzeichnung der Beitrittsprotokolle ist für denMärz kommenden Jahres vorgesehen; die Ratifizierungs-prozesse sollen im Mai 2004 beendet sein. Wir haben unsstets für einen zügigen Beitrittsprozess ausgesprochenund werden zu dieser Entwicklung unseren Beitrag leis-ten. Für uns steht aber auch fest: Die Politik der offenenTür muss auch nach Prag fortgesetzt werden.
In diesem Sinne wünscht die SPD-Bundestagsfraktiondem NATO-Gipfel in Prag viel Erfolg.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DiePDS im Bundestag lehnt den von Ihnen vorgelegten An-trag ab. Wir teilen aber auch nicht die Intention, die Bun-desaußenminister Fischer zum bevorstehenden NATO-Gipfel hier vorgetragen hat.Grundsätzlich widersprechen wir dem Begehren derOpposition zur Rechten. Der Antrag vonCDU/CSU zieltunverhohlen auf eine weitere Militarisierung der Außen-politik, auf eine drastische Aufrüstung und auf eine be-dingungslose Solidarität gegenüber der USA-Politik. Ei-nem solchen Irrsinn unterliegt die PDS nicht.
1989/90 fand eine 40 Jahre währende Blockkonfronta-tion ihr Ende. Politische Instrumente aus jener Zeit, dieauf eine friedliche Konfliktbewältigung zielten, wurdenseitdem klein gehalten, zum Beispiel die OSZE. Militä-rische Instrumente, die auf ein Diktat der Stärke setzen,wurden ausgebaut, damit auch die NATO. Das illustriertdie Grundrichtung. Wir finden diese Grundrichtungfalsch.Unübersehbar ist auch, dass die UNO immer mehr inden Schatten der NATO gerät und dass die Weltorganisa-tion von den USA ein ums andere Mal vorgeführt wird.
Das ist der Rahmen, aus dem sich unsere begründeteSkepsis gegenüber dem NATO-Gipfel speist.Hinzu kommt die Militärdoktrin der USA. Sie kündi-gen Abrüstungs- und Kontrollverträge. Sie reklamierenfür sich das Recht auf Präventivkriege und drohen gar mitMonika Heubaum
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Petra Pauatomaren Erstschlägen. Eine solche Politik ist weltun-tauglich. Sie passt nicht ins 21. Jahrhundert. Sie wird auchnicht mit dem Verweis auf terroristische Bedrohungenbesser. Deshalb, Kollege Schäuble, hörte ich heute mitSchrecken, dass Sie namens der CDU/CSU-Fraktion sag-ten: „Mit ... einem Zweitschlag schützen Sie unsere Be-völkerung nicht.“ Das ist nichts anderes als die unsäglicheParole: „Angriff ist die beste Verteidigung.“ Erhellenderkonnte Herr Schäuble heute den Schafspelz nicht ablegen.
Folglich steht die rot-grüne Bundesregierung vor derFrage, ob sie als NATO-Mitglied sich dieser Doktrinanschließt, also unterordnet, oder ob die Bundesrepublikgemeinsam mit anderen eine selbstbewusste Politik ver-folgt, die mehr denn je auf zivile, demokratische und hu-mane Lösungen setzt.
Auf dem Prager Gipfel wird es um die zweite Rundeder NATO-Erweiterung gehen. Es geht um die Beziehun-gen der NATO zu Russland und zur Ukraine und es gehtum die Modernisierung der NATO. So jedenfalls be-schreibt es die veröffentlichte Tagesordnung. Was darüberhinaus verhandelt wird, entzieht sich wie stets der allge-meinen Beobachtung und Bewertung.Ich verweise auf diesen Aspekt, weil wir demnächst– schon heute Abend – über ein Entsendegesetz befinden.Es soll unter anderem klären, wann und durch wen deut-sche Soldaten in Marsch gesetzt werden dürfen – nicht zurÜbung in der Lüneburger Heide, sondern in militärischeAuseinandersetzungen weltweit.Auf dem NATO-Gipfel wird ebenso wie in der EU überschnelle Eingreiftruppen beraten. Ich will jetzt nicht fra-gen, in welchem Verhältnis beide stehen sollen. Ichmöchte aber das Interesse der Öffentlichkeit auf daskleine Wörtchen „schnell“ richten, denn dahinter verbirgtsich nicht nur die Frage nach militärischen Gefahren, son-dern auch die Frage: Wer entscheidet über solche Mi-litäreinsätze? Noch liegt das Votum beim Bundestag, dereine Zweidrittelmehrheit benötigt.Ihrer Rede, Herr Bundesaußenminister Fischer, undauch Ihrer Rede, Herr Struck, habe ich entnommen, dassdies so bleiben soll. Es gibt aber auch andere unüberseh-bare Bestrebungen: Das Parlament soll beispielsweisedurch den heute vorliegenden FDP-Antrag zum Entsen-degesetz entmündigt werden.
Auch dies ist ein Weg, den die PDS nicht mitgehen wird.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/44 an den in der Tagesordnung aufgeführ-
ten Ausschuss sowie an den Verteidigungsausschuss, den
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union und den Haushaltsausschuss vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang
Bosbach, Dr. Norbert Röttgen, Günter Baumann,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/
CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Verbesserung des Schutzes der Bevölkerung
vor Sexualverbrechen und anderen schweren
Straftaten
– Drucksache 15/29 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und soziale Sicherung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Bosbach, Dr. Norbert Röttgen, Günter Baumann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
Sozialtherapeutische Maßnahmen für Sexual-
straftäter auf den Prüfstand stellen
– Drucksache 15/31 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und soziale Sicherung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erstem Redner gebe ich
dem Kollegen Wolfgang Bosbach von der CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen!Juni 1996: Die erst 13-jährige Ulrike Everts verschwindetnach einem Ausflug mit ihrer Ponykutsche spurlos. Späterwird ihre Leiche in der Nähe von Oldenburg gefunden.September 1996: Die siebenjährige Natalie Astnerwird von einem 29-jährigen Mann entführt, sexuell miss-braucht und getötet. Der Täter war wegen Vergewaltigungund sexuellen Missbrauchs verurteilt, aber vorzeitig aufBewährung freigekommen.Januar 1997: Die zehnjährige Kim Kerkow wird miss-braucht und ermordet. Die Polizei ermittelt einen Täter,der bereits viele Jahre zuvor schon einmal ein jungesMädchen vergewaltigt hatte.März 1998: Die elfjährige Christina Nytsch kommtvon einem Ausflug nicht mehr nach Hause. Sie wird nachfünf Tagen aufgefunden, ebenfalls missbraucht und er-mordet. Bei der Suche nach dem Mörder werden von etwa
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18 000 Männern aus der Heimat des Opfers Speichelpro-ben für die Erstellung eines genetischen Fingerabdrucksgenommen. Darunter war auch eine Probe des Täters, derspäter die Ermordung der Ulrike Everts aus dem Jahre1996 gesteht.September 2002: Ein vielfach wegen VergewaltigungVorbestrafter vergewaltigt die 16-jährige Jennifer ausNeumünster und bringt sie anschließend um. Der Täterwar erst im Juni nach Vollverbüßung einer einschlägigenVorstrafe aus der Haft entlassen worden.Dies sind nur wenige Beispiele aus einer ganzen Reihevon fürchterlichen Verbrechen, die nicht nur für die hilf-losen und gequälten Kinder, sondern auch über jede be-troffene Familie, über deren Angehörige und Freunde un-endliches Leid gebracht haben. Jedes einzelne Verbrechenhat zu Recht große öffentliche Aufmerksamkeit erfahrenund die gesamte Bevölkerung erschüttert.Es ist die wichtigste Aufgabe, es ist unsere Pflicht, diePflicht des Staates, die Bürger so gut wie möglich vor Ver-brechen und Kriminalität in all ihren Erscheinungsformenzu schützen.
Diesen staatlichen Schutz benötigen insbesondere dieSchwächsten in unserer Gesellschaft, unsere Kinder.Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen CDU undCSU die Bevölkerung wirksamer vor Verbrechen, insbe-sondere vor Sexualstraftätern, schützen. Natürlich wis-sen wir – das wissen wir alle –, dass das Strafrecht und dasStrafprozessrecht immer nur fragmentarisch wirken kön-nen. Einen vollständigen Schutz vor Kriminalität könnenweder die Gerichte noch die Polizei noch der Gesetzgeberversprechen oder gar garantieren, jedenfalls nicht in ei-nem freiheitlichen Rechtsstaat. Aber gerade weil das lei-der so ist, ist es nicht nur unser Recht, sondern unserePflicht, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um dieBevölkerung vor Kriminalität zu schützen. Was mitrechtsstaatlichen Mitteln getan werden kann, muss auchmit rechtsstaatlichen Mitteln getan werden und ist daherpolitisch geboten.
Es kann doch keinen ernsthaften Zweifel daran geben,dass unser geltendes Recht eine ganze Reihe von Schutz-lücken enthält. Die Schutzlücken wollen wir schließen,und zwar eher heute als morgen. „Wegschließen für im-mer“, hat der Bundeskanzler als Konsequenz für Sexual-straftäter gefordert. Dabei ging es ihm im Gegensatz zurUnion nicht um die Sache,
sondern ihm ging es um die Wirkung. Ihm ging es aus-schließlich um den Applaus der Öffentlichkeit.
Wäre es ihm um die Sache gegangen, hätte er uns inunserem Anliegen unterstützt. Dann hätte die Bundes-regierung in der vergangenen Wahlperiode nicht unsereInitiative für einen besseren Schutz der Bevölkerung ver-hindert.
Kriminalität kann man nicht mit Sprüchen, sondern nurmit entschlossenen Taten bekämpfen.Als ich vor 14 Tagen von dieser Stelle aus darauf hin-gewiesen habe, dass und warum dringender Handlungs-bedarf besteht, hat die Kollegin Griefahn von der SPDdazwischen gerufen: Wieso? Die Zahlen gehen dochzurück! Die geistige Haltung, die hinter diesem Zwi-schenruf steht, ist unerträglich und ich fürchte, dass sieleider für viele nicht untypisch ist.
Im vergangenen Jahr wurden 15 117 Fälle des sexuel-len Missbrauchs nur von Kindern registriert.
Es ist zu befürchten, dass wir gerade im Bereich dieserDelikte eine sehr hohe Dunkelziffer haben.
Das ist der politische Unterschied zwischen uns. Sie sa-gen bei 15 117 Fällen: Es sind 464 Fälle weniger als imvergangenen Jahr, es besteht kein Handlungsbedarf. Wirsagen: 15 117 Fälle sind 15 117 Fälle zu viel und deswe-gen müssen wir etwas tun.
– Sie, Herr Stünker, regen sich schon auf, wenn man Ih-nen nur den Zwischenruf Ihrer eigenen Kollegin vorhält,die bei ihrer Bemerkung nämlich unterschlagen hat, dassgerade die Zahl der Fälle des schweren sexuellen Miss-brauchs von Kindern im vergangenen Jahr erheblich ge-stiegen ist.
Deswegen ist es höchste Zeit zum Handeln. Wir wollen,dass der sexuelle Missbrauch von Kindern im Straf-gesetzbuch als genau das bezeichnet wird, was er tatsäch-lich ist, nämlich als Verbrechen und nicht nur als Vergehen.
Herr Kollege Bosbach, gestatten Sie eine Zwi-schenfrage des Kollegen Ströbele?Wolfgang Bosbach
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Nein. –
Durch diese Heraufstufung der Tat zu einem Verbrechen
würde endlich auch die Verabredung zum sexuellen Miss-
brauch eines Kindes unter Strafe gestellt.
Wir wollen die Überwachung der Telekommunikation
bei allen Formen des Kindesmissbrauchs und auch bei der
Herstellung und Verbreitung von Kinderpornographie
ermöglichen. Gerade die Zahl der Fälle von Besitz und
Verbreitung der Kinderpornographie ist im letzten Jahr
dramatisch gestiegen. Ein Auszug aus der polizeilichen
Kriminalstatistik der Bundesrepublik Deutschland ver-
zeichnet bei Besitz und Beschaffung von Kinderpor-
nographie einen Anstieg um 72 Prozent und bei der Ver-
breitung von Kinderpornographie einen Anstieg von
60,8 Prozent in einem Jahr. Wenn Sie, Herr Ströbele, sa-
gen, im Grunde müssten wir nichts ändern, dann ist das
genau der Grund, warum ich von Ihnen weder eine Zwi-
schenfrage noch einen Zwischenruf akzeptieren kann. Die
Verharmlosung soll hier im Parlament nicht fortgesetzt
werden.
Wir wollen die Möglichkeit der DNA-Analyse konse-
quent nutzen. Warum tun wir uns so schwer beim gene-
tischen Fingerabdruck?
Es ist ernsthaft behauptet worden – der Kollege ist nicht
mehr Mitglied des Deutschen Bundestages –, mit dem ge-
netischen Fingerabdruck könne man die Erbinformatio-
nen des Täters oder des Tatverdächtigen offen legen. Das
ist doch verrückt. Wir können mit dem genetischen Fin-
gerabdruck nur feststellen: Stammt die Spur vom Täter
oder vom Tatverdächtigen, ja oder nein? Mehr nicht. Es
ist nichts anderes als ein Fingerabdruck.
Bis jetzt kann der genetische Fingerabdruck nur bei ei-
ner Anlasstat von erheblicher Bedeutung genommen wer-
den. Diese Beschränkung ist zu eng. Wir wollen, dass der
genetische Fingerabdruck bei jeder Straftat mit einem
sexuellen Bezug genommen werden kann, also beispiels-
weise – um hier Klartext zu reden – auch von Spannern
und Exhibitionisten. Mein Mitleid hält sich hier stark in
Grenzen.
Schließlich sind 75 Prozent aller Vergewaltiger vorbe-
straft. 25 Prozent aller Vergewaltiger haben ihre krimi-
nelle Karriere als Spanner oder Exhibitionisten begonnen.
Deswegen sagen wir auch an dieser Stelle: Wehret den
Anfängen!
Wir wollen bundesweit und einheitlich die nachträg-
liche Sicherungsverwahrung einführen. Es gibt Fälle, in
denen das Gericht bei der Aburteilung des Täters fälschli-
cherweise davon ausgegangen ist, dass er nach Verbüßung
seiner Haft ein straffreies Leben führen wird. Dann hat
sich aber erst während der Haftzeit herausgestellt, dass
der Täter nicht therapierbar und nicht resozialisierbar ist
und dass es in hohem Maße wahrscheinlich ist, dass er
nach der Haftentlassung weiterhin schwere und schwerste
Straftaten begehen wird. Wenn die Lage so ist, dann darf
der Täter nicht in die Freiheit entlassen werden. Dann
muss der Schutz der Bevölkerung Vorrang vor dem Frei-
heitsinteresse des Täters haben.
Andere Vorgehensweisen wären im wahrsten Sinne des
Wortes lebensgefährliche Experimente auf Kosten der
Bevölkerung. Sollte die Bundesregierung, wie von Ih-
nen, Frau Zypries, signalisiert worden ist, auf die Vor-
schläge der Union tatsächlich eingehen, dann würden wir
das begrüßen. Besser spät als nie! Aber Sie sollten bei
Ihren Bemühungen, sich in unsere Richtung zu bewegen,
nicht auf halbem Weg stehen bleiben; denn wenn Sie eine
Schutzlücke nur halb schließen, dann haben Sie die
Schutzlücke überhaupt nicht geschlossen. Deswegen bitte
ich Sie herzlich: Setzen Sie sich insbesondere in den ei-
genen Reihen durch; denn entscheidend ist nicht das, was
Sie sagen, sondern das, was Sie tun. Nicht an ihren
Sprüchen, sondern an ihren Taten sollt ihr sie erkennen!
Heute vor einer Woche haben die Richter, die Polizis-
ten und die Bediensteten im Strafvollzug übereinstim-
mend erklärt, dass die nachträgliche Sicherungsverwah-
rung dringend notwendig sei. Wenn Sie schon nicht auf uns
hören wollen, dann hören Sie wenigstens auf die Praktiker,
die tagtäglich mit solchen Schwerverbrechern zu tun haben.
Denken Sie bei Ihrer Entscheidungsfindung nicht nur an
die Koalition, sondern vor allen Dingen auch an die Opfer.
Danke für das Zuhören.
Ich erteile jetzt das Wort der Bundesministerin Brigitte
Zypries.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Da-men und Herren! Herr Bosbach, Sie haben ja Recht, wennSie sagen, wir sollten alles tun, was rechtsstaatlich mög-lich und rechtspolitisch notwendig ist. Dafür haben Sieden Beifall von der rechten Seite dieses Hauses zu Rechtbekommen. Aber wenn wir beginnen wollen, ernsthaftdarüber zu diskutieren, was zu tun ist, dann bedeutet dasauch, dass wir redlich sein müssen. Zur Redlichkeitgehört, dass man zwischen den gesetzlichen Strafandro-hungen und dem unterscheidet, was im Vollzug geschieht.
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Fast alle Fälle, die Sie zu Beginn Ihrer Rede populistischaufgelistet haben, waren ja nicht so gelagert, dass dasMaß der Strafandrohung nicht ausreichend gewesenwäre. Das sind doch alles Fälle, in denen es im Vollzuggehapert hat,
in denen die Täter vorzeitig freigelassen wurden oder sichzum Beispiel selbst befreit haben. Das müssen wir sauberauseinander halten.Sie haben dankenswerterweise anerkannt – auch ichmöchte das betonen –, dass uns an einer sachlichen De-batte über das zur Diskussion stehende Thema liegt. Dasist in der Tat so; denn dieses Thema ist keines, das sich fürkleinliches politisches Gezänk eignet. Wir müssen hiersachlich sein, weil wir sonst nicht weiterkommen.
Zur Sachlichkeit gehört aber auch, dass Sie anerkennenmüssen, dass die jetzige Koalition in der vergangenenLegislaturperiode den Schutz gerade vor gefährlichenSexualstraftätern ganz erheblich verbessert hat
– das müssen Sie schon anerkennen – und dass die Bun-desländer, egal ob sie von der SPD oder der Union regiertwerden, in den letzten Jahren im Bereich des Strafvoll-zugs und des Maßregelvollzugs deutliche Verbesserungenerzielt haben. Auf diesem Weg müssen wir sie unterstüt-zen. Darauf zielt ja auch Ihr weiter gehender Antrag, denSie gestellt haben.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Auch wir sind derAuffassung, dass jedes Opfer einer Gewalttat ein Opfer zuviel ist. Deswegen dürfen wir hier keine halben Sachenmachen.
Wir dürfen – das will ich an dieser Stelle betonen – dabeiallerdings nicht nur den strafrechtlichen Rahmen sehen,sondern es geht auch darum, die Länder mit ins Boot zubekommen. Wir haben in der kriminologischen For-schung und in der forensischen Psychiatrie erheblicheFortschritte zu verzeichnen. Wir verfügen heute über bes-sere Prognosemethoden, über bessere Behandlungsme-thoden und über eine bessere Aus- und Fortbildung der fo-rensisch-psychiatrischen Gutachter. Auf diesem Wegmüssen wir weitergehen und die Länder dabei unterstüt-zen, dass sie das, was in ihrer Verantwortung liegt, auchtun.
Ich komme nun auf einzelne Punkte zu sprechen, aufdie ich schon in meiner Rede bei der Aussprache zur Re-gierungserklärung des Kanzlers eingegangen bin. Bei derNeugestaltung von Strafvorschriften, namentlich beim se-xuellen Missbrauch von Kindern, stimmen wir mit Ihneninsoweit überein, als die Verwerflichkeit dieser Tatendurch das Strafmaß zum Ausdruck gebracht werdenmuss. Man muss aber trotzdem zu einer notwendigen Ab-stufung nach der Schwere der Tat kommen, da sich dassonst im Vollzug als kontraproduktiv erweisen könnte,weil sich keiner mehr traut, diese Taten anzuklagen, weiles sich immer gleich um schwere Verbrechen handelt. Ichbitte Sie ganz herzlich: Lassen Sie uns im Verlauf derAusschussberatungen gemeinsam darüber reden, wie wirdas sinnvoll regeln. Die Strafandrohung alleine bringt eseben nicht.
Daneben müssen wir auch prüfen, ob § 140 StGB, alsodie Belohnung und die Billigung von Straftaten, um denTatbestand des sexuellen Missbrauchs von Kindern er-weitert werden muss. Ich bin der Auffassung, dass einneuer Tatbestand, nach dem sich strafbar macht, wer aufein Kind einwirkt, um es zu sexuellen Handlungen zubringen, präventiv wirken wird.
Ich möchte einen Bereich aufgreifen, der in Ihrem Ge-setzentwurf nicht zufriedenstellend beachtet wird. Wirmüssen adäquat auf die neuen Möglichkeiten des Inter-net reagieren.
Es gibt dort andere Formen, wie man Straftaten begehenkann. Darauf müssen wir eingehen.
– Das mag für Sie vielleicht ein Randthema sein; für unsist es keines.Schließlich halte ich es auch für notwendig, die Straf-vorschriften gegen Verbreitung und Besitz kinderporno-graphischer Schriften zu verschärfen.In einem Punkt – Herr Bosbach, Sie haben das ebenangesprochen – gibt es zwischen uns allerdings keine Ge-meinsamkeit: in der Frage der nachträglichen Siche-rungsverwahrung. Eine isoliert angeordnete Siche-rungsverwahrung ist aus unserer Sicht Gefahrenabwehrund damit reine Ländersache.
Wir haben in der letzten Legislaturperiode dazu Vor-schläge vorgelegt und haben den Richtern die Möglich-keit gegeben, einen Vorbehalt auszusprechen. Das heißt,alle betreffenden Urteile seit dem letzten Jahr sind abge-deckt, es gibt also kein Regelungsdefizit mehr.
Ihr Vorstoß bezüglich der nachträglichen Sicherungs-verwahrung ist erstaunlich. Gerade die unionsregiertenBundesministerin Brigitte Zypries
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Bundesministerin Brigitte ZypriesLänder folgen doch unserer Rechtsauffassung und habenentsprechende Landesgesetze verabschiedet.
Die ersten Gerichtsentscheidungen zeigen zwar, dass indem Bereich in den Ländern noch nachgebessert werdenmuss. Ich denke aber, auch das werden wir schaffen.Ihr Vorschlag würde darüber hinaus neben den Ersttä-tern auch die Mehrfachtäter umfassen und damit echteVerwerfungen zur eigentlichen Anordnung der Siche-rungsverwahrung zur Folge haben. Das müssten Sie ein-mal überprüfen.All diese Punkte erwähne ich nur am Rande; denn ichmöchte viel lieber die Gemeinsamkeiten in den Vorder-grund stellen und Sie auffordern, da, wo wir uns einigsind, gemeinsam zu überlegen, wie wir die Situation ver-bessern können.
Dabei sollten wir den Blick auch auf die Felder richten,die für den Schutz der Bevölkerung entscheidend sind undwozu das Strafrecht, wie wir meinen, einen wichtigenBeitrag leisten kann. Deswegen halten wir es für richtig,auch die Sicherungsverwahrung für Heranwachsendevorzusehen. Es geht darum, dass die Heranwachsenden,die nach dem Erwachsenenstrafrecht verurteilt werden, indie Sicherungsverwahrung überführt werden können. Umes klar zu sagen: Es sind nur ganz wenige Fälle. Es gibtaber besonders gefährliche frühkriminelle Hangtäter, beidenen die Prognose bereits gestellt werden kann. Fürdiese ganz wenigen Fälle sollten wir so etwas vorsehen.Meine Damen und Herren, im Rahmen meiner An-trittsrede habe ich schon darauf hingewiesen, dass wir mitdem gesamten Arsenal der strafprozessualen Möglichkei-ten gegen die Verbreitung der Kinderpornographie vor-gehen müssen, wobei ich aber nicht glaube, dass jetzt einGalopprennen zur Änderung des § 100 a StPO beginnenmuss. Wir haben bereits in der letzten Legislaturperiodeentscheidende Veränderungen durchgeführt. Seither gibtes die Möglichkeit, zur Aufklärung des schweren sexuel-len Missbrauchs von Kindern, des Missbrauchs mit To-desfolge und vor allen Dingen – das ist ein wichtigerAspekt für mich – der gewerbs- oder bandenmäßigen Ver-breitung der Kinderpornographie die Telekommunika-tionsüberwachung einzusetzen.
Für meine Begriffe ist dieses Instrumentarium insbeson-dere für diese Bereiche besonders gut geeignet.
Ehe man eine Erweiterung ins Auge fasst, muss manbedenken, welche Fälle man damit einschließt. Bei denAbhörmaßnahmen muss man immer auch in Rechnungstellen, dass man eine erhebliche Anzahl von Unschuldi-gen und nicht Betroffenen einbezieht. Deshalb muss manganz besonders prüfen, ob das im Einklang mit demGrundsatz der Verhältnismäßigkeit zu realisieren ist. Ichglaube, wir gingen über das Ziel hinaus, wenn wir gene-rell sagen würden, dass bei sämtlichen Formen des sexu-ellen Missbrauchs – auch wenn bei Einzeltätern nur einVerdacht besteht – eine entsprechende Überwachung zu-gelassen werden muss.Ich denke, eine verantwortliche Kriminalpolitik zeich-net sich dadurch aus, dass sie den Ermittlungsbehördennur die Instrumente an die Hand gibt, die nötig sind. WieSie aus der Rechtsprechung wissen, ist gerade in diesenFällen ausgesprochen streng zu überprüfen, ob der Grund-satz der Verhältnismäßigkeit beachtet wurde. Deshalb ha-ben wir schon in der vergangenen Legislaturperiode beimMax-Planck-Institut eine Untersuchung in Auftrag gege-ben. Wir wollen feststellen, wie das tatsächlich wirkt undwas dabei herauskommt. Wenn dieser Bericht des Max-Planck-Instituts vorliegt, werde ich ihn gerne gemeinsammit Ihnen erörtern. Wir werden dann gemeinsam überle-gen, welche Schlussfolgerungen wir daraus zu ziehen ha-ben.
– Herr van Essen, ich kann Ihnen nur sagen, dass wir ihnschon mehrfach beim Max-Planck-Institut angemahnt ha-ben. Ich teile Ihre Auffassung, dass es ein wenig zu langedauert. Wissenschaftler kann man aber nur beschränktdrängen.
Meine Damen und Herren von der Union, die Vor-schläge, die Sie zur DNA-Analyse machen, entsprechenweitgehend einem Vorschlag, der im letzten Jahr im Bun-desrat eingebracht worden und dort stecken geblieben ist.Wir müssen darüber nachdenken, ob nur Straftaten mit er-heblicher Bedeutung Anlasstaten für die DNA-Analysesein sollen oder ob wir die Schwelle absenken wollen. Esgibt Untersuchungen über die Rückfallquote exhibitionis-tischer Straftäter, die besagen, dass etwa 1 bis 2 Prozentdieser Straftäter später wegen eines sexuellen Gewaltde-liktes erneut verurteilt werden. Genau hier würde ich an-setzen. Diese Straftäter müssen verhaftet und vor Gerichtgestellt werden. Deshalb bin ich dafür, die Möglichkeitenzur Durchführung der DNA-Analyse auszuweiten. Daskann aber nur im Einzelfall geschehen. Wenn der Richterdie Prognose stellt, dass mit einer Schuld des Betroffenenzu rechnen ist, ordnet er sie an.Herr Bosbach, ich danke Ihnen, dass Sie in Ihrem Re-debeitrag darauf hingewiesen haben, dass Sie das inzwi-schen wie wir sehen. Auch Sie halten es für besser, dieFormulierung „sexueller Bezug“ anstatt „sexueller Hin-tergrund“ zu wählen. Damit sind Sie ein wenig konkretergeworden. Es ist sehr gut, dass wir uns insoweit einigsind.Zum Abschluss möchte ich noch einige Worte zur Eva-luation sozialtherapeutischer Maßnahmen sagen. Es gibteinen Antrag von Ihnen. In diesem unterstreichen Sie völ-lig zu Recht die Notwendigkeit einer Begleitforschung,
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was die sozialtherapeutische Behandlung von Sexual-straftätern angeht. Auch ich bin der Auffassung, dass wirdiese durchführen müssen. Ich will mit den Länderkolle-gen gerne darüber reden. Die Länder müssen diese Auf-gabe übernehmen, da sie in ihrem Verantwortungsbereichliegt; dort gehört sie hin. Sie sind dafür verantwortlich.Die kriminologische Zentralstelle liefert Daten dazu.Das Justizministerium wird die kriminologische Zentral-stelle selbstverständlich darum bitten, diesen Themenbe-reich weiter zu verfolgen und die Daten auch weiterhin zuliefern, damit wir auf der Basis vernünftiger, empirisch er-hobener Daten überlegen können, was zu tun und zu än-dern ist.Wie Sie sehen, bin ich der Meinung, dass wir bei der Be-ratung dieser Gesetzentwürfe in den Ausschüssen zu über-zeugenden gemeinsamen Ergebnissen kommen werden.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Sibylle Laurischk von
der FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! In meinem Wahlkreis beginnt in zweiWochen der Strafprozess gegen einen Mann, der nachVerbüßung einer erstmaligen Freiheitsstrafe wegen ver-schiedener Sexualdelikte aus der Haft entlassen wurde,obwohl Grund zu der Annahme bestand, dass eine Siche-rungsverwahrung dieses Mannes angezeigt gewesen wäre.Innerhalb weniger Wochen nach seiner Haftentlassunghat er mehrere Frauen äußerst brutal vergewaltigt. In Ba-den-Württemberg herrschte vor gut einem Jahr Angst undSchrecken, bis dieser Mann festgenommen werdenkonnte. Die Bevölkerung bringt selbstverständlich keinVerständnis dafür auf, dass in einem solchen Fall seitensdes Staates nicht präventiv gehandelt wurde und dass die-ser Mann nicht in Sicherungsverwahrung kam.
Die vorliegende Gesetzinitiative wurde in der vergan-genen Legislaturperiode bereits beraten und abgelehnt.Seit August dieses Jahres ist das Gesetz zur Einführungder vorbehaltenen Sicherungsverwahrung in Kraft, so-dass nur noch ein sehr kleiner Kreis möglicher Straftätervon der vorliegenden Gesetzesinitiative erfasst wird.Warum dies nun doch möglich sein soll, muss in den Aus-schussberatungen genau geklärt werden. Schließlich ist esaus rechtsstaatlichen Gründen problematisch, ohne vor-herigen richterlichen Vorbehalt mit der nachträglich an-geordneten Sicherungsverwahrung einen Straftäter einzweites Mal zu bestrafen, zumal die Sicherungsverwah-rung auf eine lebenslange Inhaftierung hinauslaufen kann.Hierbei sind auch die Erfahrungen mit der entsprechen-den Ländergesetzgebung in Baden-Württemberg, Bayernund Sachsen-Anhalt zu prüfen, wo nach meiner Kenntnisdie Anwendung von Gesetzen über die Unterbringung be-sonders rückfallgefährdeter Straftäter bisher keine we-sentliche Bedeutung erlangt hat.
Rechtsstaatliche Grundsätze wie das Verbot der Dop-pelbestrafung und das Rückwirkungsverbot dürfen nichtleichtfertig aufs Spiel gesetzt werden.
Hinzu kommt, dass die Gesetzgebungskompetenz imStrafrecht beim Bund liegt.Der zweite Schwerpunkt des vorliegenden Gesetzent-wurfs betrifft die Strafverschärfung für sexuellen Miss-brauch von Kindern von sechs Monaten Mindestfrei-heitsstrafe auf ein Jahr. Damit werden diese Delikte vomVergehen zum Verbrechen heraufgestuft. Es steht außerFrage, dass alle Missbrauchshandlungen an Kindern einVerbrechen an deren Seele darstellen.
Durch die Strafverschärfung nach Ihren Vorstellungenwürde zwar die Bevölkerung, aber sicherlich nicht dieVielzahl betroffener Kinder geschützt. Der Gesetzentwurflässt die Belange der Opfer nach meinem Dafürhalten so-gar außer Acht.Die Straftaten des sexuellen Missbrauchs sind in denallermeisten Fällen Beziehungstaten und eben nicht sol-che Taten wie Sie, Herr Kollege Bosbach, sie anfangs auf-geführt haben. In den 15 117 Fällen, von denen Sie ge-sprochen haben, stammen die allermeisten Täter aus demsozialen Umfeld des Kindes; die Fälle sind insofern nichtmit dem zu vergleichen, was Sie sehr prägnant geschilderthaben und was sicherlich grauenhafte Folgen für die Kin-der hat.
Die Opfer sind oft nur dann zur Aussage und zur Mit-arbeit bei der Vielzahl von Missbrauchsfällen, die zur An-zeige kommen, bereit, wenn sie davon ausgehen, dass derTäter, der oft ein naher Verwandter oder ihnen sonst nahestehender Mensch ist, nicht zu hart bestraft wird.
Kinder haben eher ein Interesse daran, die für sie oftüber lange Zeiträume andauernde und gerade auch see-lisch sehr belastende Situation zu beenden, als dass sieeine Bestrafung der Täter wünschen.
Ich spreche ausdrücklich aus der Sicht der Kinder.Diesen Konflikt des Opfers kann eine Strafverschär-fung nicht lösen. Vielmehr werden leichtere Formen desKindesmissbrauchs weniger ernst genommen werden undauch für den Täter unbedeutender, da er sich dann, wie esBundesministerin Brigitte Zypries
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Bundesministerin Brigitte Zypriesdie Gesetzesvorlage ausführt, auf einen minder schwerenFall berufen kann. Der Täter fühlt sich in der Auffassung,es sei ja nicht so schlimm gewesen, eher noch bestätigt.Ein Schritt in die richtige Richtung ist die Schaffung ei-nes spezifischen Tatbestandes gegen das Anbieten vonKindern für sexuellen Missbrauch. Hiermit werden dieMöglichkeiten, die die Datennetze bieten, endlich straf-rechtlich berücksichtigt werden. Ich denke, dieser Mangelbedarf dringend der Aufhebung. Es ist höchste Zeit, dasshier etwas geschieht. Da halte ich den Gesetzentwurf fürsehr richtig.Über die Möglichkeiten der DNA-Analyse ist in denAusschüssen nochmals zu beraten. Insbesondere Belangedes Datenschutzes müssen gewahrt bleiben. Inwieweitder Ausbau sozialtherapeutischer Einrichtungen und dieErhöhung der Anzahl entsprechender Haftplätze eine Op-timierung der Behandlungsmaßnahmen von Straftäternnach sich ziehen, sollte nicht zuletzt auch in Anbetrachtder Kosten überprüft werden.Ich warne davor, den angestrebten Schutz der Bevölke-rung vor Sexualstraftaten durch Strafverschärfungen so zupolarisieren, dass im Ergebnis eine Bagatellisierung derVielzahl durchschnittlicher Missbrauchsstraftaten eintritt.
Damit wäre den Opfern nicht geholfen. Es entspräche si-cherlich auch nicht dem Sinn und Zweck der Gesetzes-vorlage.
Frau Kollegin Laurischk, ich beglückwünsche Sie zuIhrer ersten Rede im Deutschen Bundestag.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im letztenJahr sind vier Kinder einem der schlimmsten Verbrechenzum Opfer gefallen, das wir uns vorstellen können. Siewurden sexuell missbraucht und getötet. Auch für die An-gehörigen ist es kein Trost, wenn wir feststellen, dass dieZahl dieser furchtbaren Delikte abnimmt. Vor zehn Jahrenwaren es sieben Kinder, vor 20 Jahren noch 13 Kinder.Wir müssen alles dafür tun, um solche Straftaten mög-lichst zu verhindern. Zu Recht fragt sich die Gesellschaftnach jedem dieser schrecklichen Fälle: Tun wir wirklichalles zum Schutz der Kinder?In diesem Kontext steht auch der heutige Gesetzent-wurf der CDU/CSU. Ich nehme Ihnen ab, verehrte Kolle-ginnen und Kollegen, dass Sie es gut meinen, aber gutgemeint ist nicht immer gut. Die Mittel, die Sie vorschla-gen, sind ungeeignet. Sie missbrauchen die Ängste derBevölkerung nach solchen Sexualverbrechen, um populis-tische Maßnahmen vorzuschlagen.
Sie suggerieren, mit einer Erhöhung des Strafmaßeskönne der Schutz der Opfer vor Sexualstraftaten verbes-sert werden. Das ist nicht nur undifferenziert, sondernauch kontraproduktiv.
Neben dieser grausamsten Form sexualisierter Gewaltgibt es eine hohe Zahl an sexuellen Übergriffen. HerrBosbach hat es gerade gesagt: Jedes Jahr werden circa15 000 Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern an-gezeigt. Drei Viertel der Opfer sind Mädchen, ein Viertelder Opfer Jungen. Hinzu kommen jährlich ungefähr7 000 Vergewaltigungen. Dabei kommen die Täter meis-tens aus dem Familien- oder Bekanntenkreis der Opfer.Sexualisierte Gewalt ist Mord an der Seele der Kinder;das wissen alle, die sich mit den Opfern beschäftigen.Wenn fremde Menschen diese Verbrechen begehen, ist dieTraumatisierung der Kinder schon schwer genug zu ver-arbeiten. Wenn aber der Täter zum vertrauten, familiärenoder sozialen Umfeld gehört, ist die Tat schier unerträg-lich. Ich nenne in diesem Zusammenhang auch die vielenbekannt gewordenen Missbrauchsfälle von Priestern.Die Anzahl der registrierten Fälle von sexuellem Miss-brauch hat in den letzten Jahrzehnten insgesamt abge-nommen. Wir wissen aber auch, dass die weit überwie-gende Zahl der Fälle nach wie vor nicht zur Anzeigegebracht wird. Hier hilft Prävention durch Information.Die größere öffentliche Sensibilisierung für das Themahat zu einer gestiegenen Anzeigebereitschaft seit Beginnder 90er-Jahre geführt. Hier müssen wir auch weiter an-setzen; denn die Strafanzeige ist nun einmal die Grund-lage, um Täter strafrechtlich verfolgen und auch verurtei-len zu können. Herr Bosbach, Ihre Vorschläge gehen daeinfach an der Praxis vorbei. Wenn eine Erhöhung derMindeststrafe die Opfer tatsächlich schützen würde, dannhätten Sie uns an Ihrer Seite. Sie tut es aber nicht.
Ich habe mir zur Vorbereitung dieser Debatte dieRechtsprechungspraxis der letzten Jahre angeschaut. DieVergleichszahlen von 1984, 1993 und 1998 belegen: ImFall von sexuellem Kindesmissbrauch sind insgesamt einAnstieg der Zahl der verhängten Freiheitsstrafen undeine höhere Ausschöpfung des Strafmaßes zu verzeich-nen. Aber worauf es hier besonders ankommt, ist: Die An-zahl derjenigen, die zu mindestens einem Jahr verurteiltwurden, hat ebenso zugenommen wie die Zahl der zueiner mehr als fünfjährigen Haftstrafe Verurteilten. Daskönnen Sie in dem ersten periodischen Sicherheitsberichtvon BMI und BMJ aus dem Jahr 2001 nachlesen.Bereits heute ist jeder Fall von sexuellem Missbrauch,der die Gefahr einer erheblichen Schädigung der seeli-schen Entwicklung mit sich bringt, mit einer Mindest-
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strafe von einem Jahr belegt. Also das, was Sie wollen,meine Damen und Herren von der CDU/CSU, gibt esschon.Ihr Vorschlag, den Opferschutz durch eine Erhöhungdes Strafrahmens für „einfachen“ sexuellen Missbrauchzu verbessern, zielt in die falsche Richtung. Wollen Siewirklich, dass die einvernehmliche sexuelle Handlungzwischen einer 13-Jährigen und einem 14-Jährigen zu ei-ner Jugendstrafe führt?Und eine andere Folge ist absehbar: Eine Heraufstu-fung des Strafmaßes hätte voraussichtlich vor allem fürdie Opfer negative Folgen; die Kollegin von der FDP hates gerade ausgeführt. Es käme immer zu einer Hauptver-handlung mit den entsprechenden schädlichen Auswir-kungen für die Kinder. Auch in den leichtesten Fällenwäre eine Verfahrenseinstellung gegen Auflagen nichtmöglich. Gerade unter dem Aspekt des Opferschutzes istdies nur als kontraproduktiv zu bezeichnen, wie es auchder Anwaltverein in seiner Pressemitteilung formulierthat.Mit der von Ihnen vorgeschlagenen nachträglichen Si-cherungsverwahrung und der DNA-Analyse wird sichgleich mein Kollege Montag intensiv auseinander setzen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in der ver-gangenen Legislaturperiode deutliche Verbesserungenzum Schutz der Opfer erreicht. Ich nenne nur das Ge-waltschutzgesetz, die Heraufsetzung des Beginns derVerjährungsfrist für Schmerzensgeldansprüche wegenVerletzung der sexuellen Selbstbestimmung auf das21. Lebensjahr, die Telefonüberwachung bei schweremsexuellen Missbrauch und Kinderpornographie. Das sindnur einige Punkte.Wir werden uns weiterhin sowohl für den verbessertenOpferschutz als auch für die sozialtherapeutische Be-handlung der Täter einsetzen. Sich für das Recht vonMädchen und Jungen auf seelische und körperliche Un-versehrtheit einzusetzen, das muss unser aller Anliegensein. Mit dem von Ihnen vorgelegten Gesetzentwurf istdas nicht möglich. Lassen Sie uns aber in den Beratungennoch einmal schauen, ob es Dinge gibt, die wir gemein-sam auf den Weg bringen können, um diesem Ziel nahe zukommen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Norbert Röttgen von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich auf die Mei-nungsverschiedenheiten in diesem wichtigen Bereich zusprechen komme, möchte ich mit einer positiven Feststel-lung beginnen. Die Debatte hat sich gegenüber der De-batte, die wir noch vor zwei Wochen geführt haben unddie wir in der vergangenen Legislaturperiode über vierJahre geführt haben, verändert.Wir als CDU/CSU-Fraktion haben immer den Hand-lungsbedarf auf dem Gebiet des Schutzes von Kindern vorsexueller Gewalt betont und gefordert, dass der Gesetz-geber tätig wird. Sie haben sich dem über Jahre verwei-gert.
Heute anerkennt auch die Bundesjustizministerin, dassHandlungsbedarf besteht, und zwar – wie sie selbst sagt –inhaltlich weitgehend in Übereinstimmung mit den Vor-schlägen der CDU/CSU-Fraktion. Das begrüßen wir. Un-sere Vorschläge werden nicht dadurch falsch, dass nun-mehr auch die Justizministerin, die der SPD angehört, siefür richtig hält.Wir bedauern allerdings – das muss auch ausgespro-chen werden –, dass der Erkenntnisprozess Jahre gedau-ert hat. Wenn Sie heute Handlungsbedarf konzedieren– die Koalition ist ja die gleiche geblieben, wenn auchnicht die Person der Bundesjustizministerin –, dann heißtdas: Über Jahre bestanden, nunmehr anerkannt auchdurch die Bundesjustizministerin, Lücken im Schutz vonKindern vor sexueller Gewalt. Das ist der traurige Be-fund, der mit dem Fortschritt in Ihrer Erkenntnis einher-geht.
Frau Bundesjustizministerin, es muss uns auch erlaubtsein, dahin gehend Skepsis zu äußern, ob sich Ihre Ankün-digungen am Ende im Gesetzblatt wiederfinden. Für dieseSkepsis haben wir mehrere Gründe. Die Grünen haben so-wohl in der Debatte heute als auch in Presseerklärungenversucht, das Thema, das wir hier beraten, zu tabuisieren.Ihre Strategie bestand immer darin, zu sagen: Wer überdieses Thema spricht, der polemisiert, emotionalisiert undmacht kleinkarierte Parteipolitik. Sie haben versucht, diewichtigen Themen Opferschutz und Kriminalitätspolitikzu tabuisieren.
Ich wundere mich nur, dass Sie sich angesichts IhresVorwurfs der Polemik und der Emotionalisierung nichtüber den Bundeskanzler beschweren. Darum müssen Siesich den Vorwurf des mangelnden politischen Mutes undder Scheinheiligkeit gefallen lassen.
Der Oberpolemiker in dieser Frage ist der deutsche Bun-deskanzler. Dazu hätte ich von Ihnen gerne einmal einWort gehört.Sie brauchen eine Mehrheit. Wir stehen in dieser An-gelegenheit zur sachlichen Kooperation – wie stets – zurVerfügung. Frau Schewe-Gerigk hat mit ihrer Kritik ebenHerrn Bosbach angesprochen. Gemeint waren natürlichSie, Frau Bundesjustizministerin. Frau Schewe-Gerigkhat sich gegen Ihre Vorschläge, die Sie etwa in der „Süd-deutschen Zeitung“ gemacht haben, ausdrücklich undfrontal gewendet. Sie sind doch dafür, KindesmissbrauchIrmingard Schewe-Gerigk
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Dr. Norbert Röttgenzum Verbrechen heraufzustufen. Die Grünen haben diesgerade explizit abgelehnt. Sie haben in der Koalitionkeine Einigkeit. Ihre Ankündigungen müssen Sie erstnoch realisieren.
Wenn Sie es ernst meinen, dann haben Sie eine guteGelegenheit, dies zu demonstrieren; schließlich sagenSie: 80 Prozent des Gesetzentwurfs der Union sind inOrdnung. Wir schlagen Ihnen vor, auf der Grundlage un-seres Gesetzentwurfs zu verhandeln.
Der Mehrheit fällt kein Zacken aus der Krone, wenn siesagt: 80 Prozent dieses Gesetzentwurfs sind gut; imHinblick auf die restlichen 20 Prozent stellen wir Än-derungsanträge. Lassen Sie uns auf der Grundlage un-seres Entwurfs verhandeln! Auf diese Weise werden Sieden größten Teil Ihrer Vorstellungen durchsetzen kön-nen.Bevor ich zu den Einzelheiten komme und bevor wiruns in dem damit verbundenen Dschungel vielleicht ver-irren, liegt mir daran, zu betonen, wie der Maßstab aus-sieht. Der stellvertretende Vorsitzende unserer Fraktionhat ihn bereits beschrieben. Da er entscheidend ist,möchte ich es wiederholen. Was ist der Maßstab des po-litisch Gebotenen, des politisch Notwendigen in dieserFrage? Das Notwendige und Gebotene ist nicht wenigerals das rechtsstaatlich Mögliche. Alles, was rechtsstaat-lich möglich ist, ist das politisch Gebotene. Das ist derMaßstab. Wir erbitten auch von Ihnen eine Erklärungdazu, ob Sie diesen Maßstab akzeptieren oder ob Sie un-ter dieser Messlatte bleiben wollen, ob Sie also wenigerzum Schutz von Opfern tun wollen als das, was rechts-staatlich möglich ist.
Ich glaube, dass Sie die Konstellation nicht wirklichbegriffen haben. Sie leben in der Vorstellung, dass es da-rum geht, den Staat, der in die Freiheit des einzelnenStraftäters regulierend eingreifen will, abzuwehren. Wirmüssen das Freiheitsrecht des Straftäters – auch derStraftäter ist nicht rechtlos – gegen den Schutzanspruchdes potenziellen Opfers abwägen.
Dass es um diese Abwägung geht, verstehen Sie nicht. Ichhabe, ganz offen gesagt, den Eindruck, dass Sie, HerrStröbele, und auch Sie, Frau Schewe-Gerigk, noch imideologischen Gefängnis der 70er-Jahre hausen. BefreienSie sich von Ihren alten ideologischen Kämpfen!
Ich möchte auf die entscheidende Meinungsverschie-denheit, die zwischen uns besteht, zu sprechen kommen.Dabei geht es um die Fragen: Wie geht der Staat mit ge-fährlichen Straftätern um? Was tut der Staat zum Schutzder Bevölkerung vor Straftätern, von denen der Staatselbst aufgrund der Ergebnisse von Gutachtern glaubt,dass sie so gefährlich sind, dass sie, wenn sie entlassenwerden, mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut ein schwe-res Verbrechen begehen? Welche Schlussfolgerung ziehtder Staat daraus?
Die Koalition sagt: Wir können nichts tun. Ich sage Ih-nen: Sie, die Vertreter der Koalition, wollen in dieserFrage nichts tun.
Das geschieht nicht aus Bösartigkeit, sondern weil Sie indieser Frage nicht einigungsfähig und darum politischnicht handlungsfähig sind.
Das ist der entscheidende Punkt. Ihre verfassungsrecht-liche Argumentation ist das Alibi für Ihre politische Hand-lungsunfähigkeit. Das ist die Wahrheit. Sie können poli-tisch nicht handeln.Ich möchte diese Debatte auch nutzen, um mich mitIhren Argumenten auseinander zu setzen. Wir hatten unsja vorgenommen, eine argumentative Auseinandersetzungzu führen.
– Ja, ich gehe auf Ihre Argumente ein. Sie werden sehen,Herr Stünker, wie Sie nach jedem Argument, mit dem ichmich auseinander setze, ein Stück tiefer im eiskalten Was-ser stehen.
Erstes Argument: Von Ihrer Seite wird immer wiedergesagt, bei der Sicherungsverwahrung handele es sich umeine Form der Doppelbestrafung. Dieses Argument istfalsch. Es handelt sich hierbei um eine Maßregel mit demZiel der Besserung und Sicherung, der Resozialisierungwie der Prävention. Andernfalls müssten Sie alle Maßre-geln der Besserung und Sicherung, die im Strafgesetz-buch stehen, streichen. Das Argument kann nur aus-schließlich gelten: entweder immer oder nie. Sie könnennicht auf der einen Seite, wie gerade geschehen, eine vor-behaltene Sicherungsverwahrung beschließen, aber zu je-der anderen Form sagen, dabei handele es sich um eineForm von Doppelbestrafung. Ihre Argumentation ist indiesem Punkt also widersprüchlich. Schieben Sie das Ar-gument beiseite; es ist nicht zu halten.Ihr entscheidendes Argument lautet: Die Kompetenzfür entsprechende Gesetze liege bei den Ländern undnicht beim Bund; man könne darum nichts machen. Auchdieses Argument ist aus mehreren Gründen falsch undnicht tragfähig. Ich will das nun ausführen:Jede Reaktion des Staates auf eine Straftat – das ist un-strittig – fällt unter die Kategorie Strafrecht, nicht Poli-zeirecht, und damit in die Bundeskompetenz. Wir sind derAuffassung, dass die Sicherungsverwahrung eine Reak-tion auf die Straftat eines Straftäters darstellt,
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der seine Gefährlichkeit schon unter Beweis gestellt hat.Darum kommt hier das Strafrecht zur Anwendung.Die gesetzlichen Maßnahmen von CDU- bzw. CSU-ge-führten Ländern, auf die Sie hingewiesen haben – Bayern,Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt –, sind reineNotstandsmaßnahmen, weil der Bund sich weigert, hieraktiv zu werden. Das ist doch die Wahrheit.
Ihr Verweis auf das Landesrecht führt zu absurden Er-gebnissen: So sind die Kinder von Herrn Montag und desKollegen Götzer, die in Bayern leben, besser geschützt alsmeine Kinder, die in Nordrhein-Westfalen leben. Daskann doch nicht sein. Wir brauchen eine bundeseinheit-liche Regelung.
– In Nordrhein-Westfalen macht man aber nichts, meineDamen und Herren.
Es ist doch den Bürgern nicht verständlich zu machen,dass ein gefährlicher Straftäter in Bayern in Sicherungs-verwahrung genommen werden kann, wenn er aber nachNiedersachsen verlegt wird – Haftverlegungen kommenja immer wieder vor –, auf freien Fuß gesetzt wird.Meine Damen und Herren, in einer Frage, in der es fürden Straftäter um Freiheit oder Haft geht, in einer Frage,in der es für Opfer um Leben und Tod geht, präsentierenSie auf höchster staatlicher Ebene absurdes Theater. Siestellen auf reine Zufälligkeiten ab.
Die Auffassung, die Sie vertreten, ist auch darum unhalt-bar, weil sie das Vertrauen in die praktische Vernunft desStaates infrage stellt. Die Leute fragen: Was ist das ei-gentlich für ein Staat, der den Schutz von Opfern vorMord und schweren Verbrechen von Zufälligkeiten ab-hängig macht?
Ich will auch ein rein verfassungsrechtliches Argumentnennen. Wir bewegen uns hier im Bereich der konkur-rierenden Gesetzgebung. Da es die vorbehaltene Si-cherungsverwahrung schon gibt, hat der Bund – das istverfassungsrechtlich zwingend – hier von seiner Gesetz-gebungskompetenz Gebrauch gemacht; das heißt, in die-sem Bereich ist für die Gesetzgebung der Länder über-haupt kein Raum mehr.
– Es fällt nicht unter das Polizeirecht. Das Polizeirecht hatden Pferdefuß, dass es gerade nicht an die Straftat an-knüpfen kann, weil das Strafrecht in Bundeskompetenzfällt.
– Wir wollen keine reine Gefahrenabwehr, wir wollen nichtirgendwelche Leute, sondern einen Straftäter in Sicherungs-verwahrung nehmen, der gezeigt hat, dass er gefährlich ist.Darum ist hier eine bundesgesetzliche Regelung nötig.
Ein weiteres Argument, an dem Ihre Scheinheiligkeitdeutlich wird: Sie fordern die Bundesländer auf, hier tätigzu werden. Die CDU-geführten Länder sind hier zum Teiltätig geworden. Die Wahrheit ist doch: Rot-Grün wird aufLänderebene genauso wenig tätig wie auf Bundesebene.Sie machen doch nichts.
Ich habe gerade mit einem Kollegen gesprochen, der imniedersächsischen Landtag war. Dort hat die CDU-Frak-tion vorgeschlagen, eine landesgesetzliche Regelung zurSicherungsverwahrung einzuführen; Rot-Grün lehnte die-ses Instrument aber ab. Rot-Grün hat weder auf Bundes-noch auf Landesebene die politische Kraft dazu.Wenn Sie uns schon nicht glauben – das ist mein letz-tes Argument dazu –, dann glauben Sie doch wenigstensden Praktikern. Heute hat sich erfreulicherweise der stell-vertretende Vorsitzende des Richterbundes, ein praktizie-render Richter, zu Wort gemeldet. Er fordert als Reprä-sentant der Richter in Deutschland den DeutschenBundestag auf, die Möglichkeit nachträglicher Siche-rungsverwahrung vorzusehen. Er sagt, wir bräuchten die-ses Instrument und der Bund sei derjenige, der in der Ver-antwortung stehe, dafür zu sorgen. Hören Sie auf diePraktiker, die diese Vorschläge machen!
Ich komme kurz noch zu unseren anderen Vorschlägen,zu denen Sie weitgehend Zustimmung signalisiert haben.Wie gesagt: Bewegen Sie sich auf der Grundlage unseresEntwurfes, dann sind Sie in sicheren Gefilden.Wir haben vorgeschlagen, den Kindesmissbrauchvom Vergehen zum Verbrechen aufzuwerten. Die Grünenwidersprechen und sagen, es sei ihr Vorschlag, sie hättenihn gemacht. Wir sehen natürlich einen minderschwerenFall vor. Sie sollten unseren Gesetzentwurf erst studieren,bevor Sie ihn kritisieren.
Selbstverständlich muss es auch dafür eine flexible Rege-lung geben.Frau Kollegin von der FDP, Sie haben gleichzeitig vorVerschärfung und vor Verharmlosung gewarnt. Sie müs-sen sich, wie ich finde, erstens entscheiden, in welcheRichtung Sie kritisieren. Zweitens kann Ihr Argument,dass es sich um Beziehungstaten handele, nicht dazuführen, dass der Staat den staatlichen Strafanspruchzurücknimmt.
Denn gerade in diesem Bereich müssen wir der Neigung,zu sagen: „Reden wir nicht darüber, es ist unangenehm, esDr. Norbert Röttgen
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Dr. Norbert Röttgenwar auch nicht so schlimm“, die zu einem großen Dun-kelfeld führt, entgegenwirken. Damit übt das Strafrechteine Signalfunktion aus. Die Regelung muss praktischhandhabbar sein, das ist unser Vorschlag auch. Wir sa-gen: Kindesmissbrauch ist kein Kavaliersdelikt, son-dern eines der schwersten Verbrechen, die unsereRechtsordnung kennt. Darum reagieren wir mit demschärfsten Instrumentarium, das wir zur Verfügung ha-ben.
Wir sind übrigens der Auffassung, dass zwar durch dasStrafrecht die Signalfunktion des Staates deutlich werdenmuss, aber dass Strafen nicht alles ist. Darum habe ichmich gefreut, dass Sie auch auf den Teil unseres Antrageseingegangen sind, in dem wir eine Länder übergreifende,wissenschaftliche Begleitforschung sozialtherapeuti-scher Maßnahmen vorschlagen. Wir sind der Auffassung– ich betone es noch einmal –, dass es auch die Verant-wortung gegenüber dem Verbrecher gibt, ihn in die Ge-sellschaft zurückzuholen, ihn zu therapieren. Dann er-warte ich allerdings von denjenigen, die dies im Bundestagfordern, dort, wo sie in den Ländern Verantwortung tragen,etwa in meinem Bundesland Nordrhein-Westfalen – ichweiß nicht, wie es in anderen rot-grün-regierten Ländernaussieht –, Therapieplätze zur Verfügung zu stellen. The-rapie kostet Geld. Therapie als Lippenbekenntnis ist zuwenig.Wir haben als Union ein umfassendes Angebot un-terbreitet, und zwar – das möchte ich abschließend sa-gen – aus zwei Gründen: erstens weil es um die großeVerantwortung geht, die wir als Gesetzgeber gegenüberden Opfern und den Angehörigen von Opfern haben,zum Beispiel gegenüber den Eltern von Kindern, dieOpfer geworden und vielleicht umgebracht wordensind. Zweitens geht es – das reicht über die einzelnenSchicksale hinaus – nach unserer festen Überzeugungauch darum, die Akzeptanz der Rechtsordnung sicher-zustellen. Weil es immer wieder zu spektakulärem Auf-sehen in der Öffentlichkeit kommt, fragen die Men-schen: Welches Zutrauen können wir eigentlich in denStaat haben, der immer bedauert und redet, aber amEnde nicht handelt?Handeln wir, meine Damen und Herren, es ist höchsteZeit dazu. Wir haben Vorschläge gemacht. Schließen Siesich ihnen an. Der Staat wird an Vertrauen und Akzeptanzdadurch zurückgewinnen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine Lambrecht
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Union
wärmt ihre Vorhaben aus den letzten vier Jahren wieder
auf. Herr Bosbach und Herr Röttgen, Sie werden sich von
dieser Seite schon den Vorwurf des Populismus gefallen
lassen müssen.
– Lassen Sie mich über Sie reden! Das finde ich momen-
tan viel spannender.
