Protokoll:
15004

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 15

  • date_rangeSitzungsnummer: 4

  • date_rangeDatum: 29. Oktober 2002

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 10:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 21:36 Uhr

Gesamtes Protokol
Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1500400000

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den einzigen Punkt der Tagesordnung auf:

Regierungserklärung des Bundeskanzlers
mit anschließender Aussprache

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
heutige Aussprache nach der Regierungserklärung neun
Stunden, morgen ebenfalls neun Stunden und am Don-
nerstag drei Stunden vorgesehen. Sind Sie damit einver-
standen? – Dann ist so beschlossen.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland,
Gerhard Schröder.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Gerhard Schröder (SPD):
Rede ID: ID1500400100

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-

ren! Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen ha-
ben am 22. September von den Wählerinnen und Wählern
den Auftrag zur weiteren sozialen und ökologischen Er-
neuerung unseres Landes erhalten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)


– Das mag Ihnen komisch vorkommen; aber es war so.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Michael Glos [CDU/CSU]: Ja, mit Lug und Betrug!)


Ich habe schon gelegentlich feststellen müssen, dass Sie
das vielleicht ein bisschen anders erwartet hatten. Aber
nehmen Sie zur Kenntnis: Sie saßen auf der Oppositions-
seite, Sie sitzen da und Sie werden da sitzen bleiben.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Arroganter Heuchler!)


Wir haben den Auftrag, Gemeinsinn und Verantwor-
tungsbereitschaft zu stärken, Solidität, aber auch Solida-
rität zu organisieren und diesen Auftrag werden wir erfül-
len. Die Menschen in Deutschland wissen, dass wir in
wirtschaftlich schwierigen Zeiten leben. Sie wissen um
die Gefahren durch den internationalen Terrorismus; sie
wissen um die Gefahren durch regionale Konflikte – alles
Gefahren, die unsere innere Sicherheit, aber auch unseren
wirtschaftlichen Wohlstand bedrohen; sie wissen, dass
uns der veränderte Altersaufbau unserer Bevölkerung und
der Wandel im Erwerbsleben zu weit reichenden Verände-
rungen bei den Systemen der sozialen Sicherung, zu Spar-
samkeit, zu höherer Effizienz und zu größerer Gerechtig-
keit zwingen.

Aber die Menschen in Deutschland haben sich aus-
drücklich nicht dafür entschieden, den Sozialstaat abzu-
schaffen, wahllos Leistungen zu kürzen


(Lachen bei der CDU/CSU)

oder gar die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer zurückzudrehen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie haben der neuen Regierung eben nicht den Auftrag er-
teilt, die Interessen von Gruppen und Verbänden über das
Gemeinwohl zu stellen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir wissen um den Wählerauftrag und deshalb überneh-
men wir Verantwortung für das Ganze.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die Entwicklung der internationalen Finanz- und

Aktienmärkte, die Zurückhaltung von Konsumenten und
Investoren in allen großen Volkswirtschaften, eine anhal-
tende Unsicherheit auf den Rohstoff- und Energiemärkten
durch die explosive Lage im Nahen Osten, das alles gibt
wenig Anlass zu der Hoffnung auf eine kurzfristige Bes-
serung der Weltwirtschaft. Deshalb kommt es für uns da-
rauf an, im Inland die Kräfte für Wachstum und Erneue-
rung zu stärken.




Bundeskanzler Gerhard Schröder

Dabei stehen die klassischen Instrumente, um den
Konsum und die Investitionstätigkeit durch Subventio-
nen, durch Finanzspritzen zu stimulieren, nicht mehr zur
Verfügung; denn diese Instrumente können in einer Zeit
der fortschreitenden wirtschaftlichen Verflechtung keine
Wirkung entfalten.

Die bereits beschlossene nächste Stufe der Steuer-
reform, die wir zur Beseitigung der nicht vorhersehbaren
Flutschäden um ein Jahr verschieben mussten, tritt mit
ihren bedeutenden Entlastungseffekten im Jahr 2004 in
Kraft. Weitere Entlastungen werden folgen. Sie sind für
2005 bereits beschlossen und werden die Wachstums-
kräfte in Deutschland stärken.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Gerade weil die Politik der abgestuften Steuersenkun-
gen weiterverfolgt wird,


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Steuererhöhungen!)


ist es nötig, einzelne Ausnahme- und Subventionstatbe-
stände im Steuerrecht auf ihre Zweckmäßigkeit und auf
ihre Zielgenauigkeit hin zu überprüfen und gegebenen-
falls auch abzuschaffen. Die in der Koalition vereinbarten
Einsparungen und Einschnitte sind in sich ausgewogen.
Sie dienen allein dem Ziel, neue Handlungsmöglichkeiten
für Zukunftsinvestitionen und damit für Wachstum und
Beschäftigung zu eröffnen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Obenan stehen Reformen auf dem Arbeitsmarkt und im
Bildungswesen. Wir müssen und wir werden die Qualität
von Bildung und Ausbildung deutlich verbessern und damit
die Lebenschancen insbesondere junger Menschen erhöhen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Gegen vielfachen Widerstand werden wir die Familien
fördern und die Sozialsysteme reformieren,


(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU)


ohne den Grundsatz der Solidarität preiszugeben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Wir setzen einen Schwerpunkt öffentlicher Investitio-

nen bei der Wiederherstellung und der weiteren Moderni-
sierung der Infrastruktur in den neuen Bundesländern.
Damit stärken wir die innovativen Kräfte in der Wirt-
schaft, und zwar ganz gleich ob in kleinen, mittleren oder
großen Unternehmen.


(Zuruf von der FDP: Insolvenzen!)

Es geht uns darum, unsere Spitzenposition in der For-

schung und bei der Anwendung neuer Technologien so-
wie bei der ökologischen Modernisierung zu halten und
sie, wo immer es geht, auszubauen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, zur weiteren Konsolidie-
rung der öffentlichen Haushalte gibt es keine vernünftige
Alternative. Wir brauchen Zukunftsinvestitionen statt Zins-
zahlungen. Wir dürfen heute also nicht das konsumieren,
was wir unseren Kindern und Enkeln als Zukunftschan-
cen eröffnen wollen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir brauchen und wir werden Spielräume im Etat schaf-
fen, um Vorsorge für unsere Volkswirtschaft treffen zu
können, und werden bei Bedarf gezielt gegensteuern. Die
Bundesregierung hält an dem Ziel fest, bis 2006 einen
ausgeglichen Bundeshaushalt zu erreichen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Dabei muss klar sein: Der Stabilitätspakt selbst steht
nicht zur Diskussion. Was wir aber brauchen, ist seine
konjunkturgerechte Ausgestaltung.


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Gerade in der gegenwärtigen Situation muss es möglich
sein, die automatischen Stabilisatoren wirken zu lassen.
Erforderlich ist also mehr Flexibilität, um in konjunktu-
rell schwierigen Zeiten gegensteuern zu können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Angesichts der schwierigen weltwirtschaftlichen Lage,
die natürlich unmittelbare Auswirkungen auf die Kon-
junktur und das Wachstum in Deutschland hat, müssen
wir eines erkennen: Es ist jetzt nicht die Zeit, neue Forde-
rungen zu stellen, ohne zu neuen Leistungen bereit zu
sein. Wer nur seine Ansprüche pflegt, der hat wirklich
noch nicht verstanden, worum es geht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Eckart von Klaeden [CDU/ CSU]: Das kann ich Ihnen sagen!)


Wer soliden Wohlstand, nachhaltige Entwicklung und
neue Gerechtigkeit will, der wird Verständnis dafür auf-
bringen, dass man bei bestimmten staatlichen Leistungen
auch kürzer treten muss und dass auf das erreichte
Leistungsniveau des Staates und der Sozialversicherun-
gen nicht fortwährend draufgesattelt werden kann.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zur Reform und Erneuerung gehört auch, manche An-
sprüche, Regelungen und Zuwendungen des deutschen
Wohlfahrtsstaates zur Disposition zu stellen. Manches,
was auf die Anfänge des Sozialstaates in der Bismarck-
Zeit zurückgeht und vielleicht noch vor 30, 40 oder
50 Jahren selbstverständlich und berechtigt gewesen sein
mag, hat heute seine Dringlichkeit und damit seine Be-
rechtigung verloren.

Diese Bundesregierung, diese Koalition hat eine ge-
lungene Mischung aus mehr wachstumsfördernden Inves-
titionen des Staates,


(Lachen bei der CDU/CSU)



(A)



(B)



(C)



(D)


52


(A)



(B)



(C)



(D)






intelligentem Sparen, mehr Steuerehrlichkeit und mehr
Steuergerechtigkeit vereinbart.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)


Wer in einer labilen konjunkturellen Situation noch
höhere Einsparungen des Staates fordert, der nimmt in
Kauf, dass die berechtigten Anliegen der Bürgerinnen und
Bürger Schaden nehmen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren von der Opposition, ich
kann ja verstehen, dass Sie wegen der verlorenen Wahl
immer noch ein wenig sauer sind.


(Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP)

Wenn man in Ihre Gesichter schaut, merkt man es Ihnen
an. Ich kann das gut nachvollziehen. Sie alle haben sich
schon auf der Regierungsbank sitzen sehen und nun ist es
wieder nichts geworden. Wenn Sie so weitermachen, wird
es auch so bleiben; seien Sie sich dessen ganz sicher.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Peter Ramsauer [CDU/ CSU]: Sie sind ein richtiger Aufschneider!)


Wie man hört, sind Sie auf dem besten Wege, so weiter-
zumachen.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Hochmut kommt vor dem Fall!)


Zu der Politik, die wir vereinbart haben, gibt es keine
vernünftige, jedenfalls keine verantwortbare Alternative.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich sage es noch einmal: Wer in einer labilen konjunktu-
rellen Situation noch höhere Einsparungen des Staates
fordert, der nimmt in Kauf, dass die berechtigten Anlie-
gen der Bürgerinnen und Bürger ernsthaft Schaden neh-
men. Theoretisch gibt es eine Alternative: Wir hätten, wie
es ja gelegentlich vorgeschlagen worden ist, über die be-
schlossenen und notwendigen Einsparungen – etwa bei
den konsumtiven Ausgaben und bei den Subventionen –
hinaus in allen Ressorts einen gleich hohen Prozentsatz
der Leistungen ersatzlos streichen können. Das wäre aber
das Gegenteil von sozialer Gerechtigkeit gewesen.

Wir brauchen vor allem Investitionen in Zukunfts-
chancen; das werden wir organisieren. Wir wollen des-
halb keinen Staat, der verarmt und damit handlungsun-
fähig wird.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Haben wir ja schon!)


Es bleibt dabei – das ist unsere gemeinsame Überzeugung –:
Einen solchen Nachtwächterstaat kann sich nur eine kleine
Minderheit von Mächtigen und Privilegierten leisten. Die
Mehrheit in unserem Land kann und will das nicht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Mehrheit in unserem Land hat Anspruch auf einen
Staat, der Gemeinwohl befördert, Chancen eröffnet und
Gerechtigkeit organisiert. Gerechtigkeit ist nach unserer
Auffassung viel mehr als die Forderung, dass alle Opfer
bringen müssen. Mehr als auf die Verteilung knapper wer-
dender öffentlicher Mittel kommt es heute auf die Vertei-
lung von Chancen in unserer Gesellschaft an. Unsere po-
litische Generation steht vor der historischen Aufgabe,
Gerechtigkeit im Zeitalter der Globalisierung zu definie-
ren und sie politisch zu organisieren. Das ist der Grund,
warum wir die Menschen in Deutschland, auch diejenigen,
die in diesem Hause auf welcher Seite auch immer Politik
machen, zu einer Verantwortungspartnerschaft aufrufen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Ach, wie schön!)

Gemeinsam können wir die gewiss großen, aktuellen
Schwierigkeiten überwinden und weit über diese Legisla-
turperiode hinaus die Kräfte und das Können unseres Lan-
des für ein in jeder Hinsicht reicheres Leben der heutigen
und der künftigen Generationen mobilisieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Vordringliche Aufgabe in der beginnenden Legislatur-
periode ist nach unserer festen Überzeugung die Reform
der Arbeitsmärkte. Wir haben in Deutschland nicht nur
eine zu hohe Arbeitslosigkeit; wir haben auch zu viele
Überstunden, zu viel Schwarzarbeit und zu viele offene,
also nicht besetzte Stellen.

Mit den Vorschlägen der Hartz-Kommission ist es ge-
lungen, nach mehr als 30 Jahren fortwährender Diskus-
sionen um Reformen auf dem Arbeitsmarkt ein schlüssi-
ges Gesamtkonzept vorzulegen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Diese Vorschläge, die wir ohne Abstriche umsetzen, wer-
den die größte Arbeitsmarktreform seit Bestehen der Bun-
desrepublik bewirken. Ich denke, wir alle sollten die Ge-
legenheit nutzen, um Herrn Hartz und den Mitgliedern der
Kommission für ihre Arbeit zu danken, und darangehen,
die Ergebnisse umzusetzen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Was wir mit dieser Reform erreichen werden, ist eben
nicht nur eine schnellere und effizientere Vermittlung von
Arbeitslosen in offene Stellen. Nein, wir eröffnen darüber
hinaus neue Beschäftigungsmöglichkeiten, vor allen Din-
gen in den Dienstleistungsberufen. Wir schaffen auch bei
geringem Eigenkapital neue Chancen auf Selbstständig-
keit und Existenzgründung. Wir sorgen für neue Flexibi-
lität durch die Einrichtung von Personal-Service-Agentu-
ren und geben den Menschen die Chance, sich auf Zeit
beruflich zu bewähren. Vor allem Langzeitarbeitslose er-
halten endlich wieder Gelegenheit, auf diese Weise in
Beschäftigung zu kommen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir machen mit dieser Reform gerade bei den Dienst-
leistungen legale Arbeit attraktiv und verringern so die

Bundeskanzler Gerhard Schröder




Bundeskanzler Gerhard Schröder
Versuchung, Arbeitskraft illegal anzubieten. Damit keine
Missverständnisse aufkommen: Schwarzarbeit ist nach
unserer Auffassung kein Kavaliersdelikt, sondern ein
Missbrauch unserer Sozialsysteme. Diesen Missbrauch
müssen wir mit aller Konsequenz bekämpfen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Bei allem geht es mit dieser Reform nicht um eine
falsch verstandene Öffnung der Arbeitsmärkte durch be-
denkenlose Beschneidung von Arbeitnehmerrechten. Uns
geht es um die Eröffnung neuer Möglichkeiten. Die Vor-
schläge der Hartz-Kommission und die Beschlüsse der
Bundesregierung, die dort erarbeiteten Ergebnisse unver-
wässert umzusetzen, demonstrieren auch etwas, das weit
über die dringlichen Reformen auf dem Arbeitsmarkt hin-
ausweist: Hier ist gezeigt worden, dass auch in vermach-
teten, teilweise verkrusteten Strukturen die nötigen Verän-
derungen möglich und politisch machbar sind, jedenfalls
dann, wenn alle Beteiligten ihre Kraft zur gemeinsamen
Verantwortung in die Waagschale werfen.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Werden Sie mal konkret!)


Aus diesem großen Reformprojekt können wir eine
zentrale Botschaft herauslesen, die auch die Maxime in
den vor uns liegenden Regierungsjahren sein wird und
– das füge ich hinzu – sein muss: Es geht nicht darum,
immer nur zu fragen, was nicht geht. Es geht vielmehr da-
rum, zu fragen, was jede und jeder Einzelne von uns dazu
beitragen kann, dass es geht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Bundesregierung tritt ihr neues Mandat mit dem
festen Willen an, unser Land weiter zu erneuern. Innova-
tionen, wie wir sie uns vorgenommen haben, brauchen ge-
wiss Geduld und gelegentlich einen langen Atem. Auch
wenn der Weg der Reformen mitunter beschwerlich ist –
wir werden nicht nachlassen.

In der Koalitionsvereinbarung sind für viele Bereiche
wichtige Schritte benannt. Gelegentlich sind es erst be-
scheidene Schritte. Ich meine aber, in allen Punkten ist
festzustellen, dass die Richtung stimmt.

Wir haben in der vergangenen Legislaturperiode die
Voraussetzungen für eine Politik der Gerechtigkeit, der
Erneuerung und der Nachhaltigkeit geschaffen. In den
nächsten vier Jahren werden wir diese Politik weiterhin
konsequent in die Wirklichkeit des Alltags umsetzen.
Denn das ist der Maßstab unserer Politik: Sie hat sich im
Alltag der Menschen zu bewähren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Vieles von dem, was wir bereits begonnen haben oder
womit wir jetzt beginnen, weist über die nächsten vier
Jahre hinaus. Manches bei den Veränderungen an den So-
zialsystemen, an der Finanzstruktur und bei der Entfal-
tung neuer Wirtschaftskraft wird erst nach einiger Zeit
vollends zur Wirkung kommen. Unsere große Chance ist
es, die Gestaltung des gesamten Jahrzehnts in Angriff zu
nehmen und damit die Frage zu beantworten, wie im Zeit-

alter der Globalisierung und strukturellen Veränderungen
des Wirtschaftens und des Arbeitens Gerechtigkeit herge-
stellt bzw. gesichert werden kann. Deshalb begreifen wir
es als unsere vordringliche Aufgabe, Deutschland zu ei-
nem wirklich kinderfreundlichen Land zu machen,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


und zwar zu einem Land, in dem Kinder so gut betreut
werden, dass sie beim Spielen lernen können und beim
Lernen das Spielen nicht vergessen müssen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Ulrike Flach [FDP]: Vier Jahre habt ihr nichts gemacht!)


Meine Damen und Herren, wir werden erreichen, dass
Frauen wirkliche Wahlfreiheit zwischen Familie und
Beruf haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir werden erreichen, dass das Großziehen von Kindern
eben nicht als Last oder gar als Risiko empfunden wird.
Wir werden die Bedingungen dafür schaffen, dass Kinder-
erziehung als selbstverständlicher und glücklicher Ab-
schnitt eines erfüllten Lebens erfahren werden kann.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir wollen also ein Land sein, das seinen Kindern alle
Möglichkeiten einräumt, in einer sicheren Umwelt mit ge-
sunden und bezahlbaren Lebensmitteln aufzuwachsen,
und das allen eine erstklassige Bildung und Ausbildung
garantiert.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Allein dafür stellen wir in den nächsten vier Jahren 4 Mil-
liarden Euro für die Einrichtung von 10 000 neuen Ganz-
tagsschulen zur Verfügung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Damit wollen wir mithelfen, dass Deutschland in zehn
Jahren wieder zu den führenden Bildungsnationen zählt.

Genauso wenig, wie der Zugang zu erstklassigen Bil-
dungsangeboten vom Geldbeutel der Eltern abhängen
darf, dürfen Bildungschancen vom Wohnort bestimmt
sein.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Michael Glos [CDU/CSU]: Hannover! Glogowski!)


Wir werden daher gemeinsam mit den Ländern einen Kern
von nationalen Bildungs- und Leistungsstandards erarbei-
ten. Den Schulen schließlich müssen wir mehr Autonomie
gewähren und sie zu mehr Wettbewerb und Eigenverant-
wortlichkeit herausfordern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Für Kinder bis zum Alter von drei Jahren werden wir
eine gesetzliche Betreuungsquote von 20 Prozent errei-


(A)



(B)



(C)



(D)


54


(A)



(B)



(C)



(D)






chen. Dies finanzieren wir über die Entlastung der Kom-
munen durch die Reformen am Arbeitsmarkt.


(Widerspruch bei der CDU/CSU)

Das ist ein weiteres Beispiel dafür, dass Gerechtigkeit und
Zukunftsinvestitionen erreicht werden können, wenn un-
sere Politik ganzheitlich auf diese Ziele ausgerichtet wird.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir werden unsere rechtsstaatliche Demokratie stär-
ken und weiter ausbauen. Die demokratische Teilhabe
werden wir entwickeln und fördern. Deshalb halten wir an
unserem Ziel fest, Volksinitiative, Volksbegehren und
Volksentscheid auf Bundesebene einzuführen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir setzen auf eine umfassende Politik der Integration
gegen jede Ausgrenzung sozialer, ethnischer, religiöser
oder kultureller Gruppen und Minderheiten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dabei verstehen wir unter Integration weder die zwang-
hafte Angleichung noch die Akzeptanz von Parallelge-
sellschaften. Integration heißt für uns vollkommene Teil-
habe an den Chancen, aber natürlich auch an den Pflichten
unseres Gemeinwesens. Eine gesteuerte Zuwanderung
wird die Zukunftschancen aller Menschen in Deutschland
erhöhen und denjenigen, die zu uns kommen, weil sie zu
uns kommen dürfen, eine sichere Lebensperspektive bie-
ten. Dazu gehört das Angebot, aber auch die Verpflichtung
zur Integration.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Von entscheidender Bedeutung ist dabei auch die nach-
holende Integration der Ausländerinnen und Ausländer,
die bei uns leben. Zugleich werden wir die Ausreisepflicht
für die Nichtbleibeberechtigten konsequent durchsetzen.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Das wäre etwas Neues!)


Wir werden mit einer umfassenden Integrationspolitik
nicht zuletzt die Versäumnisse früherer Jahrzehnte korri-
gieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Unser Ziel ist, ein Land zu schaffen, in dem der
Mensch wirklich im Mittelpunkt aller gesellschaftlichen
und politischen Entscheidungen steht. Das ist auch ein
Grund dafür, dass wir den Verbraucherschutz über die
Lebensmittelsicherheit hinaus stärken und eine moderne
Familienpolitik fortsetzen, damit die Menschen leben
können, wie sie leben wollen, anstatt sich vorschreiben zu
lassen, wie sie leben sollen.

Vergessen wir aber auch nicht: Mehr Wachstum und
mehr Produktion bedeuten nicht automatisch mehr Frei-
heit für den Einzelnen. Für uns ist Lebensqualität mehr
als Lebensstandard, mehr als Konsum oder Einkommens-

niveau. Lebensqualität umfasst die ganze Vielfalt des Le-
bens der Menschen in unserem Land, hat also sehr viel mit
Freiheit zu tun, und zwar Freiheit von Angst und Not. Das
heißt aber auch Freiheit zur Verwirklichung ganz persönli-
cher Lebensentwürfe. Dies ist deswegen so, weil wir Frei-
heit eben nicht auf Gewerbefreiheit reduzieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Freiheit heißt für uns, dass jede und jeder Einzelne die
Chance auf ein selbstbestimmtes und eigenverantwortli-
ches Leben hat.

Wir wollen ein Land sein, das seine Spitzenstellung im
Umwelt- und Klimaschutz sowie in Forschung und Tech-
nologie behauptet und weiter ausbaut.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir schaffen auf diese Weise einen neuen Zusammenhalt,
der auf Freiheit, auf Selbstbestimmung und auf Nachbar-
schaft gründet. Wir wollen einen neuen Gemeinsinn und
einen Staat, der öffentliche Güter wie Gesundheit, Sicher-
heit und Mobilität bereitstellt, ohne in das private Leben
der Menschen hineinzuregieren. Deshalb brauchen wir
nicht einfach weniger oder mehr Staat, sondern vor allem
einen effizienten, an den Interessen und Bedürfnissen der
Bürgerinnen und Bürger orientierten Staat, der in der
Wirtschafts- und in der Gesellschaftspolitik wichtige und
vor allem richtige Impulse gibt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Um das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger, aber
auch der Unternehmen in die Zukunft unseres Landes zu
stärken sowie die Binnennachfrage und die Investitionen
anzukurbeln, brauchen wir eine Wirtschafts- und eine Ar-
beitsmarktpolitik aus einem Guss. Diese Politik steht auf
fünf Säulen: strategische Investitionen in Bildung, For-
schung und Infrastruktur für die Familien und zur besse-
ren Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie für die
ökologische Erneuerung unseres Landes, Fortsetzung der
Haushaltskonsolidierung und Einsparungen bei den kon-
sumtiven Staatsausgaben und den Subventionen, nachhal-
tige Entlastung der Menschen von Steuern und Abgaben,


(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)

Strukturreformen am Arbeitsmarkt, bei Rente und Ge-
sundheit, um die sozialen Sicherungssysteme zukunfts-
fähig zu machen und, wo immer es geht, die Lohn-
nebenkosten zu senken,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Beifall bei der FDP)


und Abbau unnötiger Bürokratie.
Deutschland ist ein Land mit einem großartigen wirt-

schaftlichen Potenzial und enormen eigenen Wachstums-
kräften. Unsere Position auf den Weltmärkten im Export,
das Qualifikationsniveau unserer Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer, die Vielzahl der bei uns entwickelten Ver-
fahren und Patente und die gute Infrastruktur sind Stärken,
die wir weiterentwickeln müssen und werden, um auch in
Zeiten ungünstiger Weltkonjunktur bestehen zu können.

Bundeskanzler Gerhard Schröder




Bundeskanzler Gerhard Schröder

Wir wollen eine neue Kultur der Selbstständigkeit und
einen neuen Aufschwung bei den Existenz- und Unter-
nehmensgründungen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dazu bündeln wir die Mittelstandsförderung. Wer sich
aus der Arbeitslosigkeit heraus selbstständig machen will
und kann, den werden wir dabei unterstützen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In den ostdeutschen Bundesländern werden wir in den
Inno-Regio-Prozess durch weiterentwickelte Fördermaß-
nahmen zur Gründung neuer Unternehmen eingreifen und
ihn ergänzen. Wir werden die Entwicklung eines neuen
Mittelstandes im Dienstleistungssektor fördern und die
Existenzbedingungen kleiner Dienstleistungsbetriebe
systematisch verbessern.

Mit dem neuen Bundesverkehrswegeplan werden wir
Aufbau Ost und Ausbau West gleichermaßen voranbrin-
gen. Wir werden die Planung von Bauvorhaben verein-
fachen und auf diese Weise Investitionen beschleunigen.
Auf der Grundlage des Solidarpakts II, der bis ins Jahr 2019
Planungssicherheit gewährt, werden wir die Wirtschafts-
entwicklung in den ostdeutschen Bundesländern vorantrei-
ben. Ostdeutschland muss besser in die überregionale und
internationale Arbeitsteilung eingebunden werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Besonderes Augenmerk legen wir dabei auch auf die För-
derung von Direktinvestitionen in den ostdeutschen Län-
dern und Regionen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Friedrich Merz Donnerwetter!)


Es bedarf nicht erst jener grausamen terroristischen
Bedrohung, deren Aktualität uns auch in diesen Tagen
ständig vor Augen geführt wird, um zu erkennen: Sicher-
heit ist in unserer einen Welt längst nicht mehr mit natio-
nalen Maßnahmen allein, sondern nur durch internatio-
nale Zusammenarbeit zu gewährleisten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Aber auch im nationalen Maßstab, in unserer eigenen Ge-
sellschaft, ist Sicherheit eben nicht allein Sache von Poli-
zei, Justiz oder Militär. Die Bundesregierung hat schon
frühzeitig national und international einen erweiterten Si-
cherheitsbegriff definiert und dafür geworben. Dazu ge-
hört die Sicherheit von Leib und Leben vor Krieg und Kri-
minalität, keine Frage, aber eben auch die materielle,
soziale und kulturelle Sicherheit, eben zur Vergewisse-
rung der eigenen Identität, und nicht zuletzt die Sicherheit
des Rechts und die Absicherung gegen Krankheit und an-
dere Lebensrisiken.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir sind davon überzeugt: Erst eine Gesellschaft, die in
dieser Weise umfassend Sicherheit bereitstellen kann, ist

fähig zu guter Nachbarschaft und zu friedlicher Zusam-
menarbeit nach außen, aber eben auch zu den notwendi-
gen Veränderungsmaßnahmen nach innen.

Die demographische Entwicklung unserer Bevölke-
rung etwa kann nicht ohne Auswirkung auf die Struktur
unserer Systeme der sozialen Sicherung bleiben. Medi-
zinischer Fortschritt und gestiegene Lebensqualität haben
unsere Gesellschaft erfreulich verändert, die Lebenser-
wartungen der Menschen verlängert und immer mehr
Krankheiten therapierbar gemacht. Doch wenn ein immer
kleinerer Teil der Gesellschaft die Beiträge für die Kassen
aufbringen muss, deren Leistungen im Gesundheitswe-
sen und bei der Altersversorgung von einem immer
größeren Teil in Anspruch genommen werden, dann be-
droht das auf Dauer die Funktionsfähigkeit der Solidarge-
meinschaft.


(Zuruf von der CDU/CSU: Ist das wahr?)

Die Bundesregierung setzt alles daran, das hohe Ni-

veau der medizinischen Versorgung, das es in unserem
Land Gott sei Dank gibt, zu sichern und – das ist das Ent-
scheidende – für jede und für jeden zugänglich zu halten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir werden dieses leistungsfähige Gesundheitswesen
dann und nur dann auch für das Wohlergehen aller Men-
schen nutzen können, wenn wir die Strukturen verändern,
die Systeme öffnen und in hohem Maße vorhandene Effi-
zienzreserven auch wirklich nutzen.

Wir wollen keine Zweiklassenmedizin und mit uns
wird es sie nicht geben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Norbert Lammert [CDU/ CSU]: Das ist doch nicht zu fassen!)


Was wir aber brauchen und was wir schaffen werden, sind
mehr Verantwortung und mehr Wettbewerb im System,
eine Stärkung der Prävention und mehr Zusammenarbeit
zwischen Kassen, Patienten, Ärzten, Krankenhäusern und
Gesundheitszentren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die Rolle der Patienten werden wir durch mehr Rechte

und verbesserte Schutzvorkehrungen stärken. Wir wollen
mündige Patienten, die aktiv an der Vorsorge und der
Pflege ihrer Gesundheit teilnehmen.

In der Rentenpolitik haben wir mit der zusätzlichen ka-
pitalgedeckten Altersvorsorge begonnen, das Siche-
rungssystem wirklich zukunftstauglich zu machen. Den
Weg zu mehr Eigenverantwortung und mehr Wettbewerb,
den wir mit der Errichtung der zweiten Säule in der Al-
tersvorsorge eingeschlagen haben, werden wir fortsetzen,
um so auf Dauer die Renten sicherer zu machen und die
Beiträge bezahlbar zu halten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sowohl die Gesundheits- als auch die Altersversor-
gung werden wir nach dem Muster reformieren, mit dem
wir in der Hartz-Kommission Blockaden beseitigt und


(A)



(B)



(C)



(D)


56


(A)



(B)



(C)



(D)






neue Wege eröffnet haben. Im Gesundheitswesen erwar-
ten wir von allen Beteiligten die unbedingte Orientierung
an den gemeinsamen Zielen: der Bereitstellung des medi-
zinisch Notwendigen, dem effizienten Einsatz der Mittel
und der Entlastung bei den Arbeitskosten. Dabei folgen
wir dem Grundsatz: „Soziale Sicherheit durch Solidarität
und Verantwortung“ heißt auch in diesen Bereichen: för-
dern, aber die Betroffenen auch fordern.

Neben der sozialen Sicherheit ist die innere Sicherheit
ein wesentliches Fundament unserer Gesellschaft und
eine wesentliche Bedingung unserer Freiheit. Wir haben
deshalb stets betont, dass es keinen Widerspruch zwi-
schen Sicherheit auf der einen Seite und Bürgerrechten
auf der anderen Seite geben kann und geben darf.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir verstehen Sicherheit als ein elementares Bürgerrecht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


So verstandene Sicherheit ist nur durch das Zusam-
menspiel dreier Schlüsselelemente zu gewährleisten: ei-
ner effizienten, gut ausgerüsteten und bürgernahen Poli-
zei, entwickeltem Bürgersinn und aktiver Zivilcourage
sowie einer unabhängigen Justiz in einem starken Rechts-
staat. Diesem Konzept bleibt die Bundesregierung ver-
pflichtet.

Im Kampf gegen das organisierte Verbrechen werden
wir auf der Basis der europäischen Beschlüsse die Zu-
sammenarbeit weiter verbessern. Im Strafprozess stärken
wir die Rechte der Verbrechensopfer. Die Strafvorschrif-
ten gegen sexuellen Missbrauch, insbesondere von Kin-
dern, werden wir fortentwickeln.

Parallel dazu setzen wir die Reformen in der Gesell-
schaftspolitik fort. Die Gleichstellung und die gleiche
Berücksichtigung von Frauen und Männern setzen wir für
den Bereich der Bundesregierung als durchgängiges Leit-
prinzip durch.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Auf die völlig neue Bedrohungssituation nach den Ter-
roranschlägen vom 11. September 2001 haben wir umfas-
send und schnell reagiert. Bis Mitte der Legislaturperiode
werden wir die Antiterrorgesetzgebung den Erforder-
nissen weiter anpassen. Moderne Methoden zur Iden-
titätsfeststellung und zur Aufklärung von Straftaten wer-
den wir weiterentwickeln und selbstverständlich nutzen.