Ich habe bewusst noch einmal nachgelesen: Von 1994
bis 1998 gehörten Sie beide schon dem Deutschen Bun-
destag an. Angesichts der Tatsache, dass Sie heute davon
reden, dass der Staat handeln muss und dass dringender
Handlungsbedarf besteht, frage ich mich – ich weiß, dass
Sie nicht gerne daran erinnert werden –, warum Sie in den
letzten vier Jahren Ihrer Regierungsverantwortung nicht
schon längst gehandelt haben. Sie hätten vieles von dem,
was Sie heute vorschlagen, schon umsetzen können.
Frau Kollegin Lambrecht, erlauben Sie eine Zwi-
schenfrage des Kollegen Röttgen?
Herr Röttgen hatte schon 15 Minuten Zeit, uns mit sei-nen Vorschlägen, die seine Fraktion damals nicht umge-setzt hat, zu beglücken.
– Ich habe jetzt das Wort, Herr Röttgen.
Auch mir als Mutter eines zweijährigen Sohnes hatsich bei der sehr drastischen Darstellung der grauenhaftenVerbrechen, die Herr Bosbach gegeben hat, im wahrstenSinne des Wortes der Magen umgedreht. Das geht wahr-scheinlich allen so, die von solchen Verbrechen hören.Gerade weil ich mich persönlich betroffen fühle, möchteich allen Eltern in die Augen schauen können, wenn ichihnen sage: Ja, wir haben in der Politik alles getan, waswir tun können. – Die Frau Ministerin hat es vorhin schonbetont: Die Verantwortung liegt nicht nur bei der Politik,sondern auch bei Richtern und Therapeuten. Mein Anlie-gen ist, dafür zu sorgen, dass wir mit Recht sagen können:Ja, wir haben alles getan, um die Menschen vor Sexual-straftaten zu schützen, um Sexualstraftaten zu verhindernund um die Täter zu überführen.Jetzt stellt sich die Frage, was wir in den letzten vierJahren getan haben. Wir haben die dauerhafte Unterbrin-gung der Täter zum Schutz der Allgemeinheit durchge-setzt. Wir haben die Telefonüberwachung bei Kinderpor-nographie verschärft und die Therapiemöglichkeiten fürTäter verbessert. Ohne deren Zustimmung ist mittlerweileeine Verlegung in eine Anstalt möglich, in der sozialthe-rapeutische Maßnahmen durchgeführt werden. Ich sage
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im Namen der SPD-Fraktion: Wir müssen alles tun, damitdie Opfer besser geschützt werden. Aber das muss inner-halb der rechtsstaatlichen Grenzen geschehen.
Deshalb verschließen wir uns sinnvollen Vorschlägennicht. Aber lassen Sie mich einmal beleuchten, welcheVorschläge von Ihnen kommen. Es wurde wieder dieStrafverschärfung angesprochen. Jeder, der mit der Pra-xis zu tun hat, weiß, dass in den seltensten Fällen – ichwürde sagen, dass die Zahl gegen null geht – der Straftä-ter, insbesondere der Sexualstraftäter, einen Blick in dasStGB wagt, bevor er sich zu einer Straftat entschließt.
Deswegen kann man nicht von der Strafverschärfung alseiner Wunderwaffe leben.
– Herr Götzer, dieser Zuruf ist Ihrer nicht würdig.Darüber hinaus haben Sie, Herr Röttgen, davon gespro-chen, dass eine Unterbringung nicht möglich sei, weil dieLänder keine entsprechenden Möglichkeiten haben. Natür-lich sind die Länder dazu in der Lage. Nach dem Polizei-recht können sie immer dann eine Unterbringung anordnen,wenn eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ord-nung besteht. Es ist die Aufgabe der Länder, zu handeln.
Lassen Sie mich auf die Ausweitung der DNA-Ana-lyse eingehen. Ihr Vorschlag scheint mir aus rechtsstaatli-chen Gesichtspunkten sehr fragwürdig. Wie ist denn diederzeitige Gesetzeslage? Wir haben die Situation, dass dieUntersuchung und auch die Speicherung genetischenSpurenmaterials nach der Strafprozessordnung im laufen-den Ermittlungsverfahren immer möglich ist, wenn da-durch für das Verfahren wichtige Tatsachen festgestelltwerden können. Auch für zukünftige Strafverfahren kön-nen die gewonnenen Spuren gespeichert werden. Dies istallerdings nur dann möglich, wenn der Betroffene einerStraftat von erheblicher Bedeutung verdächtigt wird undsolche Straftaten auch in Zukunft von ihm zu erwartensind. Das heißt, die gefährlichen Sexualstraftäter werdenvon dieser Gesetzeslage vollständig erfasst.Sie möchten nun diese Voraussetzungen ändern unddafür sorgen, dass jede Straftat – so der ursprüngliche Ent-wurf – mit „sexuellem Hintergrund“ zur Speicherung zu-gelassen werden soll. Sie wollen damit auch die Exhibi-tionisten erfassen.
Dieses Anliegen mag noch berechtigt sein; da wider-spreche ich Ihnen nicht. Aber man muss sich schon fra-gen, ob man die Richtigen erfasst. Sie argumentieren, dassExhibitionisten später gefährliche Sexualstraftäter wer-den können. Das mag im Einzelfall möglich sein. DieStudie hat aber ergeben, dass lediglich 1 bis 2 Prozent derExhibitionisten später Gewaltdelikte verüben.
Man muss sich deshalb aufgrund rechtsstaatlicher Gesichts-punkte überlegen, ob man das Grundrecht auf informa-tionelle Selbstbestimmung einschränkt. Darüber müssenwir diskutieren; das ist ein Abwägungsprozess. Denn dieSpeicherung des genetischen Materials stellt schon einenerheblichen Eingriff in dieses Grundrecht dar.
In Ihrem ursprünglichen Entwurf wurde das alles ziem-lich aufgeweicht. Sie hätten nämlich nicht nur den Exhi-bitionisten, sondern auch den Täter erfasst, der die Straftateiner sexuellen Beleidigung begeht, typischerweise – somöchte ich sagen – den Grapscher. Ich weiß nicht, ob Siedie wirklich erfassen wollten. Ich treibe es jetzt einmal aufdie Spitze: Mit Ihrer ursprünglichen Definition hätten Sieall diejenigen erfasst, die ohne Führerschein oder betrun-ken zu einer Prostituierten fahren und damit schon im Vor-feld eine Straftat begangen hätten. Es kann doch nichtwahr sein, dass das Ihr Ansinnen gewesen ist.
– Sie sollten Ihre Entwürfe genau lesen und verstehen.Dann sehen Sie, wie absurd die sind.
– Das ist der sexuelle Hintergrund. Wenn Sie dies nichtverstehen, dann kann ich Ihnen nur raten: Gehen Sie in Ih-rer Fraktion noch einmal in Klausur!Aber man muss Ihnen zugute halten: Sie haben dazu-gelernt. Aus diesem „sexuellen Hintergrund“ ist mittler-weile „sexueller Bezug“ geworden. Von daher sehe ich,dass Sie auf einem guten Wege sind. Vielleicht schaffenwir es, nach etwas sachlicheren Beratungen im Rechts-ausschuss dahin zu kommen, wohin wir alle wollen: einenbesseren Schutz der Opfer zu ermöglichen.Meine Damen und Herren, ich möchte jetzt auf die ein-zelnen Vorschläge nicht eingehen. Ich denke, es ist sinn-voller, darüber im Rechtsausschuss mit der gebotenenSachlichkeit und ohne das Magengrimmen, das man indiesem Zusammenhang als Mutter bzw. als derjenige hat,der Verantwortung für Kinder trägt, zu sprechen. Ichwarne davor, dass der Rechtsstaat in einer Form einge-schränkt wird, die unverhältnismäßig ist. Diesen Abwä-gungsprozess müssen wir wahrlich machen. Unsere Be-reitschaft dazu haben Sie.
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Dr. Norbert Röttgen das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Ich ergreife nur kurz das Wort, weil ich eine Behauptung,Christine Lambrecht
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Dr. Norbert Röttgendie Sie, Frau Kollegin, gemacht haben und die nicht derWahrheit entspricht, zurückweisen muss. Sie sind zwarerst seit 1998 Mitglied des Bundestages. Das gibt Ihnenaber nicht das Recht, falsche Behauptungen über die Ge-setzgebungstätigkeit der Regierung Helmut Kohl, derCDU/CSU- und FDP-Regierung, in den Jahren von 1994bis 1998 aufzustellen.Noch 1998 – das möchte ich dem Haus und Ihnen per-sönlich mitteilen – haben wir ein umfassendes Straf-rechtsänderungsgesetz verabschiedet. Es ging um zweizentrale Punkte: Der eine betraf den Schutz von Behin-derten vor Kriminalität, der andere die Einführung undErweiterung der Sicherungsverwahrung, die gerade ges-tern durch ein Urteil des Bundesgerichtshofes bestätigtund bekräftigt worden ist.Das ist der Unterschied: Wir waren, als wir noch regierthaben, kontinuierlich aktiv. In der Opposition haben wirgemahnt. Sie waren inaktiv. Sie, Frau Kollegin, haben dieWahrheit verdreht; das muss klar gestellt werden.
Zur Erwiderung, Frau Kollegin Lambrecht.
Herr Röttgen, es mag zwar zutreffend sein, dass Sie in
diesem Bereich tätig gewesen sind. Aber dennoch ver-
misse ich, dass Sie während Ihrer Regierungszeit die Vor-
schläge, die Sie heute einbringen, mit eingebunden haben.
Warum haben Sie das nicht getan? Dann hätten vielleicht
manche von diesen Verbrechen verhindert werden kön-
nen. Das wäre es wert gewesen. Von daher war der Hand-
lungsbedarf umfassender. Es wäre sinnvoller gewesen,
nicht auf halbem Wege stehen zu bleiben.
Das Wort hat jetzt der Kollege Jörg van Essen von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieAufarbeitung der Vergangenheit gerade hat mir deutlichgemacht, dass wir die Diskussion offensichtlich leidernicht mit dem Ernst betreiben, den sie eigentlich verlangt.Denn wer die Diskussion zwischen 1994 und 1998 mit-bekommen hat, weiß, dass damals zwischen allen Frak-tionen des Deutschen Bundestages wesentliche Ge-spräche stattgefunden haben und wir dort zu Lösungengekommen sind, die eine breite Zustimmung gefundenhaben. Ich persönlich – wir von der FDP haben damalsden Justizminister gestellt – bin heute noch froh über das,was wir damals insbesondere zur Verbesserung des Op-ferschutzes getan haben. Wir haben gemeinsam wesentli-che Fortschritte im Strafrecht erreicht.
Das Wort „gemeinsam“ möchte ich deswegen betonen,weil ich denke, dass es unsere Verpflichtung bleibt, auchjetzt ebenso zu handeln.
Das gesamte Parlament kann dann Profil erreichen, wennwir gemeinsam nach guten Lösungen suchen. Ich will fürdie FDP signalisieren, dass wir genau dazu bereit sind.Dass aber manches, was vielleicht im ersten Augen-blick als richtiger Weg erscheinen mag, dann doch be-rechtigt hinterfragt werden kann, hat die heutige Debattegezeigt. Der Kollege Bosbach hat darauf hingewiesen,dass wir – ich finde, das ist eine außerordentlich erfreu-liche Tatsache – einen allgemeinen Rückgang der Straf-taten haben. Das hat verschiedene Ursachen: Zum Teil ha-ben die Maßnahmen, die wir gemeinsam verabschiedethaben, gegriffen; zum Teil gibt es eine größere Ermuti-gung an Kinder, sich zu offenbaren. Das ist ein Aspekt,über den wir leider viel zu wenig diskutieren: wie man dieVorbeugung verbessern kann. Dies kann beispielsweisedadurch geschehen, dass wir Kinder ausbilden, stärker zusein, sich zu offenbaren und bereits die ersten Versuche zumelden.
Ich wollte das in diese Debatte ganz bewusst einbringen,weil es auch Möglichkeiten außerhalb des Strafrechtesgibt, zu einer Verbesserung des Schutzes von Kindern zukommen.Der Debattenbeitrag des Kollegen Bosbach hat auchaufgezeigt, dass wir in einem Bereich leider eine Zunahmeverzeichnen müssen, nämlich beim schweren sexuellenMissbrauch von Kindern. Das ist bereits ein Verbrechen.
Das zeigt, dass die Tatsache der Heraufstufung zu einemVerbrechen allein möglicherweise nicht die Konsequen-zen hat, die wir uns alle davon erhoffen. Von daher bitteich, dieses Thema noch einmal sehr sorgfältig zu disku-tieren. Ich fand es – ich selbst komme als Oberstaatsan-walt aus der strafrechtlichen Praxis – immer hilfreich, dieStrafbarkeit sehr früh einsetzen zu lassen, weiß aber, dassviele Richter sehr zurückhaltend sein werden, Straftatbe-stände, die jetzt schon strafbar sind, auch in Zukunft so zuwerten, wenn ein Verbrechen vorliegt. Auch darüber wer-den wir sorgfältig zu diskutieren haben.Ich möchte einen zweiten Aspekt ansprechen, der mirganz außerordentlich wichtig ist. Das ist die Frage des Op-ferschutzes. Der Opferschutz hat heute Gott sei Dank inder Debatte eine Rolle gespielt, aber es gibt einen Bereich,
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über den wir bisher nicht gesprochen haben, über den wiraber sprechen müssen. Das sind die Konsequenzen, diebeispielsweise die Ermordung eines Mädchens – einigeFälle sind hier angesprochen worden – für die Familie hat.Wer einmal eine solche Familie erlebt hat, vielleichtsogar die Nachricht über die Tötung eines Kindes über-bringen musste – ich habe es einmal tun müssen –, derweiß, welche Auswirkungen das in der Familie hat. Ichdenke, dass wir den Opferschutz, insbesondere was dieBezahlung von psychologischer und psychiatrischer Be-treuung anbelangt, verbessern müssen. Wir bringen dasals FDP in die Diskussion ein.Wir werden konstruktiv mitarbeiten und ich hoffe, dasswir zu einem Ergebnis kommen werden, mit dem wirnicht nur zufrieden sind, sondern vor allen Dingen denSchutz von Kindern vor sexueller Gewalt verbessern.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Jerzy Montag, Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir disku-tieren heute über ein wirklich ernstes Thema, bei dem sichbillige Polemik und Missbrauch für parteiegoistischeZwecke verbieten wie bei kaum einem anderen Thema.Herr Dr. Röttgen, das sage ich in alle Richtungen; bittenehmen Sie das so zur Kenntnis.Weil Sie von der Opposition in Bezug auf Bündnis 90/Die Grünen von angeblicher Tabuisierung bei diesemThema gesprochen haben, bitte ich Sie jetzt, genau zu-zuhören. Wir reden von ganz schrecklichen Straftaten, wirreden von kaum vorstellbaren Gewalt- und Unterwer-fungsakten gegen Kinder. Wir reden aber auch von einerin ihrer konkreten Ausformung schier unüberschaubarenVielfalt von – das setze ich für das Protokoll und für Sieganz bewusst in Anführungszeichen – so genannten „ein-fachen“ Fällen des sexuellen Missbrauchs.Für meine Fraktion ist in diesem Zusammenhang völ-lig klar: Der Schutz der Kinder und Jugendlichen vorsexuellen Übergriffen – gleich welcher Art und Intensität,egal ob von fremden Tätern oder dem sozialen Nahraum –hat oberste Priorität.
Am besten beginnt man, diesen Schutz aufzubauen undzu stärken, bevor eine mögliche Straftat vorliegt. DieStraftaten selbst müssen effektiv und, wenn nötig und so-weit möglich, präventiv bekämpft werden. Den Opfern– es sind Kinder jeden Alters und in der großen MehrzahlMädchen – wollen wir helfen. Sie sollen nach Möglich-keit nicht mehrfach Belastungen ausgesetzt werden, diesie psychisch und seelisch nicht verkraften können.Wir reden heute aber auch – Herr Kollege Dr. Röttgen,ich danke Ihnen dafür, dass Sie das vor zwei Wochen beider Debatte über die Regierungserklärung und heute aus-drücklich erwähnt haben – von den Tätern – im Strafver-fahren bis zur Rechtskraft auch von Verdächtigen und Be-schuldigten –, die keine Milde, aber Gerechtigkeit undRechtsstaatlichkeit erfahren sollen.
Mit welcher Intention und welchem Zungenschlag prä-sentieren Sie aber Ihren Gesetzentwurf? Sie schreiben dort,der Schutz der Allgemeinheit solle verbessert werden. Die-ser Schutz – so der Wortlaut – „muss wieder den hohenRang einnehmen, der ihm gebührt.“ Herr Dr. Röttgenschrieb in einer Presseerklärung vom 5. November, dassseine Fraktion tätig geworden sei, damit – gestatten Sieauch hier das Zitat – „Straftäter ... nicht länger von rot-grünen Versäumnissen profitieren können.“ Darum gehtes aber nicht. Es geht weder um abstrakte Versäumnissenoch um rot-grüne Versäumnisse in dieser Sache. Diesenämlich gibt es nicht, meine Damen und Herren von derOpposition. Mit solcher Polemik machen Sie den Men-schen im Lande nur Angst, schüren Stimmungen undzeichnen ein falsches Bild von Deutschland – als obDeutschland ein Eldorado für Kinderschänder und trieb-gestörte Mörder sei!
Das ist unverantwortlich und geht an den Fakten sowie aneiner sachlichen Debatte völlig vorbei.In der Substanz wollen Sie, meine Damen und Herrenvon der Opposition, dreierlei erreichen:Erstens. Sie wollen horchen und sammeln, sprich: nochmehr Telefonabhörungen und noch mehr DNA-Speiche-rungen, und zwar ohne eine Abwägung mit Grundrechtenvon Unschuldigen, mit Grundrechten von Verdächtigenund mit Grundrechten von Verurteilten mit einem nur ge-ringen Strafmakel. Herr Dr. Röttgen, weil Sie gesagt haben,dass natürlich nur das gemacht werden könne, was rechts-staatlich möglich sei, dies aber gemacht werden müsse– von unserer Seite kam der Zwischenruf: „Wir wollenmehr tun!“ –, entgegne ich Ihnen: Die Rechtsstaatsgrenzeist aber zu beachten. Es gibt in der Rechtssprechung desBundesverfassungsgerichts ganz klare Grenzen für dieDNA-Analyse, nämlich die Erheblichkeitsschwelle. DieseErheblichkeitsschwelle werden wir nicht unterschreiten.
Zweitens. Sie wollen die Sicherungsverwahrung ohneeine Ankopplung an ein richterliches Erkenntnisverfahrenund ohne eine Verklammerung mit einem strafrechtlichenVorwurf. Sie wollen die Sicherungsverwahrung zu einemselbstständigen Instrument der Gefahrenabwehr machen,was – so, wie Sie es wollen – vor den Grundrechten derVerfassung keinen Bestand haben kann. Auch hier giltnämlich die rechtsstaatliche Grenze. Deshalb sagen wir:Auch das wollen wir nicht.
Jörg van Essen
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Jerzy MontagDrittens. Sie wollen alle denkbaren Fälle des sexuellenMissbrauchs erst einmal grundsätzlich als Verbrechen de-klarieren. Dabei wollen Sie vergessen machen – ich bindankbar, dass Sie in Ihrer Kurzintervention genau das an-gesprochen haben –, dass die Systematik der Sexualtatbe-stände in vielen Reformschritten, gerade des Jahres 1998,von Ihnen in einer grundsätzlich stimmigen, abgestuftenSystematik neu formuliert worden ist. Sie wollen das ein-fangen. Das ist doch ein Trick: Sie erklären grundsätzlichalle Sexualstraftaten an Kindern zu Verbrechen und nor-mieren in Abs. 2 die minderschweren Fälle. Das ist vonder Sache her bei unjuristischer, globaler Betrachtung dasGleiche wie der jetzige Rechtszustand: Gemäß § 176StGB werden die so genannten Normalfälle als Vergehenund die besonders schweren Fälle in § 176 a StGB als Ver-brechen geahndet.
Mit Ihren minder schweren Fällen erreichen Sie keine Er-höhung des Strafrahmens, sondern lediglich eine Verkeh-rung von Regel und Ausnahme. Aber lassen Sie uns darü-ber im Ausschuss im Einzelnen diskutieren.Wir Grünen wollen jedenfalls keine Ausweitung desHorchens und Sammelns. Wir wollen keine selbstständigeSicherungsverwahrung. Wir wollen auch nicht alle denk-baren Fälle des sexuellen Missbrauchs zu einem Verbre-chen hochstilisieren.Mir läuft die Zeit davon, sodass ich unsere Vorschlägenicht mehr im Einzelnen darstellen kann. Wir sind mit Ih-nen einig, was die Billigung von Straftaten, die Siche-rungsverwahrung nach § 106 Jugendgerichtgesetz, For-men des nichtkörperlichen Missbrauchs und das Anbietenvon Kindern im Internet angeht. Das muss geregelt wer-den. Da werden wir zusammenarbeiten.Zusammenfassend sage ich Ihnen: Wir werden sehrrasch einen Gesetzentwurf dazu vorlegen. Wir laden Sie zueiner konstruktiven Debatte über diesen Gesetzentwurf ein.Allerdings werden wir, verzeihen Sie, nicht Ihren Entwurfzur Grundlage des weiteren Gesetzgebungsgangs machen.Danke.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Jürgen Gehb von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als vor-letzter Redner bin ich in der komfortablen Situation, aufdas, was ich hier gehört habe, replizieren zu können. FrauMinisterin, ich befürchte, dass Ihr Angebot, wir könntenuns zu vielen Punkten einigen, durch einige Wortbeiträge,die ich zuletzt erlebt habe, zunichte gemacht worden ist.Darauf möchte ich mich kaprizieren.Herr Montag, Sie machen uns wie viele Ihrer Vorred-ner den Vorwurf des Populismus. Ein Einziger hat in die-ser Sache populistisch agiert: Bundeskanzler Schröder,als er beifallsheischend der „Bild am Sonntag“ sagte, wersich an kleinen Mädchen vergehe, müsse weggeschlossenwerden – „und zwar für immer“.
Ganz abgesehen davon, dass das auch in der Sache falschist, kann vielleicht bei dieser Gelegenheit ein bisschenNachhilfe zur Unterscheidung zwischen Strafe und Maß-regel der Sicherung und Besserung gegeben werden, ob-wohl wir das eher im Ausschuss machen sollten.Auch derjenige, für den im Urteil die Sicherungsver-wahrung angeordnet worden ist, ist nicht bis in alle Ewig-keit verdammt, eingesperrt zu bleiben.
Vielmehr gibt es eine Anpassungsmöglichkeit, nämlich dieMöglichkeit, sich zu bewähren und freigelassen zu wer-den. Nur im umgekehrten Fall fehlt diese Anpassungs-möglichkeit: Wenn keine Sicherungsverwahrung ange-ordnet worden ist, sich aber im Laufe des Vollzugs ergibt,dass der Täter gefährlich ist, fehlt die Möglichkeit, ihnweiter einzusperren. Das ist, so muss ich sagen, geradezuauf den Kopf gestellt.Es wundert mich, dass Juristen pausenlos das Verbotder Doppelbestrafung in den Mund nehmen: „ne bis inidem“. Die Unterscheidung muss Ihnen doch klar sein: Esgibt kriminelles Unrecht, das bestraft wird, wenn jemandtatbestandsmäßig, rechtswidrig und schuldhaft gehandelthat; daneben gibt es die Maßregel der Sicherung und Bes-serung, die gerade keine Strafe ist. Das ist ähnlich wie beiDisziplinarverfahren. Als wir Soldaten waren, einer we-gen Trunkenheit am Steuer verurteilt wurde und dannnoch ein Disziplinarverfahren kriegte, wurde aus derSicht des juristischen Laien – das waren Nichtjuristen;manchmal habe ich den Eindruck, ich bin auch hier mitdiesen konfrontiert –
gesagt: Das verstößt aber gegen das Verbot der Doppel-bestrafung.
– Frau Simm, Sie kriegen gleich noch die richtige Ant-wort.Frau Lambrecht, Sie wurden eben des ungenauen Um-gangs mit der Wahrheit überführt, und zwar nicht zum ers-ten Mal.
Der Einwand, man hätte das schon in den vorangegangenLegislaturperioden regeln können, ist geradezu abwegig.Dann hätte man nämlich nach der ersten Legislaturperi-ode aufhören können, Politik zu machen.
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Ein weiteres geradezu abwegig anmutendes Argu-ment – ich nenne es, obwohl es in dieser Debatte etwasunpassend wirkt, ein Totschlagsargument – ist: Strafver-schärfungen oder Neuregelungen im Strafgesetzbuchschrecken sowieso keinen Täter ab; niemand schaut vorBegehung seiner Tat ins Strafgesetzbuch. Wenn man dieskonsequent zu Ende denken würde, könnte man sagen:Man braucht gar kein Strafgesetzbuch. Dann kann manalle Tatbestände abschaffen. So geht es aber weiß Gottnicht.
Im Übrigen haben Sie, Frau Lambrecht, verkannt, dasses nur deshalb zu dieser Strafverschärfung kommt, weilman den Deliktscharakter vom Vergehen wie bei einemKaufhausdiebstahl zum Verbrechen hoch setzen wollte.Dies ist der wesentliche Unterschied. Darauf beruht dieStrafverschärfung.Frau Ministerin, wir haben uns vor 20 Jahren auf ganzanderem Gebiet rechtsdogmatisch auseinandergesetzt.
– Ja, das habe ich euch allen voraus.
Was mich ein bisschen wundert, ist Ihre Angst, dass dieStaatsanwaltschaft – –
– Doch, Herr Minister Schily, Sie waren ja nicht da. Siehat es wörtlich gesagt. Das können Sie nachlesen.Frau Zypries, Sie haben gesagt: „Ich habe ein bisschenAngst davor, dass die Staatsanwälte zurückschreckenoder gehemmt sind, in Zukunft Anklage zu erheben, wennsich der Deliktscharakter vom Vergehen zum Verbrechenerhöht.“ Woher Sie diese Erkenntnis haben, weiß ich nicht.Ich möchte noch einmal auf die Sicherungsverwah-rung zurückkommen, denn dies ist offenbar das Thema,das hier am streitigsten ist. Wir hören pausenlos den Ein-wand, dies gehöre zur Gefahrenabwehr und falle deshalbin die Kompetenz der Länder. Dazu will ich Ihnen einmaletwas sagen: Es handelt sich hierbei in der Tat um eineSchnittstelle zwischen repressiven Maßnahmen gegen-über Straftätern und präventiven Maßnahmen für die Zu-kunft. Dies ist aber typisch für das Strafrecht, insbeson-dere für den Strafvollzug.Die Strafzwecklehre sagt
– ich sage es Ihnen einmal auf Lateinisch –:Punitur quia peccatum est ne peccetur.
Das heißt, meine Damen und Herren: Es wird erstens be-straft, weil gesündigt worden ist, und zweitens, damitnicht wieder gesündigt werden kann. Dahinter steckt ein-mal der Sühnecharakter, aber auch der Präventionscha-rakter.Strafvollzug oder der Vollzug in der Maßregelsicherunghat per se präventiven Charakter
und ist deshalb nicht im Rahmen der Gefahrenabwehrre-gelungen unter Länderhoheit zu stellen. Dies ist der eineGesichtspunkt.
Der nächste Gesichtspunkt: Gefahr im Sinne des poli-zeirechtlichen Gefahrenbegriffs hat ganz andere Kautelenals die Gefährlichkeitsprognose eines Täters, vor demman die Allgemeinheit schützen möchte. Die unmittel-bare Gefahr, wie sie im Polizei- und Ordnungsrecht derLänder steht, ist nicht mit der latent tickenden Zeitbombedes Sexualstraftäters zu vergleichen, von dem man imLaufe des Strafvollzugs gemerkt hat, dass er nicht thera-pie- und sozialisierungsfähig ist. Dies ist ein ganz andererAnsatzpunkt.
– Frau Simm, die einzigen geistreichen Zurufe – dieshören sonst die Zuschauer nicht –, die Sie pausenlos ma-chen, sind: „Keine Ahnung“. Wenn Sie damit sich selbstmeinen, kann ich Ihnen allerdings nur Recht geben.
Ein dritter Punkt: Wenn es so wäre, wie Sie es gesagt ha-ben, wäre schon seit jeher die Anordnung der Sicherungs-verwahrung ein Fremdkörper in der Strafrechtsdogmatik.
– Herr Stünker, dass Sie die Sicherungsverwahrung mitspitzen Fingern anfassen und sie am liebsten verdammenwürden, haben Sie in sämtlichen Gesprächen im Rechts-ausschuss unter Beweis gestellt, das haben Sie durch meh-rere Zwischenrufe am 19. Oktober letzten Jahres zumAusdruck gebracht, als der Kollege Geis hier davon ge-sprochen hat, dass wir einen Mangel an nachträglicher Si-cherungsverwahrung haben. Damals haben Sie gerufen:„Gott sei Dank!“ und „Gut so!“ – nachzulesen im Plenar-protokoll 14/196, Seite 19166.
Dazu, wie Sie sich wie eine Schnecke an diese Thema-tik herankriechen, jahrelang gar nichts davon wissen wol-len, sich dann aber unter dem Druck der Länder oder desBundeskanzlers zumindest zu dieser Vorbehaltslösungdurchringen, will ich Ihnen auch etwas sagen. Zunächsthatte ich gedacht – und das war auch der Grund, warumdie Länder so darauf angesprungen sind –: Wenn schonkeine nachträgliche isolierte Sicherungsverwahrung,dann wenigstens die Vorbehaltslösung. Das ist nur primafacie eine Verbesserung; bei näherem Hinsehen ist es eineVerschlimmbesserung, und zwar aus folgendem Grunde:In den Fällen, in denen das erkennende Gericht bisher eineSicherungsverwahrung mit dem Urteil ausgesprochenhat, ist in Zukunft zu befürchten, dass mancher Richter– das ist das, was Sie, Frau Zypries, vielleicht mit derÄngstlichkeit gemeint haben – sagt, um sich auf der siche-ren Seite zu bewegen: Ich will die SicherungsverwahrungDr. Jürgen Gehb
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Dr. Jürgen Gehbnicht jetzt schon verbindlich anordnen, sondern behaltesie mir vorsichtshalber vor; mag man dann im Strafvoll-zug sehen, wie es wird. – Das ist eine Schwäche Ihrer Vor-behaltslösung.Eine zweite Schwäche ist, dass natürlich der Richterdie Anordnung von Sicherungsverwahrung gänzlich ver-säumen kann, aus welchen Gründen auch immer – Rechts-irrtum, Vergessen. Auch in diesen Fällen besteht eineLücke, die man nur durch eine isoliert anzuordnende Si-cherungsverwahrung schließen kann.Ein dritter Fall, meine Damen und Herren. Sie könnendie Fälle damit ja nur pro futuro lösen, vielleicht erst amSankt-Nimmerleins-Tag. Was ist denn mit all den ticken-den Zeitbomben, die jetzt schon einsitzen und bei denenman genau sieht, dass man sie eigentlich nicht wieder aufdie Gesellschaft loslassen kann, bei denen man aber weiß,dass man sie nach Verbüßung der Strafhaft herauslassenmuss? Das müssen Sie mal den Eltern der Geschädigtenund Gedemütigten erklären. Herr Bosbach hat eben einekleine Anzahl von Fällen aufgeführt. Ich möchte einmalwissen, wie Sie das in der Öffentlichkeit jemandem ver-kaufen wollen.
Wir werden es sehen. Herr Stünker, Sie haben jetzt dasSchlusswort,
– Ich werde mich bemühen, die Contenance zu behalten.Das ist bei Ihren Reden auch nicht immer leicht. – Ichfreue mich dennoch, dass Sie als neuer rechtspolitischerSprecher der SPD in Zukunft die Gelegenheit haben, imRechtsausschuss zu beweisen, dass auch Sie zu läuternsind.Herzlichen Dank, meine Damen und Herren.
Das Wort hat jetzt der Kollege Joachim Stünker, SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Herr Kollege Gehb, für eineStrafrechtsprofessur hätte das eben nicht gelangt.
Ich hätte sogar Schwierigkeiten mit dem kleinen Straf-rechtsschein gehabt, Herr Kollege Gehb, weil Sie ja aufhohe Dekorationen großen Wert legen, wie Sie uns ge-zeigt haben.
Meine Damen und Herren, noch einmal im Blick aufdie Rede von Frau Lambrecht: Herr Kollege Röttgen, istes nicht ganz fair, wenn Sie der Kollegin Lambrecht hiervorwerfen, die Unwahrheit gesagt zu haben. Wir beschäf-tigen uns heute innerhalb von zwei Jahren zum viertenMal mit Ihren Vorschlägen für Änderungen im Sexual-strafrecht.
Ihr Vorschlag enthält die Forderungen, die Sie seit 1997stellen und die Sie 1998 in der Strafrechtsänderungsdis-kussion mit Ihrem Koalitionspartner nicht durchsetzenkonnten. Das ist die Wahrheit, Herr Kollege Röttgen.
Sie haben Ihre Vorstellungen 1998 nicht ins Strafgesetz-buch hinein bekommen. Darum haben Sie es in den letz-ten zwei Jahren viermal versucht.Meine Damen und Herren, in den Debatten, die wir seitzwei Jahren führen, haben wir interfraktionell immerdarin übereingestimmt – auch die große Mehrheit der Be-völkerung stimmt mit uns darin überein, – dass dieStraftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung des Men-schen, insbesondere bei sexuellem Missbrauch von Kin-dern, Jugendlichen, Schutzbefohlenen und widerstands-unfähigen Personen, zu den abscheulichsten undverachtungswürdigsten Straftaten überhaupt gehören.Darin sind wir uns einig. Der Staat hat daher zum Schutzder Bevölkerung gerade in diesem Bereich der körperli-chen und seelischen Selbstbestimmung der Menschen mitNachdruck seiner Justizgewährungspflicht zu genügen.
Das tun wir und das Strafrecht ist hierzu konsequent an-zuwenden, denn das Strafrecht gibt das Instrumentariumdafür bereits heute her.
Ich hoffe aber auch, dass wir interfraktionell in einerweiteren Zielbestimmung ebenso übereinstimmen, näm-lich darin, dass die Sexualdelikte, so ekelhaft und soschwerwiegend sie sind und so schutzbedürftig die Opfersind, nicht dazu dienen dürfen, den Rechtsstaat aufzurol-len, weil andere Delikte sonst zwangsläufig folgen wür-den.
Dieser Satz stammt nicht von mir, sondern von dem vonIhnen benannten Sachverständigen Professor Krey ausTrier, mit dem er in der letzten Anhörung zu diesemThema genau auf diese Gefahr hingewiesen hat.
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Es ist gegenwärtig vor dem Hintergrund vieler spekta-kulärer Fälle – Herr Bosbach hat heute Morgen eine ent-sprechende Aufzählung vorgenommen – und der Bericht-erstattung in den Medien darüber leicht, im Bereich derSexualstraftäter vieles durchzuboxen, was man bei ge-nauer Betrachtung unter rechtsstaatlichen Aspekten ei-gentlich gar nicht will. Daher ist es sehr wichtig, dass wirsehr sachlich und ohne die Emotionen, die teilweise in dieheutige Debatte hineingekommen sind, über die hier zur De-batte stehenden Themen im Rechtsausschuss diskutieren.
Das betrifft insbesondere Ihren Vorschlag zur Ein-führung der nachträglichen Sicherungsverwahrung, mitdem Sie im Nachhinein den von uns im August geschaf-fenen § 66 a wieder in Ihrem Sinne ändern wollen. HerrKollege Röttgen, auch hier muss man richtig zitieren. Siehaben vorhin sozusagen als Kronzeugen für Ihre Meinungden Deutschen Richterbund genannt. Wenn Sie die ent-sprechende Pressemitteilung zu Ende gelesen hätten, dannhätten Sie festgestellt, dass ein Oberstaatsanwalt und keinRichter die von Ihnen zitierte Erklärung abgegeben hat.Auch die Praktiker sind also in der Beurteilung dieser Fragesehr gespalten. Daher gilt: Die ganze Wahrheit und nichtdie halbe Wahrheit ist wirklich die endgültige Wahrheit.
– Ich möchte damit nur sagen, dass jede Seite diese Fragesehr unterschiedlich beurteilt. Deshalb kann man nicht eineeinzige Meinung als die richtige darstellen, Herr Kollege.Lassen Sie mich, wenn wir über die Sicherungsver-wahrung reden, kurz skizzieren, wie sich eigentlich diegegenwärtige Rechtslage nach den vielen Änderungen,die wir vorgenommen haben, darstellt. Nach Abs. 1 derVorschrift ist die Anordnung der obligatorischen Siche-rungsverwahrung für den mehrfach rückfällig geworde-nen Straftäter möglich. Abs. 2 regelt dann nach der Ziel-setzung die fakultative Sicherungsverwahrung für denunentdeckt gebliebenen Serientäter. Abs. 3 enthält sehrdifferenzierte Regelungen für den Sexualtäter, der schonbei einer einmaligen Vortat in Sicherungsverwahrung ge-nommen werden kann.Im Sommer dieses Jahres haben wir § 66 a – die vor-behaltene Sicherungsverwahrung – neu geschaffen. Da-nach können die Gerichte die Sicherungsverwahrung vorder Haftentlassung anordnen, wenn im tatrichterlichenUrteil die Anordnung der Sicherungsverwahrung vorbe-halten worden ist und wenn während der Haftdauer derHang zur Gefährlichkeit, der bis dahin noch nicht endgül-tig festgestellt werden konnte, zutage tritt.Wenn Sie sich dieses Instrumentarium einmal genauvor Augen führen, dann erkennen Sie, dass wir hier mitfünf Alternativen ein dichtes Netz geknüpft haben, mitdem gefährliche Straftäter, gerade Sexualstraftäter, wirk-lich sicher erfasst werden können. Dieses Instrumenta-rium muss nur konsequent von den Gerichten angewendetwerden. Das ist in der gestern ergangenen BGH-Ent-scheidung zu dem neuen Abs. 3 nachzulesen, in der nocheinmal sehr deutlich darauf hingewiesen worden ist. TunSie nicht immer so, als ob es keine Instrumente gäbe! DieInstrumente gibt es bereits. Man muss sie nur richtig an-wenden.
Zu dieser Systematik – darüber ist heute Mittag nochgar nicht gesprochen worden – passt überhaupt nicht mehrIhr Vorschlag, Sicherungsverwahrung bereits für Ersttäteranordnen zu lassen, Herr Kollege Gehb. Das verstößt nunwirklich gegen die Rechtsprechung des Bundesverfas-sungsgerichts, das über Jahrzehnte in mehreren Entschei-dungen immer wieder auf das dem Strafrecht innewoh-nende Gebot der Verhältnismäßigkeit hingewiesen hat.Wenn Sie schon gegen Ersttäter mit der schwersten Sank-tion, der Sicherungsverwahrung, vorgehen wollen, dannkann ich Ihnen nur sagen, dass Sie damit den Ultima-Ra-tio-Charakter der Sicherungsverwahrung völlig verken-nen und leichtfertig verfassungsrechtliche Grenzen über-schreiten, Herr Kollege.
Dies gilt ebenso – damit möchte ich mich gern nocheinmal beschäftigen; Sie haben es ja auch von mir erwar-tet – für die von Ihnen seit 1997 ständig wiederholte For-derung – Baden-Württemberg hat damit begonnen –, dieMöglichkeit der Anordnung einer nachträglichen, alsoisolierten Sicherungsverwahrung in das Gesetz aufzu-nehmen. Bereits in der letzten Legislaturperiode habe ichvon dieser Stelle aus mehrfach darauf hingewiesen – Siehaben das erwähnt –, dass eine derart ausgestaltete Siche-rungsverwahrung meines Erachtens und auch nach Auf-fassung meiner Fraktion eindeutig verfassungswidrig ist.Wenn Sie in der Literatur der letzten Wochen und Mo-nate zu dieser Thematik nachlesen, zum Beispiel in derneusten Ausgabe der „JZ“ vom Oktober 2002, dann stel-len Sie fest, dass in der Fachliteratur diese Auffassungmittlerweile durchgehend bestätigt wird. In der Fachlite-ratur wird auch die Argumentation verwendet, die wir Ih-nen hier mehrfach vorgetragen haben, nämlich dass dasvon Ihnen in Aussicht genommene Verfahren der isolier-ten Sicherungsverwahrung die rechtsstaatlichen Garan-tien der Strafprozessordnung letztlich aushebelt; denn dieAnordnung der Sicherungsverwahrung – sie ist für einenStraftäter die schwerste Strafe – bedeutet eigentlich dasUrteil „lebenslänglich“. Die lebenslange Freiheitsstrafewird nach 15 Jahren geprüft; bei der Sicherungsverwah-rung wird zwar alle zwei Jahre geprüft, doch wer sich aus-kennt, der weiß, dass die Menschen dann tatsächlich 40oder 50 oder bis zu 60 Jahre einsitzen.
Mit der von Ihnen vorgeschlagenen Regelung mit densehr tief greifenden Sanktionen verstoßen Sie eindeutiggegen die Prozessgrundrechte des RückwirkungsverbotesJoachim Stünker
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Joachim Stünkerund des Verbotes der Doppelbestrafung. Das können Siein allen einschlägigen Aufsätzen nachlesen.Bezeichnend ist auch, welches Verfahren von Ihnenhierfür vorgeschlagen wird, nämlich nicht ein Verfahrenmit einer öffentlichen Hauptverhandlung, sondern ein Be-schlussverfahren einer Strafvollstreckungskammer. BeiBeschwerden sind in diesem Fall sogar mehrere Oberlan-desgerichte zuständig. So könnte nicht einmal der Bun-desgerichtshof für eine bundesweite Vereinheitlichungder Rechtsprechung sorgen.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einige Kon-trollüberlegungen anstellen – Herr Gehb, es wäre schön,wenn Sie mir zuhören würden –, um zu zeigen, ob wir mitunserer Auffassung zur isolierten Sicherungsverwahrungwirklich so falsch liegen. Gibt es mögliche Erweiterungender Anordnung für Sicherungsverwahrung? Warum sollteman, wenn wir den Weg so gehen wollen, wie Sie ihn skiz-ziert haben, die Sicherungsverwahrung nicht auch nachder Entlassung aus der Strafhaft anordnen können? Denk-bar wäre doch eine Vorschrift darüber, dass die nachträg-liche Sicherungsverwahrung auch dann noch angeordnetwerden kann, wenn der Strafgefangene zwar schon ent-lassen ist, sich aber innerhalb der maximal fünfjährigenFührungszeit zeigt, dass der Hang zur Gefährlichkeit wei-terhin vorhanden ist. Was wäre das denn für eine Anord-nung? Wäre das eine nachträgliche oder eine vorbeugendeAnordnung der Sicherungsverwahrung?Wir können es, Herr Kollege Gehb, noch auf die Spitzetreiben und die Frage stellen, wie das mit der Sicherungs-verwahrung ohne Straftat aussieht. Diese kriminalpoliti-sche Überlegung ist im Augenblick absurd. Ich habe damitaber Ihren Gedanken nur zu Ende gedacht; denn wenn Sieschon Ersttäter in Sicherungsverwahrung nehmen wollen,könnten Sie auch auf diese Idee kommen. Sie haben hierja eben immerhin von tickenden Zeitbomben gesprochen.
Das heißt, für gefährliche Personen, die keine Straftat be-gangen haben, bei denen ein Gutachter aber zu dem Er-gebnis kommt, sie könnten gefährlich sein und schwereStraftaten begehen, könnte eine Sicherungsverwahrung inBetracht kommen. Das wäre mit Sicherheit eine vorbeu-gende Sicherungsverwahrung. Das ist Ihren Gedanke zuEnde gedacht.Wenn Sie ihn zu Ende denken, dann kommen sie zudem einzig richtigen Ergebnis, das mittlerweile auch inder Literatur so vertreten wird, dass die Fälle dernachträglichen isolierten Sicherungsverwahrung undauch die von mir eben genannten Fälle nicht unter dasStrafrecht fallen, sondern Fälle der Gefahrenabwehr sind.Damit fallen sie unter das Polizeirecht und damit nachdem Zuständigkeitenkatalog des Grundgesetzes in dieZuständigkeit der Bundesländer. Die Bundesländer müs-sen hier ihre Schulaufgaben machen und müssen für dieentsprechenden gesetzlichen Regelungen sorgen.
Ich kann Ihre Argumentation verstehen – ich weißnicht, wer das eben gesagt hat –, wir bräuchten einheitli-che Regelungen auf Bundesebene. Das ist ein Gedanke,der richtig ist und der auch gut nachvollziehbar ist.Warum haben wir solche Regelungen bisher nicht? – Wirhaben sie bisher nicht, weil die landesrechtlichen Rege-lungen, die man dazu in Bayern, in Baden-Württembergund meines Wissens in Sachsen-Anhalt hat, verfassungs-rechtlich höchst prekär sind, um das vorsichtig auszu-drücken. Dort hat man nämlich eine materiell strafrecht-liche Regelung getroffen, hat diese aber polizeirechtlichverbrämt, um das deutlich zu sagen. Dieser Weg ist nichtzulässig. Die Länder müssen sich zusammensetzen undeinen gemeinsamen Weg finden, der dem polizeilichenGefahrenrecht entspricht, um in Zukunft eine Regelungfür die entsprechenden Täter – es geht um die wenigen,die wir nach der geltenden Regelung nicht erfassen kön-nen – zu treffen.Meine Damen und Herren, in der Hoffnung, dass wirim Rechtsausschuss über dieses wichtige Thema gemein-sam und differenziert diskutieren werden, habe ich ver-sucht, mich heute noch einmal etwas differenzierter mitdieser Frage zu beschäftigen.
Im Ergebnis dürfen wir der Praxis nicht Steine statt Brotgeben.Schönen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 15/29 und 15/31 an die in der Tages-ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. SindSie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind dieÜberweisungen so beschlossen.Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf:Überweisung im vereinfachten VerfahrenBeratung des Antrags der Abgeordneten EckhardtBarthel , Ernst Bahr (Neuruppin), Hans-Werner Bertl, weiterer Abgeordneter der Fraktionder SPD sowie der Abgeordneten Dr. AntjeVollmer, Grietje Bettin, Katrin Dagmar Göring-Eckardt, Krista Sager und der Fraktion desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENDen Deutschen Musikrat stärken– Drucksache 15/48 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendHaushaltsausschussInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage aufDrucksache 15/48 an die in der Tagesordnung aufgeführ-
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ten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einver-standen? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung sobeschlossen.Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesord-nung um die Beschlussempfehlung des Rechtsausschus-ses auf Drucksache 15/69 zu einer Streitsache vor demBundesverfassungsgericht zu erweitern und jetzt gleichals Zusatzpunkt 8 – ohne Aussprache – aufzurufen. – Ichsehe, dass Sie damit einverstanden sind. Dann ist so be-schlossen.Ich rufe den soeben aufgesetzten Zusatzpunkt 8 auf:Abschließende Beratung ohne AusspracheBeratung der Beschlussempfehlung und desBerichts des Rechtsausschusses
zu der Streitsache vor dem Bundesverfassungs-gericht 2 BvE 3/02– Drucksache 15/69 –Berichterstattung:Abgeordneter Andreas Schmidt
Der Rechtsausschuss empfiehlt, in dem verfassungs-gerichtlichen Verfahren 2 BvE 3/02 Stellungnahmen ab-zugeben und den Präsidenten zu bitten, einen Prozess-bevollmächtigten zu bestellen. Wer stimmt für dieBeschlussempfehlung auf Drucksache 15/69? – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlungist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthal-tung der Oppositionsfraktionen angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b sowieZusatzpunkt 3 auf:5. Wahlen zu Gremiena) Schriftführer gemäß § 3 der Geschäftsord-nung– Drucksache 15/50 –ZP 3 Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSUBestimmung des Verfahrens für die Berech-nung der Stellenanteile der Fraktionen im Aus-schuss nach Art. 77 Abs. 2 des Grundgesetzes
– Drucksache 15/47 –5. b) Ausschuss nach Art. 77 Abs. 2 des Grund-gesetzes
– Drucksachen 15/51, 15/52, 15/53, 15/54 –Tagesordnungspunkt 5 a. Für die Wahl der Schrift-führerinnen und Schriftführer liegt ein gemeinsamerWahlvorschlag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU,des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP auf Druck-sache 15/50 vor. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag?– Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Wahlvor-schlag ist damit einstimmig angenommen. Ich gratu-liere den gewählten Kolleginnen und Kollegen im Na-men des ganzen Hauses und wünsche eine guteZusammenarbeit.
Zusatzpunkt 3. Mir wurde mitgeteilt, dass das Wort ge-wünscht wird. Zunächst hat der Kollege Kauder von derCDU/CSU das Wort. Bitte schön.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Meine Fraktion beantragt, die Besetzung der 16 vomBundestag zu wählenden Mitglieder des Vermittlungs-ausschusses nach dem Ergebnis vorzunehmen, zu demalle bekannten mathematischen Verteilsysteme kom-men. Danach sind sieben Mitglieder der SPD-Fraktion,sieben Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion und je ein Mit-glied der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und derFDP-Fraktion in den Vermittlungsausschuss zu wählen.Dies entspricht auch dem Charakter dieses Gremi-ums. Der Vermittlungsausschuss unterscheidet sichgrundlegend und grundsätzlich von den regulären Aus-schüssen des Deutschen Bundestages. Diese nehmenKontroll- und Untersuchungsaufgaben des Bundestageswahr und bereiten die Plenarentscheidungen vor. Deshalbist es richtig, dass sich in diesen Ausschüssen die politi-schen Mehrheitsverhältnisse, die im Plenum gegebensind, widerspiegeln.Der Vermittlungsausschuss dagegen ist im Grund-gesetz verankert. Die Mitgliederzahl ist festgelegt undkann nicht verändert werden. Er ist – darin unterscheideter sich von allen anderen Ausschüssen – ein gemeinsamesOrgan von Bundestag und Bundesrat. Seine Mitgliedersind unabhängig. Er soll verhandeln und Kompromisseerzielen; er ist nicht in erster Linie auf Kampfentschei-dungen angelegt, wie es bei anderen Ausschüssen der Fallist. Damit ist die Möglichkeit eines Patts bereits im Sys-tem des Vermittlungsausschusses angelegt. Es geht beider Besetzung des Vermittlungsausschusses nicht aus-schließlich darum, eine Mehrheit abzubilden. Wer so ar-gumentiert, verkennt den besonderen Charakter des Ver-mittlungsausschusses.Das Bundesverfassungsgericht hat verlangt, dass beider Besetzung von Ausschüssen ein nachvollziehbaresmathematisches Zählsystem angewandt wird. Die Regie-rungskoalition hat mit ihrer Mehrheit beschlossen, diesesanerkannte System nicht anzuwenden, sondern sie willdie Besetzung des Vermittlungsausschusses willkürlichfestlegen.
Die Koalition hat in ihrem Antrag zur Berechnung derZahl der jeweils zu entsendenden Mitglieder die willkür-liche Verteilung festgelegt und mit ihrer Mehrheit durch-gesetzt. Nun wollen Sie diesen Verteilungsschlüssel beider Besetzung des Vermittlungsausschusses anwenden.Wir halten dies für eine Verletzung der Verfassung und ha-ben deshalb das Bundesverfassungsgericht angerufen.
Das Bundesverfassungsgericht hat noch keine Ent-scheidung getroffen. Trotzdem wollen Sie heute die Be-setzung des Vermittlungsausschusses nach Ihren Vorstel-lungen durchsetzen. Wir halten dies für keinen gutenVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Volker KauderUmgang mit dem Parlament wie auch mit dem Bundes-verfassungsgericht, auf das damit erneut Druck ausgeübtwerden soll.
Auch wir wünschen, dass der Vermittlungsausschussrasch arbeitsfähig wird und in die Lage versetzt wird, zügigzu arbeiten. Aber wir wollen, dass die Bundestagsbank sobesetzt wird, wie es Recht und Ordnung verlangen.
Obwohl wir davon ausgehen müssen, dass Sie demhöchsten deutschen Gericht nicht den notwendigen Res-pekt entgegenbringen und die Entscheidung des Bundes-verfassungsgerichts nicht abwarten, werden wir uns nichtverweigern. Ich möchte daher bereits jetzt im Namen mei-ner Fraktion erklären, dass wir uns nicht schmollendzurückziehen werden. Vielmehr werden wir das Verfah-ren, wie Sie es betreiben, zwar als Affront gegenüber demBundesverfassungsgericht darstellen; aber wir werdenuns an der Wahl beteiligen. Sollten Sie also bei IhrerRechtsauffassung bleiben, werden wir heute unsere Mit-glieder für die ersten sechs Plätze im Vermittlungsaus-schuss zur Abstimmung stellen. Ich bin mir jedoch sicher,dass dieses Thema erneut im Plenum des Deutschen Bun-destags diskutiert werden wird und dass wir nach der Ent-scheidung des Bundesverfassungsgerichts das Mitgliedfür den siebten Platz im Vermittlungsausschuss und sei-nen Stellvertreter wählen werden können.
Herr Kollege Schmidt, bitte.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es geht in
dieser Debatte darum, dass wir die Umsetzung des Be-
schlusses dieses Hauses vom 30. Oktober 2002 vorneh-
men, damit im laufenden Gesetzgebungsverfahren und
damit am Anfang der Wahlperiode eines der wichtigen
Verfassungsorgane, nämlich der Vermittlungsausschuss,
arbeitsfähig wird. Um mehr geht es nicht; aber – das
möchte ich betonen – es geht auch nicht um weniger.
Wir betreiben keine Willkür, wie Herr Pofalla meinte
gegenüber einer Zeitung mitteilen zu müssen, sondern ha-
ben eine Rechtsauffassung, die sich entgegen Ihren wie-
derholten Behauptungen, Herr Kauder, nicht verändert
hat.
Alle Zählverfahren sind unbestritten nur Hilfsmittel,
um die Besetzung eines Ausschusses bzw. eines Gremi-
ums dieses Parlaments herbeizuführen. Auch das ist eine
klare Rechtsgrundlage. Ich möchte Sie nicht nur an die
Rede meines Kollegen Beck und meine Rede am 30. Ok-
tober erinnern, sondern auch an die Tatsache, dass das in
den Verfassungsgerichtsurteilen der vergangenen Jahre
immer wieder zum Ausdruck gebracht worden ist.
Wir sind auf der sicheren Seite und entgegen dem, was
Sie meinen mitteilen zu müssen, respektieren wir das
Bundesverfassungsgericht. Was die späteren Folgen an-
geht, werden wir das Urteil des Bundesverfassungsge-
richts abwarten.
Jetzt geht es darum, die Arbeitsfähigkeit des Vermitt-
lungsausschusses herzustellen, damit wir im Dezember
die Gesetzgebungsverfahren zu all den Gesetzentwürfen,
die wir inzwischen anberaten haben, beenden können.
Das ist unser gutes Recht. Das werden wir versuchen um-
zusetzen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antrag derFraktion der CDU/CSU zur Bestimmung des Verfahrensfür die Berechnung der Stellenanteile der Fraktionen imVermittlungsausschuss auf Drucksache 15/47. Wer stimmtfür diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen?– Damit ist der Antrag mit den Stimmen der Koalition ge-gen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP bei Enthal-tung der beiden fraktionslosen Mitglieder abgelehnt.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 5 b: Wir wählennun die Mitglieder und deren Stellvertreter im Vermitt-lungsausschuss. Dazu liegen Wahlvorschläge der Fraktio-nen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die Grü-nen und der FDP vor. Wer stimmt für den Vorschlag derFraktion der SPD auf Drucksache 15/51? – Gegenprobe! –Enthaltungen? – Damit ist der Wahlvorschlag mit denStimmen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen undder beiden fraktionslosen Mitglieder bei Enthaltung derCDU/CSU und der FDP angenommen.Wir kommen nun zum Wahlvorschlag der Fraktion derCDU/CSU auf Drucksache 15/52. Es sollen heute, wieKollege Kauder erklärt hat, nur die Vorschläge zu den Zif-fern 1 bis 6 zur Abstimmung gestellt werden. Wer stimmtfür die Wahlvorschläge der Fraktion der CDU/CSU aufDrucksache 15/52 mit der soeben genannten Einschrän-kung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Wahl-vorschläge der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksa-che 15/52, Ziffer 1 bis 6 sind mit den Stimmen derCDU/CSU, der FDP und der beiden fraktionslosen Mit-glieder bei Enthaltung der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.Wer stimmt für den Wahlvorschlag der Fraktion desBündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/53? – Ge-genprobe! – Enthaltungen? – Der Wahlvorschlag ist mitden Stimmen der Koalition und der beiden fraktionslosenMitglieder bei Enthaltung der CDU/CSU und der FDPangenommen.Wer stimmt für den Wahlvorschlag der Fraktion derFDP auf Drucksache 15/54? – Gegenprobe! – Enthaltun-gen? – Der Wahlvorschlag ist mit den Stimmen der FDP,der CDU/CSU und der beiden fraktionslosen Mitgliederbei Enthaltung von SPD und Bündnis 90/Die Grünen an-genommen. Damit sind die Mitglieder und deren Stell-vertreter im Vermittlungsausschuss gewählt.
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Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion der FDPHaltung der Bundesregierung zur Situation deröffentlichen Haushalte unter Berücksichtigungder zu erwartenden aktuellen Steuerschätzungund der damit möglichen Notwendigkeit einesHaushaltssicherungsgesetzesWir warten mit der Eröffnung der Aussprache so lange,bis die Kolleginnen und Kollegen, die den Saal verlassenwollen, dies getan haben. – Ich bitte die Kolleginnen undKollegen, die an der Aktuellen Stunde nicht teilnehmenwollen, den Saal zügig zu verlassen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeDr. Günter Rexrodt, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vom Um-
steuern und von der finanzpolitischen Wende war die
Rede. „Weg vom Schuldenstaat der Kohl-Ära“ – „Gene-
rationengerechtigkeit“ waren die neue Devise. Was für ein
Tamtam in den letzten vier Jahren, was die Finanzpolitik
der rot-grünen Koalition angeht!
Herr Kollege Rexrodt, entschuldigen Sie bitte; ich
muss Sie für einen Augenblick unterbrechen.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die Privatge-
spräche jetzt einzustellen und dem Redner in der Aktuel-
len Stunde zuzuhören.
Dann kamen das Wahlkampfgetöse und das Tamtam indiesem Zusammenhang. Schlichte Falschaussagen, wiesich heute erwiesen hat!Im Jahr 2002 sollte die Nettokreditaufnahme auf21,1 Milliarden Euro und im Jahr 2003 auf 15,5 Milli-arden Euro zurückgehen. Das sind Zahlen des Bundes-finanzministeriums. Die Realität, noch unter günstigenVorzeichen: in diesem Jahr ein Verschuldungsplus von8 Milliarden Euro und damit eine Steigerung auf insge-samt 29 Milliarden Euro und im Jahr 2003 noch einmal3 Milliarden Euro obendrauf.Diese Zahlen basieren auf der Annahme eines Wirt-schaftswachstums von 0,5 Prozent im Jahre 2002 und von1,5 Prozent im Jahr 2003. Die Wirtschaftsweisen, die mitihrem Gutachten gestern in die Öffentlichkeit gegangensind, sagen aber: Wir werden im Jahr 2002 nur ein Wachs-tum von 0,2 Prozent und im Jahr 2003 ein Wachstum vonmaximal 1 Prozent erreichen. – Das lässt Schlimmes er-warten. Das lässt eine noch höhere Verschuldung undnoch größere Finanzprobleme in unserem Land erwarten,
in einem Land, das den Stabilitätspakt in Europa durch-gesetzt hat. Mit einer Defizitquote von 3,8 Prozent in die-sem Jahr verfehlen wir die Kriterien von Maastricht inexorbitantem Maße. Diese Koalition, die sich auf dashohe Ross gesetzt hat und in diesem Hohen Haus vom Le-der gezogen hat, steht vor dem Scherbenhaufen ihrerFinanzpolitik. Sie proklamiert nun ein gesamtwirtschaft-liches Ungleichgewicht. Sie tut alles, um dieses Un-gleichgewicht noch zu vergrößern und das ist der eigent-liche Knackpunkt an der Geschichte.
Von dem, der ein solches Waterloo in der Finanzpolitikerlebt, sollte man doch erwarten, dass er alles tut, umdiese Fehlentwicklungen abzuwenden und zu überwin-den. Aber nein, diese Regierung tut alles, um diese Ent-wicklung noch zu beschleunigen. Die Regierung beseitigtnicht die Ursachen der konjunkturellen Schwäche, son-dern sie verschärft diese Ursachen. Sie senkt nicht dieSteuern, um wieder mehr Steuern einnehmen zu können;sie erhöht die Steuern, um am Ende dann noch wenigerSteuern einzunehmen.
Sie senkt nicht die Sozialabgaben, wie angekündigt, son-dern sie erhöht die Sozialabgaben und damit die Lohn-nebenkosten. Wer aber Lohnnebenkosten erhöht, der setztdie Investitionsbereitschaft der Wirtschaft aufs Spiel undbetreibt eine Politik der Beschäftigungsfeindlichkeit.
Meine Damen und Herren von der rot-grünen Koali-tion, Sie betreiben Deflationspolitik im wahrsten Sinnedes Wortes. Heinrich Brüning lässt grüßen!
Sie sind nicht einmal in der Lage, den Fortschritt in derwirtschaftswissenschaftlichen und wirtschaftspolitischenTheorie der letzten 70 Jahre zur Kenntnis zu nehmen. Siebetreiben Deflationspolitik in reinster Form.
– Herr Schmidt, ich bezweifle, dass Sie überhaupt wissen,welche Politik Heinrich Brüning gemacht hat.
Vizepräsidentin Susanne Kastner
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Dr. Günter Rexrodt– Das weiß ich. Was ist daran arrogant?
Gestern waren die Sachverständigen in der Bundespres-sekonferenz. Sie haben Ihnen das bescheinigt. Sie habenIhnen zusätzlich bescheinigt – furchtbar genug –, dass wirim nächsten Jahr im Jahresdurchschnitt 117 000 zusätz-liche Arbeitslose zu erwarten haben. Das sind die Fakten.Damit müssen Sie sich einmal auseinander setzen.
Wenn uns ein Nachtragshaushalt – Sie haben ihn im-mer abgelehnt – nun nicht genug ist, dann hat das eineneinfachen finanzpolitischen Grund: Wir sind überzeugt,dass kosmetische Korrekturen – ein bisschen Anpassunghier, ein halber Prozentpunkt mehr oder weniger dort –nicht mehr reichen. Das ist wie weiße Salbe. Diese Re-gierung versäumt es aufgrund ihrer reformfeindlichenHaltung, die Flexibilisierung in unserem Land herbeizu-führen, die wir aufgrund der Globalisierung brauchen.
Diese Regierung versäumt es, die notwendige Vorsorgefür die demographische Katastrophe, die uns in den Jah-ren 2012 ff. ins Haus stehen wird, zu treffen; wir habenkeine Zeit mehr. Stattdessen versucht man, die aktuellenProbleme dadurch zu lösen, dass man eine Umverteilungvon oben nach unten vornimmt. Das ist ein Rezept aus dersozialistischen Mottenkiste,
ein Rezept, das noch nie funktioniert hat.
Herr Kollege Rexrodt, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
– Ich komme sofort zum Schluss, Frau Präsidentin –.
Denn diejenigen, die das Rad drehen, steigen einfach aus.
In unserem Land müssen alle am Wachstum partizipie-
ren, wie es über Jahrzehnte der Fall war. Mit einer solchen
Finanzpolitik, mit einer solchen Wirtschaftspolitik, mit ei-
ner solchen Steuerpolitik ruinieren Sie nicht nur die Fi-
nanzen dieses Landes, –
Herr Kollege, Sie müssen wirklich zum Schluss kom-
men.
– sondern Sie setzen es auch der Gefahr aus, in den Ab-
grund zu stürzen. Schuld ist Ihre sozialistische Umvertei-
lungspolitik.
Nächster Redner ist der Parlamentarische Staatssekre-
tär Karl Diller.
K
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gegen-über der Steuerschätzung von Mai haben Bund, Länderund Gemeinden für dieses Jahr 15,4 Milliarden Euro undfür nächstes Jahr 16 Milliarden Euro weniger Steuerein-nahmen zu erwarten.
Der Bund ist davon in einer Größenordnung von 5,7 Mil-liarden Euro bzw. 5,5 Milliarden Euro betroffen.Der Grund dafür ist die schlechte konjunkturelle Ent-wicklung. Bis in den September hinein, meine sehr ver-ehrten Damen und Herren von der Opposition, hatten alleFachleute ein kräftiges Anspringen des Konjunkturmotorsfür die zweite Jahreshälfte vorausgesagt. Ich habe demHaushaltsausschuss gestern eine Auflistung der monatli-chen Prognosen der Institute übergeben. Die Prognosendes Internationalen Währungsfonds und des Ifo-Institutslagen noch im August bei 0,7 Prozent. Das entspricht ge-nau dem Wert, den wir dem Haushaltsplan zugrunde ge-legt haben. Würde er Wirklichkeit, stiege das Wachstumin den restlichen Monaten dieses Jahres sprunghaft an.
Die Entwicklung war jedoch schlechter als vorherge-sehen. Unsere Projektion sieht für dieses Jahr nur nocheine Steigerung des realen Bruttoinlandsprodukts von0,5 Prozent und für nächstes Jahr von 1,5 Prozent vor.Dies entspricht den konjunkturellen Prognosen der vor-herrschenden Institute und im Übrigen auch der Europä-ischen Kommission für 2003. Der InternationaleWährungsfonds hat uns für das nächste Jahr sogar eineSteigerung des Wirtschaftswachstums von 2 Prozent inAussicht gestellt.Die Botschaft dieser Projektionen ist klar: Das Wachs-tum in 2003 wird in Fahrt kommen, aber leider nicht indem Tempo, das wir mit Blick auf die Steuereinnahmenund den Arbeitsmarkt brauchten.
Wir müssen daher die Rahmenbedingungen für mehr Be-schäftigung schnell verbessern. Wir werden die Vor-schläge der Hartz-Kommission zügig umsetzen und dieswird auch die Schwelle absenken, ab der Wachstum inDeutschland automatisch zu mehr Beschäftigung führt.Unsere Finanzpolitik stellt sich den Herausforderungen.
Erstens. Wir begrenzen nicht nur die Ausgaben, son-dern wir führen sie in 2003 sogar zurück. Gleichzeitig
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bauen wir den Umfang der Steuersubventionen ab. Diesentspricht unserer Verantwortung für die langfristigeTragfähigkeit der Finanzpolitik.
Zweitens. Wir lassen zugleich die automatischen Stabili-satoren teilweise wirken. Dies entspricht unserer Verant-wortung für die konjunkturelle Entwicklung.
Beides zusammen ergibt einen klaren Rahmen für einean die Situation angepasste Finanzpolitik. Das ist keineinfacher Weg; das bedeutet auch Einschnitte in gewohnteVergünstigungen. Aber es gibt dazu keine sinnvolle Alter-native. Diese Zielvorstellungen setzen wir im Nachtrags-haushalt für 2002 und im Haushalt 2003 um.2002 ist ein Nachtragshaushalt geboten. Damit reagie-ren wir auf die konjunkturell bedingten Steuerminderein-nahmen und auf die Mehrausgaben, die wir im Bereichder Arbeitsmarktpolitik zu schultern haben. Das viel zugeringe Wachstum im Jahre 2002 und die gestiegene undzu hohe Arbeitslosigkeit belegen, dass das gesamtwirt-schaftliche Gleichgewicht in diesem Jahr gestört ist. Ichteile nicht die Mehrheitsmeinung des Sachverständigen-rates, dass eine gesamtwirtschaftliche Störung für dasJahr 2002 nur dann vorliegt, wenn wesentlich größereVerfehlungen gesamtwirtschaftlicher Ziele gegenüberden Vorgaben von 2001 festzustellen sind.In der aktuellen Situation ist eine einmalige Erhöhungder Kreditaufnahme der geeignete Weg zur Überwindungder konjunkturellen Schwächephase,
weil wir – und das ist das Entscheidende – an unsererlangfristig angelegten Wachstums- und Beschäftigungs-strategie und am Konsolidierungskurs festhalten. Die Al-ternative wäre, kurzfristig ganz massiv auf der Ausgaben-seite zu kürzen, was die Konjunktur nur weiter schwächenwürde. Deswegen ist das keine machbare Alternative.
Die genauen Zahlen des Nachtragshaushalts werden inder kommenden Woche von der Bundesregierung festge-legt; ebenfalls wird der Regierungsentwurf für den Haus-halt 2003 beschlossen.
Insgesamt zeichnet sich gegenüber dem Entwurf vomSommer eine sehr begrenzte Erhöhung der Nettokredit-aufnahme ab.
Dafür haben wir in den Koalitionsverhandlungen bereitseinen Rahmen vorgegeben.Das Entscheidende ist: Trotz dieser begrenzten Er-höhung gegenüber dem Regierungsentwurf vom Sommerwird die Neuverschuldung im nächsten Jahr die geringsteseit der Wiedervereinigung sein. Das ist ein wichtiger Wert.
Mit dem Bundeshaushalt 2003 werden wir die begonne-nen Vorhaben verstetigen und neue solide finanzieren.Das gilt insbesondere für die zukunftssichernden Ausga-ben in den Bereichen Familie, Bildung, Forschung und In-frastruktur.Auch die Haushalte der Länder sind durch die deutlichgeringeren Steuereinnahmen betroffen. Viele haben be-reits mit Sparmaßnahmen, mit Haushaltssicherungskon-zepten und mit Haushaltssperren gearbeitet. Aber dieseMaßnahmen haben nicht ausgereicht, den Anstieg des De-fizits aufgrund der Steuerausfälle aufzufangen. Deswegensind weitere Konsolidierungsmaßnahmen für das Jahr2003 – insbesondere vor dem Hintergrund unserer Ver-pflichtungen gegenüber dem europäischen Stabilitäts-pakt – erforderlich. Im Übrigen werden die steuerlichenMaßnahmen, für die wir die Gesetzgebungsverfahren ein-leiten, auch zur nachhaltigen Verbesserung der Einnah-mesituation von Ländern und Gemeinden beitragen.In Deutschland wird das Staatsdefizit in diesem Jahrdeutlich über 3 Prozent steigen. Gegenwärtig berechnenwir es auf der Basis der Steuerschätzung für den Finanz-planungsrat, der demnächst tagt, neu. Das Defizit dürftesich aber in der Größenordnung bewegen, die auch vonder EU-Kommission ermittelt wurde. An einer Fortset-zung der Politik der Haushaltskonsolidierung führt alsokein Weg vorbei. 2003 wird durch die Maßnahmen, fürdie wir jetzt die Gesetze auf den Weg bringen, das Defizitwieder unter 3 Prozent sinken, wenn alle staatlichen Ebe-nen ihren Beitrag dazu leisten.
Unser Ziel ist es, das Defizit des Gesamtstaates – Bund,Länder, Gemeinden – im Jahre 2006 nahezu auf null zurück-zuführen. Die Bundesregierung wird mit allen Beteiligtenzusammenarbeiten, um die Verpflichtungen Deutschlandsgegenüber der Europäischen Union zu erfüllen.
– Unser Beitrag dazu besteht erstens im Abbau von Steu-ervergünstigungen bei gleichzeitiger Absenkung derSteuersätze in den Jahren 2004 und 2005 – an den Steuer-senkungen halten wir fest –,
zweitens in der Begrenzung der Bundesausgaben unddrittens in Reformen in Bezug auf den Arbeitsmarkt unddie sozialen Sicherungssysteme.Parl. Staatssekretär Karl Diller
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Parl. Staatssekretär Karl DillerMeine Damen und Herren, wenn uns in diesen Tagenein deutlicher Modernisierungsschub in Deutschland ge-lingt, dann haben wir die richtigen Schlussfolgerungenaus der Steuerschätzung von gestern gezogen.
Nächster Redner ist der Kollege Dietrich Austermann,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! UnserLand befindet sich in einer Finanzkrise. Aber anstatt demParlament Rede und Antwort zu stehen, schickt der knei-fende Finanzminister Herrn Diller her, um die Lage schön-zureden.
Ich halte das für einen unglaublichen Vorgang. Das Parla-ment hat Anspruch darauf, dass der BundesfinanzministerAuskunft über die tatsächliche Situation gibt und nichtversucht, weiterhin Dinge zu vernebeln.Wir haben eine Situation, in der eigentlich jeder derÜberzeugung ist: Der Finanzminister hat versagt wie kei-ner vor ihm und keiner neben ihm, keiner der anderenzwölf im Regierungsteam,
und er müsste, wenn er dem Land von sich aus etwasGutes tun wollte, sofort seinen Hut nehmen.
Da es eigentlich keines Beweises mehr bedarf, dassdas, was gestern an Zahlen und Entwicklungen offen ge-legt worden ist, im Grunde genommen seit anderthalbJahren in der Tendenz bekannt ist,
aber mit Vorsatz vernebelt worden ist – fragen Sie HerrnMetzger zu diesem Punkt -,
ist es meines Erachtens angezeigt, darüber nachzudenken,ob die Regierung wegen dieses Betruges nicht eigentlichvor einen Untersuchungsausschuss gestellt werden müsste.So viel Betrug vor der Wahl in konkreten Dingen wie jetzthat es noch nicht gegeben.
Ich will etwas zu der Frage sagen, ob das nicht abseh-bar war. Hat nicht die EU-Kommission bereits im Januardeutlich gemacht, dass der blaue Brief fällig ist? Und istder blaue Brief nicht bloß dadurch abgewendet worden, dassman versucht hat, die Dinge schönzureden? Es war dochfür jeden klar, dass die Steuereinnahmen zurückgehen.Der Rückgang der Steuereinnahmen hat sich nicht erstim letzten September ergeben. Wenn Sie sich die Steuer-einnahmen der letzten Monate anschauen, dann werdenSie feststellen, dass sie im September gestiegen sind.
Allein auf der Berechnung vom September basiert ja Ihrehoffnungsvolle Kunde, dass uns bis Ende des Jahres nur8,5 Milliarden Euro beim Bund fehlen. Wenn Sie von derTendenz zu Beginn des Jahres ausgehen, ist ziemlich klar,dass auch diese 8,5 Milliarden Euro wieder schöngeredetsind und dass deutlich erkennbar war, in welche Richtungdie Entwicklung geht.Nein, es stimmt keine einzige Zahl mehr, die das Fi-nanzministerium in diesem Jahr genannt hat. Deswegenstimmen auch die Perspektive und die Maßnahmen, diegetroffen werden, nicht.Lassen Sie mich einmal darstellen, was zum 1. Januarnächsten Jahres kommen soll – Sie haben ja gesagt, Siemachten eine Regierungspolitik, die dazu beitrage, die Si-tuation zu verbessern –: Erhöhung der Ökosteuer, Er-höhung der Tabaksteuer, Erhöhung der Körperschaftsteuer,Neueinführung der Maut, Verschiebung der zweiten Stufeder Steuerreform, Erhöhung der Stromsteuer, Erhöhung derGassteuer, Erhöhung der Mehrwertsteuer in Teilbereichen,Abbau von so genannten Subventionen, Änderungenbei der Eigenheimzulage, Änderungen bei der Spekula-tionsteuer und Erhöhung der Beiträge zur Renten-, Kran-ken- und Arbeitslosenversicherung.Das alles soll der Entwicklung der Wirtschaft imnächsten Jahr nicht schaden? Es ist doch ziemlich klarund offenkundig, dass diese Fülle von Steuer- und Ab-gabenerhöhungen geeignet ist, auch noch den letzten RestWachstum von 0,2 Prozent totzutreten. Sie machen diefalsche Politik in der falschen Zeit.
Ich finde, dass man sich auch deutlich darüber unter-halten muss, dass es nun endlich an der Zeit ist, mit derMär aufzuhören, Sie machten Konsolidierungspolitik.Unter Konsolidierung versteht jeder kundige ThebanerAusgabenbegrenzung und den Versuch, die Dinge auch ananderer Stelle in den Griff zu bekommen. Aber die Aus-gaben steigen und sie werden auch im nächsten Jahr stei-gen, weil Sie das Problem haben, dass es Ihnen bishernicht gelungen ist, an dieser Stelle anzusetzen. Sie er-höhen die Einnahmen durch Steuern und Abgaben, aberSie senken nicht die Ausgaben.
Von Konsolidierung kann, seit Eichel im Amt ist, über-haupt keine Rede sein.
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Sie können auch nicht vom Sparen reden oder davon,dass sich die Dinge in absehbarer Zeit bessern würden.Das Wachstum ist eingebrochen, wir haben eine Pleite-welle in Rekordhöhe, die Arbeitslosigkeit steigt, die Sozi-alsysteme stehen auf schwankendem Grund, das Staats-defizit hat sich mehr als verdoppelt und das Ergebnis ist,dass wir in diesem Jahr einen verfassungswidrigen Haus-halt haben und auch im nächsten Jahr einen verfassungs-widrigen Haushalt haben werden.Reden Sie sich nicht damit heraus, dass die wirtschaft-liche Entwicklung gestärkt werden müsse, es läge eineStörung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts vor.Dazu passt nicht, dass Sie behaupten, es gebe noch Wachs-tum; denn in diesem Fall kann das gesamtwirtschaftlicheGleichgewicht nicht gestört sein. Dazu passt ebenfallsnicht die Maßnahme, neue Kredite aufzunehmen; denndie wesentlich erhöhte Kreditaufnahme ist nicht geeignet,die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichtszu beseitigen. Sie soll lediglich die vorhandenen und vonIhnen verursachten Haushaltslöcher stopfen.Ich sage es noch einmal: Dieser Minister hat es nichtverdient, länger im Amt zu sein. Er hat die Finanzen, denHaushalt des Bundes, an den Abgrund geführt. Die Poli-tik, die zurzeit gemacht wird, ist nicht geeignet, die wirt-schaftliche Situation in Deutschland zu verbessern. Siestehen vor einem Scherbenhaufen Ihrer Politik.
Das Wort hat die Kollegin Christine Scheel, Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Rexrodt, Sie haben hier wieder einmal gnadenlosübertrieben.
In meiner vorherigen Rede habe ich gesagt, dass Meckernkein Konzept ist. Aber ich muss sagen, dass gnadenloseÜbertreibungen ebenfalls kein Konzept sind, Herr Rexrodt.
Die FDP hat sich in der Finanz- und Haushaltspolitiknicht gerade mit Ruhm bekleckert, was die 29 Jahre ihrerRegierungsbeteiligung betrifft.
Wenn man die gegenwärtige Situation Ihrer Partei be-trachtet, dann muss man sagen, dass sie das auch in derGegenwart nicht tut.
Herr Austermann, ich finde, wir sollten sachlich mitei-nander reden.
Sie sollten nicht immer behaupten, dass wir die Höhe derSteuereinnahmen des Septembers vorher wissen konnten.Als guter Haushaltspolitiker müssten Sie doch eigentlichwissen, dass der September seit Jahren der Monat mit dengrößten Steuereinnahmen ist. Die Prognosen, die wir imFrühjahr bezüglich der Einnahmen im September bekom-menhaben,habensichabernichterfüllt.Deshalbmüssenwirals Konsequenz der letzten Steuerschätzung einen Nach-tragshaushalt einbringen. Dass dies geschieht, liegt abernicht daran, dass es falsche Einschätzungen vonseiten derKoalitionsfraktionen oder des Finanzministers gegeben hat.
Es ist unbestritten, dass die wirtschaftliche Situationäußerst schwierig ist und dass wir konsolidieren müssen.Wir müssen aber gleichzeitig dafür sorgen, dass in diesemLand ausreichend investiert wird und dass wir es schaffen,strukturelle Maßnahmen zu ergreifen, um die sozialen Si-cherungssysteme zukunftsfest zu machen. Ich hoffe, dasswir uns darin einig sind.Der Unterschied zwischen CDU/CSU und FDP auf dereinen Seite und den Regierungsfraktionen auf der anderenSeite ist jedoch der, dass die Regierungsfraktionen Vor-schläge machen, wie wir aus dieser schwierigen Situationherauskommen können.
Aber Sie mäkeln in allen Debatten, die wir in diesem Hausezu diesem Thema führen, nur herum, ohne zu sagen, wasSie tun wollen.
Sagen Sie doch bitte einmal, wie man es ohne eine wei-tere Neuverschuldung schaffen kann, die Steuern, die So-zialversicherungsbeiträge und die Staatsquote zu senken!Sagen Sie den Menschen draußen im Land, was Ihre For-derungen für die soziale Absicherung bedeuten und wel-che Einbußen die Menschen hinzunehmen haben! Dazusind Sie zu feige.
Die Prognosen sowohl der Wirtschaftsforschungsinsti-tute als auch des Sachverständigenrates waren schon im-mer unsicher.
Das ist leider so; daran kann man nichts ändern. Wir konn-ten immer wieder erleben, dass Institute innerhalb weni-ger Tage ihre Prognosen verändert haben
Dietrich Austermann
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Christine Scheelund dass wir anpassen mussten. Denn die Forschungsinsti-tute, die Wirtschaftsinstitute, der Sachverständigenrat unddie Wirtschaftsweisen sind die Gremien, die die Grund-daten vorlegen, auf denen die Regierung ihre Perspektivenin der Finanz- und Haushaltspolitik aufbaut. Das ging Ih-nen so und das geht uns so.Ich finde, man sollte an dieser Stelle die Kirche imDorf lassen. Als der Finanzminister noch Theo Waigelhieß, hatten wir dreimal die Situation, dass die Neuver-schuldung höher war als die Investitionen. Dies hatte ge-nau die gleiche Konsequenz, vor der wir heute stehen.
Auch damals ist Gott sei Dank kein Staatsbankrott einge-treten. Das wird auch diesmal nicht der Fall sein. Dennwir haben Vorsorge getroffen, wir werden im Hinblick aufdas Jahr 2003 konkrete Vorschläge machen und Sie darumbitten, dem zuzustimmen.Dazu kommt, dass etwa 55 Prozent des Defizits, überdas wir jetzt sprechen und das wir nach Brüssel meldenmüssen, in der Verantwortung der Bundesländer liegen.
Ich würde bitten, dass nicht nur oppositionsseitig, alsovonseiten der CDU/CSU und der FDP, diesbezüglicheVorschläge kommen. Es geht nämlich nicht an, dass bei-spielsweise der bayerische Ministerpräsident oder einHerr Koch sagen: „Liebe Leute, all das, was die Regie-rung macht, wollen wir nicht haben; wir machen das allesbesser“, ohne ehrlich zu sagen, was sie tun wollen. AuchHerr Koch wird einen nicht verfassungskonformen Haus-halt haben. Das bitte ich zu berücksichtigen. Hier müssenalle helfen. Dazu gehören die Länder, aber auch die Op-position.Danke schön.
Nächster Redner ist der Kollege Steffen Kampeter,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die Kollegin Scheel hat wesentliche Teile ihrerRede darauf verwendet, den Eindruck zu erwecken, alshabe die rot-grüne Regierungskoalition gerade in denletzten Minuten, Stunden oder Tagen erfahren, dass diewirtschaftliche Lage in Deutschland schlecht und dieSteuerbasis erodierend ist, die Zukunftsperspektivenschlimm sind und sie regelrecht überrascht worden sei.Wer heute Morgen die „Welt“ gelesen hat, der konntezur Kenntnis nehmen, dass interessanterweise jemand,der auch im Deutschen Bundestag immer offen war, näm-lich Oswald Metzger, Ihr langjähriger haushalts- und fi-nanzpolitischer Sprecher, festgestellt hat:... die Koalitionäre– das sind Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren –hätten vor der Bundestagswahl– so Metzger wörtlich –‚ein desaströses Finanzloch im Bundeshaushalt‘ be-wusst verschwiegen.
Es sei Stillschweigen vereinbart worden, weil sonst‚der Nimbus der Finanzpolitik dieser Koalition imBereich Sparen natürlich schon vor der Wahl kaputtgewesen wäre‘.So weit Ihr ehemaliger finanzpolitischer Sprecher. Esgibt jetzt also auch bei den Grünen welche, die die Wahr-heit sagen.
Vor diesem Hintergrund möchte ich einen anderen Ex-perten hinzuziehen. In den letzten Tagen hat der SPD-Wirtschafts- und Arbeitsminister von Nordrhein-West-falen auf die Frage, ob er nicht schon lange wisse, dass diewirtschaftliche Lage und die Steuerlage so seien, wie sieseien, geantwortet:Das war für jemanden, der jeden Tag vor Ort ist undim Land die Augen offen hält, überhaupt keine Neu-igkeit. Dass beispielsweise der Möbelindustrie großeProbleme ins Haus stehen, das war vor der Wahl sound das ist nach der Wahl so. Wir haben eine Reihevon Handwerksbereichen, die aufgrund der schlech-ten Baukonjunktur in erheblichen Schwierigkeitensind und Arbeitsplätze abbauen. Das war vor derWahl so und das ist nach der Wahl so.Auf die Frage: „Sie haben also alles gewusst?“, antwor-tete Schartau:Ja, das wusste jeder, der in diesen Bereichen die Au-gen offen hat und sie nicht zumacht.Das ist die Wahrheit über die großartige Lüge, die heuteGegenstand Ihrer Redebeiträge ist.
Es bleibt Tatsache: Die Steuerausfälle, die die Steuer-schätzer gestern diagnostiziert haben, sind Ausweis einervöllig verfehlten Wirtschafts- und Finanzpolitik. Dabeigeht es nicht nur um Haushaltslöcher. Sie stehen am Ab-grund einer völlig falschen Wirtschafts- und Finanzpolitik.Wer sich heute noch einmal die Rede vornimmt, die derBundesfinanzminister kurz vor der Wahl am 12. Septem-ber hier gehalten hat, und eine unwahre Behauptung nachder anderen liest, der muss die Forderung des KollegenAustermann aufgreifen: Wer so unverschämt, so schamloslügt, der sollte seinen Hut nehmen. Zumindest hätte ichheute aber erwartet, dass er nicht den MotivationskünstlerDiller vorschickt, sondern selbst zur Lage der Wirtschaftund der Finanzen in Deutschland Stellung nimmt.
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Herr Diller hat vor dem Deutschen Bundestag gesagt,das Wachstum komme in Fahrt. Wenn es so lethargisch inFahrt kommt, wie der Kollege Diller bei seiner Rede inFahrt kam, dann werden wir sehr große Wachstumspro-bleme haben.Wir dürfen uns keine Illusionen über die Ursachen ma-chen. Wir haben doch nicht, wie die Redner der Koalitiondauernd behaupten, ausschließlich konjunkturelle Pro-bleme. Natürlich haben wir eine miese Konjunktur, aberdie hohe Arbeitslosigkeit und die wirtschaftliche Lage inunserem Land haben vor allem die Ursache, dass diestrukturellen Reformen in Deutschland nicht angegangenworden sind.Kollegin Scheel, Sie haben gefragt, was wir dagegenmachen. Vielleicht schauen Sie einmal in Ihr Büro. Dortliegt unser Entwurf über ein Minijobgesetz, in dem wirwesentliche Vorschläge zur Entriegelung des Arbeits-marktes in Deutschland machen, um zu Wirtschafts-wachstum zu kommen. Das ist ein ganz zentraler Vor-schlag. Es geht nämlich nicht um die Verwaltung desMangels, sondern um die Gestaltung zukunftsfähiger Lö-sungen.Wir müssen die Sozialversicherung auf neue Füße stel-len. Das, was Sie machen, ist ein Alternativprogramm, dasausschließlich auf dem Instrument der Steuererhöhungenberuht. Der Entwurf des Steuererhöhungsgesetzes, dasvon Ihnen in der nächsten Woche vorgelegt werden soll,beinhaltet die umfassendste Steuererhöhung – wahr-scheinlich in einem Volumen von 35 Milliarden Euro –,die in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland je-mals durch ein Gesetz umgesetzt wurde.Sie werden wesentliche Strukturfragen der deutschenWirtschaft streitig stellen, beispielsweise durch die vonIhnen beabsichtigte Einführung des Ausgabenabzugsver-bots bei Dividendeneinnahmen für Kapitalgesellschaften.Das ist eine Aufforderung an die Kapitalgesellschaften,aus dem Standort Deutschland zu flüchten. Es fördertAttentismus und die Benachteiligung des StandortsDeutschland. Durch diese Maßnahme werden Sie eherweniger als mehr Steuern erhalten.Es wäre auch fatal, wenn Sie Ihren Vorschlag umsetz-ten, die gewerbesteuerliche Organschaft abzuschaffen.Nachdem Sie schon die Gewerbesteuerreform auf dielange Bank geschoben haben, würden Sie mit dieser Maß-nahme die Finanzen der Gemeinden vollends ruinieren.Der Finanzminister hat vor wenigen Monaten in einerRede an der Humboldt-Universität gesagt: Wir müssen,um Wachstum und Beschäftigung zu fördern, die Steuer-und Abgabenlast senken. Meine sehr verehrten Damenund Herren, tun Sie bitte das, was der Finanzminister nochvor wenigen Monaten gefordert hat, anstatt die Steuerlastin dieser unverschämten Art und Weise anzuheben.
Herr Kollege Kampeter, Ihre Redezeit ist überschrit-
ten.
Ich will abschließend auf einen Punkt hinweisen: Die
Feststellung der Störung des gesamtwirtschaftlichen
Gleichgewichts, wie Sie es hier diagnostiziert haben, ver-
setzt Sie nicht in die Lage, unbeschränkt zusätzliche
Schulden aufzunehmen. Das Verfassungsgericht fordert,
dass eine zusätzliche Kreditaufnahme der Sache und der
Höhe nach der Senkung der Arbeitslosigkeit dienen soll.
Herr Kollege Kampeter, Ihre Redezeit reicht für diesen
abschließenden Punkt nicht mehr.
Das, was Sie im Zusammenhang mit Ihrem Nachtrags-
haushalt vorschlagen, wird keinesfalls dem Ziel „mehr
Wachstum und Beschäftigung“ dienen. Es wird Deutsch-
land schaden. Wir werden diese Schädigung unserer
Volkswirtschaft weiterhin kritisieren.
Herzlichen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Joachim Poß, SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kol-lege Kampeter, ich würde Ihnen empfehlen, sich noch ein-mal die Pressekonferenz der Sachverständigen anzu-schauen. Dort hat sich Professor Siebert zu IhremMinijobkonzept geäußert und es ausdrücklich abgelehnt.So viel möchte ich zu den Ergebnissen des Sachverstän-digenrates und der Bewertung Ihrer Vorschläge sagen.
Wenn Sie die Chuzpe haben, über Gemeindefinanzenzu reden, dann muss ich an etwas erinnern: In Ihrer Ver-antwortung wurde die Gewerbesteuer permanent aus-gehöhlt; wir sind diejenigen, die das Problem zum erstenMal seit 30 Jahren grundsätzlich aufgreifen und im nächs-ten Jahr eine umfassende Gemeindefinanzreform durch-setzen werden. Das ist der Unterschied zwischen Redenund Handeln.
Zu den Prognosen: Noch im August und Septembergingen verschiedene Institute davon aus, dass es zu einerkräftigen wirtschaftlichen Erholung im zweiten Halbjahrkommen würde. Wenn Herr Metzger aus irgendwelchenmenschlichen Verletzungen heraus plötzlich all seineSteffen Kampeter
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Joachim PoßErkenntnisse, die er am 12. September in einer 20-minüti-gen Rede hier im Deutschen Bundestag noch zum Bestengegeben hat – dabei hat er sich der Analyse von Bundes-finanzminister Eichel voll angeschlossen –,
heute vergessen hat, ist das das Problem von HerrnMetzger und nicht das Problem dieser Koalition.
Die Einzigen, die die Wählerinnen und Wähler ge-täuscht haben, sind Sie von der Opposition, und zwar mitunfinanzierbaren Vorschlägen; Stichworte: dreimal 40,dreimal 35.
Wo leben Sie denn? Finanzpolitisch leben Sie in Wolken-kuckucksheim.
Wir haben keine unfinanzierbaren Vorschläge und Ver-sprechungen gemacht. Herr Merz, das unterscheidet uns.Sie schwätzen wirklich und wissen oft nicht, worüber Sieschwätzen. Wir wissen, worüber wir reden, handeln ver-antwortungsbewusst und stellen uns der Situation.
Sie werden nach der Steuerschätzung nicht mehr darumherumkommen, sich der Situation zu stellen.
Eigentlich müsste jedem in diesem Hause klar gewor-den sein: Die Lage der öffentlichen Haushalte ist so ernst,
dass mit rein parteitaktischen Überlegungen und mit denAufführungen einer Opposition, die ihre Wahlniederlageimmer noch nicht verdaut hat, endlich Schluss seinmuss.
Das ist die Realität, mit der wir es zu tun haben.
– So ist das! Das gilt auch für einige Medien, die heutequasi mit einem schwarzen Rand aufmachen. Sie habendie Wahl verloren, weil Sie diese Koalition ablösen woll-ten. Das ist Ihnen misslungen und das haben Sie nicht ver-schmerzt.
Weil, wie jetzt deutlich geworden ist, allen öffentlichenGebietskörperschaften die geplanten Einnahmen wegge-brochen sind, werden beim Bund, aber auch bei den Län-dern und Kommunen die Haushaltsdefizite und damitauch das gesamtstaatliche Defizit in diesem und im kom-menden Jahr größer ausfallen als bisher erwartet. Wenndiese Entwicklung nicht schnell und aktiv gebremst wird,und zwar mit kurzfristiger Wirkung, werden eine Reihevon Länderhaushalten 2003 an die Grenze der Verfas-sungsmäßigkeit stoßen. Das ist die Lage, für die beide Ge-setzgebungsorgane, Bundestag und Bundesrat, in ihrer je-weiligen Verantwortung eine Lösung finden müssen.Die Unionsfraktion im Deutschen Bundestag würdeihren Einfluss und ihre Bedeutung überschätzen, wenn siemeinte, die unionsgeführten Bundesländer aus purer Par-teitaktik und wohl auch aus der nachhaltigen Wut über dieverlorene Bundestagswahl, die bei ihren Reaktionen im-mer zu spüren ist, zu einer kompromisslosen Ablehnungder steuerpolitischen Vorschläge der Regierungskoalitiondrängen zu können. Auch die unionsgeführten Bundeslän-der kennen ihre eigenen Interessen sehr genau. Diese wer-den sie natürlich weiterverfolgen und gegen die taktischenSpielchen von Merz, Merkel und anderen durchsetzen.
Auch Stoiber und Koch können nicht untätig bleiben. Siemüssen dafür Sorge tragen, dass die Einnahmebasis ihrerLänder gesichert wird und die Defizite ihrer Haushaltenicht unbegrenzt nach oben schnellen.Deshalb sage ich: Wir haben ein Konzept.
Unsere Vorschläge zur Verbreiterung der Steuerbemes-sungsgrundlage und zum Abbau von nicht mehr finan-zierbaren Steuervorteilen bieten eine Verbesserung der Fi-nanzsituation, und zwar nicht nur des Bundes, sondernauch der Länder und Kommunen. Daher sind sie eineernsthafte Verhandlungsgrundlage für den Bundesrat. Ar-beiten Sie – auch im Interesse der unionsgeführten Län-der und Kommunen – bereits hier im Bundestag kon-struktiv an unserem Politikangebot mit oder legen Sieendlich eine konkrete und detaillierte Alternative vor! Sokönnen Sie nicht weiterwursteln! Im Grunde wissen Siedas auch ganz genau.
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Das Wort hat der Kollege Carl-Ludwig Thiele, FDP-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenKolleginnen und Kollegen! Der gestrige Tag war der Of-fenbarungseid einer gescheiterten Politik von vier JahrenRot-Grün:
Die Wirtschaftsweisen gehen von einem noch niedrigerenWirtschaftswachstum und einer steigenden Anzahl derArbeitslosen aus. Brüssel leitet ein Defizitverfahren ge-gen die Bundesrepublik Deutschland ein und die Steuer-schätzung stellt Mindereinnahmen von über 30 Milli-arden Euro für die nächsten beiden Jahre fest. – Einordentlicher Kaufmann müsste bei dieser Bilanz denGang zum Konkursrichter antreten und den Offenba-rungseid ablegen. Finanzminister Eichel hat aber nichteinmal den Mumm, bei dieser Debatte hier im Bundestagzu erscheinen und seine Politik zu vertreten.
Gäbe es ein Delikt „Wahlbetrug“, dann müssten Bun-deskanzler Schröder und Finanzminister Eichel heute vorein Strafgericht treten. Was aber macht der Bundesfinanz-minister? – Er sucht Sündenböcke: Die Weltwirtschaft seischuld, das Wachstum habe sich nicht entwickelt wie er-wartet, die Zahl der Arbeitslosen sei nicht wie erwartet ge-sunken. Die Glaubwürdigkeit von Finanzminister Eichelhat sich, wie die „Börsen-Zeitung“ heute schrieb, vonTriple A zum Junk Bond entwickelt. Sie ist implodiert. Esist überhaupt keine Glaubwürdigkeit des Finanzministersmehr vorhanden.
Immer werden die Fehler bei anderen gesucht, statt end-lich selbst die Verantwortung für eine gescheiterte Politikzu übernehmen.
Die ganze Finanzpolitik von Minister Eichel hat nur eineeinzige Konstante: Seine Prognosen lagen immer daneben.Durch die Regierung wird den Bürgern ein angeblichesSparpaket vorgelegt, welches im Wesentlichen darin be-steht, durch Streichen von steuerlichen Regelungen ohnegleichzeitige Entlastung der Bürger die Steuereinnahmendes Staates weiter zu erhöhen. Diese Bundesregierunggreift den Bürgern schamlos in die Tasche: Die Sozial-versicherungsbeiträge werden erhöht, die Ökosteuernwerden erhöht, die Beitragsbemessungsgrenze wird er-höht, eine Wertzuwachssteuer wird eingeführt und steuer-liche Ausnahmetatbestände werden gestrichen. DieseBundesregierung belastet die Wirtschaft in unverantwort-licher Weise und setzt steuerliche Regelungen außerKraft, die systembedingt sind und daher zu Recht seit je-her Bestandteil des Steuerrechts sind. Der Höhepunkt die-ser schamlosen Politik besteht darin, dies auch noch alsSparpaket auszugeben.
Herr Schäfers von der „FAZ“ brachte es heute auf denPunkt:Steuerschätzer, Sachverständige und EU-Kommis-sion erinnern mit all ihren Zahlen letztlich an eineneinfachen Zusammenhang: Nur eine dynamischeWirtschaft verschafft dem Staat die Einnahmen, dieer braucht, um über die Runden zu kommen. Dochnahezu alles, was Rot-Grün tut, schadet diesem Ziel.Wie will man mit Steuererhöhungen Wachstum er-zeugen? Wie will man mit höheren Lohnnebenkostendie Arbeitslosigkeit senken?Wie will man mit täglich neuen Gesetzesvorhaben Bür-gern und Betrieben Planungssicherheit für größere Pro-jekte geben? Die Spitzenverbände der Wirtschaft warnenschon, dass infolge der zusätzlichen Steuerbelastungen35 Milliarden Euro Mehrbelastung auf die Unternehmenzukommen. Die Lohnnebenkosten steigen dramatisch anund liegen im nächsten Jahr trotz eingenommener 63Mil-liarden Euro Ökosteuer auf dem Niveau von 1998, bei42,2 Prozent. Und das soll eine nachhaltige Finanzpolitiksein?Herr Finanzminister, tun Sie endlich das, was jedernormale Bürger tun würde, der aufgrund Ihrer falschenPolitik weniger Einnahmen hat: Sie müssen endlich beiden Ausgaben ansetzen und sparen.
Deshalb kann ich Ihnen nur empfehlen: Halten Sie es mitden Empfehlungen der Wirtschaftsweisen und der FDP!Senken Sie die Steuersätze! Führen Sie Staatsaufgabenzugunsten privater Aktivitäten zurück! Senken Sie dieNeuverschuldung! Senken Sie die Lohnnebenkosten! Be-fristen Sie auch das Arbeitslosengeld!Die Staatsquote liegt bei fast 50 Prozent. Die Abga-benquote liegt bei 42 Prozent. Die Neuverschuldung desBundes wird sich in den vier Jahren Rot-Grün um mehrals 100 Milliarden Euro erhöht haben. Dies ist keine Po-litik der Konsolidierung, dies ist eine Steuererhöhungs-politik, eine Abgabenerhöhungspolitik, eine Neuver-schuldungspolitik. Diese Regierung unter BundeskanzlerSchröder hat vor der Wahl vieles versprochen – nach derWahl wurde es gebrochen. Deshalb ist es gut, dass nachder Wahl der ehemalige Abgeordnete Metzger erklärt hat,
dass das „desaströse Finanzloch im Bundesetat bewusstverschwiegen“ worden sei, weil ansonsten „der Nimbusder Finanzpolitik dieser Koalition im Bereich Sparennatürlich schon vor der Wahl kaputt gewesen wäre“.
Weiter hat er erklärt:In einem Abwägungsprozess, wollen wir weiter re-gieren, hat sich die SPD und die Bundesregierungund auch der Bundesfinanzminister fürs Weiterregie-ren entschieden und gegen die Ehrlichkeit.
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Carl-Ludwig ThieleGegen die Ehrlichkeit, meine Damen und Herren!
Herr Kollege Thiele, Ihre Redezeit ist überschritten.
Wenn Sie noch etwas Glaubwürdigkeit hätten, dann
müssten Sie die Wahrheit eingestehen, dann muss der Fi-
nanzminister von seinem Posten zurücktreten und dann
müssen Sie hier einen Haushalt mit einer Finanzplanung
vorlegen, die tatsächlich in der Lage ist, das wirtschaft-
liche Wachstum in Europa und vor allem in Deutschland
zu befördern, und sie nicht abwürgt.
Herzlichen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Antje Hermenau,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! WissenSie, Herr Thiele, mir geht es wie Ihnen: Auch ich wünschemir einen ehemaligen Abgeordneten zurück, aber nichtHerrn Metzger, sondern Herrn Lambsdorff.
Dessen Kurzintervention von vor über sechs Jahren habeich noch gut im Ohr. Damals meinte er, die fetten Jahreseien vorbei, man müsse umsteuern. Dies haben Sie ver-säumt, als Sie noch an der Regierung waren.
Die Misere, die wir auch hier in Deutschland haben, isttatsächlich hausgemacht. Deren Geschichte aber ist über30 Jahre alt. Wir haben uns diese sozialen Sicherungs-systeme mit ihrer Konjunkturanfälligkeit geleistet, diejetzt unter der schwachen Konjunktur leiden. Wer hatdenn geahnt, dass die Weltkonjunktur so stark einbrechenwürde, wie es nach den Attentaten im September letztenJahres geschehen ist?
– Erzählen Sie doch nichts! Das haben Sie nicht geahnt.Das Problem ist doch, dass Deutschland in den letztenJahrzehnten zu behäbig geworden ist und als schwerfäl-liger Tanker nicht mehr in der Lage ist, diese Konjunk-turanfälligkeit wirklich auszugleichen. Das ist das Kern-problem, über das wir alle reden. Theoretisch könnten wires auch mit Ehrlichkeit versuchen, aber dazu haben Sie inder Aktuellen Stunde natürlich keine Lust. Dies interes-siert Sie auch überhaupt nicht.
Alle, die sich gestern zur Steuerschätzung geäußerthaben, haben gesagt: Wir müssen die Reform der sozia-len Sicherungssysteme angehen. Sie können schauen,wohin Sie wollen, nach links oder nach rechts: Allestimmen dieser Analyse zu. Nur über das Wie wird ge-stritten.Erst einmal melden sich die üblichen verdächtigenGrabenkämpfer, und zwar Herr Rogowski für den BDIund Herr Putzhammer für den DGB. Beide erzählen ersteinmal, was nicht geht. Dies symbolisiert genau das Pro-blem, welches ich beschreibe. Es gibt in dieser Angele-genheit nur noch Grabenkämpfe. Es wird nicht wirklichdarüber nachgedacht, wie man diese Umstrukturierungerreichen kann.Jetzt kommen wir zu den Mehrheiten: Irgendjemandhat versucht, intelligent zu sein, und den Zwischenruf ge-macht, wir hätten ein Einnahmeproblem, weil Steueraus-fälle aufgetreten seien. Wenn es aber ein Einnahmepro-blem ist, frage ich Sie: Wie kommen Sie eigentlich imWahlkampf auf die Idee, von Steuersenkungen zu spre-chen? Können Sie mir das einmal erklären?
Jede Oma kann sich während des Strickens zusammen-puzzeln, dass man, wenn Deutschland ein Einnahmepro-blem hat, wie Sie feststellen, nicht noch die Steuern sen-ken kann. Das wissen Sie so gut wie ich.Wer hat denn im letzten Jahr hier gestanden und An-träge zur Erhöhung des laufenden Haushalts gestellt, weiler meinte, wir müssten noch irgendwo etwas drauf-packen? Die CDU/CSU-Fraktion kam mit einem Wustvon Haushaltserhöhungsanträgen an, die niemals finan-zierbar gewesen wären.Wie lautet denn die Bilanz der letzten drei oder vierJahre? – Die Neuverschuldung wurde massiv reduziert;das wissen Sie so gut wie wir. Sie machen hier nur einbisschen Stimmung.
Sie haben Angst. Sie haben ein Problem: Sie haben in derletzten Legislaturperiode und im Wahlkampf gemerkt,dass die Menschen eigentlich ein großes Vertrauen in dieFinanzpolitik von Finanzminister Eichel und der rot-grü-nen Koalition haben.
Sie versuchen jetzt, dies zu erschüttern, weil auch inschwieriger Zeit der Kurs gehalten wird.
Wir hätten es uns leicht machen können; das haben wiraber nicht getan. Sie weiden sich mit Häme an der Situa-tion, weil Sie froh sind, endlich die Gelegenheit zu haben,uns anzugreifen. Die ganzen vier Jahre hat es Sie ge-
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wurmt, dass wir eine bessere Finanzpolitik gemacht ha-ben als Sie.
– Natürlich ist das der Fall. Die Zahlen sind eindeutig.
Jetzt nutzen Sie die schwierige Situation – das ist IhreRolle als Opposition –, um mit Häme darüber hinwegzu-gehen.
– Herr Kampeter, ich kenne diese laute Stimme und die-ses Gebrüll.Der Versuch, das Vertrauen zu erschüttern, das wir er-worben haben, ist jetzt, da wir uns in einer solch schwie-rigen Lage befinden, möglicherweise erfolgreich. Aberauch Frankreich bekommt im nächsten Jahr einen blauenBrief aus Brüssel.
Frankreich wird übrigens konservativ regiert, wenn ichdaran erinnern darf. Auch Frankreich hat die Konjunktur-prognosen für das nächste Jahr nach unten korrigiert.Wenn Sie sich das alles auf der Zunge zergehen lassen,werden Sie erkennen, dass Sie sich an die eigentlicheKerndiskussion nicht herantrauen. Sie plustern sich auf,erzählen etwas von einem Haushaltssicherungsgesetz unddenken, damit könnten Sie die Menschen beeindrucken.Damit ist aber gemeint, dass Sie in die sozialen Siche-rungssysteme eingreifen wollen, statt sie zu reformieren.Sie wollen einfach nur Einschneidungen vornehmen.Diese Fraktion macht es sich besonders schwer, ihresoziale Verantwortung wahrzunehmen, und versuchtwirklich, dies auszubalancieren. Das heißt: Wir brauchenZeit. Es muss eine Differenzierung vorgenommen wer-den. Alle großen und wichtigen Bevölkerungsgruppensollen berücksichtigt werden.
Der Zeitfaktor spielt eine Rolle. Wir haben mit den Re-formen noch nicht begonnen. Es gibt aber eine Kommis-sion und im nächsten Jahr wird es auch Reformen geben.
Wir müssen durchhalten. Das ist zu schaffen, auch mitdiesem Haushalt. Sie kennen die Zahlen so gut wie ich.Also denke ich: Wir machen so weiter,
denn das ist die richtige Politik: erst konsolidieren unddann modernisieren. Es müssen alle zusammen stehen.
Lassen Sie sich von den Vertretern der Opposition bloßnichts erzählen. Die haben es wirklich nicht besser ge-macht.
Wir kriegen das hin.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ilse Aigner,
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Ich habe der Debatte aufmerksam zu-gehört. Es war von pastoralen Klängen bis hin zu ziemli-chen Wutausbrüchen ob der Lage alles da, aber bei derBeschreibung der heutigen Situation ist vieles verschönt,vertuscht und vernebelt worden.Meine sehr geehrten Damen und Herren von den Re-gierungsfraktionen, eines habe ich festgestellt: Sie ver-weisen noch heute – wir schreiben 2002 – auf 16 Jahre,die schon weit zurückliegen, und verschweigen immer dieletzten vier Jahre,
in denen offensichtlich vieles falsch gemacht wurde,
denn sonst wäre die heutige Situation nicht eingetreten.
Es zieht sich auch wie ein roter Faden durch Ihre Politik,dass immer alle anderen schuld sind – nur nicht diejeni-gen, die momentan an der Regierung sind. Dieses Musterkennen wir ja schon von früher;
ich kann mich noch gut daran erinnern. Noch vor 1998gab es einen Ministerpräsidenten; der hieß Schröder. Erhat immer darauf verwiesen, es seien die makroökonomi-schen Bedingungen, die ihn so daran hinderten, ein guterMinisterpräsident zu sein, und er werde alles ändern,wenn er Bundeskanzler ist. Vier Jahre hatte er jetzt und al-les schaut ziemlich neblig und schlecht aus. Die Kon-junktur- und die Wirtschaftsprognosen gehen stark nachunten. Ich brauche nicht alles zu wiederholen, was schongesagt worden ist.Ich will Ihnen nur ein Schmankerl aus der Steuerschät-zung vortragen, weil die Frau Kollegin Hermenau daraufverwiesen hat, wir hätten ein Einnahmeproblem. Ich kannmich noch gut an die Diskussionen zur Steuerreform 2000Antje Hermenau
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002
Ilse Aignererinnern, als wir gesagt haben, dass die Steuerreform struk-turell falsch angelegt ist, insbesondere was die Körper-schaftsteuer und die Benachteiligung der mittelständischenBetriebe betrifft. Die Zahlen der Steuerschätzung muss mansich auf der Zunge zergehen lassen. Wir hatten Körper-schaftsteuereinnahmen von mehr als 23 Milliarden Euro.
Heute ist dieser Betrag auf 850 Millionen Euro gesunken.
Vielleicht sollte man einmal eine andere Einnahmeposi-tionen dagegen stellen, damit die Größenordnungen klarwerden: Die Einnahmen aus der sehr wichtigen Bier-steuer, die in Bayern, wo ich herkomme, sehr beliebt ist,
sind mittlerweile fast so hoch wie die Einnahmen aus derKörperschaftsteuer, nämlich 815 Millionen Euro. Ichkönnte noch eines draufsetzen, wenn ich den Anteil desBundes an der Körperschaftsteuer in Höhe von 425 Mil-lionen Euro den Einnahmen des Bundes aus der Schaum-weinsteuer in Höhe von 450 Millionen Euro gegenüber-stelle. Die Einnahmen aus der Körperschaftsteuer liegenheute unterhalb der Einnahmen aus der Bier- und derSchaumweinsteuer.Mir ist noch etwas aufgefallen, sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen: Sie verweisen immer darauf, Sie hättenIhre Planungen auf die Meinungen der Sachverständigengestützt. Eines aber tun Sie nie: Sie hören nicht auf das,was die Sachverständigen in ihren Gutachten schreiben.
Ich will Ihnen einige der 20 Punkte aus dem Sachverstän-digengutachten der fünf Wirtschaftsweisen einfach vorle-sen. Laut „SZ“ werden diese Posten mittlerweile partei-politisch besetzt. Das kann ich nicht nachvollziehen, aberdie „SZ“ schreibt ja immer richtige Dinge.
Ich kann nicht alle Punkte vorlesen, dazu wird die Zeitnicht reichen. Diese Sachverständigen schreiben Folgen-des: Bei der derzeitigen Lage ist es wichtig, die Steuer-sätze weiter zu senken. – Sie tun das Gegenteil. Dannheißt es: Die Staatsaufgaben sind zugunsten privater Ak-tivitäten zurückzuführen. – Sie tun auch hier das Gegen-teil. Ich will nur ein Beispiel nennen: Sie strangulieren dieZeitarbeitsfirmen und führen auf der anderen Seite mitden PSA, den Personal-Service-Agenturen, eine staatli-che Organisation ein. Damit verhindern Sie wirtschaftli-ches Wachstum auch auf diesem Sektor. Sie tun das ge-naue Gegenteil von dem, was das Gutachten empfiehlt.
Ferner steht dort: Die Verschuldung muss gesenkt werden.– Sie erhöhen sie in diesem Jahr auf 35 Milliarden Euro.Die Sachverständigen fordern weiter: Die Lohnnebenkos-ten müssen gesenkt werden. – Jetzt schaue ich in die Rei-hen von Bündnis 90/Die Grünen. Ihre jungen Mitgliederhaben sich ja nicht durchsetzen können. Sie haben Recht:Es fehlt an einer Strukturreform im Rentenbereich. Fürdiesen Bereich jetzt die Lohnnebenkosten anzuheben istmit Sicherheit falsch. Es liegt an der Struktur. Wir hattendas Problem schon 1998 angepackt.
Von Ihnen ist es wieder zurückgenommen worden.
Weitere Punkte sind – ich kann sie nur noch vorle-sen –: mehr Beschäftigung im Niedriglohnbereich durchReform der Sozialhilfe, mehr Flexibilität auf dem Ar-beitsmarkt – Sie tun das genaue Gegenteil –, dezentraleLohnfindung ermöglichen, Kündigungsschutz lockernund vieles mehr. Alle Punkte, die hier aufgeführt sind,sind das genaue Gegenteil der Politik, die Sie in den letz-ten vier Jahren gemacht haben. Das Schlimme ist: Siewerden offensichtlich in den nächsten vier Jahren Ihre Po-litik fortsetzen.
Sie werden den Karren noch weiter in den Dreck fahren.Ich hoffe, wir werden das ändern können.
Das Wort hat der Kollege Ortwin Runde, SPD-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HerrThiele, wenn man das Wort „Glaubwürdigkeit“ zu oft inden Mund nimmt, dann besteht natürlich die Gefahr, dassdieser Maßstab an einen selbst angelegt wird. Wenn mandas bei Ihnen und Ihrer Partei macht, dann muss man sa-gen: Glaubwürdigkeit entsteht aus glaubwürdigem Han-deln. Ökonomisches Handeln beginnt zu Hause.
Schauen Sie sich einmal an, wie sich das bei IhrenParteikassen verhält.
Ökonomisches Handeln setzt sich natürlich auch aufder gesamtstaatlichen Ebene fort. Sie müssen sich einmaldie Höhe der Verschuldung und insbesondere die derSchuldzinsen anschauen, die Sie uns 1998 hinterlassenhaben. Jede vierte D-Mark wurde damals für Schuldzin-sen aufgewandt. Vier Jahre später ist es nur noch jede
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fünfte D-Mark. Schauen Sie sich auch einmal die Höheder Sozialabgaben an, die Sie uns hinterlassen haben. Ihrenhöchsten Stand haben die Sozialabgaben wegen derfalschen Finanzierung der deutschen Einheit 1998 erreicht.
Vorhin habe ich den großen Seher Austermann redengehört, den eines mit den großen Sehern der Antike ver-bindet: In den eigenen Reihen hat er nie Anerkennung ge-funden und ihm wurde nie geglaubt. Denn wenn er vor an-derthalb Jahren tatsächlich gewusst hat, wie die Situationheute sein wird, dann verstehe ich das Wahlprogramm undall die Wahlversprechen der CDU/CSU nicht.
Wenn er sagt, es sei ja schon zu Jahresbeginn erkennbargewesen, dass die Stabilitätskriterien verfehlt würden,dann frage ich mich: Wieso hat er dann Herrn Stoiber denRat gegeben, den Differenzbetrag,
der zur Einhaltung der 3-Prozent-Marke fehlt, für Wahlver-sprechen einzusetzen? Das kann ich nicht nachvollziehen.
Auch ich habe mir über viele Jahre angesehen, wie essich mit den Steuerschätzungen verhält. Herr Thiele hatvöllig Recht, wenn er sagt, es gebe eine Konstante, näm-lich dass die Steuerschätzungen nie gestimmt hätten. Dasgilt für die letzten anderthalb Jahrzehnte. Diese Feststel-lung ist völlig richtig. Man kann auch feststellen, in wel-che Richtung die Steuerprognosen abgewichen sind: ImAufschwung wurden die Steuereinnahmen unterschätzt,während sie im Abschwung überschätzt wurden. Hierkann man eine richtige Gesetzmäßigkeit erkennen.Während der Amtszeit von Herrn Waigel fiel das Gesamt-resultat so schlecht aus, dass es noch nachträglich berech-tigt wäre, seinen Rücktritt zu fordern.