Der erweiterte Sicherheitsbegriff ist auch Leitmotiv
der Bundesregierung in der Außen-, in der Sicherheits-
und in der Entwicklungspolitik. Wir setzen die Politik der
guten Nachbarschaft fort und kommen unserer Verant-
wortung nach, die sich aus Deutschlands politischer und
geographischer Lage im Herzen Europas, aus der Part-
nerschaft im Altantischen Bündnis und aus der Wertege-
meinschaft für Freiheit, Menschenrechte, Demokratie und
Gerechtigkeit ergibt.

Die außen- und sicherheitspolitischen Herausforderun-
gen lassen sich an zwei Daten anschaulich festmachen:
Durch den 9. November 1989 hat sich Deutschlands Rolle

in der Welt langfristig gewandelt und der 11. Septem-
ber 2001 hat die Sicherheit in der Welt insgesamt drama-
tisch verändert. Mir liegt daran, dass Folgendes immer
wieder deutlich wird: Deutschland ist heute mit fast
10 000 Soldatinnen und Soldaten nach den Vereinigten
Staaten von Amerika der größte Truppensteller, was in-
ternationale Einsätze angeht. Der Kampf gegen den inter-
nationalen Terrorismus, der – was wir gerade in diesen Ta-
gen wieder spüren – längst nicht gewonnen ist, wird uns
auch weiterhin ebenso substanzielles Engagement abfor-
dern wie unsere langfristig eingegangenen Sicherheits-
und Aufbauverpflichtungen, etwa auf dem Balkan, aber
auch in Afghanistan.

Gleichzeitig befindet sich die Bundeswehr im größten
Reformprozess ihrer Geschichte, der sie für ihre komple-
xen Aufgaben von heute und morgen tauglicher als in der
Vergangenheit machen soll. Die Bundesregierung – mir
liegt daran, das hier deutlich zu machen – dankt den Sol-
datinnen und Soldaten ausdrücklich für ihr großes profes-
sionelles Engagement unter diesen enormen Belastungen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Völlig zu Recht genießen unsere Soldatinnen und Solda-
ten das große Vertrauen der Menschen, für die sie, ob in
Kabul, in Bosnien-Herzegowina oder in Mazedonien, im
Kosovo oder in Georgien, immer auch Hoffnung auf Frie-
den und auf Sicherheit verkörpern. Welch glückhafter
Wandel in der deutschen Geschichte!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Fortsetzung der Reform unserer Streitkräfte setzt
voraus, dass wir das Gesamtspektrum der Aufgaben der
Bundeswehr unter heutigen sicherheitspolitischen Bedin-
gungen analysieren und bereit sind, die daraus notwen-
digen Konsequenzen zu ziehen. Dies erfordert auch eine
umfassende Prüfung dessen, was wir unter diesen neuen
Bedingungen an materieller Ausrüstung und an Personal
wirklich benötigen. Bis Ende der Legislaturperiode wer-
den wir überprüfen, ob über das beschlossene und ins
Werk Gesetzte hinaus weitere Strukturanpassungen oder
gar eine Änderung der Wehrverfassung nötig sind.


(Beifall der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Auch wenn wir infolge unserer wiedererlangten staat-
lichen Einheit und der damit erlangten vollen Souveränität
wiederholt unsere nunmehr selbstverständliche Bereit-
schaft unter Beweis gestellt haben und stellen, ge-
gebenenfalls unseren militärischen Beitrag für Frieden und
Sicherheit zu leisten, ist sich die Bundesregierung jedoch
bewusst: Sicherheit ist heute weniger denn je mit militäri-
schen Mitteln, geschweige denn mit militärischen Mitteln
allein herzustellen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wer Sicherheit schaffen und aufrechterhalten will, der
muss – das ist klar – einerseits Gewalt entschieden be-
kämpfen, andererseits aber auch das Umfeld befrieden, in

Bundeskanzler Gerhard Schröder




Bundeskanzler Gerhard Schröder
dem Gewalt entsteht, und zwar durch präventive Kon-
fliktregelung, durch Schaffung sozialer und ökologischer
Sicherheit, durch ökonomische Zusammenarbeit und
durch das Eintreten für Menschen- und auch für Minder-
heitenrechte.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Einer solchen präventiven und umfassend ansetzenden
Außen- und Sicherheitsrepublik bleibt die Bundesregie-
rung verpflichtet.

Wir haben nicht erst durch die Attentate von New York,
Washington, Djerba, Bali und zuletzt Moskau schmerz-
lich erfahren müssen, dass die Modernisierungs- und Ver-
flechtungsprozesse unserer heutigen Welt weder zwangs-
läufig friedlich verlaufen noch automatisch zu mehr
Freiheit und Demokratie führen. Umso größer ist unsere
Verpflichtung, den Prozess der Globalisierung nicht nur
anzunehmen, sondern ihn auch aktiv politisch zu gestalten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sicherheit setzt gerade bei beschleunigten, aber un-
gleichzeitigen Entwicklungen voraus, dass wir uns ständig
um Interessenausgleich und auch um eine gerechtere Ver-
teilung der Globalisierungsgewinne bemühen. Wir wer-
den unter den Bedingungen einer enger zusammengerück-
ten Welt keine Sicherheit erreichen, wenn wir Unrecht,
Unterdrückung und Unterentwicklung weiter gären lassen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Gegen die neue Gefahr einer privatisierten Gewalt von
Kriegsherren, Kriminellen und Terroristen setzen wir in-
ternationale Allianzen gegen Terrorismus und gegen Un-
freiheit. Wir wollen die Stärkung von Gewaltmonopolen
durch starke, legitimierte internationale Organisationen,
allen voran die Vereinten Nationen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dies werden wir auch durch unsere Mitarbeit im Weltsi-
cherheitsrat und den Vorsitz, den Deutschland dort tur-
nusgemäß übernehmen wird, bekräftigen.

Die Bundesregierung tritt in ihrer internationalen Ver-
antwortung dafür ein, dass mit der Globalisierung der
Märkte eine Globalisierung der Menschenrechte und der
sozialen Sicherheit einhergeht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


In diesem Sinne haben wir uns zuletzt auf dem Welt-
nachhaltigkeitsgipfel in Johannesburg


(Michael Glos [CDU/CSU]: Außer Spesen nichts gewesen!)


für konsequente Armutsbekämpfung, Öffnung der Welt-
märkte sowie eine weltweite Anstrengung für Klima-
schutz und ökologische Energienutzung engagiert.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Finanzierungsbasis für die Entwicklung haben wir
festgeschrieben; wir werden bis zum Jahr 2006 das Ziel
einer Quote von 0,33 Prozent für die Entwicklungsarbeit
umsetzen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Deutschlands Platz bei der Durchsetzung universeller
Werte unter Wahrnehmung unserer internationalen Ver-
antwortung bleibt durch die feste Verankerung in unseren
Bündnissen, unsere Rolle in der Europäischen Union und
unsere Freundschaft zu den Vereinigten Staaten von Ame-
rika bestimmt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Michael Glos [CDU/CSU]: Schöne Freundschaft!)


Unsere transatlantischen Beziehungen, die auf der So-
lidarität freiheitlicher Demokratien und auf unserer tief
empfundenen Dankbarkeit für das Engagement der Verei-
nigten Staaten beim Sieg über die Nazibarbarei und bei
der Wiederherstellung von Freiheit und Demokratie beru-
hen, sind von strategischer Bedeutung und von prinzipi-
ellem Rang.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Diese Beziehungen finden ihren Ausdruck in einer Viel-
zahl von politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und zi-
vilgesellschaftlichen Kontakten und Freundschaften.
Dies schließt aber unterschiedliche Bewertungen in öko-
nomischen und politischen Fragen nicht aus.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wo es sie gibt, werden sie sachlich und im Geiste freund-
schaftlicher Zusammenarbeit ausgetragen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat im-
mer deutlich gemacht, dass Deutschland die Prioritäten bei
der Bekämpfung des internationalen Terrorismus im fortge-
setzten Engagement bei Enduring Freedom und in der Fort-
setzung und Stärkung internationaler Koalitionen gegen den
Terror sieht. Wir wissen, dass gerade der Nahe und Mitt-
lere Osten dringend Hoffnung auf greifbare Fortschritte in
Richtung eines dauerhaften und gerechten Friedens brau-
chen. In diesem Sinne hat sich die Bundesregierung inten-
siv für ein Ende der tödlichen Spirale von Terror und Gewalt
in Israel und in Palästina eingesetzt. Mit unseren europä-
ischen und amerikanischen Partnern sind wir uns einig, dass
Frieden im Nahen Osten nur durch ein Ende der Gewalt und
die Ermöglichung eines Zusammenlebens von Israelis und
Palästinensern in zwei eigenständigen, anerkannten Staaten
mit sicheren Grenzen erreicht werden kann.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Eine solche Lösung muss auf dem Verhandlungsweg ge-
funden werden.

Um die Gefahr, die von Massenvernichtungswaffen
ausgeht, zu mindern, haben wir unsere technischen, per-
sonellen und sachlichen Mittel angeboten und werden die


(A)



(B)



(C)



(D)


58


(A)



(B)



(C)



(D)






Mission der VN-Waffeninspektoren im Irak mit allen
Kräften, die wir haben, unterstützen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Region und die gesamte Welt brauchen genaue
Kenntnis über die Waffenpotenziale des Regimes im Irak.
Wir brauchen die Gewissheit, dass die dortigen Massen-
vernichtungswaffen vollständig abgerüstet werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Über den Weg zu diesem Ziel hat die Bundesregierung
frühzeitig ihre Auffassung und auch ihre Besorgnisse zum
Ausdruck gebracht.

Die zwischenzeitliche Entwicklung und die internatio-
nale Diskussion vor allen Dingen im Weltsicherheitsrat
zeigen, dass die Chance besteht, eine militärische Kon-
frontation am Golf doch noch zu vermeiden. Ich bekräftige
in diesem Zusammenhang unsere Haltung, dass wir auf
unbeschränktem Zugang der Waffeninspektoren zu den
Arsenalen Saddam Husseins beharren. Angesichts der be-
drohlichen Lage im Nahen Osten und der Notwendigkeit,
den Kampf gegen den internationalen Terrorismus auf
möglichst breiter Grundlage zu führen und ihn dann zu ge-
winnen, setzt die Bundesregierung auf die Ausschöpfung
aller Möglichkeiten von internationalen Inspektionen.

Gegenüber dem Irak und anderen Gefahrenherden
müssen eine konsequente Politik der Abrüstung und in-
ternationale Kontrollen vorrangiges Ziel bleiben. Das ist
einer der Gründe, warum wir immer gesagt haben – das
gilt nach wie vor –, dass wir uns an einer militärischen In-
tervention im Irak nicht beteiligen werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, unsere Politik für Frieden,
Menschenrechte und Sicherheit ist und bleibt eine Politik
in Europa, für Europa und als Folge dessen auch von Eu-
ropa aus. Wir setzen die Politik der freundschaftlichen
Partnerschaft mit Russland in gemeinsamer Verantwor-
tung fort. Wir unterstreichen unsere Solidarität mit der
russischen Bevölkerung angesichts brutaler Terroran-
schläge wie zuletzt in Moskau. Gleichzeitig setzen wir auf
eine politische Lösung der Konflikte in Tschetschenien
und in der gesamten Kaukasusregion.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Merkwürdig schwach!)


Dies ist auch zentrale Forderung der gemeinsamen euro-
päischen Außen- und Sicherheitspolitik, die zu stärken
und auszubauen unser Ziel ist.

Ende der vergangenen Woche ist es dem Europäischen
Rat in Brüssel gelungen, eine tragfähige Grundlage für die
Erweiterung der Europäischen Union zu schaffen. Da-
mit kann das zentrale europäische Projekt am Anfang die-
ses Jahrhunderts, nämlich die endgültige Überwindung
der schmerzlichen Teilung Europas, erfolgreich abge-
schlossen werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir haben gewusst, dass wir diese historische Chance nur
nutzen können, wenn sich die Mitgliedstaaten im Europa
der Fünfzehn vor dem Ende der Beitrittsverhandlungen,
also noch in diesem Jahr, auf ein belastbares finanzielles
Konzept vor allem bei der Agrarfinanzierung einigen. Mit
dem Brüsseler Kompromiss, vor allem auch durch die Zu-
sammenarbeit mit unseren französischen Freunden, ist ein
Ergebnis erzielt worden, das den Erfordernissen der Be-
grenzung der Agrarkosten in der erweiterten Europä-
ischen Union Rechnung trägt,


(Beifall bei der SPD)

das die historische Tragweite der Entscheidung, um die es
geht, aber nie aus den Augen gelassen hat. Zusammen mit
unseren Partnern sind wir der gemeinsamen Verantwor-
tung vor der europäischen Geschichte gerecht geworden
und haben die Grundlagen dafür gelegt, dass nun auch in
Europa zusammenwachsen kann, was zusammengehört.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir werden nunmehr beim europäischen Gipfel im De-
zember in Kopenhagen die Beitrittsverhandlungen mit
zehn mittel- und osteuropäischen Ländern abschließen.
Dabei wissen wir: Gerade uns Deutschen bieten sich mit
der Vertiefung und der Erweiterung der Europäischen
Union großartige politische wie ökonomische Möglich-
keiten.

Wir wissen: Die Geschichte der Einigung Europas ist
eine Erfolgsgeschichte. Der Prozess der wirtschaftlichen
Integration mit der Herstellung des größten Binnenmarkts
der Welt und der Einführung einer gemeinsamen
Währung hat nicht zuletzt dazu beigetragen, Nationalis-
men in Europa klein zu halten oder sie zu überwinden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Aber, meine Damen und Herren, unser Europa zeichnet
sich durch mehr aus als durch wirtschaftliche Stärke, Leis-
tungsfähigkeit, Erfindergeist und Arbeitsfleiß. Europa, das
ja nie geographisch, sondern immer politisch definiert
war, steht nach unserer Auffassung für eine ganz spezifi-
sche Kultur und auch Lebensform. In Europa, unserem
Europa, hat sich ein eigenes, auch einzigartiges Zivilisa-
tions- und Gesellschaftsmodell durchgesetzt, das auf dem
Gedanken der europäischen Aufklärung fußt und auf Teil-
habe aller Menschen als Triebkraft für seine Entwicklung
setzt. Dieses Europa, das so mühevoll aus seiner blutigen
Vergangenheit zur freiheitlichen und friedlichen Gegen-
wart und Zukunft gefunden hat, ist eine echte Werte-
gemeinschaft geworden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das europäische Modell der Verbindung aus Eigeninitia-
tive und Gemeinsinn, aus Individualität und Solidarität,
hat sich bewährt. Wir, die Deutschen, haben unseren Bei-
trag dazu geleistet. Es ist ein Modell, das sich auch in Zei-
ten der Globalisierung durchsetzen kann und ohne dass wir
es exportieren können oder wollen, auch vielen anderen
Entwicklungschancen bietet. Die Europäische Union ist
die Antwort der Völker auf Krieg und Zerstörung. Sie ist

Bundeskanzler Gerhard Schröder




Bundeskanzler Gerhard Schröder
unsere Antwort auf die Globalisierung und auch auf die
Herausforderung durch Instabilität und durch Terrorismus.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Allerdings hat sich in der vergangenen Zeit das eigent-
liche Problem in der Konstruktion der Europäischen
Union zunehmend bemerkbar gemacht. Ich meine vor al-
lem die Zuordnung der Verantwortlichkeiten. Wir müssen
dafür Sorge tragen – das ist in dieser Legislaturperiode
möglich –, dass die Europäische Union auch mit 25 oder
gar mehr Mitgliedstaaten politisch führbar bleibt. Unser
Ziel ist eine starke und handlungsfähige, eine verständlich
organisierte und demokratisch legitimierte Europäische
Union, die sich durch Transparenz und Bürgernähe aus-
zeichnet.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dieses Ziel wollen wir bis zur Regierungskonferenz im
Jahr 2004 erreichen. Mit der in Nizza beschlossenen
Grundrechte-Charta liegt bereits ein wichtiges Element
für eine künftige europäische Verfassung vor. Was wir da-
rüber hinaus zur Komplettierung der europäischen Ver-
fassung benötigen, wird im Konvent unter Vorsitz von
Giscard d’ Estaing beraten.

Die Bundesregierung unterstützt die Arbeit des Kon-
vents mit allen Kräften. Wir werden daran mitwirken, ei-
nen Verfassungsentwurf zu präsentieren. Er muss bein-
halten: eine eindeutigere Abgrenzung der Kompetenzen
zwischen den Mitgliedstaaten auf der einen Seite und der
Europäischen Union auf der anderen Seite; die Schaffung
einer starken und zugleich auch politisch verantwort-
lichen Kommission, deren Präsident vom Europäischen
Parlament zu wählen ist; ein in seinen Rechten deutlich
gestärktes Europäisches Parlament, die Reform des Rates,
der grundsätzlich mit qualifizierter Mehrheit entscheiden
soll, sowie eine verbesserte Zusammenarbeit der Ge-
meinschaft in Fragen der inneren und der äußeren Sicher-
heit. Die bevorstehenden historischen Weichenstellungen
wie auch die Arbeiten an der europäischen Verfassung
werden wir in enger Abstimmung mit unseren französi-
schen Freunden betreiben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir haben in Brüssel gesehen, dass wir ohne ein ge-
meinsames deutsch-französischesVorgehen – auch wenn
gelegentlich schmerzhafte Kompromisse gemacht werden
müssen – ein Europa der Bürger, dessen Nutzen aus Vertie-
fung und Erweiterung allen Europäern zugute kommen
soll, nicht werden schaffen können.

Wir wollen eine neue Kultur der Selbstständigkeit
und der geteilten Verantwortung. Deshalb fördern wir die
weitere Stärkung der freiheitlichen und sozialen Bürger-
gesellschaft. Ich will allerdings deutlich machen: Wir
wollen die Zivilgesellschaft nicht deshalb stärken, damit
sich der Staat aus seinen originären Aufgaben zurückzie-
hen kann.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es ist gewiss richtig, dass der Staat nicht die Bereiche or-
ganisieren soll, in denen es die Gesellschaft besser kann.
Deshalb brauchen wir weniger Bürokratie und weniger
Obrigkeitsdenken, aber nicht unbedingt weniger Staat.

Ebenso klar ist: Der allgegenwärtige Wohlfahrtsstaat,
der den Menschen die Entscheidungen abnimmt und sie
durch immer mehr Bevormundung zu ihrem Glück zwin-
gen will, ist nicht nur unbezahlbar, er ist am Ende auch
ineffizient und inhuman.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Deshalb fördern wir die Eigenverantwortung und die

Kräfte zur Selbstorganisation unserer Gesellschaft. Vor
allem die vielen Tausend ehrenamtlich und freiwillig Täti-
gen in kulturellen und sozialen Projekten sowie in Pro-
jekten des Sports brauchen größere Gestaltungsräume.
Wir fördern diese Verantwortung für das Gemeinwohl
nicht nur, wir fordern sie auch.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Reichtum und die Kreativität unseres Landes wer-
den wesentlich bestimmt durch großartige kulturelle
Leistungen und Angebote. Die Bundesregierung hat be-
reits in der vergangenen Legislaturperiode begonnen, den
Dialog mit Künstlern, Intellektuellen und Kulturschaffen-
den wieder aufzunehmen. Das Amt des Beauftragten für
Kultur und Medien hat sich als segensreich erwiesen, und
zwar nicht nur für die Kultur, sondern auch für unser
ganzes Land und unsere Gesellschaft.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Mir liegt daran, dass deutlich wird: Für die Bundes-
regierung ist Kultur nicht einfach eine angenehme Ne-
bensache im Leben der Menschen. Wir wissen vielmehr,
dass Sicherheit, Identität und die Fähigkeit zur friedlichen
Nachbarschaft in erheblichem Maße kulturelle Errungen-
schaften sind. Wir wissen, dass Kunst und Kultur wesent-
liche Bausteine für eine Gesellschaft der Partnerschaft
und auch für eine Gesellschaft der Gerechtigkeit sind.
An diesem Ziel richten wir unsere Kulturpolitik aus – im
Innern, aber auch im Rahmen der auswärtigen Bezie-
hungen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die Aufgabe ist klar: Um die Erneuerung Deutschlands

voranzutreiben und die wirtschaftlichen Probleme zu
meistern, um neue Chancen zu eröffnen und neue Ge-
rechtigkeit zu organisieren, brauchen wir das Mitwirken
aller auf allen Ebenen. Wir brauchen eine neue Selbstver-
antwortung und auch eine neue unternehmerische Verant-
wortung. Wir stehen vor großen Reformen auf den Ar-
beitsmärkten sowie bei Bildung und Ausbildung und
auch – wir wissen, dass dies manchen schmerzen wird –
in unserem Sozialsystem.

Dabei setzen wir auf die vielen Tausend Frauen und
Männer, die in diesen Bereichen engagiert tätig sind. Sie
sind die eigentlichen Vorantreiber des Wandels. Wir wer-
den, wo immer es geht, den Konsens mit den volkswirt-
schaftlichen Akteuren, den Bürgern und den gesellschaft-
lichen Gruppen suchen.


(A)



(B)



(C)



(D)


60


(A)



(B)



(C)



(D)






Aber genauso klar muss sein: Wir lassen am Primat
der Politik nicht rütteln.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Bei aller Bereitschaft zum Dialog – dies wird ja gele-
gentlich als Vorwurf konstruiert – und aller Bereitschaft
zum Konsens muss am Ende die Politik, das heißt die
Bundesregierung und ihre parlamentarische Mehrheit, die
notwendigen Entscheidungen treffen – und sie wird es
tun.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Michael Glos [CDU/CSU]: In vielen Kommissionen!)


Die Frage, ob unser Land politisch geführt oder mäch-
tigen Interessengruppen überlassen wird, ist entscheidend
für unsere Zukunft.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Zitter, zitter! – Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Was hat der DGB gesagt?)


Eine Gesellschaft, deren Regierung nicht für die Nutzung
aller Chancen und für den gleichen Zugang zu den Chan-
cen sorgt, wird unter den Fliehkräften der Globalisierung
von innen in Schwierigkeiten kommen, wenn nicht gar
zusammenbrechen.

Für Zusammenhalt und Wohlergehen der Gesellschaft
in Zeiten äußerer Risiken, in Zeiten äußerer Unsicherhei-
ten und in Zeiten tief greifender innerer Veränderungen zu
sorgen, das verstehen wir als die zentrale Aufgabe dieser
Regierung in den nächsten vier Jahren. Das Ziel unseres
Weges ist klar: ein Leben reicher an Chancen, reicher an
Arbeitsmöglichkeiten und Arbeitsformen, reicher an
Dienstleistungen und Märkten, reicher an Zukunftshoff-
nungen sowie an Kultur und Sicherheit, aber durchaus
auch reicher an Einkommen und Vermögen für alle.


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Gemeinsam werden wir dieses Ziel erreichen und ge-

meinsam werden wir damit für uns und unsere Kinder
eine lebenswerte Zukunft schaffen.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Anhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1500400200

Ich erteile das Wort der Kollegin Angela Merkel, CDU/

CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Angela Merkel (CDU):
Rede ID: ID1500400300

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-

ren! Herr Bundeskanzler, beim Zuhören, insbesondere bei
der letzten Passage Ihrer Regierungserklärung, in der Sie
so salbungsvoll die hehren Ziele Ihrer Politik – ein Leben
reicher an Chancen, reicher an Arbeitsmöglichkeiten,
reicher an Zukunftshoffnungen, reicher an Einkommen –,
die wir – so haben Sie gesagt – gemeinsam erreichen wer-

den, aufgelistet haben, kam mir ein Satz aus dem Johan-
nesevangelium in den Sinn: „Mein Reich ist nicht von die-
ser Welt.“


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich füge hinzu: Ihre Wahrnehmung der Realität, Herr

Bundeskanzler, und Ihre Regierungserklärung sind auch
nicht von dieser Welt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Eigentlich war man mehr als eine Stunde lang versucht,
den Satz herauszubrüllen: Die Wahrheit ist konkret, Ge-
nosse! – Das haben wir vermisst, Herr Bundeskanzler.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Sie haben manches Problem durchaus richtig beschrie-
ben. Aber man konnte bei mancher Problembeschreibung
Ihnen und denjenigen, die Ihnen zugehört haben, förmlich
ansehen, dass sie sich dabei ziemlich schlecht fühlen.
Denn Lyrik ist nötig. Ich frage Sie: Wen wollen Sie dies-
mal zum Schuldigen stempeln?

Die Probleme von heute können Sie eben nicht mehr
der imaginären Erblast von 16 Jahren Helmut Kohl in die
Schuhe schieben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ludwig Stiegler [SPD]: Wir haben immer noch 40 Milliarden Euro für Zinsen!)


Sie spüren es und Sie haben es die ganze Zeit gespürt.
Das, Herr Bundeskanzler, lastet auf Ihrer Rede. Sie wis-
sen, es gibt eine Erblast und Sie tragen schwer daran, aber
es ist Ihre eigene Erblast, die rot-grüne Erblast, die
Deutschland bremst und Wachstum unmöglich macht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ludwig Stiegler [SPD]: Das haben die Deutschen aber anders gesehen!)


Die Staatskassen wollen sich partout nicht füllen, die
Löcher werden täglich größer. Die Rentenversicherung
verlangt mehr Beiträge und gibt weniger Sicherheit, das
Gesundheitssystem schluckt das Geld wie ein Pillensüch-
tiger die Pillen. Daran werden auch die Ankündigungen
eines Vorschalt- oder Nachschaltgesetzes nichts ändern,
das wird so bleiben.

Herr Bundeskanzler, das Schlimmste ist: Die Arbeits-
losigkeit sinkt nicht, sondern wird weiter steigen. Dabei
geht es nicht um irgendeine Zahl, um 4 Millionen oder
4,5 Millionen in diesem Winter; nein, hier geht es um
Menschen, um Familien, um das Selbstwertgefühl dieser
Menschen, um Hoffnungen, um Verletzungen, um Ent-
täuschungen, um richtige menschliche Schicksale. Es ist
keine nackte Zahl und deshalb sage ich Ihnen: Keines die-
ser konkreten Schicksale hat in den letzten 65 Minuten in
diesem Saal eine Rolle gespielt und das werfen wir Ihnen
vor.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Völliger Unsinn! Sie haben keine richtige Wahrnehmung! Das stand schon gestern in Ihrem Konzept!)


Bundeskanzler Gerhard Schröder




Dr. Angela Merkel

Man hätte sich gewünscht, dass Sie nach der mit Ach
und Krach gerade einmal so gewonnenen Bundestags-
wahl diesmal richtig durchstarten.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gewonnen ist gewonnen!)


Der Titel Ihres Koalitionsvertrags ist durchaus viel ver-
sprechend. „Erneuerung – Gerechtigkeit – Nachhaltig-
keit“ – das ist Ihr Angebot an die Gesellschaft.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So ist es! Das ist auch gut so!)


Sie wollen das mit einem Kabinett, das insgesamt an
Lebensalter auf 800 Jahre kommt, durchsetzen. Ich würde
sagen: So alt waren Aufbruch und Erneuerung selten in
Deutschland.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Aber wenn man sich einmal die Mühe macht, die darin

enthaltenen Absichtserklärungen zu verstehen und mit
dem zu vergleichen, was Ihre Regierung heute, in den Ta-
gen vor und in den Tagen nach der Wahl gesagt hat,
kommt es noch schlimmer. Herr Bundeskanzler, es kann
nur ein einziges Urteil geben: Dies ist ein Koalitionsver-
trag der Enttäuschung, es ist ein Koalitionsvertrag der
Täuschung und es ist ein Koalitionsvertrag der Vertu-
schung. Dies werden wir auch weiterhin beim Namen
nennen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Man weiß ja auch schon, was jetzt kommt: Wahlkampf

fortsetzen, schlechte Verlierer, CDU-Staat beenden, Ket-
tenhunde loslassen, Helfershelfer und so weiter und so
fort.


(Jörg Tauss [SPD]: Richtig!)

Aber damit bekommen Sie nicht einmal mehr die Treues-
ten der Treuen in Ihren eigenen Reihen hinter dem Ofen
hervorgelockt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die deutsche Öffentlichkeit fällt auf so etwas schon

lange nicht mehr herein. Dies alles bestätigt nur den Ein-
druck, dass Ihnen diese knapp gewonnene Wahl ziemlich
in den Knochen steckt. Sie haben heute schon Angst vor
der Quittung, die Sie in Niedersachen und Hessen be-
kommen werden.


(Widerspruch bei der SPD)

Wir werden es den Menschen auch immer wieder sagen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sie zeigen an diesen Stellen auch schon Verfolgungs-
wahn. Aber nicht wir haben Ihnen Verfolgungswahn vor-
geworfen, sondern die „Süddeutsche Zeitung“, die Sie
wahrscheinlich noch nicht zu den Kettenhunden des kon-
servativen Lagers zählen können, Herr Bundeskanzler.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Dass Ihr Koalitionsvertrag ein Vertrag der Täuschung
und Vertuschung ist, belegen einige Zitate:

Steuererhöhungen sind in der jetzigen konjunkturel-
len Situation ökonomisch unsinnig und deswegen
ziehen wir sie auch nicht in Betracht.

Gerhard Schröder in der ARD am 26. Juli 2002.

(Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört!)


Wir halten die Rentenbeiträge langfristig stabil.
Gerhard Schröder in der „Frankfurter Rundschau“ am
18. Juni 2002.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Wie nennt man das?)


Ich bin sicher, wir kriegen keinen blauen Brief aus
Brüssel.

Herr Eichel am 17. September 2002, fünf Tage vor der
Wahl, in der ARD-Sendung mit dem schönen Titel „Ihre
Wahl 2002“.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, ich erspare Ihnen, dies alles

auf die Waagschale zu legen. Ich nenne hier nur das Bei-
spiel Eichel: Von einer Neuverschuldung in Höhe von
2,5 Prozent war am Tag vor der Wahl die Rede, von
2,9 Prozent am Tag nach der Wahl und 14 Tage später war
von einem blauen Brief aus Brüssel die Rede. Inzwischen
ist er froh, wenn er ihn bekommt und vonseiten der Kom-
missare in Brüssel nicht noch mehr draufgepackt wird.
Das ist die Wahrheit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist völliger Quatsch!)


Die Wahrheit ist so konkret, dass man sagen kann: Jede
Familie in diesem Lande wird draufzahlen. Die Menschen
kommt die Wahl buchstäblich teuer zu stehen. 200 Euro im
Monat beträgt die Mehrbelastung für jede deutsche Durch-
schnittsfamilie mit zwei Kindern und 30 000 Euro Ein-
kommen.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist doch Unsinn!)


Zur Kürzung der Eigenheimzulage:

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Man weiß doch noch gar nicht, was am Ende kommt!)


– Richtig, Herr Schmidt, man weiß nicht, was am Ende
kommt. Dies ist das Einzige, was bei Ihnen Gültigkeit hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich füge nur noch hinzu: Es ist gut, dass es uns gibt,


(Lachen bei der SPD –Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Hören Sie doch auf!)


sonst wüssten die Leute nicht, was kommt. Wenn sie nur
Sie hätten, würde es ganz schlimm kommen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Nun zur Eigenheimzulage:Hören Sie sich einmal Ihre

Abgeordnete Margrit Wetzel aus Stade an. Sie sagt: Die


(A)



(B)



(C)



(D)


62


(A)



(B)



(C)



(D)






Streichung der Eigenheimzulage ist ein Schlag ins Ge-
sicht der deutschen Bauwirtschaft.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Wo sie Recht hat, hat sie Recht!)


– Wo Sozialdemokraten Recht haben, haben sie Recht.

(Beifall des Abg. Michael Glos [CDU/CSU])


Sie begreifen doch gar nicht, was Sie den Menschen
antun! Wissen Sie, was dies für eine Familie bedeutet, die
ein Haus bauen will? Sie weiß, dass sie ohne diese Förde-
rung bei der Bank – dies ist doch der entscheidende
Punkt – nicht mehr kreditfähig ist.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Selbst Gabriel weiß das!)


Riesige Bauunternehmen machen heute mit Fertigteil-
häusern Dumpingangebote und zerstören so die kleinen
Baubetriebe vor Ort. Herr Stolpe, hier frage ich Sie: Was
tun Sie mit solchen Plänen eigentlich für die Bauwirt-
schaft im Osten?


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dem Stichwort Eigenheimzulage kann man hinzufü-

gen: Gassteuer, Tabaksteuer, Steuerreform verschoben,
höhere Rentenbeiträge und höhere Krankenkassenbei-
träge. Dies zusammen macht die Mehrbelastung in Höhe
von 200 Euro pro Familie und Monat aus.


(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt sind wir einmal gespannt, wie Sie sparen!)


Dann behaupten Sie, Ihre Maßnahmen seien nicht nur
notwendig, sondern gerecht und maßvoll und träfen vor
allem diejenigen, die noch mehr tragen können.


(Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Was ist Ihr Vorschlag, Frau Merkel? Werden Sie einmal konkret!)


Schauen Sie sich doch einmal an, was das in Wahrheit be-
deutet. Es trifft alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
in diesem Lande, es trifft alle Autofahrer und insbeson-
dere die Pendler. Es trifft die, die Lebensmittel einkaufen,
denn sie sind von der Erhöhung der Preise der landwirt-
schaftlichen Vorprodukte betroffen. Es trifft die Leis-
tungsträger – das sind die Facharbeiter, die Gesellen, die-
jenigen, die Überstunden machen in diesem Lande –, weil
Sie die Beitragsbemessungsgrenze erhöhen.


(Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wo ist denn Ihr Vorschlag, Frau Merkel?)


Es trifft die Mieter in diesem Lande, es trifft die, die für
ihre Altersvorsorge Wertpapiere gekauft haben, und es
trifft natürlich wie immer – weil die Sie nicht wählen –
ganz besonders die Bauern; das ist schon fast Routine.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Kein einziger Vorschlag von Ihnen, Frau Merkel!)


Man muss doch wirklich einmal fragen dürfen: Was ist
an diesen Belastungen eigentlich gerecht? Wo ist die Ba-

lance, von der Sie bei diesen Belastungen so gerne spre-
chen?


(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie auch Antworten oder nur Fragen?)


Besteht schon deshalb eine Balance und ein Gleichge-
wicht, weil alle in diesem Lande gemeinsam am Boden
liegen? Das kann doch nicht die Balance sein, die Sie mei-
nen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist doch unglaublich! Sie zeichnen hier ein Zerrbild!)


Deshalb heißt die schlichte Schlussfolgerung: Rot-
Grün macht arm


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

und, noch schlimmer, Rot-Grün bietet den Menschen
überhaupt keine Aussicht in Bezug auf die Frage, wie in
diesem Lande Wachstum und damit wieder mehr Be-
schäftigung entstehen können.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wirklich schlimm an Ihrer Politik ist, dass Sie wissen,
dass die Lage der öffentlichen Haushalte viel schlechter
ist, als Sie uns heute sagen.


(Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Und was ist jetzt Ihr Vorschlag?)


Deshalb werden Sie uns, vor allen Dingen nach dem
2. Februar, scheibchen- und tröpfchenweise weitere
Maßnahmen zumuten. Darum frage ich heute schon ein-
mal vorsorglich: Was haben Sie mit dem Ehegattensplit-
ting vor?


(Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Was haben Sie denn vor, Frau Merkel? Sagen Sie uns das doch!)


Was soll mit dem Sparerfreibetrag geschehen? Was wird
aus der Entfernungspauschale? Verändert sich an der
Mehrwertsteuer noch mehr? Beabsichtigen Sie, die Le-
bensversicherungen noch stärker zu belasten? Es ist doch
kein Zufall, dass das alles in den Koalitionsgesprächen
aufgetaucht und anschließend wieder in der Schublade
verschwunden ist.

Deshalb sagen wir Ihnen sehr bewusst: Wir verlangen
im Namen der Bürger dieses Landes,


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Die haben Sie gar nicht autorisiert! Finden Sie sich endlich damit ab!)


dass Sie uns heute und diese Woche hier reinen Wein in
Bezug auf das einschenken, was Sie in den nächsten Mo-
naten vorhaben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wir würden gern wissen, was Sie vorschlagen! – Gegenruf des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie regieren doch!)


Dr. Angela Merkel




Dr. Angela Merkel

Es ist ganz klar: Sie, die Sie dort sitzen, sind keine Re-
gierung der Erneuerung, sondern eine Regierung der Ver-
teuerung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie sind eine Opposition der Nörgelei!)


Oskar Lafontaine hatte doch Recht:

(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Nicht der Mut wächst, Herr Bundeskanzler, sondern die Wut
der Menschen in diesem Lande über diese Art der Politik.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Herr Bundeskanzler, man möchte es mit einem Ihrer
Lieblingsworte kommentieren: Wie Sie mit den Men-
schen in diesem Lande umgehen, das ist schlicht und er-
greifend unanständig.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Unanständig ist das, was Sie machen,


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ihre Rede ist unanständig!)


und unanständig ist vor allen Dingen das Brechen von
Versprechen.

Ich möchte auf die Debatte vom 13. September 2002
hier in diesem Hause zurückkommen. Ich habe mich da-
mals gar nicht lange mit den vielen gebrochenen Verspre-
chen in der Arbeitsmarkt-, Gesundheitspolitik usw. auf-
gehalten,


(Ludwig Stiegler [SPD]: Das hat alles nichts geholfen!)


sondern ich habe Ihnen nur eines gesagt: Die größte Täu-
schung der Nachkriegszeit ist Ihre Haltung im Zusammen-
hang mit einem militärischen Einsatz gegen den Irak.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Was?)


Es hat sich jetzt erwiesen, dass meine Aussage richtig war.

(Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie haben überhaupt nichts kapiert!)


Ihre Haltung war und ist der größte Betrug am deutschen
Wähler in der Nachkriegsgeschichte. Vor der Wahl gab es
nur ein einziges Wort: Nein. Nein zur UN, nein zum Ver-
bleib der ABC-Panzer in Kuwait, nein zu Sanktionen.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Ja, genau!)

Nach der Wahl besitzt der Bundesaußenminister die
Dreistigkeit, einer englischen Zeitung auf die Frage, was
mit dem so genannten deutschen Weg sei, zu antworten,
er könne natürlich nicht für den Kanzler sprechen, aber:
Forget it! – Auf Deutsch: Vergesst es!
Das ist es, was Sie hoffen und wovon Sie ausgehen.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Das ist die Arroganz der Macht!)


Für wie dumm halten Sie eigentlich die deutsche Bevöl-
kerung? Die Menschen werden das nicht vergessen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das hat doch der Kanzler gerade erklärt! Sie hören ja nicht einmal zu! Sie halten die alten Reden! – Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Das war kein Dolmetscherfehler! Das hat er so gesagt!)


Die Wahrheit und die Politik sind – Herr Schmidt, da
können Sie so viel schreien, wie Sie wollen – eben nicht
so einfach.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das stimmt! Darum sind Sie auch nicht gewählt worden!)


Wie steht es denn mit der Beantwortung der vielen kon-
kreten Fragen, die sich ergeben? Wie wird sich die Bun-
desregierung verhalten? Ist sie bereit, sich an einer
UN-Peacekeeping-Maßnahme nach einer militärischen
Auseinandersetzung mit dem Irak zu beteiligen? Zu wel-
chen Hilfsmaßnahmen wäre sie bereit, wenn der Irak Israel
angreift? Was machen die ABC-Spürpanzer in Kuwait im
Falle eines militärischen Konfliktes? Würden deutsche
Soldaten Hilfe für die verwundeten US-Soldaten leisten?
Würde die Bundesregierung dem NATO-Mitglied Türkei
militärisch zu Hilfe kommen, wenn sie vom Irak ange-
griffen würde? Wie verhält sich die Bundesregierung bei
einer Abstimmung über eine Resolution des UN-Sicher-
heitsrates nach dem 1. Januar?


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist doch breit getretener Quark! Unsinn ohne Ende!)


Wollen Sie alleine mit Syrien mit Nein stimmen? Diese
Fragen interessieren uns. Wir wollen sie beantwortet ha-
ben. Auf eine Antwort warten wir schon lange.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Herr Bundeskanzler, Sie haben es bis heute nicht ge-

schafft, unser nationales Interesse zu definieren. Deshalb
sage ich Ihnen für die CDU und die CSU: Wir alle wollen
keinen Krieg.


(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach!)


Das habe ich schon damals deutlich gemacht und tue es
jetzt wieder. Wann immer Konflikte diplomatisch oder
politisch gelöst werden können, sollte in dieser Beziehung
nichts unversucht gelassen werden.

Eine kurze Anmerkung zum Wochenende sei mir in
diesem Zusammenhang gestattet. Wir alle sind gegen ter-
roristische Angriffe. Ich hätte mir deswegen von Ihnen,
Herr Bundeskanzler, schon gewünscht, Sie hätten dem
russischen Präsidenten Putin mit aller Klarheit deutlich
gemacht, dass wir mit Nachdruck erwarten, dass auch po-
litische Anstrengungen in Tschetschenien unternommen
werden. Das wurde versäumt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

CDU und CSU sind bereit, die von der UN erwarteten

Beschlüsse gegen den Irak zu unterstützen. Wir sind im
Übrigen der Auffassung, dass die französischen Ansätze
hierfür eine gute Grundlage bieten.


(A)



(B)



(C)



(D)


64


(A)



(B)



(C)



(D)






Ich komme zu einem Punkt, zu dem Sie auch nicht
Stellung genommen haben, der aber schon im November
aktuell wird. CDU und CSU erwarten, dass sich die Bun-
desregierung auf dem NATO-Gipfel in Prag, auf dem
das Thema Irak mit Sicherheit zur Sprache kommen wird,
nicht aus dem Kreis der Verbündeten stiehlt, sondern sich
für eine gemeinsame Position der NATO-Mitgliedstaaten
einsetzt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich möchte nicht erleben – das sage ich für die Union –,
dass Norwegen, Ungarn und Polen auf der Seite der Ame-
rikaner sind und wir nicht. Deutschland hat Freundschaf-
ten. Diese Freundschaften sind an Werte gebunden und
müssen in einem Bündnis etwas zählen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das alles sage ich mit Blick auf die Zukunft. Wir ahnen

doch schon, wie es ablaufen wird, wenn es Weihnachten
wird, der Januar kommt und die Wahlen in Niedersachen
und in Hessen vor der Tür stehen. Sie werden in Hessen die
alten Plakate aus dem Jahr 1991 auspacken, auf denen
steht: Kein Blut für Öl. – Ich kann Ihnen sagen: Genau das
wird nicht funktionieren, weil sich die Menschen im Lande
ziemlich erstaunt die Augen reiben und sich fragen werden:
War der Irak nicht das Wahlkampfthema? In den Koalitions-
vereinbarungen sucht man diesen Punkt vergeblich. Vom
Kosovo, von Mazedonien und von Afghanistan ist zu lesen,
aber vom Irak ist nicht mit einer Silbe die Rede.


(Michael Glos [CDU/CSU]: So ist es!)

Ich vermute, wenigstens der Außenminister hat Sie daran
gehindert, Ihre Lügen in der Koalitionsvereinbarung auch
noch in Schriftform zu fassen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Furchtbar! – Joachim Poß [SPD]: Unglaublich! – Weiterer Zuruf von der SPD: Alte Dreckschleuder!)


Wenn man sich anschaut, was in den letzten fünf Wo-
chen passiert ist, dann drängt sich die Frage auf, was Sie
wirklich wollen. Warum gehen Sie so vor? „Man erkennt
nicht, wohin es eigentlich geht.“


(Ludwig Stiegler [SPD]: Sie haben keine hermeneutische Kompetenz!)


So klage nicht nur ich, so klagte auch der thüringische
SPD-Landesvorsitzende Matschie am Wochenende.

Wo der Mann Recht hat, hat er Recht; denn genau das
ist das Problem dieses Bundeskanzlers. Man weiß nicht,
wo es hingeht. Ich sage es mit meinen Worten: Herr Bun-
deskanzler, welchen Wert hat für Sie eigentlich der Ge-
staltungsanspruch der Politik gerade jetzt, also in, wie Sie
so gerne betonen, unserer Zeit der Globalisierung? Sehen
Sie überhaupt einen Gestaltungsanspruch oder sehen Sie
in der Globalisierung immer nur einen imaginären Schul-
digen?

Ich sage: Gestaltung ist nicht punktuelles Handeln und
nicht das Reagieren auf kurzfristige Ereignisse, neu-
deutsch auch Krisenmanagement genannt – selbst wenn
auch das manchmal erforderlich ist. Ich meine eine Ge-

staltung, die dem Leben eine Richtung gibt und die Zu-
sammenhänge herstellt. Ich glaube, dies ist die vor-
nehmste Aufgabe der Politik.


(Jörg Tauss [SPD]: Da haben Sie Recht!)

Sie wollen, wie Sie gesagt haben, eine „rot-grüne Epo-

che“ beginnen.

(Jörg Tauss [SPD]: Ja! – Ludwig Stiegler [SPD]: Die dürfen Sie in der Opposition begleiten!)


„Epochen muss man begründen können.“

(Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr wahr! – Ludwig Stiegler [SPD]: Sie gründen sich aus sich selbst!)


– Hören Sie doch zu, Herr Stiegler! „Das ist mit diesen
90 Seiten Koalitionsvertrag nicht getan.“ – Auch das habe
wiederum nicht ich, sondern das hat der stellvertretende
Fraktionsvorsitzende Erler im jüngsten „Spiegel“ gesagt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Herr Erler, herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Wahl! Es
gibt selbst in der SPD-Fraktion einen kleinen Hoffnungs-
schimmer. Es ist eben so: Ausrufen allein reicht nicht. Es
macht die Sache fast noch schlimmer, weil ein ganz
merkwürdiges und unsicheres Gefühl bleibt; es ist wie ein
Pfeifen im Walde.

Meine Damen und Herren, was ist Ihr Gestaltungsan-
spruch der Politik? Finanzminister Eichel hatte sich mit
seinem Sparkurs beinahe ein Stück weit in die Herzen der
Menschen eingegraben. Am Tag der Unterzeichnung der
Koalitionsvereinbarung in der Neuen Nationalgalerie er-
klärte er aber dem staunenden deutschen Publikum, dass
es mit dem Stabilitätspakt nun vorbei sei, dass man ihn
irgendwie anders auslege und dass man ihn konjunktur-
bedingt interpretieren müsse. Er tut das Gegenteil von
dem, was er vier Jahre lang versucht hat, den Menschen
beizubringen; das zerstört die Politik.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Unsinn! Was steht denn im Koalitionsvertrag?)


Auf der einen Seite erhöhen Sie die Arbeitskosten
durch steigende Sozialbeiträge für Rente und Gesundheit
– das ist unstrittig – und auf der anderen Seite wollen Sie
ebendiese Arbeitskosten über die 500-Euro-Jobs – dort
halbherzig – und die Ich-AGs wieder heruntersubventio-
nieren. Meine Damen und Herren, fördern Sie doch den
gesamten deutschen Mittelstand – denn dann erhalten Sie
mehr Arbeitsplätze –,


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Machen wir doch längst! Dazu brauchen wir Sie nicht!)


statt mit Ich-AGs und sonstigen Hilfskonstruktionen an-
zufangen! Das bringt Deutschland nicht weiter.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Und dann das viel gelobte Hartz-Konzept: Die Wirt-

schaftsweisen – das waren also nicht wir – haben die Er-
wartung, dass die Arbeitslosigkeit auf unter 2 Millionen

Dr. Angela Merkel




Dr. Angela Merkel
sinken könnte, einhellig als schlicht und ergreifend „illu-
sorisch“ bezeichnet.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Hartzer Käse!)

Meine Damen und Herren, es ist ziemlich doll, dass der
Superminister Clement – noch bevor er vereidigt war –
die Sachverständigen bezichtigte, dass sie keinen Sach-
verstand haben. So wird es nicht gehen. Sie werden die
Statistik fälschen und versuchen, zu tricksen und zu täu-
schen; aber damit werden Sie keinem einzigen Menschen
in Deutschland wirklich helfen.


(Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sie auch nicht!)


Wir werden das zum Thema machen und Sie zur Rede
stellen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Auf der einen Seite wollen Sie, wie das vernünftig ist,

die Menschen zu mehr Eigenverantwortung heranziehen,
auf der anderen Seite bestrafen Sie aber diejenigen, die
diese – auch ohne staatliche Förderung – wahrnehmen
könnten, indem Sie die Beitragsbemessungsgrenze bei der
Rente wieder hochsetzen und damit den Menschen die
Möglichkeit nehmen, eine eigenständige private Vorsorge
zu treffen. Das ist widersprüchlich und nachhaltig falsch.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Sie führen die Nachhaltigkeit groß im Munde. Deshalb
ist es das Allerdollste, dass Sie mit der Erhöhung der Bei-
tragsbemessungsgrenze heute Rentenansprüche begrün-
den, von denen Sie wissen, dass Sie sie in der Zukunft nie-
mals werden erfüllen können; das muss den Grünen im
Herzen wirklich weh tun.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist Unsinn!)


Das ist eine nachhaltige Täuschung, nicht mehr und nicht
weniger.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie haben – das war durchaus richtig – in der vergan-

genen Legislaturperiode die Steuern auf einbehaltene Ge-
winne gesenkt, um die Investitionskraft zu stärken. Nun
aber, wo die Unternehmen dadurch, dass ihre Investitions-
kraft gestärkt wurde, wieder an Wert gewinnen könnten,
planen Sie, die Eigentümer durch die Besteuerung von
Aktiengewinnen zu bestrafen. Wozu führt das? Das führt
dazu, dass die Gewinne natürlich sofort einbehalten wer-
den, dass nicht investiert wird, dass die Menschen nicht
besser dastehen und dass die Eigentümerstrukturen wech-
seln, weil in anderen Ländern keine Steuern bezahlt wer-
den müssen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Joachim Poß [SPD]: Ist das Ihre Forderung? Keine Steuern mehr? – Olaf Scholz [SPD]: Keine Steuern?)


Deshalb hat Professor Sinn zu Recht gesagt: Alles, was
Sie vorschlagen, ist Gas geben und zugleich bremsen. Ich
warte auf den Tag, Herr Bundeskanzler, an dem Sie uns
das als großer Autofreak einmal praktisch vormachen:
bremsen und zugleich Gas geben. Das kann nach meinem

technischen Sachverstand nur zu einem nachhaltigen Mo-
torschaden führen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Die Latte der Beispiele ließe sich beliebig fortsetzen.
Der Bundesumweltminister reist heute nach Neu Delhi.

Sie haben das Klimaschutzziel für 2005 auf ganz ge-
schickte Art und Weise eliminiert. Was ist denn nun mit der
Minderung des CO2-Ausstoßes um 25 Prozent bis zumJahr 2005? Das Ziel taucht nicht mehr auf, weil es in Ihre
Legislaturperiode fällt. Dafür haben Sie ein Ziel für 2020
formuliert – unter dem Vorbehalt, dass auch die anderen eu-
ropäischen Staaten ihren Beitrag dazu leisten. Wir erwarten
heute von Herrn Trittin, dass er uns genau sagt – ich per-
sönlich habe mir oft Anschuldigungen anhören müssen –,
welches Ziel Sie unterstützen und wie hoch die CO2-Min-derung für das Jahr 2005 sein wird. Wir wollen wissen,
welches das konkrete Ziel für diese Legislaturperiode ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Um Ihr widersprüchliches Verhalten noch einmal deut-

lich zu machen: Sie haben in der vergangenen Legislatur-
periode das Erdgas von der Ökosteuer-Regelung aus-
drücklich ausgenommen, weil es so umweltverträglich ist
und weil Sie wollten, dass die Menschen dies als Anreiz
begreifen, möglichst viel mit Erdgas zu heizen.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Richtig!)

Nun tun das 15 Millionen Menschen in Deutschland. Was
machen Sie? Als Dankeschön wird Erdgas mit der Öko-
steuer belegt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das ist es, was die Menschen so missmutig stimmt.

Herr Bundeskanzler, dieser Missmut ist auch nicht da-
durch aus der Welt zu schaffen, dass Sie heute eine neue
Maxime aufgestellt haben – sozusagen der Kennedy-Ver-
schnitt aus Hannover.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Sie haben uns gesagt: Hören wir auf, immer nur zu fragen,
was nicht geht; fragen wir uns, was jeder Einzelne dazu
beitragen kann, dass es geht.


(Jörg Tauss [SPD]: Dann fangen Sie einmal damit an! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Dazu haben Sie bisher noch keinen Beitrag geleistet!)


Nun muss ich Sie einmal fragen: Was ist „es“?

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


„Es“ ist nämlich im September 2001 die uneinge-
schränkte Solidarität mit den Amerikanern. Aber „es“ ist
im September 2002 der deutsche Sonderweg in Bezug auf
den Irak. „Es“ ist während der Flut der Gemeinsinn und
die Hilfe. Aber „es“ ist am Tage der Unterschrift unter die
Koalitionsvereinbarung, dass man allen, die spenden wol-
len, eines vor das Schienbein gibt und die Abzugsfähig-
keit der Spenden streicht. So werden Sie die Dinge nicht
regeln können.


(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der FDP)



(A)



(B)



(C)



(D)


66


(A)



(B)



(C)



(D)






Ihre Maxime ist in Wahrheit: Wer etwas leistet, wird
vom Staat zusätzlich belastet. Wer mehr Verantwortung
für sich oder andere übernehmen will, dem werden
Steine in den Weg gelegt. Wer bereit ist, sich für eine si-
chere Zukunft und die notwendigen Veränderungen ein-
zusetzen, der wird von der Regierung spätestens nach
ein paar Monaten allein gelassen. – Deshalb, Herr Bun-
deskanzler, hätten Sie besser die Finger von Kennedy
gelassen. Oder aber, Herr Bundeskanzler, Sie hätten ihn
wirklich beim Wort genommen: Frage nicht, was dein
Land für dich tun kann, sondern frage, was du für dein
Land tun kannst.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Was haben Sie denn für einen Beitrag geleistet?)


Ich bin sicher: Viele Menschen würden gerne etwas
tun. Aber die Menschen können nichts tun, wenn sie einen
Koalitionsvertrag vorgelegt bekommen, der das Papier
nicht wert ist, auf dem er geschrieben ist, und der schon
gar nicht die Miete des Museums wert ist, in dem er ab-
geschlossen worden ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Weil hinter der Streichliste kein Konzept erkennbar
ist, lässt sich jeder einzelne Punkt mit Aussicht auf
Erfolg angreifen.

Auch das stammt nicht von mir, sondern das hat gestern
die „Süddeutsche Zeitung“ festgestellt.

Was heute gesagt wird, ist morgen überholt. Was mor-
gen gesagt wird, steht im Widerspruch zu dem, was vor-
her galt. Die Halbwertszeit Ihrer Aussagen wird immer
kürzer. So regieren Sie zurzeit: im Hier und Jetzt, ohne ein
Bewusstsein für das, was gestern war und was morgen
kommt. Das ist das Schlimme.

Ihr Kronprinz aus Niedersachsen, Herr Bundeskanz-
ler, der voll auf Ihrer Linie liegt, hat es wieder einmal
auf den Punkt gebracht. Gabriel sagte auf die Frage,
warum Rot-Grün seine Vorhaben eigentlich nicht vor
der Wahl offen gelegt hat: „Das hätten Sie wohl gerne
gehabt.“


(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine Damen und Herren, das ist das, was Sie in der

Sozialdemokratie unter Politik verstehen. Politik braucht
aber kein kurzfristiges Ereignismanagement, sondern sie
muss mehr denn je gestalten können.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Jetzt kommen endlich mal ein paar Antworten von Ihnen! Nun aber los!)


Denn es geht in der Tat um die Frage, wie wir aus Verän-
derungen Nutzen ziehen können. Deshalb ist es doch so
fatal, dass der Bundeskanzler von Augenblick zu Augen-
blick lebt. Da ist es doch geradezu folgerichtig, dass er als
Freund großer symbolischer Handlungen genau zu Be-
ginn dieser Legislaturperiode die Grundsatzabteilung im
Kanzleramt schließt. Politik ohne Grundsätze – das ist die
Botschaft für diese Legislaturperiode.


(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Auch da haben Sie nichts verstanden!)


Gebraucht wird aber das Gegenteil: Wir brauchen die
Rückkehr des Politischen.


(Zurufe von der SPD: Ui! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Jetzt wird’s konkret!)


Darüber gäbe es Einvernehmen. Wir brauchen die Rück-
kehr des Politischen, nicht ein Verwalten des Augen-
blicks. Denn Politik hat die Aufgabe, Weichen zu stellen
und – Richtungen zu geben – Veränderungen über den
Tellerrand des Hier und Jetzt hinaus.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: 40 Minuten heiße Luft! – Lothar Mark [SPD]: Sie haben immer noch nichts Konkretes gesagt!)


Das bedeutet auf der einen Seite die Fähigkeit zu Verän-
derungen auch gegen Stagnation und auf der anderen
Seite das Setzen von Grenzen und Orientierungspunkten.


(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr konkret!)


Es ist keine plumpe Machbarkeitsidee, sondern es geht
darum, Maßstäbe zu setzen und Linien zu entwickeln, die
über eine längere Zeit durchgehalten werden.


(Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Kommen Sie doch mal zur Sache! – Weitere Zurufe von der SPD)


– Dass Sie so schreien, zeigt doch nur, wie schlecht es Ih-
nen geht.

Wir von der CDU/CSU wollen ein Deutschland, das
die Bürger ermuntert, füreinander einzustehen:


(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut!)


in der Ehe, in der Familie, im Ehrenamt, durch die Sozial-
pflichtigkeit des Eigentums. Wir meinen, dass die Vo-
raussetzung dafür in einem transparenten, gerechten und
einfachen Steuersystem besteht, das Sie bis heute nicht
geschaffen haben.


(Beifall bei der CDU/CSU – Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vorhin waren Sie dagegen, Frau Merkel!)


Falls Sie der Meinung sind, Sie wollten das auch, muss
man sich doch wundern, dass nicht nur der Bundeskanz-
ler, sondern zehn, 20 oder 30 Leute an einer Koalitions-
vereinbarung arbeiten und nicht merken, dass sie mit dem
Streichen der Spendenabzugsfähigkeit für bestimmte In-
stitutionen genau diesen Gemeinsinn zerstören. Dafür
brauchen Sie erst die Bevölkerung und die Opposition.
Das ist doch das Dilemma in diesem Lande.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wir wollen ein Deutschland, das im internationalen
Wettbewerb besteht und damit die Chancen der Globalisie-
rung nutzt. Genau dafür brauchen wir die Stärkung der klei-
nen Einheiten, der Familien, aber vor allen Dingen auch der
Kommunen und der Gebietskörperschaften. Diese brauchen
keine Geschenke von oben, hier 10000 Ganztagsschulen
und dort ein paar Brosamen,


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Brosamen? Kinderbetreuung Dr. Angela Merkel Dr. Angela Merkel ist Brosame? Ganztagsschulen sind Brosamen?)





sondern sie brauchen langfristige Möglichkeiten, ihre
Kommunen so zu entwickeln, wie es die Menschen wol-
len, und zwar inklusive Tagesbetreuung und Kindergär-
ten. Die ordentliche finanzielle Ausstattung der Kommu-
nen ist das Gebot der Stunde.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Wie finanzieren Sie das?)


Wir wollen ein Deutschland, das Sicherheit im umfas-
senden Sinn garantiert: soziale Sicherheit, Sicherheit des
Verbrauchers und Sicherheit im Inneren genauso wie
im Äußeren. Deswegen brauchen wir eine Politik – der
Bundeskanzler hat darauf hingewiesen; er tut aber nichts
dafür –,


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Doch!)

die das Zusammenwachsen von innerer und äußerer
Sicherheit besser bewältigt. Wir brauchen ein Sicherheits-
paket III, damit endlich bestimmte Lücken geschlossen
werden, die uns im Kampf gegen den Terrorismus behin-
dern. Dazu enthält Ihre Koalitionsvereinbarung nur ver-
schwommene Formulierungen, nichts Konkretes.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Herr Bundeskanzler, wir brauchen ein Zuwande-

rungsgesetz, durch das die Integration der bei uns leben-
den ausländischen Bürgerinnen und Bürger verbessert
wird.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das hat er doch gesagt! Das steht im Gesetz! Das Gesetz bekämpfen Sie!)


Diese erfolgt vor Ort. Wir haben bisher nichts darüber ge-
lesen, welche finanziellen Maßnahmen Sie auf den Weg
bringen wollen, damit die Integration gelingen kann. Sie
haben zwar pro forma von „Steuerung der Zuwanderung“
gesprochen. Aber Sie haben das Wort „Begrenzung der
Zuwanderung“ nicht in den Mund genommen. Ich sage
Ihnen: Bei Ihnen gibt es viel zu viele, die noch immer ihre
multikulturellen Tagträume träumen und sich nicht um die
eigentlichen Anliegen der Bürgerinnen und Bürger küm-
mern.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir wollen wie Sie ein verlässliches, zusammenwach-

sendes und klar geregeltes Europa. Wir begrüßen, wann
immer es in die richtige Richtung geht, die Arbeit des
EU-Konvents. Keine Frage, Herr Fischer, wir freuen uns
über Ihren Sitz im Konvent. Wenn Sie, Herr Bundeskanz-
ler, uns aber – wie neulich bei der Frage, wie Opposition
und Regierung gut zusammenarbeiten könnten – großher-
zige Angebote machen, dann müsste es doch möglich
sein, dass neben dem Bundesaußenminister auch wir von
der Opposition einen Sitz in dem EU-Konvent für den
ausgeschiedenen Bundestagsabgeordneten Meyer be-
kommen. Herr Schäuble wäre ein toller Partner für Herrn
Fischer gewesen. Es wäre zum Wohle Deutschlands ge-
wesen. Das hätte ich unter Großherzigkeit verstanden,
Herr Bundeskanzler.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wenn Sie in diesen Tagen über Europa sprechen, dann
halte ich es für einen Fehler – ich würde es für einen be-
sonders großen Fehler halten, wenn dies auch noch Teil
eines Kompensationsgeschäfts wäre –, wenn Sie über den
Beitritt der Türkei zur Europäischen Union sprechen.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

Sie wissen doch, dass Ihre Kollegen von der Friedrich-
Ebert-Stiftung genauso wie die von der Konrad-
Adenauer-Stiftung und der Heinrich-Böll-Stiftung alle
Hände voll damit zu tun haben, zu verhindern, dass sie
nicht jahrzehntelang ins Gefängnis müssen. Ich sage Ih-
nen: Es ist jetzt nicht der Zeitpunkt, an dem wir über den
Beitritt der Türkei zur Europäischen Union sprechen soll-
ten. Lassen Sie das sein! Das ist nicht zum Wohle der Eu-
ropäischen Union.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wir wollen ein Deutschland, das sich europäischer Tra-
dition und Werte – ich sage ganz besonnen: gerade auch
der christlich-abendländischen – bewusst ist. Deshalb
brauchen wir eine Politik, die fest verwurzelt ist und sich
gleichzeitig Neuem öffnet. Das ist dann eine Politik, die
um die Bedeutung von Halt, Heimat und Orientierung der
Menschen in Zeiten der Globalisierung weiß. Wie wich-
tig dies gerade auch für jüngere Menschen in unserem
Land ist, hat noch einmal die Shell-Studie in diesem Jahr
gezeigt.

Wir wollen ein Deutschland, das selbstbewusst ist und
das sein Licht nicht unter den Scheffel stellt. Aber dieses
selbstbewusste Deutschland werden wir nur bekommen,
wenn wir ein verlässlicher Partner sind. Verlässlichkeit ist
die Voraussetzung dafür, dass wir Leadership in Partner-
ship wirklich leben können.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sie haben auf diesem Gebiet Vertrauen verspielt. Wir von
der Opposition werden versuchen, es so weit wie möglich
wiederzugewinnen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Deshalb heißt die Rückkehr des Politischen, dass wir

den Gestaltungsanspruch der Politik bei dem, was wir
wollen, auch wieder zur Geltung bringen, dass die Men-
schen wissen, was sie von einer Regierung erwarten kön-
nen, und zwar nicht nur von Montag bis Dienstag, sondern
über vier Jahre bzw. – besser – über einen noch längeren
Zeitraum.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Deshalb machen wir das auch! Völlig richtig!)


Deshalb sage ich Ihnen – hören Sie noch einmal genau zu –:
„Wir sind zurzeit dabei auszutesten, wo es beginnt, die Wett-
bewerbsfähigkeit der deutschen Industrie und der deutschen
Unternehmen zu gefährden.“ – Das sagte Herr Supermini-
ster Clement vorgestern bei „Sabine Christiansen“. Lassen
wir uns dieses Wort „austesten“ wirklich einmal auf der
Zunge zergehen: die Wettbewerbsfähigkeit der deut-
schen Industrie als Versuchskaninchen von Rot-Grün.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Völliger Quatsch!)



(A)



(B)



(C)



(D)


68


(A)



(B)



(C)



(D)






Da kann ich nur sagen: Der Superminister wird zum Su-
per-GAU für diese Bundesrepublik Deutschland.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist unsinnig!)


Wenn Sie so viel schreien, muss man doch einfach einmal
fragen: Haben Sie eigentlich verstanden, was Globalisie-
rung ist?


(Zurufe von der SPD: Ja!)

Wissen Sie, dass Globalisierung eine permanente Wettbe-
werbssituation für jeden kleinen und großen deutschen
Betrieb bedeutet? Wissen Sie, wie viele Betriebe sich in
diesem Land mit der Absicht tragen, das Land zu verlas-
sen, weil sie diese Koalitionsvereinbarung gelesen haben?
Wenn Sie dann schon einen Supermann für Superwirt-
schaft aus dem angeblichen Superland holen und der als
Erstes erklärt, dass er jetzt mal ein paar Versuchsballons
startet, dann kann ich nur sagen: Sie haben nicht verstan-
den, wie ernst es um die Arbeitsplätze in dieser Bundes-
republik Deutschland steht.