Eichel hatte mehr Glück, weil er von den Prognosen öfterpositiv als negativ überrascht wurde. Aber das hängtschlicht und einfach mit dem Konjunkturverlauf zusam-men.Bei der Frage der Steuerlast muss man unter volks-wirtschaftlichen Gesichtspunkten eines berücksichtigen:Die Steuerlastquote, die 2002 bei 20,77 Prozent liegt– nach der Steuerschätzung wird sie 2003 voraussichtlichbei 20,99 Prozent liegen –, ist die niedrigste in der deut-schen Nachkriegsgeschichte.
Das ist nach den USA und Japan international die nied-rigste Steuerlastquote. Das muss man feststellen, wennman sich die Gegebenheiten genau anschaut.Was wir brauchen, sind verlässliche Grundlagen für dieBesteuerung.
Diesbezüglich haben wir eine Reihe von Maßnahmen ein-geleitet; ich nenne nur die Bekämpfung des Missbrauchsbei der Umsatzsteuer oder die Begrenzung der Verrech-nung von Verlusten mit aktuellen Gewinnen bei der Kör-perschaftsteuer. Nach den Aussagen von Frau Aigner binich sehr gespannt, wie Sie sich verhalten werden. Ich gehedavon aus, dass wir darin übereinstimmen, dass das Auf-kommen aus der Körperschaftsteuer wieder berechenbargemacht werden muss und dass Sie konstruktiv daran mit-wirken.
Wir haben mit dem Abbau von Steuervorteilen auch dieStabilisierung der steuerlichen Grundlagen eingeleitet.
Die Opposition ist jetzt gefordert, zu den Vorschlägen, diewir gemacht haben, konstruktiv Stellung zu beziehen odereigene konkrete Vorschläge einzubringen.In den Ländern und Gemeinden wird man Ihre Posi-tion, meine Damen und Herren von der Opposition, nichtlange hinnehmen.
Man wird dort Ihre Position nicht verstehen; denn es gehtnicht allein um die Bundesfinanzen, sondern in gleichemUmfang um die Finanzen der Länder und der Kommunen.Diese Aufgabe müssen wir gemeinsam angehen und ge-meinsam lösen.
Das Problem, vor dem wir stehen, ist, dass wir auf dereinen Seite bei der Festigung der Steuergrundlagen, beider Haushaltskonsolidierung Kurs halten müssen,
dass wir auf der anderen Seite aber nicht die weltwirt-schaftlichen Gegebenheiten übersehen dürfen. Das allesmüssen wir berücksichtigen, wenn wir das Wachstum för-dern wollen.
Herr Kollege, ich muss Sie an Ihre Redezeit erinnern.
Hier gilt es, einen geeigneten Mix von Maßnahmendurchzuführen. Vorschläge hierzu haben wir mit dem Ent-wurf des Haushaltsplans unterbreitet.
Hierüber sollten wir uns ernsthaft auseinander setzen;denn die Situation ist in der Tat dramatisch.Ortwin Runde
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Ortwin RundeSchönen Dank.
Herr Kollege Runde, ich gratuliere Ihnen im Namen aller
Kolleginnen und Kollegen zu Ihrer ersten Rede in diesem
Hohen Hause und wünsche Ihnen für die Zukunft alles Gute.
Nächster Redner ist der Kollege Otto Bernhardt,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zurück zu den grausamen Tatsachen.
Deutschland ist Schlusslicht bei der wirtschaftlichen Ent-
wicklung in Europa.
Das haben gestern die fünf Weisen noch einmal mit aller
Deutlichkeit festgestellt. Was wahrscheinlich genauso
schlimm ist: Gemeinsam mit Japan sind wir, so steht es
in dem Gutachten, bei der wirtschaftlichen Entwicklung
aller Industriestaaten der Welt auf den letzten Plätzen. Das
ist die aktuelle Situation.
Ich stelle fest: Früher haben Sie die Schuld für diese
Entwicklung immer bei der alten Bundesregierung ge-
sucht – das war die berühmte Altlast –, heute hat das nur
noch Herr Runde versucht. Er ist neu in diesem Hause.
Die anderen Kollegen wissen, dass man hier mit dieser
Platte keine Chance mehr hat.
Sie regieren seit vier Jahren. Wir diskutieren jetzt über die
Ergebnisse Ihrer vierjährigen Verantwortung.
Der zweite beliebte Punkt, auf den Sie immer wieder
hinweisen – Kollege Runde und andere haben das auch
eben wieder angesprochen –, ist die Weltwirtschaft.
Natürlich hat die Weltwirtschaft Einfluss auf die Ent-
wicklung in Deutschland; das bestreitet niemand. Aber
die entscheidende Frage ist doch: Warum werden andere
europäische Länder mit den gleichen Rahmenbedingun-
gen deutlich besser fertig als wir?
Warum haben Italien, Frankreich und Großbritannien im
letzten Jahr ein dreimal so hohes Wirtschaftswachstum
gehabt wie wir?
Das basiert auf verlässlichen Zahlen aus dem Jahr 2001.
Warum haben Belgien, Dänemark und Großbritannien
Vollbeschäftigung? Warum hatten im letzten Jahr mehr
als die Hälfte aller EU-Länder einen ausgeglichenen
Haushalt? Die Antwort ist klar; sie steht in der „Financial
Times Deutschland“ und im Gutachten. Ich zitiere die
„Financial Times Deutschland“, die heute schreibt:
„Eichel fehlt der Blick für die gesamte Ökonomie.“
Ich könnte es abändern: Der neuen Bundesregierung fehlt
dieser Blick.
Meine Damen und Herren, auf Steuerausfälle reagiert
niemand auf der Welt so wie Sie, nämlich mit Steuererhö-
hungen. Kein Nationalökonom empfiehlt dieses Konzept.
Das ist genau der verkehrte Weg.
Sie sprechen hier von sozial. Dazu kann ich nur sagen:
Diese Politik ist nicht sozial, sie hat uns eine steigende Ar-
beitslosigkeit gebracht. Sozial ist eine Politik, durch die
die Arbeitslosigkeit abgebaut wird.
Deshalb kann der richtige Weg nur sein, dass Sie das,
was wir in unserem Regierungsprogramm geschrieben
haben, aber leider nicht verwirklichen können, umsetzen:
Sie müssen den Arbeitsmarkt liberalisieren. Sie müssen
Ausgaben streichen und dürfen keine Steuern erhöhen.
Sie stellen sich hier hin und sagen, dass die Länder
55 Prozent der Verschuldung mittragen. Das Problem ist
aber, dass die Wirtschafts- und Finanzpolitik im Wesent-
lichen in diesem Hause bestimmt wird. Richtig ist, dass
die CDU-regierten Länder mit der schlechten Politik der
Bundesregierung deutlich besser fertig geworden sind.
Das unterstreichen alle Zahlen.
Meine Damen und Herren von der Koalition, deshalb
kann ich abschließend nur den Rat geben: Machen Sie
eine Kehrtwendung, reagieren Sie auf Steuerausfälle rich-
tig und reagieren Sie nicht, wie Sie es zurzeit tun, nämlich
wie ein ängstlicher Buchhalter, sondern reagieren Sie wie
ein weitsichtiger Finanzpolitiker.
Nächster Redner ist der Kollege Walter Schöler,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es könnte Ih-
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nen so passen, die 16 Jahre Ihrer Regierung einfach in Ver-gessenheit zu bringen.
Das hätte Ihnen auch am 22. September gepasst. Es ist Ih-nen aber nicht gelungen; das ist gut so. Das Konzept, dasSie vorher verkündet haben, war nämlich ein reines Kon-zept für Schuldenmacherei in den nächsten Jahren undnichts anderes. Dieses Konzept kannten die Bürgerinnenund Bürger und sie haben es Ihnen nicht mehr abgenom-men.
Die Grundlagen für den Riesenberg an Arbeitslosen,der leider auch heute noch da ist, haben Sie in den 16 Jah-ren geschaffen.
Auch den Schuldenberg haben Sie geschaffen. Ihnen,Herr Kollege Bernhardt, der Sie eben einen internationa-len Vergleich – allerdings nicht mit den neuesten Zahlen –gebracht haben, kann ich nur sagen: Die Weichenstellung,die Sie 1990 vorgenommen haben, war falsch. Die Folgenwerden uns noch mindestens die nächsten 15 Jahre be-gleiten.
Wir werden diese schultern müssen. Wir müssen aber da-rauf hinweisen, dass wir im Vergleich zu anderen Staatenzusätzliche Lasten zu tragen haben. Auch darüber redenSie heute nicht mehr.
Vor vier Jahren haben wir eine klare Kehrtwendung zuIhrer Politik in den 16 Jahren vollzogen und Hans Eichelhat eine Haushaltskonsolidierung begonnen, die zu sei-nem Markenzeichen geworden ist. Konsolidieren und Ge-stalten – das ist die Leitlinie unserer Finanzpolitik. Dasgalt für die letzte Legislaturperiode und das gilt genausofür die vier Jahre, die vor uns liegen. Unser Ziel bleibt imÜbrigen unverrückbar: 2006 wollen wir einen ausgegli-chenen Bundeshaushalt ohne Neuverschuldung – auchohne einen Euro Nettokreditneuaufnahme – vorlegen.
Wir geben zu, dass es sicherlich schwieriger geworden ist,das zu erreichen; das zeigt auch die Steuerschätzung. Wirhalten dennoch an unserem Ziel fest und wir haben mitunserem Konsolidierungspaket sofort gegengesteuert.Im Übrigen war es nicht möglich, schneller Konse-quenzen zu ziehen, als wir es getan haben, um die Min-dereinnahmen weitestgehend aufzufangen. Wir senkendie Ausgaben und haben auch Mut zu unpopulären Maß-nahmen und Einschnitten. Das haben auch die Demonstra-tion am Brandenburger Tor in den vergangenen Tagen be-stätigt.Wir verbessern auch die Einnahmeseite durch die Ver-breiterung der steuerlichen Bemessungsgrundlagen unddurch den Abbau unnötiger Steuervorteile.
– Das ist im Übrigen auch ein Angebot an die Länder undGemeinden, deren Einnahmebasis damit verbessert wer-den kann, Herr Thiele.
Die unionsgeführten Bundesländer müssen sich des-halb sehr wohl überlegen, ob sie es gegenüber den Bürge-rinnen und Bürgern verantworten können, unser Konsoli-dierungskonzept aus kurzsichtigen parteitaktischenÜberlegungen abzulehnen.Die aktuellen Steuerschätzungen liegen erheblich un-ter dem Ergebnis der Mai-Schätzung. Aber zur richtigenBewertung muss daran erinnert werden, dass der Arbeits-kreis „Steuerschätzungen“ kein Gremium der Bundesre-gierung ist. Ihm gehören nämlich auch Vertreter derLänderfinanzministerien – darunter auch die der unions-regierten Länder – und der Wirtschaftsforschungsinstitutean. In diesem Arbeitskreis werden mit Sicherheit keineGefälligkeitsschätzungen für die Regierung produziert,wie bei der Mai-Schätzung von manchen unterschwelliggemutmaßt worden ist.
Der Arbeitskreis kann sicherlich für sich in Anspruchnehmen, die Steuerschätzungen im Mai nach bestem Wis-sen und Gewissen vorgenommen zu haben. Seine damali-gen Annahmen sind allerdings nicht eingetroffen; viel-mehr hat er sich geirrt und sich nun korrigiert. Ich willkeine Vergleiche heranziehen, aber das erinnert mich anmanche Aussagen der Demoskopen vor Wahlen. Sie vonder Opposition haben deren Aussagen wochen- und mo-natelang sehr interessiert verfolgt und sahen sich schonauf der Regierungsbank.
Dieselben Demoskopen haben Ihnen sicherlich nach dem22. September erklärt, warum es anders gekommen ist.Ich vermute, Sie haben ihnen sogar noch ein Honorardafür gezahlt.
Wenn die Opposition und auch Teile der Medien nunbehaupten, die rot-grüne Koalition habe die Bürgerinnenund Bürger vor der Wahl getäuscht – Sie haben noch ganzandere und meines Erachtens teilweise üble Formulierun-gen gebraucht; Sie sollten einmal Ihre eigenen Reden imProtokoll nachlesen –, dann ist das falsch. Dabei handeltes sich um billigen Populismus. Wir haben nie behauptet,Walter Schöler
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Walter Schölerdass die November-Schätzung keine Mindereinnahmenergeben werde.
Wir haben vielmehr gesagt, dass die Schätzung abzuwartenbleibt und dass wir unabhängig vom Ergebnis auf jeden Fallan unserem Konsolidierungskurs festhalten werden.
Genau das machen wir mit dem Paket, das in diesen Ta-gen präsentiert und verabschiedet wird.
Schließlich waren es nicht wir, die vor der Wahl völligunfinanzierbare Versprechen gemacht haben, sondern Sievon der Opposition haben das Blaue vom Himmel herun-ter versprochen. Allein die von Ihnen vorgesehenen Steu-ervergünstigungen hätten doch 70 bis 80 Milliarden Europro Jahr mehr gekostet. Nun aber rufen Sie: „Haltet denDieb!“ und wollen davon ablenken, dass uns Ihre finanz-politische Unseriosität an den Abgrund geführt hätte –
Herr Kollege Schöler, denken Sie bitte an Ihre Rede-
zeit!
– gerne, Frau Präsidentin –, an dem Sie sich heute in meh-
reren Reden hin und her bewegt haben. Bewegen Sie sich
weiter an diesem Abgrund und machen Sie zwischendurch
gelegentlich Urlaub! Wir werden handeln und regieren und
wir werden das mit dem Haushalt 2003 auch beweisen.
Danke schön !
Das Wort hat der Kollege Norbert Schindler,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HerrSchöler, glauben Sie das, was Sie heute gesagt haben, ei-gentlich selber?
Schön, dass Herr Diller noch im Saal ist. Wird er deshalbgeschickt, weil Herr Eichel seit einigen Tagen der Lügenund des Betrugs überführt ist?
Herr Diller, sind Sie damit beauftragt worden, mitzutei-len, dass Sie an Steuererhöhungen festhalten?Wenn sie an das Vertrauen appelliert, muss ich die Kol-legin Hermenau fragen: Was haben Sie der deutschen Be-völkerung vor der Wahl alles versprochen?
Herr Metzger hat – Herr Thiele hat zu Recht darauf hin-gewiesen – vorgestern in der Sendung „Frontal 21“ fest-gestellt:In einem Abwägungsprozess, wollen wir weiter re-gieren, hat sich die SPD und die Bundesregierungund auch der Bundesfinanzminister fürs Weiterre-gieren entschieden und gegen die Ehrlichkeit.Herr Metzger hat Ihnen selbst gesagt: Sie haben Deutsch-lands Bevölkerung bewusst angelogen.
– Herr Poß, wenn es glatt gelogen ist, dann fordern Sieihn gerichtlich auf, diese Bemerkung zurückzunehmen.Das können Sie innerhalb Ihrer Koalition klären. Brin-gen Sie das auf die Reihe! Es steht Aussage gegen Aus-sage. Wenn ich Sie wäre, würde ich mir das nicht bietenlassen.Auch die Kollegin Scheel ist nicht mehr da. In einer Fi-nanzdebatte hat sie genauso wie der Finanzminister an-wesend zu sein.
Das gehört zum guten Ton. Wahrscheinlich verkündet siegerade draußen – das macht sie öfter –: Wir brauchen docheine Erhöhung der Mehrwertsteuer. Gleiches gilt bei derErbschaftsteuer und der Vermögensteuer.Vorhin wurde gesagt, es gebe keine Steuererhöhungen.Ich bin gespannt, was Sie in Ihrem Giftschrank fürDeutschland noch alles auf Lager haben, Stichwort Öko-steuer. Sie machen Ankündigungen in der Hoffnung,Deutschlands Wirtschaft anzukurbeln. Man glaubt Ihnenschlicht und ergreifend nicht mehr. Haben Sie denn dasnicht begriffen? Wenn das so weitergeht, liegen Ihre Um-fragewerte bald bei null.
Ich komme zur Hartz-Kommission. Wir werden nochdarüber reden, wie man versucht, damit eine positiveStimmung zu erzielen. Folgendes Motto ist bei Ihnen an-scheinend Methode geworden: links gewählt, grün ge-
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lebt, schwarz gearbeitet und sich dann blau-gelb geär-gert.
In dieser Verantwortungslosigkeit setzen Sie denStandort Deutschland in Europa aufs Spiel und untergra-ben die Stabilität des Euro. Wir sind die führende Wirt-schaftsnation in Europa. Ich erinnere an die Stabilitätskri-terien, die wir damals mit Theo Waigel unter demWortschwall Ihrer Ministerpräsidenten, die heute zumTeil hier sitzen oder sitzen müssten, gefordert haben.Diese haben wir eingehalten.Die damalige CDU/CSU- und FDP-Regierung hat diedeutsche Einheit geschultert und gemeistert. Wir habensie gewollt; wir haben sie auch mit Schulden finanziert.Auf diese Schulden bin ich stolz.Herr Runde, Ihnen kann ich nur sagen: Gehen Sie nichtin Hamburg in der Hafenstraße spazieren. Schauen Siesich die Zahlen der deutschen Entwicklung der letztenzehn bis zwölf Jahre an.
Wir haben in den 16 Jahren unserer Regierung verant-wortungsvolle Finanzpolitik gemacht. Hamburg lässtgrüßen. Warum sind Sie dann abgewählt worden? DieseFrage müssen Sie erst einmal beantworten.
Weil ich nur fünf Minuten Redezeit habe, stelle ich ab-schließend fest: Sie verhalten sich wie Lemminge, die aufden Abgrund zusteuern. Sie sind sich dessen bewusst,aber tun es trotzdem. Anders ausgedrückt: Vor der Wahlwaren wir in Deutschland vor dem Abgrund. Heute sindwir einen großen Schritt weiter. Deutschland kennt nunden Unterschied zwischen Rot-Grün und einem Telefon-häuschen: Wenn man in ein Telefonhäuschen hineingeht,muss man erst zahlen und darf dann wählen. Das habendie Leute begriffen. Bei Ihnen wird erst gewählt und dannabgezockt. Sie verfahren in einer Art und Weise, dass wirweiterhin das Schlusslicht bleiben werden. Herr Staatsse-kretär Diller, wir sind nicht mehr Klassenletzter; wir sindsitzen geblieben. Diese Aussage hätten Sie heute machensollen.Vielen Dank.
– Wer ist denn an der Regierung? Sie oder wir? Sie fra-gen vier Wochen nach Regierungsantritt nach Konzep-ten. Ihre kennen wir. Sie bedeuten Deutschlands Unter-gang.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch,
fraktionslos.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Für dieZuschauerinnen und Zuschauer darf ich sagen: Ich binMitglied der PDS.Ich bin zwar noch neu im Deutschen Bundestag, aberich bin schon etwas verwundert, dass es der Finanzminis-ter einen Tag nach der Steuerschätzung nicht für nötig be-findet, während einer Debatte über die Haushaltssituationeine Stunde im Deutschen Bundestag zu verbringen. Dasbefremdet mich doch sehr.Herr Eichel hat für das laufende Jahr eine Neuver-schuldung des Bundes in Höhe von 35 Milliarden Euroangekündigt. Das bedeutet: 35 Milliarden Euro Nettokre-ditaufnahme. Geplant war ursprünglich eine Nettokredit-aufnahme des Bundes in Höhe von 21,1 Milliarden Euro.Da haben Sie sich also locker um 13,9 Milliarden Euroverschätzt, einfach so!Sie erklären das Finanzloch – so haben auch die Red-ner der Koalitionsfraktionen argumentiert – mit dem vielzu geringen Wachstum, mit dem Anstieg der Arbeits-losigkeit und damit, dass man die konjunkturelle Ent-wicklung so nicht habe voraussehen können. Ich denkeaber, dass man die gigantischen Haushaltslöcher nichtausschließlich mit der Konjunktur erklären und entschul-digen kann. Das stimmt nicht. Das ist selbst verschulde-tes Elend.Die Steuerschätzung ist ein niederschmetterndes Zeug-nis für den Finanzminister – er ist nicht anwesend – unddie gesamte Bundesregierung. Sie ist ein Zeugnis für dieverfehlte Steuerpolitik der Bundesregierung in der letztenWahlperiode. Die großen Aktiengesellschaften wurdenvon Rot-Grün massiv steuerlich entlastet und bekamen– oh Wunder; es wurde beklagt bzw. erstaunt zur Kennt-nis genommen – von den Finanzämtern sogar Geld zu-rück. Das hätte man vorher berechnen können!Ihre Jahrhundertsteuerreform, meine Damen und Her-ren von Rot-Grün, sollte die Konjunktur ankurbeln. Dochoffensichtlich tun die großen Unternehmen nicht das, wasSie von ihnen erwartet haben. Sie kurbeln nicht an. Sie in-vestieren einfach nicht in neue Jobs. Die, die bisher inneue Jobs investiert haben, die kleinen und die mittlerenUnternehmen, können weiter auf Steuererleichterungenwarten.
Um es einmal bildlich auszudrücken: Ihre Steuerreformschlachtet die Kuh und versucht, den Bullen zu melken.Jetzt wundern Sie sich, dass der Bulle keine Milch gibt.
Die Zeche für die verfehlte Steuerpolitik zahlen jetztdie Länder und Kommunen, letztlich der normale Steuer-zahler. Heute habe ich in der Zeitung gelesen, dass HerrEichel die Länder auffordert, endlich zu sparen. Ange-sichts der Situation finde ich das etwas daneben. Viele dersteuerlichen Veränderungen zulasten der Länder undKommunen wurden im Deutschen Bundestag beschlos-sen, ohne dass eine Kompensation vorgenommen wurde.Norbert Schindler
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Dr. Gesine LötzschDie Bundesregierung kommt nicht länger umhin, eineStörung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts of-fiziell festzustellen. Nach Einschätzung des Arbeitskrei-ses Steuerschätzung werden die Steuereinnahmen derGebietskörperschaften in diesem Jahr um insgesamt15,4 Milliarden Euro geringer ausfallen, als noch im Maiangenommen wurde. Davon entfallen 5,7Milliarden Euroauf den Bund. Da das Grundgesetz bestimmt, dass innormalen Zeiten die Neuverschuldung des Bundes dieSumme der Investitionen nicht überschreiten darf, zwingtder notwendige Nachtragshaushalt die Bundesregierungdazu, die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichge-wichts festzustellen. Über das Ausmaß des geplantenNachtragshaushalts wissen wir noch nichts, aber schonjetzt ist klar: Es wird die hart treffen, die schon jetzt we-nig haben, und es wird die schonen, die schmerzlos aufetwas verzichten könnten.Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss.
Ihre Redezeit ist auch zu Ende.
Abschließend möchte ich an ein Wahlversprechen der
SPD von 1998 erinnern, nämlich an die Wiedereinführung
der Vermögensteuer. Es ist höchste Zeit, dieses Verspre-
chen einzulösen.
Herzlichen Dank.
Letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde ist der Kol-
lege Rainer Wend, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Wenn wir uns in einer Debatte über den Verteidi-gungshaushalt befinden, fordert die Union zweistelligeMilliardenbeträge für eine bessere Verteidigung.
Befinden wir uns in einer Debatte über die Infrastruktur inDeutschland, fordert die Union zweistellige Milliarden-beträge für neue Straßen in unserem Land.
Reden wir über Familienpolitik, fordert die Union zwei-stellige Milliardenbeträge für Familiengeld.
Befinden wir uns in einer Rentendebatte, beklagt dieUnion, dass die Renten nicht noch stärker erhöht werden,als sie schon erhöht werden. Befinden wir uns aber in ei-ner Steuerdebatte, fordert sie auf der einen Seite Milli-arden um Milliarden zusätzlicher Ausgaben,
fordert aber auf der anderen Seite, die Steuern über das hi-naus, was wir schon getan haben, noch stärker zu senken.Wie ist das miteinander in Einklang zu bringen?Ein anderes Beispiel. Während des Wahlkampfs gab esdie schreckliche Flutkatastrophe. Die Union forderte inder Debatte: Macht mehr Schulden, um die Folgen derKatastrophe zu beseitigen! – Eine halbe Stunde später, vorden Fernsehkameras, sagten dieselben Leute: Der Haus-halt muss stärker konsolidiert werden; es muss stärker ge-spart werden.Reden wir über Ökosteuer, sagt die Union: Die Öko-steuer bedeutet die Strangulierung der deutschen Wirt-schaft. – Aber selbst hat sie die Mineralölsteuer in denJahren ihrer Regierungszeit um ein Vielfaches dessen er-höht, was wir mit der Ökosteuer eingeführt haben.
Diese Politik als widersprüchlich zu bezeichnen ist weißGott geschmeichelt. Was Sie in der Wirtschafts- und Fi-nanzpolitik auszeichnet, ist Konfusion. Das muss einmalfestgehalten werden.
Diese Konfusion wird nur durch das übertroffen, wasHerr Schindler eben gesagt hat.
Ich staune, dass nicht mehr es so registriert haben, wie esbei mir angekommen ist. Herr Schindler, Sie haben ge-sagt: Die Politik dieser Koalition bedeutet – das haben Siewörtlich behauptet – „Deutschlands Untergang“.
Ich will Ihnen dazu Folgendes sagen: Wenn Sie, die Ver-treter einer demokratischen Partei, die Konzepte einerkonkurrierenden demokratischen Partei hart kritisierenund beschimpfen, dann ist das in Ordnung. Aber den Un-tergang Deutschlands an die Wand zu malen, das ist schä-big. Was Sie sich hier in diesem Parlament leisten, das istschamlos.
Dazu möchte ich noch folgende deutliche Bemerkungmachen: Als es im letzten Jahrhundert einmal, nämlichunter den deutschen Faschisten, den Untergang Deutsch-lands gegeben hat, waren Sozialdemokraten dafür nichtverantwortlich. Sozialdemokraten haben in ihrer Ge-schichte niemals beim Untergang Deutschlands mitge-macht.
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Dieser Finanzminister muss sich heute aus Ihren Rei-hen einiges an Kritik anhören. In einer solchen Situationist es angemessen, über solche Dinge zu streiten. Aberauch dazu muss ich Ihnen eines in aller Klarheit entgeg-nen: Wenn Ihr früherer Finanzminister nur halb so vielKonsolidierungspolitik betrieben hätte wie Hans Eichel,dann würde es uns heute um ein Vielfaches besser gehen.
In einem Punkt muss ich allerdings allen Vorrednernvon der Opposition zustimmen: Die schlechte Konjunkturist nur eine der Ursachen der hohen Arbeitslosigkeit.Hinzu kommen strukturelle Probleme, die seit vielen Jah-ren – auch in unserer Regierungszeit – bestehen. Das mussman so deutlich sehen. Wir nehmen mit der Steuerreformund mit der Arbeitsmarktreform deutliche Veränderungenvor.Ich möchte einen weiteren Punkt erwähnen. Der Sach-verständigenrat hat Recht: Wir müssen die Staatsaus-gaben zugunsten privater Aktivitäten stärker als bisherzurückführen und gleichzeitig staatliche Ausgaben inRichtung öffentlicher Investitionstätigkeit umschichten.Die Frage ist nur – ich habe auch Sie in diesem Sinne ver-standen –: Wie gelingt es uns, das in diesen schwierigenZeiten zu finanzieren und gleichzeitig Konsolidierungs-politik zu machen?In diesem Zusammenhang möchte ich auf ein Stich-wort hinweisen, das in der bisherigen Diskussion nochkeine Rolle gespielt hat: Public Private Partnership. In dergegenwärtigen Situation ist sie angemessen; andere Län-der, Großbritannien, Holland, Portugal, Spanien, habensie praktiziert. Wir müssen staatliche Aufgaben einerseitsund private Aufgaben andererseits neu justieren. Wirmüssen einen neuen Weg der Kooperation finden, undzwar nicht nur bei der Finanzierung von Projekten, son-dern auch bei der anschließenden Durchführung. Ichglaube, dass dabei viele Effizienzgewinne zu erzielensind.Ich will Ihnen damit Folgendes sagen: Allein mit derBeschreibung des Untergangs Deutschlands – ich kommedarauf zurück – und allein damit, sich hierhin zu stellenund unsere Politik herunterzureden, ohne Alternativenaufzuzeigen, werden Sie vier Jahre in der Oppositionnicht überstehen.
Bitte bringen Sie sich in den Wettbewerb um bessere Kon-zepte für unser Land ein! Damit täten Sie unserem Landtatsächlich einen Gefallen.
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen
der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fort-
entwicklung der ökologischen Steuerreform
– Drucksache 15/21 –
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz-
ausschusses
– Drucksache 15/71 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Schultz
Heinz Seiffert
Dr. Reinhard Loske
Carl-Ludwig Thiele
– Drucksache 15/72 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Steffen Kampeter
Walter Schöler
Antje Hermenau
Dr. Günter Rexrodt
Es liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion der
CDU/CSU und der Fraktion der FDP vor. Über den Ge-
setzentwurf werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Kol-
lege Reinhard Schultz, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir haben einen sehr strammen Beratungsfahrplan
in Bezug auf die Gesetze, die zum 1. Januar 2003 in Krafttreten sollen. Ich freue mich, dass wir zumindest diesesGesetz zur Fortentwicklung der ökologischen Steuer-reform, für das heute die abschließende Lesung stattfin-det, trotz dieses strammen Tempos ordentlich beratenkonnten:
So wurde eine Anhörung durchgeführt, deren Ergebnisseauch noch Eingang in Form von Veränderungen des Ge-setzestextes gefunden haben. Damit konnte bewiesenwerden, dass ein schnelles Tempo nicht grundsätzlich zueiner schlechten Politik führen muss, sondern dass manauch mit strammen und konzentrierten Beratungen schnellzu Ergebnissen kommen kann.
Ich freue mich auch darüber, dass ein großer Teil derSachverständigen diesen Gesetzentwurf bei der Anhörungausdrücklich begrüßt hat. Es sind viele Gesichtspunkteaufgenommen worden, die gerade auch von Ihnen in derDr. RainerWend
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Reinhard Schultz
Vergangenheit an der ökologischen Steuerreform kriti-siert wurden, nämlich angeblich mangelnde Lenkungs-wirkung und mangelnde Treffsicherheit im ökologischenBereich. Durch dieses Gesetz erhöhen wir die ökolo-gische Treffsicherheit deutlich und sorgen dafür, dassSchritt für Schritt auf effiziente Energietechniken, auchim Bereich des produzierenden Gewerbes, umgestelltwird.Wir erhöhen nicht etwa, wie manchmal dargestelltwird, den Steuersatz für produzierendes Gewerbe, son-dern wir senken den 80-prozentigen Rabatt, den das pro-duzierende Gewerbe gegenüber allen anderen Steuerzah-lern, insbesondere gegenüber den privaten Haushalten,hatte, nach etwa vier Jahren auf 40 Prozent ab.
Der Rabatt hatte den Sinn, die Unternehmen anzuregen,rechtzeitig auf Energie sparende und effiziente Systemeumzustellen. Viele Unternehmen haben die Möglichkei-ten genutzt. Das sagen uns Untersuchungen des UBAundaller wichtigen Institute, die sich damit befassen. Ener-giesparinvestitionen waren in den letzten drei bis vier Jah-ren der Renner. Insofern hat sich das Manöver politischinsgesamt gelohnt – für die Umwelt allemal.Jetzt ziehen wir die Schraube ein wenig weiter an, umnoch mehr Unternehmen zu bewegen, in Energiespar-technik zu investieren. Das trägt aber auch dazu bei, denVorwurf auszuräumen, wir würden mit der Ökosteuer imGrunde genommen nur die Verbraucher belasten, dieWirtschaft aber entlasten. Indem wir die Schraube bei derproduzierenden Wirtschaft etwas anziehen, stellen wirauch etwas soziale Symmetrie und Gerechtigkeit im Be-reich der Ökosteuer zwischen Verbrauchern und Wirt-schaft her. Auch das wurde ausdrücklich in der Anhörunggelobt.Wir haben uns gerade und besonders auch mit denenergieintensiven Unternehmen befasst, die im inter-nationalen Wettbewerb stehen, nicht ausweichen könnenund sowieso schon alles tun, um Energie einzusparen. Wirwissen auch ganz genau, dass in Unternehmen, die Ener-gie – Strom oder andere Energien – einsetzen, um Stoff-umwandlungsprozesse durchzuführen, nicht viel an Pri-märenergie eingespart werden kann. Deswegen haben wireinen Spitzenausgleich geschaffen, der da, wo es möglichist, noch einmal anregt, über Effizienzsteigerungen beiNeu- oder Ersatzinvestitionen nachzudenken, diese Un-ternehmen aber im Großen und Ganzen ähnlich wie derheute noch geltende Spitzenausgleich schont.Ich weise aber auch darauf hin – auch das war eine wich-tige Erkenntnis der Anhörung –, dass nicht die Ökosteueralleine das Problem ist, sondern vielmehr die Kumulation,die Wechselwirkung zwischen unterschiedlichen Über-wälzungsprozessen, nämlich Ökosteuer, Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz und EEG. Ein Aluminiumwerk zumBeispiel, das 2,5 Millionen Megawattstunden Strom imJahr verbraucht, wird durch die Ökosteuer mit etwa1,6 Millionen Euro, durch das KWK-Gesetz mit 0,6 Mil-lionen Euro, durch das EEG aber mit sage und schrei-be 10 Millionen Euro belastet. Eine Papierfabrik, die125 000 Megawattstunden Strom im Jahr verbraucht,zahlt 266 000 Euro an Ökosteuer, 31 250 Euro an KWK-Umlage, aber 500 000 Euro aufgrund des EEG. DiesemMissverhältnis müssen wir uns aufgrund der Gesamtbelas-tung solcher Unternehmen dringend zuwenden. Wir Sozi-aldemokraten werden das in der nächsten Zeit tun. Ichhoffe, dass wir dafür auch Verbündete hier im Parlamentfinden.
Bei der Anhörung ist auch darauf hingewiesen worden,dass möglicherweise durch den CO2-Zertifikatehandel,den die EU-Kommission anregt und wozu ein Richtlinien-entwurf vorliegt, der verhandelt wird, eine zusätzlicheBelastungskulisse entsteht. Wir sagen deutlich: Die ener-gieintensiven Unternehmen, die jetzt schon am Rande ih-rer Wirtschaftlichkeit arbeiten, dürfen nicht neben dem,was wir jetzt schon haben – Ökosteuer, KWK-Gesetz undEEG –, durch den CO2-Zertifikatehandel gleichsam dop-pelt belastet werden. Dann müssen wir uns entscheiden,welchen Weg wir letztendlich gehen: einen Weg zugun-sten des Fiskus, zugunsten der Rentenversicherung oderzugunsten eines Handels mit CO2-Zertifikaten. DieseFrage wird sich in nächster Zeit stellen.Wir freuen uns sehr darüber, dass wir durch die Ver-längerung der Steuerfreiheit für erdgasbetriebene Kraft-fahrzeuge um weitere zehn Jahre, also bis zum Jahr 2020,eine technologische Weichenstellung vorgenommen ha-ben. So können Industrien natürlich planen. Ich verstehediese Maßnahme nicht in erster Linie als eine Maßnahme,die dazu führen soll, dass auf Dauer Erdgas getankt wird,sondern hier geht es um eine Technologie, die als Platz-halter für mögliche andere Gase dient, die in Fahrzeugenbenutzt werden können, bis hin zu der Markteinführungneuester Technologien auf Wasserstoffbasis.Mit jährlich 150 Millionen Euro für die Umsetzung derEnergieeinsparverordnung im Altbaubestand werden wiretwa 2 Milliarden Euro an Investitionen mobilisieren. Dasist eine stolze Zahl. Gerade vor dem Hintergrund der hef-tigen Diskussion über das Thema Wohnungsbau und dieFrage der Reaktivierung von Innenstädten ist das eineökologisch und städtebaulich gezielte Maßnahme, die inVerbindung mit Maßnahmen zur Eigentumsbildung imBestand viele Freunde finden wird.
Von der wirtschaftlichen Bedeutung her ist die Anhe-bung der Gassteuer auf 5,5 Cent pro Kilowattstunde derdickste Brocken. Auch darüber ist in der Anhörung disku-tiert worden. Dort gab es nicht nur freundlichen Beifallder Mineralölindustrie – den konnte man erwarten –, son-dern auch viele andere haben deutlich gemacht, dass sieden dermaßen großen steuerlich initiierten Abstand zwi-schen leichtem Heizöl und Gas nicht mehr für vertretbargehalten haben. Das Abstandsgebot ist auch heute geradefür den Wärmemarkt gegeben. Wir haben durch die Steuer-erhöhung nicht den Vormarsch des Gases auf dem Wär-memarkt gestoppt. Der Abstand ist nach wie vor vorhan-den, aber er ist jetzt maßstabsgerecht und wir habengleiche Sachverhalte ähnlich besteuert. Auch das ist wich-
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tig im Sinne der Steuergerechtigkeit und der Vermeidungvon zu großen politisch initiierten Wettbewerbsverzerrun-gen.Ich gehe davon aus, dass die Anhebung des Satzesnicht zu einer entsprechenden Anhebung des Erdgasprei-ses führen wird.
Die Gasindustrie hat selbst zum Ausdruck gebracht, dasses zahllose Stellschrauben gibt, vom Verhältnis zum leich-ten Heizöl, wo sie den Abstand halten will, bis hin zursteuerlichen Kulisse. Sie ist in der Lage, sowohl ihre Vor-produzenten als auch die Verteilerunternehmen in diesezusätzliche Belastung einzubeziehen. Beim Verbraucherwird nur ein kleiner Teil ankommen.
– Darauf können Sie sich wirklich verlassen; denn dieErdgasindustrie muss mit den Preisen unter denen fürleichtes Heizöl bleiben, weil sie sonst keine Wachstums-möglichkeiten hat. Insofern wird das ökonomische Gesetzgreifen, gerade in einem Bereich, in dem die Preise ehergewürfelt werden, als dass sie am Markt zustande kom-men. Das gilt für den noch immer nicht liberalisiertenGasmarkt leider in besonderem Maße.
Herr Kollege Schultz, denken Sie bitte an Ihre Rede-
zeit.
Ich bin fertig. – Ich glaube, wir haben eine gute Ab-
rundung der ökologischen Steuerreform geleistet.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Michael Meister,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Rot-Grün – das haben wir gestern gelernt – be-deutet höhere Steuern – das diskutieren wir hier –, höhereSchulden und höhere Arbeitslosigkeit.
Die Bilanz, die Sie hier präsentieren, ist für das Landkatastrophal. Volkswirtschaftlich gibt es – Entsprechen-des wurde gestern von den Weisen vorgelegt – klare Ant-worten zur Überwindung dieser Situation: Begrenzungder Steuerlast, Deregulierung der Arbeitsmärkte, Struk-turreformen in den Sozialsystemen und verantwortlicheGeldpolitik.Das, was Sie hier tun, bedeutet in all diesen Punktendas genaue Gegenteil. Wir haben vorhin in der AktuellenStunde gehört, dass Ihnen der Mut für solche Strukturre-formen fehlt. Sie fordern den Mut von der Opposition ein.Warum machen Sie sich nicht selbst auf und entwickelneigenen Mut?
Sie haben kein Konzept, sondern stochern blind im Nebel,ohne geringste Koordination und Orientierung. Sie irrenorientierungslos durch das Chaos, das Sie selbst verur-sacht haben. Jeden Tag liest man im Ticker von neuen Plä-nen. Sie betreiben Flickschusterei und verunsichern dieInvestoren. Deutschland wird miserabel regiert.Herr Schultz, Sie haben vorhin die Beratung dieses Ge-setzes gelobt. Als Neuling, der zum ersten Mal an einersolchen Beratung des Finanzausschusses teilgenommenhat, muss ich feststellen, dass es nur eine Änderung imVerlauf der Beratung gab, und die stand schon vor der An-hörung fest. Die Anhörung hat also überhaupt keineÄnderung erbracht. Die Sachverständigen, die Sie einla-den, werden nicht ernst genommen. Die Beratungsunter-lagen im federführenden Ausschuss tröpfeln sozusagenwährend der Sitzung langsam ein. Es gibt also keine Mög-lichkeit, sie sich vorher anzusehen. Damit degradieren Siedas Parlament während der gesamten Beratungsphase zurStaffage. Das ist kein ordentlicher Umgang mit dem Par-lament und den Menschen in diesem Land.
Der Bundeskanzler hat am 26. Juli gesagt:Steuererhöhungen sind in der jetzigen konjunkturel-len Situation ökonomisch unsinnig und deshalb zie-hen wir sie nicht in Betracht.Wie hat dies unser früherer Kollege Metzger am Diens-tagabend kommentiert?Im Wahlkampf sagt die Politik nicht die Wahrheit,– damit hat er vermutlich den Bundeskanzler gemeint –weil ansonsten der Nimbus der Finanzpolitik dieserKoalition im Bereich Sparen natürlich schon vor derWahl kaputt gewesen wäre.So der ehemalige haushaltspolitische Sprecher der Grü-nen im Originalton. Man fragt sich natürlich, wie es umdie Ehrlichkeit von Bündnis 90/Die Grünen bestellt ist.Machen Sie endlich Schluss mit dieser unehrlichen Poli-tik in Deutschland und sagen Sie den Menschen endlichdie Wahrheit, und zwar im Vorhinein und nicht erst dann,wenn die Folgen zu ertragen sind!
Nach der Wahl erleben wir eine Orgie von massivenSteuererhöhungen. Es geht nicht nur um die Erhöhungder Ökosteuer, die wir hier diskutieren, sondern es gehtauch um Ihr Steuervergünstigungsabbaugesetz, mit demSie weitere Steuererhöhungen planen. Das ist schlecht fürdas Wachstum, für die Dynamik und für die Flexibilität.Mit diesem Gesetz gehen Sie in eine vollkommen falscheRichtung.Reinhard Schultz
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Dr. Michael MeisterSie müssen dafür sorgen, dass es mehr Wachstum gibt.1 Prozent mehr Wachstum würde über 8 Milliarden Euromehr Einnahmen für die Haushalte bringen. Das wäre derWeg, wie wir unsere Haushalte sanieren können. Das gehtaber nicht durch ständige Steuererhöhungen und durchdas Abwürgen von Wachstum.
Schauen wir uns das Ökosteuergesetz einmal im Ein-zelnen an. Herr Kollege Schultz, ich habe das Gefühl, Siehaben an einer ganz anderen Anhörung teilgenommen alsich.
Die sechste Stufe der Ökosteuer wurde dort von den Ex-perten als konjunkturpolitisch verfehlt bezeichnet. Eswurde darauf hingewiesen, dass sie wettbewerbspolitischbedenklich ist. Sie ist wie die freiwilligen Klimaverein-barungen EU-rechtlich nicht verzahnt, weil sie nicht mitder künftigen Energiepolitik der EU und auch nicht mitdem Zertifikatehandel verbunden ist. Zu all diesen Punk-ten ist Ihnen gesagt worden, dass Sie sich auf demfalschen Weg befinden. Die sechste Stufe der Ökosteuer-reform ist arbeitsmarktpolitisch kontraproduktiv und auchumweltpolitisch verfehlt. Auch das haben die Expertenfestgestellt.Jetzt sprechen Sie, Herr Kollege Schultz, davon, dasKraft-Wärme-Kopplungsgesetz, das Erneuerbare-Ener-gien-Gesetz und die Ökosteuer würden in ihrer Gesamt-wirkung einen negativen Effekt entwickeln. Da frage ichmich: Wer hat die Ökosteuer, das Kraft-Wärme-Kopp-lungsgesetz und das Erneuerbare-Energien-Gesetz aufden Weg gebracht?
Waren Sie es oder waren wir es?
Sie haben die Verantwortung für den negativen Effekt,den Sie beschreiben.
In der Anhörung ist deutlich geworden, dass die Öko-steuer in ihrer jetzigen Form keine Lenkungssteuer imSinne der Ökologie, sondern, so wurde gesagt, eine Steuerallein zum Abkassieren ist.
Durch die sechste Stufe der Ökosteuerreform werden1,4 Milliarden Euro zusätzlich abkassiert zulasten vonVerbrauchern, die ihren Konsum noch weiter einschrän-ken müssen, als es ohnehin schon der Fall ist, und zulas-ten von Unternehmen, die weniger Investitionen tätigen,als dies gegenwärtig der Fall ist.Mit voller Wucht wird die Bevölkerung in den neuenBundesländern getroffen. Die Menschen dort werden eineüber 50 Prozent höhere Erdgassteuer zahlen müssen.Nach der Flutwelle im August hat man sie ermuntert, siemögen doch ihre Heizungen in den zerstörten Wohnungenbitte auf Erdgas umstellen, weil dies klimapolitisch ver-nünftig sei. Aber drei Monate später schlagen Sie bei die-sen Menschen, die Sie noch vor wenigen Wochen ermun-tert haben, in die Erdgastechnologie zu gehen, mit derErdgassteuer zu. Die Menschen haben jetzt das Gefühl,dass sie sich falsch entschieden haben.
Ich freue mich, dass Herr Bundesminister Trittin zudiesem Thema sprechen wird. Er hat vor wenigen Tagen,am 29. Oktober, sehr zutreffend festgestellt:Die einseitige Erhöhung der Erdgassteuer, insbeson-dere im Verhältnis zum Steuersatz des leichten Heiz-öls, widerspricht der ökologischen Vernunft.Herr Schultz, das ist das, was zum Thema „Erhöhung derErdgassteuer“ zu sagen ist: Sie widerspricht der ökologi-schen Vernunft.
Gleichzeitig möchte ich darauf hinweisen: Die beimHeizen benutzte Kohle bleibt steuerfrei. Was hat das mitökologischer Vernunft zu tun? Sie bekommen momentanattestiert, dass das Klimaschutzziel verfehlt wird. Die Ab-senkung der CO2-Emissionen um 25 Prozent bis zumJahre 2005 erreichen Sie nie. Und Sie sprechen davon,dass Sie etwas für die Ökologie tun!Meine Damen und Herren, die ermäßigten Ökosteuer-sätze auf den Verbrauch von Strom, Heizöl und Erdgas fürdas produzierende Gewerbe, die Landwirtschaft und dieForstwirtschaft steigen um 200 Prozent. Die Industriewird dabei an keiner anderen Stelle entlastet. In der An-hörung hat die chemische Industrie darauf hingewiesen,dass sie mit zwei Drittel ihrer Produktion im internatio-nalen Wettbewerb steht und es keine Möglichkeit gibt,höheren Produktionskosten in irgendeiner Form auszu-weichen; es sei denn, man würde die Produktion verlagernoder verringern oder ganz einstellen. Aber die Chance,höheren Produktionskosten in Deutschland auszuwei-chen, gibt es nicht.Sie argumentieren, Sie täten etwas für die Gesundungder Sozialsysteme. Schauen Sie sich bitte schön einmalan, was bei den Rentenbeiträgen tatsächlich geschieht!Sie werden sie am 1. Januar 2003 auf 19,5 Prozent er-höhen.
Sie haben jetzt im Rahmen der fünften Ökosteuerstufe,die ab 1. Januar 2003 gilt, und der sechsten, über die wirheute abstimmen, pro Jahr ein Gesamtaufkommen von20 Milliarden Euro. Das macht, in Beitragssatzpunktenumgerechnet, noch einmal 2,3 Prozent. Das heißt, Sie sinddann in Bezug auf die Sozialsysteme bei einer Belastungvon 21,8 Prozent. Sie aber sagen den Menschen, Sie hät-ten eine Entlastung herbeigeführt. Das ist keine Entlas-tung und auch keine Lösung, sondern eine Täuschung undAblenkung vom eigentlichen Problem. Wir brauchen in-nerhalb der Sozialversicherungssysteme eine Reform undkein Abkassieren bei der Ökosteuer sowie keine Um-finanzierung an dieser Stelle.
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Die 65 Milliarden Euro, die Sie den Menschen bis jetztim Zusammenhang mit der Ökosteuer aus der Tasche ge-zogen haben, sind eine massive Belastung und ein Teil derUrsache dafür, warum Sie gestern eine dreifache Ohrfeigebekommen haben. Sie hatten Gelegenheit gehabt, darüberzu schlafen. Noch haben Sie Zeit umzukehren. Ziehen Siediesen Gesetzentwurf zurück und tun Sie etwas für dieMenschen in Deutschland, indem Sie diesen Gesetzent-wurf nicht in Kraft setzen!Schönen Dank.
Das Wort hat der Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit, Jürgen Trittin.Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit:Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist im-mer schlecht, wenn Finanzpolitiker meinen, sich zu öko-logischen Fragen äußern zu müssen. Denn wenn Sie, HerrMeister, an den Debatten der Umweltpolitiker teilgenom-men hätten, hätten Sie wissen können, dass heute niemandmehr ernsthaft daran zweifelt, dass die ökologische Steuer-reform eine Wirkung hatte.
Sie hatte nämlich die Wirkung, dass nunmehr im drittenJahr die verkehrsbedingten Emissionen erstmalig wenigerwerden und der Anstieg der Treibhausgasemissionen derprivaten Haushalte, die, solange Sie die Verantwortunghatten, ungehindert mehr wurden, erstmalig rückgängiggemacht worden ist, sodass wir heute deutlich unter demNiveau von 1990 liegen.
Vor einigen Wochen haben wir hier eine Debatte überdie Frage geführt: Was ist eigentlich die Ursache für dieÜberschwemmungen und die Hochwasserkatastrophe?Da gab es den Konsens, dass es einen Zusammenhang mitder globalen Erwärmung und einen Zusammenhang zwi-schen der globalen Erwärmung und dem Handeln derMenschen gibt. Es wurde gesagt, es sei notwendig, dies zubegrenzen, und dabei sollten gerade steuerliche Anreizeeine Rolle spielen. Auf den Vorhalt von uns, Sie seien ge-gen die Ökosteuer, die Frau Merkel selber mitentwickelthat, haben Sie gesagt, Sie seien nicht gegen die Ökosteuer,sondern gegen diese Ökosteuer.
Nun schauen wir uns einmal an, was Sie an dieser Öko-steuer kritisiert haben. Sie haben kritisiert, das produzie-rende Gewerbe als eine Einheit, die zu viel emittiere,werde zu stark ausgenommen. Sie haben heute einen Ge-setzentwurf vorliegen, der diese Begünstigung, die Sub-ventionierung des produzierenden Gewerbes, gemäß Ih-rer Kritik im Rahmen der Debatte über das Hochwasserzurückführt, und zwar um 400 Millionen Euro. Was tunSie? Sie sagen in dem Moment, in dem man Ihrer KritikRechnung trägt: So war das nicht gemeint, das ist abereine bösartige Steuererhöhung; wir haben es mit der sechs-ten Stufe der Ökosteuer zu tun.
Sie haben ausgeführt, dass Sie für eine ökologischeSteuerreform sind, sie solle nur richtig sein. Sie haben kri-tisiert, die Ökosteuer orientiere sich nicht am Schadstoff-gehalt.Was machen wir? Wir passen die Besteuerung vonErdgas und Heizöl an, sodass wir Erdgas heute zur Hälftenach dem CO2-Ausstoß und zur Hälfte nach dem Ener-giegehalt bewerten. Wieder tragen wir Ihrer Kritik Rech-nung und entwickeln die Ökosteuer weiter. Was macht dieOpposition? Sie ist schon wieder dagegen, sie ist um desPrinzips willen dagegen.
Ich könnte das weiter fortführen.Am schönsten ist es, dass Sie kritisiert haben, wir wür-den das Aufkommen nicht für ökologische Zwecke ver-wenden. Das stimmte schon damals nicht, weil wir es imMarktanreizprogramm und mittels Steuerermäßigungenfür den öffentlichen Verkehr und für effiziente Kraftwerkeeingesetzt haben. Jetzt setzen wir es verstärkt für ein Ge-bäudesanierungsprogramm ein und nutzen einen Teil desAufkommens dafür, die unökologischste Form des Hei-zens, nämlich mit Nachtspeicheröfen, endlich aus demVerkehr zu ziehen.Wir haben all das gemacht und dabei die konstruktiveKritik der Opposition gern aufgegriffen. Eigentlich müss-ten wir heute einen breiten Konsens darüber haben, dassdiese Regierung auf Ihre Einwände, lieber Herr Paziorek,eingegangen ist, stattdessen schickten Sie Herrn Meistervor,
der aber auf jeden Fall dagegen sein musste.Wenn man reformiert und Subventionen abbaut, er-fährt man gesellschaftlichen Gegenwind. Das erlebt dieseKoalition gerade. Das ist so, da muss man ein Stück weitdurch. Ich habe mir gerade die Ergebnisse einer Umfrageangesehen.
Die Frage lautete: Glauben Sie eigentlich, dass die Kon-zepte der Opposition an dieser Stelle besser sind? Dazugibt es eine ganz interessante Zahl: Selbst 47 Prozent derUnionsanhänger glauben nicht, dass die Konzepte, die Sieals Alternative anzubieten haben, besser sind als das, wasviele Bürger momentan kritisieren.Ich kann Ihnen dazu einen Rat geben – das will ich alserprobter Oppositionspolitiker gerne tun; wir machengern Politikberatung für die Opposition –:
Dr. Michael Meister
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Bundesminister Jürgen TrittinAuch in der Opposition, meine Damen und Herren vonUnion und FDP, ist das Motto: „Was schert mich mein Ge-schwätz von gestern“, kein Erfolgsrezept; das sollten Siesich merken.Wir haben hier einen ordentlichen Gesetzentwurf vor-gelegt und ich weiß genau: Eigentlich möchte der HerrPaziorek am liebsten zustimmen.
Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Carl-
Ludwig Thiele für die FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenKolleginnen und Kollegen! Mit diesem Gesetz zur Fort-führung einer ökologischen Steuerreform soll einzig undallein unter dem Deckmantel der Ökologie beim Bürgerschamlos abkassiert werden, um öffentliche Haushalte zufüllen. Das ist die ganz simple Logik, die dahinter steht.
Dieses Gesetz ist Teil einer gigantischen Mehrbelastungmit Steuern und Sozialabgaben durch die RegierungSchröder-Schröpf. Die FDP lehnt diesen Gesetzentwurfab; denn die Ökosteuer hat keine doppelte Dividende, sieist eine doppelte Legende.Der erste Grundfehler – das haben wir immer kritisiert,Herr Trittin – ist die steuerliche Belastung von Energie imnationalen Alleingang. Umwelt macht nun einmal nichtan den Grenzen Halt und im Wettbewerb um Arbeitsplätzekonkurrieren wir mit anderen Ländern. Die steuerlicheBelastung im nationalen Alleingang schränkt die Wettbe-werbsfähigkeit Deutschlands für die Waren des produzie-renden Gewerbes international erheblich ein.Der zweite Grundfehler, den es von Anfang an gab, be-steht darin, dass der notwendige Strukturreformbedarf beider Rentenversicherung durch die Ökosteuer verschlei-ert worden ist. Es ist ein Fehler gewesen, zu glauben, dassmit Mehreinnahmen durch die Besteuerung von Umweltdie Rentenversicherungsbeiträge im Verhältnis eins zueins gesenkt werden könnten, wie dies in der Koalitions-vereinbarung 1998 festgehalten worden ist.
Es wurde erklärt, dass die Lohnnebenkosten aufgrund derÖkosteuer zum Ende der letzten Periode auf unter 40 Pro-zent sinken würden. Das war die Maßgabe, mit der Sie indie Ökosteuer gestartet sind. Im nächsten Jahr steigen dieLohnnebenkosten trotz der fünften Stufe der Ökosteuerund der sechsten Stufe mit der Fortführung dieses Geset-zes. Die Ökosteuereinnahmen steigen auf insgesamt63 Milliarden Euro. Die Lohnnebenkosten steigen um0,9 Prozent auf 42,2 Prozent. Das sind gerade einmal0,1 Prozent weniger, als Rot-Grün 1998 von der von ihrso sehr gescholtenen früheren Koalition übernommenhat.Durch die Ökosteuer und die Rücknahme der Renten-strukturreform der alten Koalition hat Rot-Grün vier JahreZeit verloren, um die absehbare demographische Ent-wicklung durch Strukturreformen der Rentenversiche-rung zu ändern. Deshalb hilft auch der Zwergenaufstand,den die Grünen hier gerade veranstaltet haben, überhauptnicht.
Die Grünen waren es doch, die den Reformbedarf derRentenversicherung in den letzten vier Jahren mit derÖkosteuer verschleiert haben.
Der dritte Grundfehler besteht darin, dass sich eineökologische Lenkungswirkung bisher nicht feststellenlässt. Dieses Gesetz dient einzig und allein dem Abkas-sieren. Anders lässt es sich doch nicht erklären, warum dieBürger aus ökologischen Gründen zunächst zum Heizenmit Gas aufgefordert werden, und dann, kaum dass sieihren Gasanschluss gelegt oder die Heizungsanlage mo-dernisiert haben, zusätzlich zur Kasse gebeten werden. Esist für keinen vernünftigen Menschen nachvollziehbar,dass das Verbrennen von Gas durch dieses Gesetz dras-tisch verteuert wird und das Verbrennen von Kohle zuHeizzwecken nach wie vor überhaupt nicht besteuertwird. Wo ist denn da die Ökologie? Das ist weder ökonoch logisch! Das ist unsystematisch! Dass die Grünenhier als Hauptverfechter der deutschen Steinkohle auftre-ten, ist bezeichnend.
Der vierte Grundfehler besteht darin, dass die Staats-quote nach Auffassung der FDP zu hoch ist. Ein Anstei-gen der Staatsquote auf der Ausgabenseite kann nichtdurch Erhöhung der Steuern und Sozialabgaben kompen-siert werden; vielmehr müssen die staatlichen Aufgabenund Ausgaben zurückgeführt werden. Der Glaube vonRot-Grün an eine doppelte Dividende durch die Öko-steuer, nämlich einer ökologischen Wirkung auf der einenSeite und einer Senkung der Sozialversicherungsbeiträgeauf der anderen Seite, ist gescheitert. Insofern gibt es keinedoppelte Dividende, sondern eine doppelte Legende.Zudem haben die Beratungen im Finanzausschuss – eswäre auch für Umweltpolitiker manchmal ganz interes-sant gewesen, den Beratungen zu folgen – gezeigt, dassdieses Gesetz einer Überprüfung in der Wirklichkeit nichtstandhält. Das Finanzministerium hat in den Beratungeneinräumen müssen, dass die Erstattungsbeträge für Be-triebe des produzierenden Gewerbes steigen, wenn,wie es im nächsten Jahr der Fall ist, die Rentenversiche-rungsbeiträge steigen. Das würde zu dem absurden Er-gebnis führen, dass die Betriebe des produzierenden Ge-werbes bei steigenden Rentenversicherungsbeiträgen einehöhere Erstattung erhalten würden. Wenn der Rentenver-sicherungsbeitrag deutlich über 20,3 Prozent steigenwürde, wie das nach diesem Gesetz vorgesehen ist, wür-den die Betriebe mehr Erstattung der Ökosteuer erhalten,als sie nach diesem Gesetz überhaupt bezahlen müssten.