(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie haben immer noch keine eigene Antwort gegeben!)


Deshalb sage ich Ihnen: Wir stehen in diesem Parla-
ment für Verlässlichkeit. Wir wissen, dass unsere Gesell-
schaft vor großen Herausforderungen steht. Und wir wis-
sen, dass es wichtig ist, dass wir eine neue bürgerliche
Gesellschaft in diesem Lande schaffen,


(Ludwig Stiegler [SPD]: Ihr seid in der Opposition und da dürft ihr auch bleiben! – Joachim Poß [SPD]: Das wird aber nicht einfach für Sie mit Herrn Merz zusammen!)


eine Gesellschaft, in der jeder Einzelne bereit ist, Initia-
tive zu ergreifen und Verantwortung zu übernehmen.


(Zuruf von der SPD: Von Ihnen haben wir dazu nichts gehört!)


Wir sind bereit, mit den Menschen genau in diesem Sinne
einen Vertrag zu schließen, weil wir langfristig berechen-
bar sind.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Die haben den Vertrag am 22. September geschlossen!)


– Hören Sie doch zu! Sie wollen doch immer wissen, wie
wir unsere Oppositionszeit verstehen.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Dazu haben Sie in 50 Minuten nichts gesagt!)


Wir verstehen uns als Wächter, nicht als Blockierer, und
zwar als Wächter im Sinne der Menschen dieses Landes:
im Bundestag, im Bundesrat und auf allen Ebenen, in de-
nen wir Verantwortung haben, sei es als Regierung oder
sei es als Opposition.

Herr Bundeskanzler, Sie haben in der Debatte am
13. September, der letzten vor der Bundestagswahl, in der
Ihnen eigenen bescheidenen Art dem Kanzlerkandidaten
der Union, Edmund Stoiber, gesagt – ich wiederhole es

wörtlich: „Sie wollen vielleicht Kanzler werden, aber Sie
haben nicht die Fähigkeiten dazu.“


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich antworte Ihnen, und zwar im Lichte dessen, was Sie
heute hier vorgetragen haben und was wir in den letzten
Wochen gehört haben:


(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben ja nicht einmal die Fähigkeit zur Opposition!)


Sie, Herr Bundeskanzler, wollen vielleicht dieses Land ir-
gendwie von Ereignis zu Ereignis bringen; aber die Fähig-
keit, es zum Wohle der Menschen in diesem Land zu
führen und die schöpferischen Kräfte in diesem Land zu
wecken, haben Sie nicht.


(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der FDP)


Die haben Sie nicht, weil Sie keine Idee haben und weil
Sie die Menschen in diesem Land nicht ernst nehmen.
Und weil Sie die Menschen nicht ernst nehmen, wird die
Union gebraucht, mehr denn je, CDU und CSU. Ich sage
Ihnen: Wir nehmen genau diesen Auftrag – und dann auch
noch mit Freude – an.

Herzlichen Dank.

(Lang anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1500400400

Ich erteile dem Kollegen Franz Müntefering, SPD-

Fraktion, das Wort.

(Beifall bei der SPD)



Franz Müntefering (SPD):
Rede ID: ID1500400500

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-

ren! Der Start in eine Legislaturperiode ist immer die Ge-
legenheit, die politischen Ziele der kommenden Jahre zu
markieren und auch die ersten konkreten Schritte festzu-
legen. Das hat der Herr Bundeskanzler auf der Grundlage
der Koalitionsvereinbarung von SPD und Grünen heute
für die Regierung getan.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Märchenonkel! – Zurufe von der CDU/CSU: Wo? – Wann?)


Wir 251 von der SPD werden in der Koalition mit den
Grünen zusammen alles dafür tun, dass Bundeskanzler
Gerhard Schröder und diese Regierung gute Politik für
unser Land machen können. Die Arbeit kann beginnen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das Wahlergebnis vom 22. September war knapp, aber
klar. Die Mehrheit der Menschen hat Gerhard Schröder
als Bundeskanzler gewollt und gewählt, auch bewusst die
Koalition von SPD und Grünen gewählt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Michael Glos [CDU/CSU]: Die Leute sind getäuscht worden!)


Dr. Angela Merkel




Franz Müntefering
Die Verlierer vom 22. September heißen Edmund Stoiber
und Angela Merkel.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Michael Glos [CDU/CSU]: Der Verlierer heißt Deutschland!)


Die Opposition hat in der Demokratie eine wichtige Funk-
tion – das wissen wir und das respektieren wir –, aber Herr
Stoiber hat es vorgezogen, nicht im Deutschen Bundestag
dabei zu sein und nun aus München Strippen zu ziehen.

Ihnen, Frau Merkel, will ich sagen: Es macht keinen
Sinn, dass Sie uns heute wieder Ihre verkorksten Wahlre-
zepte anbieten. Was Sie heute vorgelesen haben, war eine
Rede aus der Wahlkampfzeit.


(Beifall der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Sie hätten in der Zwischenzeit lesen sollen, was wir uns
für diese Legislaturperiode vorgenommen haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Mit genau den Thesen, die Sie heute vorgetragen haben,
sind Sie am 22. September gescheitert. Die Menschen
wollen Ihre Politik nicht. Auch deshalb haben sie uns ge-
wählt und uns das Vertrauen für die kommenden vier
Jahre für die Regierung in Deutschland gegeben.


(Beifall bei der SPD)

Sie, Frau Merkel, sind gut beraten, neu zu beginnen.

Lassen Sie Ihre in der Wahl gescheiterten Positionen
friedlich ruhen und denken Sie neu nach! Kümmern Sie
sich vor allem um Ihre Selbstfindungskommission, von
der man lesen konnte! Da haben die lange Zeit etwas zu
tun, zum Beispiel in der Geschichte mit dem Tafelsilber.
Klären Sie sicherheitshalber auch, ob die Herren Merz
und Koch denn Ihre Helfer oder Ihre Helfershelfer sind!
Schauen Sie, ob das mit den Referenten denn jetzt unter-
einander geklärt ist!


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Michael Glos [CDU/CSU]: Oh, wie billig!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen hier über
Politik, nicht über die Neuroseprobleme von CDU/CSU
sprechen. Es gibt schwerwiegende politische Herausfor-
derungen in Deutschland – nur Ignoranten verdrängen
das –, aber diese Probleme sind lösbar; nur Angsthasen
leugnen das. Deutschland ist ein starkes Land mit großem
Potenzial, mit tüchtigen Unternehmern und tüchtigen Un-
ternehmerinnen, mit tüchtigen Arbeitnehmern und Ar-
beitnehmerinnen, mit einer tragfähigen Infrastruktur, mit
erstklassigen Forschungseinrichtungen und vielen Paten-
ten, mit leistungsfähigen Schulen und Hochschulen, mit
einem Wohlstand wie nie zuvor in der Geschichte, mit ei-
nem stabilen sozialstaatlichen Aufbau, mit Menschen, die
zu Anstrengungen bereit sind – der Gegenwart und der
Zukunftsfähigkeit wegen.

Wir wissen: Es wird nicht leicht. Aber die deutschen So-
zialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind voller Zu-
versicht in die Gestaltbarkeit der Dinge und der Zukunft.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Deutschland ist mit dieser Regierung auf gutem Weg.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Politik hat eine große Verantwortung, aber sie schafft
nicht alles allein. Wir wollen Verantwortungspartner-
schaft. Wir wollen die Koalition mit den Menschen in un-
serem Land. Dazu suchen wir das offene und, wo es nötig
ist, auch streitige Gespräch um den richtigen Weg. Wir
kehren nichts unter den Teppich. Wir machen deutlich, wo
gemeinsame Anstrengungen erforderlich sind. Wir wollen
den Dialog und den Kompromiss.

Wir brauchen viele, die diesen Weg aktiv mitgehen,
zum Beispiel in den Vereinen, in den Verbänden, in den
Gewerkschaften, in den Kirchen, in den Initiativen und in
den Gruppen. Es sind Millionen, die sich für die Gesell-
schaft aktiv und oft mit viel Einsatz von Zeit und mit
ihrem wenigen Geld engagieren. Das ist der gesellschaft-
liche Kitt, der dazu beiträgt, Lebensqualität in den Städ-
ten und Dörfern zu garantieren.


(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert)

Diejenigen, die sich zum Beispiel in den kleinen Sport-
vereinen engagieren, tun für die Entwicklung der Kinder
und Jugendlichen unendlich viel. Diese Menschen haben
Dank verdient und wir brauchen sie auch weiterhin.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Unser Land braucht auch das Engagement der Ent-
scheidungsträger in der Wirtschaft. Die meisten dieser
Entscheidungsträger werden akzeptieren, dass sie auf ei-
nige steuerliche Privilegien in Zukunft verzichten müs-
sen, weil die Lage der Staatskasse und das Gemeinwohl
das erfordern. Sie werden deswegen nicht arm und sie
bleiben wettbewerbsfähig. Man konnte lesen – Frau
Merkel zitierte das eben –, dass einige über die Verlage-
rung des Standorts ihres Unternehmens ins Ausland nach-
denken. Diejenigen, die das tun, darf man daran erinnern,
dass die Wirtschaft für die Menschen da ist und nicht um-
gekehrt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wer mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in
Deutschland über Jahrzehnte Erfolge erzielt und Reich-
tum erworben hat, der muss auch seine Verantwortung für
die Menschen und Regionen in Deutschland sehen. Ver-
ehrte Bosse, so viel Patriotismus muss schon sein, dass
man nicht wegläuft, wenn es im eigenen Land einmal an-
strengend wird.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Michael Glos [CDU/CSU]: Jawohl, Genosse!)


In diesen Tagen wird vieles gleichzeitig angemahnt –
mit Recht.

Erstens. Die Konsolidierung des Haushalts muss wei-
tergehen; die Neuverschuldung muss sinken. 2006 muss
die Nettokreditaufnahme des Bundes bei null sein. Ich
möchte Sie an das erinnern, was Sie uns 1998 hinterlassen


(A)



(B)



(C)



(D)


70


(A)



(B)



(C)



(D)






haben: Das, was wir da geerbt haben, bedeutete, dass wir
an jedem Tag in Bonn und dann in Berlin 220 Milli-
onen DM Schuldzinsen zu zahlen hatten – nicht Schulden,
sondern Zinsen für Schulden! Das darf so nicht weiter-
gehen. Wir werden mit Hans Eichel dafür sorgen, dass
die Nettokreditaufnahme sinkt; denn wir wollen unseren
Kindern etwas anderes als Schuldscheine und Hypo-
theken vererben. Das bleibt das Ziel unserer Politik.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Zweitens. Es geht um die Investitionen des Bundes in
Bildung, Forschung und Infrastruktur. Diese Investi-
tionen müssen weitergehen, und zwar mit steigender Ten-
denz. In die Infrastruktur muss auch deshalb investiert
werden, weil wir nicht von der Substanz leben dürfen.
Übrigens, die Investitionen des Bundes sind im kommen-
den Jahr höher als je zuvor:


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Was?)

Sie liegen bei fast 29 Milliarden Euro.

Drittens. Die Steuern müssen sinken. Das werden sie
2004 und 2005. Das entsprechende Gesetz ist beschlossen
und gilt. Nach Ablauf von sechs Jahren werden wir den
Eingangssteuersatz von 25,9 Prozent auf 15 Prozent und
den Spitzensteuersatz ebenfalls deutlich gesenkt haben.
Das ist eine steuerpolitische Großtat, von der Sie nur träu-
men können. Wir haben die Steuern gesenkt und wir wer-
den das auch weiterhin tun.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Viertens. Die Lohnnebenkostenmüssen sinken. Dafür
zu sorgen ist besonders schwer, weil die Last in Zeiten ho-
her Arbeitslosigkeit auf wenigen Schultern liegt. Wir wer-
den die Entwicklung der Rentenversicherungs- und der
Krankenversicherungsbeiträge sehr bald gesetzlich stabi-
lisieren. Sie alle werden dann Gelegenheit haben, dafür zu
stimmen und mit dafür zu sorgen, dass das, was wir alle
miteinander wollen, nämlich stabile Lohnnebenkosten, er-
reicht wird. Man darf gespannt sein, ob diejenigen, die
dem Grundsatz heute Beifall zollen, mitmachen, wenn es
um die Umsetzung in konkrete Maßnahmen geht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Zum Kapitel Lohnnebenkosten gehört auch, dass wir

der illegalen Beschäftigung – der am schnellsten wach-
senden Branche überhaupt – noch massiver als bisher den
Kampf ansagen. Ein Bauunternehmer mit 20 Angestell-
ten, für die er ordnungsgemäß Arbeitnehmer- und Arbeit-
geberbeiträge entrichtet, wird von solchen Bauunterneh-
mern ausgetrickst, die durch Ausbeutung illegal
Beschäftigter die Preise unterbieten. Es darf nicht so blei-
ben, dass die ehrlichen Unternehmer und die ehrlichen Ar-
beitnehmer in Deutschland die Dummen sind, während
sich die anderen ins Fäustchen lachen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es verwundert schon, dass die Spitzen der Unterneh-
merverbände die Bundesregierung wegen der zu hohen
Lohnnebenkosten attackieren, obwohl sich in ihren eige-

nen Reihen genau diejenigen befinden, die das System
durch illegale Beschäftigung massiv unterlaufen. Die Ver-
bände sollten sich um die schwarzen Schafe in ihren ei-
genen Reihen kümmern. Wenn sie das täten, dann wäre
viel gewonnen. Die Verbände sollten zugeben, dass Kün-
digungsschutz für Arbeitnehmer und Flächentarife unver-
zichtbare Stabilisatoren unserer wirtschaftlichen Ordnung
sind und bleiben müssen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Konsolidierung des Haushalts, steigende Investitions-

quote, sinkende Steuern, stabile Sozialversicherungs-
beiträge – das alles bei den gegebenen weltwirtschaft-
lichen Rahmenbedingungen gleichzeitig zu erreichen ist
nicht leicht, aber möglich. Wir werden das schaffen. Dazu
müssen alle einen Beitrag leisten, der ihren Möglichkei-
ten entspricht. Privilegien werden beschnitten, Ausgaben
gekürzt, eine gerechte Verteilung der Lasten gesichert.
Starke Schultern werden mehr zu tragen haben als
schwächere, damit alle Chancen haben, die Chance auf
Bildung und auf Beschäftigung ganz vorneweg. Deshalb
machen wir diese Politik.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Zu dieser für die kommenden Jahre dominierenden
Aufgabe gehört es auch, die Verkrustungen des Fördera-
lismus in unserem Land aufzubrechen und wieder mehr
Klarheit über Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten
zwischen Bund und Ländern einschließlich Gemeinden
zu schaffen. Bürgernähe, Demokratie und moderne Ver-
waltung brauchen klare Regeln. Die Gemeindefinanz-
reform, die in Vorbereitung ist, wird uns dicht an dieses
Thema heranführen. Es wäre gut, wenn jenseits der Ta-
gesaktualitäten ein zielführendes Nachdenken über die
Frage begänne, wie sich deutsche Politik in einem unbe-
strittenen förderalen System so organisiert, dass sie effi-
zient und unkompliziert zeitgemäß wirken kann und neue
Impulse möglich werden. Ich fordere keinen Konvent,
aber doch einen zielgerichteten Dialog hierzu. Ich hoffe,
dass sich keine Seite des Hauses diesem Dialog entzieht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Unabhängig davon werden wir mit unserer Entschei-
dung vor allem zu Arbeitsmarkt-, Steuer- und Finanzpoli-
tik jetzt die Basis für die großen politischen Projekte
schaffen, die wir in dieser Legislaturperiode voranbringen
wollen, die sich von dem Motto der Koalitionsvereinba-
rung „Erneuerung – Gerechtigkeit – Nachhaltigkeit“ ab-
leiten. Ein Projekt heißt: Beschäftigung. Beschäftigung
schafft Wachstum, Wachstum schafft Beschäftigung. Da-
ran orientieren wir uns bei der Umsetzung der Hartz-Vor-
schläge und bei der Mittelstandsinitiative.

Hartz nimmt den zentralen Gedanken auf, dass die Ar-
beit, die es in Deutschland gibt, von denen getan werden
muss, die legalerweise in Deutschland sind. Wir können
es uns nicht leisten, über 4Millionen gezählte Arbeitslose,
über 1 Million offene Stellen und wachsende illegale Be-
schäftigung zu akzeptieren.

Vermittlung ist nicht alles – klar – aber gezieltere Ver-
mittlung ist schon wichtig. Personal-Service-Agenturen,

Franz Müntefering




Franz Müntefering
die Arbeitnehmer auf Zeit vermitteln, sie nicht in die Ar-
beitslosigkeit zurückfallen lassen, sondern sie sozial si-
chern und qualifizieren, werden nicht das ganze Problem
lösen, aber doch zur Lösung beitragen. Kapital für Arbeit
hilft den Arbeitgebern, die Arbeitslose dauerhaft einstel-
len, ihre Eigenkapitaldecke und ihre Investitionskraft zu
stärken.

Beschäftigung schaffen, Vermittlung verbessern, kun-
denfreundliche und effiziente Strukturen in der Arbeits-
marktpolitik schaffen, das will das Konzept Hartz. Mein
Appell geht an das ganze Haus, als Gesetzgeber das rund-
um vernünftige Konzept Hartz schnell auf den Weg zu
bringen. Sie werden in wenigen Tagen dazu alle mitei-
nander Gelegenheit haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es wird uns wichtige Schritte voranbringen und der
Bekämpfung der Arbeitslosigkeit dienen.

Dazu gehört aber auch die Mittelstandsinitiative als
weiterer zusätzlicher Impuls, der bald realisiert werden
muss. Unser Land braucht mehr Unternehmerinnen und
Unternehmer. In der Wissensgesellschaft sind mehr denn
je Menschen gefragt, die den Mut haben, eigene unterneh-
merische Initiativen und Ideen zu verwirklichen, Verant-
wortung zu übernehmen und Arbeitsplätze zu schaffen.
Wir werden deshalb mit einer neuen Gründerinitiative den
Sprung in die berufliche Selbstständigkeit fördern und
begleiten. Es geht um Beratung und Information, um Exis-
tenzgründerlehrstühle, um verbesserte Finanzierung. Dazu
gehört auch, den unternehmerischen Generationswechsel
zu erleichtern und den Berufszugang sowie die Vereinbar-
keit von Familie und Beruf zu verbessern.

Wir werden im Handwerksbereich den eingeleiteten
Liberalisierungsprozess fortführen und darauf hinwirken,
dass das Handwerksrecht einen wirksamen Beitrag zur
Bekämpfung der Schwarzarbeit erbringen kann. Wir wol-
len die erleichterte Betriebsübernahme durch langjährige
Gesellen und Lockerung des Inhaberprinzips auch bei den
Personengesellschaften.


(Beifall bei der SPD)

Existenzgründer werden in den ersten vier Jahren von
Beiträgen zur Industrie- und Handelskammer freigestellt.
Die Kreditanstalt für Wiederaufbau und die Deutsche
Ausgleichsbank werden zu einem Förderinstitut zur Un-
terstützung der mittelständischen Wirtschaft mit dem Ziel
kostengünstiger Förderinstrumente zusammengelegt. Die
Umsetzung der Idee einer Mittelstandsinitiative ist eine
der zentralen Punkte dieser Bundesregierung für die kom-
mende Legislaturperiode. Das hat die volle Unterstützung
der SPD-Bundestagsfraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ein Projekt heißt: Deutschland kinder- und familien-
freundlicher machen. In den vergangenen vier Jahren ha-
ben wir in diesem Bereich viel aufgeholt. Es bleibt aber
auch noch genug zu tun. Die Familienmüssen selbst ent-
scheiden, wie sie leben und wie sie ihr Leben organisie-
ren wollen. Wir machen da niemandem Vorschriften. Die
eine Lebensform ist genauso viel wert wie jede andere. Es

ist aber offensichtlich, dass die unzureichenden Möglich-
keiten für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ganz
besonders junge Frauen und Mütter behindern. Das wol-
len wir ändern. Betreuungsangebote für die Kinder wer-
den verbessert, bei den 0- bis 3-Jährigen im Krippenalter
und bei den Grundschülern im Hortalter ist der Nachhol-
bedarf besonders groß. Den Ausbau des Angebots an
Ganztagsschulen und Krippenplätzen werden wir mit
Bundesmitteln forcieren. Das ist gut für die Kinder, aber
auch für die Eltern.

Die in anderen Ländern gemachten Erfahrungen leh-
ren: Bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf bedeu-
tet mehr Kinder, nicht weniger. Das bedeutet im Übrigen
auch, das Können und die Kreativität der Frauen stärker
als bisher in die Volkswirtschaft einzubeziehen. Eine Er-
werbsquote von nur 60 Prozent bei den Frauen im Westen
der Republik ist zu wenig. Es müssen noch mehr eine
Chance bekommen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Noch etwas zum Thema junge Frauen: Diese müssen
mehr Chancen im Bereich der Informations- und Kom-
munikationstechnologien bekommen. Dass Studienplätze
in diesem Bereich bisher überwiegend von jungen Män-
nern besetzt werden, ist nicht gut. Frauen beherrschen das
Thema und die Technik mindestens genauso gut wie die
Männer. Wir wollen – das steht in unserer Koalitionsver-
einbarung –, dass bis 2005 Frauen mindestens 40 Prozent
der Studien- und Ausbildungsplätze in den IT-Berufen
einnehmen. So konkret sieht bei uns die Schaffung von
Chancengleichheit aus. Das werden wir auch durchsetzen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Übrigens gibt es nicht nur bei Frauen auf dem Arbeits-
markt Nachholbedarf, sondern generell auch bei älteren
Menschen. Zu den Älteren zählen heute vielfach schon
50-Jährige und nicht selten noch Jüngere. Wir wollen mit
entsprechenden Maßnahmen auf dem Arbeitsmarkt dafür
sorgen, dass sich das ändert. 55-Jährige gehören nicht in
den Vorruhestand. Sie gehören an die Arbeit und können
das auch.


(Dr. Angela Merkel [CDU/CSU]: Richtig!)

Dass in Deutschland das Arbeitsleben im Durchschnitt
mit 21 Jahren beginnt und mit circa 59 Jahren endet, hat
zu schlimmsten Verwerfungen in unserem Sozialstaat ge-
führt. 38 Jahre Lebensarbeitszeit sind zu wenig. Wir
werden daran arbeiten müssen, dass man ins Arbeitsleben
früher hineinkommt und später aussteigt.

Das offizielle Renteneintrittsalter von 65 Jahren muss
nicht erhöht werden. Wer wie Herr Merz das fordert, re-
det Unsinn. Wer wirklich zu einem Invaliden wird, muss
sozial abgesichert sein, egal wann er Invalide wird. Mit
unseren Maßnahmen kommen wir aber auf ein faktisches
Renteneintrittsalter von 62 oder 63 Jahren, nicht mehr wie
bisher von 59 Jahren. In den sozialen Sicherungssystemen
macht das einen riesigen Unterschied aus. Wir müssen die
Trendwende in den kommenden Jahren schaffen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



(A)



(B)



(C)



(D)


72


(A)



(B)



(C)



(D)






Auch für die Betroffenen ist das übrigens wichtig. Die al-
lermeisten wollen nicht mit 59 oder 55 oder 52 oder noch
früher vom Arbeitsmarkt verdrängt werden; sie wollen ar-
beiten. Sie können das auch, sie haben Erfahrung, sie ha-
ben Wissen. Die Unternehmen in unserem Land müssten
verrückt sein, wenn sie diese Altersklasse abschrieben.
Diesen Menschen muss eine Chance im Leben und auf
dem Arbeitsmarkt gegeben werden.


(Beifall bei der SPD)

Damit hängt noch ein Weiteres zusammen: Ich höre von

den Unternehmensverbänden, es fehlten Hunderttausende
qualifizierterArbeitnehmer.Dazu sage ich: Erstens. Bil-
den Sie doch aus, Herr Rogowski und Herr Hundt.


(Beifall bei der SPD)

Personalentwicklungspolitik ist doch auch Ihre Aufgabe.

Zweitens. Vergessen Sie die Älteren nicht und ver-
steigen Sie sich nicht auf Zuwanderung als einzige Mög-
lichkeit. Gegen das, was die Kochs und Becksteins da
erzählen, ist festzuhalten: Mit unserem Zuwanderungs-
gesetz wird Arbeitsmigration gelenkt und gesteuert und
nicht ausgeweitet. Es wird kein Mandat für 100 000 Inge-
nieure in der Altersklasse zwischen 30 und 35 Jahren von
irgendwo aus der Welt geben, während hier im Land
Ingenieure und qualifizierte Facharbeiter, die älter als
45 Jahre sind, arbeitslos sind. Dafür werden wir sorgen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ein Projekt heißt: die Jungen an die Arbeit. Kluge

Kommentatoren vermissen Visionen in unserer Koali-
tionsvereinbarung. Da steht aber:

Kein junger Mensch darf nach der Schule in die Ar-
beitslosigkeit entlassen werden.

Wenn das nicht ein Anspruch ist, vielleicht sogar eine
Vision! Es ist nämlich das Schlimmste, was jungen Men-
schen passieren kann, dass sie in der Schule – erfolgreich
oder weniger erfolgreich – pauken und nach der Schule
die Perspektivlosigkeit folgt. Die jungen Menschen müs-
sen die Chance haben, weiter zu lernen und zu studieren.
Mehr von ihnen als bisher müssen studieren oder aber
eine duale Ausbildung bekommen oder aber anderswie an
Ausbildung oder Arbeitsfähigkeit herangeführt werden.

Modulare Ausbildung wird dabei ein größeres Gewicht
bekommen; denn eines ist klar: Wer 22 oder 25 Jahre alt
ist und seinen Tag nie zu strukturieren brauchte, nie or-
dentlich zu lernen oder zu arbeiten brauchte, ist für den
Arbeitsmarkt verloren. Politik und Wirtschaft, Städte und
Arbeitsverwaltung sowie Schulen und Familien sind ge-
fordert. Auch die 6 bis 8 Prozent der jungen Menschen,
die die Schule ohne Abschluss verlassen, brauchen eine
Chance, gerade sie.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es wird auch deutlich, wie wichtig es ist, dass unsere Schul-
kinder die deutsche Sprache lernen, dass sie sie beherrschen.
Diese Aufgabe beginnt im Vorschulalter und in der Integra-
tionsförderung, aber auch in den Familien, gerade dort.


(Albert Deß [CDU/CSU]: Da gibt es in Nordrhein-Westfalen Nachholbedarf!)


Ein Projekt heißt: ökologische Modernisierung. Die
Naturkatastrophen rücken näher an die Zivilisation heran.
Jahrhunderthochwasser sind wahrscheinlich gar keine
Jahrhunderthochwasser mehr. Wir müssen noch massiver
Klimaschutz betreiben und den Weg eines vernünftigen
Energiemix gehen.


(Beifall bei der SPD)

In der vergangenen Legislaturperiode haben wir im Deut-
schen Bundestag 17-mal über wichtige Umweltgesetze
abgestimmt. Darunter waren die Gesetze zum Klima-
schutz, zu erneuerbaren Energien, zur Nutzung von Sonne
und Wind, zur Verstärkung der Kraft-Wärme-Kopplung.
15-mal haben CDU/CSU dagegen gestimmt.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Hört! Hört!)


Die Menschen in Deutschland waren gut beraten, dass sie
auch an dieser Stelle uns und nicht dem selbst ernannten
Umweltexperten Stoiber vertrauten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ein Projekt heißt: das Gesundheitswesen solidarisch or-
ganisieren und paritätisch finanzieren. Die gesetzliche
Krankenversicherung ist das solidarischste System über-
haupt. Sie kann nur funktionieren, wenn alle wissen: Viele
müssen mehr einzahlen, als sie herausbekommen, damit
einige, die darauf angewiesen sind, mehr an Sachleistung
herausbekommen, als sie eingezahlt haben. So funktio-
niert das. Aber jeder kann betroffen sein, jeder kann hilfs-
bedürftig werden, kann auch schon in jungen Jahren auf
qualifizierte medizinische Hilfe angewiesen sein.

Das System kann gesichert werden, wenn alle Betei-
ligten mithelfen, seine Effizienz zu verbessern und da zu
sparen, wo es ohne Einschränkung in der Qualität mög-
lich ist. Darauf richten sich unsere Bemühungen um eine
umfassende Gesundheitsreform. Im Vorgriff darauf wird
es darum gehen, die Versicherungsbeiträge schnell zu sta-
bilisieren.

Ein Projekt heißt: lebendige Demokratie, offene Ge-
sellschaft.

Es gibt in unserer Gesellschaft Minderheiten unter-
schiedlichster Art. Sie alle können sich darauf verlassen: So-
lange Sozialdemokraten regieren, solange diese Koalition
regiert, werden sie nicht ausgegrenzt, sondern akzeptiert.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir haben in den vergangenen Jahren in Deutschland viele
böse Heimsuchungen durch Menschen erlebt, die Minder-
heiten beschimpft und drangsaliert haben, einige bis zum
schlimmsten Exzess. Wir wollen in einem Land leben, in
dem kein Mensch Angst haben muss, nur weil er anders ist
als andere, und zwar unabhängig von seiner Hautfarbe,
seiner Religion, seiner Herkunft, seiner Eigenart. Das wol-
len wir zusammen mit allen Gutwilligen erreichen: ein
Land der guten Nachbarschaft sein nach innen und nach
außen, ein Land ohne Bundesprüfstelle für Leitkultur.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Franz Müntefering




Franz Müntefering

Ein Projekt heißt: Deutschland, ein normales Land in
Europa. Lange Zeit war Deutschland getrennt und wir
Deutschen in West und in Ost lebten in einer besonderen
Situation. Wir hatten einVaterland, aber wir lebten in zwei
Welten. Unsere Situation war unnormal. Wie tief greifend
die Entwicklung seit 1990 für unser Land und für uns als
Deutsche in diesem Land sein würde, haben wir 1990
vielleicht noch nicht geahnt.

Jetzt ist Deutschland ein normales Land in Europa
mit Rechten und Pflichten und in der Verantwortung, sei-
nen Beitrag für das Gelingen Europas zu leisten. Bundes-
kanzler Gerhard Schröder tut das, selbstbewusst die In-
teressen Deutschlands wahrend – das hat sich in den
vergangenen Tagen nicht zum ersten Mal gezeigt –, aber
auch darauf bedacht, dass Deutschland seinen Beitrag
dazu leistet, dass dieses Europa weiter wachsen kann und
eine Region des Friedens, der Demokratie und des Wohl-
stands bleibt. Die Bundesregierung hat dafür unsere Un-
terstützung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Vor mehr als zehn Jahren meinten manche in Deutsch-
land, die Zeit der Sozialdemokratie sei vorbei, sie habe
nahezu alles erreicht. Diejenigen, die damals dieser Mei-
nung waren, haben sich geirrt. Die Sozialdemokraten
regieren heute. Wir werden dafür sorgen, dass sich dieses
Land erneuert; denn die Erneuerung zu gestalten ist drin-
gend notwendig in einer Zeit der Globalisierung, der Eu-
ropäisierung, der tief greifenden demographischen Verän-
derung und der neuen Kulturtechniken. Wir sichern dabei
soziale Gerechtigkeit. Denn das ist und bleibt der Kern so-
zialdemokratischer Politik: das Soziale und das Demo-
kratische.

Wir wissen, dass Politik heute nur gut sein kann, wenn
sie auch morgen und übermorgen gut ist. Nachhaltigkeit
ist für manche nur ein Modewort. Aber sie ist unverzicht-
bar. Deshalb gilt für unsere Politik in den kommenden
vier Jahren und, wie wir hoffen, weit darüber hinaus, was
über der Koalitionsvereinbarung steht, nämlich das Land
zu erneuern, soziale Gerechtigkeit zu sichern und für
Nachhaltigkeit zu sorgen. Wir wollen zusammen mit den
Grünen Deutschland voranbringen. Wir nehmen uns viel
vor. Wir werden es schaffen.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Anhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1500400600

Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Westerwelle,

FDP-Fraktion, das Wort.

(Beifall bei der FDP – Zurufe von der SPD: Oh!)



Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Rede ID: ID1500400700

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Herr Bundeskanzler, Sie haben Ihre Regierungser-
klärung in einer Geschäftsmäßigkeit abgegeben, die für

die erste Regierungserklärung dieser Legislaturperiode
wirklich bemerkenswert ist.


(Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wo ist Frau Flach, Herr Westerwelle?)


Sie haben den Text der Regierungserklärung, der Ihnen
aufgeschrieben wurde und der selbst ohne Schwung ist,
ohne Dynamik und ohne Temperament vorgetragen.


(Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wo ist Frau Flach, Herr Westerwelle? Wir wollen Frau Flach sehen!)


So kann man das Land nicht in Schwung bringen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Diese Regierungserklärung war eine Regierungser-
klärung der babylonischen Sprachverwirrung. Als ich
gestern Nacht diesen Text zum ersten Mal lesen konnte,
den Sie heute im Stile eines Notars bis auf wenige Ab-
weichungen eins zu eins verlesen haben, ist mir wie dem
gesamten Bundestag heute ein Wort aufgefallen, das es
verdient, noch einmal erwähnt zu werden: intelligentes
Sparen. Herr Bundeskanzler, es ist zwar gut, dass Sie,
wenn auch unbeabsichtigt, Ihren Wortwitz in Anbetracht
der Erblast, die Schröder Schröder hinterlassen hat, nicht
verloren haben. Aber man muss schon fragen: Was heißt
eigentlich intelligentes Sparen? Intelligentes Sparen heißt
für die Deutschen nichts anderes als höhere Steuern,
höhere Abgaben, höhere Schulden und weicher Euro. Sie
haben eine babylonische Sprachverwirrung vorgetragen,
aber keine sachliche, vernünftige und konkrete Regie-
rungserklärung.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Man muss im Detail nachlesen, was Sie im Koalitions-

vertrag aufgeschrieben haben. Zunächst einmal haben Sie
Ihren Koalitionsvertrag mit „Erneuerung – Gerechtigkeit
– Nachhaltigkeit“ überschrieben.


(Jörg Tauss [SPD]: Sehr gut!)

Das sind ebenfalls drei Worte der babylonischen Sprach-
verwirrung. Denn nach rot-grüner Lesart heißen Erneue-
rung, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit Folgendes: Er-
neuerung heißt bei Ihnen neue Steuern und neue
Schulden. Gerechtigkeit heißt bei Ihnen: Alle haben die
Chance, arbeitslos zu werden. Nachhaltigkeit heißt bei Ih-
nen: Solange Rot-Grün regiert, wird es auch so bleiben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Deswegen ist es notwendig, dass wir auf das hinweisen,

was Sie vor der Wahl gesagt haben und was Sie nach der
Wahl sagen. Vor der Wahl haben Sie gesagt, die Steuern
würden nicht erhöht. Nach der Wahl haben Sie allen mit-
teilen müssen, dass die Steuern natürlich erhöht werden.


(Lothar Mark [SPD]: Was ist mit den 18 Prozent?)


Vor der Wahl haben Sie gesagt – auch das ist bemerkens-
wert –, die Abgaben würden nicht steigen. Mittlerweile
wissen wir, dass alle Abgaben für die sozialen Siche-
rungssysteme steigen werden.


(A)



(B)



(C)



(D)


74


(A)



(B)



(C)



(D)






Vor der Wahl haben Sie davon gesprochen, man dürfe
keine Politik zulasten der Jungen machen und dement-
sprechend dürfe unser Land nicht mit neuen Schulden
konfrontiert werden. Mittlerweile wissen wir, dass Sie die
Schulden entgegen dem, was Sie sich für die nächsten
Jahre vorgenommen hatten, deutlich erhöhen werden, und
zwar schon nach jetzigem Stand vermutlich um weit mehr
als 6 Milliarden Euro. Das ist ein falscher Weg der Regie-
rung und das wird Ihnen zunehmend entgegengehalten.

Wir haben in der letzten Woche bemerkenswerte Kron-
zeugen bekommen, die ich Ihrer Aufmerksamkeit emp-
fehle. Nach Ihrer Lesart sind das ja die „Kettenhunde“ der
Opposition. Die Repräsentanten großer Verbände, die am
gesellschaftlichen Leben mitwirken, auf dem Bundespar-
teitag der SPD als Kettenhunde zu bezeichnen, allein das
ist schon eine bemerkenswerte Wortwahl.


(Beifall bei der FDPund der CDU/CSU –Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben Kettenhunde in Ihrer eigenen Partei!)


Es gibt übrigens einen weiteren Beitrag zur babyloni-
schen Sprachverwirrung. Von Herrn Müntefering haben
wir gerade Entsprechendes gehört. Er hat über Toleranz ge-
genüber Minderheiten gesprochen und festgestellt, dass sie
notwendig ist. Aber als bei der Kanzlerwahl eine Stimme
aus Ihren Reihen fehlte, haben Sie großspurig hinaus-
posaunt: Wir werden den schuldigen Abweichler finden.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Übel! – Zurufe von der SPD: Oh!)


Das ist Ihr Parlamentsverständnis und Ihr Toleranzver-
ständnis. Es ist ein politischer Treppenwitz, was Sie als
politischer Wächter für Kultur hier einbringen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte für Sie aus dem Herbstgutachten der
führenden Wirtschaftsforschungsinstitute, das letzte Wo-
che veröffentlicht worden ist, zitieren. Dies muss aus un-
serer Sicht vorgetragen werden. Mögen Sie die führenden
Wirtschaftsköpfe in unserem Lande auch Kettenhunde
nennen; sie haben Ihnen die Wahrheit ins Stammbuch ge-
schrieben. Wörtlich stand im Herbstgutachten der letzten
Woche:

Die Koalitionsvereinbarungen zur Anhebung von
Steuern und Sozialabgaben sind das Gegenteil des-
sen, was wachstumspolitisch geboten ist. ... Auch
hier hat sich die Politik in den vergangenen Jahren in
die falsche Richtung bewegt.

Aus meiner Sicht füge ich hinzu: All das, was Sie hier
zur Wirtschafts-, Finanz-, Steuer- und Sozialpolitik vor-
getragen haben, ist exakt das Gegenteil von dem, was
Deutschland braucht, damit es einen besseren Weg ein-
schlagen kann.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie haben ja die Hartz-Kommission als Generallö-
sungsmittel eingeführt, so als ob das der entscheidende

Beitrag sei. In Wahrheit haben Sie dabei vergessen, dass
Sie damit nur an den Symptomen kurieren werden. Als
Herr Hartz im Sommer dieses Jahres das erste Mal mit sei-
nem Konzept an die Öffentlichkeit gegangen ist,


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Die erste Fassung war gut!)


da konnte man noch hoffen, dass aus „Hartz“ irgendwann
einmal ein Bernstein wird. Mittlerweile haben wir fest-
stellen können, dass durch die Intervention Ihrer Gewerk-
schaftsfunktionäre und Ihrer Regierungsmitglieder die
notwendigen Strukturmaßnahmen, die seinerzeit von
Hartz vorgeschlagen worden sind, weich gespült und aus-
geblendet wurden.

Der eigentliche Problempunkt ist: Sie drücken sich vor
dem, was Deutschland wirklich braucht. Die Regierung
geht den Weg der ungeplanten Planwirtschaft, anstatt den
Weg der Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft zu ge-
hen. Das wird Ihnen auf die Füße fallen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Genauso wie Sie vor der Bundestagswahl zu all unse-
ren Vorhaltungen gesagt haben, das sei Propaganda der
Opposition,


(Jörg Tauss [SPD]: 18 Prozent!)

sagen Sie jetzt vor der Hessenwahl und der Niedersach-
senwahl wieder nicht die Wahrheit. Sie werden die Steu-
ern nach der Hessen- und der Niedersachsenwahl weiter
erhöhen.


(Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN– Katrin Dagmar GöringEckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und Sie werden nicht mehr im Landtag sein!)


Sie werden an die Mehrwertsteuer herangehen und den
Bürgern noch kräftiger in die Tasche greifen. Deswegen
werden wir in diesen beiden Landtagswahlkämpfen auf
Folgendes aufmerksam machen: Wer sich diesem Abkas-
sieren entgegenstellen will, wer eine Politik der wirt-
schaftlichen Vernunft will, der hat bei den beiden Land-
tagswahlen die Möglichkeit zu einer schnellen Revanche
gegen Rot-Grün.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


In der Wirtschafts-, in der Steuer- und in der Finanzpo-
litik gibt es keine Perspektive.


(Johannes Kahrs [SPD]: Kümmern Sie sich mal um die FDP!)


Man sollte sich einmal ansehen, mit welcher Flickschus-
terei Sie an die Steuersystematik herangegangen sind. Es
macht schon fast Freude, sich die Details einmal anzu-
schauen. Wir erleben beispielsweise, dass die Umsatzbe-
steuerung der landwirtschaftlichen Vorprodukte erhöht
wird. Bei der Landwirtschaft findet die Mehrwert-
steuererhöhung jetzt schon statt, das haben Sie beschlos-
sen. Davon ausgenommen sind die Futterzubereitung für
Hunde und Katzen sowie Kuchen und Kauspielzeuge für
Hunde und andere Tiere.

Dr. Guido Westerwelle




Dr. Guido Westerwelle

Ich kann Ihnen sagen, wie so etwas zustande kommt.
Ich habe da so eine Ahnung: Als Rote und Grüne am Ko-
alitionstisch zusammengesessen sind, haben sie sich ge-
sagt, die Bauern können wir strafen, sie haben uns nicht
gewählt, aber unter den Katzenliebhabern könnte es noch
ein paar Anhänger geben, deshalb können wir die Steuer
nicht erhöhen. Das ist Ihre Steuer- und Abgabenpolitik
ohne Sinn und Verstand, Herr Bundeskanzler.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr.Wolfgang Gerhardt [FDP]: Das war alles für die Katz! Das ist Steuerpolitik für die Katz!)


Dann gibt es die Kettenhunde. Ich möchte Ihnen einen
Kettenhund der Opposition vorstellen.


(Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wo ist Herr Möllemann?)


– Frau Kollegin, da Sie von den Grünen mit Ihrem Zwi-
schenruf auf unser Spendenkonto in Nordrhein-Westfalen
anspielen, möchte ich Ihnen Folgendes dazu sagen: Wis-
sen Sie, was der Unterschied ist? Bei uns gibt es einen
Vorgang, den wir aufklären, bei Ihnen kann man eine pri-
vate Urlaubsreise auf Staatskosten nach Bangkok antreten
und wird danach in die Regierung befördert. Das ist der
Unterschied in unserem Moralverständnis. Wo ist denn
Herr Schlauch?


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Grüne als moralische Instanz? Das ist doch wohl ein Witz.

Ich möchte jetzt auf die Kettenhunde der Opposition
eingehen, denn das ist ein bemerkenswerter Punkt.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist mit Herrn Gerhardt?)


Ein Kettenhund der Opposition, der IG-BAU-Chef und
SPD-Politiker Wiesehügel – er ist ein echter Kettenhund,
er saß bisher für die Sozialdemokraten im Deutschen
Bundestag –, sagt zu dem, was Sie bei der Eigenheimzu-
lage vorhaben, wörtlich:

Finger weg von der Eigenheimzulage! Rot-Grün ris-
kiert, zehntausende Jobs in der Baubranche wegzu-
sparen. Normalverdiener verlieren die Möglichkeit,
der Mietspirale zu entkommen und privates Wohnei-
gentum zu bilden.

So schnell fällt Ihr Lügengebäude zusammen, denn in
Wahrheit machen Sie keine Politik für Familien. Was ist
das für eine Familienpolitik, wenn man künftig ein Ei-
genheim nur noch mit Zulage bauen kann, wenn man
sechs Kinder hat und in einen Neubau einziehen will? Das
ist doch keine Familienpolitik. Wir müssen allen Familien
mit Kindern helfen, wir müssen alle, die mit Kindern zu-
sammenleben, finanziell entlasten.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Sie gehen den Weg der Bestrafung von Familien und Be-
ziehern kleiner Einkommen.

Entscheidend ist auch, dass Sie sich vor notwendigen
Strukturreformen drücken.


(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Völliger Unsinn!)


Ich nenne in diesem Zusammenhang das Stichwort
Hartz: Hartz immer wieder und überall,


(Jörg Tauss [SPD]: Wie Möllemann!)

als ob damit irgendjemandem geholfen wäre. Ich trage Ih-
nen das Zitat eines weiteren Kettenhundes der Opposi-
tion, des Altbundeskanzlers Helmut Schmidt – der ist ein
echter Kettenhund der Opposition –, vor. Er sagt in der
„Zeit“:

Die hartzschen Vorschläge vom Sommer dieses Jah-
res gehen in die richtige Richtung, aber sie betreffen
höchstens ein Drittel der gebotenen Deregulierung
des deutschen Arbeitsmarktes.

(Franz Müntefering [SPD]: Das wäre doch schon was!)

Im Bereich der Lohnfindung muss der flächen-
deckende Tarifvertrag verschwinden, dazu muss im
Tarifvertragsgesetz die Verordnung der Allgemein-
verbindlichkeit gestrichen


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Ein ganz Schlimmer! Ihr müsst ihn ausschließen!)


und im Betriebsverfassungsgesetz müssen jene
Paragraphen abgeschafft werden, die es den Ge-
schäftsleitungen und den Betriebsräten verbieten,
Betriebsvereinbarungen über Löhne, Arbeitszeiten
und Bedingungen abzuschließen.

Herrgott, dieser Kettenhund der Opposition, Helmut
Schmidt, hat so Recht, dass Sie endlich einmal auf ihn
hören sollten. Sie werden mit Hartz ein bisschen an den
Symptomen herumdoktern, wie Sie es bis jetzt auch ge-
macht haben, die Ursachen der Arbeitslosigkeit werden
Sie jedoch nicht bekämpfen; denn die Ursache heißt: Ar-
beit in Deutschland wird durch zu hohe Steuern und Ab-
gaben und zu viel Bürokratie zu teuer.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie stehen für mehr Steuern, für mehr Abgaben und für
mehr Bürokratie. Das ist genau der Weg, der in Deutsch-
land gestoppt werden muss.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie haben mittlerweile einige Beschlüsse gefasst. Ich
habe sie gelesen und gebe zu, dass mir eine Passage auch
deshalb besonders aufgefallen ist, weil sie ausgerechnet in
der zweiten oder dritten Zeile auf der Seite 18 Ihres Ko-
alitionsvertrags stand. Da ist Bemerkenswertes enthalten.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das tut ja weh!)


Dort schreiben Sie allen Ernstes nicht nur, dass Sie die
Abgaben erhöhen wollen – vor der Wahl war dies alles
nicht wahr –, sondern Sie schreiben auch hinein, dass Sie
noch weiter an die Schwankungsreserve der Renten ge-
hen wollen. Die Bürgerinnen und Bürger, die uns jetzt
zuschauen, wissen vielleicht nicht, was sich dahinter ver-
steckt. Ich möchte es ihnen sagen: Die Schwankungsre-
serve ist nichts anderes als der Notgroschen, den man für
die Rente braucht. Mit Ihrer Politik gehen Sie an diesen


(A)



(B)



(C)



(D)


76


(A)



(B)



(C)



(D)






Notgroschen der Rente. Sie verschulden die Rente. Dies
ist eine Katastrophe für Deutschland und für die Rentne-
rinnen und Rentner.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Horst Kubatschka [SPD]: Das stimmt doch nicht!)


Nun zu Bundesfinanzminister Hans Pinocchio Eichel,
der vor der Wahl erzählt hat: Die 3 Prozent werden wir
nicht reißen. – Ich saß gemeinsam mit Herrn Kollegen
Merz und Ihnen wenige Wochen vor der Wahl in einer
Fernsehsendung. Dort haben wir Ihnen gesagt: Sie wer-
den natürlich die 3 Prozent reißen.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Er hat es gewusst!)


– Sie haben es gewusst und gesagt, dies sei alles Propa-
ganda der Kettenhunde der Opposition.

Mittlerweile kann man erkennen, dass Sie in der Tat
den Wählern vorher die Unwahrheit gesagt haben. Des-

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1500400800
Bei einer
flexiblen Auslegung der Stabilitätskriterien, von der Sie
jetzt sprechen, bekommen Sie den Widerstand der Oppo-
sition zu spüren. Wir wollen einen Euro, der so stabil ist
und bleibt, wie es die D-Mark war. Wir wollen keinen
Euro nach dem Vorbild der italienischen Lira. Genau da-
hin geht aber Ihre Politik mittel- und langfristig, weil die
anderen Länder nachmachen werden, was Deutschland
und Frankreich an Verletzung der Kriterien vormachen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Rainer Fornahl [SPD]: So ein Schwachsinn!)


Frau Kollegin Merkel hat in ihrer bemerkenswerten
Rede zur Außenpolitik


(Lachen bei der SPD)

– in ihrer außergewöhnlich bemerkenswerten Rede; dies
hat Ihnen nicht gepasst, aber es muss einmal gesagt wer-
den –


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Der Merz war besser! Der Merz war immer besser!)


schon vieles gesagt und ich will dazu nur zwei Sachen
nachtragen: Ich glaube, es ist schon ein bemerkenswerter
Vorgang, dass Sie vor einer Wahl mit der Angst vor einem
Krieg, mit Antiamerikanismus Wahlkampf gemacht ha-
ben. Mit Antiamerikanismus und dem Schüren der Angst
vor einem Krieg sind Sie an die Macht gekommen. Sie ha-
ben andere in der Öffentlichkeit mehr oder weniger als
Kriegstreiber dargestellt.


(Jörg Tauss [SPD]: Antisemitische Flugblätter verteilen!)


Dies war schäbig. Mittlerweile sieht man auch, welchen
Schaden Sie damit angerichtet haben.

Sie haben jetzt den außenpolitischen Schaden wieder
gutzumachen, den Sie angerichtet haben. Hierzu nenne
ich das Beispiel Türkei.


(Horst Kubatschka [SPD]: Das sagen Sie von der FDP!)


Es ist doch schlechterdings unvorstellbar, dass man der
Türkei jetzt mit konkreten Daten sagt: Ihr werdet dem-

nächst Mitglied der Europäischen Union. Solange in tür-
kischen Gefängnissen gefoltert wird, kann der Türkei
doch nicht allen Ernstes durch solche unbedachten Äuße-
rungen von Ihnen eine konkrete Beitrittsperspektive ge-
geben werden.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wo ist denn Ihr Eintreten für Menschenrechte geblieben?

Nun ein letzter und entscheidender Punkt: Zur Bundes-
wehr haben Sie gesagt, was alles getan werden muss, und
Sie haben der Bundeswehr für ihre Aufgabenerfüllung ge-
dankt. Dies ist wohl wahr. Aber über das rhetorische Be-
kenntnis zur Bundeswehr sind Sie nie hinausgekommen.
Vor der Wahl hieß es – von Herrn Struck initiiert –: Solda-
ten für Schröder. Nach der Wahl heißt es: Schröder gegen
Soldaten. Sie kürzen weiter und weiten gleichzeitig die
Aufgaben der Bundeswehr aus. Dies ist nicht in Ordnung.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Herr Bundeskanzler, Sie haben in Richtung der Oppo-

sition gesagt: Sie saßen da, Sie sitzen da und Sie werden
da sitzen bleiben. Ich sage Ihnen: Sie saßen da, Sie sitzen
da, aber Sie werden da so gemütlich nicht sitzen bleiben.
Dies werden Ihnen die nächsten beiden Landtagswahlen
und einige danach noch zeigen. Die Leute haben gemerkt,
dass Sie mit Lug und Trug, mit der Vorspiegelung falscher
Tatsachen zu Ihrer knappen Mehrheit gelangt sind, meine
sehr geehrten Damen und Herren.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und das von der FDP! – Jörg Tauss [SPD]: 18 Prozent: Lug und Trug! – Dr. Uwe Küster [SPD]: Das war der Lug-und-Trug-Sprecher!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1500400900

Das Wort hat der Kollege Fischer, Bundesminister des

Auswärtigen, Bündnis 90/Die Grünen.


Joseph Fischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1500401000

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol-

lege Westerwelle, von Sprachverwirrung konnte ich bei
Ihnen nichts feststellen; Sie sprachen deutsch. Aber ich
frage mich: In welcher Realität sind Sie eigentlich zu
Hause, wenn Sie hier der Bundesregierung und der Ko-
alition Lug und Trug vorwerfen? Das sagt einer der
Hauptprotagonisten des Projekts 18,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

das sagt ausgerechnet derjenige, der hier meinte, mit einer
Politik vorankommen zu können, die sich nicht zu schade
war, Antisemitismus und antisemitische Stimmungen zu
mobilisieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Von so jemandem wird Wahrheit und Klarheit eingefor-
dert.

Es rentiert sich eigentlich nicht, auf diese Rede weiter
einzugehen. Allerdings lohnt es sich, etwas zu der Frage

Dr. Guido Westerwelle




Bundesminister Joseph Fischer
der politischen Kultur in diesem Lande zu sagen. Das wer-
den Sie nicht hinbekommen, Herr Westerwelle, indem Sie
sagen, Möllemann sei der allein Verantwortliche; die FDP
und der Vorsitzende der FDP hätten mit der Strategie des
kalkulierten Wahnsinns, wie die „FAZ“ es genannt hat,
nichts zu tun.

Ich werde nie das nette und kesse Sprüchlein – dafür
sind Sie ja immer gut – vergessen, das Sie damals auf dem
FDP-Parteitag in der Auseinandersetzung mit Herrn
Möllemann formuliert haben: Auf allem, was da dampft
und segelt, gibt’s einen, der die Sache regelt, und das bin
ich, Guido Westerwelle.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber es rentiert sich nicht, weiter darauf einzugehen.

Die entscheidende Frage ist die Herausforderung, vor der
unser Land, vor der wir tatsächlich stehen. Frau Merkel,
Sie sind vorhin noch einmal auf die Bundestagswahlen zu
sprechen gekommen. Mir wird, nachdem ich Ihrer Rede
zugehört habe, sehr klar, warum Sie diese Wahlen verlo-
ren haben.


(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])

Die Opposition kann die Regierung in der jetzigen Situa-
tion kritisieren; das verstehe ich wohl. Das ist Ihre Pflicht,
die Sie freudig erfüllen. – Das „freudig“ streichen wir, das
ist natürlich nicht wahr, das wissen Sie so gut wie ich; Sie
würden lieber auf der Regierungsbank sitzen. Aber Sie ha-
ben die Wahlen verloren, weil Sie in Ihrer Rede wie im
Wahlkampf nicht die alternativen Vorstellungen der
Union, was in diesem Land konkret anders gemacht wer-
den soll, dargestellt haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Sie haben keine eigene Antwort gebracht – von Herrn
Westerwelle rede ich da gar nicht –, weder auf die Frage
der gerechten Gestaltung der Globalisierung und Deutsch-
lands Rolle in diesem Zusammenhang noch auf die Krise
der Weltwirtschaft. Sie können die Regierung trefflich
kritisieren; aber Sie können nicht ignorieren, dass es kein
Spezifikum der bundesrepublikanischen Wirtschaft ist,
sondern im gesamten EU-Raum, in den Vereinigten Staa-
ten und in Japan so ist, dass wir mit einer krisenhaften
Entwicklung der Weltwirtschaft rechnen müssen. Sie ha-
ben dazu nichts gesagt.

Mich würde einmal interessieren, wie die Antwort der
Union darauf ist. Wenn wir Wachstumszahlen zwischen
0,2 und 0,6 Prozent schreiben, können wir dann noch die-
selben Antworten geben wie bei Wachstumszahlen über
1 Prozent, 2 Prozent oder gar 3 Prozent? Ich behaupte, se-
riöse Politik kann das nicht. Von der Opposition muss man
verlangen können, dass sie sich hierzu äußert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Schließlich zu der Frage – das werden wir im außen-
politischen Teil noch etwas ausführlicher zu debattieren
haben – der terroristischen Bedrohung. In diesem Zu-
sammenhang wünsche ich mir eine Aussprache darüber,
ob der Irak in der Tat das zentrale Problem ist, ob wir an-
gesichts des 11. September letzten Jahres, angesichts von

Djerba, angesichts von Bali oder auch angesichts des
jüngsten tschetschenischen Terrors wirklich gut beraten
sind, hier eine Prioritätenveränderung vorzunehmen. Ich
meine, nein. Der Terrorismus ist die große strategische
Bedrohung für uns. Aber den Antworten darauf muss im
Sinne des Bundeskanzlers ein umfassender Sicherheits-
begriff zugrunde liegen; man darf hier nicht versuchen,
durch Lippenbekenntnisse einen innenpolitischen Vorteil
zu erlangen. Auch dazu haben Sie bis zur Stunde keine
Antwort gegeben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Stattdessen haben Sie, Frau Merkel – das sollten Sie ru-
hig weiterhin machen –, aus Ihrer Rede eine Fragestunde
gemacht, in der Sie Fragen an die Bundesregierung ge-
stellt haben. Das fand ich sehr bemerkenswert. Das heißt,
Sie nehmen die Oppositionsrolle an; die Opposition fragt
und die Regierung muss darauf antworten.

Aber das wird zur Gestaltung der Zukunft unseres Lan-
des nicht reichen. Die Koalition hat hier eine klare Posi-
tion. Wir müssen Erneuerung, Wachstum, Nachhaltigkeit
und Gerechtigkeit für unser Land erreichen. In der
gegenwärtigen negativen wirtschaftlichen Entwicklung
werden die Probleme und Schwachstellen in unserem
Wirtschaftssystem und unserem Sozialsystem, die wir seit
langem mit uns herumschleppen, offen gelegt. Deswegen
müssen wir sie anpacken. Es hätte mich gefreut, wenn Sie
mit Blick auf die Wirtschaftskrise etwas zu Ihren alter-
nativen Konzepten gesagt hätten.

Was sind denn die konkreten Antworten in dieser Si-
tuation? Wie geht die Union denn mit der Tatsache um,
dass es allein im Bundeshaushalt – von den anderen staat-
lichen Ebenen rede ich erst gar nicht – ein Defizit von
annähernd 14 Milliarden Euro gibt? Wie soll dieses Loch
denn geschlossen werden? Denkt die Union an Steuerer-
höhungen? Ist das ihr Konzept? Oder spricht sie von
Einsparungen? In diesem Fall würde es uns interessieren,
wo sie Einsparungsalternativen sieht. Die Koalition hat
hierzu ihre Vorstellungen klar auf den Tisch gelegt. Oder
ist die Union vielleicht für Leistungskürzungen? Dann
sollten Sie, Frau Merkel, hier im Deutschen Bundestag sa-
gen, dass Sie zum Beispiel die Renten kürzen wollen und
wenn, in welcher Größenordnung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Eine solche Diskussion macht nur dann Sinn, wenn wir
konkret werden. Die Koalition ist konkret geworden. Als
erste unmittelbare Reaktion auf den Koalitionsvertrag er-
leben wir jetzt, dass alle Interessengruppen aufschreien.
Das ist in einer Demokratie aber auch völlig legitim.

Als ich von den Koalitionsverhandlungen nach Hause
ging, begegnete ich einem Apotheker. Er hielt mich an
und sagte mir: Das könnt ihr doch nicht allen Ernstes be-
schließen. Ich fragte ihn: Was? Er antwortete nur: Das,
was ihr in eurem Vorschaltgesetz vorhabt. Ich habe ihn ge-
fragt, was wir denn genau vorhätten. Es stellte sich he-
raus: Er hat jahrelang die Legende geglaubt, dass es Wind-
fall-Profite für die deutsche Pharmaindustrie geben soll.
Deswegen dürften wir nicht den Handel über Internet ein-
führen und hätten am Forschungsstandort Deutschland


(A)



(B)



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(A)



(B)



(C)



(D)






höhere Preise. Sieht man sich die Situation in anderen
Ländern an, so stellt man aber fest, dass an den
Forschungsstandorten Großbritannien, Japan und USA
kräftig geforscht wird, teilweise auch von deutschen Un-
ternehmen in Größenordnungen, die beachtlich sind. Ich
höre aber nicht, dass dort die Preise höher sind.

Deswegen frage ich Sie ganz konkret: Wird die Union
etwas gegen die Freigabe des Internethandels einwen-
den? Haben Sie etwas dagegen, dass zum Beispiel das
Verbot des Mehrfacheigentums an Apotheken angegan-
gen wird? Oder ich frage Sie nach dem Monopol der Kas-
senärztlichen Vereinigungen. Man lernt hier ja einiges.
Wollen wir dieses Monopol tatsächlich infrage stellen?
Soll die Wahlfreiheit von Kassenpatienten – hier spricht
ein Kassenpatient – auch in Zukunft in den Händen der
Kassenärztlichen Vereinigungen bleiben oder wollen
wir darüber hinausgehen und direkte Beziehungen zwi-
schen Ärzten und den Kassen ermöglichen, um somit kos-
tengünstigere Strukturen zu schaffen? Das sind Fragen,
auf die wir uns auch von Ihnen Antworten wünschen
würden. Wir hätten heute gerne die Position der Opposi-
tion gehört.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich komme nun zu der entscheidenden Problematik,
mit der wir es zu tun haben. Reden wir also nicht darum
herum. Der Bundeskanzler hat zu Recht auf den 9. No-
vember 1989 hingewiesen. Die deutsche Einheit ist ein
großes Glück für unser Land. Aber es ist zugleich eine
langfristige Herausforderung, die Folgen von Nationalso-
zialismus, Zweitem Weltkrieg und vier Jahrzehnten deut-
scher Teilung zu überwinden. Dass die bundesrepublika-
nische Volkswirtschaft diese großen Herausforderungen
stemmen kann, zeigt, wie stark sie tatsächlich ist.

Doch es führt umgekehrt kein Weg daran vorbei, zu be-
greifen, was der Aufbau Ost, der eine langfristige He-
rausforderung darstellt, die nur die Bundesrepublik
Deutschland im EU-Wirtschaftsraum hat, tatsächlich be-
deutet. Für diese Herausforderung sind wir dankbar. Aber
wir müssen doch auch begreifen, dass deswegen diese
ganzen Schlusslicht-Debatten hinken. Bedeutende Mit-
gliedstaaten der Europäischen Union, die 1 Prozent ihres
Bruttoinlandsprodukts durch Transfers von Brüssel be-
kommen und gleichzeitig meinen, uns Ratschläge geben
zu können, sollten das angesichts dieser Sondersituation,
in der wir uns befinden, besser sein lassen. Wir werden die
Erneuerung anpacken, wissend, dass wir mit dem Zusam-
menwachsen unseres Landes eine Sonderherausforderung
langfristiger Natur zu stemmen haben. Das werden wir
schaffen. Das versprechen wir den Menschen in den
neuen Bundesländern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich komme auf Hartz zu sprechen. Was ist das Problem
des deutschen Arbeitsmarktes? Es wird immer so schön
darüber geredet und gesagt, der Arbeitsmarkt sei zu stark
reguliert. Wir haben nicht nur hinsichtlich der Debatte
über den Arbeitsmarkt, sondern auch im Zusammenhang
mit unserem Steuersystem die Erfahrung gemacht, dass
alle sagen, wir brauchten den Abbau von Subventionen

im Steuersystem. Aber wehe, man geht einen konkreten
Punkt an: Dann kommt eine Interessengruppe und sagt,
das sei eine Steuererhöhung. Natürlich ist der Abbau von
Subventionen keine Steuersenkung. Für denjenigen, der
die Subvention bekommt, ob es nun ein halber Mehrwert-
steuersatz ist oder ein Fördersteuersatz, wirkt der Abbau
natürlich belastend. Aber das ist mehr oder weniger die
Konsequenz eines solchen Abbaus staatlicher Leistungen.
Wir haben die Erfahrung gemacht – das galt heute auch
für Frau Merkel –, dass Sie sich hinstellen und sagen,
einerseits würden wir zu wenig an Subventionen abbauen,
andererseits würden unsere Maßnahmen aber höhere Be-
lastungen für die Menschen bedeuten. Sie müssen schon
sagen, wie Sie es gerne hätten, gnädige Frau.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich komme zurück zu Hartz. Der entscheidende Punkt
ist: Der Arbeitsmarkt ist bei uns in der Bundesrepublik
Deutschland so gestaltet, dass bei einem Wachstum von
etwa 2 Prozent und mehr eingestellt wird. Bei unseren
Nachbarländern, die früher notwendige Reformen ange-
packt haben, wurde diese Eintrittsschwelle des Wieder-
einstellens gesenkt. Genau um diese Aufgabe wird es in
Zukunft gehen. Ich sage Ihnen: Die Reform des Arbeits-
marktes ist für die Koalition der strategische Ansatzpunkt,
um die Systeme der sozialen Sicherung zu erneuern und
zu entlasten, um unseren Sozialstaat neu zu gestalten und
um die Wettbewerbsfähigkeit wiederzugewinnen.

Ich möchte Ihnen jetzt kurz erläutern, worin der strate-
gische Ansatz liegt: Gegenwärtig ist die Situation so, dass
es aufgrund des konjunkturellen Wegbrechens der Welt-
wirtschaft ab dem Frühsommer des letzten Jahres trotz der
Zuzahlung über die Ökosteuer – etwa bei den Rentenver-
sicherungen und dem Staatsanteil – zu einer Überwölbung
gekommen ist, sodass die Arbeitslosigkeit die Reformen,
die wir angepackt haben, aufzufressen droht oder bereits
aufgefressen hat.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Unfug!)