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Dazu sage ich: Total öko! Total logisch! Total grün! Daszeigt, wie widersinnig die angebliche Logik der gesamtenökologischen Steuerreform ist.Zusammenfassend bleibt aus Sicht der FDP festzustel-len, dass bei den Verbrauchern massiv abkassiert wird undgerade energieintensive Branchen, wie die Aluminium-,die Buntmetall- und die Stahlindustrie, aber auch dieLandwirtschaft, steuerlich drastisch belastet werden. DerGrundfehler besteht darin, dass unter dem Deckmantelund unter dem Vorwand der Ökologie schamlos abkassiertwird. Diesem Weg wird die FDP nicht folgen.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Michael Müller für
die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Da beißtdie Maus keinen Faden ab: Die Ökosteuer ist eine Frage,bei der sich zeigt, ob man fähig ist, Zukunftsverantwor-tung zu übernehmen oder nicht.
Sie können noch so viel darum herumreden: Das ist dieentscheidende Frage, bei der sich zeigt, ob Sie fähig sind,aus Erkenntnissen zu lernen, oder ob Sie nur reagieren,wenn die Katastrophe da ist. Genau das ist der Punkt.
Ich weiß wirklich nicht, was ich bei Ihnen mehr be-wundern soll: die Schlichtheit der Argumentation oder dasKurzzeitgedächtnis – beides ist erschreckend.
Ende August gab es von allen Parteien Aussagen in der Öf-fentlichkeit, wie sehr sie die ökologische Modernisie-rung nach vorne stellen wollen. Das ist drei Monate herund Sie haben schon wieder alles vergessen. Das darf dochnicht wahr sein, meine Damen und Herren! Politik heißtÜbernahme von Verantwortung, heißt Zukunftsvorsorge.Sie sagen heute das eine und am nächsten Tag das Gegen-teil. Das geht nicht, das lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
Das Hochwasser im August war keine singuläre Er-scheinung. Sie wissen das, Herr Paziorek. Wir haben nachden Untersuchungen beispielsweise der Klima-Enquete-Kommission heute 5 Prozent mehr Wasserdampf in derAtmosphäre. 5 Prozent mehr Wasserdampf in der Atmo-sphäre heißt: Die Wasserkreisläufe verändern sich. Wennman diese Erkenntnis hat, dann kann man doch nicht sotun, als ob wir alle so wie bisher weitermachen könnten;dann müssen wir doch Strukturänderungen einleiten.Herr Meister, ich kann es wirklich nicht verstehen: Siesagen auf der einen Seite, die Regierung habe keinen Mut,notwendige Strukturveränderungen durchzuführen, kriti-sieren aber gleichzeitig die Ökosteuer.Merken Sie nicht,wie widersprüchlich Sie da argumentieren?
Entweder haben wir eine Marktwirtschaft, in der Preis-impulse einen zentralen Stellenwert haben – dann ist esrichtig, die Preisimpulse zu verändern –, oder wir habensie nicht. Sie können aber nicht auf der einen Seite sagen,Sie seien für die Ökologie, und auf der anderen Seite jedeStrukturveränderung ablehnen. Das passt nicht zusam-men. Politik muss sich entscheiden. Auch Sie müssen sichentscheiden. Es geht nicht, dass Sie sich, wenn die öffent-liche Debatte geführt wird, sozusagen so verhalten wieMercedes beim Elchtest der A-Klasse. Sie sind im Som-mer mit Ihrer Art von Politik dramatisch durchgefallen;sie hat sich nämlich als nicht praxistauglich erwiesen.
Ähnlich ist es bei der FDP. Eine Zeitung hat geschrie-ben: „Die FDP ist zur Empathie nicht fähig.“ Das heißt,die FDP besitzt nicht die Fähigkeit, an das Gemeinwohlzu denken. Mit dieser Analyse hat die Zeitung aus meinerSicht völlig Recht. Sie schreibt weiter: Der zentrale Punktder FDP sei die Unterordnung ihrer Argumentation unterdie Stimmungstauglichkeit.
Politik kann aber nicht auf Stimmungstauglichkeit ausge-legt sein. Politik muss die Übernahme von Verantwortungsein. Da ist selbst Herr Rexrodt schon sehr viel weiter ge-wesen.
Er hat in einem Papier von 1996 beispielsweise geschrie-ben, dass es sehr wohl sehr sinnvoll sei, einen nationalenAlleingang bei der Ökosteuer zu machen, um Impulseauszulösen, damit andere mitgehen. Da war er einmal sehrviel weiter.
– Das hat er zur Ökosteuer gesagt.
Ich will Ihnen übrigens einmal sagen: Sie kennen nochnicht einmal die Zahlen. Ich weiß gar nicht, wie Sie auf63 Milliarden Euro kommen. Dieses Jahr nehmen wirdurch die Ökosteuer 14 Milliarden Euro ein.
Wenn ich alle bisherigen Einnahmen zusammenrechne,komme ich auf 40 Milliarden Euro. Ich habe den Ein-druck, dass Sie schon beim Zusammenzählen Schwierig-keiten haben. Wie wollen Sie da den Gesamtzusammen-hang richtig bewerten?
Carl-Ludwig Thiele
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Michael Müller
So einfach, wie Sie es sich machen, geht das jedenfallsnicht.Die ökologische Steuerreform ist sicherlich einschwieriger Weg. Sie ist sicherlich ein Weg, der von vie-len Leuten viel verlangt und auch riskant ist. Wir sagenaber auch: Wenn wir nicht anfangen, die ökologische Mo-dernisierung mit Preissignalen durchzuführen, dann istdas Risiko künftig sehr viel größer.
Wir müssen uns heute entscheiden. Der Punkt in derPolitik, bei dem sich beweist, ob sie etwas kann, liegtdarin, in einer Situation, in der das Bisherige nicht mehrausreicht, um Probleme zu lösen, aber das Neue nochnicht völlig implementiert ist, einen Weg zu finden, derden Umbau dennoch möglich macht. Die ökologischeSteuerreform ist nicht der einzige Weg.
Ich glaube, wir sind uns einig, dass sie nur eines der mög-lichen Instrumente ist. Es ist aber richtig, dass die ökolo-gische Steuerreform ein notwendiges und auf jeden Fallunverzichtbares Element einer ökologischen Modernisie-rung ist. Das ist in der Tat der Praxistest, bei dem sichzeigt, ob man es ernst meint mit der Bewahrung derSchöpfung oder nicht. Genau das, meine Damen und Her-ren, tun wir, während Sie wegtauchen.
– Natürlich ist es so. Die hehren Worte, die bei Ihnen imParteiprogramm stehen, sind schön und gut, aber die Ent-scheidung fällt hier im Bundestag.Schauen wir uns das Modell von Herrn Rexrodt ausdem Jahre 1995 an. Schauen wir uns das Modell an, dasHerr Repnik im Rahmen des „Konzept 2000“ entwickelthat. Fast alle Modelle sind identisch mit dem, was ge-macht wurde.
Wenn Sie ehrlich sind, müssen Sie zugeben, dass unserKonzept unter den gegebenen Bedingungen – offeneMärkte und europäische Restriktionen – sinnvoll und rea-lisierbar ist.
– Natürlich, Herr Thiele, kann man eine Primärenergie-steuer erheben. Dann möchte ich aber nicht erleben, wiebeispielsweise die FDP aufschreit, dass aufgrund der of-fenen Märkte unterschiedliche Bedingungen für die Kon-kurrenz der Unternehmen entstehen. Sie müssen hier ehr-lich argumentieren. Wir leben in einer konkreten Welt undnicht in einer abstrakten Modellrechnung. Das ist dochder Punkt.
– Entschuldigen Sie bitte. Haben Sie nicht mitbekom-men, wie sehr der Anteil der Kohle an den Heizmit-teln zurückgegangen ist? Er wird auch weiter zurück-gehen.
Das ist ein richtiger Weg und genau diesen gehen wir.Ich sage Ihnen noch einmal: Wir können den Primär-energieansatz unter offenen Grenzen nicht realisieren.Wir hätten dies gerne gemacht, aber dies hätte in der Tatzu massiven Verschiebungen in den Konkurrenzbedin-gungen geführt, hätte für viele die Konkurrenzsituationdramatisch verschlechtert. Insofern plädiere ich dafür,dass wir unsere Politik an den realen Bedingungen, unterdenen wir leben, orientieren und nicht parteitaktischScheindebatten führen,
was vielleicht etwas für die Stimmung, aber nicht für einerationale Auseinandersetzung bringt.
Wir bleiben dabei: Die ökologische Modernisierung istein wesentlicher Ansatz, um die volkswirtschaftlich ren-tablen Effizienzpotenziale zu mobilisieren. Dies ist auchunter dem Arbeitsmarktgesichtspunkt ganz entscheidend.Es geht darum, Produktivität auf eine Art und Weise zu si-chern, die nicht immer nur durch die Übernahme von Ar-beit durch Technik gekennzeichnet ist. Der Weg in höhereEnergie- und Ressourcenproduktivität ist der Weg ei-ner modernen Volkswirtschaft. Diesen Weg gehen wirweiter.Wir sind übrigens gar nicht so allein, wie Sie immertun. Viele Länder machen das und ich halte das auch fürrichtig. Wir sagen allerdings auch – das ist notwendig –:Dieser Weg muss noch mehr europäisch abgestimmt undkoordiniert werden. Darum bemühen wir uns.
– Natürlich bemühen wir uns darum. Aber in Europa wirdsich nichts bewegen, wenn sich nicht einzelne starkeVolkswirtschaften bewegen. Das ist der entscheidendePunkt.
Sie glauben, der Schutz der Umwelt fällt vom Himmel,aber er fällt nicht vom Himmel. Er ist eine Frage der Po-litik. Wir sind bereit, hier politische Verantwortung zuübernehmen. In diesem Punkt ist die Alternative ganzklar: Sie befinden sich noch in der Nurankündigungs-phase und wollen Ihre Ankündigungen dann, wenn esernst wird, überhaupt nicht mehr wahrhaben. Wir abermachen es.Wir wissen: Das ist ein schwieriger Weg, er ist nichteinfach durchzuhalten. Wir wissen aber auch, dass wirdann, wenn wir es nicht tun würden, in den nächsten Jah-
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ren viel größere Probleme hätten und dies wollen wirnicht.
Dies ist verantwortliche Zukunftsvorsorge. Deshalb ge-hen wir diesen Weg.
Nun hat der Kollege Dr. Paziorek, CDU/CSU-Frak-
tion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das, wasRot-Grün hier vorlegt, ist keine ökologische Weiterent-wicklung, sondern eine umweltpolitische Bankrotterklä-rung. Sie benutzen die Umweltpolitik nur, um von Ihrergescheiterten Fiskalpolitik abzulenken.
Sie haben leider die Umweltpolitik zu einem bloßenInstrument der Finanzpolitik degradiert. Eine umwelt-politische Sinnhaftigkeit ist bei Ihrem Vorgehen nicht zuerkennen, und zwar aus folgenden Gründen:Erstens. Die ökologische Lenkungswirkung dieserÖkosteuer ist nicht nur zweifelhaft, sie ist bis jetzt nochgar nicht nachgewiesen.
Herr Minister Trittin, Sie argumentieren – vorhin, aberauch sonst immer – mit dem tatsächlich vorhandenenRückgang des Kraftstoffeinsatzes im Automobilbe-reich. Es gibt aber noch keine Untersuchung, die dar-legt, ob dieser Rückgang im Wesentlichen durch die Öl-preisverteuerungen oder durch andere Maßnahmen wiezum Beispiel die bessere Antriebstechnik bewirkt wor-den ist.
Man muss dazu sagen: Diese technologische Entwick-lung im Automobilbereich ist nicht erst 1999 eingetreten.Diese hat schon Anfang der 90er-Jahre begonnen. Wiekönnen Sie diese Verbesserung in der Antriebstechnik mitIhrer Ökosteuer begründen?
Aber auch bei der viel zitierten Anhörung am Dienstagsind weitere Fragen offen geblieben, zum Beispiel zumStromverbrauch. Das RWI hat bei der Anhörung amDienstag dargelegt, dass in Deutschland der spezifischeStromverbrauch deutlich zurückgegangen ist, obwohldurch die Liberalisierung die Strompreise zurückgeführtworden sind. Es gibt nämlich in der deutschen Industrieschon seit Jahren Umstellungsverfahren in beträchtlichemUmfang,
die langfristig spezifische Einsparungen in einer Größen-ordnung von bis zu 35 Prozent gegenüber 1990 bringenwerden. Dies ist also noch mehr als das, was die Selbst-verpflichtung der deutschen Wirtschaft beinhaltet. Inte-ressant ist: In der vorliegenden schriftlichen Stellung-nahme des RWI für die Anhörung am Dienstag wurdenachgewiesen, dass dies nichts mit einem Preisimpulsüber die Ökosteuer zu tun hat, sondern dass der Stromkos-tenblock ein entscheidender Wettbewerbsfaktor ist, dertrotz der Preisrückgänge seinen Beitrag zur weiteren Kos-tenreduzierung in der deutschen Wirtschaft leisten muss.Die Frage ist doch nur: Warum belohnen Sie diese Ak-tivitäten nicht? Warum bestrafen Sie diese Aktivitäten? Sowie Sie heute hier argumentieren und wie auch Sie, HerrMinister, heute hier argumentiert haben, senden Sie docheine für die Umweltpolitik fatale Botschaft aus. DieseBotschaft lautet: Sie können noch so viel in der Umwelt-politik, bei der Reduzierung des Energieeinsatzes oder beider Reduzierung des CO2-Ausstoßes erreichen, wir wer-den immer auf die Idee kommen, Sie zu Sündenböcken zudegradieren, und weiter an der Steuerschraube drehen. Siekönnen machen, was Sie wollen, wir werden Sie immerwieder finanziell bestrafen. – Ich sage Ihnen ganz deut-lich: Dafür wollen wir die Umweltpolitik in Deutschlandnicht benutzen, meine Damen und Herren.
Wir müssen weiter berücksichtigen: Der verminderteHeizölverbrauch steht in einem größeren Zusammen-hang, nämlich mit den milden Wintern in den letzten Jah-ren und weniger mit der vermeintlichen Segnung durch dieÖkosteuer. Wichtig ist, dass der Verbrauch von Benzinzum Beispiel deshalb zurückgegangen ist, weil sich vieleAutofahrer heute durch den Tanktourismus einen Preis-vorteil holen.
Die vorliegenden Zahlen sind in der Tat bedauerlich. Siehaben noch gar nicht realisiert, dass man heute mit einemLKW von Warschau bis nach Paris durchfahren kann,ohne in Deutschland zu tanken.
Dadurch wird der CO2-Ausstoß nicht reduziert, aber wirstellen fest: In Deutschland wird nicht mehr bei derDurchreise getankt. Dadurch dass diese LKWs nicht mehrin Deutschland betankt werden, sinkt in der Statistik fürunser Land automatisch der Benzin- und Dieselverbrauch.Weshalb lachen Sie darüber?
Wir stellen fest: Sie haben gerade einen Mechanismusbewirkt, der letztlich umweltpolitisch nicht sinnvoll ist,Michael Müller
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Dr. Peter Pazioreksondern nur Vermeidungsstrategien im falschen Sinneeröffnet. Das ist äußerst bedenklich.
Sie betonen immer die Erfolge. Ich würde von Ergeb-nissen und nicht von Erfolgen beim Klimaschutz spre-chen, denn dann müssten wir viel weiter sein. Die Ergeb-nisse beim Klimaschutz, die Sie in einem Atemzug mitder Ökosteuer nennen, haben – das muss man klar unddeutlich sagen – nichts mit einer etwaigen Lenkungswir-kung dieser Ökosteuer zu tun. Es ist ganz wichtig, dasherauszustellen. Die umweltpolitischen Erfolge dieserSteuer, die Sie immer unterstreichen, können Sie bis zumheutigen Tage wissenschaftlich tatsächlich gar nicht bele-gen. Das ist die wichtige Botschaft, die heute von dieserDebatte ausgehen muss.
Wenn Sie den Mut hätten, etwas umweltpolitisch wirklichSinnvolles zu tun, würden zum Beispiel die Beträge zurVerbesserung im Gebäudebereich – Sie haben gar keineBeträge genannt, Herr Minister Trittin, Sie haben geradegesagt: wir wollen ein Sanierungsprogramm auflegen –,bedeutend höher sein als die von Ihnen tatsächlich veran-schlagten 150 Millionen Euro. Über 1 Milliarde Euro ausder Ökosteuer wollen Sie jetzt in den Haushalt stecken.Warum stecken Sie denn nur 150 Millionen Euro in dieSanierung des Gebäudebestandes,
wo wir doch wissen, dass 25 bis 30 Prozent des CO2-Aus-stoßes in Deutschland tatsächlich durch die Gebäudeer-wärmung erfolgen? Warum stecken Sie dann nicht 50 Pro-zent, also über 500 Millionen Euro, in diesenumweltpolitisch wichtigen Bereich? Weil Sie es gar nichtwollen.
Das Umweltpolitische ist doch nur vorgeschoben. Siebrauchen diese Einnahmen tatsächlich, um Ihre Haus-haltslöcher zu sanieren. Das ist der umweltpolitische Vor-wurf, den man Ihnen machen kann.
Zweitens. Eine Ökosteuer kann nur dann zur Lösungder Umweltprobleme beitragen, wenn sie einerseits Ver-brauchern und Unternehmen ökonomische Anreize füreine nachhaltige Konsum- und Produktionsweise gibt undandererseits verbleibende Einnahmen der Umweltpolitikzur Verfügung stellt. Bei der Anreizwirkung versagt IhreKonstruktion der Ökosteuer. Man muss klar und deutlichals Ergebnis hier festhalten: Die privaten Haushalte sindbei der gegenwärtig vorgesehenen Regelung, die Sie aufden Tisch legen, die Nettozahler der Reform. Sie habenkeine Möglichkeiten, sich zu entlasten. Das hängt damitzusammen, dass Sie die Erdgassteuer drastisch erhöhen,aber letztlich auch damit, dass Sie umweltpolitisch rich-tiges Verhalten gar nicht belohnen wollen. Das ist ja garnicht Ihr Interesse. Sie wollen ja mehr Geld einnehmenund können deshalb gar nicht auf Anreize setzen. Sie kön-nen nicht auf Belohnung setzen, sondern Sie müssen eineSteuer so konzipieren, dass auch diejenigen, die sich um-weltpolitisch richtig verhalten, letztlich doch zur Finan-zierung Ihrer Steuer beitragen. Das ist umweltpolitischäußerst bedenklich.
Drittens. Eine der ökologischen Hauptschwächen derÖkosteuer ist, dass sie nicht gezielt am Schadstoffgehaltder einzelnen Energieträger ansetzt, sondern Energie un-spezifisch, rein willkürlich besteuert.
Der Energiegehalt von Erdgas wird nach Ihrem Gesetz-entwurf stärker belastet als der von leichtem Heizöl. BeimKohlenstoffgehalt – dieser ist sehr wichtig für eine Poli-tik zur Reduzierung der CO2-Emissionen – ist die Belas-tung von Erdgas nahezu zweimal so hoch. Wie wollen Siedas klimapolitisch begründen? Ich sage Ihnen ganz deut-lich: Sie können das klimapolitisch gar nicht begründen,weil die Zahlen offenkundig sind. Damit steht fest: DieÖkosteuer ist auch ein Schlag gegen die bisherigen ge-meinsam formulierten Grundsätze der Klimaschutzpoli-tik. Deshalb ist auch der jetzt vorliegende Gesetzentwurfabzulehnen.
Viertens. Die von Ihnen konzipierte ökologische Steu-erreform hat keine überzeugende Verknüpfung – HerrSchultz, hier muss ich Ihnen eindeutig widersprechen –mit den übrigen einschlägigen umweltpolitischen Instru-menten wie der Selbstverpflichtung der deutschen Wirt-schaft, dem Emissionshandel, der eingeführt werden soll,und dem weiteren ordnungsrechtlichen Instrumentarium.Es gibt in Deutschland zum Beispiel das ordnungsrecht-liche Instrumentarium der Kleinfeuerungsanlagenverord-nung. Diese bewirkt, dass zum 1. Januar 2003 Umstellun-gen bei Heizungsanlagen vorgenommen werden müssen.Ich frage Sie: Warum setzen Sie hier noch eine Ökosteuerdrauf, wenn Sie das schon vorher ordnungsrechtlich gere-gelt haben? An diesem Beispiel wird doch deutlich, dassSie nur abkassieren wollen und dass Sie in Wirklichkeitkeine Änderung des Verhaltens der Menschen bewirkenwollen.Deshalb sage ich: Ihre ökologische Steuerreform stehtin keinem Zusammenhang mit den übrigen Instrumentender Umweltpolitik. Sie verspielen mit der weiteren Er-höhung der so genannten Ökosteuer die Glaubwürdigkeitder ökologischen Steuerreform. Deshalb wäre es aus un-serer Sicht wichtig und ehrlich, wenn Sie das Kind beimNamen nennen würden. Nennen Sie die Ökosteuer Ren-tensicherungssteuer oder Haushaltskonsolidierungssteuer,aber nicht Ökosteuer!
Auch wir wollen eine Ökosteuer.
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Sie muss aber andere Bestandteile beinhalten. Für dieÖkosteuer in der jetzigen Form gibt es keine ökologischeBegründung. Deshalb werden wir den vorliegenden Ge-setzentwurf aus Umweltgründen ablehnen.
Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege
Dr. Loske, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Gesetzentwurf, den wir heute vorlegen, dient dem Abbau
umweltschädlicher Subventionen, der Verbesserung der
Lenkungswirkung der ökologischen Steuerreform und der
Förderung ökologischer Investitionen.
Erstens: der Subventionsabbau.Wir erhöhen – das ist
schon gesagt worden – den Regelsteuersatz für das pro-
duzierende Gewerbe von 20 auf 60 Prozent. Wir führen
beim Spitzensteuersatz einen Ausgleichsmechanismus
ein, der auch energieintensiven Unternehmen Anreize
zum sparsamen Umgang mit Energie gibt. Summa sum-
marum bauen wir durch diese Maßnahme Subventionen
in Höhe von 400 Millionen Euro ab. Gerade die Libera-
len, die sich so gerne als Kämpfer gegen Subventionen
darstellen, sind in dieser Frage vollkommen unglaubwür-
dig.
Die Europäische Union hat immer darauf hingewiesen,
dass Subventionen zeitlich befristet und degressiv gestal-
tet sein müssen. Das setzen wir mit dem vorliegenden Ge-
setzentwurf um. Insofern ist er ein ganz klarer Beitrag
zum Subventionsabbau.
Zweitens: die Lenkungswirkung.Der Minister hat be-
reits darauf hingewiesen, dass seit drei Jahren die CO2-Emissionen im Bereich des Verkehrs und der privaten
Haushalte kontinuierlich zurückgehen. Beim Verkehr sind
es etwa 2 bis 3 Prozent jährlich. Das ist ein klarer Trend-
bruch. Das ist im Wesentlichen auf die Preisanreize zu-
rückzuführen.
Das, was uns die Wissenschaft mitteilt, ist keineswegs ab-
strakt. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung
stellt fest, dass durch die ökologische Steuerreform die
CO2-Emissionen um 20 Millionen bis 25 Millionen Ton-nen zurückgehen. All das sind Beiträge zur Erhöhung der
Lenkungswirkung der Ökosteuer.
Dazu trägt in besonderem Maße auch der Abbau der
Sonderregelung für Nachtspeicherheizungen bei. Ich ha-
be schon das letzte Mal gesagt: Mit Strom zu heizen ist so,
als ob man Butter mit der Motorsäge durchschneiden
würde. Das ist einfach unvernünftig. Dem muss ein Ende
gemacht werden. Es ist außerdem wichtig, dass wir mit
der Begünstigung von Erdgas bis zum Jahr 2020 Anreize
schaffen – das gilt vor allen Dingen für die Busflotten,
aber auch für die PKWs –, einen relativ schadstoffarmen
Brennstoff im Verkehrsbereich zum Einsatz zu bringen.
Das ist übrigens auch eine Einstiegstechnik für biogene
Treibstoffe, also für Treibstoffe aus nachwachsenden
Rohstoffen. – Wenn ich das alles zusammenfasse, dann
stelle ich fest: Die ökologische Lenkungswirkung wird
durch diese Schritte deutlich erhöht.
Ich komme kurz auf die Kohle zu sprechen, um eine
Mär auszuräumen. Ich stehe wirklich nicht in dem Ruf,
ein großer Freund der Kohle zu sein. Aber lassen Sie es
bitte sein, zu behaupten, die Kohle würde von der ökolo-
gischen Steuerreform nicht berührt. Das ist Unfug. Die
Braun- und Steinkohle wird fast komplett zur Stromer-
zeugung eingesetzt und so fast voll und ganz von der
Stromsteuer erfasst. Es gibt hier keine Privilegierung.
Bitte unterlassen Sie diese Lüge.
Mein letzter Punkt. Ich möchte kurz die Zahlen für die
zusätzlichen Investitionen im ökologischen Bereich nen-
nen – Herr Kollege Paziorek, passen Sie einmal auf – : Das
Programm zur Förderung der Altbausanierung umfasst
bis jetzt 200 Millionen Euro. Aus den Einnahmen der
Ökosteuer nehmen wir hierfür 150 Millionen Euro pro
Jahr heraus. Das macht zusammen 350 Millionen Euro
pro anno. Sie haben zu Ihrer Zeit – das habe ich in den
Haushaltszahlen nachgesehen – 20 Millionen Euro aus-
gegeben. Wir wenden also das 17,5fache von dem auf,
was Sie veranschlagt hatten. Wenn man das Ergebnis et-
was aufrundet, könnte man sagen, dass das unser Pro-
jekt 18 ist, mit dem Unterschied, dass unser Projekt ge-
lingen wird; Ihres ist ja gescheitert.
Herr Kollege Loske, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte.
Herr Kollege Dr. Loske, ich habe folgende Frage: Stim-men Sie mit dem Ergebnis der wissenschaftlich und statis-tisch abgesicherten CO2-Statistik des Statistischen Bun-desamtes, die am 5. November dieses Jahres vorgestelltwurde, überein, wonach die CO2-Emissionen in Deutsch-land von 1990 bis 2000 rückläufig waren, seit 2001 aberDr. Peter Paziorek
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Dr. Christian Eberlwieder ansteigen? Wie erklären Sie das angesichts der an-geblich ökologischen Lenkungswirkung dieser Steuer?
Es gibt in den verschiedenen Sektoren unterschiedliche
Entwicklungen. Ich habe gerade vom Bereich der priva-
ten Haushalte und vom Bereich des Verkehrs gesprochen.
Im Verkehrsbereich ist es so, dass der Rückgang in den
Jahren 2000 und 2001 – die Prognosen des Mineralöl-
wirtschaftsverbandes gehen auch für 2002 davon aus – bei
2 bis 3 Prozent pro anno gelegen hat. Bei den privaten
Haushalten bestehen ähnliche Größenordnungen. Im Be-
reich der Industrie hat es beim CO2-Ausstoß, nachdem erzwischen 1990 und 1993 durch die Entwicklung in den
neuen Bundesländern dramatisch gesunken ist, einen
leichten Anstieg gegeben. Das hat mit der Inbetriebnahme
eines großen Kohlekraftwerks in den neuen Bundeslän-
dern zu tun. Insofern stimmt das, was Sie sagen.
Mein abschließendes Argument gilt der Verwendung
derMittel aus der Ökosteuer –meine Redezeit geht lei-
der schon dem Ende zu –. Auch hier erzählen Sie Mär-
chen. Durch die Ökosteuer fließen im nächsten Jahr
18,4 Milliarden Euro in den Bundeshaushalt. Davon wer-
den knapp 17 Milliarden Euro für die Rente verwendet;
das sind über 90 Prozent. Das heißt, diese ökologische
Steuerreform ist im Wesentlichen aufkommensneutral.
230 Millionen Euro fließen in das Marktanreizprogramm
für erneuerbare Energien, 150 Millionen Euro in die Alt-
bausanierung. Nur die verbleibenden 7 Prozent werden
für die Haushaltskonsolidierung verwendet. Das ist – das
gebe ich zu – ein kurzfristiges Abweichen vom Pfad der
Tugend der Aufkommensneutralität. Dorthin wollen wir
wieder zurück.
Das ist bestensfalls ein Sonderopfer. Aber 93 Prozent ge-
hen in die Rentenversicherung und in die Ökologie. Das
ist gut so.
Danke schön.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Hans Michelbach,
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kolle-gen! Wirtschaft und Verbraucher kapitulieren vor dem rot-grünen Steuerdruck in Deutschland: immer mehr Steuern,immer mehr Abgaben, immer mehr Staat. Der rot-grüneErhöhungskurs stürzt unser Land in eine gefährliche De-pression.
Außer im rot-grün regierten Deutschland findet man inEuropa keine Regierung, die der eigenen Wirtschaft soviel Schaden zufügt. Obwohl sich Deutschland in einerkonjunkturell schwierigen Phase befindet, soll die Wirt-schaft bis 2006 mit weiteren 35 Milliarden Euro an Steu-ern belastet werden. Hinzu kommen 36 Milliarden Eurodurch die Erhöhung von Abgaben.Kein Wunder, dass wir aufgrund der hohen Belastungmit Steuern und Abgaben einen ungeheuerlichen Wachs-tumseinbruch erleben. Kein Wunder, dass wir derzeiteine Beschleunigung der Insolvenzwelle und eine Er-höhung der Zahl der Betriebsschließungen sowie der Be-triebsverlagerungen ins Ausland erleben. Kein Wunder,dass häufig die Geschäftstätigkeit in Staaten mit besserensteuerlichen Rahmenbedingungen verlegt wird. KeinWunder, dass ein weiterer Arbeitsplatzabbau mit horren-den Folgen für die Sozialsysteme stattfindet. Herr Minis-ter Trittin, das ist die einzige Wirkung Ihrer Ökosteuer.Nachhaltig ist bei Ihnen nur die laufende Erhöhung derSteuern.Unser Konzept lautet dagegen: mehr Eigenverantwor-tung, mehr Leistung, mehr Wachstum und mehr Entbüro-kratisierung. Ihre rot-grüne Steuerpolitik hat die Grenzender Zumutbarkeit, der Belastbarkeit und vor allem derökonomischen Vernunft weit überschritten.
Trotzdem wird heute eine Fortsetzung der ökologi-schen Steuerreform mit neuen Belastungen für Wirtschaftund Bürger beschlossen. Das rot-grüne Abkassiermodellläuft geradezu auf vollen Touren. Der Herr Bundesfi-nanzminister zieht es vor, nicht selbst in die Debatte ein-zusteigen; er überlässt es den Ökofantasten und den Öko-ideologen.
Wir haben ein Problem mit den Finanzen und der Ver-schuldung in diesem Land. Dazu müsste er etwas sagen.
Es wird zu Steuererhöhungen kommen: für Erdgas undFlüssiggas um 58 Prozent und für schweres Heizöl um40 Prozent. Energieintensive Unternehmen und die Land-und Forstwirtschaft werden 200 Prozent mehr Steuern zah-len. In nächster Zeit sollen die Mindeststeuer, die Wert-zuwachssteuer, die Firmenwagensteuer, die Organschaft-steuer, die Werbeartikelsteuer, die Warenvorratsteuer, dieGewerbesteuerrevitalisierung, die Erbschaftsteuerverschär-fung, die Vermögensteuerwiedereinführung und die Mehr-wertsteuererhöhung hinzukommen. Das ist der Weg in dentotalen rot-grünen Steuerstaat.
Das ist nichts anderes als eine rot-grüne Steuerorgie.Die Leute haben diese Erhöhungen der Steuern und Ab-gaben satt und die Firmen können es sich nicht mehr leis-
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ten. Meine Damen und Herren, Deutschland kann sichRot-Grün nicht mehr leisten.
Das alles ist dazu angetan, unser Land endgültig in dieStaatswirtschaft zu führen. Zur Vernebelung nennt sichdas bei Rot-Grün dann Steuervergünstigungsabbaugesetzoder, wie Sie es nennen, ökologische Steuerreform. Mitdiesen Bezeichnungen betreiben Sie nichts anderes als ei-nen Etikettenschwindel, um Steuererhöhungen zu ver-schleiern. In wenigen Wochen steigt die Ökosteuer umeine weitere Stufe, obwohl, so die Hiobsbotschaft, damitdas Wachstum vernichtet und die Arbeitslosenzahl erhöhtwird; außerdem werden die Steuereinnahmen einbrechen.Hinzu kommt das Defizitverfahren durch die EuropäischeUnion. Die Ökospezialisten und Ökoideologen von Rot-Grün bleiben beratungsrestistent. Es wird nur noch Flick-schusterei betrieben, und zwar nach dem Motto: Augen zuund durch!Diese Bundesregierung hat bisher vor allem Schadenangerichtet und die Menschen sowie unsere Wirtschaftverunsichert; das ist die Situation. Kolleginnen und Kol-legen von Rot-Grün, nehmen Sie endlich zur Kenntnis:Unsere Volkswirtschaft steckt in einer schweren Krise.
Ihr Versagen in der Wirtschafts-, Steuer- und Arbeits-marktpolitik ist die Ursache für dieses Debakel.
Dass die Bundesregierung in dieser Situation zu weite-ren Steuer- und Abgabenerhöhungen greift, zeigt das Aus-maß der Unfähigkeit zur ökonomischen Vernunft. Es gibtin Deutschland einen Verlust an Wettbewerbsfähigkeit.Ich sage Ihnen, was die Ökosteuer für die Betriebe letz-ten Endes bedeutet: Die Ökosteuer ist für sie kostenstei-gernd und wettbewerbsschädigend. Für Verbraucher undMieter ist sie preissteigernd und unsozial. Sie hat schonjetzt zu unsozialen Preissteigerungen insbesondere fürden kleinen Mann und die Menschen im ländlichen Raumgeführt.Auf der Abgabenseite hat sie nichts bewirkt! Sie habeneine Erhöhung der Rentenversicherungsbeiträge zu ver-antworten. Deshalb ist Ihr Traum von der These, dass Siedie Energie verteuern, um den Faktor Arbeit verbilligenzu können, letzten Endes wie eine Seifenblase zerplatzt.
Ich möchte Ihnen noch einmal in Erinnerung rufen, zuwelchen Preissteigerungen das führt: Ein Vierpersonen-haushalt zahlt im Jahr schon jetzt 479 Euro Ökosteuer.
Ein mittelständischer Industriebetrieb muss im Jahr 2003durchschnittlich 100 000 Euro Ökosteuer zahlen. Das sind70 000 Euro mehr als im Vorjahr. Gleichzeitig steigen dieSozialversicherungskosten um 120 000 Euro. Das kanndoch nur zu weiteren Investitionsverweigerungen und Ar-beitsplatzverlusten führen; das ist Fakt. Sie belasten dieWirtschaft. Sie testen die deutsche Wirtschaft auf ihre Be-lastungsfähigkeit und wundern sich dann, dass es in die-sem Land immer mehr Arbeitslose gibt.
Rot-Grün hat unser Land zum Sanierungsfall gemacht.Dabei haben Sie sich einer Beitrags-, Schulden- und Steu-erlüge bedient. Wir müssen deutlich sehen, dass diese Po-litik nicht länger fortgesetzt werden kann.Es ist ein Skandal, dass der Bundesfinanzminister nichtden Mut hat, diese Steuererhöhung persönlich zu vertre-ten. Wahrscheinlich hat er sich in seinen Steuer- undSchuldenstaat zurückgezogen.
Im Arbeiter- und Bauernstaat hat man die Öffentlichkeitletzten Endes auch gescheut.
Er hätte die Steuererhöhung hier vertreten müssen, meineDamen und Herren. Er würgt die Binnennachfrage ab,wodurch er unserem Land einen Bärendienst erweist. Ersollte zurücktreten und den Weg für einen finanzpoliti-schen Neuanfang frei machen. Das wäre richtig, damit esin Deutschland wieder aufwärts geht.
Ich erteile der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch das
Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr ge-ehrte Gäste, ich bin Abgeordnete der PDS. Der Saal fülltsich deshalb, weil eine namentliche Abstimmung bevor-steht und es jedem ans Geld geht, der nicht daran teil-nimmt.Meine Damen und Herren, die Fortschreibung der öko-logischen Steuerreform hat fast nichts mit Ökologie, aberviel mit Steuererhöhungen zu tun. Bisher hat die Bundes-regierung mit den Einnahmen der Ökosteuer die Renten-löcher gestopft. Jetzt, nach der Erhöhung der Renten-beiträge von 19,1 auf 19,5 Prozent, gehen sogar dieAutoren des Gesetzes davon aus, dass im Jahr 2003 dieEinnahmen aus der Ökosteuer zur Sanierung der Haus-haltslöcher genutzt werden. Sie ist also eine simple Mehr-wertsteuererhöhung.Die Bundesregierung hatte bisher immer auf die entlas-tende Wirkung der Ökosteuer auf die LohnnebenkostenHans Michelbach
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Dr. Gesine Lötzschverwiesen. Immerhin konnte man mit den Steuereinnah-men die Rentenbeiträge eine gewisse Zeit stabil halten.Jetzt will man die Steuer nur noch nutzen, um den Bun-deshaushalt zu sanieren.Aber lassen Sie uns die Einnahmeseite etwas näher an-schauen, meine Damen und Herren. Von den geplantencirca 2 Milliarden Euro Mehreinnahmen pro Jahr sollennur 400 Millionen – also ein Fünftel – auf das produzie-rende Gewerbe entfallen. Vier Fünftel bleiben bei den pri-vaten Haushalten und man kann ziemlich sicher sein, dassdas produzierende Gewerbe dieses eine Fünftel über diePreise beim Verbraucher abladen wird. Die Steuer bleibtdemzufolge eine Steuer für den zunehmend umweltbe-wussten Bürger und nicht für die wirklich unökologischenStromfresser im produzierenden Gewerbe.Sehr geehrte Abgeordnete aus den neuen Bundeslän-dern, sehr geehrter Herr Stolpe, diese Ökosteuernovellegeht besonders stark zulasten ostdeutscher Haushalte.Ich habe das gestern im Haushaltsausschuss thematisiert,aber ich habe von der Regierungsseite keine befriedi-gende Auskunft bekommen. Man schaue nicht auf regio-nale Aspekte, wurde mir mitgeteilt. Bekanntlich hat aberder Bundeskanzler massiv dagegen interveniert, leichtesHeizöl zu verteuern. Dabei dürfte er die Landtagswahlenin Hessen und Niedersachsen im Blick gehabt haben.Denn in Westdeutschland sind nach wie vor Ölheizungenweit verbreitet. In den neuen Ländern dagegen wurdenseit der Wende Braunkohleöfen überwiegend durch Gas-kessel und nicht durch Ölheizungen ersetzt.Gleiches gilt für Neubauten. In den 90er-Jahren wurdeauch durch die Gesetzgebung des Bundestages eindeutigauf einfache Gasheizungen gesetzt. 70 Prozent der ost-deutschen Wohnungen und Einfamilienhäuser werdenmittlerweile mit Gas beheizt. Bei ihnen schlägt die Ver-teuerung von Erd- bzw. Flüssiggas voll durch.Da die Anlagen relativ neu und die Brennstoffkostenfür Vermieter nur Durchlaufposten zu den Mietern sind,geht von dieser Novelle aber auch kein Impuls zu einerUmstellung auf umweltfreundlichere dezentrale Anla-gen aus. Was bleibt, ist die Abzocke der Wohnungsnut-zer.Liebe Kolleginnen und Kollegen, aus der Sicht derPDS kann ich aus den genannten Gründen dieser Geset-zesnovelle nicht zustimmen und werde sie ablehnen.Vielen Dank.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Hempelmann für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kol-leginnen! Liebe Kollegen! Wir stehen am Ende einer aus-gesprochen aufschlussreichen Debatte. Die Oppositionhat deutlich gemacht, dass sie grundsätzlich gegen eineökologische Steuerreform ist,
egal wie sie diese Haltung zu verbrämen versucht hat. Siehat Ankündigungen über die 90er-Jahre hinaus und auchin diesem Wahlkampf gemacht, die anders lauten. Ins-besondere ihr Spitzenkandidat hat diesen Wackelkursvorgeführt. Aber heute ist deutlich geworden: Alles wirdeinem billigen Parteienkalkül untergeordnet.Frederic Vester aus dem „Club of Rome“ hat richtig ge-sagt:Die Kampagne gegen die Ökosteuer, an deren Spitzesich Ministerpräsident Edmund Stoiber ... gesetzthat, zeigt überdeutlich, worum es ihm geht: Nicht umdie notwendigen Weichenstellungen, die uns und denkommenden Generationen eine lebenswerte Umweltgarantieren, es geht ihm nur darum, aus der Situationparteipolitisches Kapital zu schlagen.Das trifft auf Sie insgesamt zu.
In dieser Woche fand eine ebenso aufschlussreiche An-hörung zum Thema ökologische Steuerreform statt.
Wenn man Ihnen heute zugehört hat, dann gewinnt manden Eindruck, es habe nur Kritik gehagelt. Dem war beiweitem nicht so. Das wissen Sie. Sie haben hier sehr ein-seitig zitiert.
Richtig ist: Es gab in der Tat ein breites Meinungs-spektrum. Das ist bei einem solchen Thema normal; dennes gibt bei diesem Thema in unserer Gesellschaft ein ge-nauso breites Spektrum an Interessen. Deutlich ist aberauch geworden: Es gibt gerade auch bei den wissen-schaftlichen Instituten sowohl zur ökologischen Steuerre-form, wie sie seit Jahren gilt, als auch zu der Gesetzesän-derung, wie wir sie jetzt vorgelegt haben, Zustimmung.
Es ist ausdrücklich konzediert worden, dass es in denletzten Jahren nicht durch die von Ihnen genanntenGründe, Herr Paziorek, sondern durch diese ökologischeSteuerreform Lenkungswirkungen gegeben hat.
Es gab in großem Umfang eine Senkung der CO2-Belas-tung.
Im Bereich der Mobilität wurde der Schritt zu kleinerenAutos vollzogen. Dies zeigte sich auch in der Forschungmit dem Einliterauto. Erstmals gab es – sogar zwei Jahrehintereinander – in unserem Land einen niedrigeren Ge-samtkraftstoffverbrauch, und zwar nicht aus den Grün-den, die Sie angeführt haben,
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sondern aufgrund der ökologischen Steuerreform. In die-ser Anhörung ist deutlich geworden: Wir brauchen wei-tere Signale, um den Energieverbrauch zu senken. Des-wegen ist es begrüßt worden, dass wir diesen weiterenSchritt gegangen sind.
Ein weiterer Punkt ist in dieser Anhörung angespro-chen worden. Es ist Ihnen von Instituten vorgehalten wor-den, dass Sie jetzt nicht Beifall zu Forderungen klatschensollten, die Sie jahrelang selber gestellt haben und die nunerfüllt werden. Sie haben immer den Abbau von Steuer-vergünstigungen gefordert. Jetzt gehen wir diesenSchritt. Die Institute – ich gebe zu, es waren nicht alle,aber es waren eine ganze Reihe –
haben diesen Weg ausdrücklich begrüßt. Wir streichenVergünstigungen beim Gas. Wir tun das bewusst, weil diebisherigen Preisvorteile beim Gas eben nicht an den Kun-den weitergegeben worden sind. Deswegen ist dieser Wegrichtig. Er wird sich für den Endkunden als nicht schäd-lich erweisen.Wir streichen Vergünstigungen bei Nachtspeicheröfen.Es ist deutlich, dass wir Strom in einem Bereich eingesetzthaben, für den er viel zu edel war. Deswegen ist es rich-tig, dass wir bei den Nachtspeicheröfen Zug um Zug undJahr für Jahr degressiv vorgehen und diese Bevorzugungzurückschneiden. In Kombination mit unserem Förder-programm gibt das den Menschen die Gelegenheit, um-zurüsten.Was haben wir noch getan? Wir haben 150 MillionenEuro zur Gebäudesanierung in die Hand genommen. Dashaben Sie in Ihrer Zeit nie geschafft.
Sie fordern heute von uns ein Mehrfaches, aber Sie habenin Ihrer Zeit nur einen Bruchteil davon, ein Achtzehntel,eingesetzt.Wir geben der besonders energieintensiven Wirtschafteinen Spitzenausgleich, der dafür sorgt, dass sie weiterhinwettbewerbsfähig tätig sein kann. Das Gleiche tun wir fürden Unterglasgartenbau. Das ist Politik mit Augenmaß.Das ist eben das Gegenteil von ideologischer Politik, dieSie uns immer unterstellen.Professor Jarass hat es auf den Punkt gebracht: Das Ge-samtpaket erfüllt systematisch die auch von den deut-schen Unternehmensverbänden erhobene Forderung nachAbbau von Subventionen und Steuervergünstigungen.Durch die vorgeschlagenen Maßnahmen des hier zudiskutierenden Ökosteuerpakets wird mehr als 1 Milli-arde Euro an Steuervergünstigungen und Subventionenabgebaut. Das und nicht das, was Sie den Menschen vor-zumachen versuchen, ist die Realität.
Damit ist Energiepolitik für diese Legislaturperiodenatürlich bei weitem nicht zu Ende. Wir haben in der letz-ten Legislaturperiode eine ganze Reihe von sinnvollenMaßnahmen auf den Weg gebracht, neben der Ökosteuerauch die KWK und das EEG. In dieser Legislaturperiodewird uns das Thema Emissionshandel beschäftigen.Wichtig wird sein, diese Instrumente, die novelliert wer-den müssen, fein aufeinander abzustimmen. Das ist eineAufgabe, an der Sie teilnehmen sollten, auch im Interesseder deutschen Wirtschaft und im Interesse derjenigen, dieKunden im Energiebereich sind. Verweigern Sie sichnicht, nehmen Sie an dieser Arbeit teil
und jonglieren Sie nicht so mit Zahlen, wie Sie das heutegetan haben!Herr Paziorek, ich weiß, dass Sie bei Schalke tätig sind.
Ich bilde einmal ein Beispiel: Sie verhandeln mit einemSpieler und bieten ihm ein Drittel mehr. Der Spieler willaber ein Viertel mehr. Was geben Sie ihm dann? So wie Sieheute argumentiert haben, sagen Sie, ein Viertel ist zu viel.
Bleiben wir auf dem Teppich! Sehen Sie ein, dass wir ei-nen guten Weg gegangen sind! In Abwandlung eines Zitatsvon George Bernard Shaw sage ich Ihnen: Wer es kann, dersoll regieren, wer es nicht kann, soll opponieren. So wie esaussieht, werden Sie noch sehr lange opponieren.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen zur Ab-stimmung über den von den Fraktionen der SPD und desBündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurfzur Fortentwicklung der ökologischen Steuerreform aufDrucksache 15/21. Der Finanzausschuss empfiehlt aufDrucksache 15/71, den Gesetzentwurf in der Ausschuss-fassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-setzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen,um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera-tung angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung. Hierfür ist namentliche Abstim-mung verlangt worden. Ich bitte die Schriftführerinnenund Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen.Ich eröffne die Abstimmung.Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seineStimme nicht abgegeben hat? – Das scheint nicht der Fallzu sein. Ich schließe die Abstimmung.Rolf Hempelmann
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002
Rolf HempelmannIch bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mitder Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstim-mung wird Ihnen später bekannt gegeben.1Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie-ßungsanträge. Wer für den Entschließungsantrag derFraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/87 stimmt,den bitte ich um das Handzeichen. – Gegenprobe! – Wermöchte sich der Stimme enthalten? – Der Ent-schließungsantrag ist mit der Mehrheit der Stimmen derKoalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktionender CDU/CSU und der FDP abgelehnt.Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktionder FDP auf Drucksache 15/86? – Gegenprobe! – Enthal-tungen? – Der Entschließungsantrag ist mit der gleichenMehrheit wie zuvor abgelehnt.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 7 auf:Erste Beratung des von den Abgeordneten PeterGötz, Dr. Michael Meister, Friedrich Merz, weite-ren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSUeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurÄnde-rung des Gesetzes zur Neuordnung der
– Drucksache 15/30 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GONach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es dazu Wider-spruch? – Das ist nicht der Fall. Dann haben wir das so be-schlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als Erstem erteile ich demKollegen Peter Götz für die CDU/CSU-Fraktion dasWort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Rot-Grün hat uns innerhalb von wenigen Jahren systema-
tisch in die schlimmste Finanzkrise seit Bestehen der
Bundesrepublik Deutschland geführt.
Herr Kollege Götz, einen Augenblick bitte. Ich wäre
dankbar, wenn die Kolleginnen und Kollegen, die an die-
ser Debatte nicht mehr teilnehmen können oder wollen,
den Saal verließen, damit diejenigen, die sich an der De-
batte beteiligen wollen, ihr auch wirklich konzentriert fol-
gen können.
Bitte schön, Herr Götz.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Die Menschen wurdenvor der Wahl bewusst getäuscht und belogen. Nach undnach kommt das ganze Desaster auf den Tisch. Dieschriftliche Bestätigung haben Sie gestern von den Steu-erschätzern, den Wirtschaftsweisen und der BrüsselerKommission in einer nicht mehr zu überbietenden Deut-lichkeit bekommen. „Staatsfinanzen – Am Abgrund“titelte heute das „Handelsblatt“. Gestern wurden aufgrundder aktuellen Steuerschätzung dramatische Einnahmeein-brüche für Bund, Länder und Gemeinden angekündigt –eine fürchterliche Katastrophe für den Bundeskanzler undseinen Finanzminister, aber auch, was noch schlimmer ist,für unser Land.Die größten Verlierer sind wieder einmal die Kommu-nen. Sie verlieren endgültig ihre politische Handlungs-fähigkeit. Immer neue Einbußen bei den Einnahmen undZuweisung von zusätzlichen Aufgaben durch rot-grüneBundesgesetze führen unsere Städte und Gemeinden sys-tematisch an den Rand des finanziellen Ruins. Nach dergestern veröffentlichten Steuerschätzung büßen die Städteund Gemeinden in diesem Jahr mehr ein als Bund undLänder zusammen. Von den 5,9 Milliarden Minderein-nahmen bei Bund, Länder und Gemeinden entfallen alleinauf die Gemeinden 4,1 Milliarden. Dieses Missverhältnisist eindeutig ein Skandal. Der Finanzminister aber stelltsich hin und erklärt: Alle anderen sind schuld, nur nichtdiese Bundesregierung.
Vor zwei Jahren haben Sie den Kommunen im Rahmender Anhebung der Gewerbesteuerumlage viele Milliar-den weggenommen. Der Finanzminister nennt so etwasSparen. In Wahrheit findet eine plumpe Verschiebung in-nerhalb des bundesstaatliches Finanzsystems statt. DieGründe, die Sie dafür angegeben haben, haben sich alsfalsch erwiesen. Es ist unanständig, wenn Sie diese Er-höhung nicht rückgängig machen; denn nicht einen IhrerRechtfertigungsgründe können Sie aufrechterhalten.
Ihre Versuche, ständig Verschiebebahnhöfe zulastenkommunaler Haushalte zu betreiben, sind ausgereizt. Beiden Kommunen ist nichts mehr zu holen. Sie könnenkeine neuen Aufgaben mehr finanzieren; schon die beste-henden Aufgaben können sie kaum noch wahrnehmen.Sie haben vier Jahre lang Städte und Gemeinden wie eineZitrone ausgepresst.
– Ich nenne Ihnen gerne einige Beispiele: von der Grund-sicherung der Rente über die Mitfinanzierung des Kin-dergeldes oder die wegen Ihrer schlechten Arbeitsmarkt-politik zunehmende Zahl von Sozialhilfeempfängern bishin zu Integrationskosten für in Deutschland lebende Aus-länder. Es handelt sich hierbei um ein Ausgabevolumen inder Größenordnung eines zweistelligen Milliardenbe-trags, das Sie den Kommunen in den letzten vier Jahrennach und nach aufs Auge gedrückt haben.
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Auf der Einnahmenseite verhalten Sie sich genausokommunalfeindlich: Durch die Versteigerung der UMTS-Lizenzen hat der Finanzminister für den Bund 50 Milliar-den Euro kassiert.
Kommunikationsunternehmen schreiben nun auf Jahrehinaus große Verluste und zahlen keine Steuern mehr –Telekom lässt grüßen: Sie brauchen nur die Pressekon-ferenz der Telekom, die im Moment parallel stattfindet, zuverfolgen. Den Kommunen entgehen dabei mehr als7 Milliarden Euro.Es geht munter weiter zulasten der untersten Ebene un-seres Staates: Nach der neuen Koalitionsvereinbarungsollen die Gemeinden für 20 Prozent aller Kinder bis zumAlter von drei Jahren eine Tagesbetreuung vorhalten.Der Bundeskanzler verkündet die Wohltat und lobt sichselbst für einen Bundeszuschuss von 1,5 Milliarden Euro.In Wirklichkeit liegen die Kosten in einer Größenordnungvon mindestens 2,5 Milliarden Euro. Eine satte Milliardebleibt bei den Städten und Gemeinden hängen, mit zu-nehmender Tendenz.
4 Milliarden Euro für Ganztagsschulen sind die nächs-te Wohltat des Kanzlers. Pro Schule macht dies20 000 Euro. Das reicht kaum, um Geschirr zu kaufen, ge-schweige denn für Investitionen oder gar zur Finanzierungder Personalkosten; wieder sollen die Kommunen zahlen.
Herr Kollege Götz, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Tauss?
Gern.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Lieber Herr Kollege Götz, würden Sie mir zubilligen,
dass es einen kleinen Unterschied ausmacht, ob der Bund
ein Gesetz macht, ohne einen Pfennig dazuzugeben, wie
es seinerzeit der Fall war, als Sie das Kindergartengesetz
verabschiedet haben, oder ob – wie wir es jetzt machen –
den Ländern und den Kommunen für die Ganztagsbetreu-
ung entsprechende Mittel von rund 1,5 Milliarden Euro
pro Jahr zur Verfügung gestellt werden? Wenn Sie über
Belastungen reden, sollten Sie der Fairness halber versu-
chen, Ihre damalige Verhaltensweise mit dem, was diese
Regierung tut, in Einklang zu bringen.
Erstens haben Sie dem Gesetz seinerzeit zugestimmt.Ob Sie da schon im Bundestag waren, weiß ich nicht.
Zweitens haben die Länder bei der Übertragung desRechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz von der da-maligen Bundesregierung die dazugehörigen Mittel be-kommen.
Nur – das billige ich Ihnen zu – sind sie an vielen kleb-rigen Fingern der Länderfinanzminister hängen gebliebenund nicht durchgereicht worden.
Warum sage ich das? Es muss wieder der Grundsatzgelten: Wer bestellt, der bezahlt. Wir brauchen das Kon-nexitätsprinzip, damit die Dinge wieder auf die Beinegestellt werden.
Ökosteuererhöhung und Erdgassteuer – darüber wurdegerade debattiert – führen zu einer drastischen Erhöhungder Energiepreise für die Menschen und die Unterneh-men, aber auch für Städte und Gemeinden, die viele öf-fentliche Einrichtungen aus ökologischen Gründen aufErdgas umgestellt haben. Dafür werden sie jetzt bestraft.Ich sage ganz deutlich und unmissverständlich: Die Ge-meinden können keine weiteren Belastungen überneh-men, wenn sie ihre Aufgaben erfüllen sollen. Das scheintnoch nicht ganz bis zu Ihnen durchgedrungen zu sein. Re-den Sie einmal vor Ort in Ihren Wahlkreisen mit den Kom-munalpolitikerinnen und Kommunalpolitikern! Oder ge-hen Sie denen inzwischen aus dem Weg?
Nach einer Berechnung des Deutschen Städtetages ausdiesem Monat wird das Haushaltsdefizit der deutschenKommunen in diesem Jahr bei 8 Milliarden Euro liegen.Dies ist mehr als doppelt so viel wie im vergangenen Jahr.Im Jahr 1998 – am Ende einer CDU/CSU-geführten Re-gierung – hatten die Kommunen einen positiven Gesamt-saldo von über 2 Milliarden Euro. Damals gab es nocheine kommunalfreundliche Politik in diesem Haus.
Wie sieht es heute, nach vier Jahren Rot-Grün, aus?Täglich stehen neue Katastrophenmeldungen aus denStädten und Gemeinden in den Zeitungen. Immer mehrKommunen gehen Pleite. SPD-Bürgermeister beklagenöffentlich die falsche Politik von Rot-Grün. Der Ober-bürgermeister aus des Bundeskanzlers HeimatstadtHannover warnt vor dem Ende der kommunalen Selbst-verwaltung und fordert – wie noch diese Woche auf demCDU-Bundesparteitag in Hannover – deren Stärkung ein.Der Mann hat Recht. Nur wäre es besser, wenn er diesauch seinen Genossen im Bundeskanzleramt deutlich sa-gen würde; denn dort wäre es angebrachter.
Sein roter Kämmerer sekundiert und sagt: „So habe ichmir sozialdemokratische Steuerpolitik nicht vorgestellt.“ –Peter Götz
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Peter GötzIch könnte, wenn Sie das hören möchten, die Kommen-tare von SPD-Kommunalpolitikern noch eine Weile fort-setzen. Sogar Schröders heimlicher niedersächsischerKronprinz, Sigmar Gabriel, stimmt ein: „Die Leute vorOrt merken doch langsam, dass da etwas im System nichtstimmt.“Die Menschen in Deutschland merken es auf schmerz-liche Weise. Die Kommunalpolitiker müssen sich vor Ortmit der Schließung von Schwimmbädern, Freizeit- undSporteinrichtungen auseinander setzen. Schulen sind ineinem unwürdigen Zustand. Straßen und Brücken werdennur noch notdürftig geflickt, wenn nicht gar gesperrt.Theater, Bibliotheken, Parks und Grünanlagen – überallist die Lage furchtbar. Inzwischen finanzieren viele Kom-munen ihre Ausgaben für Sozialhilfe und Gehälter nurnoch auf Pump. Das widerspricht dem kommunalenHaushaltsrecht. Über kurz oder lang brauchen wir inDeutschland keine Bürgermeister mehr, sondern nur nochStaatskommissare, die den kommunalen Mangel verwal-ten. Das kann doch nicht unser Ziel sein.
Das hat überhaupt nichts mehr mit kommunaler Selbst-verwaltung zu tun.Was sind die Folgen? In den letzten Jahren sind diekommunalen Investitionen ständig überproportional ge-sunken. Das ist eine Katastrophe für die Zukunft unseresLandes: für das Handwerk, für den Mittelstand und fürden Arbeitsmarkt. Die Gemeinden schieben einen riesi-gen Investitionsstau vor sich her. Nach dem DeutschenInstitut für Urbanistik müssen sie in den nächsten zehnJahren 686 Milliarden Euro investieren, um den StandortDeutschland im internationalen Vergleich konkurrenz-fähig zu halten.Ohne funktionierende kommunale Selbstverwaltungbekommen wir einen anderen Staat: zentralistischer, büro-kratischer, schwerfälliger und für die Menschen fremder.CDU und CSU wollen keinen Zentralismus. Wir wollenstarke Städte und Gemeinden in unserem Land.