– Herr Merz, es ist überhaupt kein Unfug, dass es auf-
grund der steigenden Arbeitslosigkeit zu höheren Belas-
tungen kommt – Sie können das pro Hunderttausend so-
gar quantifizieren – und dass diese Belastungen
entsprechend negativ wirken.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Das hat mit der Weltwirtschaft nichts zu tun!)


– Entschuldigung, das Wegbrechen der Konjunktur im
Frühjahr letzten Jahres – – Die Bundestagswahlen sind
jetzt doch vorbei.


(Zurufe von der CDU/CSU)

Selbst von einem Weltökonomen wie Ihnen kann jetzt,
nach den Bundestagswahlen, doch anerkannt werden,
dass die Bundesrepublik Deutschland bezogen auf die
Wachstumszahlen in der EU nicht mehr Schlusslicht ist,
sondern dass wir uns mit unseren niedrigen Wachstums-
zahlen im unteren Mittelfeld bewegen. Das kann doch
auch der Weltökonom Merz nicht abstreiten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Zurufe von der CDU/CSU)


Bundesminister Joseph Fischer




Bundesminister Joseph Fischer
– Ich verstehe überhaupt nicht, warum Sie sich so aufre-
gen.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Wer regt sich denn auf?)


– Ich verstehe es wirklich nicht.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Brüllen Sie doch nicht so herum!)

Insofern kann ich an diesem Punkt nur sagen: Der ent-
scheidende strategische Ansatz ist, dass wir die Einstel-
lungsschwelle durch diese Reformen am Arbeitsmarkt
nach unten senken.


(Albert Deß [CDU/CSU]: Ich glaube Ihnen, dass Sie von Wirtschaftspolitik nichts verstehen!)


Meines Erachtens hat das Hartz-Konzept hierzu drei
wesentliche Elemente. Uns würden die Argumente inte-
ressieren, die Sie diesen entgegenzusetzen haben.

Als Erstes schaffen wir mit der Umsetzung des Hartz-
Konzeptes sozusagen ein Arbeitslosengeld Teil 2. Damit
werden wir eine Entlastung des kommunalen Bereichs er-
möglichen und somit die Investitionsmöglichkeiten ge-
rade auf der kommunalen Ebene erhöhen.

Mit der Möglichkeit, von der Arbeitslosigkeit leichter
in die Selbstständigkeit zu kommen, bieten wir – zwei-
tens – gleichzeitig nicht nur Anreize zur Aufnahme von
Arbeit, sondern wir schaffen vor allen Dingen ein Stück
weit auch die Möglichkeit, legale Arbeit wieder aufzu-
nehmen. Das ist in vielen Bereichen von entscheidender
Bedeutung.

Der dritte und wichtigste Punkt in diesem Zusammen-
hang wird das Förderprogramm in Verbindung mit der Re-
form der Bundesanstalt für Arbeit sein. Wir müssen die
Leiharbeit ausweiten. Damit schaffen wir die Möglichkeit
eines flexibleren Arbeitsmarktes, wodurch die Einstellungs-
schwelle insgesamt nach unten gebracht werden kann.

Für uns ist das der erste und zentrale Schritt. Ich denke,
das ist ein wichtiger Schritt, den Sie nicht kleinreden kön-
nen, und ein wichtiger und entscheidender Ansatz.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich habe es vorhin, bezogen auf die Gesundheitsre-
form, schon gesagt: Ich bin wirklich gespannt, wie Ihre
Interessenvertretung im Parlament – wenn die Vorschläge
im Zusammenhang mit dem Vorschaltgesetz auf dem
Tisch liegen – zum Tragen kommt.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Herr Dr. h. c. Fischer!)


Ich bin gespannt, ob Sie im Interesse des Allgemeinwohls
handeln oder ob Sie gruppenspezifische Interessen ver-
treten werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Dasselbe gilt für den Bürokratieabbau.
Ich würde gerne noch den Punkt Zuwanderung an-

sprechen. Amerika wird, bezogen auf die wirtschaftliche

Entwicklung, unter vielen Gesichtspunkten immer als
großes Vorbild hingestellt. Damit ich nicht missverstan-
den werde: Ich behaupte gar nicht, dass wir Amerika ko-
pieren können. Der kulturelle und der historische Hinter-
grund im Europa der Nationalstaaten ist nämlich anders.
Die Zuwanderung ist aber einer der wesentlichen dyna-
mischen Wachstumsfaktoren der amerikanischen Volks-
wirtschaft. Das wollen wir nicht vergessen.

Mit Ihrer im Grunde genommen reaktionären Position
meinen Sie gegenwärtig bei den Menschen in diesem
Land Stimmungen und Ängste mobilisieren und gegen
das Zuwanderungsgesetz polemisieren zu können. Dazu
kann ich Ihnen nur sagen: Wenn das Ihre Position ist, dann
haben Sie mit Wachstum und Zukunftsfähigkeit in unse-
rem Land wirklich nicht viel zu tun; genau damit sind Sie
gescheitert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ein weiterer Punkt. Neben der strukturellen Erneue-
rung, neben der Konsolidierung, neben dem Kampf gegen
die Arbeitslosigkeit ist die Frage der strategischen Zu-
kunftsinvestitionen von entscheidender Bedeutung. Diese
strategischen Zukunftsinvestitionen betreffen vor allen
Dingen den ökologischen Bereich. Damit führen wir fort,
was wir in den ersten vier Jahren angepackt haben.

Die ökologische Erneuerung ist wichtig, weil jetzt
klar wird, dass wir es beim Klimaschutz nicht mit einem
theoretischen Problem zu tun haben. Gleichzeitig müssen
wir neue Beschäftigungsfelder erschließen. Das heißt, wir
müssen Klimaschutz auch unter beschäftigungspoliti-
schen und wettbewerblichen Gesichtspunkten für den
Standort Deutschland als unternehmerisches Problem an-
packen. Genau das tun wir mit der Umsetzung der Koali-
tionsvereinbarung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die ökologische Erneuerung ist für uns im Verkehrsbe-
reich und im Energiebereich von zentraler Bedeutung.
Genau damit werden wir auch fortfahren.

Noch wichtiger ist angesichts der demographischen
Entwicklung, aber auch eines veränderten Rollenver-
ständnisses gerade junger Frauen – dieses Thema ist Ih-
nen im Wahlkampf um die Ohren geflogen, deswegen
führen Sie die Strategiedebatte vor allen Dingen an die-
sem Punkt –, dass die Vereinbarkeit von Kindern und
Beruf in Deutschland nicht mehr allein bei den jungen
Frauen abgeladen wird, wie es bis heute die Realität ist.
Das haben wir klipp und klar gesagt.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Deswegen werden wir für Kinder von null bis drei Jah-
ren einen flächendeckenden Versorgungsgrad von 20 Pro-
zent in der Bundesrepublik Deutschland durchsetzen. Der
Bund lässt sich hier in die Pflicht nehmen. Wir werden ei-
nen solchen Versorgungsgrad gesetzlich festschreiben.
Dieses Gesetz wird hier im Bundestag beschlossen wer-
den. Das ist der Einstieg in ein kinderfreundliches
Deutschland, in dem es nicht mehr darum geht, diesen Be-
reich zu privatisieren und an einem antiquierten Rollen-


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verständnis von Frauen festzuhalten. Wir wollen vielmehr
Ja zu Kindern und gleichzeitig Ja zu Beruf und Karriere
vor allen Dingen für junge Frauen sagen, damit es für
diese in Zukunft einfacher wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das ist nur einer der Punkte; denn es soll weitergehen.
Das Gesetz betreffend die Betreuung von Kindern zwi-
schen drei und sechs Jahren existiert bereits. Wir wollen
aber auch den Bereich der Vorschule, das Heranführen an
die Schule angehen. Dabei ist die Frage, ob die notwendi-
genDeutschkenntnisse vorhanden sind, für die volle Par-
tizipation von entscheidender Bedeutung. Anschließend
wollen wir das Thema Ganztagsschule anpacken. All das
halte ich für die entscheidende gesellschaftliche Reform.

Zukunftsfähigkeit macht sich an der Frage eines kin-
derfreundlichen Deutschlands fest. Zusammen mit der
strategischen Zukunftsinvestition, der ökologischen Er-
neuerung, den Strukturerneuerungen, die wir angegangen
sind und noch angehen werden, der Reform im Bereich
des Arbeitsmarktes, der Rente und der Gesundheit sowie
einer weiteren Konsolidierung ist dies das Programm, für
das die Koalition konkret steht. Das meinen wir mit Er-
neuerung, Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit. Das ist die
Politik, die wir für unser Land in den kommenden vier
Jahren umsetzen wollen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Frau Merkel, Sie haben es uns heute – jenseits Ihrer
Angriffe – bei den Alternativen einfach gemacht.


(Jörg Tauss [SPD]: Das war enttäuschend!)

In dem Streit zwischen Regierung und Opposition, sosehr
ich ihn auch liebe und sosehr ich es auch liebe, zuzuspit-
zen – das gehört dazu –, muss eine Alternative aufgezeigt
werden. Wenn die Grundanalyse richtig ist – von dem Be-
fund gehen auch Sie aus, Frau Merkel –,


(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Seien Sie ein bisschen leiser!)


dass wir es in der Tat national wie international mit einer
sehr fordernden Situation zu tun haben, dann wird die de-
mokratische Auseinandersetzung vor allen Dingen um die
Alternativen stattfinden müssen.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Bei Ihnen durch die Lautstärke! – Joachim Poß [SPD]: Nur kein Neid!)


– Herr Glos, dazu kann ich Ihnen nur sagen: An Alterna-
tiven – insofern sind Sie über die Wahlnacht noch nicht
hinausgekommen – haben Sie zum Programm der Koali-
tion bis heute nichts geboten.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Programm ist eine anspruchsvolle Bezeichnung!)


Ich sage: Unser Land ist dringend erneuerungsbedürf-
tig. Dafür haben wir den Auftrag. Sie haben den Auftrag,
sich in der Opposition zu erneuern. Dafür müssen Sie aber
noch kräftig zulegen, Frau Merkel.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1500401100

Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Friedrich

Merz, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.


Friedrich Merz (CDU):
Rede ID: ID1500401200

Herr Bundesaußenminister, ich habe mich die ganze

Zeit gefragt, warum eigentlich Sie in dieser Debatte zur
Wirtschaftspolitik sprechen und kein einziger Vertreter
Ihrer Fraktion, der doppelten Doppelspitze der Grünen,
hier sprechen darf.


(Zurufe von der CDU/CSU: Ja!)

Aber das ist ein anderes Thema.

Ich möchte Ihnen, weil Sie morgen auf einer Aus-
landsreise sein werden und weil ich dazu auch mehrere
Zwischenrufe gemacht habe, auf einen Ihrer Punkte kurz
erwidern und Ihnen zu dem, was Sie zum Thema Welt-
wirtschaft behauptet haben, etwas sagen. Herr Fischer, Sie
und die Regierung werden in diesen Wochen nicht mit den
Problemen der Weltwirtschaft konfrontiert, sondern Sie
sind mit den Versäumnissen der rot-grünen Wirt-
schafts- und Finanzpolitik der letzten vier Jahre kon-
frontiert. Das ist die Wahrheit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie können sich nicht mehr mit allen möglichen Entwick-
lungen herausreden.

Wir haben Ihnen vier Jahre lang in diesem Parlament
vorausgesagt, dass Sie mit der Wirtschafts- und Finanz-
politik dieser Bundesregierung das Schlusslicht in der Eu-
ropäischen Union werden und dass Sie das Wachstum in
diesem Lande zerstören. Wenn es eines Beweises bedurft
hätte, dass das, was wir gesagt haben, richtig ist, dann ist
es das Gutachten der Wirtschaftsforschungsinstitute in der
letzten Woche gewesen. Diese haben Ihnen gesagt, dass
allein die Politik der rot-grünen Bundesregierung uns im
nächsten Jahr 0,5 Prozent Wachstum kosten wird.

Das Problem – ich wiederhole es – hat einen Namen.
Das Problem ist nicht die Weltwirtschaft, der Name des
Problems ist Rot-Grün. Herr Fischer, dazu hätten Sie
heute etwas sagen müssen, statt die Opposition und unsere
Fraktionsvorsitzende in einer geradezu unflätigen Art und
Weise zu beschimpfen, wie Sie es getan haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1500401300

Zur Erwiderung erhält der Kollege Fischer das Wort.

(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Nehmen Sie die Hand aus der Hosentasche!)



Joseph Fischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1500401400

Herr Merz, ich enthalte mich jetzt jeder Polemik,


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist ja was ganz Neues!)


warum Sie meinen, ich hätte die Opposition unflätig be-
schimpft. Lassen wir das!

Bundesminister Joseph Fischer




Bundesminister Joseph Fischer

Für mich geht es um etwas anderes. Sie können doch
nicht alle strukturellen Verwerfungen in der Versiche-
rungslandschaft – die gibt es nicht nur bei uns, sondern im
gesamten EU-Raum – und im Banken- und Finanzsys-
tem – ich könnte Ihnen da nicht nur Banken, die in rot-
grün regierten Ländern zu Hause sind, nennen, sondern
auch welche in tiefschwarz regierten Ländern –, wenn Sie
seriös bleiben wollen, Herr Merz,


(Jörg Tauss [SPD]: Kann er nicht!)

bei der rot-grünen Bundesregierung abladen.


(Zuruf des Abg. Michael Glos [CDU/CSU])

– Ich versuche jetzt, eine Antwort auf Herrn Merz und
nicht auf Herrn Glos zu geben.

Ich kann Ihnen nur sagen: Sie können doch den Zu-
sammenbruch des Neuen Marktes nicht bei der Bundes-
regierung oder bei der Bayerischen Staatsregierung abla-
den. All diese Dinge, über die ich spreche, hängen doch
zusammen, Herr Kollege Merz. Ich nehme an, das wür-
den Sie, wenn wir in Ruhe und nicht polemisch darüber
diskutieren würden, jenseits der Fehler, die Sie uns vor-
werfen, sofort konzedieren. Sie können doch nicht ab-
streiten, dass das Platzen der Spekulationsblase in den
Vereinigten Staaten Konsequenzen hat zum Beispiel für
den Neuen Markt, für den ganzen Nemax-Bereich, der
heute faktisch nicht mehr existiert, und für die Bereiche,
in denen in diesem Zusammenhang Überkapazitäten auf-
gebaut wurden, zum Beispiel im Medienbereich und im
Banken- und Finanzsystem. Ich nenne jetzt nur einige
Bereiche. Das können Sie, wenn Sie als Ökonom seriös
bleiben wollen, nicht allen Ernstes bei der Bundesregie-
rung abladen.

Das habe ich angesprochen. Wenn wir uns darauf ver-
ständigen können, dann harre ich Ihrer alternativen Vor-
schläge.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1500401500

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kolle-

gen Ernst Bahr für die SPD-Fraktion.

(Zuruf von der CDU/CSU: Die Reihenfolge der Redner ist bemerkenswert!)



Ernst Bahr (SPD):
Rede ID: ID1500401600

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich Herrn
Westerwelle höre, dann muss ich mich nicht wundern,
dass wir bei der Bundestagswahl so gut abgeschnitten ha-
ben. Über manche Späße im Sommer konnte man ja viel-
leicht noch schmunzeln, aber über die Art und Weise und
den Inhalt der heutigen Rede wird mancher Zuschauer am
Fernsehschirm nur den Kopf geschüttelt haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich muss wirklich sagen: Wenn man so miteinander um-
geht, dann muss man sich nicht wundern, wenn die Wähler
von der Wahl bestimmter Parteien Abstand nehmen.

Wir haben gerade gehört, wir könnten Schwierigkeiten
nicht bewältigen. Dann sollten diejenigen, die die Schwie-
rigkeiten verursacht haben und uns 1998 einen Scherben-
haufen hinterlassen haben, einmal gucken, was sie alles
angerichtet haben. Sich heute hinzustellen und so zu tun,
als hätten wir in vier Jahren das aufräumen können, was
in 16 Jahren kaputtgemacht wurde, das ist ein bisschen zu
einfach.


(Beifall bei der SPD – Lachen bei der CDU/CSU)


Die rot-grüne Koalition wird ihre Arbeit in der
15. Wahlperiode fortsetzen. Dazu haben die Wählerinnen
und Wähler in den neuen Bundesländern einen wichtigen
und wesentlichen Beitrag geleistet. Sicherlich haben viele
von diesen Wählerinnen und Wählern Herrn Stoiber als
Bundeskanzler verhindern wollen, und zwar nicht weil er
ein Bayer ist – Bayern sind schließlich sympathische
Menschen –, sondern weil er als Person und in der Sache
nicht überzeugen konnte. Ich möchte erst gar nicht auf die
untauglichen Konzepte und das dazugehörige Kompe-
tenzteam eingehen. Nein, die Menschen in Ostdeutsch-
land haben nicht vergessen, wie sich Herr Stoiber in der
Vergangenheit gegen eine Politik für Ostdeutschland ge-
stellt hat und wie er das noch heute tut;


(Albert Deß [CDU/CSU]: Das waren bösartige Unterstellungen, Herr Kollege!)


denn Herr Stoiber klagt bis heute gegen den Risikostruk-
turausgleich für die neuen Bundesländer. Ich denke, das
ist deutlich genug wahrgenommen worden.


(Beifall bei der SPD)

Ich sehe unseren Wahlerfolg im Osten zu einem

großen Teil mit dem Vertrauen begründet, das die Men-
schen von Rostock bis Suhl, von Magdeburg bis Frankfurt

(Oder) in unsere Politik setzen. Das Vertrauen, das uns in

der Bundestagswahl 1998 geschenkt worden ist, haben
wir gerechtfertigt, und das trotz der schwierigen Bedin-
gungen, unter denen wir damals unsere Regierungsarbeit
aufnehmen mussten. Ich erinnere unter anderem an die
hohe Staatsverschuldung, die uns täglich so viele Zinsen
kostet, wie manche Landkreise in Ostdeutschland in ei-
nem ganzen Jahr nicht zur Verfügung haben. Ich erinnere
an den Reformstau, den uns die Vorgängerregierung hin-
terlassen hat und den wir zu einem großen Teil erfolgreich
aufgelöst haben, und an die neuen Aufgaben mit interna-
tionaler Verantwortung, denen wir uns stellen mussten.
All dies sind Schwierigkeiten, die wir in der Regierungs-
arbeit mit bewältigen mussten. Wenn uns also die Wähle-
rinnen und Wähler in Ostdeutschland am 22. September
in so hohem Maße gewählt haben, dann deshalb, weil sie
– zu Recht – erfahren haben, dass die jetzige Bundes-
regierung mit großen Herausforderungen fertig wird.


(Albert Deß [CDU/CSU]: Ihre Regierung ist fix und fertig!)


Das gilt insbesondere auch für den Aufbau Ost.
Aufgrund der verfehlten Förderpolitik der alten Bun-

desregierung zu Beginn der 90er-Jahre entstand ein weit
überdimensionierter Bausektor, der die Wirtschaftsstruk-
tur verzerrte und die Dynamik der wirtschaftlichen Ent-


(A)



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(B)



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wicklung in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre deutlich
bremste. Dieses Problem wirkt noch heute nach. Wir ha-
ben mit der Regierungsübernahme 1998 gegengesteuert,


(Albert Deß [CDU/CSU]: Die Arbeitslosigkeit ist gestiegen!)


indem wir die Reformen in Ostdeutschland auf zwei we-
sentliche Handlungsfelder ausgerichtet haben: erstens die
Sicherung der finanziellen Grundlagen für den Aufbau
Ost und zweitens die Modernisierung der Förderinstru-
mente. Durch unsere Konsolidierung des Bundeshaus-
halts haben wir die finanzpolitische Handlungsfähigkeit
des Staates wiederhergestellt und gestärkt sowie die
finanziellen Grundlagen für den Aufbau Ost geschaffen.
Nur so konnten wir eine Anschlussregelung für den Soli-
darpakt II ab 2004 durchsetzen und das Fördervolumen
für den wirtschaftlichen Aufbau Ost verstärken.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Diese Politik werden wir nun mit modifizierten Schwer-
punkten fortsetzen; denn wir haben dafür die Stimmen in
den neuen Bundesländern bekommen. Wir haben die Po-
litik für Ostdeutschland auf die Zukunft der Menschen in
den neuen Bundesländern hin orientiert und mit dem So-
lidaritätspakt II auf solide Füße gestellt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Damit ist Planungssicherheit bis 2019 gegeben.

Im Koalitionsvertrag werden die soliden Grundlinien
von 1998 fortgeschrieben. Auf dieser Basis gestalten wir
weiter unsere Politik. Wer Politik für Ostdeutschland ge-
stalten will – das haben wir frühzeitig erkannt –, muss
Mecklenburg-Vorpommern, Berlin, Brandenburg, Sachsen,
Sachsen-Anhalt und Thüringen als integralen Bestandteil
der Politik für Deutschland begreifen und gestalten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die Aufgabe einer jeden Bundesregierung liegt darin, die
Entwicklung der neuen Bundesländer nicht als Selbst-
zweck, sondern als eine Aufgabe zu begreifen, Deutsch-
land als Ganzes zu einem starken und verlässlichen Part-
ner in der Welt zu entwickeln. Das tun wir mit unserer
Politik für Ostdeutschland.

Uns Ostdeutschen geht es nicht um den Nachbau West,
sondern um eine Entwicklung von Wirtschaft und Gesell-
schaft, mit der wir einen Beitrag für ein starkes, solidari-
sches Deutschland leisten. Dafür haben wir in den vergan-
genen vier Jahren Bedingungen geschaffen, die wir jetzt
verbessern und den neuen Verhältnissen anpassen wollen.

Deshalb sieht der Koalitionsvertrag für den Aufbau Ost
folgende Schwerpunkte vor: die Förderung von Inves-
titionen und Mittelstand. Der gewerbliche Mittelstand
als Kernstück der ostdeutschen Wirtschaft wird weiterhin
unsere besondere Aufmerksamkeit und Unterstützung er-
fahren. Die Fortsetzung der Investitionsförderung, die
Existenzgründerinitiative, die Bestandspflege und die
Schaffung von Pilotregionen für integrierte Entwicklung
in den Bereichen Innovation, Investition, Infrastruktur
und Ansiedlungsförderung sind Instrumente dafür.

Investitionen in Ausbildung und Forschung sind Zu-
kunftsinvestitionen. Erfolgreiche Programme wie „Inno-

Regio“ und „Regionale Wachstumskerne“ werden fortge-
setzt. Der Aufbau wissenschaftlicher Kompetenzzentren
und die finanzielle Förderung der Hochschulbibliotheken
sind ebenso wichtige Maßnahmen für eine gute Wirt-
schaftsentwicklung wie der Ausbildungsaustausch. Aus-
bildungsfähigkeit und Ausbildungsbereitschaft der klei-
neren und mittleren Unternehmen müssen erhalten und
gefördert werden, um die jungen Menschen in eine be-
triebliche Erstausbildung zu bringen.

Die Kommunen benötigen eine leistungsfähige Infra-
struktur. Ein gut ausgebautes Verkehrssystem ist eine
entscheidende Voraussetzung für die Wettbewerbsfähig-
keit der Wirtschaft. Wir wollen, dass der neue Bundes-
verkehrswegeplan 2003 einen klaren Schwerpunkt Ost-
deutschland enthält.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Der Stadtumbau Ost und die ungebundene Finanzzuwei-
sung der Mittel aus dem Investitionsgesetz werden fortge-
setzt. Eine tragfähige Altschuldenregelung ist für die Ent-
wicklung der kommunalen Infrastruktur unverzichtbar.

Wir schaffen Arbeit und neue Qualifikation. Damit
die Vorschläge der Hartz-Kommission auch in den neuen
Bundesländern ihre Wirkung voll entfalten können, sollen
die Personal-Service-Agenturen in Ostdeutschland be-
schleunigt aufgebaut und das Programm „Kapital für Ar-
beit“ auf die betrieblichen Verhältnisse in den neuen Län-
dern ausgerichtet werden.

Mit einem JUMP-plus-Programm soll den Jugendli-
chen nach der Erstausbildung eine Brücke in den Arbeits-
markt gebaut werden.


(Zuruf von der SPD: Sehr gut!)

Die Bundesregierung beginnt im Jahr 2003 mit dem Wett-
bewerb „Die Jugend bleibt“, mit dem innovative und
kreative Jugendprojekte sowie Beispiele für die Gestal-
tung des Lebens- und Wohnumfeldes junger Menschen
ausgezeichnet werden.

Für die zweite besonders betroffene Gruppe, die älte-
ren Langzeitarbeitslosen, werden wir das Programm
„AQTIV plus“ starten. In den künftigen Tarifverhandlun-
gen von Bund, Ländern und Gemeinden mit den
Gewerkschaften wollen wir eine differenzierte Stufenre-
gelung zur Angleichung der Einkommen im öffentlichen
Dienst in Ost und West bis 2007 umsetzen.

Landwirtschaft, Natur und Tourismus sind wichtige
Wirtschaftsbereiche in Ostdeutschland. Für die ost-
deutsche Landwirtschaft ist die Altschuldenfrage das
letzte ungelöste Vereinigungsproblem. Wir werden ein
Gesetz zur abschließenden Lösung der Altschuldenrege-
lung vorlegen, wobei die wirtschaftliche Situation der ein-
zelnen Unternehmen berücksichtigt wird.

Die Gesundheitsversorgung ist ein wichtiger Beitrag
für die Lebensqualität in den neuen Ländern. Wir setzen
uns für den Erhalt des Risikostrukturausgleichs der ge-
setzlichen Krankenkassen ein. Es müssen Anreize für
Haus- und Fachärzte geschaffen werden, sich in unterver-
sorgten Regionen der neuen Länder niederzulassen. Da-
bei stehen die Kassenärztlichen Vereinigungen mit in der
Verantwortung.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ernst Bahr (Neuruppin)





Ernst Bahr (Neuruppin)


Die EU-Osterweiterung bietet vielfältige Chancen für
Ostdeutschland, sich zu einer europäischen Verbindungs-
region zu entwickeln. Wir werden deshalb grenzüber-
schreitende Kooperationen von Betrieben, Hochschulen,
Vereinen und Kommunen mit Osteuropa besonders för-
dern und in der Wissenschaftskomponente stärkere Ak-
zente in den Natur- und Ingenieurwissenschaften sowie in
der Informatik setzen.

Die Opfer des SED-Regimes haben weiterhin unsere
besondere Aufmerksamkeit. Die Bundesregierung hat in
der vergangenen Wahlperiode wichtige Initiativen ergrif-
fen, um eine Besserstellung der SED-Opfer zu erreichen.
Wir wollen dafür sorgen, dass Menschen, die für Demo-
kratie gekämpft haben, nicht vergessen werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Sie sehen, meine sehr geehrten Kolleginnen und Kol-

legen, wir haben uns kritisch mit unserer Arbeit in den
vergangenen vier Jahren auseinander gesetzt, die wirt-
schaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen in
Ostdeutschland genauestens analysiert und die Anregun-
gen aus der Bevölkerung aufgegriffen. Das, was wir bis-
her erreicht haben, kann sich sehen lassen. Aber es sind
noch viele Aufgaben und Probleme in Ostdeutschland zu
lösen. Wir werden unsere Arbeit für eine gute Entwick-
lung in den neuen Ländern fortsetzen.

Wie gut wir in dieser Arbeit vorangekommen sind,
zeigt sich auch in unserer Beteiligung als Ostdeutsche an
der Verantwortung für ganz Deutschland, zum Beispiel
durch Kanzleramtsminister Rolf Schwanitz, dem ich an
dieser Stelle für seine erfolgreiche Arbeit und sein Enga-
gement für Ostdeutschland recht herzlich danken möchte,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Michael Glos [CDU/CSU]: Starker Beifall bei den Regierungsparteien!)


oder den neuen Bau- und Verkehrsminister Manfred
Stolpe, der mit seinen Erfahrungen aus seiner Arbeit in
Brandenburg nun für ganz Deutschland arbeiten wird, oder
die Parlamentarischen Staatssekretärinnen und Staatsse-
kretäre Gerald Thalheim, Ditmar Staffelt, Iris Gleicke,
Christoph Matschie und Christel Riemann-Hanewinckel,
die ebenfalls in gesamtdeutscher Verantwortung stehen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ihnen allen wünsche ich viel Glück und Erfolg für ihre
Arbeit.

Den Menschen in den alten Bundesländern sage ich an
dieser Stelle ein recht herzliches Dankeschön für ihre So-
lidarität und ihre Unterstützung für Ostdeutschland.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir werden diese Hilfsbereitschaft noch eine Weile
benötigen, um zu einer sich selbst tragenden Entwicklung
in Ostdeutschland zu kommen. Dafür werden wir Ost-
deutsche uns noch stärker als bisher engagieren und un-
sere Arbeit intensiv fortsetzen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1500401700

Das Wort hat der Kollege Michael Glos, CDU/CSU-

Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Michael Glos (CSU):
Rede ID: ID1500401800

Herr Präsident, vielen Dank für die Gelegenheit, hier

zu sprechen.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Herr

Dr. med. h. c. Fischer ist wohl nicht im Raum.

(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Doch, da hin ten ist er! Er steht an der Fahne!)

Herr Fischer, Sie haben es derzeit schwer. Sie sind gleich-
zeitig Fraktionsvorsitzender, Parteivorsitzender, Außen-
minister und offensichtlich auch noch Chefökonom. Ich
darf Ihnen und den Grünen ein paar ökonomische Rat-
schläge geben. Die Frau Höhn hat ja gesagt: Das Problem
ist, dass bei den Grünen die Parteivorsitzenden zu schlecht
bezahlt werden; deswegen läuft das Ganze nicht. Bezah-
len Sie Ihre Leute ordentlich, dann müssen Sie nicht alles
selbst machen und dann sind Sie hier auch nicht so laut
und aufgeregt, wie Sie es gerade waren.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)

Das „Handelsblatt“ hat heute geschrieben: „Stim-

mungstief vor Schröders Rede.“ Was die allerdings mor-
gen schreiben, Herr Bundeskanzler, weiß ich nicht.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)

Ich bin nicht sicher, dass die Stimmung bei uns im Land
und insbesondere in der Wirtschaft danach steigt.

Ihr Vorvorvorgänger Willy Brandt wurde einmal Willy
Wolke genannt, weil er sich immer so unbestimmt ausge-
drückt hat. Sie müssten Gerhard Nebel heißen,


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU – Heiterkeit bei der FDP)


weil das, was in Ihrer Regierungserklärung steht, unge-
heuer nebulös ist. Wir haben geglaubt, dass sich heute alle
Widersprüche aus den Koalitionsvereinbarungen ein Stück
auflösen, aber die Nebel sind geblieben.

Die Neuauflage der rot-grünen Koalition verspricht
nichts Gutes für Deutschland. Ihr Programm ist mutlos.
Ihre Mannschaft ist – das erkennt man, wenn man da hi-
nüberschaut – kraftlos.


(Zurufe von der SPD: Oh!)

Die Zukunftsperspektiven für Deutschland sind dadurch
trostlos.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie treten mit dem Anspruch an, eine Koalition der Er-

neuerung zu sein. In Wirklichkeit ist es eine Koalition des
Weiterwurstelns. Sie setzen für die Zukunft weiter auf
Mangelverwaltung. Es ist Flickschusterei. Der Konkurs
wird verschoben, nicht verhindert. Vor allem spürt man


(A)



(B)



(C)



(D)


84


(A)



(B)



(C)



(D)






das an den Reaktionen der Betroffenen. Die Konsumen-
ten und die Investoren sind verunsichert. Der Wirtschafts-
standort Deutschland wird leider weiter beschädigt. Das
Vertrauen in unsere wirtschaftliche Zukunft wird leider
nicht geweckt. In der heutigen Zeit des Wandels – es ist
Aufgabe einer Regierung, den Wandel zu gestalten – und
der Unsicherheit erwarten die Menschen Stabilität und
Sicherheit. Sie aber verbreiten – insbesondere dann, wenn
das ein Hü und Hott ist, wenn das eine Echternacher
Springprozession ist: zwei Schritte vor, ein Schritt zurück –
das Gefühl von Stillstand und Verunsicherung.

Herr Riester hat lange vor der Wahl von der größten
Rentenreform in der deutschen Geschichte gesprochen.
Zwei Jahre später ist alles Makulatur. Die Schwankungs-
reserve – das ist vorhin vom Kollegen Westerwelle noch
einmal richtig gesagt worden –, die eiserne Reserve, der
Notgroschen der Rentner wird angetastet und ausgegeben.

Vor der Wahl ließ sich Herr Eichel als selbst ernannter
Obersparminister der Nation feiern. Er hat sich als Autor
einer Jahrhundertsteuerreform bezeichnet. Heute meldet
er Rekorddefizite im öffentlichen Haushalt und in den So-
zialversicherungssystemen.

Die konjunkturellen Aussichten, die Lage der Staatsfi-
nanzen und die sozialen Sicherungssysteme waren vor der
Wahl im Lot und sind nach der Wahl im Eimer. Herr Eichel
ließ verlauten, zusätzliche Konsolidierungsmaßnahmen
seien nicht notwendig, das finanziell Erforderliche sei in
der Haushalts- und Finanzplanung längst enthalten. Sie,
Herr Bundeskanzler, haben gesagt: Keine höheren Steu-
ern. Das war eines der bekannten schröderschen Macht-
worte, die eine sehr geringe Verfallszeit haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Heute wissen wir, was dabei herauskommt, wenn Sie

als SPD-Chef und Bundeskanzler die Wahrheit zur Chef-
sache machen. Die rot-grüne Koalition handelt nach der
Devise: Was juckt mich mein Geschwätz von gestern?

Lügen haben bekanntlich kurze Beine. Es wird bald
heißen: Noch kürzer sind dem Schröder seine.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Außerordentlich geistreich!)


Aber vergessen Sie nicht: Lügen haben kurze Beine und
Wähler haben ein langes Gedächtnis.

Wir sind in der Tat in einer schwierigen ökonomischen
Situation. Die Bilanzfälschungen in der Wirtschaft – ich
erinnere insbesondere an diejenigen in der US-Wirtschaft;
ich bin aber nicht sicher, ob in Deutschland nicht zum Teil
das Gleiche passiert ist – haben die Aktienkurse in den
Keller gedrückt. Man hat die Telekom angezeigt, um zu
klären, ob die Bilanzen der Telekom richtig waren. Die
Telekom ist ein gutes Beispiel dafür, wie man das Ver-
trauen der Anleger nachdrücklich schädigen kann. Durch
ein solches Vorgehen wird vor allen Dingen immer wie-
der das Vertrauen der Menschen in die in der Politik Han-
delnden geschädigt. Das, was bei der Telekom geschehen
ist, geht auf Ihr Konto, Herr Bundeskanzler.


(Jörg Tauss [SPD]: Na ja!)


Was wir in den Sommermonaten erlebt haben, war der
größteWählerbetrug in der Geschichte der Bundesrepu-
blik Deutschland.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Als ich das zum ersten Mal gesagt habe, hat mich die Talk-
masterin Sandra Maischberger – sie kann einen sehr ein-
dringlich anschauen; Sie kennen sie, Herr Bundeskanz-
ler –, gefragt: Herr Glos, wollen Sie den Vorwurf des Be-
truges nicht zurücknehmen? – Daraufhin habe ich einmal
nachsehen lassen, wie im Strafgesetzbuch der Tatbestand
des Betrugs definiert wird.


(Jörg Tauss [SPD]: Ja, 1990!)

– Herr Tauss passen Sie auf: Erst muss man jemanden täu-
schen. Dadurch muss sich der Getäuschte im Irrtum be-
finden und daraus muss Schaden entstehen. Wenn das ge-
schehen ist, dann ist der Tatbestand des Betruges erfüllt.
Dies alles ist geschehen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Die Menschen sind vor der Wahl über die wirkliche Lage
getäuscht worden. Sie haben aus diesem Irrtum heraus
dieser Regierung noch einmal das Vertrauen geschenkt
und ihr zu einer knappen Mehrheit verholfen. Jetzt ist
Deutschland geschädigt, und zwar nachdrücklich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Herr Gabriel – er wurde heute schon einmal zitiert – hat

gesagt: „Die Wahrheit vor der Wahl, das hätten Sie wohl
gerne gehabt.“ Er ist ein würdiger Nachfolger von Ihnen,
Herr Bundeskanzler, und er war offensichtlich Ihr Lehr-
ling, als Sie in Niedersachsen regiert haben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Er tritt in Ihre Fußstapfen, genauso wie Herr Müntefering
heute in die großen Fußstapfen von Herrn Stiegler getre-
ten ist.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das war an Ihrer Rede zu merken, Herr Müntefering. Rot-
Grün bekennt sich zum Prinzip der Nachhaltigkeit. In den
Täuschungsmanövern sind Sie allerdings sehr nachhaltig
und das beschädigt die politische Kultur im Land.


(Joachim Poß [SPD]: Glos ist der klassische Vertreter!)


Es ist schlimm genug, dass die Kultur in unserem
Land, dem Land der Dichter und Denker, dem Land von
Goethe und Schiller, schon so beschädigt ist, dass
Dieter Bohlen der Star der Buchmesse ist. Aber das be-
wegt sich auf einer Linie mit dem Verhalten der Deut-
schen bei der Kanzlerwahl. Es ist folgerichtig, dass aus
dem einen das andere entsteht. Da lobe ich mir den ehe-
maligen Bundespräsidenten Roman Herzog, der die De-
vise ausgegeben hat: Deutschland braucht Wahrheit und
Klarheit. Die Antwort von Rot-Grün war: Machterhalt
um jeden Preis. Ich weiß nicht, ob er diesen Preis wirk-
lich wert war.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Michael Glos




Michael Glos

Herr Eichel wird in das „Guinnessbuch der Rekorde“
eingehen. Eine so gelungene Selbstdemontage als Fi-
nanzminister hat es noch nie gegeben. Das ist eine Bla-
mage für unser Land. Wir müssten Deutschland eigentlich
in Absurdistan umbenennen.


(Horst Kubatschka [SPD]: Wo leben Sie eigentlich?)


In der Weitsicht war Hans Guck-in-die-Luft dem Eichel
weit überlegen.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Koalitionsvereinbarungen sind voller Wider-
sprüche. Dem deutschen Steuerbürger – also einer Person
in diesem Land, die so dumm ist, überhaupt Steuern zu
zahlen, da sie nicht alles schwarz macht – misstraut man
zutiefst. Man will das Bankgeheimnis aufheben, man will
den gläsernen Steuerbürger. Von ihm wird man wahr-
scheinlich die biometrischen Daten aufnehmen, die man
bei potenziellen Terroristen nicht im Pass haben will.


(Beifall bei der CDU/CSU und Abgeordneten der FDP)


Ich finde das schon eine ungeheure Widersprüchlichkeit,
meine sehr verehrten Damen und Herren.

Für alle ökonomischen Fehlhandlungen zahlt die so ge-
nannte Neue, aber auch die alte Mitte die Zeche, und zwar
ganz brutal. Hans Eichel wurde nach kurzer Zeit vom ei-
sernen zum blanken Hans. Sein großspuriges Versprechen
eines ausgeglichenen Gesamthaushalts für 2006 war so
viel wert wie Ihr Versprechen heute, Herr Müntefering,
für 2006. Der Herr Bundeskanzler hat es heute in seiner
Regierungserklärung ebenfalls versprochen.

Was besonders schlimm ist: Die Defizitobergrenze
von Maastricht wurde verfehlt, unser Land ist zum Ge-
spött in Europa geworden. Deutschland braucht inzwi-
schen nicht nur einen blauen, sondern einen dunkelblauen
Brief. Der Stabilitätspakt ist geschaffen worden, weil man
den Südländern misstraute. Man meinte, die Italiener und
andere würden die Stabilitätskriterien nicht einhalten. In-
zwischen sind die Deutschen diejenigen, die den blauen
Brief in Empfang nehmen müssen. Ich finde es schlimm,
wenn die Regeln für die neue Währung, die man sich
selbst gegeben hat, einfach niedergerissen werden. Die
Menschen haben dem Euro vertraut, weil wir gesagt ha-
ben, er wird so sicher und stabil wie die Mark werden. Ich
kann Sie nur davor warnen, über diese Dinge einfach hin-
wegzugehen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

3 Prozent bedeuten einen Spielraum von 60 Milliarden
Euro, den man in den öffentlichen Gesamthaushalten hat.
Das ist kein Pappenstiel, daraus lässt sich allerhand ma-
chen. Einfach an die Obergrenze heranzugehen und sie zu
überschreiten halte ich für falsch.


(Joachim Poß [SPD]: Das haben Sie selbst doch einmal vorgeschlagen!)


Wir befinden uns dadurch am Rande einer länger an-
haltenden Rezession und das sollte Ihnen Sorgen machen.
Die „Süddeutsche Zeitung“, die es inzwischen wahr-

scheinlich bereut – wenn es die Zeitung nicht bereuen
kann, weil sie ja nur ein Stück Papier ist, dann werden es
der Verlag, die Herausgeber, die Eigentümer bereuen;
denn dort klopft jetzt Bodo Hombach an die Tür –, hat
Rot-Grün herbeigeschrieben und die ökonomischen Fol-
gen müssen jetzt auch ein Stück getragen werden. Jeden-
falls ist das, was im Wirtschaftsteil steht, oft richtig. Darin
stand unlängst:

Offensichtlich ist allenthalben die große Verunsiche-
rung und neuerdings der blanke Zorn über eine die
Bedürfnisse der Unternehmen missachtende Berliner
Wirtschaftspolitik. Dieser Zorn ist real und nicht
konstruiert, er ist keine Erfindung von Opposition
oder Wirtschaftsjournalisten, keine Kampagne. Die
Wut der Wirtschaft signalisiert eine sinkende Loya-
lität. Die Folgen reichen weit: von der sinkenden Be-
reitschaft auszubilden über ein nachlassendes ge-
sellschaftliches Engagement bis hin zu wildester
Steuergestaltung und womöglich einem regelrechten
Investitionsstreik.

So weit Marc Beise in der „Süddeutschen Zeitung“.
Vorhin hat der Herr Minister des Äußersten gesagt


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

– Entschuldigung, Herr Minister –, die Finanzmärkte be-
finden sich in einer Krise. Das ist richtig. Der Einzelhan-
del bekommt die nachlassende Kaufkraft zu spüren und
auch die Verunsicherung der Verbraucher. Das Handwerk
hat allein in den letzten drei Monaten über 300 000 Arbeits-
plätze abbauen müssen. Und es fällt keinem Handwerker
leicht, jemanden zu entlassen; ganz bestimmt nicht, da ist
etwas Herzblut dabei. Die Talfahrt der Bauwirtschaft hält
an und wird sich durch das geplante Zusammenstreichen
der Eigenheimzulage noch beschleunigen.

Herr Fischer, übrigens haben Sie in einer Diskussions-
runde vor der Wahl noch die Opposition bezichtigt, sie
wolle die Eigenheimzulage streichen.


(Zurufe von der CDU/CSU: Ja!)

Das Gegenteil ist wahr.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Diese Zulage wird von Ihnen jetzt kalt gestrichen, was Sie
vorher in Ihrer Art der Wählertäuschung und -verunsiche-
rung uns unterstellt haben.

In der gesamten verarbeitenden Industrie ist die Stim-
mung miserabel. Die Ampeln stehen auf Arbeitsplatzab-
bau. Wer in dieser Situation auf massive Steuererhöhun-
gen, steigende Sozialbeiträge und zusätzliche Schulden
setzt, der verschärft die Krise. Das alles ist Gift für Kon-
junktur und Wachstum.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Bei aller Ungewissheit über Prognosen ist eines ge-

wiss: Mit einer derart schwachen Wirtschaftsdynamik
kann keine grundlegende Wende auf dem Arbeitsmarkt
erreicht werden, Hartz hin, Hartz her. Das wird sich als
eine große Seifenblase erweisen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



(A)



(B)



(C)



(D)


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(A)



(B)



(C)



(D)






Wenn Sie schon unserem wirtschaftlichen Sachver-
stand nicht trauen, dann glauben Sie wenigstens den von
Ihnen selbst berufenen Gutachtern aus den Wirtschafts-
forschungsinstituten. Das sind inzwischen ja nicht mehr
die, die während der Regierungszeit von Helmut Kohl be-
rufen worden sind. Die sagen in ihrem Herbstgutachten:

Alle Pläne der Wirtschaftspolitik in den kommenden
Jahren müssen daran gemessen werden, ob sie dazu
beitragen, die Probleme des geringen Wachstums
und der geringen Beschäftigungsdynamik zu lösen ...
Die Koalitionsvereinbarungen zur Anhebung von
Steuern und Sozialabgaben sind das Gegenteil des-
sen, was wachstumspolitisch geboten ist.

Man kann das Ganze auch volkstümlich ausdrücken – ich
denke dabei vor allen Dingen an die Leute draußen, die
gerne den Ketchup-Song hören –, denn in der Gerd-Show
heißt es dort:

Was du heute kannst versprechen,
darfst du morgen wieder brechen.
Drum hol’ ich mir jetzt jeden einzelnen Geld-
schein,
euer Pulver, eure Kohle, euer Sparschwein.

So sieht es die Bevölkerung draußen. Deswegen wird die-
ser Song ein großer Hit werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Im Zeitalter der Globalisierung und der Konkurrenz

um Finanzströme ist es ganz besonders wichtig, unseren
Finanzmarkt in Ordnung zu halten. Nun hat sich Joseph
Fischer, zurzeit, wie wir sehen, gleichzeitig Bundes-
außenminister, Fraktionsvorsitzender und amtierender
Parteivorsitzender der Grünen,


(Hubertus Heil [SPD]: Nur kein Neid!)

vorhin auch ein wenig über die Aktienmärkte, auch den in
Amerika, verbreitet. Der Zusammenbruch geschah in ers-
ter Linie an der deutschen Börse. Der Dow-Jones-Index
ist längst nicht so stark gesunken wie der DAX. Auch in
Europa sind die Aktienkurse im Durchschnitt nicht so
stark wie in Deutschland gesunken. Das ist die Wahrheit.


(Beifall bei der CDU/CSU – Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hoffentlich haben Sie nicht in Aktien investiert!)


– Selbstverständlich nicht. Ich bin dabei sehr gut gefah-
ren. Das bisschen, was ich hatte, habe ich blitzartig ver-
kauft, als Rot-Grün begonnen hat zu regieren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Die alten Lehren kenne ich noch. Ich habe auch noch
die Bücher des alten Bankiers Fürstenberg gelesen, der ge-
sagt hat – die Geschehnisse unter Rot-Grün haben ihm
wieder einmal Recht gegeben –: Aktionäre sind dumm und
frech – dumm, weil sie anderen Leuten ihr Geld geben, und
frech, weil sie dafür auch noch Dividende wollen.


(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sehr gut! Da beschimpfen Sie jetzt Aktionäre!)


Jetzt sage ich Ihnen etwas, was viel ernster ist: Man
kann Vertrauen ungeheuer schnell zerstören. Es ist aber
ungeheuer schwierig, Vertrauen wieder aufzubauen. Ein
zerstörter Kölner Dom wäre leichter aufzubauen als zer-
störtes Vertrauen. Ihre Vorhaben, nämlich die Gewinne
aus der Veräußerung von Wertpapieren und Immobilien
unbeschränkt zu versteuern,


(Zuruf von der SPD: Kirch!)

der Lebensversicherung in die Kasse zu greifen, die ver-
mögenswirksamen Leistungen in Aktien und Wertpapier-
fonds zu besteuern, all diese Steuerpläne schaffen kein
Vertrauen in unseren Kapitalmarkt, sondern werden die
Krise leider noch verstärken.

In Ihrer Regierungserklärung, Herr Bundeskanzler, ge-
ben Sie auch auf andere Schicksalsfragen der Nation we-
nig Antworten. Die Unterfinanzierung der Bundeswehr
wird offensichtlich festgeschrieben.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Wo ist der Bundeskanzler?)


Bundesverteidigungsminister Struck hat den Fehler ge-
macht, dass er sich nicht vom ersten Tag an dagegen ge-
wehrt hat. Jetzt wird sein Etat weiter gekürzt. Das hat er
nun davon. Die Bundeswehr ist unsere Armee. Wir sind
stolz auf sie. Aber auch die Frage, wie es weitergehen soll,
ob es eine Freiwilligenarmee wird oder ob die Wehrpflicht
bleibt, ist noch nicht endgültig entschieden worden, son-
dern diese Entscheidung wurde vertagt. Die NATO-Part-
ner fragen sich, was eigentlich von uns zu halten ist, wenn
überall so viel Beliebigkeit Platz greift.

Über den Aufbau Ost haben wir vorhin eine mit-
reißende Rede gehört. Herr Präsident, Sie haben sie dan-
kenswerterweise vorher halten lassen. Ich freue mich da-
rüber, denn so brauche ich nichts dazu zu sagen. Die
frühere Chefsache ist also inzwischen zu einer Rolle
rückwärts geworden. Bezüglich der inneren Sicherheit
finden sich nur Leerformeln. Von dem, was wir wirklich
bräuchten, steht nichts in der Koalitionsvereinbarung,
auch nicht die von Bundeskanzler Schröder vollmundig
aufgestellte Forderung: Sexualstraftäter, also Kinder-
schänder, gehören weggesperrt, und zwar für immer.
Dafür hat er sehr viel Beifall bekommen, aber er hat da-
von in der Koalitionsvereinbarung nichts durchgesetzt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Auch bei der Umweltpolitik herrscht Fehlanzeige.
Stattdessen wird Erdgas stärker besteuert. Die Bauern
kommen nur noch als Kostenfaktor im Zusammenhang
mit der EU vor. Es finden sich keine Worte über den länd-
lichen Raum und all das, was an der Landwirtschaft hängt.

In der Außenpolitik hat man aus dem Schüren von
Kriegsangst kurzfristig Kapital zu schlagen versucht. Das
ist richtig. Jetzt folgt für den Herrn Bundeskanzler der
Gang nach Canossa, wobei Canossa in diesem Fall ir-
gendwo bei Washington liegt. Morgen macht ja der Bun-
desaußenminister bereits einen Probegang.


(Zurufe von der SPD)

Ich kann Ihnen sagen: Heinrich IV. hat sich in Canossa
wohler gefühlt, als Sie sich in den USA fühlen müssen.

Michael Glos




Michael Glos

Jetzt glauben Sie, Sie könnten die Vereinigten Staaten
von Amerika damit beruhigen, dass Sie für eine möglichst
schnelle Aufnahme der Türkei in die Europäische Union
kämpfen. Ich halte von einer Mitgliedschaft der Türkei in
der Europäischen Union nichts.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Nicht, dass ich missverstanden werde: Selbstverständlich
wollen wir eine gute Partnerschaft mit der Türkei inner-
halb der NATO; auch brauchen wir gute Handelsbezie-
hungen mit der Türkei. Nur können wir ihre Vollmitglied-
schaft in der Europäischen Union nicht gebrauchen. Auch
die damit verbundene Freizügigkeit von Anatolien nach
Deutschland hin in beliebigem Maße können wir nicht ge-
brauchen.


(Zurufe von der SPD)

Wir können auch kein Land als Vollmitglied in der Euro-
päischen Union gebrauchen, dessen Wirtschaftsleistung
nur ungefähr 20 Prozent des Durchschnitts der Wirt-
schaftsleistung der übrigen EU-Staaten beträgt und das
eine Inflationsrate von 50 Prozent hat. Wenn man jetzt
glaubt, dass man mit der Vollmitgliedschaft der Türkei in
der Europäischen Union irgendjemandem einen Gefallen
tun kann – nicht einmal den Türken selbst könnte man da-
mit einen Gefallen tun –, dann ist man schief gewickelt.

Auch der zweite Anlauf von Rot-Grün erfolgt im Rück-
wärtsgang. Mit dem, was in den Koalitionsvereinbarun-
gen steht und was wir heute hier gehört haben, lässt sich
die Zukunft nicht gewinnen. Abraham Lincoln hat gesagt,
man könne nicht die Schwachen stärken, indem man die
Starken schwäche. Genau das ist aber Ihr Programm.


(Widerspruch bei der SPD)

Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung. Ich weiß

nicht, ob der Herr Bundeskanzler noch hier im Plenarsaal
ist.


(Zuruf von der CDU/CSU: Nein!)

Wenn er nicht mehr hier ist, dann hat er aber genug Ket-
tenhunde hier, um sein Wort zu gebrauchen, die ihm das,
was ich jetzt bemerken will, weitersagen können. Ich bin
schon der Meinung und möchte ihm das gern ins Stamm-
buch schreiben: „Hochmut kommt vor dem Fall.“


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der SPD: Stoiber! – Weitere Zurufe von der SPD)


Der Hochmut, mit dem Sie sich heute gegenüber der Op-
position verhalten, wird sich – da bin ich ganz sicher –
rächen. Hören Sie damit auf, diejenigen, die Verantwor-
tung tragen für Unternehmungen und damit für die
Arbeitsplätze von Millionen von Menschen, als Ketten-
hunde zu beschimpfen!


(Zurufe von der SPD)

Das sind nicht Kettenhunde der Opposition.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn das al-
les nur dieser Bundesregierung schadete, dann könnte es
uns egal sein; dann könnten wir darüber sogar noch Scha-
denfreude empfinden. Aber es schadet unserem Land, der
Bundesrepublik Deutschland, in schwieriger Zeit. Für

dieses Land werden wir auch aus der Opposition heraus
arbeiten.

Herzlichen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1500401900

Als nächster Rednerin erteile ich der Kollegin Sabine
Bätzing von der SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Sabine Bätzing (SPD):
Rede ID: ID1500402000

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wenn man heute die Redebeiträge der Opposi-
tion hört, dann könnte man glauben, dass die Opposition
noch mitten im Wahlkampf steht. Wie vor dem 22. Sep-
tember sind die Vertreter der Opposition auch jetzt nur da-
bei, das Land zu zerreden, Innovationen zu behindern,
Stillstand zu produzieren und zu demotivieren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das alles sind Dinge, die wir nicht brauchen.

(Jörg Tauss [SPD]: Ja!)


Ich möchte lieber noch einmal auf die Koalitionsver-
einbarungen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen einge-
hen, die eines ganz deutlich zeigen: Deutschland hat eine
starke Regierung, die den Mut und die Entschlossenheit
besitzt, die vor uns stehenden Herausforderungen anzu-
gehen. Wir können dabei auf den beachtlichen Leistungen
in der vorangegangenen Wahlperiode aufbauen. Der Still-
stand, der unsere Republik viel zu lange gelähmt hat, ist
beendet.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Gerade als Vertreterin der jungen Generation bin ich dafür
sehr dankbar.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Rot-Grün hat mit der Erneuerung begonnen und wir

werden sie nun fortsetzen. Im Koalitionsvertrag steht klar
und deutlich, was wir in dieser Legislaturperiode umset-
zen wollen. Wir werden die notwendigen Reformen – ich
meine Reformen im positiven Sinne – konsequent fortset-
zen. Da gibt es viel zu tun. Die Lasten, die damit notwen-
digerweise verbunden sind, müssen wir heute tragen,
damit unsere Kinder und Enkel in Zukunft Handlungs-
spielräume und Perspektiven haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich danke daher im Namen der jüngeren Generation Hans
Eichel für sein finanzpolitisches Kurshalten auch in ge-
fährlichem Fahrwasser.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/ CSU)



(A)



(B)



(C)



(D)


88


(A)



(B)



(C)



(D)






– Es ist so. – Es ist uns klar, dass noch manche Klippe zu
umschiffen sein wird. Aber auch das werden wir schaffen.

Ich möchte nun einige Bereiche nennen, die wir weiter
voranbringen werden.

Die Förderung von Familien mit Kindernmuss aus-
gebaut und auf noch solidere Grundlagen gestellt werden
als bisher.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Eigenheimzulage!)


Wir wollen dafür kämpfen, dass Kinder kein Armutsrisiko
sind. Fast 30 Prozent der Familien mit drei Kindern fallen
leider heute noch unter die Armutsgrenze. Das sind
30 Prozent zu viel. Denn wir alle wissen, dass Kinder aus
besonders einkommensschwachen Familien einen schlech-
teren Start ins Leben haben. Sie haben keine großen Chan-
cen. Genau das wollen wir ändern. Als ehemalige Sach-
bearbeiterin im Sozialamt weiß ich, wovon ich rede. Ich
weiß auch, wohin ein solcher Fehlstart im Leben führen
kann.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Anna Lührmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Der Koalitionsvertrag enthält darum konkrete Maßnah-

men, mit denen Familien mit Kindern und allein erzie-
hende Mütter und Väter weiter unterstützt werden sollen.
Ich nenne in diesem Zusammenhang die 10 000 zusätz-
lichen Ganztagsschulen sowie den Ausbau der Betreuung
von Kindern unter drei Jahren, bei der wir die Kommunen
ab 2004 jährlich mit 1,5 Milliarden Euro unterstützen
werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie sehen, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf
wird zunehmend Realität. Wir setzen damit die erfolgrei-
che Politik aus der letzten Legislaturperiode fort. Fami-
lien mit Kindern bekommen bereits heute jährlich insge-
samt 13 Milliarden Euro mehr als vor vier Jahren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Hört! Hört! – Zurufe von der CDU/CSU: Und wie viel Ökosteuer zahlen sie?)


Auch durch die Flexibilisierung der Elternzeit und
durch den Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit sind wir die-
sem Ziel ein Stück näher gekommen. Denn wir können es
uns nicht leisten – das wollen wir auch nicht –, auf her-
vorragend ausgebildete Frauen, die sich an Universitäten,
Fachhochschulen und Berufsschulen bewiesen haben, zu
verzichten. Es ist der richtige Weg, gerade die Kreativität
der Frauen für unsere wirtschaftliche Entwicklung stärker
zu nutzen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Richtig!)


Aber unsere wichtigste Zukunftsressource ist die
Bildung. Wir brauchen keine PISA-Studie, um klar zu er-
kennen, dass wir in diesem Bereich noch besser werden
müssen. Die laufende Diskussion um länderübergreifende

Standards im Bildungsbereich halte ich für den richtigen
Weg. Mein Dank geht an Edelgard Bulmahn; denn sie hat
sich in beispielhafter Weise um die Reform des Bildungs-
wesens verdient gemacht.


(Beifall bei der SPD)

Ich sage: Der neue Wind in der Bildungspolitik kann uns
nur gut tun.

Zusammenarbeit und Vertrauen zwischen den Genera-
tionen wollen wir auch in Zukunft fördern. Daher gilt für
Kinder und Jugendliche, dass wir gemeinsam mit ihnen
die Zukunftschancen unserer Gesellschaft entwickeln
wollen. Wir wollen, dass jeder Jugendliche, der will und
kann, eine Ausbildung erhält. Die Sicherung des Ausbil-
dungsplatzangebots hat eindeutig Priorität. Dabei bauen
wir allerdings auch auf die Zusammenarbeit mit der Wirt-
schaft. Denn Mitmachen ist Voraussetzung für einen Er-
folg in diesem Bereich.

An der Verbesserung der sozialen und beruflichen In-
tegration von jungen Menschen liegt uns viel. Wir müssen
daher die jungen Menschen ernst nehmen und wir müssen
ihnen vor allen Dingen zuhören. Wir wollen den Jugend-
lichen eine Balance aus Schutz und Freiräumen bieten, die
sie zur persönlichen Entwicklung brauchen. Ich wünsche
mir, dass wir, wenn wir dies beachten, wieder mehr junge
Menschen für Politik interessieren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, die Akzeptanz unserer Po-
litik beruht auf einem einfachen Wort: Solidarität. Soli-
darität ist ein Grundwert, eine Richtschnur, an der wir uns
messen lassen wollen. Dass wir sie völlig zu Recht auch
von denjenigen einfordern, die auf der Sonnenseite des
Lebens stehen, ist doch wohl klar. Denn Solidarität be-
weist sich in schwierigen Zeiten. Sie ist keine Einbahn-
straße und schon gar keine Schönwetterallee. Die Ab-
wanderung junger, gesunder und gut verdienender
Beitragszahler in die private Krankenversicherung hat ein
Ausmaß erreicht, das die Beitragsstabilität der gesetzli-
chen Krankenkassen ernsthaft bedroht. Wir aber wollen
keine Zweiklassenmedizin, sondern eine klasse Medizin.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zu der sollen alle unabhängig von ihrem Einkommen den
gleichen Zugang haben.

Deshalb sage ich: Aus der Solidarität sollte man sich
nicht so leicht verabschieden können. Nur wenn alle Ge-
nerationen und alle Einkommensgruppen an einem Strang
ziehen, können wir die vor uns liegenden Aufgaben auch
bewältigen.

Dies hat schon sehr früh ein Mensch erkannt, der in
meinem Wahlkreis Neuwied/Altenkirchen lebte – Sie alle
kennen ihn sicherlich –:


(Zuruf des Abg. Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU])


– Friedrich Wilhelm Raiffeisen, Herr Meyer. Von ihm
stammt die Maxime: „Einer für alle, alle für einen.“ In un-
serer Geschichte gibt es genug Erfahrungen, die beweisen:

Sabine Bätzing




Sabine Bätzing
Solidarität ist nicht angestaubt. Solidarität ist Zukunfts-
fähigkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Noch ein Wort zur Hartz-Kommission. In den nächs-
ten Wochen und Monaten werden wir die größte Arbeits-
marktreform in der Geschichte dieses Landes umsetzen.
Herr Glos, wir versprechen Ihnen: Sie wird keine Seifen-
blase sein, die irgendwann platzen wird.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Danke schön!)

Denn wir können es nicht oft genug sagen: Das Konzept
der Hartz-Kommission ist genau das, was unser Land jetzt
braucht. Deshalb handeln wir. Wir werden dieses Konzept
umsetzen.

Meine Damen und Herren, dies ist ein Appell an Sie
alle: Lassen Sie uns in den kommenden Jahren keinen
Wettstreit im Miesmachen und Nörgeln austragen!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das Land hat dafür keine Zeit. Lassen Sie uns gemeinsam
die notwendigen Entscheidungen treffen, vor die wir ge-
stellt sind – und dies mit Mut und Konsequenz! Lassen Sie
uns vor allem den Menschen beweisen, dass wir keine
Lobbyrepublik sind, sondern uns den Aufgaben stellen, zu
deren Bewältigung wir gewählt worden sind.

Unser Wählerauftrag ist klar: Die Menschen haben uns
das Vertrauen ausgesprochen, weil wir das bessere Kon-
zept für die Zukunft unseres Landes haben. Die Wähle-
rinnen und Wähler können sich darauf verlassen: Wir
schaffen gemeinsam ein modernes Deutschland.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1500402100

Frau Kollegin Bätzing, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer

ersten Rede im Deutschen Bundestag, die Sie als neues
Mitglied dieses Hauses zum denkbar frühesten Zeitpunkt
haben halten können.


(Beifall im ganzen Hause)

Ich bitte schon jetzt die zahlreichen weiteren neuen

Kolleginnen und Kollegen um Verständnis dafür, dass
vermutlich nicht alle in der 21-stündigen Aussprache zur
Regierungserklärung zu Wort kommen können.

Als Nächstes erteile ich dem Kollegen Scholz für die
SPD-Fraktion das Wort.


Olaf Scholz (SPD):
Rede ID: ID1500402200

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben

eine interessante Rede von Frau Merkel gehört,

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr gute Rede!)


in der sie uns manches über längerfristige Linien gesagt
hat. Sie hat festgestellt, es sei dringend erforderlich, dass
man die langen Linien bzw. die Grundsätze der Politik er-
kennen könne. Weil sie dann doch an einer Stelle konkret
werden wollte, ist sie auf diese Grundsätze genauer ein-
gegangen. Man brauche nämlich Beamte im Bundeskanz-
leramt, die für Grundsätze zuständig seien. Das war ihr
Vorschlag für die zukünftige Grundsatzabteilung, die die
langen Linien angehen soll.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren, es geht doch um etwas We-

sentlicheres als diesen Hinweis. Dass dieser so einfach
möglich war, lag daran, dass es in der Tat in der Rede kei-
nen einzigen Vorschlag für die Regierung unseres Landes
und dazu, wie es weitergehen soll, gegeben hat.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In den letzten Tagen geistert immer wieder ein Thema
durch die Medien, das auch hier gern zitiert wird und
missverstanden werden kann: Es wird Mut zu einer lang-
fristigen Strategie gefordert. Ich halte das für richtig. Wir
brauchen Mut, nur mit Mut haben wir eine Chance, unser
Land zu regieren. Wenn sonntags eine Rede über die rich-
tige Politik gehalten wird, wissen auch alle, was Mut ist.

Man kann zum Beispiel sagen: Wir müssen dazu beitra-
gen, dass die Steuersätze in unserem Land sinken und dass
Steuerschlupflöcher gestopft und Subventionen gestri-
chen werden. Niemals mit irgendeiner Relevanz für die
CDU/CSU-Fraktion, aber doch immer wieder in Zeitungen
veröffentlicht, hat zum Beispiel der Kollege Uldall, der
jetzt in Hamburg Senator sein darf, Vorschläge zu gestaf-
felten Steuersätzen gemacht. Sämtliche Schlupflöcher und
Subventionen, die wir jetzt streichen, waren dabei längst
gestrichen.

Wenn aber der Mut konkret gefordert wird, dann ist al-
les anders. Dann melden sich nämlich all diejenigen, die
vorher Vorschläge gemacht haben, zu Wort und fordern:
Dieses Steuerschlupfloch, diese Subvention und diese
Einzelregelung sollen aufrecht erhalten bleiben.