Manchmal hat man den Eindruck, alte sozialistischeZentralstaatsinstinkte kommen wieder zum Vorschein.
Der Aufbruch zur viel gepriesenen neuen Mitte ist von Ih-nen schon lange zu den Akten gelegt worden. Die alteLinke dominiert das politische Geschehen.
Die kommunale Selbstverwaltung wird durch Ihre Politiksystematisch ausgehöhlt. Wenn Ihnen das Freude bereitet,ist es umso schlimmer. Wir fordern eine Umkehr dieserfalschen Politik.Eine Chance haben Sie. Eine Chance, zu einer kom-munalfreundlichen Politik zurückzukehren, ist die sofor-tige Rücknahme der Erhöhung der Gewerbesteuerumlage,die Sie beschlossen haben. Lassen Sie den Gemeinden ihrGeld und nehmen Sie es ihnen nicht ständig weg! Für dieKommunen würde dieser Schritt zu einer schnellen undspürbaren Entlastung führen: im nächsten Jahr 2,3 Milliar-den Euro und im Jahr 2004 2,6 Milliarden Euro. Umgekehrtgilt: Wenn dieses Geld nicht fließen wird, fehlen diese Be-träge in den kommunalen Kassen.Stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu! Wir wollenauch in Zukunft lebenswerte Städte und Gemeinden, diein der Lage sind, ihre Aufgaben für die Bürgerinnen undBürger zu erfüllen. Es ist unsere Pflicht, dafür zu sorgen.Herzlichen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Horst Schild für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Verehr-ter Herr Kollege Götz, ich kann mich noch gut an die Dis-kussion erinnern, die wir im Januar zum gleichen Themahier führten. Seinerzeit waren wir aber nicht die sozialis-tischen Umverteiler, sondern der Knecht des Großkapi-tals,
weil wir den Großkonzernen die Steuergeschenke nur sohinten reingeschoben haben. – Die Zeiten wandeln sich,die Argumente auch.Herr Kollege Götz, wir wissen alle, dass die Kommu-nen spürbare Rückgänge bei den Gewerbesteuereinnah-men zu verkraften haben und dass sie Hilfe brauchen. Siehaben eben sehr beredt die Not der Gemeinden in diesemLande geschildert.
Aber – damit komme ich zu Ihrem Antrag – was fälltIhnen in dieser Situation ein? Nichts anderes als die Ab-senkung der Gewerbesteuerumlage!
Sie haben den Antrag, den der Freistaat Bayern und an-dere Bundesländer in den Bundesrat eingebracht haben,wörtlich übernommen.
Viel Geistesschmalz ist da offensichtlich nicht hineinge-flossen.
Die Unionsfraktion verfährt hier offensichtlich wiedernach dem Motto „Alle Jahre wieder“ und möchte dieLöcher der Kommunen mit neuen Löchern bei Bund und
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Ländern stopfen. Was Sie hier beredt beklagen, gilt ja füralle staatlichen Ebenen. Ihr Vorschlag, die Gewerbe-steuerumlage auf den Stand vor der Steuerreform abzu-senken, führt nur zu neuen Löchern bei Bund und Län-dern. Das kann nicht die Lösung sein. Das wiederholteEinbringen solcher Gesetzentwürfe bringt uns nicht wei-ter.Es sei Ihnen vergönnt, dass Sie sich des Sachverstan-des des Landes Bayern bedienen. Ich hoffe, dass sich dieParlamentarier der Unionsfraktion zukünftig nicht zumbloßen Anhängsel der Bayerischen Staatsregierung ma-chen. Wir haben in den letzten Tagen mehrere Beispieledafür bekommen, dass sie uns fast wortwörtlich – biswei-len mit Modifikationen bei den finanziellen Auswirkun-gen – das hereinreichen, was die Bayerische Staatsregie-rung formuliert hat.
Ich möchte einmal am Rande erwähnen, dass im letz-ten Jahr der Antrag der SPD-Fraktion im BayerischenLandtag auf Absenkung der Gewerbesteuerumlage imLand Bayern keine Mehrheit fand.
Ein bisschen mehr Glaubwürdigkeit und ein bisschenmehr Substanz wären vielleicht hier und da geboten.Wieso haben die unionsgeführten Länder nicht bereitsihren Beitrag geleistet – die kommunalen Spitzenver-bände haben sie dazu aufgefordert – und den Umlage-anteil zumindest für ihr jeweiliges Bundesland gesenkt,um damit zu einer Stabilisierung der Kommunen in denjeweiligen Bundesländern beizutragen? Die Wahrheit istdoch: Die Kommunen können froh sein, dass die Steuer-vorschläge der Union bislang nie Wirklichkeit gewordensind.
Die Union ist kein verlässlicher Partner der Kommunen.Die Forderung nach Senkung der Umlage der Gewerbe-steuer ist ein politischer Schnellschuss. Sie ist auch sach-lich nicht gerechtfertigt. Es ist nun einmal so, dass unsereMaßnahmen zur Verbreiterung der Bemessungsgrundlageim Zuge der Steuerreform auch Mehreinnahmen im Rah-men der Gewerbesteuer nach sich ziehen. Das setzt natür-lich voraus, dass die Konjunktur besser wird. Aber diesträgt zur Stabilisierung bei.Die Gewerbesteuerrückgänge im letzten und auch indiesem Jahr sind – das haben Sie hier entgegen bessererEinsicht immer wieder betont; so unterstelle ich einmal –nicht auf unsere Steuerreform zurückzuführen. Daraufhaben die kommunalen Spitzenverbände immer wiederhingewiesen.
Die Steuervorschläge der Union in der Vergangenheit– ich weiß nicht, inwieweit Sie sich davon verabschiedethaben –, die eine Absenkung der Gewerbesteuermess-zahlen vorsahen, hätten die Gewerbesteuer noch weiternach unten gedrückt.
Die Gewerbesteuerumlage ist nicht der Grund für dieaktuelle Entwicklung. Die wahren Ursachen liegen in derschwachen Konjunktur, in der schlechten Gewinnlageder Unternehmen
und in den weit reichenden Gestaltungs- und Umstruktu-rierungsmöglichkeiten der Unternehmen. Es sind ebennicht die strukturellen Defizite der Gewerbesteuer, die zudieser Entwicklung geführt haben.Das sagt auch die amtierende Städtetagspräsidentin,Frau Roth, und verweist ausdrücklich auf die Aushöhlungder Gewerbesteuer lange vor Antritt der jetzigen Bundes-regierung. Wir müssen die Strukturprobleme der Gewer-besteuer angehen. Wir müssen eine stabile Basis für dieKommunalfinanzen schaffen. Das ist eine Lösung für dieKommunen.
Ich sehe nicht, welchen Beitrag die Union dazu leistet,außer ständig, litaneienhaft die gleichen Gesetzentwürfeeinzubringen. Was ist Ihr Konzept? Mit der Senkung derGewerbesteuerumlage reißen Sie nur neue Löcher in dieHaushalte von Bund und Ländern.Wir haben bereits strukturelle Sofortmaßnahmen ein-geleitet.
Wir haben im Unternehmensteuerfortentwicklungs-gesetz vom Dezember letzten Jahres die ersten Verbes-serungen für die Gewerbesteuerbasis der Kommunenvorgenommen. Ohne diese Maßnahmen wären die Ge-werbesteuereinnahmen der Kommunen schon in diesemJahr noch deutlicher gesunken. Das ist doch unstrittig.Diese Sofortmaßnahmen haben wir gegen Ihren Wider-stand durchgesetzt, während Sie weitere Steuersenkun-gen gefordert haben. Das hat die heutigen Debatten wieein roter Faden durchzogen: Zwischen dem, was Sie hierfordern, und dem realen Handeln gibt es keinen Zusam-menhang.Weitere Verbesserungen haben wir im Koalitions-vertrag beschlossen. Wir werden sie im Bundestag ver-abschieden. Wir haben die Anliegen der kommunalenSpitzenverbände aufgegriffen. Ein Beispiel ist die Ab-schaffung der gewerbesteuerlichen Organschaft. Hierkönnen die unionsregierten Länder zeigen, ob sie im Inte-resse der Kommunen handeln oder ob sie eine Blockade-politik betreiben wollen.
Um im Übrigen noch einmal auf die Präsidentin des Deut-schen Städtetages zurückzukommen: Frau Roth hat imHorst SchildEndgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 578;davonja: 303nein: 275JaSPDDr. Lale AkgünIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHermann BachmaierErnst Bahr
Doris BarnettDr. Hans-Peter BartelsEckhardt Barthel
Klaus Barthel
Sören BartolSabine BätzingUwe BeckmeyerKlaus Uwe BenneterDr. Axel BergUte BergHans-Werner BertlPetra BierwirthRudolf BindigLothar Binding
Kurt BodewigGerd Friedrich BollmannKlaus BrandnerWilli BraseBernhard Brinkmann
Hans-Günter BruckmannEdelgard BulmahnMarco BülowUlla BurchardtDr. Michael BürschHans Martin BuryHans Büttner
Marion Caspers-MerkDr. Peter Wilhelm DanckertDr. Herta Däubler-GmelinKarl DillerMartin DörmannPeter DreßenDetlef DzembritzkiSebastian EdathySiegmund EhrmannHans EichelMarga ElserGernot ErlerPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerAnnette FaßeElke FernerGabriele FograscherRainer FornahlGabriele FrechenDagmar FreitagLilo Friedrich
Iris GleickeGünter GloserUwe GöllnerAngelika Graf
Dieter GrasedieckMonika GriefahnKerstin GrieseGabriele GronebergAchim GroßmannWolfgang GrotthausKarl Hermann Haack
Hans-Joachim HackerBettina HagedornKlaus HagemannAlfred HartenbachMichael Hartmann
Anke HartnagelNina HauerHubertus HeilReinhold HemkerRolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogPetra HeßMonika HeubaumGabriele Hiller-OhmStephan HilsbergGerd HöferWalter Hoffmann
Iris Hoffmann
Frank Hofmann
Eike HovermannKlaas HübnerChristel HummeLothar IbrüggerBrunhilde IrberRenate JägerJann-Peter JanssenKlaus Werner JonasJohannes KahrsUlrich KasparickSusanne KastnerUlrich KelberHans-Peter KemperKlaus KirschnerHans-Ulrich KloseAstrid KlugDr. Heinz KöhlerWalter KolbowFritz Rudolf KörperKarin KortmannRolf KramerAnette KrammeErnst KranzNicolette KresslVolker KröningDr. Hans-Ulrich KrügerAngelika Krüger-LeißnerHorst KubatschkaErnst KüchlerHelga Kühn-MengelUte KumpfDr. Uwe KüsterChristine LambrechtChristian Lange
Christine LehderWaltraud LehnDr. Elke LeonhardEckhart LeweringGötz-Peter Lohmann
Gabriele Lösekrug-MöllerErika LotzDr. Christine LucygaDirk ManzewskiTobias MarholdLothar MarkCaren MarksChristoph MatschieHilde MattheisMarkus MeckelUlrike MehlPetra-Evelyne MerkelUlrike MertenAngelika MertensUrsula MoggMichael Müller
Christian Müller
Gesine MulthauptFranz MünteferingDr. Rolf MützenichVolker Neumann
Dietmar NietanDr. Erika OberHolger OrtelHeinz PaulaJohannes PflugJoachim PoßDr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeKarin Rehbock-ZureichGerold ReichenbachDr. Carola ReimannChristel Riemann-HanewinckelWalter RiesterReinhold RobbeRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannKarin Roth
Michael Roth
Gerhard RübenkönigOrtwin RundeMarlene Rupprecht
Thomas SauerAnton SchaafAxel Schäfer
Gudrun Schaich-WalchRudolf ScharpingBernd ScheelenDr. Hermann ScheerSiegfried SchefflerHorst SchildOtto SchilyHorst Schmidbauer
Ulla Schmidt
Silvia Schmidt
Dagmar Schmidt
Wilhelm Schmidt
Heinz Schmitt
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002
Horst SchildInteresse der Städte und Gemeinden unsere Vorschlägeausdrücklich begrüßt.Meine Damen und Herren, wir wollen die gewerbe-steuerliche Organschaft abschaffen. Ich bin gespannt, wiesich die Union im Bundestag und im Bundesrat dazu ver-hält. Wir werden es abwarten. Ich hoffe bei den zukünf-tigen Beratungen auch im Interesse der Kommunen indiesem Lande auf eine konstruktive Zusammenarbeit undnicht nur auf die ständige Wiederholung abgegriffenerGesetzentwürfe.Ich danke Ihnen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, bevor ichdem nächsten Redner das Wort gebe, darf ich Ihnen dasvon den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelteErgebnis der namentlichen Abstimmung über den Ge-setzentwurf der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zur Fortentwicklung der ökologischen Steuer-reform bekannt geben. Abgegebene Stimmen 577. Mit Jahaben gestimmt 303,
mit Nein haben gestimmt 274, Enthaltungen gab eskeine.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 613
Vizepräsident Dr. Norbert LammertCarsten SchneiderWalter SchölerOlaf ScholzKarsten SchönfeldFritz SchösserWilfried SchreckOttmar SchreinerGerhard SchröderGisela SchröterBrigitte Schulte
Reinhard Schultz
Swen Schulz
Dr. Angelica Schwall-DürenDr. Martin SchwanholzRolf SchwanitzErika SimmDr. Sigrid Skarpelis-SperkDr. Cornelie Sonntag-WolgastWolfgang SpanierDr. Margrit SpielmannJörg-Otto SpillerDr. Ditmar StaffeltLudwig StieglerRolf StöckelChristoph SträsserRita Streb-HesseDr. Peter StruckJoachim StünkerJörg TaussJella TeuchnerDr. Gerald ThalheimWolfgang ThierseFranz ThönnesHans-Jürgen UhlRüdiger VeitSimone ViolkaJörg VogelsängerUte Vogt
Dr. Marlies VolkmerHans Georg WagnerHedi WegenerAndreas WeigelPetra WeisReinhard Weis
Matthias WeisheitGunter WeißgerberGert Weisskirchen
Dr. Ernst Ulrich vonWeizsäckerJochen WeltDr. Rainer WendLydia WestrichInge Wettig-DanielmeierDr. Margrit WetzelAndrea WickleinJürgen Wieczorek
Heidemarie Wieczorek-ZeulDr. Dieter WiefelspützBrigitte Wimmer
Engelbert WistubaBarbara WittigDr. Wolfgang WodargVerena WohllebenWaltraud Wolff
Heidemarie WrightUta ZapfManfred Helmut ZöllmerDr. Christoph ZöpelBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKerstin AndreaeMarieluise Beck
Volker Beck
Cornelia BehmBirgitt BenderMatthias BerningerGrietje BettinAlexander BondeEkin DeligözDr. Thea DückertJutta Dümpe-KrügerFranziska Eichstädt-BohligDr. Uschi EidHans-Josef FellJoseph Fischer
Katrin Dagmar Göring-EckardtAnja HajdukWinfried HermannAntje HermenauPeter HettlichUlrike HöfkenThilo HoppeMichaele HustedtFritz KuhnRenate KünastMarkus KurthUndine Kurth
Dr. Reinhard LoskeAnna LührmannJerzy MontagKerstin Müller
Winfried NachtweiChrista NickelsFriedrich OstendorffSimone ProbstClaudia Roth
Krista SagerChristine ScheelIrmingard Schewe-GerigkRezzo SchlauchAlbert Schmidt
Werner Schulz
Petra SelgUrsula SowaRainder SteenblockSilke Stokar von NeufornHans-Christian StröbeleJürgen TrittinMarianne TritzHubert UlrichDr. Antje Vogel-SperlDr. Antje VollmerDr. Ludger VolmerJosef Philip WinklerMargareta Wolf
NeinCDU/CSUUlrich AdamIlse AignerPeter AltmaierDietrich AustermannNorbert BarthleGünter BaumannErnst-Reinhard Beck
Veronika BellmannDr. Christoph BergnerOtto BernhardtClemens BinningerRenate BlankPeter BleserAntje BlumenthalDr. Maria BöhmerJochen BorchertWolfgang Börnsen
Wolfgang BosbachDr. Wolfgang BötschKlaus BrähmigDr. Ralf BrauksiepeHelge BraunPaul BreuerMonika BrüningGeorg BrunnhuberVerena ButalikakisHartmut Büttner
Cajus CaesarManfred Carstens
Peter H. Carstensen
Gitta ConnemannLeo DautzenbergHubert DeittertAlbert DeßAlexander DobrindtVera DominkeThomas DörflingerMarie-Luise DöttMaria EichhornRainer EppelmannGeorg FahrenschonIlse FalkDr. Hans Georg FaustAlbrecht FeibelEnak FerlemannIngrid FischbachHartwig Fischer
Dirk Fischer
Axel E. Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachHerbert FrankenhauserDr. Hans-Peter Friedrich
Jochen-Konrad FrommeDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelDr. Peter GauweilerDr. Jürgen GehbNorbert GeisRoland GewaltEberhard GiengerGeorg GirischMichael GlosRalf GöbelTanja GönnerPeter GötzDr. Wolfgang GötzerUte GranoldKurt-Dieter GrillReinhard GrindelHermann GröheMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundOlav GuttingHolger HaibachGerda HasselfeldtKlaus-Jürgen HedrichHelmut HeiderichUrsula HeinenSiegfried HeliasUda Carmen Freia HellerMichael HennrichJürgen HerrmannBernd HeynemannErnst HinskenPeter HintzeRobert HochbaumKlaus HofbauerMartin HohmannJoachim HörsterHubert HüppeSusanne JaffkeDr. Peter JahrDr. Egon JüttnerBartholomäus KalbSteffen KampeterIrmgard KarwatzkiBernhard KasterVolker KauderSiegfried Kauder
Gerlinde KaupaEckart von KlaedenJürgen KlimkeJulia KlöcknerKristina KöhlerManfred KolbeNorbert KönigshofenHartmut KoschykThomas KossendeyRudolf KrausMichael KretschmerGünther KrichbaumGünter KringsDr. Martina KrogmannDr. Hermann KuesWerner Kuhn
Dr. Norbert LammertBarbara LanzingerKarl-Josef LaumannVera LengsfeldWerner LensingPeter LetzgusWalter Link
Eduard LintnerDr. Klaus W. Lippold
Patricia LipsDr. Michael LutherDorothee MantelErwin Marschewski
Stephan Mayer
Cornelia Mayer
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002614
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Dr. Martin Mayer
Wolfgang MeckelburgDr. Michael MeisterDr. Angela MerkelFriedrich MerzLaurenz Meyer
Doris Meyer
Maria MichalkHans MichelbachKlaus MinkelMarlene MortlerDr. Gerd MüllerHildegard MüllerStefan Müller
Bernward Müller
Bernd Neumann
Günter NookeDr. Georg NüßleinFranz ObermeierMelanie OßwaldEduard OswaldRita PawelskiDr. Peter PaziorekUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferDr. Friedbert PflügerBeatrix PhilippRonald PofallaDaniela RaabThomas RachelHans RaidelDr. Peter RamsauerHelmut RauberChrista Reichard
Hans-Peter RepnikKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberHannelore RoedelFranz RomerHeinrich-Wilhelm RonsöhrDr. Klaus RoseDr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckVolker RüheAlbert Rupprecht
Peter RzepkaAnita Schäfer
Dr. Wolfgang SchäubleAndreas ScheuerNorbert SchindlerGeorg SchirmbeckBernd SchmidbauerChristian Schmidt
Andreas Schmidt
Dr. Andreas SchockenhoffDr. Ole SchröderBernhard Schulte-DrüggelteUwe SchummerWilhelm Josef SebastianHorst SeehoferKurt SegnerMatthias SehlingMarion SeibHeinz SeiffertBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerJens SpahnErika SteinbachChristian Freiherr vonStettenGero, StorjohannAndreas StormMax StraubingerMatthäus StreblThomas Strobl
Michael StübgenMichaela TadjadodAntje TillmannEdeltraut TöpferDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzVolkmar Uwe VogelAngelika VolquartzAndrea Astrid VoßhoffGerhard WächterMarco WanderwitzPeter Weiß
Gerald Weiß
Ingo WellenreutherAnnette Widmann-MauzKlaus-Peter WillschWilly Wimmer
Matthias WissmannWerner WittlichDagmar WöhrlElke WülfingWolfgang ZeitlmannWolfgang ZöllerWilli ZylajewFDPDaniel Bahr
Rainer BrüderleErnst BurgbacherDr. Christian EberlJörg van EssenUlrike FlachOtto FrickeHorst Friedrich
Rainer FunkeHans-Michael GoldmannJoachim Günther
Dr. Karlheinz GuttmacherChristoph Hartmann
Klaus HauptUlrich HeinrichBirgit HomburgerDr. Werner HoyerDr. Heinrich L. KolbGudrun KoppJürgen KoppelinSibylle LaurischkHarald LeibrechtIna LenkeSabine Leutheusser-SchnarrenbergerMarkus LöningDirk NiebelGünther Friedrich NoltingHans-Joachim Otto
Eberhard Otto
Detlef ParrCornelia PieperGisela PiltzDr. Andreas PinkwartDr. Günter RexrodtMarita SehnDr. Hermann Otto SolmsDr. Rainer StinnerCarl-Ludwig ThieleDr. Dieter ThomaeJürgen TürkDr. Guido WesterwelleDr. Claudia WintersteinfraktionslosDr. Gesine LötzschEntschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Ver-sammlungen des Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der OSZE oder der IPUDaub, Helga Rossmanith, Kurt J.FDP CDU/CSUDer Gesetzentwurf ist damit angenommen.
Nun setzen wir die Debatte fort. Als nächstem Rednererteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Pinkwart, FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Der Standort Deutschland leidet Not unter derLast rot-grüner Reformverweigerung und mit ihm leidendie Städte und Gemeinden und die in ihnen lebendenBürger.
Der beispiellose Absturz der kommunalen Steuer-einnahmen infolge staatlicher Lastenverschiebungen underheblich gestiegener Sozialausgaben engt den finanziel-len Handlungsspielraum der gemeindlichen Ebene in dra-matischer Weise ein.
Der starke Verfall der kommunalen Investitionen ver-stärkt die wirtschaftliche Talfahrt und verschärft die Pro-bleme am Arbeitsmarkt.Der Sachverständigenrat legt in seinem Herbstgutach-ten mit der Wachstumsprognose für 2003 von nur 1 Pro-zent den Finger in die Wunde: Unser Land befindet sichnicht in einer Konjunktur-, sondern in einer tief greifen-den Strukturkrise.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 615
Eines der maßgeblichen Strukturprobleme liegt inden Fehlentwicklungen bei der Aufgaben- und Finanz-verteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden be-gründet. Unser erster Bundespräsident, Theodor Heuss,hat es einmal auf die griffige Formel gebracht:Das Wichtigste im Staat sind die Gemeinden, und dasWichtigste in der Gemeinde sind die Bürger.Rot-Grün hat sich von diesem demokratischen Grundsatz,den Staat von unten nach oben aufzubauen, durch nochmehr staatliche Regulierung und einseitige Aufgaben-und Lastenverteilung zulasten von Gemeinden und Bür-gern weit entfernt.
Bürgern und Gemeinden werden immer neue Fesselnangelegt und finanzielle Lasten aufgebürdet. Die Defizitein den kommunalen Verwaltungshaushalten haben – dashat ein Vorredner deutlich gemacht – zwischenzeitlichRekordhöhen erreicht. Nach den aktuellen Steuerschät-zungen vom November sehen sich die Gemeinden mitweiteren Einnahmeausfällen gegenüber dem Ergebnis derMaischätzung konfrontiert: in Höhe von 2,4 MilliardenEuro für dieses Jahr und von 2,9 Milliarden Euro für daskommende Jahr.Kommunale Selbstverwaltung bedeutet Freiraum undVerantwortung für Entscheidungen vor Ort, und zwar so-wohl auf der Einnahmen- als auch auf der Ausgabenseite.Deshalb muss eine Gemeindefinanzreform, die ihren Na-men wirklich verdient, die kommunale Autonomie insge-samt stärken.
Hierzu brauchen wir eine Gemeindefinanzreform, diedas gesamte kommunale Steuersystem auf eine tragfähigeGrundlage stellt und dem Prinzip der Finanzierung der ei-genen Aufgaben durch ein eigenes effektives Heberechtwieder Geltung verschafft.
Ziel muss dabei eine weit gehende Vereinfachung desSteuerrechts für Bürger und Unternehmen sein. Wir spre-chen uns daher für den Wegfall der konjunkturanfälligenGewerbesteuer und ihren Ersatz durch ein eigenes Hebe-recht der Kommunen an der Einkommen- und Körper-schaftsteuer bei gleichzeitiger Senkung der Steuertarifsätzesowie eine sachgerechte Beteiligung der Kommunen ander Umsatzsteuer aus.
Eine Revitalisierung der viel zu komplizierten und darü-ber hinaus international wettbewerbsverzerrenden Gewer-besteuer durch Senkung der Freibeträge, eine Verbreiterungder Bemessungsgrundlage und die Ausweitung des Kreisesder Steuerpflichtigen lehnen wir ganz entschieden ab.
Ich möchte Ihnen die Frage, die im Finanzausschuss bis-her nicht beantwortet wurde, zurufen: Wie wollen Sie,wenn Sie schon über eine Revitalisierung nachdenken,Ihre so genannte Ich-AG steuerlich gestalten, sodass sietrotz der Bürokratielast noch irgendeinen Menschen indiesem Lande interessiert?
Die zweite Säule der Gemeindefinanzreform bildet diekonsequente Überprüfung der Aufgaben und Ausga-ben. Nur wenn sichergestellt ist, dass den Kommunen diedurch Übertragung von Ausgaben und Ausführung vonLeistungsgesetzen entstehenden finanziellen Mehrbelas-tungen ausgeglichen werden, kommen wir im Ergebniszur dringend gebotenen Selbstbeschränkung der Politikauf allen Ebenen, zur systematischen Aufgabenkritik undzur weiterhin notwendigen Effizienzsteigerung. Hierzugehört auch eine kritische Überprüfung von Normen undStandards. Kostenintensive, aber für die Aufgabenerfül-lung nicht notwendige Standards müssen von den Kom-munen endlich flexibler gehandhabt werden können.
Die Kommunen stecken gegenwärtig in einer tief grei-fenden Finanzkrise. Noch bevor eine umfassende Fi-nanzreform wirkt, ist eine Stabilisierung der kommunalenFinanzen dringend geboten. Angesichts der hohen Steuer-ausfälle erweist sich die von Ihnen durchgeführte Anhe-bung der Gewerbesteuerumlage zulasten der Gemeindenals völlig unangemessen und muss zurückgenommenwerden.Die vorliegende Gesetzesinitiative der Unionsfrak-tion – Herr Kollege Schild, ich habe hier gelernt, dass sieeigentlich gar nicht aus der Feder der CDU/CSU stammt,sondern offensichtlich von der SPD-Landtagsfraktion inBayern abgeschrieben worden ist – halten wir jedenfallsfür eine sehr gelungene Vorlage in diese Richtung undwerden sie im Rahmen der Ausschussberatungen positivbegleiten.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Herr Kollege Pinkwart, dies war Ihre erste Rede im
Deutschen Bundestag. Dazu gratuliere ich Ihnen im Na-
men des ganzen Hauses herzlich.
Nächste Rednerin in der Debatte ist die Kollegin
Christine Scheel, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Es ist natürlich völlig richtig, dass die Gewerbesteuerein-nahmen im letzten Jahr, aber auch in diesem Jahr massivzurückgegangen sind. In den Städten sind die Rückgängeim Durchschnitt noch höher als in den einzelnen Kom-munen in ländlichen Regionen. Dies ist eingetreten, weilsich die Konjunktur in Deutschland negativ verändert hat.
Dr. Andreas Pinkwart
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Christine ScheelIm Vorfeld, in den Jahren 1999 und 2000, hatten wir nochsehr gute Gewerbesteuereinnahmen.
Deshalb hat man in dieser Zeit weder vonseiten der Ge-meindetage noch vonseiten der Städte- oder Landkreis-tage Klagen gehört. Die kommunalen Spitzenverbändesind erst auf uns zugekommen und haben gesagt: „Tut et-was für uns!“, als die Einnahmen zurückgegangen sind.Das ist in Ordnung und wir setzen uns damit auseinander.Ich möchte Sie nur bitten – das gilt sowohl für den Kol-legen Götz von der CDU als auch für den KollegenPinkwart von der FDP –, hier nicht so zu tun, als habe dieSteuergesetzgebung der Regierung, als habe zum Beispieldie Unternehmensteuerreform etwas mit den Einbrüchenbei den Kommunen zu tun.
Das ist völlig falsch. Herr Braun vom Deutschen Indus-trie- und Handelskammertag hat das eindeutig bestätigt.Auch die Führungen der kommunalen Spitzenverbändeund des Deutschen Städtetages haben konstatiert, dassnicht die Steuergesetzgebung die Ursache für diese Ein-brüche ist, sondern dies eindeutig Folge der zurückgegan-genen Gewinne der Unternehmen, der Bereinigungenund der Wertaufholungen, die vorgenommen wurden, ist.Wer sich ein bisschen mit dem Aufstellen von Bilanzenauskennt, wer weiß, dass Vorauszahlungen von Unterneh-men rückerstattet werden, wenn sich die Gewinnspanneverschlechtert hat, muss doch zugeben, dass in Wirklich-keit hier die Ursache für die Einbrüche liegt. Angesichtsdessen kann man sich doch nicht so blöd – entschuldigenSie den Ausdruck, das meine ich nicht persönlich – gebenund so tun, als gäbe es eine ganz andere Ursache.
Ich bitte einfach darum, hier einmal korrekt zu argumen-tieren und gemeinsam daran zu arbeiten, die Probleme,die wir haben – und zwar in allen Bereichen und auf denverschiedenen Ebenen, was die Steuereinnahmen anbe-langt –, zu lösen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Götz?
Gerne, Herr Götz.
Bitte sehr.
Frau Kollegin, wenn Ihre Argumentation stimmt,
warum haben Sie dann vor zwei Jahren die Gewerbe-
steuerumlage erhöht und damit den Gemeinden das we-
niger verbleibende Geld auch noch weggenommen?
Klatschen Sie nur. Ich kann Ihnen genau sagen,
warum die Gewerbesteuerumlage damals verändert wor-den ist.
Wir haben damals beschlossen, die Einkommensteuer-reform mit Steuersenkungen in drei Stufen bis zumJahr 2005 durchzuführen. Wir haben beschlossen, dieKörperschaftsteuer für die Unternehmen in der Bundesre-publik Deutschland so zu gestalten,
dass die Steuersätze international im Wettbewerb Be-stand haben. Diese beiden Maßnahmen wurden im Bun-desrat auch von Ländern, in denen Ihre Partei regiert,also auch von CDU-regierten Ländern, so verabschiedet.Man hat im Bundesrat auch verabschiedet, dass die Ge-werbesteuerumlage verändert wird, weil selbstverständ-lich über Steuersatzsenkungen weniger Geld in die ein-zelnen Ebenen – Bund, Länder und Kommunen –hineinfließt.Sie wissen, dass die Einkommensteuer zu 42,5 Prozentbeim Bund, zu 42,5 Prozent bei den Ländern und zu15 Prozent auf der kommunalen Ebene veranschlagt wird.Bei der Körperschaftsteuer ist es halbe-halbe.
Es ist doch völlig klar, Herr Götz – wenn ich das ab-schließend dazu sagen darf –: In dem Moment, wo ich we-niger Steuereinnahmen habe, weil ich aus wirtschaftli-chen Gründen und auch, um die Haushalte von Klein- undMittelverdienern zu entlasten, die Steuern in diesem Landsenken will, fließt auch weniger Geld. Das heißt, ich mussdie Verhältnismäßigkeit in der Steuerverteilung zwischenallen Steuerarten und zwischen den einzelnen Ebenenüber die Gewerbesteuerumlage ausgleichen.
Das war der Hintergrund. Das ist damals auch, wie gesagt,durch den Bundesrat und durch das Vermittlungsverfah-ren gelaufen und wurde auch mit Ihrer Zustimmung da-mals so verabschiedet.
– Lesen Sie die Protokolle nach. Ich weiß es noch sehr gut,weil ich das Vermittlungsverfahren damals selbst mitge-macht habe.
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Frau Kollegin, wären Sie geneigt, eine weitere Zwi-
schenfrage des Kollegen Fromme zuzulassen?
Ich weiß ja nicht – Herr Fromme? Ja, er ist nett.
Das ist kein Kriterium nach den Bestimmungen unse-
rer Geschäftsordnung.
Es liegt aber im Belieben des Redners, solche Zwi-
schenfragen zuzulassen.
Herr Präsident, da gebe ich Ihnen völlig Recht. Es wäre
ein bisschen eigenartig, wenn das das einzige Kriterium
wäre. Es gibt allerdings Leute, deren Zwischenfragen ich
einfach nicht brauche. Bei Ihnen, Herr Fromme, ist das
aber in Ordnung.
Danke schön, Frau Kollegin Scheel.
Müssen Sie mir nicht bestätigen, dass die Hauptbe-
gründung für die Anhebung der Gewerbesteuerumlage
die Veränderung der AfA-Tabellen war
und dass Sie diese Veränderung der AfA-Tabellen zwar
für den Mittelstand gemacht haben, für die Branchen-
tabellen aber nicht?
Herr Fromme, vielen Dank für die Frage. Bei denAfA-Tabellen gibt es eine Haupttabelle und Branchenta-bellen. Wir haben damals in der Grundtabelle die Abschrei-bungsfristen zuungunsten der Wirtschaft, aber zugunstender Steuereinnahmen verändert. Bei den Branchentabellenwar es so, dass die Opposition – die CDU/CSU-Fraktionund auch die FDP-Fraktion – mit einem Riesentumult imLande gesagt hat: Verändert nicht die Branchentabellen, dasruiniert die kleinen und mittelständischen Unternehmen unddie Transportwirtschaft in unserem Lande.
– Es ging dabei um die Abschreibungsmöglichkeiten beiden Branchentabellen. – Die konjunkturelle Situation warschwierig; in bestimmten Bereichen – Maschinenbau undanderen – hatten wir konjunkturelle Dellen. In diesemKontext haben wir gesehen, dass es aus wirtschaftspoliti-schen Gründen richtig ist, zu sagen: In diesem Bereichnehmen wir keine Veränderung zuungunsten unserer klei-nen und mittelständischen Wirtschaft in der Bundesrepu-blik Deutschland vor. Damit sind Steuerausfälle in einerGrößenordnung von rund 200 Millionen Euro verbunden.Das ist aber nicht das Geld, das heute den Kommunenfehlt. Wir haben damals wirtschaftspolitisch völlig richtiggehandelt.Herr Fromme, Sie müssen sich langsam entscheiden:Wollen Sie dauernd Steuern senken und damit auch dieEinnahmen bei den Kommunen reduzieren – dies istnämlich die Konsequenz –, wollen Sie alle möglichenAbschreibungsmöglichkeiten für die Unternehmen bei-behalten, dies aber zuungunsten der Gewerbesteuerein-nahmen,
oder wollen Sie eine vernünftige Steuerbasis? Beides zu-sammen geht nicht. Man muss sich entscheiden. Mankann nicht immer nur Entlastungen versprechen, ohnegleichzeitig zu sagen, woher die Einnahmen kommen.
Man muss auch an einer anderen Stelle in dieser De-batte ganz ehrlich sein:
Die Gewerbesteuerumlage ist eine Umlage, die zu gut ei-nem Drittel dem Bund und zu etwa zwei Dritteln den Län-dern zugute kommt. Dies gilt entsprechend bei einer Er-höhung. Nun werden Anträge gestellt und Vorschlägegemacht, die Gewerbesteuerumlage wieder auf das alteNiveau zu setzen. Diese Vorschläge kommen vorwiegendaus dem CSU-regierten Bayern, von Herrn Stoiber, oderauch von Herrn Koch oder anderen CDU-Ministerpräsi-denten.Ich stelle fest, dass der Länderanteil an der Gewerbe-steuerumlage und deren Erhöhung in Höhe von zwei Drit-teln durchaus in Eigenverantwortung von den Ländern anihre Kommunen weitergegeben werden kann. Warummacht Bayern dies nicht? Warum macht Hessen diesnicht? Warum soll nur der Bund hier tätig werden?
An einem weiteren Punkt wird deutlich, wie unlauterSie, die Union, Politik betreiben: Bayern hat – ich weiß diesnoch sehr gut, denn es ist noch gar nicht so lange her –im Bundesrat einen Antrag gestellt, dass die Umlage wie-der auf das alte Niveau gesenkt werden sollte. Diese Vor-lage ist im Finanzausschuss des Bundesrates mit der
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Christine ScheelMehrheit der CDU-regierten Länder abgelehnt worden.Dies ist die Wahrheit.
Stellen Sie sich doch nicht immer hier hin und tun Sienicht so, als ob wir diejenigen wären, die irgendwelcheEntscheidungen zum Schaden der Kommunen treffen.
Wir haben eine Kommission eingesetzt, in der auch diekommunalen Spitzenverbände vertreten sind. Diese Kom-mission wird hoffentlich bis zum Frühjahr oder Früh-sommer nächsten Jahres Vorschläge
für eine finanziell solide ausgestaltete Kommunalpolitikerarbeiten. Wir werden diese Vorschläge selbstverständ-lich gesetzgeberisch umsetzen. Dies ist gar keine Frage.Es sind bestimmte Vorgaben gemacht worden: Plan-barkeit, das Band zwischen Kommunen und Betriebenstärken, eigene Hebesatzrechte und vieles mehr. HerrPinkwart, auch Sie haben dies angesprochen. Ich gebe Ih-nen hier auch völlig Recht. Über die Bedingungen sindwir uns einig, das ist überhaupt keine Frage. Wir müssendie Vorschläge nur umsetzen.Ich möchte nun mit einer Mär aufräumen. CDU/CSU-Bürgermeister und -Landräte ziehen durch die Ge-gend und sagen: Durch die Entscheidungen des Bundeswerden die Haushalte der Kommunen belastet.
Alle Maßnahmen, die aktuell durchgeführt werden, obdiese die Grundsicherung im Alter betreffen oder ob diesbeispielsweise Maßnahmen im Rahmen des Einwande-rungsgesetzes wie die Integration von ausländischen Kin-dern sind, werden in einem Fall nur vom Bund und in demanderen Fall vom Bund und den Ländern finanziert.Es ist nicht Aufgabe des Bundes, dafür zu sorgen, dassdas Geld, das wir in diesem Zusammenhang an die Län-der geben – wir dürfen es aus verfassungsrechtlichenGründen gar nicht an die Kommunen durchreichen –,auch zu den Kommunen gelangt, also von den Ländernden eigenen Kommunen zur Verfügung gestellt wird.
Dieses Geld wird von den Ländern in ihre eigenen Haus-halte einverleibt, aber nicht an die Kommunen weiterge-geben.
– Das ist das Thema „klebrige Finger“. Völlig richtig!Wenn wir – ich sage das hier ganz deutlich – neue Auf-gaben vom Bund auf die Kommunen übertragen, gebenwir ihnen auch die notwendigen Mittel an die Hand.
Sollten sich die Schätzungen als zu niedrig erweisen – oderals zu hoch, das kann ja auch einmal sein –, werden wir daszu korrigieren haben. Das ist doch überhaupt keine Frage.
Dann werden eben die Ausgaben vorgelegt und der Bundwird es entsprechend korrigieren. Das ist eine vernünftigePolitik.Wir haben das Konnexitätsprinzip in unserem Koali-tionsvertrag festgeschrieben. Ich bin gespannt darauf, wiesich beispielsweise der Freistaat Bayern in diesen Tagengegenüber seinen Kommunen zur Frage des Konnexitäts-prinzips äußern wird. Wenn man ehrlich ist, müsste mandas Prinzip auch auf der Länderebene anwenden und nichtimmer nur mit dem Finger auf die Bundesregierung zei-gen und sich selbst aus der Verantwortung stehlen.Danke schön.
Für die Bundesregierung erteile ich nun der Parlamen-
tarischen Staatssekretärin Frau Dr. Hendricks das Wort.
D
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Den Antrag, den die CDU/CSU heute hier vorlegt,kann man wirklich als einen typischen Schaufensteran-trag bezeichnen.
Ich will die Geschichte dieses Antrages kurz erläutern.Die Daten sind jetzt gar nicht mehr so relevant. Der ersteAufschlag war: Der Freistaat Bayern stellte ebendiesenAntrag im Bundesrat und unterlag damit. Er bekam alsokeine Mehrheit. Der zweite Aufschlag – und damit kom-men wir zu dem, was Sie, Herr Kollege Pinkwart, ebengesagt haben –: Die bayerischen Sozialdemokraten mach-ten sich das im Landtag zu Bayern zu Eigen und bean-tragten ebendieses bei der Bayerischen Staatsregierungfür die bayerischen Kommunen, denn, wie ja gerade dieKollegin Scheel zu Recht gesagt hat, die Gewerbe-steuerumlage geht zu zwei Dritteln zugunsten der Län-der und nur zu einem Drittel zugunsten des Bundes. DerFreistaat Bayern, der gerade im Bundesrat unterlegen war,war also nicht in der Lage, zugunsten seiner Kommunenauf diese zwei Drittel zu verzichten. Das hat er bis heutenicht getan. Das war der zweite Schritt des Schaufenster-antrages.Jetzt kommt der dritte Schritt, noch einmal im Bun-desrat. Dieses Mal gab es eine Mehrheit für die Überwei-sung des Antrages in die Ausschüsse und da schmort erzurzeit. Der vierte Schritt: Die Union macht das hier.
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Es ist also ein Antrag ohne Substanz,
der den Kommunen in keiner Weise nützt
und der in diesen vier Schritten schon die beiden Kam-mern auf der Bundesebene und den Landtag von Bayernbeschäftigt hat, ohne dass irgendetwas zugunsten derKommunen dabei herausgekommen wäre oder auch nurherauskommen könnte. Denn, liebe Kolleginnen und Kol-legen, die Kommunen, denen es am allerschlechtestengeht, die gar keine Gewerbesteuer mehr einnehmen, pro-fitieren natürlich auch nicht von einer Absenkung der Ge-werbesteuerumlage,
weil sie die ja auch nicht abführen müssen.
Würden Sie sich mit Ihrem Antrag durchsetzen, dannwürde innerhalb der kommunalen Familie denjenigen, de-nen es verhältnismäßig gut geht, darüber hinaus geholfenwerden und denjenigen, denen es ganz schlecht geht,würde gar nicht geholfen werden, sodass sich der relativeAbstand zwischen denen, denen es einigermaßen gutgeht, und denen, denen es ganz schlecht geht, noch er-höhen würde. Das wäre Folge dieses Antrags – und dassBund und Länder auf Einnahmen verzichten müssten,wovon zwei Drittel zulasten der Länder gingen.Dasselbe ist natürlich auch aus Ihrem Vortrag zu ent-nehmen, Herr Kollege Pinkwart. Sie haben ja für die Zu-kunft der Gewerbesteuer das Modell vorgeschlagen, dasauch vom Bundesverband der Deutschen Industrie undvom Verband der Chemischen Industrie vorgeschlagenwird.
Natürlich kann man sagen, das sei ein Vereinfachungs-punkt. Natürlich kann man sagen, dann gebe es keineGewerbesteuer mehr und jede Steuer weniger sei besser.Selbstverständlich stimmt das rein unter diesem Ge-sichtspunkt. Wenn man eine Steuer überhaupt nichtmehr verwalten muss, ist das natürlich eine Erleichte-rung. Das ist nicht zu bestreiten. Aber die Verwirkli-chung dieses Vorschlags, den Sie sich gerade zu Eigengemacht haben,
selbstverständlich bei gleichzeitiger Absenkung der Ein-kommen- und Körperschaftsteuer, wäre gar nicht mög-lich. Hintergrund dieses Vorschlags ist Folgendes: Die bisjetzt gewerbesteuerpflichtige Wirtschaft, namentlich diegrößeren Unternehmen, würden sich zulasten aller Ein-kommensteuerzahler, also auch aller Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer, aller Freiberufler, aller Selbstständi-gen und natürlich auch zulasten des Mittelstandes, ebennur zulasten derjenigen, die bisher nicht gewerbesteuer-pflichtig sind, entlasten. Sie sagen, das solle durch eineSenkung von Körperschaftsteuer und Einkommensteueraufgefangen werden, damit die Menschen nicht überbelas-tet sind. Ein löblicher Ansatz! Nur, wer um Himmels wil-len soll denn bei dieser riesigen Umverteilung – die Be-lastung liegt ja momentan bei der Großindustrie; dannwürde sie bei den Arbeitnehmern liegen – auf seine An-teile an den Einnahmen aus der Körperschaftsteuer undder Einkommensteuer verzichten? Sagen Sie mir bitte,wer das sein soll! Das können nach Lage der Dinge wie-der nur die Länder und der Bund sein. Damit wäre aufDauer die Belastung von einer Gruppe auf eine völlig an-dere gewechselt. Das sollte man wissen, bevor man sol-che Vorschläge vorträgt. Natürlich sind die Interessen desBDI und des VCI legitim. Aber man muss zumindest inder Lage sein, deren Interessen aufzudecken. Das habe ichhiermit getan. Das wird sicherlich in Zukunft noch häufi-ger notwendig sein.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Pinkwart?
D
Ja.
Frau Staatssekretärin, ich möchte Sie fragen, ob man
das rein fiskalisch betrachten muss oder ob man das nicht
auch wirtschaftspolitisch betrachten darf. Steuersenkun-
gen zugunsten der Wirtschaft – diese schieben Sie ja hi-
naus – könnten ja die Konjunktur beleben und damit mehr
Beschäftigung schaffen, was wiederum weniger Ausga-
ben für die staatlichen Sicherungssysteme, höhere Steuer-
einnahmen und mehr Sozialbeiträge bedeutet. Kann da-
durch unter dem Strich nicht mehr bewirkt werden als
durch das von Ihnen vorgeschlagene Modell?
D
Unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten ist das,rein theoretisch betrachtet, nicht von der Hand zu weisen.Aber noch vor wenigen Monaten, also bis zum Ende desWahlkampfes, wurde uns zum Beispiel vom KandidatenStoiber ja vorgehalten, wir beteiligten die deutscheGroßindustrie überhaupt nicht mehr am Steuerzahlen.Was hat denn die deutsche Großindustrie in der Zwi-schenzeit getan? Hat sie jetzt Arbeitsplätze geschaffenund mehr investiert oder hat sie keine Steuern gezahltund trotzdem keine Arbeitsplätze geschaffen und keineParl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks
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Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara HendricksInvestitionen getätigt? Dieses Beispiel, das nur wenigeMonate alt ist, müsste uns zu denken geben.
Was kann man also zugunsten der Kommunen wirklichtun? Selbstverständlich kommt es darauf an, die kommu-nalen Finanzen auf sichere Füße zu stellen. Ich darf daranerinnern, dass die letzte Gemeindefinanzreform in unse-rem Land noch in der alten Bundesrepublik Deutschland– unser Land hat sich ja Gott sei Dank verändert – imJahre 1970 durchgeführt wurde. Man merke sich diesesDatum! Zwischen damals und heute lagen die 80er- unddie 90er-Jahre mit der Wiedervereinigung, in denen nichtsgeschah. Die jetzige Bundesregierung hat im März diesesJahres – zugegeben, später als gewollt; das lag daran, weiluns die Bayerische Staatsregierung und die Regierungender übrigen Südländer mit einer Klage gegen den bundes-staatlichen Finanzausgleich vor dem Bundesverfassungs-gericht rein zeitlich dazwischengekommen sind – die Vor-arbeiten für eine Gemeindefinanzreform begonnen. DieGemeindefinanzreformkommission tagt. Sie ist breitangelegt. Ihr gehören nicht nur Vertreter des Bundes, son-dern in Absprache mit den Ländern auch Landesminister,also Landesfinanzminister, Landeswirtschaftsminister,Landesarbeitsminister, Landesinnenminister, und selbst-verständlich auch Vertreter der Wirtschaft und der kom-munalen Spitzenverbände an.Diese Kommission wird spätestens am Ende des erstenHalbjahres des nächsten Jahres, also gegen Ende Juni 2003,Vorschläge vorlegen. Ich bin zuversichtlich, dass dieseKommission einvernehmliche Vorschläge vorlegen wird.Wenn dies nicht geschehen sollte, sind wir natürlich nichtreformfähig. Wenn wir eine vernünftige Gemeindefinanz-reform tatsächlich auf den Weg bringen wollen, werdenwir sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat verfas-sungsändernde Mehrheiten brauchen. Wir werden alsodarauf angewiesen sein, dass die verantwortlichen Politi-ker in Bund und Ländern an diesem Projekt gemeinsamarbeiten. Deshalb haben wir von Anfang an diese Kom-mission – das sieht man auch an ihrer Zusammensetzung –auf Konsens angelegt. Jeder kann sich zwar wünschen,was er will. Aber wir werden verfassungsändernde Mehr-heiten in beiden Häusern brauchen. Deswegen müssenwir uns im Laufe des nächsten halben Jahres annähern.Übrigens, auf der Fachebene ist das kein Problem. Ichleite in dieser Kommission die Arbeitsgruppe zu den kom-munalen Steuern. Hier gibt es bisher keine großen Pro-bleme etwa zwischen den A-Ländern und den B-Ländern,wie man sie von der Bundesebene her kennt. Ich glaube,wir können es schaffen, den benötigten Konsens zu erzie-len. Wir werden den Kommunen zu Beginn des Jahres2004 eine verlässlichere Besteuerungsgrundlage anbietenkönnen, wenn wir es gemeinsam anpacken. In den 80er-und 90er-Jahren sind in dieser Hinsicht Versäumnisse ent-standen, die wir nur gemeinsam aufholen können. Ichhoffe, dass auch Sie uns die Hand dazu reichen werden.Herzlichen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Georg Fahrenschon,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen undKollegen! Sehr verehrte Frau Staatssekretärin! Ich hättenicht gedacht, dass wir heute über Verfahrensspielereiendiskutieren – das ist mein Eindruck –, sondern hätte ei-gentlich erwartet, dass Sie am Tag nach der Übergabe derSteuerschätzung diesen Antrag mit einem großen Straußvon Argumenten fachlich und sachlich entkräften.
Dazu haben Sie aber nichts gesagt. Sie haben zur Frageder aktuellen finanziellen Lage der Kommunen kein ein-ziges Wort verloren, sondern sind nur auf Verfahrensspie-lereien eingegangen. Diese interessieren uns heute nicht.
Es geht heute um einen Antrag der CDU/CSU-Fraktion,der sich mit der aktuellen Notlage der Kommunen inDeutschland beschäftigt und nicht damit, wer wann wowelchen Antrag gestellt hat. Es ist richtig, heute über ihnzu sprechen; denn die Lage der Kommunen war noch nieso dramatisch. Das haben wir gestern schriftlich bekom-men.
Mich wundert, angesichts der anfänglich guten Zu-sammenarbeit im Finanzausschuss, die ich als Neulingkonstatieren darf, dass die Vorsitzende des Finanzaus-schusses nach ihrem Beitrag den Saal schon wieder ver-lassen hat. Sie zeigt damit, dass sie sich der Diskussionnicht wirklich stellt.
Ich komme auf einen wesentlichen Punkt in unseremAntrag zu sprechen. Die Aussage, die Spitzenverbändehätten die damalige Steueränderung uneingeschränkt un-terstützt, ist falsch. Die deutschen Spitzenverbände habengerade die Gewerbesteuerumlageerhöhung ganz expli-zit abgelehnt. Deshalb darf man hier nicht den Eindruckerwecken, sie wären mit fliegenden Fahnen für diese Ge-setzesänderung gewesen, sondern an dem Punkt, um denes im Antrag der CDU/CSU geht, haben sie Ihre Politikmit deutlichen Worten abgelehnt.
– Dann lesen Sie die Unterlagen des Deutschen Städteta-ges.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 621
Da finden Sie es in der Dokumentation zu der Änderungim Jahr 2000 schon im Vorwort. Darüber hinaus könnenSie auch in den Protokollen des Finanzausschusses nach-lesen; denn der Finanzausschuss hat eine Überprüfungprotokollarisch festgehalten. Das Problem der Kompensa-tion, die in dieser Gewerbesteuerumlageerhöhung steckt,wurde also schon im Finanzausschuss der 14. Wahlperiodediskutiert. Man hat damals gesagt – Sie nicken –, manmüsse sich erst die Zahlen anschauen, um über eine Kom-pensation nachzudenken.
Man muss sich mit dieser Frage also sehr wohl beschäfti-gen. Der Antrag der CDU/CSU-Fraktion ist der Auftaktfür diese Auseinandersetzung.
Meine Damen und Herren, in der Vorbereitung aufdiese Rede habe ich mich in der kommunalen Landschaftumgeschaut und bin auf Harald Schröder gestoßen. KeineAngst, es handelt sich nicht um einen verschollenen Bru-der oder einen neuen Cousin des Bundeskanzlers, nein,Harald Schröder teilt mit dem Bundeskanzler nur seinenFamiliennamen und trägt dasselbe Parteibuch. Er ist Bür-germeister der Gemeinde Elsdorf im Erftkreis, einer Ge-meinde mit 21 500 Einwohnern und einem Gewerbe-steueraufkommen von rund 7 Millionen Euro im Jahr2000. Dank der Politik seines Parteifreundes teilt HerrSchröder jetzt nicht nur den Nachnamen mit dem Kanz-ler, sondern auch die Sorgen; denn das Aufkommen ausder Gewerbesteuer ist von 7 Millionen Euro im Jahr 2000auf nur noch 600 000 Euro zusammengeschmolzen. DasProblem muss man vor Augen haben, wenn man sich denAntrag der CDU/CSU-Fraktion anschaut.
Der jährliche Ausfall bei dieser Gemeinde mit 21 500 Ein-wohnern schlägt also mit 6,4 Millionen Euro zu Buche.Es erschrecken aber nicht nur die nackten Zahlen, son-dern auch die konkreten Beispiele. Die Gemeinde Elsdorfhat vor wenigen Monaten, finanziert aus Spenden der Bür-gerschaft, eine neue Jugendeinrichtung eingeweiht. Aller-dings können die jungen Männer und Frauen diese Jugend-einrichtung in den Wintermonaten höchstwahrscheinlichnicht nutzen, da der Zuschuss der Gemeinde zu den Heiz-kosten dieser Jugendeinrichtung gestrichen wurde, weilkein Geld mehr da ist. Sie muss zumachen; ab Novemberist sie geschlossen. Die Jugendeinrichtung – das tolle Pro-jekt – in der Gemeinde Elsdorf ist aufgrund Ihrer verfehl-ten Finanzpolitik in den Wintermonaten geschlossen.
Wenn Ihnen das Beispiel nicht genügt, nenne ich Ihnenein weiteres: Der Finanzdezernent der Stadt Saarbrücken– Sie dürften die politischen Verhältnisse in der saarländi-schen Landeshauptstadt besser kennen als ich –, FrankOran, hat seine Einbringungsrede zum Haushalt 2002 un-ter das Motto „Appell an die Vernunft“ gestellt. Im Zen-trum seines Appells steht zur Überraschung des Betracht-ers aber nicht der Stadtrat von Saarbrücken, sondern dieBundesregierung.
Unter der Überschrift „Appell an die Vernunft“schreibt er der Bundesregierung ins Stammbuch:Der Einbruch bei der Gewerbesteuer wird uns laut un-serer aktuellen Finanzplanung bis 2004 rund 107 Mil-lionen Euro kosten. Das ist ein Betrag, den wir nichtalleine durch Sparen an Papier oder Telefonkostenwieder reinholen können.Herr Oran fährt fort:Ich frage mich, ob die Damen und Herren, die amSteuersenkungsgesetz gearbeitet haben, sich dieserKonsequenz bewusst waren.Das ist die einzig richtige Frage, die ein Finanzdezernentheutzutage stellen kann.Um diesen Punkt geht es in der Debatte heute Abend.Erstens geht es darum, welcher Fehler der Regierung imJahr 2000 beim Steuersenkungsgesetz unterlaufen ist, undzweitens, was zu tun ist, um diesen Fehler schnellstmög-lich zu beheben. Geschäftsgrundlage der Beteiligung derStädte und Gemeinden an der Finanzierung der rot-grünenSteuerreform vom 23. Oktober 2000 war, dass sich dieFinanzpositionen der Gemeinden im Vergleich zu denendes Bundes und der Länder nicht verschlechtern sollten.Das war das erklärte Ziel dieser Reform.
Vor diesem Hintergrund schrieb Rot-Grün eine stufen-weise Erhöhung der Gewerbesteuer fest. Die Gegenfi-nanzierung wurde mit blumigen Prognosen schönge-rechnet. Ich nenne nur ein Beispiel: Die Prognose einerjährlichen gesamtwirtschaftlichen Investitionszuwachs-rate von 5 Prozent war zentraler Punkt der Gegenfinan-zierung. Diese gesamtwirtschaftliche Investitionszu-wachsrate von 5 Prozent wurde in keinem einzigen Jahrerreicht. Die gesamte Gegenfinanzierung ist Lug undTrug. Deshalb haben die Kommunen jetzt das Problemmit ihren Haushaltszahlen.
Meine Damen und Herren, es überrascht uns nicht. DenKommunen geht es wie vielen Bürgerinnen und Bürgern.Mit den Versprechen, die Rot-Grün damals verkündet hat,geht es ihnen so wie mit den Versprechen von GerhardSchröder im Bundestag: Heute versprochen und schonmorgen gebrochen.
An dieser Stelle will ich nicht vertiefen, dass es auchsachliche, fachliche und grundsätzliche Fehler bei derGegenfinanzierung gibt. Ich nenne ein Beispiel: Bei derGegenfinanzierung gibt es eine vollkommen überpropor-tionale Belastung der Kommunen. Im Gegensatz zumSteueraufkommen der Städte und Gemeinden, das imJahr 2001 um circa 5,5 Prozent gesunken ist, haben sichGeorg Fahrenschon
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Georg Fahrenschondie Einnahmen des Bundes um lediglich 2,5 Prozent re-duziert. Das ist eine klare Schieflage zulasten der Kom-munen.Wenn Sie sich die Struktur, die Sie gewählt haben, an-schauen, erkennen Sie, dass die Ursache auf der Handliegt: Rot-Grün ist es im damaligen Verfahren gelungen,die Entlastungen der Steuerpflichtigen vornehmlich aufdem Rücken der Gemeinschaftssteuern zu gewähren.Gleichzeitig wurden die reinen Bundessteuern – nament-lich die Mineralölsteuer und die so genannte Ökosteuer –erhöht. Deshalb ist es kein Wunder, dass die Ausfälle zu-lasten der Kommunen und nicht zulasten des Bundes ge-hen. Er hat seine Bundessteuern nämlich im Trockenen.Sie haben einen zweiten wesentlichen Fehler gemacht;denn Sie haben in der Systematik etwas geändert. Sie ha-ben den Interessenzusammenhang zwischen der Wirt-schaft und der Standortgemeinde entscheidend ge-schwächt. Wenn Sie diesen Weg weitergehen, laufen SieGefahr, dass die örtliche Wirtschaft von der Lokal- undKommunalpolitik nicht mehr gebraucht wird, weil diesenichts mehr davon hat, dass sich erfolgreiche Unterneh-men in einem Gewerbe- und Industriegebiet neu ansie-deln.
Meine Damen und Herren, wenn Sie sich mit diesenStrukturdefiziten auseinander setzen, werden Sie erken-nen: Wer ein Interesse an einer gesunden Mischung vonWohnen und Arbeiten am Platz hat, wer ein Interesse ankurzen Wegen zwischen den Wohnstätten und dem Ar-beitsplatz hat und wer ein Interesse an flexiblen Konzep-tionen – gemeinsam mit den örtlichen Betrieben – zur Be-treuung von Kindern hat, muss dieses Gesetz wiederändern. Durch dieses Gesetz geht die Schere nämlich ganzeindeutig auseinander, sodass die Kommune kein Inte-resse mehr daran hat, Wirtschaftsunternehmen vor Ort an-zusiedeln. Sie kann nicht mehr davon profitieren und wirdsich für eine Villengegend bzw. eine ruhige Gegend ent-schließen; denn Standorte für neue Betriebe werden nichtmehr belohnt.
Angesichts der aktuellen Haushaltslage klingt es auchzynisch, wenn das Bundesfinanzministerium in seinemMonatsbericht von Mai 2002 wie folgt auf die Handha-bung von Kassen- und Kassenverstärkungskreditenhinweist:Bei zahlreichen Kommunen scheinen sich die Kas-senkredite aber mehr und mehr zu einem dauerhaftenFinanzierungsinstrument der laufenden Ausgaben imVerwaltungshaushalt zu entwickeln. Hierin dürftesich auch die prekäre finanzielle Situation zahlrei-cher Städte und Gemeinden widerspiegeln.Es ist in hohem Maße zynisch, wenn das Finanzminis-terium den Kommunen vorwirft, sie spielten mit Kassen-und Kassenverstärkungskrediten. Sie sind nämlich garnicht mehr in der Lage, anders zu reagieren. Ich kann mitmeinem Heimatlandkreis München, der der an Umlage-kraft stärkste Landkreis in Bayern ist, ein Beispiel nen-nen, das die gesamte Dramatik darstellt: Der LandkreisMünchen musste am Montag einen Nachtragshaushalt be-schließen, um die Kassenkredite um 20 Millionen Euro zuerhöhen, und zwar allein deswegen, damit der Landkreisdas Weihnachtsgeld auszahlen kann. Die Gründe dafürsind Nachforderungen gegenüber Sozialleistungsträgernaufgrund von Budgetvereinbarungen im Jahr 2002 undverzögerte Auszahlungen von Fördermitteln des Bundesund des Landes.Wenn Sie uns schon nicht glauben dürfen oder wollen,dann darf ich noch einen Kronzeugen anführen. Am 15. Ok-tober, also vor knapp einem Monat, trafen sich erstmals inder Geschichte Münchens alle Arbeiter und Angestelltender Stadt. 15 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter trafensich unter dem Motto „München ist pleite“.
Ich darf den Oberbürgermeister, Christian Ude, derschließlich das Aushängeschild der bayerischen SPD ist,zitieren:
Bei der Gewerbesteuer haben wir dramatische Ein-brüche zu verzeichnen. Wir müssen sogar Rückzah-lungen in bisher unvorstellbarem Ausmaß leisten.Jetzt kommt es:Das hat mit Fehlern der Steuergesetzgebung in Berlinzu tun.Wo der Mann Recht hat, hat er Recht!
Deshalb will ich Ihnen zum Schluss meines Beitrags dieResolution der 15 000 Beschäftigten der Stadt Münchennicht vorenthalten.
Der erste von insgesamt vier Punkten, die sich an die Bun-desregierung richten, lautet:Die ab 1. Januar 2001 von 20 auf 30 Prozent erhöhteAbschöpfung der Gewerbesteuereinnahmen ist so-fort zurückzunehmen.Dem ist nichts hinzuzufügen.
Herr Kollege, ich gratuliere Ihnen im Namen des
ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Plenum des Bun-
destags.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Bernd Scheelen,
SPD.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Herr Kollege Fahrenschon, wir sind uns sicherlich darin
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einig, dass die Lage in vielen Kommunen durchaus ernst ist.Aber Ihr Antrag hilft den Kommunen in keiner Weise,
schon gar nicht dem von Ihnen hier zitierten Bürgermeis-ter von Elsdorf, Harald Schröder. Denn wenn Sie vor-tragen, dass die Gewerbesteuereinnahmen in Elsdorf von7 Millionen Euro auf 600 000 Euro abgestürzt sind, dannkönnen Sie sich nach Ihrer Systematik leicht ausrechnen,dass die Gemeinde fast nichts zurückbekäme, wenn IhrAntrag beschlossen würde. Das würde ihr nicht helfen.Das Einzige, was ihr wirklich hilft, ist eine grundlegendeGemeindefinanzreform, und die führen wir durch.
Lassen Sie mich etwas zu dem Verhalten der kommu-nalen Spitzenverbände im Zusammenhang mit der Be-ratung der Unternehmensteuerreform anmerken. Sie ha-ben behauptet, die Spitzenverbände hätten der Erhöhungder Gewerbesteuerumlage nicht zugestimmt. Das ist sonicht richtig. Ich war an den Gesprächen beteiligt. Diekommunalen Spitzenverbände haben akzeptiert, dass dieGewerbesteuerumlage ein Ausgleichsmechanismus ist,um zwischen verschiedenen Steuerarten und den ver-schiedenen staatlichen Ebenen einen Ausgleich herzustel-len. Sie haben sich dafür eingesetzt, dass die vorgeseheneErhöhung bis zum Jahr 2004 befristet wird. Unter dieserVoraussetzung waren sie einverstanden.Deswegen haben wir in den Gesetzestext hineinge-schrieben, im Jahr 2004 eine Revision vorzunehmen, umim Lichte dessen, was die Unternehmensteuerreform be-wirkt hat, zu sehen, ob die Prognose richtig war oder obman steuernd eingreifen muss. Aber jetzt haben wir erstdas Jahr 2002, nicht 2004. Erst im Jahr 2004 werden wirin diesem Bereich aktiv werden.Zum Kollegen Pinkwart. Sie plädieren für die Abschaf-fung der Gewerbesteuer. Deswegen ist die FDP mögli-cherweise von vielen Kommunalpolitikern nicht gewähltworden. Diese wissen genau, wen sie wählen müssen. Sieerkennen nämlich, dass SPD und Grüne für sie etwas tun,nicht andere.
Sie verkaufen das unter dem Stichwort Vereinfachung, dieSie für Bürger und Unternehmen fordern. Es ist eine tolleVereinfachung, die Unternehmen keine Steuern mehr be-zahlen zu lassen und die Belastungen auf die Bürger zuverlagern. Das ist sehr einfach, aber diese Politik machenwir nicht mit.Bei der Ich-AG liegen die Freibeträge oberhalb des-sen, was als Einkommen vorgesehen ist. Deswegen gibtes im Zusammenhang mit der Ich-AG keine Probleme mitder Gewerbesteuer.
Der Kollege Götz hat hier sehr starke Worte gebraucht.Unter anderem hat er uns vorgeworfen, wir würden immerneue Aufgaben auf die Kommunen verlagern, aber keinGeld bereitstellen. Das, Herr Kollege Götz, haben Sie jah-relang, sogar jahrzehntelang gemacht. Ich weiß gar nicht,mit welcher moralischen Berechtigung Sie solche Vor-würfe erheben. Sie haben während der 16 Jahre vonHelmut Kohl einiges mitzuverantworten.Wir zum Beispiel haben bei den Themen Grundsiche-rung, Ganztagsbetreuung und Krippe das Geld gegenIhren erbitterten Widerstand gleich mitgeliefert. Wir ha-ben uns in der letzten Legislaturperiode über die Grund-sicherung unterhalten und sie beschlossen. Sie wissen,dass der Bund den Kommunen über die Länder dafür proJahr 409 Millionen Euro zur Verfügung stellt. Nach zweiJahren werden wir überprüfen, ob das Geld reicht. Wennes nicht reicht, wird der Bund seinen Verpflichtungennachkommen und entsprechend mehr zahlen. Wenn esaber zu viel ist, wird sich der Bund vorbehalten, dem-nächst weniger zu zahlen. Das ist gelebte Konnexität. Dasist die Politik dieser Regierung.
Dasselbe gilt für den zweiten Punkt, die Ganztagsbe-treuung. Wir sehen für die kommende Legislaturperiodevor, den Ländern jedes Jahr 1 Milliarde Euro zur Verfügungzu stellen, um 10 000 neue Plätze in Ganztagsschulen be-reitzustellen.Der dritte Punkt: Wir stellen 1,5 Milliarden Euro fürdie Krippenbetreuung bereit. Das steht in unserer Ko-alitionsvereinbarung. Wir wollen die Ersparnisse vonmindestens 1,5 Milliarden Euro, die die Hartz-Pläne beiden Kommunen bewirken, den Gemeinden zur Verfügungstellen, damit sie eine Betreuung für Kinder unter drei Jah-ren organisieren können.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage Ihres Kollegen
Götz?
Bitte, Herr Kollege.
Können Sie mir sagen, warum die Landräte gegen das
Grundsicherungsgesetz, das Sie gerade so sehr loben, kla-
gen?
Das ist relativ einfach. Wenn Sie sich einmal die Par-teibücher dieser Landräte anschauen, dann stellen Siefest, dass sie alle bei Ihnen organisiert sind. Ich kenne sie.Das war Bestandteil des Bundestagswahlkampfes undeine sehr billige Masche. Ich würde diesen Landräten undauch den Bürgermeistern empfehlen, sich mit dem Gesetzauseinander zu setzen; dann wüssten sie, dass auf siekeine Kosten zukommen.
Bernd Scheelen
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Bernd ScheelenEs gibt Anträge, die einfach nicht totzukriegen sind. Ih-rer gehört dazu. Wir haben in diesem Jahr, wie ich glaube,zum dritten Mal die Gelegenheit, uns mit der Frage derGewerbesteuerumlage auseinander zu setzen. Das ersteMal war am 25. Januar dieses Jahres, als die CDU/CSUdie Debatte beantragt hatte. Das zweite Mal war am21. März, als die PDS das Thema aufgewärmt hat. Jetztkommt die CDU/CSU wieder damit an.Das Thema wird immer wieder dann auf die Tagesord-nung gesetzt, wenn irgendwo Wahlen bevorstehen. Ichglaube, Ihr Antrag hängt in diesem Fall mit den Landtags-wahlen zusammen, die in Hessen und in Niedersachsen vorder Tür stehen. Aus diesem Grunde wurde der LadenhüterGewerbesteuerumlage aus der Tasche geholt. Die Zielrich-tung, die Sie damit verfolgen, ist klar. Sie wollen den Bür-gern in den betroffenen Ländern weismachen: Wenn einSchwimmbad geschlossen wird, dann ist das nicht unsereSchuld. Daran ist die Bundesregierung in Berlin schuld.Diese Strategie wird Ihnen nicht gelingen; denn derRückgang der Gewerbesteuereinnahmen – so dramatischer in der einen oder anderen Gemeinde auch ist – hat mitder Steuerreform dieser Bundesregierung nichts, aberauch rein gar nichts zu tun.
Wenn Sie dafür noch Bestätigungen brauchen: Sie kön-nen sich das jeden Tag von den kommunalen Spitzenver-bänden bestätigen lassen. Die Spitzenverbände wissen,dass das mit der Steuerreform nichts zu tun hat. Sie wis-sen, dass die Rückgänge bei der Gewerbesteuer kon-junkturbedingt sind. Sie wissen auch, dass das mit denFolgen Ihrer Steuerpolitik zusammenhängt. Denn Sie,meine Damen und Herren von Schwarz-Gelb, haben da-mals noch beschlossen, die konjunkturunabhängigen Be-standteile der Gewerbesteuer abzuschaffen.
Diese Teile sind weg. Was jetzt übrig ist, ist sozusageneine reine Gewinnsteuer. Wenn die Konjunktur nicht gutläuft, wenn die Unternehmen keine Gewinne machen,dann zahlen sie überhaupt keine Gewerbesteuer mehr.Wenn sie geringe Gewinne machen, dann zahlen sie ebennur wenig Gewerbesteuer.
Erst jetzt wird also deutlich, wie konjunkturreagibel dasist, was Sie uns hinterlassen haben.
Wir werden das korrigieren; denn Kämmerer brauchenmehr Verlässlichkeit. Sie brauchen Stetigkeit in den Haus-halten. Sie brauchen Planbarkeit für ihre Haushalte. Daswerden wir gewährleisten.Der Deutsche Städtetag hat uns außergewöhnlich ge-lobt; das ist noch gar nicht so lange her.
Der Deutsche Städtetag sagt in der Überschrift einer Pres-seerklärung: „Städte sehen bei der Koalition gute Absich-ten zur Bekämpfung der kommunalen Finanzkrise“.
Sie ist von Hauptgeschäftsführer Dr. Stephan Articus undes geht um die Beurteilung der Koalitionsvereinbarung.Ausdrücklich hat er vier Punkte hervorgehoben. Er hatgesagt, es sei sehr zu begrüßen, dass die Koalition die Fi-nanzkraft der Gemeinden stärken wolle; besonders zu be-grüßen sei, dass von einer Gewerbesteuerreform ge-sprochen werde. Es geht also nicht um die Abschaffungder Gewerbesteuer, sondern um eine Reform der Gewer-besteuer. Damit beschäftigt sich die schon angesprocheneKommission. Das wird bis Ende nächsten Jahres zu einemguten Ergebnis geführt.Sehr positiv nennt er dann die Zusammenführung vonSozialhilfe und Arbeitslosenhilfe. Das ist etwas, was imHartz-Konzept angedacht ist, aber eben auch in der Ge-meindefinanzreformkommission bearbeitet wird. Daswird zum 1. Januar 2004 seine volle Wirkung entfaltenund entsprechende Einsparungen in den kommunalenHaushalten zur Folge haben, die dann in Investitionenumgesetzt werden können.Er begrüßt des Weiteren, dass das Konnexitätsprinzipin der Koalitionsvereinbarung einen hohen Stellenwerthat, nämlich Konnexität im Rahmen des bundesstaat-lichen Finanzausgleichs.Schließlich begrüßt der Städtetag ausdrücklich unserVorhaben, die gewerbesteuerliche Organschaft abzu-schaffen. Das ist ein Punkt, über den wir schon lange dis-kutiert haben und der auch in den kommunalen Spitzen-verbänden lange diskutiert wurde. Es macht gerade ausheutiger Sicht Sinn, die Gewerbesteuer tatsächlich da an-fallen zu lassen, wo Betriebe sind und wo Gewinne ge-macht werden. Das ist für die Kommunen eine wichtigeEntscheidung. Die Kommunen brauchen auch einen An-reiz – das ist vorhin schon einmal angesprochen worden –,sich weiterhin um die Ansiedlung von Gewerbebetriebenzu bemühen.
Besser ist eine Koalitionsvereinbarung von einemkommunalem Spitzenverband noch niemals beurteiltworden.Wir werden das, was wir vor der Wahl gesagt haben,nach der Wahl auch tun. Wir werden die Finanzkraft vonStädten und Gemeinden stärken und auf eine breite undsolide Basis stellen.Leider ist meine Redezeit schon zu Ende. Ich hätte Ih-nen gern noch etwas über Hessen erzählt und über die Artund Weise, in der in Hessen, ähnlich wie in Bayern, dieKommunen ausgeplündert werden.
Als Letztes Folgendes: Sofern diese Debatte auf Phoe-nix übertragen wird, sitzen sicherlich alle CDU-Minister-
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präsidenten mit hängender Zunge vor dem Apparat undhoffen, dass Ihr Gesetzentwurf keine Mehrheit bekommt;
denn sie wissen, dass ihre Haushalte dann noch verfas-sungswidriger werden, als sie es zurzeit schon sind.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 15/30 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu ander-
weitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Rege-
lung des Urheberrechts in der Informations-
gesellschaft
– Drucksache 15/38 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den
WIPO-Verträgen vom 20. Dezember 1996 über
Urheberrecht sowie über Darbietungen und
Tonträger
– Drucksache 15/15 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aus-
sprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die
Frau Bundesministerin der Justiz Brigitte Zypries.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Das Urheberrecht im digitalen Zeitalter mit sei-nen vielen neuen Medien braucht zeitgemäße Regeln.Dazu gehören der Rechtsschutz für Urheber sowie dieFörderung der Kultur und Medienwirtschaft und ihrerEntwicklung. Die Bundesregierung legt Ihnen heute denEntwurf eines neuen Urheberrechts in der Informations-gesellschaft vor, der genau diese Ziele verfolgt.Wir setzen damit die EU-Richtlinie „Urheberrecht inder Informationsgesellschaft“ um. Sie legt das Fundamentfür die Gestaltung des europäischen Urheberrechts imInternetzeitalter. Zugleich konkretisiert sie die zentralenBestimmungen der Verträge der Weltorganisation fürgeistiges Eigentum über das Urheberrecht und über Darbie-tungen und Tonträger.
In einem zweiten Schritt wollen wir mit einem weiterenGesetz die Fragen regeln, die wir jetzt offen lassen, weilwir sie mit den Beteiligten ohne Zeitdruck ausführlicherörtern wollen.
Jeder Schritt erfordert eine sorgsame Abwägung der In-teressen aller Beteiligten. Dass diese Interessen sehr di-vergent sind, muss ich Ihnen hier nicht sagen.Unser Entwurf eines neuen Urheberrechts in der Infor-mationsgesellschaft berücksichtigt alle Seiten: sowohl dieberechtigten Interessen der Urheber und der ausübendenKünstler als auch die der Kunden, der Industrie und desHandels, aber auch die von Wissenschaft und Unterricht.
– Ich werde jetzt gleich konkreter.Wir führen mit diesem Gesetz ein neues „Recht der öf-fentlichen Zugänglichmachung“ zugunsten der Urheberein.
– Danke schön. – Damit stellen wir klar, dass zunächsteinmal allein der Urheber bestimmt, ob und wie seinWerk, zum Beispiel im Internet, öffentlich gemacht wird.Das gleiche Recht bekommen natürlich auch die aus-übenden Künstler für ihre Darbietungen.Der Entwurf erlaubt deshalb – quasi im Umkehr-schluss – Urhebern oder den von ihnen beauftragten Ver-wertern, die Werke mit technischen Vorrichtungen zumBernd Scheelen
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Bundesministerin Brigitte ZypriesSchutz vor Kopien zu versehen. Selbstverständlich dürfenMusikunternehmen kopiergeschützte CDs verkaufen. Al-lerdings müssen die CDs, die kopiergeschützt sind, ent-sprechend gekennzeichnet sein; denn wir müssen auch dieVerbraucher schützen, die wissen wollen, was in derPackung ist.
Niemand soll die Katze im Sack kaufen müssen und dannerst zu Hause merken, dass er eine CD nicht kopierenkann.
Das neue Gesetz verbietet es, den Kopierschutz zuknacken, und bezieht auch die Herstellung und die Ver-breitung der so genannten Hackersoftware in das Verbotein. Wer gegen diese Verbote gewerblich verstößt, dermuss mit Geldstrafen oder sogar mit Gefängnis rechnen.Allerdings betonen wir ausdrücklich den Grundsatz derVerhältnismäßigkeit.
Das heißt in der konkreten Abwägung: Wenn sich zumBeispiel ein Schüler aus dem Internet Software herunter-lädt, um einem Klassenkameraden ein Musikstück zu ko-pieren, dann bleibt dieser straffrei. Wir wollen nämlichnicht den Schulhof kriminalisieren, sondern wir zielen aufdie gewerblichen Rechtsverletzer.
Im Einklang mit der Richtlinie und den Erfordernissendes digitalen Zeitalters bestimmen unsere Schrankenrege-lungen, in welchen Fällen Urheber es hinnehmen müssen,dass ihre Werke ohne ihre Zustimmung genutzt werden.So haben wir eine Regelung vorgesehen, wonach in denneuen Medien veröffentlichte Werke für den Unterricht anSchulen und Hochschulen sowie für die Forschung ge-nutzt werden können. Damit entsprechen wir, so meinenwir wenigstens, den Bedürfnissen der Wissensgesell-schaft und stärken die Wettbewerbsfähigkeit deutscherSchulen und Hochschulen im internationalen Vergleich.
Zugleich stellen wir klar, dass auch die digitale Privat-kopie zulässig ist. Es darf sich also jeder von seiner Lieb-lings-CD eine Kopie für seinen MP-3-Player im Autobrennen.
– Ja, natürlich. – Selbstverständlich bleibt es dabei, dassden Urhebern ein Ausgleich dafür zusteht, dass ihreWerke ohne ihre Einwilligung genutzt werden dürfen.Noch ist die Zeit nicht reif, unser System der pauscha-len Vergütung, das durch die Verabschiedung dieses Ge-setzentwurfs erhalten bleibt, durch ein System der Ein-zelabrechnung, der individuellen Lizenzierung, im digita-len Bereich abzulösen. Die Entwicklung technischerSchutzmechanismen ist weder abgeschlossen noch aus-gereift. Unser Entwurf fördert aber die Entwicklung voneinsatzfähigen Systemen der sicheren individuellen Ab-rechnung. Ich weiß natürlich, dass es einen großen Inte-ressenverband gibt, der sehr großen Wert darauf legt, dassdiese individuelle Abrechnung dann auch Bestandteil desnächsten Korbes wird. Wir werden das zu verhandeln ha-ben und werden auch sehen müssen, wie weit die techni-sche Entwicklung bis dahin gekommen ist.
Ich glaube, wir haben mit dieser Gesetzesinitiative ei-nen ersten großen Schritt für ein faires Urheberrecht vor-gelegt. Den weiteren Schritt im Laufe des nächsten Jahreswollen wir gemeinsam gehen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Günter Krings.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren Kollegen! Wenn wir uns heute eine halbe Stundeüber Fragen des Urheberrechts unterhalten dürfen und wirdiese Debatte von Tagesordnungspunkten zur Steuer- undFinanzpolitik sowie zu künftigen Auslandseinsätzen derBundeswehr eingerahmt finden, könnte der Eindruck ent-stehen, dieses Hohe Haus halte eine Weile inne, um sichanschließend wieder den wirklichen Zukunftsthemen derdeutschen Politik zuzuwenden.
Eine solche Einschätzung teile ich ausdrücklich nicht. Sieginge auch an der wahren Bedeutung des Urheberrechtsfür unsere moderne Informationsgesellschaft und unsereWirtschaft vorbei.
Fast 600 000 Menschen arbeiten in Deutschland inKulturberufen. Zusammen erwirtschaften sie mehr als8 Prozent unseres Bruttosozialproduktes; jeder zwölfteEuro wird in der deutschen Wirtschaft mit Produkten ver-dient, die unmittelbar auf den Schutz des Urheberrechtsangewiesen sind. Dieser wichtige Zweig unserer Volks-wirtschaft erwartet endlich klare rechtliche Regelungenzur digitalen Verbreitung von urheberrechtlich geschütz-ten Werken.
Die neuen elektronischen Medien eröffnen eine Fülleneuer Verbreitungsmöglichkeiten, sie schaffen damit aber
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 627
zugleich eine ebenso große Vielzahl an Gefahren desMissbrauchs und der Werkpiraterie. Dem gilt es Einhalt zugebieten, denn Urheberschutz ist Eigentumsschutz unddie Verletzung von Urheberrechten ist nichts anderes alsDiebstahl geistigen Eigentums.
Vor wenigen Jahrhunderten glaubte man noch, diesenFällen geistigen Diebstahls mit Verfluchungen beikom-men zu können; so wünschte mancher Autor in seinemVorwort denjenigen „Aussatz und Hölle“, die sein Werkunberechtigt kopierten.
Ich denke, inzwischen ist auch bei der amtierenden Bun-desregierung die Erkenntnis gereift, dass vom modernenRechtsstaat auf diesem Gebiet schon etwas mehr anSchutz und Rechtssicherheit erwartet werden kann.
Umso unverständlicher ist es für unsere Fraktion daher,dass es insgesamt sechs Jahre gebraucht hat, um einen Re-gierungsentwurf zur Regelung des Urheberrechts in derInformationsgesellschaft in den Bundestag einzubringen.
Nach der Unterzeichnung der internationalen Verträge imRahmen der Weltorganisation für geistiges EigentumEnde 1996 – die Ministerin wies darauf hin – ließ mansich zunächst einmal vier Jahre auf europäischer EbeneZeit, um auf dieser Basis eine Richtlinie der EuropäischenUnion zu erarbeiten. Anschließend ging dann ein weiteresJahr ins Land, ehe man sich jetzt offenbar etwas verwun-dert die Augen reibt und feststellt, dass die Frist zur Um-setzung der Richtlinie in nationales Recht am 22. Dezem-ber dieses Jahres ausläuft. Erst unter dem Eindruck derdrohenden Sanktionen aufgrund der Verletzung des EG-Vertrages wurde das Gesetzgebungsverfahren nunmehrauf den Weg gebracht.Angesichts dieses Schneckentempos dürfen wir unsnicht wundern,
dass uns in der Kultur- und Medienwirtschaft andereLänder nicht nur längst überholt haben, sondern uns sogarmeilenweit voraus sind.
Diese Verzögerung ist aber zugleich auch die Folgefalscher Prioritätensetzung auf dem Gebiet der Rechtspo-litik. In der Zeit, in der sich die ausgeschiedene Justizmi-nisterin im vergangenen Jahr dringend um einen wirksa-men Schutz urheberrechtlicher Werke vor Raubkopienhätte kümmern müssen, bastelte sie lieber an dem rechtli-chen Monstrum einer angemessenen Vergütung für Ur-heber, das erst in letzter Minute entschärft werden konnte.So ist es offenbar bei dieser Bundesregierung: Die ideo-logischen Lieblingsthemen werden vorangetrieben,während die für den Kultur- und WirtschaftsstandortDeutschland vordringlichen Aufgaben liegen bleiben.
Ich gestatte mir allerdings die Hoffnung, dass dies unterder neuen Ressortchefin im Justizministerium anders wird.
Nach so langer Zeit hätten wir und vor allem die Auto-ren, Künstler und Verleger erwarten können, dass uns einumfassender und ausgewogener Gesetzentwurf vorgelegtwird.
Wer diese Erwartung hatte, sieht sich in vielen Punktenleider herb enttäuscht. Der Gesetzentwurf ist an vielenStellen offensichtlich mit der berühmten rot-grünenheißen Nadel genäht. Einige Punkte fehlen und andereTeile sind wirklich noch sehr verbesserungsbedürftig.
Der Entwurf ist von schwer überbietbarer Naivität,etwa wenn man sich in § 53 der Neufassung damit be-gnügt, die altbekannten Regeln für die analoge Verviel-fältigung, also zum Beispiel für die private Kopie einesBuches, eins zu eins auf die digitale Vervielfältigung zuübertragen. Wer schon einmal selbst eine Stunde an einemKopierer zugebracht hat, um – im Rahmen des Erlaubten,versteht sich – ein Buch zu kopieren,
muss wissen, dass das mit einem etwas größeren Aufwandverbunden ist als das rasche Kopieren einer Datei auf ei-nem Computer. Wenn das digitale Kopieren so viel leich-ter und schneller von der Hand geht, ist es nur logisch,dass man dann besondere Schutzvorkehrungen gegen sol-che Kopierarten vorsehen muss.
Private Raubkopien sorgen dafür, dass die Medien-branche Jahr für Jahr erhebliche Umsatzeinbußen zu ver-zeichnen hat. Die Film- und Kinowirtschaft klagt inzwi-schen gar darüber, dass Blockbuster-Filme bereits Monatevor ihrem Kinostart in Deutschland als Raubkopie im In-ternet die Runde machen. Die im Gesetzentwurf vorge-schlagene pauschale Gleichbehandlung von elektroni-schen und herkömmlich analogen Vervielfältigungenöffnet dem Missbrauch Tür und Tor.Bleibt die Bundesregierung hier bei ihrer Position,dann verfehlt sie im Übrigen auch einen ganz wesentli-chen Zweck dieses Gesetzgebungsprojekts, nämlich dieUmsetzung der gerade genannten EU-Richtlinie 2001/29.Hier heißt es im 38. Erwägungsgrund, dass „den Unter-schieden zwischen digitaler und analoger privater Ver-vielfältigung gebührend Rechnung“ zu tragen ist.
Dr. Günter Krings
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Dr. Günter KringsEs lohnt sich, auch einmal das Kleingedruckte einer euro-päischen Richtlinie zu lesen.
Wir als Unionsfraktion verstehen jedenfalls die Fach-verbände, die sich dagegen wehren, dass ein Rechtsre-gime, das dem Zeitalter des Papierkopierers entstammt,nun ohne weiteres auf den CD-Brenner übertragen wer-den soll. Hier muss dringend nachgebessert werden.
Zustimmung verdient der Gesetzentwurf, soweit er denbesonderen Gefahren der Werkpiraterie im digitalen Be-reich das strafbewehrte Verbot der Umgehung vonSchutztechnologien gegenüberstellt.
Der massenhafte Diebstahl von geistigem Eigentum wirdheute durch die flächendeckende Verbreitung von Umge-hungstechnologien erleichtert, die dem VerbraucherWerkzeuge an die Hand geben, um kopiergeschützteWerke zu knacken. Diese Instrumente finden sich inzwi-schen auf den Seiten bekannter Internetprovider ebensowie in den Regalen großer Supermarktketten. Das Un-rechtsbewusstsein tendiert hier offenbar gegen null.
Geistiges Eigentum hat Anspruch auf den gleichenSchutz wie Sacheigentum. Es macht eben keinen Unter-schied, ob Werkzeugsätze zum Aufbrechen von Woh-nungs- oder Autotüren angeboten werden oder solchezum Aufbrechen eines digitalen Kopierschutzes.
Das europäische Recht lässt dem deutschen Gesetzge-ber ausreichend Raum, um effektive Mechanismen zumSchutz des geistigen Eigentums einzuführen. Es steht inunserer Verantwortung, diesen zu nutzen. Es reicht nichtaus, nur Verbots- und Straftatbestände ins Gesetz zuschreiben;
denn wir können und wollen nun einmal nicht hinter je-dem Computerarbeitsplatz einen Staatsanwalt postieren.
Die Zukunft des Urheberschutzes gehört daher dem di-gitalen Rechtemanagement als einer neuen, intelligentenSchutzstrategie. Frau Ministerin, Sie haben sich verbaldazu bekannt. Allerdings trifft der Gesetzentwurf zu die-sem modernen Schutzkonzept keine konkreten Regelun-gen. Im Gegenteil: Durch den Anspruch auf Aufhebungvon Schutzmechanismen, unter anderem für private Ko-pierzwecke, erwächst in § 95 b – es lohnt sich, auch die-sen einmal zu lesen – der Eindruck, dass der Rechteinha-ber für den Einsatz von Schutzmechanismen nachgeradebestraft werden soll. Kommt er diesem Aufhebungsan-spruch nämlich nicht nach, muss er, der doch nur sein Ur-heberrecht, also sein Eigentum schützen will, mit einemsaftigen Bußgeld rechnen, dessen Obergrenze pikanter-weise doppelt so hoch liegt wie die Buße, die demjenigendroht, der einen solchen Schutzmechanismus knackt, demCracker oder Hacker also.
Der Schutzgedanke des Urheberrechts wird hier auf denKopf gestellt.
An anderer Stelle werden Regelungen in den Gesetz-entwurf hineingemogelt – in ihm soll doch eigentlich nurDrängendes geregelt werden –, die nun wirklich nichtsmit der Umsetzung der EU-Richtlinie zu tun haben. Dasgilt etwa für den neu eingefügten § 5 Abs. 3, der immer-hin mit einer gefestigten Rechtsprechung des Bundesge-richtshofs, inzwischen vom Bundesverfassungsgerichtbestätigt, bricht.Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt, dass die Gesetzge-bungsmaschinerie in Sachen eines verbesserten Urheber-rechtsschutzes in der modernen Informationsgesell-schaft nun endlich in Schwung gekommen ist.
Ideen und menschliches Wissen sind die wichtigstenRohstoffe des 21. Jahrhunderts. Das Urheberrechtsgesetzwird daher zu dem zentralen Marktordnungsrecht desdigitalen Zeitalters.
Genau deshalb werden wir es nicht zulassen, dass dieseswichtige Gesetz jetzt im Schweinsgalopp durch das par-lamentarische Beratungsverfahren getrieben wird. DieCDU/CSU-Fraktion will die Anhörung von Sachverstän-digen im Gesetzgebungsverfahren, damit am Ende einGesetz steht, das den berechtigten Anliegen von Urhebernund der Medienwirtschaft auf der einen Seite und denWerknutzern auf der anderen Seite Rechnung trägt und siezu einem gerechten Ausgleich bringt.
Immerhin geht es auch um die Sicherung von Tausendenvon Arbeitsplätzen in Deutschland.Auf dem Weg zu diesem Ziel gibt es noch einiges zutun. Die CDU/CSU-Fraktion bietet ihre Mithilfe an, umaus diesem spät und hastig zusammengezimmerten Ent-wurf ein gutes Gesetz zu machen.
Vielen Dank.
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Herr Kollege, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bun-
destag. Ich gratuliere Ihnen im Namen des Hauses dazu.
Es ist vorbildlich, dass Sie Ihre Redezeit nicht überschrit-
ten haben.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Grietje Bettin.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir alle, jedenfalls die, die die neuen Medien nutzen,
merken es in unserer tagtäglichen Arbeit: Das Medium In-
ternet bietet uns eine riesige globale Wissensdatenbank, die
weltweit ihresgleichen sucht. Zwar sind wir aufgrund in-
frastruktureller und politischer Probleme noch meilenweit
von einer vernetzten Weltgesellschaft entfernt. Doch die
Grundlagen, die noch der konkreten Ausgestaltung bedür-
fen – damit beschäftigen wir uns heute –, sind jetzt gelegt.
Ein konkretes Beispiel für diese Ausgestaltung ist das
Urheberrecht im Zeitalter der digitalen Vervielfältigungs-
möglichkeiten, das wir heute diskutieren. Wem gehört das
Wissen? Dies ist eine zentrale Frage des 21. Jahrhunderts.
Dabei ist es aus unserer Sicht ganz besonders wichtig,
dass wir die digitale Spaltung überwinden und unser
Wissen auch in ärmere und strukturschwache Regionen
übertragen. Andernfalls bleibt dieses Wissen im Besitz
der Nationen, die sich moderne Netze und Computer leis-
ten können.
Neben der Notwendigkeit des freien Zugangs zum
Wissen steht genauso unmissverständlich fest: Urheberin-
nen und Urheber, Künstlerinnen und Künstler sowie Au-
torinnen und Autoren müssen im digitalen Zeitalter für
ihre Arbeit entsprechend entlohnt werden.
Der heute zu debattierende Gesetzentwurf weist auf jeden
Fall in die richtige Richtung. Er stellt einen Interessen-
ausgleich zwischen allen vom Urheberrecht betroffenen
Gruppen dar.
Darüber hinaus müssen wir aber vonseiten der Politik
auch dafür sorgen, dass das Wissen, das beispielsweise
mit öffentlichen Mitteln generiert wird, auch der Öffent-
lichkeit breit zugänglich gemacht wird. Um nur ein klei-
nes Beispiel zu nennen: Die Bibliotheken sind oftmals ge-
zwungen, das mit öffentlichen Geldern produzierte
Wissen mit Steuergeldern sozusagen zurückzukaufen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich wollen wir
das Internet auch für neue Geschäftsmodelle nutzen.
Doch das im Zusammenhang mit dem Urheberrecht viel
diskutierte Digital Rights Management stellt aus Sicht
der Grünen kein Allheilmittel dar. Wer sich heute ein
Buch ausleiht oder ein paar Stellen daraus kopiert, muss
dafür nicht erst den Urheber oder den Verlag um Erlaub-
nis bitten. Genauso wenig dürfen die Userinnen und User
bestraft werden, wenn sie sich Texte oder Audiofiles auf
den Rechner laden, ohne zu wissen, dass es sich dabei um
geschütztes Material handelt.
Selbstverständlich ist uns klar, dass der individuelle
kostenpflichtige Bezug von digitalen Gütern sicherlich
ein Baustein zukünftiger Vergütungsregelungen sein
wird. Aber die digitale Vielfalt, die wir alle anstreben, er-
fordert keine Patent- oder Pauschallösungen, geschweige
denn blindes Vertrauen in zurzeit noch unsichere tech-
nische Lösungen.
Im Übrigen können Gesetzgeber in die technischen
Entwicklungen in diesem Bereich insgesamt nur beglei-
tend oder moderierend eingreifen
und dort Vorschriften machen, wo urheberrechtlich ge-
schütztes Material illegalerweise vertrieben wird. Doch
gehört das Recht zum privaten Vervielfältigen natürlich
grundsätzlich nur in begrenztem Umfang zu einem grund-
legenden Verbraucherrecht, das per Urteil vom Bundes-
verfassungsgericht so festgeschrieben wurde.
Aus unserer Sicht muss dies natürlich genauso wie für
die analoge Welt auch für die digitale Welt gelten.
Denn die digitale Welt besteht ebenso wie die analoge aus
vielen Akteuren – ich habe sie bereits erwähnt –: aus den
Nutzerinnen und Nutzern, den Verwertern, den Urhebern
und der Industrie. Sie alle haben sehr legitime Interessen.
Diese müssen in der Informationsgesellschaft gewahrt
bleiben. Dazu wollen wir mit dem vorliegenden Gesetz-
entwurf unseren Beitrag leisten.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rainer Funke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HerrKollege Krings, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Redeund heiße Sie im kleinen Kreis der Parlamentarier, diesich mit dem Urheberrecht beschäftigen, herzlich will-kommen.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002
Rainer FunkeFrau Ministerin, wir haben Ihre Rede sehr wohlwol-lend entgegengenommen.
Sie haben immerhin erklärt, dass Sie den schlechten Ge-setzentwurf, den Sie hier vorlegen, nachbessern wollen.
Diesen schlechten Gesetzentwurf haben nicht Sie zu ver-antworten. Er ist in der letzten Legislaturperiode von IhrerVorgängerin in den Bundesrat eingebracht worden. DerBundesrat hat dazu ausführlich Stellung genommen – imÜbrigen auch SPD-Länder –, indem gesagt wurde, dass indieser Urheberrechtsnovelle keine klare Linie erkennbar ist.Lassen Sie uns in den nächsten Wochen und Monatendiesen Gesetzentwurf gründlich überarbeiten, damit dieBedürfnisse aller Beteiligten tatsächlich berücksichtigtwerden, und kein Flickwerk machen! Wir sind dazu– auch in ausführlichen Berichterstattergesprächen – be-reit. Darüber haben wir uns schon verständigt. Ich glaube,wir kommen da zu einem guten Ergebnis. Die Umset-zungsfristen im Hinblick auf die entsprechende Richtliniesind sowieso schon abgelaufen. Jetzt kommt es auf dieeine oder andere Woche nicht mehr an.Was die WIPO-Verträge angeht, muss ich Ihnen sagen:Wir sind ohnehin das letzte Land unter den Vertragsstaa-ten, die diese ratifizieren.
Das ist eine Schande; aber es ist nun einmal passiert. Jetztkönnen wir in Ruhe darüber beraten.Es geht um zukunftsweisende Regeln. Diese wollenwir im Interesse unserer Industrie umsetzen.
– Ich komme gleich dazu, Herr Tauss. – Es geht hier nichtum Peanuts, wie man heute sagen würde, sondern um Mil-liardenbeträge.
„Kleine Novelle zum Urheberrecht“ klingt ja recht hübsch.Aber tatsächlich geht es um starke wirtschaftliche Inte-ressen, um Milliardenbeträge.Dazumuss ich sagen, dassSiebislang imRahmenderUr-heberrechtsnovelle das Recht der Nutzer auf Privatkopienund den elektronischen Pressespiegel nicht hinreichendberücksichtigt haben. Wir müssen uns vor Augen führen– das hat der KollegeKrings schon zuRecht gesagt –,
dass Urheberrechte auch Eigentumsrechte sind. Nicht derGesetzgeber sollte über diese Eigentumsrechte verfügen,sondern es muss ein gerechter Interessenausgleich vorge-nommen werden.
Im analogen Bereich, Frau Kollegin, konnten wir Pri-vatkopien natürlich zulassen, weil es die Geräteabgabegegeben hat. Insoweit war ein gewisser Erlös für die Ur-heber vorhanden. Im digitalen Bereich sind die Verhält-nisse anders, deswegen müssen wir auch andere gesetz-liche Regelungen finden.
Lassen Sie uns also gemeinsam an diesem Gesetz arbei-ten!Frau Ministerin, ich teile nicht ganz Ihre Auffassungbezüglich der Individuallizenz. In einem Punkt allerdingssollten wir uns einig sein: Die Zukunft gehört der Indivi-duallizenz und daran sollten wir arbeiten.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dirk Manzewski.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Mitdem vorliegenden Gesetzentwurf wird das Ziel verfolgt,das deutsche Urheberrecht der Entwicklung im Bereichder Informations- und Kommunikationstechnologie an-zupassen. Dies ist insbesondere deshalb notwendig ge-worden, weil es – das ist schon angesprochen worden –mittlerweile aufgrund der digitalen Technologie völligunproblematisch geworden ist, urheberrechtlich ge-schützte Inhalte über ein weltumfassendes Netz binnenkürzester Zeit zu übermitteln und zu verbreiten.Als Grundlage für den Gesetzentwurf diente die bereitsangesprochene EU-Richtlinie, die bestimmte Aspektedes Urheberrechts sowie der verwandten Schutzrechte inder Informationsgesellschaft unter den Mitgliedstaatenharmonisieren will und die wir in deutsches Recht umzu-setzen haben.
Dabei geht es zum einen darum, den Schutz der Rechts-inhaber zu gewährleisten, und zum anderen darum, denVerwertern und Nutzern einen angemessenen Rechtsrah-men vorzugeben, der den Einsatz der neuen Technologienzulässt und die Entwicklungen in der Informationsgesell-schaft fördert.Meiner Auffassung nach – sie unterscheidet sich vonder der Kollegen Funke und Krings – wird der Regie-rungsentwurf dem gerecht.
So enthält er klare Regelungen für die Verwertung von ge-schützten Leistungen im digitalen Umfeld. Zugunsten derUrheber und Leistungsberechtigten wird das so genannteRecht der öffentlichen Zugänglichmachung einge-führt. Damit werden wir verdeutlichen, dass Werke in denelektronischen Medien wie dem Internet nur mit Zustim-mung der Urheber verwertet werden dürfen.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 631
Andererseits werden die so genannten Schranken-regelungen den Erfordernissen des digitalen Zeitaltersangepasst und wird genau bestimmt, in welchen Fällen esUrheber hinnehmen müssen, dass ihre Werke auch ohneihre Zustimmung genutzt werden können. Dies soll ins-besondere da erfolgen, wo die Bundesregierung ohnehineinen Schwerpunkt ihrer Politik legt, nämlich in den Be-reichen Unterricht und Forschung.
Hier können urheberrechtlich geschützte Werke künftigohne Zustimmung der Urheber einem bestimmten, abge-grenzten Bereich von Personen, etwa zur Veranschau-lichung im Unterricht oder zur eigenen wissenschaftli-chen Forschung, zugänglich gemacht werden, wenn– insoweit teile ich die Kritik – dieses am Ende auch et-was enger
als noch im Gesetzentwurf vorgesehen umgesetzt wer-den sollte. Darüber werden wir sicherlich noch redenmüssen.Klargestellt wird zudem – das ist sehr wichtig –, dassauch digitale Privatkopien zulässig sein sollen. Ich haltedas für vernünftig, weil dies der Systematik der Vergan-genheit entspricht. Wer also – die Ministerin hat das Bei-spiel angesprochen – von seiner Lieblings-CD eine Kopiefür den CD-Player im Auto brennen möchte, wird diesauch in Zukunft tun dürfen. Ich weise jedoch darauf hin,dass auch ich hier noch ein wenig Diskussionsbedarfhabe.
Es stellt sich nämlich die Frage, inwieweit in diesem Zu-sammenhang eine Regelung sinnvoll wäre, die solche Pri-vatkopien aus legalen Quellen, also vom eigenen Origi-nal, zulässt. Die Bundesregierung weist zwar zu Rechtdarauf hin, dass dies schwer zu kontrollieren wäre, aberich meine, dass wir darüber noch einmal reden müssen.
Meine Damen und Herren, die grundsätzliche Zuläs-sigkeit von Privatkopien einerseits darf jedoch nicht da-rüber hinwegtäuschen, dass den Rechtsinhabern anderer-seits ebenso zugestanden werden muss – wenn sie dieseben nicht wollen –, sich davor durch technische Maß-nahmen zu schützen. Der Gesetzentwurf ist nicht zuletztdeshalb notwendig geworden, weil es immer häufiger zueiner Verletzung der Urheberrechte gekommen ist, undzwar mit zum Teil erheblichen wirtschaftlichen Nachtei-len für die Betroffenen. Um dies zu verhindern, sind vonden Rechtsinhabern in der Vergangenheit immer wiederneue technische Schutzmaßnahmen getroffen worden.Leider haben diese nicht vor illegaler Umgehung schüt-zen können.
Die Umgehung der zulässigen und wirksamen techni-schen Schutzmaßnahmen soll daher verboten werden.Verstöße hiergegen werden mit einem Bußgeld oder,wenn dies gewerblich erfolgt, sogar mit einer Geld- oderFreiheitsstrafe geahndet werden können.Ich halte es allerdings für richtig – insoweit teile ich dieAuffassung der Ministerin –, den Rechtsinhabern aufzu-geben, dies auf den Produkten deutlich zu kennzeichnen.Der Verbraucher muss wissen, ob er sich von einer ge-kauften CD eine Privatkopie ziehen darf oder nicht, mitall den wirtschaftlichen Konsequenzen, die das für beideBeteiligten bedeuten kann.
Dass durch den Gesetzentwurf ausübende Künstler wieMusiker oder Schauspieler hinsichtlich ihrer Rechtsstel-lung endlich den Urhebern angenähert werden, wird vonmir ebenfalls begrüßt.Lieber Herr Kollege Krings, die Bundesregierung hatdie in diesem Zusammenhang betroffenen Kreise schonfrühzeitig in das Gesetzgebungsverfahren eingebunden.Sie wissen das, wenn Sie die letzte Legislaturperiode ver-folgt haben.
Herr Kollege Funke wird, auch wenn er in anderen Berei-chen anderer Meinung ist, bestätigen, dass das Urheber-recht der Ministerin sehr wichtig war.
Der Gesetzentwurf hat deshalb auch Empfehlungen einerbereits in der vorletzten Legislaturperiode vom Bundes-tag zu diesem Themenbereich eingesetzten Enquete-Kommission sowie ein vom Max-Planck-Institut einge-holtes Gutachten aufgegriffen. Dies gilt ebenso – dashalte ich für wichtig – für die Empfehlungen, die in zweiSachverständigenanhörungen zum Referentenentwurf,im Herbst 2001 und im Frühjahr dieses Jahres, gemachtwurden.Ich beurteile auch die Situation ein wenig anders alsSie: Ich meine, dass von den Verbänden und Institutionenim Großen und Ganzen Zustimmung zu dem Gesetzent-wurf signalisiert wird.
Ähnliches gilt für die Stellungnahme des Bundesrates. ZuDetailfragen habe ich selten eine so politische Stellung-nahme gelesen, die im Grunde genommen wenig von demaufgreift, was man sachlich und fachlich zu dem Gesetz-entwurf sagen könnte.
Ich gehe mit Ihnen insoweit konform, dass wir überDetailfragen sicherlich noch zu diskutieren haben. Ichhalte es aber für richtig, dass die Bundesregierung nichtDirk Manzewski
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002
Dirk Manzewskiallen Empfehlungen folgt und keine weit über die EU-Richtlinie hinausgehende Veränderung des Urheberrechtsvornehmen will. Dafür gibt es zwei Gründe: Zum einensind einige der gemachten Vorschläge, zum Beispiel zurBehandlung von Archivbeständen, auf EU-Ebene nochnicht abschließend diskutiert worden; dem sollte meinerAnsicht nach nicht vorgegriffen werden. Zum anderenwäre es unter Berücksichtigung der vorgesehenen Umset-zungsfrist unsinnig – selbst wenn wir es nicht bis zum Jah-resende schaffen sollten –, bei insoweit noch bestehendenKontroversen im Detail möglicherweise fehlerhafte Ent-scheidungen zu treffen.Nach meiner Auffassung kann die Diskussion überdiese noch strittigen und nicht umsetzungsbedürftigenPunkte auch noch im nächsten Jahr, also nach dem Ge-setzgebungsverfahren, erfolgen.
– Das ist immer Ihr großes Problem: Manchmal sind wir– gerade in der Rechtspolitik – zu schnell, manchmal sindwir zu langsam. Je nachdem, wie es Ihnen gerade passt,Herr Kollege.
In der Rechtspolitik habe ich in den letzten vier Jahren dieErfahrung gemacht, dass wir Sie mit schnellen und durch-dachten Gesetzgebungsverfahren in der Regel überforderthaben. Da muss man wohl durch.
– Lieber Kollege Funke, der Untergang des Abendlandes,den Sie in so vielen Bereichen beschworen haben – ichdenke beispielsweise an die Schuldrechtsreform und dieZivilrechtsreform –, ist nicht eingetreten.
Man darf nicht zu viel Wert auf das legen, was Sie da sosagen.Soweit der Bundesrat in seiner Stellungnahme nocheinmal für den Vorrang von Individualabrechnungenplädiert, bleibt mir nur, wie die Ministerin es getan hat,darauf hinzuweisen, dass die Technologien hierfür nochnicht ausgereift sind. Kollege Funke, ich folge Ihnen inder Tendenz; wir müssen uns auch darüber im Klaren sein,dass das Pauschalvergütungssystem zumindest nicht völ-lig abgeschafft werden kann.
Ich komme zum Schluss. Meine Fraktion wird sich anden anstehenden Beratungen konstruktiv beteiligen.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, ichhoffe, dass Sie es genauso machen werden.Ich danke Ihnen.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe
auf den Drucksachen 15/38 und 15/15 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Werner Hoyer, Jörg van Essen, Günther
Friedrich Nolting, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Rechtssicherheit für die bewaffneten Einsätze
deutscher Streitkräfte schaffen – ein Gesetz zur
Mitwirkung des Deutschen Bundestages bei
Auslandseinsätzen der Bundeswehr einbringen
– Drucksache 15/36 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete van Essen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Den Entwurf, den wir heute debattieren, haben wir bereitszum Schluss der vergangenen Legislaturperiode in denDeutschen Bundestag eingebracht. Wir sind damals nichtzum Ende der Beratungen gekommen. Man kann es auchdeutlicher sagen: Wir konnten erst gar nicht so richtig da-mit anfangen. Trotzdem ist es sehr wichtig, dass wir dieFragen, die wir aufgeworfen haben, debattieren und dasswir zu einer Lösung kommen. Ich glaube, dass die Debatteinsbesondere zeigen wird, dass wir noch eine Menge of-fene Fragen haben, auf die wir Antworten geben müssen.Ich will eine Position klar und deutlich an den Beginnstellen, weil ich mich über eine Bemerkung einer frak-tionslosen Abgeordneten heute Morgen ganz außeror-dentlich geärgert habe. Diese Abgeordnete hat gesagt, wirwollten die Beteiligung des Deutschen Bundestages ander Zustimmung zu den Auslandseinsätzen abschaffen.Das Gegenteil ist der Fall.
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Wir wollen, dass es bei der konstitutiven Zustimmung desDeutschen Bundestages zu den Auslandseinsätzen bleibt.Das hat uns das Bundesverfassungsgericht übrigens ausguten Gründen aufgegeben,
und zwar deshalb, weil die Bundeswehr ganz bewusst alsParlamentsarmee gestaltet ist und es für die Soldatenganz außerordentlich wichtig ist, dass sie ihre zum Teilsehr schwierigen Aufträge jeweils vor dem Hintergrundder Zustimmung des Parlaments – einer großen Mehrheitdes Parlaments – durchführen. Ich will es noch einmalausdrücklich betonen: Wir wollen daran nichts ändern.Trotzdem gehört zur Bestandsaufnahme, die wir jetzt,nach einiger Zeit der Notwendigkeit der Zustimmung zuAuslandseinsätzen durchführen können und müssen, dasswir feststellen, dass es Bereiche gibt, für die wir keinewirklichen Antworten haben. Ich will nur ein Beispiel an-führen: Das Bundesverfassungsgericht hat bestimmteDinge vorgegeben für Einsätze, die ohne Verzug erfolgenmüssen. Wir haben einen solchen Einsatz einmal gehabt,als Geiseln in Tirana befreit werden mussten. Da kann esnicht sein, dass der Deutsche Bundestag zusammenkom-men muss. Da muss es die Möglichkeit einer schnellenEntscheidung und der nachträglichen Zustimmung desDeutschen Bundestages geben.Ich will aber in diesem Zusammenhang nicht ver-schweigen, dass wir bislang keine Klarheit haben – auchnicht in der Geschäftsordnung der Bundesregierung –,wer eigentlich die Anordnung trifft: das Kabinett alsGanzes, der Verteidigungsminister, der Bundeskanzler?Ich fände hier Klarheit gut, weil das auch die Verantwor-tung deutlich macht. Das ist ein Bereich, über den wir unssicherlich unterhalten sollten; denn ich glaube, dass dasein sehr wichtiger Punkt ist.Das genannte Beispiel ausgenommen, haben wir sol-che Einsätze bisher noch nicht gehabt; sie können aber aufuns zukommen. Die Geiselbefreiung in Tirana war ein ge-heimer Einsatz und war sofort und auf der Stelle not-wendig. Es wird aber irgendwann auch Einsätze geben,die geheim zu halten sind und die lange vorbereitet wer-den – eine Woche, 14 Tage –, sodass dann grundsätzlicheine Beteiligung des Deutschen Bundestages möglichwäre. Es kann aber nicht sein, dass wir hier im DeutschenBundestag beispielsweise die Größe des Kontingents derBundeswehr in aller Breite diskutieren, dass wir uns da-rüber auseinander setzen, dass die Bundesregierung diesalles in eine Vorlage schreibt und dass der, der möglicher-weise durch eine geheime Operation überrascht werdensoll, das alles vorher nachlesen kann. Deshalb müssen wiruns Gedanken darüber machen, wie wir das regeln kön-nen.Wir als FDP machen einen Vorschlag und sagen: Wirhaben ja einen Bereich, in dem es eine ähnliche Proble-matik gibt, nämlich den der Nachrichtendienste, der Ge-heimdienste. Wir schlagen Ihnen deshalb vor, ein ähnli-ches parlamentarisches Gremium einzurichten, das, zuBeginn einer Legislaturperiode gewählt, unter Leitungdes Bundestagspräsidenten den Bundestag bei der notwen-digen Zustimmung ersetzt.Dieses geheime Gremium hat im Übrigen noch einenweiteren Vorteil: Dadurch könnte sichergestellt werden,dass das Parlament über fortlaufende geheime Einsätzeunterrichtet werden kann. Ich nenne Ihnen nur ein Bei-spiel: Wir haben aus der Zeitung erfahren, dass es einenneuen Auftrag für das Kommando Spezialkräfte gegebenhat. Das kann natürlich nicht in der Öffentlichkeit ange-sprochen werden. Dieses Gremium wäre, wie ich finde,genau die richtige parlamentarische Grundlage für dieUnterrichtung des Deutschen Bundestages.Wir haben auch keine Klarheit bezüglich der Frage– auch das möchte ich hier ansprechen –: Was ist eigent-lich ein bewaffneter Einsatz? Da gibt es durchaus unter-schiedliche Interpretationsmöglichkeiten. Ich nenne Ih-nen ein Beispiel: Nach einem Erdbeben in Afghanistanerfolgte der Einsatz von Sanitätskräften. Angesichts derSituation in Afghanistan konnten wir die Sanitätskräftenicht ohne Bewaffnung – die so genannte Selbstschutz-komponente – in diesen Auftrag schicken. Ist eine solchehumanitäre Hilfeleistung mit Selbstschutzkomponenteschon ein bewaffneter Einsatz? – Dies hätte zur Konse-quenz, dass alle Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtserfüllt sein müssen. – Oder fallen solche Einsätze in denBereich unterhalb dieser Schwelle? Wir möchten, dassklar geregelt wird, wann ein bewaffneter Einsatz beginnt.Dies dient der Sicherheit der Bundesregierung, der Si-cherheit des Parlaments, aber vor allem der Sicherheit un-serer Soldaten.
Bei der Planung und Vorbereitung eines bewaffnetenEinsatzes können wir meiner Meinung nach etwas fle-xibler sein, als wir dies in der Vergangenheit waren. Wirerleben immer wieder, dass die Bundesregierung erstdann Transportraum anmietet, dass sie erst dann be-stimmte Lokalitäten für die Bundeswehr oder Frachtraumanmietet, wenn die konstitutive Zustimmung des Deut-schen Bundestages im jeweiligen Fall erteilt ist. Ich finde,wir sollten dabei ein bisschen großzügiger sein und demBundesverteidigungsminister die Möglichkeit geben, be-stimmte Planungsschritte vorwegzunehmen, die sichzunächst noch nicht auswirken. Diese wirken sich erstdann aus, wenn die Zustimmung des Deutschen Bundes-tages tatsächlich erfolgt ist und damit Soldaten in den Ein-satz gehen.Gegenwärtig erleben wir es oft, dass beispielsweiseFlugzeuge schon weg sind – diese gibt es nur begrenzt aufdem Weltmarkt – oder bestimmte Plätze wie etwa unzer-störte Gebäude, in denen unsere Soldaten untergebrachtwerden könnten, bereits von unseren Alliierten für ihreZwecke in Anspruch genommen worden sind, sodass un-sere Soldaten in ein Feldlager müssen – und dies in einerschwierigen Umgebung. Es ist notwendig, darüber zusprechen.Meine letzte Bemerkung betrifft die Geschäftsord-nung des Deutschen Bundestages. Das gegenwärtige Ver-fahren orientiert sich an einer parlamentarischen Übung,die dem Gesetzgebungsverfahren nachgebildet wordenist. Wir tun so, als ob es sich um so etwas wie eine ersteLesung handeln würde. Dies ist es aber nicht. Deshalbmöchten wir, dass wir speziell für die Zustimmung zuJörg van Essen
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002
Jörg van EssenAuslandseinsätzen der Bundeswehr einen Abschnitt in dieGeschäftsordnung des Deutschen Bundestages aufneh-men. In diesem könnten auch die Unterrichtungspflichtender Bundesregierung gegenüber dem Parlament näherdargelegt werden.Wir laden Sie ein, über unseren Vorschlag zu sprechen.Ich weiß, dass das eine oder andere durchaus unter-schiedlich gesehen werden kann. Meine Bitte aber ist,dass wir schnell zu einer Lösung kommen. Mich freut,dass uns der Bundesverteidigungsminister wegen unsererAnsätze gelobt hat. Daher glaube ich, dass es eine Ge-sprächsbasis quer durch dieses Parlament gibt.Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christine Lambrecht.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr vanEssen, ich kann Ihnen unsere Gesprächsbereitschaftschon vorab zusagen. Sie können sich auf uns verlassen.Wir werden im Geschäftsordnungsausschuss als wahr-scheinlich federführendem Ausschuss den einen oder an-deren Punkt sicherlich näher beleuchten.Seit dem Fall der Mauer gab es Schritt für Schritt auchaußerhalb der Grenzen Deutschlands Einsätze der Bun-deswehr, so den Einsatz von Sanitätern in Kambodscha,um UNO-Soldaten zu betreuen. Dazu gehört auch derEinsatz von 1992 bis 1996 in der Adria, um das Waffen-embargo durchzusetzen und zu überwachen. Von 1993 bis1995 beteiligten sich Bundeswehrsoldaten an der NATO-Aktion zur Überwachung des Flugverbots über Bosnien.Deutsche Soldaten waren im humanitären Einsatz in So-malia. 4 000 Soldaten beteiligten sich am IFOR-Einsatz inBosnien zur Sicherung des Dayton-Abkommens. WiederJahre später nahmen deutsche Tornadokampfflugzeuge aneinem begrenzten Luftkrieg der NATO gegen Jugoslawienteil. Bundeswehrsoldaten sind zur Unterstützung einerFriedenstruppe im Kosovo und in Mazedonien. Schließlichbeteiligen sich bewaffnete deutsche Streitkräfte auch amKampf gegen den Terrorismus in Afghanistan. Morgenwerden wir hier im Deutschen Bundestag namentlich überdie Fortsetzung dieses Einsatzes in Afghanistan abstim-men.Natürlich beruhte die Entsendung all dieser deutschenKontingente stets auf Beschlüssen des Bundestages. Diesmuss man ganz deutlich sagen. Der Parlamentsvorbe-halt für den militärischen Einsatz von Streitkräften ent-spricht seit 1918 Verfassungstradition. So sollte es – dakann ich Ihnen nur zustimmen – auch in Zukunft bleiben.
Auch wenn vielen von uns die Entscheidung über denEinsatz bewaffneter Streitkräfte im Ausland sehr schwerfällt, möchte ich gerade dafür plädieren, dass diese tiefgreifenden Entscheidungen auch in Zukunft dem Bun-destag vorbehalten bleiben. Diesen Parlamentsvorbe-halt hat das Bundesverfassungsgericht in dem viel zitier-ten Urteil aus dem Jahr 1994 ausdrücklich bekräftigt undwir wollen nicht davon abrücken.Jetzt stellt sich die Frage: Wie ist momentan die verfas-sungsrechtliche Ausgangslage? Das Bundesverfassungs-gericht hat in seinem Urteil aus dem Jahr 1994 entschieden,dass für den Fall eines Einsatzes bewaffneter Streitkräfteim Einklang mit der deutschen Verfassungstradition seit1918 grundsätzlich im Voraus die Zustimmung des Deut-schen Bundestages einzuholen ist. Das ist der konstitutiveGesetzesvorbehalt. Das Zustimmungserfordernis gilt nachAnsicht des Gerichts jeweils für den konkreten Bündnis-fall, unabhängig von der Zustimmung des Parlaments zurabstrakt-generellen Beistandsverpflichtung. Ich führe esetwas ausführlicher aus, denn wenn wir darüber reden,müssen wir wissen, welche Lage wir vorfinden und waswir regeln wollen.Das Handeln der Bundesregierung auf dem Gebiet derauswärtigen Verteidigung muss durchgehend und zuRecht von einer parlamentarischen Kontrolle begleitetwerden. Einzig bei Gefahr im Verzug ist die Bundes-regierung berechtigt, den Einsatz von Streitkräften vor-läufig zu beschließen und an entsprechenden Beschlüssenin den Bündnissen und in internationalen Organisationenohne vorherige Einzelermächtigung durch das Parlamentmitzuwirken und diese vorläufig zu vollziehen. Die Bun-desregierung muss jedoch auch in diesen Fällen das Par-lament umgehend mit dem so beschlossenen Einsatzbefassen. Bei dieser besonderen Fallgestaltung wären dieStreitkräfte zurückzurufen, wenn der Bundestag es ver-langt. Im Übrigen hat der Bundestag über die Einsätzebewaffneter Streitkräfte nach Maßgabe des Art. 42 Abs. 2Grundgesetz, also mit Mehrheit, zu entscheiden.Dieser Zustimmungsvorbehalt verleiht dem Bundestagallerdings keine Initiativbefugnis.Auch darüber sind wiruns einig. Das heißt, der Bundestag kann lediglich einemvon der Bundesregierung beabsichtigten Einsatz seineZustimmung versagen oder ihn, wenn er ausnahmsweiseohne seine Zustimmung schon begonnen hat, also bei Ge-fahr im Verzug, unterbinden. Er kann aber nicht die Re-gierung zu solch einem Einsatz der Streitkräfte verpflich-ten. Auch darüber müssten wir sprechen.Die Frage des Rückholrechts während eines laufendenund vom Bundestag bereits gebilligten Streitkräfteeinsat-zes ist, das muss ich zugeben, nicht abschließend geklärt.Auch darüber sollten wir uns Gedanken machen.
– Es kommt darauf an, wen Sie als herrschend ansehen.Der verfassungsrechtlich geforderte Parlamentsvorbe-halt gilt also ungeachtet näherer gesetzlicher Ausgestal-tung unmittelbar kraft Verfassung. Bundesregierung undBundestag haben natürlich die Möglichkeit, ein Gesetz zuerlassen, das eine förmliche parlamentarische Beteiligungan der Entscheidung über militärische Einsätze näher aus-gestalten kann. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen,wenn wir schon unsere Rechte und Pflichten näher defi-
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niert wissen wollen, dann sollten wir dieses Anliegen ge-rade nicht an die Bundesregierung delegieren, sondern esselbst übernehmen, falls möglich, mit einem interfraktio-nellen Antrag.
Damit hätten wir natürlich auch eine Grundlage, auf der wiralle stehen könnten, und es wäre ein noch besseresSignal der Rechtssicherheit an die Soldatinnen und Solda-ten. Über den Regelungsbedarf wäre dann im federführen-den Ausschuss, vermutlich also im Geschäftsordnungsaus-schuss, zu beraten und zu beschließen, woran wir uns gernkonstruktiv beteiligen. Das habe ich Ihnen schon zugesagt.Inhaltlich habe ich bei einigen Punkten Ihres Antragsallerdings Bedenken.
Er erscheint mir nicht ganz ausgereift. So bedarf meinerMeinung nach die Frage, ob die Delegation parlamenta-rischer Befugnisse auf andere Gremien möglich und sinn-voll ist, einer gründlichen verfassungsrechtlichen Prüfung.Die in Ihrem Antrag verlangte Kanzlermehrheit würdeeine Verfassungsänderung voraussetzen, denn nach demso genannten Adria-Beschluss des Bundesverfassungs-gerichts hat der Bundestag über Einsätze nach Art. 42Abs. 2 Grundgesetz zu entscheiden, das heißt mit derMehrheit der abgegebenen Stimmen, soweit diesesGrundgesetz nichts anderes bestimmt. So ist es derzeit.Wollten wir also die Kanzlermehrheit, müssten wir dieVerfassung ändern. Dann muss man sich fragen: Wollenwir das wirklich? Müssen wir das wirklich? Oder verfolgtman nicht vielleicht sogar den Zweck, Rot-Grün das eineoder andere Mal vermeintlich vorführen zu können, wennwir diese Kanzlermehrheit nicht zustande bringen? Ichkann Ihnen aber versichern: Wir von Rot-Grün stehen hin-ter unserer rot-grünen Regierung und werden die Kanz-lermehrheit auch morgen früh wieder zustande bringen.Zum Schluss möchte ich sagen: Wir stehen nicht nurhinter unserer rot-grünen Bundesregierung, sondern vorallem auch hinter unseren Soldatinnen und Soldaten imAusland,
die auch ohne ein solches Gesetz derzeit keine Rechts-unsicherheit befürchten müssen.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Thomas Kossendey.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Zuerst herzlichen Dank, Frau Kollegin Lambrecht, dassSie Gesprächsbereitschaft signalisiert haben. Ich glaube,das ist eine ganz wichtige Sache, die wir in den letztenJahren bei vielen Fragen nicht immer erlebt haben.
Für uns ist wichtig, dass das, was der Kollege vanEssen eingangs seiner Rede gesagt hat, auch in ZukunftBestand hat: Die Bundeswehr ist seit ihrem Bestehen eineParlamentsarmee, das heißt, dass jeder von uns Verant-wortung für den Einsatz der Soldatinnen und Soldatenträgt, egal ob er gerade in der Opposition ist oder viel-leicht morgen in der Regierung sein wird. Das war in derVergangenheit so und das soll auch in Zukunft so bleiben.Die Frage ist nur, wie und auf welche Weise wir diese Ver-antwortung wahrnehmen. Das Spektrum der Wahrneh-mung der Verantwortung ist ja ziemlich groß: Die einenim Parlament fühlen sich als Ersatzfeldherr, während dieanderen ungefragt ihre Verantwortung bei der Regierungabgeben möchten. Ich glaube, dass es unsere Aufgabe ist,zwischen diesen beiden Positionen einen vernünftigenWeg zu finden.Das Bundesverfassungsgericht hat uns dazu einigesaufgetragen. Ich möchte das für diejenigen Kolleginnenund Kollegen, die die einschlägigen Bundesverfassungs-gerichtsurteile nicht ständig im Kopf haben, noch einmaldeutlich machen. Das Bundesverfassungsgericht hat inseiner Entscheidung von 1994 festgestellt:Es ist Sache des Gesetzgebers, die Form und dasAusmaß der parlamentarischen Mitwirkung näherauszugestalten. Je nach dem Anlass und den Rah-menbedingungen des Einsatzes bewaffneter Streit-kräfte sind unterschiedliche Formen der Mitwirkung– des Parlaments –denkbar. Insbesondere im Hinblick auf unterschied-liche Arten der Einsätze, vor allem bei solchen, diekeinen Aufschub dulden oder erkennbar von geringerBedeutung sind, empfiehlt es sich, den Zeitpunkt unddie Intensität der Kontrolle des Parlaments näher zuumgrenzen.Ich glaube, man wird im Großen und Ganzen sagen kön-nen, dass sich das, was wir in der Vergangenheit prak-tiziert haben, bewährt hat. Wir schicken seit zehn Jahren– davon vier Jahre unter Rot-Grün – Soldatinnen und Sol-daten in internationale Einsätze. Man kann sagen, dass dieRegelungen, die wir im Parlament aufgrund des Bundes-verfassungsgerichtsurteils vereinbart haben, uns selten ge-hindert haben, Soldaten in Einsätze zu schicken.Man muss allerdings auch feststellen, dass es Schwach-stellen gibt. Kollege van Essen hat einige aufgezeigt. Ichmöchte das gerne ergänzen, damit wir Stoff für die Ge-spräche haben, die Frau Lambrecht angekündigt hat. DerBeirat für innere Führung hat gerade im letzten Jahr einGutachten herausgegeben – es ist dem Verteidigungsaus-schuss zur Verfügung gestellt worden –, in dem er sehrdeutlich festgestellt hat, dass eines der Hauptproblemedarin besteht, die Soldaten möglichst früh und genau überArt, Zeitraum und Auftrag ihres Einsatzes zu informieren.Genau das ist eines der wichtigen Probleme, die wir Par-lamentarier haben: Die Vorgesetzten der Soldaten, derChristine Lambrecht
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Thomas KossendeyMinister, die Hardthöhe, können erst dann präzise infor-mieren, wenn das Parlament einen entsprechenden Be-schluss gefasst hat; denn vorher sind ihnen ja die Händegebunden. Wir selbst sind also die Hauptursache für die-ses Dilemma; denn ohne dass wir über einen Auslands-einsatz endgültig entschieden haben, können in derTruppe weder vorbereitende Aktivitäten entfaltet werdennoch Informationen mitgeteilt werden.Wir haben uns allerdings in den letzten Jahren zuneh-mend daran gewöhnt, dass dieser zeitliche Ablauf, den dasBundesverfassungsgericht vorgegeben hat, durch diePraxis der Regierung und des Parlamentes zugunsten ei-ner effektiven Einsatzmöglichkeit unserer Soldaten still-schweigend unterlaufen wird. Es gibt aber auch gegen-teilige Beispiele. Ich erinnere an den Einsatz unsererSoldaten in Mazedonien. Damals haben wir im Parlament– ich formuliere das vorsichtig – so lange diskutiert bzw.hatte sich der Entscheidungsgang zwischen Exekutiveund Regierung bzw. Parlament so verlangsamt, dass un-sere Soldaten, als sie in Mazedonien eintrafen, feststellenmussten, dass ein Großteil der Waffen, die sie eigentlicheinsammeln sollten, schon von den NATO-Partnern ein-gesammelt worden waren. Das kann eigentlich nicht imInteresse der Bündnisfähigkeit unseres Landes sein.Lassen Sie mich noch das Beispiel ergänzen, das derKollege van Essen genannt hat. Als unsere Luftlande-brigade 31 in Kabul tätig war, gab es just zu dieser Zeitein dramatisches Erdbeben in Afghanistan. Unsere Solda-ten sind dann, ohne auf ihr Mandat zu achten, weit nachAfghanistan hineingefahren, um den dort lebenden Men-schen zu helfen. Das haben wir alle begrüßt. Aber wir ha-ben auch stillschweigend hingenommen, dass das jenseitsder Grenzen des Mandates war. Was wäre wohl passiert,wenn ein Wagen auf dem Weg dorthin auf eine Mine ge-fahren wäre? Was wäre wohl passiert, wenn ein Wagendas Zielobjekt von Taliban geworden wäre? Das hat Ge-neral von Butler auf seine eigene Kappe genommen. Ichweiß nicht, ob wir alle bereit gewesen wären, diesenaußermandatsmäßigen Einsatz hier zu billigen.Ich will nun einen weiteren Punkt nennen, einen Punkt,der meiner Meinung nach zu wenig beachtet worden ist.Die Bundeswehr wird, wie das in der Vergangenheit derFall war, ihre internationalen Einsätze auch in Zukunftnur im Rahmen der Vereinten Nationen, der OSZE, derNATO oder künftig auch der EU oder von anderen Koali-tionen durchführen. Das heißt, wir werden mit unserenSoldaten in internationale Verflechtungen eingebundenwerden, aus denen wir uns nur sehr schwer herauslösenkönnen, wenn wir im Bundestag eine andere Entschei-dung treffen sollten. Diese internationale Verflechtungunserer Soldaten muss bei den Entscheidungsverfahrenvielmehr berücksichtigt werden. Gerade jetzt bei der zurDiskussion stehenden NATO-Response-Force wird daswichtig sein. Minister Fischer hat heute Morgen zwar ge-sagt, dass erst der NATO-Rat und darauf folgend das Par-lament beschließen müssen und dass erst dann unsere Sol-daten in den Einsatz gehen könnten. Ich glaube, er irrthier; der reale Ablauf dieser Dinge sieht anders aus. Einsolcher Fall wird wesentlich schneller und intensiver aufuns zukommen, als wir ihn im Augenblick mit unserenschwerfälligen Verfahren bewältigen könnten.Wir werden schnell in ein Dilemma geraten. Solltenämlich eines Tages der NATO-Rat oder ein Gremium derEU beschließen, ein Verband der EU oder der NATOwerde in einem bestimmten Gebiet eingesetzt, und unserVertreter in diesem Gremium hat zugestimmt, dann stehenwir vor einer Situation, die wir alle uns nicht wünschen:Entweder wir lassen den Vertreter mit seinem Ja im Re-gen stehen oder wir müssen einen Entschluss fassen, denwir vielleicht nicht fassen wollen. Solch eine Entschei-dung kann sich kein Abgeordneter wünschen, in eine Si-tuation gebracht zu werden, in der er nur mit Nein stim-men kann und damit einen außenpolitisch großenSchaden für unser Land hinnehmen muss.Noch schwieriger wird die Lage, wenn unsere Solda-ten in internationalen Verbänden bestimmte Aufgabenwahrnehmen, die von anderen nicht wahrgenommen wer-den können. Dann kann am Veto des Bundestages unterUmständen ein internationaler Einsatz scheitern. Ichglaube nicht, dass das die Bündnisfähigkeit und die Ko-alitionsfähigkeit unseres Landes stärken würde.Es gibt also viele gute Gründe, den Antrag der Freien De-mokraten in den zuständigen Ausschüssen ausführlich undernsthaft zu beraten. Wir sollten das ohne parteipolitischeSchranken tun. Ich bin dankbar dafür, dass sich sowohl derVerteidigungsminister vor einiger Zeit sehr positiv zu die-sem Antrag geäußert hat als auch in der Vergangenheit man-cher sozialdemokratische Abgeordnete. Kollege Zumkleyzum Beispiel hat darüber im letzten Jahr intensive Überle-gungen angestellt. Frau Lambrecht, herzlichen Dank dafür,dass Sie das so ausführlich dargestellt haben.Für unsere Soldaten im Einsatz wäre es sehr schwerverständlich, wenn vernünftige Regelungen dieser Ein-sätze, die wir zu breiten Teilen in diesem Parlament wün-schen, nur deswegen nicht zustande kämen, weil die Grü-nen in den Koalitionsverhandlungen durchgesetzt haben,dass dieses Thema nicht auf die Tagesordnung kommt. Ichglaube, das darf nicht sein. Deswegen möchte ich ab-schließend feststellen: Keinem Parlamentarier würdedurch eine Änderung der Verfahren irgendein Recht ge-nommen werden. Es müssen aber Möglichkeiten gefun-den werden, unter Beachtung der Grenzen des Urteils desBundesverfassungsgerichts von 1994 sowohl den außen-politischen Interessen unseres Landes als auch den ganzkonkreten Sicherheitsinteressen unserer Soldatinnen undSoldaten gerecht zu werden. Wenn dies das Ergebnis die-ses Gespräches sein sollte, dann, glaube ich, können un-sere Soldaten auf dieses Parlament stolz sein. Das wäreein gutes Ziel.Schönen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Winfried Nachtwei.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Auslandseinsätze der Bundeswehr sind kein Mittel der
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Politik wie viele andere, sie sind in der Regel besondersteuer, sie sind riskant und deshalb auch besonders be-gründungsbedürftig. Auch wenn es für uns immer ummultilaterale Einsätze geht, so ist zugleich klar, dass dieEntscheidung über eine deutsche Beteiligung an multi-lateralen Maßnahmen zur Krisenbewältigung nicht inNew York, nicht in Washington und nicht in Brüssel fällt.Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom12. Juli 1994 klargestellt, dass diese Verantwortung nichtallein der Bundesregierung überlassen werden darf. Esist vielmehr der Deutsche Bundestag, der konstitutivüber den Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte zuentscheiden hat.
Die parlamentarische Entscheidungshoheit über denEinsatz der Streitkräfte ist eine fundamentale demokra-tische Errungenschaft. Der konstitutive Parlamentsvorbe-halt ist nicht nur verfassungsrechtlich vorgeschrieben,sondern auch politisch überaus sinnvoll.
Er gewährleistete bisher eine besonders intensive parla-mentarische Beratung und trug, so meine ich, immer zueiner verantwortlichen Entscheidungsfindung und breitenKonsensbildung im Parlament und in der Gesellschaft bei.
Der Parlamentsvorbehalt ist zugleich Eckstein der mi-litärpolitischen Zurückhaltung der Bundesrepublik, dersich, so glaube ich, weiterhin alle Fraktionen verpflichtetfühlen.Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von1994 haben wir umfassende Erfahrungen mit den ver-schiedensten Arten von Auslandseinsätzen der Bundes-wehr gemacht. Man kann wirklich sagen: Keiner war demanderen gleich. Dabei ergaben sich zugleich bestimmteAnforderungen. Die wichtigste Anforderung an die Recht-mäßigkeit von Auslandseinsätzen ist selbstverständlichihre völkerrechtliche Legalität. Diese war bei der Betei-ligung der Bundesrepublik an den NATO-Luftangriffenauf die Bundesrepublik Jugoslawien strittig. Es bestandund besteht in diesem Haus aber auch ein breiter Konsensdarüber, dass das Übel der Nichtmandatierung durch denVN-Sicherheitsrat nicht als Präzedenzfall, sondern alsAusnahme in einem Wertekonflikt und bei Bestehen einervölkerrechtlichen Regelungslücke verstanden werdenmuss.
Die Bundesregierung hat bewiesen, dass sie eine ein-deutige völkerrechtliche Legitimation seitdem immer zurVoraussetzung für Auslandseinsätze macht. Deshalb hatsie auch immer eine Mandatierung durch den VN-Sicher-heitsrat angestrebt.Neue Fragen ergeben sich allerdings bei der militä-rischen Bekämpfung des Terrorismus.Mit den einschlä-gigen Resolutionen, mit denen er das naturgegebeneRecht zur individuellen und kollektiven Selbstvertei-digung bekräftigte, gab der UN-Sicherheitsrat eine ArtEinstiegslegitimation. Immer deutlicher stellt sich aberdie Frage nach den Grenzen dieses Selbstverteidigungs-rechts. Wenn zum Beispiel das Recht beansprucht wird,zu jeder Zeit und an jedem Ort gegebenenfalls mitPräemptionsangriffen gegen die terroristische Bedrohungvorzugehen, wird das völkerrechtliche Gewaltverbot derUN-Charta unterhöhlt und seine Beachtung de facto indas Belieben der Stärksten gestellt.Laut Urteil des Bundesverfassungsgerichts liegt einEinsatz bewaffneter Streitkräfte dann vor, wenn Bundes-wehrsoldaten in – Zitat – „bewaffnete Auseinanderset-zungen einbezogen werden können“. Beobachtermissio-nen, wie zum Beispiel in Georgien, oder unbewaffneteHilfseinsätze, wie vor einiger Zeit bei der Flutkatastrophein Mosambik, fallen eindeutig nicht darunter.Abgrenzungsprobleme gibt es aber in der Tat beiHilfseinsätzen mit Selbstschutzkomponente – Herr vanEssen hat den Fall Afghanistan angesprochen – sowie beibewaffneten Erkundungs- und Vorauskommandos.
In dem Bereich der vorbereitenden Maßnahmen und vorallem dann, wenn bewaffnete Streitkräfte sehr schnell ent-sandt werden sollen, gibt es sicherlich Klärungsbedarf.Das wird zurzeit vor allem im Kontext des US-VorschlagseinerNATO-Response-Force diskutiert. Bei der Klärungdieser Fragen ist allerdings zweierlei zu berücksichtigen:Erstens darf der konstitutiven Befassung des Bundes-tages nicht vorgegriffen werden; sie darf nicht präjudiziertwerden.Zweitens sind die Erfahrungen mit VN-Friedensmis-sionen zu bedenken, wonach eine zügige Einsatzbereit-schaft der nationalen Kontingente und dabei – das sageich ausdrücklich und ich betone es – der militärischen, po-lizeilichen und zivilen Komponenten entscheidend fürihre Wirksamkeit ist.Die aktuelle Diskussion um die Schnellst-Einsatzbe-reitschaft einer NATO-Response-Force und die An-führung angeblicher Probleme, die sich aufgrund der bis-herigen Parlamentsbeteiligung ergeben hätten, scheinenmir allerdings weitgehend an der Sache vorbeizugehen. InNot- und Rettungseinsätzen ist in der Tat eine Entsendungin kürzester Zeit notwendig. Wenn es auch keine ganzklare Regelung gibt, so gibt es doch zumindest eine ge-wisse abgesicherte Praxis. Bei allen anderen umfassendenKriseneinsätzen sind das Vorliegen einer politischen Kon-zeption, die Abstimmung unter Partnern und die Flankie-rung durch nicht militärische Fähigkeiten unverzichtbar.Das braucht selbstverständlich eine gewisse Zeit. Ichmeine, diese Zeit reicht allemal auch für eine fundierteBeteiligung des Bundestags.Die Streitkräfte und das Regierungshandeln in mi-litärischen Fragen unterliegen immer einer besonderenparlamentarischen Kontrolle durch den Verteidigungsaus-schuss, den Wehrbeauftragten und aufgrund des Budget-rechts des Parlaments. Der Einsatz von Spezialkräftenerfordert eine besondere Geheimhaltung. Spezialsoldatenagieren praktisch immer verdeckt und auch in so genann-ten unkonventionellen Einsätzen, bei denen sich die Fragestellen kann, wie dabei die Regeln des Kriegsvölkerrechtseingehalten werden können.Winfried Nachtwei
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Winfried NachtweiIn der vorigen Legislaturperiode war meiner Erfahrungnach eine parlamentarische Kontrolle von Spezialeinsät-zen de facto nicht gewährleistet.
In der Koalitionsvereinbarung ist deshalb ausdrücklichfestgehalten worden, dass die parlamentarische Kontrollevon Spezialeinsätzen gewährleistet werden muss. Nachmeiner bisherigen Erfahrung in dieser Legislaturperiodeerfolgt die Unterrichtung des Parlaments über die Obleuteordnungsgemäß. Nichtsdestoweniger meine ich, dass wirweiter darüber diskutieren sollten, ob in diesem Zusam-menhang nicht doch eine der Geheimdienstkontrolle ver-gleichbare Einrichtung des Parlaments angebracht wäre.Zur politischen Kontrolle der Auslandseinsätze gehörtauch ihre regelmäßige politische Bewertung. Hierzuwurden vor allem im Rahmen von Enduring Freedom er-hebliche Fortschritte gemacht. Durch Vorlage eines zwei-ten bilanzierenden Gesamtberichts der Bundesregierungzur deutschen Beteiligung an Enduring Freedom ist dasParlament nun in ganz anderer Weise in der Lage, zu be-urteilen, wie wirksam dieser Einsatz tatsächlich war.Angesichts dieser Debatte meine ich, dass wir mit derKlärung der heute angesprochenen und zum Teil noch of-fenen Fragen gut vorankommen können.Danke schön.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Schockenhoff.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir sind uns offensichtlich über alle Fraktionen des Hau-ses hinweg darüber einig, dass in bestimmten Fragen Re-gelungsbedarf besteht. Ich gehe davon aus, dass wir dieseFragen auch ziemlich ähnlich bewerten. Deswegen be-grüße ich die Initiative der FDP-Fraktion und bin nachdem bisherigen Verlauf der Debatte der Überzeugung,dass wir zu einvernehmlichen Regelungen kommen wer-den.Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts legt eindeu-tig fest, wer konstitutiv über Einsätze zu entscheiden hat,wer das Initiativrecht hat und wer die Umstände derEinsätze bestimmt. In dem Antrag wird zu Recht daraufverwiesen, dass im Urteil des Bundesverfassungsgerichtsund seiner Begründung die Frage offen bleibt, was unterdem Einsatz bewaffneter Streitkräfte zu verstehen ist.Ich meine aber, dass das Bundesverfassungsgericht diegenaue Definition oder Kategorisierung von Einsätzennicht aus Nachlässigkeit unterlassen hat, Herr van Essen,sondern dass es aus gutem Grund so gehandelt hat, weilsich nämlich alle Einsätze voneinander unterscheiden.Der Kollege Kossendey hat darauf hingewiesen, dasswir seit mehr als zehn Jahren Erfahrungen mit der parla-mentarischen Befassung mit diesem Thema gesammelthaben. Aber bisher unterschied sich jeder einzelne Einsatzin seinem Charakter, seinen Risiken und auch hinsichtlichder jeweiligen Umstände von den anderen Einsätzen.Deswegen stehe ich der in dem Antrag enthaltenen For-derung, in einem Gesetzentwurf zu definieren, was unterdem Begriff „Einsatz bewaffneter Streitkräfte“ zu verste-hen ist, skeptisch gegenüber.Sie haben eine Unterscheidung zwischen zwölf Son-derfällen einschließlich des Einsatzes regulärer Streit-kräfte vorgeschlagen, die noch erweitert werden kann.Aber gerade das von Ihnen, Herr van Essen, genannte Bei-spiel der Bundeswehr-Mission in Afghanistan, die plötz-lich zur Erdbebenhilfe herangezogen wurde, zeigt, dassdiese Einsätze im Zweifelsfall in keine bestimmte Kate-gorie hineinpassen. Dies kann auch dann eintreten, wennwir einen relativ langen Katalog von bestimmten standar-disierten Einsatzmöglichkeiten vorsehen. Wenn die Ein-satzmöglichkeiten zu genau definiert sind und der Falleintritt, dass sich der Charakter oder die Umstände desMandats oder die Situation, in der dieser Einsatz stattfin-det, verändern: Muss sich dann der Bundestag damit er-neut befassen? Kommen wir dann nicht eher in Schwie-rigkeiten?Völlig zu Recht heißt es in dem Antrag, dass wir vor al-lem bei der Planung und Vorbereitung auch den zeitlichenAblauf der Beratungen optimieren müssen. Das ist si-cherlich richtig. Dies gilt auch für Erkundungsmissionen.Wir werden morgen über die Verlängerung von EnduringFreedom diskutieren und abstimmen. Herr Nachtwei, Siehaben völlig Recht: Dazu gehört auch eine politische Be-wertung, die wir für jedes Mandat und auch für eine Man-datsverlängerung öffentlich und damit im Plenum vor-nehmen müssen.Als wir vor einem Jahr Enduring Freedom beraten undbeschlossen haben, waren zur selben Zeit Soldaten schonin Kuwait, um sich vor Ort sachkundig zu machen. Abersie waren dort nicht in Uniform, sondern in Zivil. Sie ha-ben deshalb zu manchen Informationen und zu manchenStellen in Kuwait überhaupt keinen Zugang gehabt. Daswar ineffektiv und im Grunde genommen für die Soldatenunwürdig. Deshalb spricht vieles dafür, der Bundesregie-rung für eine Erkundungsmission zur Vorbereitung undPlanung eines Einsatzes mehr Spielraum zu lassen odersie nach Vorliegen eines Kabinettsbeschlusses schon vorder Befassung der Gremien oder des gesamten Parlamen-tes handlungsfähiger zu machen.
– Gerade deswegen, Herr van Essen, glaube ich nicht,dass wir einen Einsatz genau definieren und in bestimmteSchubladen einsortieren können, weil im Zweifelsfallkeine Schublade passt.Auf jeden Fall muss eine Wehrpflichtarmee immer eineParlamentsarmee bleiben. Aus diese Grunde ist schon zuRecht gesagt worden, dass die Information und die Be-schlussfassung des Bundestages nur dann in einem Ge-heimgremium stattfinden sollten, wenn dies aus Sicher-
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heitsgründen unabdingbar ist. Dies darf aber nicht die Re-gel werden.
Wir dürfen jedenfalls nicht sagen: Eine Behandlungin einem Gremium ist manchmal weniger mühsam undvon der Geschäftsordnung einfacher zu handhaben. Diesgilt ebenso für Zeiten, in denen es mit der parlamentari-schen Planung nur schwer in Einklang zu bringen ist,oder auch dann, wenn wir uns an Feiertagen zu Hauseaufhalten und nicht im Plenum sind. – Zu diesen Argu-menten sage ich: Jeder Einsatz ist gefährlich und setztdie Soldaten Risiken aus. Deswegen muss jeder Einsatz– ich komme noch einmal auf Sie zurück, Herr Nachtwei –,wenn er nicht unabdingbar in einem Geheimgremiumberaten werden muss, öffentlich bewertet und begründetwerden. Daher muss die Behandlung im Plenum die Re-gel bleiben. Wir müssen die Verbesserungen, die derRegierung mehr Handlungsspielraum geben, und auchsolche, die uns in die Lage versetzen, dies in der Ge-schäftsordnung leichter handhabbar zu machen, mitei-nander verbinden.Dazu ist die Initiative geeignet. Dafür finden wir überdie Fraktionen hinweg bestimmt gute Regeln.Danke.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulrike Merten.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Kollege van Essen, es ist ganz unzweifelhaft, dassunsere Soldaten bei den Auslandseinsätzen der Bundes-wehr einen Anspruch auf Rechtssicherheit haben. Aber esist auch unzweifelhaft, dass diesem Anspruch bereitsjetzt, wie ich finde, gründlich Rechnung getragen wird.
Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom12. Juli 1994 ist klar, dass die Bundesregierung vor einerdeutschen Beteiligung an einem bewaffneten Einsatz dieZustimmung des Deutschen Bundestags einholen muss.Das ist auch die Praxis, die wir nun schon viele Jahreüben.Entscheidend dabei ist, dass sich durch die Notwen-digkeit der konstitutiven Zustimmung die Regierung unddas gesamte Parlament gleichermaßen für die Bundes-wehr verantwortlich fühlen. Die Bundeswehr – das betoneich – darf niemals zum Werkzeug einer Regierungsmehr-heit, gleich welcher Couleur, werden.
Heute unterstützen deutsche Soldaten eine Friedens-truppe im Kosovo und in Bosnien-Herzegowina. ImMazedonien-Einsatz hat sich die Bundeswehr hohe Aner-kennung im In- und Ausland erworben. Im Rahmen derUN-Friedensmission haben sich unsere Streitkräfte alswesentliche Stütze der Strategie von Stabilisierung undFriedenssicherung in Afghanistan erwiesen. Ohne dieseengagierte Arbeit wäre der Friedensprozess so nicht mög-lich gewesen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich aufFolgendes hinweisen: Der Deutsche Bundestag hat inder 14. Wahlperiode 17-mal über Auslandseinsätze abge-stimmt. Bis zum Jahresende wird sich das Parlament indieser neuen Legislaturperiode viermal mit Auslands-einsätzen befasst haben. Schon morgen früh stimmen wirnamentlich über die Fortsetzung unserer Beteiligung anEnduring Freedom ab. Über die zeitliche Nähe der Ein-bringung Ihres Antrags und der Mandatsverlängerung binich – das sage ich ganz deutlich – ein bisschen unglück-lich. Wir sollten jeden Eindruck vermeiden, dass es einenunmittelbaren Zusammenhang gibt und das Parlament inseinen Rechten beschnitten werden soll.Gleichwohl sollten wir Gelegenheit nehmen, uns auchdie Zeit nehmen, über die Empfehlung aus dem Urteil desBundesverfassungsgerichts nachzudenken. Ich brauchedas jetzt nicht noch einmal zu zitieren; Sie haben dasschon an verschiedenen Stellen getan. Ich will aber nocheinmal hervorheben, dass das Verfassungsgericht uns dieGestaltung überlassen hat. Es hat dafür weder ein zwin-gendes Gebot aufgestellt noch eine Frist gesetzt. Insoferngibt es keinen unmittelbaren Entscheidungsdruck.Heute, nach mehr als zehn Jahren Einsatzerfahrungund auch vor dem Hintergrund der sehr praktischen Er-fahrungen, die unsere Soldaten in der Vorbereitung vonMandaten machen, ist es meines Erachtens angezeigt, da-rüber nachzudenken – das ist auch schon an vielen Stellengesagt worden –, welche tatsächlichen Probleme sich zwi-schen Bundestag und Bundesregierung bei konkretenEinsätzen bewaffneter Streitkräfte ergeben haben. Zuwelchem Schluss wir auch immer kommen: Grundlagebleibt unsere Verfassung. Daran hätte sich auch ein Par-lamentsbeteiligungsgesetz unter allen Umständen zu ori-entieren. Das ist wichtig zu wissen, auch für diejenigen,die erst jetzt in die Debatte einsteigen und die glauben,hiermit solle das Parlament möglicherweise wichtigerRechte enthoben werden.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die bisherallenfalls kurz angedachten, keineswegs aber ausführlichdiskutierten Fragen von großer Komplexität sind. Sie be-dürfen meines Erachtens zunächst einer intensiven juris-tischen und politischen Analyse. Dabei ist umfassend zuuntersuchen, welche offenen Fragen tatsächlich bestehen,ob zwingend etwas neu geregelt werden muss und wiedies sachgerecht geschehen könnte. Wenn wir zu einerÄnderung kommen, dann sollte es unser gemeinsamesDr. Andreas Schockenhoff
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Ulrike MertenZiel sein, die Rechtslage so zu gestalten, dass sie auchüber einen längeren Zeitraum Bestand hat.
Dies kann meiner Ansicht nach nur gelingen, wenn wiruns über die offenen Fragen und über einen Lösungswegverständigen können. Dafür brauchen wir einen breitenKonsens über die Fraktionsgrenzen hinweg. Der Antragder FDP kann als ein Beitrag zu der Debatte verstandenwerden, an deren Anfang wir erst stehen. Ich habe denEindruck, dass wir auf einem guten Wege sind.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian Schmidt.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Bei so viel Konsens neigt man fast dazu,diesen Antrag noch heute Abend verabschieden zu wollen.
– Kollege van Essen, diese Reaktion wollte ich einfachnur hören, damit Sie nicht auf die Idee kommen – Sie wür-den es nicht tun –, sich jetzt schon fälschlicherweise indem Gefühl einer sicheren Mehrheit zu wiegen. Wir ha-ben festgestellt, dass dieser Punkt im Koalitionsvertrag,den wir alle aufmerksam gelesen und archiviert haben,nicht enthalten ist, obwohl wir das eigentlich erwartet ha-ben. Da der Koalitionsvertrag in so vielen Punkten zwi-schenzeitlich schon überholt ist, ergibt sich hier vielleichtdie Möglichkeit, eine positive Entwicklung anzustoßen.Vorneweg möchte ich Folgendes sagen: Ich bin schonsehr dankbar dafür – das möchte ich unterstreichen –, dasswir tatsächlich einen Konsens haben. Der Deutsche Bun-destag hat im Vergleich zu den anderen ParlamentenEuropas, vielleicht sogar der Welt – ich sage das, obwohlich diesbezüglich keinen vollkommenen Überblick habe –die stärkste Stellung, was die Zulassung der Beteiligungder Streitkräfte des eigenen Landes an militärischen an-geht. Die Tweede Kamer in den Niederlanden hat ein ge-wisses Entscheidungsrecht. Wir kennen aus den USAdenso genannten War Powers Act. Er ist im Wesentlichen einRückholrecht bzw. Befristungsrecht. Er ist nicht gleich-zusetzen mit dem Gebot der Zustimmung der Konstitu-tive, das unser Bundesverfassungsgericht in einer – sehrlobenswerten – Entscheidung formuliert hat. Wenn manganz ehrlich ist, dann muss man einräumen: Das Verfas-sungsgericht hat dabei im Wege der Rechtsschöpfung ge-arbeitet.Frau Kollegin, Sie haben auf das Zitat aus dem Jahre1918 hingewiesen. Das, was da gesagt worden ist, istnatürlich auch ein Teil der Rechtfertigung des Verfas-sungsgerichts gewesen, als es darum ging, eine in sichschlüssige, kluge Entscheidung zu treffen. Mit dieser Ent-scheidung ist es dem Bundesverfassungsgericht gelun-gen, einen offensichtlichen Streit, den wir nun einmal hat-ten und der eigentlich nicht zielführend war, vernünftig zubeenden. Sedes materiae ist nicht Art. 87 a des Grund-gesetzes. Die Problematik des Einsatzes deutscher Streit-kräfte im Ausland bleibt bestehen. Sedes materiae ist aberauch nicht Art. 24 des Grundgesetzes. Die Entscheidungdes Bundesverfassungsgerichts ist aus der Verfassung he-raus entwickelt worden. Sie knüpft an einer Rechtsvor-stellung an, die ein starkes Parlament vorsieht. Das ist gutund das ist richtig. Ich entsinne mich an die sehr kontro-versen Debatten in der 12. Legislaturperiode vor derAWACS-Entscheidung. Gemessen daran war diese Ent-scheidung des Bundesverfassungsgerichts ein wirklichverfahrensbefriedendes Urteil, was wir bis heute merken.Allerdings stellt sich doch die Frage, ob gerade in sol-chen dynamischen Prozessen, wie es Einsätze ihrer Naturnach nun einmal sind, ein relativ statisches Verfahren wieein Zustimmungsverfahren – der Antrag räumt uns, denAbgeordneten des Bundestages, nicht die Möglichkeit einzu gestalten; vielmehr können wir nur Ja oder Nein sagen;wir können allenfalls über politischen Druck oder überProtokollnotizen die eine oder andere Ergänzung errei-chen – der Lösung der Probleme, denen wir gegenüber-stehen, vollkommen gerecht wird.Formal ist die Beteiligung gesichert. Diese Sicherheitist – das ist von den Kollegen mehrfach dargelegt wor-den – holprig. Das ist einer der Gründe, wieso wir sie inder Tat „einschleifen“ müssen. Es ist zu klären, ob dieBundeswehr an Vorauskontingenten oder an Vorgängenteilnimmt, die in einem gewissen Rahmen stattfinden, dernach dem Prinzip „minima non curat curia“ ablaufen. Esmuss nicht unbedingt sein, dass ein Parlament mit 603 Ab-geordneten in einer Sondersitzung darüber bestimmt, dassfünf oder sechs Soldaten der Bundeswehr in eine Positiongebracht werden, ob das ein Einsatz ist oder nicht. Ichmöchte mit dieser Bemerkung nur auf die Dimensionverweisen. Wir können und sollten in der Tat Verfahrenfinden, die uns in solchen Fällen – in der vergangenen Le-gislaturperiode waren es 17; in dieser Legislaturperiodewerden es möglicherweise nicht weniger sein – zu einergewissen Flexibilität verhelfen. Das heißt nicht, dass wiretwas von unseren Rechten abgeben.Wir dürfen die Augen nicht davor verschließen, dassdie Rechtspraxis wieder an einem gewissen Punkt ange-langt ist, der es nötig macht, für eine verfahrensmäßigeRegelung zu sorgen.Die damalige Bundesregierung tendierte zu Beginn ih-rer Regierungszeit klugerweise dazu, sehr detaillierteAnträge zu stellen. Das hat uns dazu verführt, in den Aus-schüssen nahezu militärstrategische Erwägungen zu dis-kutieren.
Kollege Karl Lamers hat damals – wir saßen einmal einenTag vor Weihnachten zusammen – im Auswärtigen Aus-schuss davon gesprochen, dass es doch eigentlich unnötig
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sei, wirklich jeden Feldspaten aufzuführen. Das ist nichtder Weg, den wir gehen können. Wir sind nicht der Er-satzgeneralstab, sondern der Aufsichtsrat bezüglich Ent-sendungen der Bundesregierung. Deshalb sollte meinerMeinung nach diese Form von Kontrolle auch eine ge-wisse Selbstbeschränkung beinhalten. Faktisch ist dieSelbstbeschränkung eigentlich über die gelobten Prinzi-pien hinaus im letzten Jahr durchgehalten worden. Mor-gen verfahren wir auch wieder so.Wir hatten uns nicht nur darauf verständigt, sondernauch das Urteil so interpretiert, dass ein Vorratsbeschlussnicht möglich ist. Ich würde gern einmal eine Diskussiondarüber führen – das können wir bei diesem Thema imPlenum nicht leisten, aber schon im Rahmen der Geset-zesberatungen –, ob nicht der Enduring-Freedom-Beschlusseigentlich ein Vorratsbeschluss ist: über die halbe Weltgültig, größtmöglicher Freiraum bei der Benennung vonStärken und eine völlig im Allgemeinen gelassene Ziel-setzung der Aktion. Angesichts dieser Charakterisierungsind wir eigentlich bei einer Form von Vorratsbeschlussangelangt. Ich sage ganz offen, dass so etwas natürlichauch nicht befriedigt, denn das ruft nach dauerhafter Kon-trolle. Da entsteht in der Tat das Bedürfnis nach ständigerInformation und der Möglichkeit ständiger Einflussnahme.Diese ist aber nur über das Setzen von Fristen und immerwieder erneuter Positionierung in der Frage möglich.In der Praxis sind die Beschlüsse inzwischen mit einerJahresfrist versehen. Müssen wir aber nicht darübernachdenken, ob wir bei einem solchen Gesetz über dasreine Ja oder Nein hinaus nicht auch in grundsätzlichenFragen ein Gestaltungsrecht verlangen sollten, zwar nichtin Details oder der Frage des Auftrags, aber schon in derFrage der Befristung? Wir haben gehört, dass die Mandateursprünglich für sechs Monate galten, dann für ein Jahrund dann wieder für sechs Monate. Das Parlament solltedoch einmal von sich aus über die Frage des Rückhol-rechtes diskutieren.Auf ein Problem, von dem ich hoffe, dass es Ihnen,Herr Verteidigungsminister, und uns nie ins Haus steht,möchte ich noch zu sprechen kommen, nämlich dass wirAufträge erteilen, aber das Budget für die Erfüllung die-ser Aufträge nicht mehr ausreicht. Natürlich müssen derHaushaltsausschuss und das Parlament zustimmen. Aberwir müssen doch über die Frage diskutieren, ob nicht dasBudgetrecht – vom Kollegen Nachtwei zu Recht als Kö-nigsrecht des Parlaments bezeichnet – hier einen stärke-ren Einfluss haben könnte oder sollte. Das ist nicht ab-schließend gemeint; vielmehr werden wir intensiv überden Antrag der FDP diskutieren, der sehr lobenswert ist.Dies möchte ich aber zu bedenken geben.Ein letzter Gedanke: Die NATO-Response-Force, de-ren Gründung in Prag beschlossen werden soll und die ichfür sehr wichtig halte – wir haben an anderer Stelle darü-ber diskutiert –, wird ebenso wie eine ESVP-Truppe mitkonkretem Auftrag eine andere Qualität in das Themabringen, weil hier Einsatzstrukturen multilateral ausge-legt und noch weniger Einflussnahmen nationaler Parla-mente möglich sein werden. Ich weiß nicht, wie der ge-genwärtige Stand der Behandlung dieses Themas imEuropäischen Konvent ist. Ich hatte aber bei Gelegenheitschon einmal die Kollegen, die uns da vertreten, daraufhingewiesen, dass wir auch über diese Frage reden müs-sen. Im Entwurf eines europäischen Verfassungsvertragesmüssen – vielleicht unter Einschränkung gewisser Rechtedes Deutschen Bundestages – andere legislative Organemit einer Kontrollfunktion hinsichtlich der ESVP bedachtwerden.
Es gibt sehr viel zu tun. Ich habe nur einige wenigePunkte genannt, über die wir reden sollten. Gott sei Danksind wir schon über Zustände früherer Zeiten hinaus: Icherinnere mich, wie ein Bundeskanzler vor einem Einsatz– ich weiß nicht mehr, um welchen es ging – versuchte,den damaligen Oppositionsführer Engholm in Afrika oderAustralien aufzuspüren, um seine Zustimmung einzuho-len, was damals nicht gelungen ist. Die jetzige Oppositionist immer hier in Berlin erreichbar. Wenn sie formal ein-gebunden wird, ist sie auch sehr gerne bereit, sachbezo-gen im Sinne unseres Landes und unserer Soldaten mög-lichst in Form von geregelten Verfahren diese Dinge imKonsens zu beschließen.
Als letztem Redner in der Debatte erteile ich nun dem
Abgeordneten Christoph Zöpel das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kol-legen! Lassen Sie mich mit einer ganz allgemeinen Ein-sicht beginnen. Zu dem, was mich an Hinweisen währendmeiner jetzt langen administrativen wie parlamentari-schen Tätigkeit besonders beeindruckt hat, gehörte derHinweis eines nordrhein-westfälischen Beamten kurz vorseiner Pensionierung. Er war liberal-konservativ einge-stellt und stark von Willi Weyer geprägt. Er hat mir ein-mal, als wir über ein Gesetz sprachen, gesagt: Herr Minis-ter, wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen,dann ist es notwendig, kein Gesetz zu machen.
Diesen ersten Gedanken würde ich über diese Diskussionstellen. Ist es notwendig, ein Gesetz zu machen?
Ich bin mir nicht sicher. Herr Kollege, ich bin bereit, mitIhnen darüber nachzudenken, aber ich bin noch nichtüberzeugt.Der konstitutive Beschluss des Bundestages zu Einsät-zen deutscher Soldaten im Ausland hat sich bewährt. Esist vielleicht das Schönste in dieser Debatte, dass die Red-ner aller Fraktionen dies gesagt haben. Er hat sich weit da-rüber hinaus insofern bewährt, als er im Verfahren desBundestages funktional ist. Er hat sich als ein Beitrag zurStabilisierung von Demokratie in Deutschland und zurdemokratischen Integration bewährt.Der schwierige Prozess öffentlich wirksamer Debattenhier im Hause darüber, was deutsche Soldaten – vor allemChristian Schmidt
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Dr. Christoph Zöpelnach 1989, als wir wieder eine andere Handlungsfähigkeitim globalen und internationalen Zusammenhang bekom-men haben – im Ausland dürfen oder nicht, war wichtigund unverzichtbar. So berechtigt es sein mag, sich heutevorzuhalten, was der eine vor einigen Jahren gesagt odernicht gesagt hat, es gäbe ohne diesen intensiven Diskus-sionsprozess, der nur in Verbindung mit diesem konstitu-tiven Recht möglich war, heute nicht diese kritische underforderlichenfalls auch zustimmende Haltung der großenMehrheit der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutsch-land bei schwierigen Weltlagen.
Dass diese in Westdeutschland zurzeit etwas stärker ist alsin Ostdeutschland, ist völlig begreifbar. An solchen Stel-len wird historisches Schicksal offenkundig, nämlich dassder, der sich erst später in diesen demokratischen Diskurseinschalten konnte, mehr Zeit braucht, um aufzuholen.Der erwähnte Prozess war und bleibt notwendig als einBeitrag Deutschlands zur Diskussion innerhalb von undzwischen Demokratien über die Funktion von Mi-litäreinsätzen. Dass Deutschland besonders kritisch da-mit umgeht, bleibt historisch notwendig. Es gibt gar kei-nen Grund, nicht Stolz darauf zu sein, dass wir Deutschendie Lehre aus den verbrecherischen Möglichkeiten, Sol-daten in andere Länder zu schicken, gezogen haben undjetzt auf der internationalen Bühne besonders kritisch da-mit umgehen. Insoweit ist es kein Zufall, sondern einGrund, berechtigt und dennoch wieder nachdenklich hin-sichtlich der eigenen Geschichte den deutschen Parla-mentsvorbehalt betreffend Soldateneinsätze internationalzu verteidigen und auch zu erklären.
Wenn Deutschland hinsichtlich Krieg das nachdenk-lichste Land unter den Demokratien ist, dann ist das not-wendig und gut. Für den Alltag finde ich es schön, wennder deutsche Vertreter im NATO-Rat bei den ersten Über-legungen über die NATO-Response-Force darauf hin-weist, es gebe in Deutschland den Parlamentsvorbehaltund an dem solle festgehalten werden. Ich halte das für ei-nen Beitrag zur demokratischen Kultur innerhalb der in-ternationalen Gemeinschaft.
Verschiedene Hinweise sind gegeben worden, worüberim Einzelnen nachgedacht werden kann. Ich komme nochdarauf zurück.An einer Stelle möchte ich Ihnen zwar nicht direkt wi-dersprechen, Herr Kollege Kossendey, aber ich muss sa-gen, dass ich da nachdenklich geworden bin. Es geht umIhren Hinweis, die Art der internationalen Zusammenarbeitin Fragen der Sicherheitspolitik müsse uns dazu veranlas-sen, zu überprüfen, wie ein solcher Parlamentsvorbehaltzur Geltung gebracht werden kann. Die Frage ist berechtigt.Ich will dazu sehr offen sagen: Die Notwendigkeit in-ternationaler Zusammenarbeit in der Sicherheitspoli-tik, in der Umweltpolitik, in der Wirtschaftspolitik und invielen anderen Bereichen ist unumstritten. Diese Zusam-menarbeit ist notwendigerweise zunächst einmal eine Zu-sammenarbeit der Regierungen. Diese internationaleZusammenarbeit beschränkt sich aber nicht auf die Zu-sammenarbeit von Regierungen, sondern sie wird in vie-len Bereichen – das ist besonders kritisch im Bereich derSicherheitspolitik zu sehen – zunehmend zu einer Auf-gabe sich verselbstständigender internationaler Büro-kratien.Ich will nicht von vornherein etwas gegen diejenigenInstitutionen sagen, die sich um die Sicherheit kümmern.Aber wenn es richtig ist, dass die Frage von Krieg undFrieden eine Schicksalsfrage ist, dann muss man sich fra-gen, ob hinsichtlich der Sicherheit der öffentliche Diskursund die parlamentarische Kontrolle reichen.Solange wir in Europa – natürlich auch weltweit – nochnicht darüber nachgedacht haben, wie eine parlamentari-sche Begleitung der von internationalen Institutionen ver-antworteten Politik möglich ist, sollten wir besonders anunserem konstitutiven Recht festhalten und es geradezuals Vehikel benutzen, zunächst in Europa und dann welt-weit darüber zu diskutieren, wie mehr parlamentarischeKontrolle gegenüber sich sonst verselbstständigenden in-ternationalen Bürokratien organisiert werden kann. DieseFrage stellt sich mir im Zusammenhang mit dem Punkt,den Sie angesprochen haben.
Deswegen bin ich an dieser Stelle ganz besonders vor-sichtig.Die NATO-Response-Force ist aufgrund des Parla-mentsvorbehalts ein Problem. In diesem Punkt gab es einegute Analyse und es wurden die richtigen Fragen gestellt.Meine Antwort lautet: Gerade bei der NATO-Response-Force sollten wir an dem Parlamentsvorbehalt festhaltenund mit allen Alliierten darüber sprechen, wie er auch wo-anders eingeführt werden kann.Eine weitere Bemerkung. Der Umgang mit diesemRecht des Parlaments ist nicht immer einfach. Das magvon Regierung zu Regierung unterschiedlich sein, abhän-gig davon, von welchen Parteien sie gestützt werden. Ichglaube aber, dass alle Regierungen große Mühe aufwen-den mussten, entsprechende Beschlüsse zu erreichen. Ichnehme da keine Regierung aus.
– Wenn man lange in diesem Bereich tätig ist, weiß man,dass handwerkliche Fehler nie auszuschließen sind.
Wenn man zu viele handwerkliche Fehler macht, kannman daran scheitern. Man kann aber auch scheitern, wennman sich nicht um eine ausreichende demokratische Le-gitimation bemüht.
Lassen Sie mich deshalb mehr an die Adresse meinerPartei und an die des Koalitionspartners sagen: Es war
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. November 2002 643
anstrengend in der letzten Legislaturperiode, für be-stimmte Bundeswehreinsätze eine Zustimmung zu be-kommen. Ich denke, Bundeskanzler Gerhard Schröder unddie Parlamentarischen Geschäftsführer waren manchmalnachdenklich. Aber mein Eindruck ist: Diese Debatten ha-ben sich gelohnt, weil sie die Demokratie stabilisiert haben
und die Legitimation außerhalb des Parlaments eingeholthaben. Auf diese Leistung, die auch in Zukunft notwendigist, möchte ich nicht verzichten. Auch diesen Punkt sollteman sehen.Die Vorredner meiner Fraktion haben die Gesprächs-bereitschaft signalisiert. Ich schließe mich dem an. LassenSie mich deshalb aus meiner Sicht nur noch die Richtungnennen. Ich bin der festen Überzeugung, dass man überdie Geschäftsordnung reden sollte: Wie kann man dieRechte des Parlaments respektieren, ohne die Abläufe zuverzögern? Es entspricht nämlich nicht der Lebenswirk-lichkeit, davon auszugehen, dass ein Parlament an 365 Ta-gen jeweils 24 Stunden zur Verfügung stehen kann. Auchdas sollte man berücksichtigen.Ich als Nichtjurist bin sehr skeptisch, ob ein kasuisti-sches Gesetz, das regelt, was in welchem Fall eines inter-nationalen Vorfalls passieren sollte, überhaupt möglichist. Stellen wir uns einmal vor, wir hätten dieses Gesetzvor fünf Jahren verabschiedet. Ich vermute; ein Großteilder dann vorgenommenen Legaldefinitionen würde derSituation nach dem 11. September nicht entsprochen ha-ben. Dann hätten wir jetzt eine neue Debatte. Reichen un-sere Definitionen? Das ist meine Hauptskepsis.Deshalb neige ich dazu, primär die Geschäftsordnungheranzuziehen und sich dann doch eines zu sagen: Wirsind auf der Grundlage unseres Grundgesetzes, interpre-tiert durch das Bundesverfassungsgericht, ganz ordentlichmit diesen Einsätzen umgegangen, mit vielen positivenWirkungen: Alle Einsätze, die wir für nötig hielten, habenstattgefunden. Den Soldaten ist dabei meines Erachtensim Ergebnis nichts geschehen, was sie in Unsicherheit ge-bracht hätte. Die Legitimation in der Bevölkerung, diedadurch erzielt wurde, war erheblich.In der derzeitigen Lage haben wir den Eindruck, die Si-cherheitssituation könnte in zwölf Monaten wieder völliganders sein als heute. Wer kann das so genau voraussa-gen? Die Abgrenzung zwischen dem Militär und der in-ternationalen Polizei mag Gegenstand eines neuen völ-kerrechtlichen und dann auch in den einzelnen Staaten zubeachtenden Gesetzesvorhabens sein. Lassen Sie uns vordiesem Hintergrund diese Angelegenheit eher in Ruhe be-trachten, als vorschnell etwas zu tun. Dennoch, Herr Kol-lege van Essen, Ihre Anregung ist richtig.Herzlichen Dank.
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/36 an die in der Tagesordnung aufgeführ-
ten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit offen-
sichtlich einverstanden. Dann verfahren wir auch so. Die
Überweisung ist beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord-
nung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen
Bundestages auf morgen, Freitag, den 15. November
2002, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.