Dass man sich dabei sehr lächerlich machen kann, hat
uns Frau Merkel vorgemacht. Sie hat sich nämlich in der
Geschichte der Bundesrepublik jetzt damit hervorgetan,
dass sie den halben Mehrwertsteuersatz für Schnittblumen
verteidigt hat. Ich glaube, solche Forderungen zeigen letzt-
lich, wie die Subventionsbekämpfung bei Ihnen konkret
aussieht.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Fragen Sie Ihre eigenen Leute!)


Ich glaube, es ist richtig, dass wir ein Konzept vorgelegt
haben, in dem weitere Steuersenkungen enthalten sind. In
den Jahren 2004 und 2005 werden 29 Milliarden Euro an
die Bürgerinnen und Bürger zurückgegeben.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Vorher haben sie 40 Milliarden mehr bezahlt!)


Diese Einnahmen fehlen in den Kassen von Bund, Län-
dern und Gemeinden und deshalb ist es auch richtig, wei-
tere Schlupflöcher zu stopfen.


(A)



(B)



(C)



(D)


90


(A)



(B)



(C)



(D)






Eines dieser Schlupflöcher hat bei Ihnen im Wahl-
kampf eine große Rolle gespielt. Zum Beispiel hat Herr
Merz gesagt, es kann nicht sein, dass die Kapitalgesell-
schaften in Deutschland im Saldo mehr Steuern erstattet
bekommen als sie zahlen. Von Herrn Stoiber ist im Wahl-
kampf, teilweise mit zitternder Stimme, immer wieder er-
wähnt worden, dass es dringend notwendig sei, die Aus-
fälle bei der Körperschaftsteuer zu bekämpfen. Dazu hat
er etwas Ähnliches wie Herr Merz gesagt.

Nun gehen wir das an – das ist ein ganz wichtiger Teil
des Subventionsabbaus und des Stopfens von Steuer-
schlupflöchern –, indem wir sicherstellen, dass Unterneh-
men und Körperschaften, die Gewinne machen, auch
Steuern zahlen. Das ist gut so, dem sollten auch Sie zu-
stimmen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Tatsächlich sind Sie in dieser Frage aber sehr leise ge-
worden. Sie kommen gar nicht mehr darauf zurück, son-
dern erwähnen nur noch die Schnittblumen und den
Mehrwertsteuersatz, der für diese angehoben werden soll.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Wer redet hier von Schnittblumen?)


Das ist gewissermaßen die Kontinuität Ihrer Gedanken
vor und nach der Wahl. Deshalb: Es gibt ganz andere, die
die Wähler getäuscht haben; denn wer die CDU gewählt
hat, könnte gedacht haben, jetzt geht es den großen Kon-
zernen endlich an den Kragen. Tatsächlich aber wollen
Sie das, was wir jetzt vorhaben, gar nicht unterstützen.

Meine Damen und Herren, es ist wichtig, sich darüber
zu unterhalten, dass es die mutlosen Mutigen gibt. Die
mutlosen Mutigen sind diejenigen, die immer sagen, was
man eigentlich tun müsste, aber die Sätze nicht zu Ende
sprechen. Sätze, die nicht zu Ende gesprochen werden,
sind beispielsweise: Man braucht auf dem Arbeitsmarkt
endlich einen Aufbruch, der Verkrustungen beseitigt; wir
müssen etwas bei der Rente tun, damit die Beiträge nicht
weiter steigen; auch bei der Gesundheitspolitik ist das er-
forderlich, hier muss etwas getan werden, damit wir mit
dem Geld besser auskommen.

Die Fragen aber, die weder Frau Merkel noch Herr
Glos, noch jemand anders beantwortet, lauten: Was soll
man tun? Hier setzen Sie ein bisschen darauf, dass Ihre ei-
gentlichen Freunde wissen, was Sie tun wollen, und viele
es nicht wissen und glauben, Sie machen etwas Vernünf-
tiges. Denn tatsächlich haben Sie ganz konkrete Vorstel-
lungen, die Sie auch nennen könnten, aber Sie nennen sie
nicht. Soll es so sein, dass wir bei medizinischen Leistun-
gen Kürzungen durchführen und sagen, diese gibt es nicht
mehr? Ist das mutig? Ist das richtig?

Wenn Sie das für richtig halten, müssen Sie auch den
Mut haben, das zu sagen, statt Ihre Sätze unvollendet zu
lassen und dann, wenn Sie sich mit der Regierung und
dem Konzept des Koalitionsvertrags auseinander setzen,
den Eindruck zu erwecken, als hätten Sie ein Konzept vor-
zuschlagen.

Zur Rente könnten Sie sagen, Sie wollen erreichen,
dass es nicht zu solchen Beitragssteigerungen kommt, wie

sie jetzt anstehen. Dies haben Sie aber nicht getan. Viel-
mehr bleiben Sie nach dem halben Satz stecken. Sie sind
mutlos, weil Sie keine Alternativen benennen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das Gleiche machen Sie bezüglich unseres Arbeits-
marktes. Dazu bringen Sie auch immer nur den Vor-
schlag, dass die Verkrustungen aufgebrochen werden sol-
len. Interessant wäre es, von Ihnen einmal zu hören, was
dies denn ist, ob Sie etwa den seit Anfang der 50er-Jahre
in Deutschland bestehenden Kündigungsschutz abschaf-
fen, halb abschaffen oder viertel abschaffen wollen. Viele
Ihrer Freunde glauben, dass Sie genau dies wollen. Viele
sollen es aber offenbar nicht hören und deshalb bleiben
Sie mutlos und sagen es nicht. Ihnen fehlt bei Ihrer Kritik
an der Regierungserklärung also wirklich der Mut.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich will Ihnen sagen, welches jetzt und in den nächsten
vier Jahren bei der Diskussion über die Regierungsarbeit
Ihr großes Problem sein wird. Ihr Problem wird sein, dass
Sie keine Alternativen benennen. Dies ist auch der Grund
dafür, warum Sie die Wahl nicht gewonnen haben.
Tatsächlich befinden wir uns in einer schwierigen wirt-
schaftlichen Lage und es ist schwierig für eine Regierung,
wiedergewählt zu werden, wenn sich die Arbeitslosigkeit
so entwickelt, wie sie das in den letzten Jahren getan hat.

Herr Stoiber hat immer wieder gesagt, das Arbeitslo-
sigkeitsproblem sei groß – was übrigens so ist –, er hat
aber immer wieder vergessen, irgendeinen Vorschlag zu
machen, von dem irgendjemand hätte annehmen können,
er hätte eine Idee, wie dies geändert werden sollte.


(Jörg Tauss [SPD]: Noch nicht einmal in Bayern!)


Deshalb haben die Menschen gesagt: Der Stoiber kann
es auf jeden Fall nicht besser. Den wählen wir nicht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wenn Sie so weitermachen, wird man bei den Wahlen,
die demnächst anstehen, und auch in vier Jahren sagen:
Die CDU/CSU kann nur sagen, das ist aber schlimm, sie
kann aber nicht sagen, was man tun soll. Sie als Opposi-
tion brauchen aber den Mut, sich zu konkreten Konzepten
zu bekennen. Dazu fordere ich Sie auf.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, in der Familienpolitik ha-
ben Sie ein ähnliches Problem. Was Sie dabei falsch ma-
chen, grenzt schon ans Dramatische. Ich erinnere mich
sehr genau daran, dass sich ein früherer Generalsekretär
Ihrer Partei darum bemüht hat, aufzuzeigen, dass Sie bei
der Familienpolitik ein Defizit haben. Das war Ihr Herr
Geißler. Er ist daran gehindert worden. Dann haben Sie
1998 die Wahl verloren. Ich erinnere mich noch ganz ge-
nau an alle Wahlanalysen, die Sie gemacht haben. Eigent-
lich haben Sie gesagt: Hätten wir doch zehn Jahre früher
auf den Geißler gehört. Wir haben ein Defizit in der Fa-
milienpolitik. Niemand glaubt uns da mehr was.

Olaf Scholz




Olaf Scholz

Konsequenz gab es keine. Nun war die Bundestags-
wahl. Sie haben die Analysen der Meinungsforschungs-
institute gelesen. Darin stand schon wieder das Gleiche.
Dann durfte sich Frau Reiche kurzfristig profilieren. Jetzt
haben Sie die Wahl verloren und haben gemeinsam analy-
siert: Wir haben die Wahl verloren, weil wir in der Famili-
enpolitik ein nicht mehr zeitgemäßes Profil haben. Und
was ist? – Frau Reiche ist abgemeldet und Sie kritisieren
die Politik der Bundesregierung aus dem gleichen Blick-
winkel wie seit 1950. Ich glaube, dies ist Ihr Problem.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich warne Sie auch: Retten Sie sich nicht mit den For-
meln, von denen Sie glauben, dass Sie damit von der ei-
nen Tür zur nächsten kommen. Ihre Formel lautet immer,
wir wollten den Menschen etwas vorschreiben, wir woll-
ten ihnen zum Beispiel vorschreiben, dass sie arbeiten
müssen. Das ist eigentlich das Einzige, was Ihnen zur Fa-
milienpolitik einfällt. Dabei ist dies nicht das Problem un-
serer Gesellschaft.

Wir haben eine Gesellschaft, in der es für Familien, in de-
nen beide Partner berufstätig sein wollen, so schwierig ist
wie in kaum einem anderen Land in Europa, dies zu organi-
sieren, weil wir weniger Ganztagsbetreuungsplätze und we-
niger Ganztagsschulen als zum Beispiel Frankreich haben.


(Ulrich Heinrich [FDP]: Das hättet ihr in den Ländern beispielsweise tun können! Aber das habt ihr nicht gemacht!)


Deshalb sage ich Ihnen: Sie haben ein großes Problem.
Wenn Sie sich politisch nicht bewegen, werden Sie es
auch nicht lösen können. Sie haben die Lufthoheit über
den Kinderbetten verloren. Solange das der Fall ist, wer-
den Sie keine Wahl in Deutschland gewinnen können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Eckart von Klaeden [CDU/ CSU]: Aber nur, wenn die Windeln nicht gewechselt sind!)


Ich will noch etwas zum Thema Irak sagen, das Sie an-
gesprochen haben, und zwar auch, weil Frau Merkel ge-
sagt hat, wir würden jetzt etwas anderes sagen als vor der
Wahl.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Das ist so!)

Das hat eigentlich niemand verstanden, denn wir machen
genau das, was wir vor der Wahl angekündigt haben. Die
Bundesrepublik Deutschland bleibt bei ihrer Haltung,
nämlich dass wir sagen: Es wird keine deutsche Beteili-
gung an einem Krieg im Irak geben. Dies ist unsere Aus-
sage und bei der bleibt es.


(Beifall bei der SPD – Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Ich höre doch schon andere Stimmen bei Ihnen!)


Es empfiehlt sich, dass Sie einen weiteren Punkt dis-
kutieren, nämlich das Jahrhundert, in dem wir leben. Das
Thema Außenpolitik hatte im 19. Jahrhundert sicherlich
eine andere Bedeutung als in diesem. Sicherlich wäre es
im Jahre 1895 ein interessanter Beitrag gewesen, wenn je-
mand gesagt hätte: Es kann nicht sein, dass wir hier über
die Frage, was Deutschland tun soll, diskutieren; das
gehört nicht ins Parlament und ist auch keine Sache des

Volkes, sondern das muss der Außenminister heimlich in
irgendwelchen Kabinetten beschließen. –


(Vorsitz: Vizepräsidentin Susanne Kastner)

Aber auch heute gingen eigentlich alle Vorwürfe, die

Sie der Bundesregierung und dem Bundeskanzler ge-
macht haben, in die Richtung, dass die Frage von Krieg
und Frieden nicht vom Volk entschieden oder vom Deut-
schen Bundestag breit diskutiert werden könne;


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Sie muss nur ehrlich beantwortet werden!)


sie gehöre in die Kabinette und geheimen diplomatischen
Zirkel. Das ist nicht richtig!


(Beifall bei der SPD)

Ich glaube, Sie müssen lernen, dass Deutschland über

diese Frage diskutieren muss. Es gibt ein Vorbild, das
ich Ihnen zur Nachahmung empfehle, nämlich die Verei-
nigten Staaten von Amerika;


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

denn in den Vereinigten Staaten von Amerika wird das,
was wir hier nicht bereden dürfen, allerorten öffentlich
diskutiert.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Das können wir auch!)


Wenn Sie einen Fernsehsender einschalten, können Sie all
die Fragen, über die wir hier nicht diskutieren sollen, in
Senats- und Kongressausschüssen breit diskutiert finden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


So ist es richtig.
Der Unterschied zwischen den beiden Staaten ist: Die

Vereinigten Staaten von Amerika sind seit 200 Jahren eine
Demokratie, wir haben erst seit 50 Jahren das Glück.
Außerdem hat sich Deutschland 1999 im Kosovo das erste
Mal als ein demokratischer Staat an einem Krieg beteiligt.
Deshalb haben viele noch keine Argumentationsmuster
und nicht die Fähigkeit zur Diskussion über Richtig und
Falsch bei diesem Thema. Sie brauchen einen demokrati-
schen Impuls in der Debatte über Außenpolitik. Das würde
Ihnen nützen und die Sache glaubwürdiger machen.

Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1500402300

Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Pau, fraktions-

los.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1500402400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Auf den Pressefassungen von Regierungserklärungen
heißt es stets: Es gilt das gesprochene Wort. Das ist im
heutigen Falle besonders angebracht; denn was vom ge-
schriebenen Wort – ich meine den Koalitionsvertrag –


(A)



(B)



(C)



(D)


92


(A)



(B)



(C)



(D)






demnächst wirklich noch gilt, das wissen wir nicht, leider
auch nicht nach der heutigen Rede des Bundeskanzlers.


(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos])


Frau Merkel hat sich vorhin beschwert, sie fühle sich
ge- oder enttäuscht. Dazu kann ich nur sagen, meine Da-
men und Herren von der CDU/CSU, für so naiv hätte ich
sie nicht gehalten.

Wir, das heißt die „PDS im Bundestag“, legen zur
Bewertung ein übersichtliches Maß an. Unsere Fragen
lauten schlicht und nachvollziehbar: Zielt das durch SPD
und Bündnis 90/Die Grünen Verabredete auf mehr soziale
Gerechtigkeit oder nicht? Zielt es auf eine militärfreie
Außenpolitik oder nicht? Zielt es auf eine bürgerrechtli-
che Innenpolitik oder nicht? Zielt es auf eine nachhaltige
Umweltpolitik oder nicht? Zielt es auf eine wirksame
Politik für die neuen Bundesländer oder nicht? Sollten
Sie in diese Richtungen agieren, dann können Sie mit un-
serer Zustimmung rechnen. Wenn ich allerdings den
Koalitionsvertrag und die heutige Regierungserklärung
wäge, dann stelle ich fest, dass Sie überwiegend mit un-
serem Nein rechnen müssen.

In diesem Zusammenhang möchte ich auch etwas an-
deres klarstellen: Der Abstand der rot-grünen Politik zu
dem, was die CDU/CSU will, ist viel geringer, als die
Lautstärke, mit der die Opposition zur Rechten heute Weh
und Ach geklagt hat, vermuten lässt.


(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos] sowie bei Abgeordneten der SPD)


Am klarsten zeigt sich das wohl, wenn es um die
Minimierung der Massenarbeitslosigkeit geht. Beide
großen Blöcke des Bundestages verbreiten die Mär von
den bösen Lohnnebenkosten, beide großen Blöcke des
Bundestages beten den Götzen Wirtschaftswachstum an
und beide großen Blöcke des Bundestages stellen letzt-
endlich Betroffene an den Pranger. Das ist nicht modern,
das ist unterwürfig. Das sind Ergebenheitsadressen ge-
genüber globalen Interessen des großen Kapitals; es ist
also keine wirkliche Politik.

Sie alle wissen, dass es nicht reicht, hier und da ein
Steuerschlupfloch zu stopfen oder die eine oder andere
Subvention infrage zu stellen. Das alles muss sein, reicht
aber nicht aus. Die PDS fordert grundsätzlich ein Um-
steuern, politisch und finanziell.

Nun will ich hier nicht über die Tobinsteuer reden, son-
dern nur über die Wiedereinführung der Vermögensteuer.
Den besten Beleg, wie es bei Rot-Grün zugeht, liefert ihr
neuer Superminister Clement. Als er noch Landesminister
war – das war noch vor wenigen Tagen –, sprach er sich
heftig für die Vermögensteuer aus. Nun ist Herr Clement
die Bundes-Treppe hinaufgefallen und prompt spricht er
dagegen. Die Nagelprobe wird es für Sie im Bundesrat ge-
ben: Rot-Rot in Berlin und in Mecklenburg-Vorpommern
wollen die Vermögensteuer.


(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos])


Ich bin gespannt, wie sich die anderen Bundesländer ver-
halten werden, und füge hinzu: Die Abstinenz der Bun-
desregierung in dieser Frage ist nicht klug; sie ist einfach
abwiegelnd und feige.

Gestatten Sie mir noch eine Anmerkung zu den neuen
Bundesländern. Vor zwei Jahren hat der Bundestagspräsi-
dent gemahnt, der Osten stehe auf der Kippe. Seither hat
sich nicht wirklich etwas zum Besseren gewendet.


(Peter Hintze [CDU/CSU]: Es ist runtergefallen!)


Wir wissen doch alle: Die Vorschläge der viel gepriese-
nenHartz-Kommissionwären, wenn sie denn eins zu eins
umgesetzt würden, pures Gift für den Osten. Dies wären sie
aber nicht nur für den Osten, sondern auch für struktur-
schwache Regionen im Westen, zum Beispiel Oberfranken.

Ich vermute, dass Herr Minister Stolpe einen ganz
großen Erwartungsdruck im neuen Amt spüren wird. Bis-
lang habe ich von ihm aber nur eine einzige Botschaft
gehört und die hieß: Für den Aufbau Ost werden keine
Mittel gestrichen. Eine solche Aussage ist für einen be-
stellten Hoffnungsträger arg wenig bis gar nichts.


(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos])


Lassen Sie mich zum Schluss noch ein aktuelles Pro-
blem ansprechen, und zwar die Zusage des Kanzlers und
des Außenministers, die Bundesrepublik werde sich nicht
an einem Irak-Krieg beteiligen. Wenn dieses Nein konse-
quent sein soll, dann schließt das auch logistische Hilfen
aus. Dann verbietet es sich, hoheitliche Rechte der Bun-
desrepublik an die USA abzutreten.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Richtig!)

Dann erwarte ich eine klare Ansage, dass für Rot-Grün
das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland mehr
gilt als ein konstruierter NATO-Bündnisfall.

Der Bundeskanzler ist in seiner Regierungserklärung
auch auf den EU-Konvent eingegangen. Die PDS begrüßt
es, dass Europa hier aus seinem Schattendasein heraus-
kommt. Ich finde, es soll aber nicht nur, wie der Bundes-
kanzler heute gesagt hat, ein Europa der Bürger, sondern
auch der Bürgerinnen werden. Dazu gehört auch, dass zur
europäischen Verfassung 2004 eine Volksabstimmung
stattfindet.

Danke schön.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos])



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1500402500

Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
Wir kommen nun zu den Bereichen Europa, Außen- und

Sicherheitspolitik, Entwicklungspolitik und Menschen-
rechte.

Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen,
Joseph Fischer.


Joseph Fischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1500402600

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn wir

hier heute über die Zukunft der Außen- und Sicherheits-
politik sprechen, dann handelt es sich, wie ich denke, um
eine der ganz großen Herausforderungen, mit denen wir
in den kommenden vier Jahren konfrontiert werden. Wir

Petra Pau




Bundesminister Joseph Fischer
haben es dabei auf der Grundlage der Kontinuität deut-
scher Außen- und Sicherheitspolitik einerseits mit der
Fortsetzung der großen Linien, auf denen die Außenpoli-
tik unseres Landes basiert, zu tun; andererseits müssen
wir uns den neuen Herausforderungen, vor allen Dingen
aber auch den neuen Bedrohungen stellen.

Lassen Sie mich zu Beginn meiner Rede Folgendes un-
terstreichen: Für die deutsche Außen- und Sicherheits-
politik ist es konstitutiv, dass die großen Grundlinien fort-
geführt werden. Das bedeutet die Einbindung unseres
Landes in den europäischen Integrationsprozess, der in
den vor uns liegenden zwei Jahren in der Tat vor großen
Herausforderungen steht, die Einbindung in das Transat-
lantische Bündnis sowie die Pflege des Verhältnisses
zu den Vereinigten Staaten von Amerika und unser auf
der historisch-moralischen Verantwortung für unsere
Geschichte gründendes Sonderverhältnis zu Israel. Das
sind die drei wesentlichen Grundlinien, die die deutsche
Außen- und Sicherheitspolitik, aber auch unsere Interes-
senlage bestimmen.

Gleichzeitig haben wir es seit dem 11. September letz-
ten Jahres mit einer Situation zu tun, in der wir in der Tat
vor einer neuen strategischen Bedrohung unserer Sicher-
heit stehen, nämlich dem internationalen Terrorismus. Zu-
erst und vor allen Dingen möchte ich Ihr Augenmerk da-
rauf lenken, dass diese Bedrohung nicht von selbst wieder
verschwinden wird. Diese Bedrohung bedarf gewiss einer
festen und, wo es notwendig ist, auch militärischen, poli-
zeilichen und geheimdienstlichen Antwort; denn den Ter-
rorismus wird man nicht durch Gespräche besiegen kön-
nen. Das gilt vor allem für den neuen Totalitarismus,
nämlich den islamistischen Terrorismus eines Osama
Bin Laden, der den Massenmord, den Tod zum Programm
für sich erhoben hat. Diesen wird man niederkämpfen und
besiegen müssen.

Gleichzeitig können wir erkennen, dass bei dieser Ge-
fahr vier Elemente verknüpft werden. Wenn diese zusam-
mentreffen, bedeutet dies in der Tat eine strategische Be-
drohung, die man nicht unterschätzen darf. Ich möchte
dies vor allen Dingen am pakistanisch-indischen Konflikt
festmachen, weil wir dort diese neue strategische Bedro-
hung sehr klar erkennen können:

Der Konflikt um Kaschmir ist exemplarisch für die
zukünftige Sicherheitsbedrohung. Bei diesem finden wir
das Element des religiösen Konfliktes; in der europä-
ischen Geistesgeschichte und politischen Geschichte gab
es dieses im 16. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Reli-
gionskriege. Wir finden das Element der nationalistischen
Konfrontation zwischen Nachbarn, also ein Element aus
dem 19. und frühen 20. Jahrhundert. Wir finden das Ele-
ment der Nuklearisierung, der Massenvernichtungsmittel,
also ein Element aus der Mitte des 20. Jahrhunderts.
Schließlich finden wir ein Element aus dem beginnenden
21. Jahrhundert, nämlich den Terrorismus.

Das ist die neue Herausforderung, mit der wir es zu tun
haben. Ich habe hier den indisch-pakistanischen Konflikt
erwähnt. Die Spur führt direkt zu einem Regionalkonflikt,
der seit der Gründung von Indien und Pakistan nicht
gelöst wurde, nämlich zu dem Konflikt um Kaschmir.

Damit komme ich nicht nur zur Frage, wie wir dieser
terroristischen Gefahr in unserer großen Nachbarregion

zwischen dem Atlantik und dem Pazifik, der arabisch-
islamischen Welt, begegnen können, sondern gleichzeitig
auch zu einer Antwort. Diese Antwort muss aus drei Ele-
menten bestehen:

Erstens. Dem Terrorismus muss mit den notwendigen
Machtmitteln aktiv entgegengetreten werden. Diese
Machtmittel sind aber in den wenigsten Fällen militäri-
scher Natur; sie sind im Wesentlichen polizeilicher und
geheimdienstlicher Natur und gründen auf Ermitt-
lungstätigkeiten, die gleichzeitig eine internationale Alli-
anz notwendig machen.

Zweitens müssen Regionalkonflikte gelöst werden.
Die Regionalkonflikte bergen in sich die große Gefahr,
dass sie eskalieren. Diese politische Lösung von Regio-
nalkonflikten ist die entscheidende Voraussetzung, um
den Nährboden für Terrorismus trockenzulegen.

Drittens. Im Wesentlichen sind es junge Gesellschaf-
ten. Diesen müssen wir nicht nur in einem geistigen Dia-
log begegnen, sondern wir müssen ihnen auch eine kultu-
relle und geistige Antwort sowie eine ökonomische und
politische Perspektive geben. Auf eine umfassende Si-
cherheitsbedrohung müssen wir mit einer umfassenden
Sicherheitsantwort reagieren. Dialog heißt für mich, dass
wir nicht nur freundliche Dinge sagen, sondern dass wir
auf den Punkt kommen: Lässt sich etwa die Konvention
der Menschenrechte mit der Scharia vereinbaren? Diese
Frage führt zum Kern des Problems.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wenn das alles richtig ist und wenn das die Gefahren
sind, wenn es also richtig ist, dass der Status quo am
11. September so erschüttert wurde, dass wir nicht mehr
mit ihm leben können, wenn es richtig ist, dass die Lösung
von Regionalkonflikten dabei eine essenzielle Vorausset-
zung ist, und wenn es richtig ist, dass wir verhindern müs-
sen, dass Massenvernichtungsmittel in die Hände von
Terroristen geraten, dann – darin liegt die Differenz zur
Einschätzung in den USA– frage ich mich allerdings, um
es ganz diplomatisch zu formulieren, ob die Prioritäten-
setzung bezüglich des Irak tatsächlich Sinn macht. Ich
komme nämlich zu völlig anderen Konsequenzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das ist meine große Sorge, die ich der amerikanischen
Seite im Übrigen nicht erst während des Bundestagswahl-
kampfs, sondern bereits während meines ersten Besuchs
nach dem 11. September, nämlich am 19. September,
mitgeteilt habe. Ich bin nicht der Meinung und glaube
nicht daran – unter Partnern muss man das offen aus-
sprechen –, dass diese Prioritätensetzung mit Blick auf
das gemeinsam erkannte Bedrohungsszenario richtig ist.
Das ist der entscheidende Punkt.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Nein!)

– Doch, das ist die Kernfrage.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Mit einem UN-Mandat!)


– Reden Sie sich nicht mit den UN heraus, so wichtig das
auch ist. Aber wir müssen Acht geben, dass unsere gute


(A)



(B)



(C)



(D)


94


(A)



(B)



(C)



(D)






Absicht am Ende keine falschen Konsequenzen nach sich
zieht, die die Terrorismusgefahr vergrößern könnten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir haben es mit einer gefährlichen Region zu tun, bei
der ich mir, Herr Kollege Gerhardt, nicht sicher bin, ob die
Mehrheit im amerikanischen Kongress und die Mehr-
heit des amerikanischen Volkes wirklich bereit sind – die
USA haben die nötigen Mittel, dort einzugreifen –, dort
über Jahre oder vielleicht sogar Jahrzehnte auszuharren,
um nach einem Regimewechsel eine neue Nation aufzu-
bauen. Die Konsequenzen, die in dieser Region eintreten
würden, wenn die USA nicht dauerhaft vor Ort blieben,
möchte ich Ihnen nicht ausmalen. – Das sind unsere
Gründe. Darüber werden wir morgen zum wiederholten
Male mit unseren amerikanischen Partnern sprechen.

Unser Verständnis von Partnerschaft ist, dass man
dann, wenn es Differenzen gibt, diese unter frei gewähl-
ten, demokratischen Regierungen offen anspricht. Das hat
nichts mit einem Gang nach Canossa zu tun. Wir haben
ein anderes Verständnis von Bündnis.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die zweite große Herausforderung, vor der wir stehen,
ist Europa. Die Erweiterung wird konkret. Bei allem, was
man am letzten Gipfel im Einzelnen kritisieren mag,
bleibt es doch eine Tatsache, dass die Tür definitiv geöff-
net wurde. Das heißt, wir werden in Kopenhagen darüber
entscheiden, zehn neue Mitglieder aufzunehmen. Das ist
ein historischer Schritt, an dem nicht nur diese Bundesre-
gierung, sondern gerade auch die Vorgängerregierung ge-
arbeitet hat, insbesondere der heute dem Haus nicht mehr
angehörende damalige Bundeskanzler Helmut Kohl, den
ich deshalb, weil er sich hierbei bleibende Verdienste er-
worben hat, noch einmal erwähnen möchte. Wir vergeben
uns überhaupt nichts, wenn wir an diesen Kontinuitäten
festhalten.

Für mich aber ist entscheidend, dass damit ein histori-
scher Schritt zum Zusammenführen Europas stattfindet,
wie es ihn in der Neuzeit noch nicht gegeben hat. Wenn
der Gründungskonsens der war, ein Europa zu schaffen,
in dem Nationalismus keine Chance mehr hat, dann ist
dieser Schritt, der jetzt in Kopenhagen gemacht wird, ein
konsequenter Schritt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Dr. Angela Merkel [CDU/CSU])


Dies aber macht notwendig, dass wir die EU der 25 und
mehr neu gründen. Diese Neugründung findet im Verfas-
sungskonvent statt. Dieser Verfassungskonvent geht auf
eine Initiative dieser Bundesregierung zurück. Dazu kann
ich nur sagen: Der Vorschlag, den gestern Giscard als
Rahmen gemacht hat, ist ein Vorschlag, der wirklich alle
Diskussionen und eine vorurteilsfreie Prüfung verdient.
Seien wir doch ehrlich: Hätten wir vor zwei Jahren ge-
dacht, dass wir heute in der Europäischen Union nicht nur
am Vorabend der Erweiterung um zehn neue Mitglied-
staaten stehen, sondern gleichzeitig auch die erste Grob-
struktur einer europäischen Verfassung auf dem Tisch ha-

ben? – Keiner von Ihnen. Das meine ich gar nicht partei-
politisch, Frau Kollegin Merkel. Es wurde gefordert. Aber
wir haben es gemacht.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Sie haben den Konvent doch gar nicht gewollt!)


– Ich habe den Konvent nicht gewollt?

(Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Nein, den Konvent hat Ihnen das Parlament abgerungen!)


Sie meinen also, ich hätte den Konvent nicht gewollt. Ich
dachte, der Privatmann Fischer habe eine Rede an der
Humboldt-Universität gehalten, die zum Konvent geführt
habe.


(Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Später ja!)

Diese Initiative haben wir als Bundesregierung gemacht.
Ich streite mich gerne mit Ihnen, aber doch nicht über
Dinge, die selbstverständlich sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir brauchen diese Neugründung Europas. Ich möchte
nicht in die Details gehen. Aber für uns – der Bundes-
kanzler hat das heute in seiner Rede gesagt – ist ganz ent-
scheidend: Im institutionellen Dreieck müssen Kommis-
sion, Europäisches Parlament und Rat, wenn es zu
Fortentwicklungen kommt – und es muss zu Fortentwick-
lungen kommen –, gleichgewichtig sein. Was wir nicht
wollen, ist ein Rückfall in die Intergouvernementalisie-
rung. Das heißt für uns ganz klar: Wir wollen eine Stär-
kung der Kommission und eine Klärung der Verantwort-
lichkeiten zwischen nationaler und integrierter Ebene.
Auch wollen wir in diesem Rahmen eine Stärkung des Eu-
ropäischen Parlaments. Das ist für uns Grundlage unserer
Arbeit. Daran werden wir die anderen Vorschläge ent-
sprechend messen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Ganz entscheidend wird es aber darauf ankommen,
dass wir in diesem Bereich einen deutsch-französischen
Konsens erzielen. Wenn er erreicht wird – daran arbeiten
wir; das hat das letzte Zusammentreffen des Europäischen
Rates gezeigt –, dann wird diese europäische Zukunft in
der Tat gestaltet werden können, und zwar nicht unter
Ausschluss, sondern unter Einbeziehung der anderen Mit-
gliedstaaten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Meine Damen und Herren, lassen Sie mich aus aktuellem
Anlass eine Frage kurz im Zusammenhang mit Russland
und Tschetschenien ansprechen. Jeder, der meint, er habe
dafür eine einfache Antwort, irrt. Ich kann nur davor war-
nen, die territoriale Integrität der Russischen Föderation
infrage zu stellen. Ich meine zwar nicht, dass dies jemand
tut; aber wir haben es schließlich mit einer separatisti-
schen Bewegung zu tun.

Bundesminister Joseph Fischer




Bundesminister Joseph Fischer

Was ein weiteres Aufbrechen der Russischen Födera-
tion hinsichtlich der Entstehung von Gewalt und Instabi-
lität hieße, muss ich nicht weiter ausführen. Umgekehrt
aber entwickelt sich Russland hin zur Demokratie. Die
Menschen in Tschetschenien sind russische Bürgerinnen
und Bürger und haben Menschenrechte. Diese Men-
schenrechte müssen in einer Demokratie beachtet werden.
Das ist für mich der entscheidende Punkt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich warne jedoch vor den tschetschenischen Terroristen
– mir liegen entsprechende Informationen vor; ein Teil da-
von ist auch dem einen oder anderen Kollegen bekannt –,
die ebenfalls grausamste Menschenrechtsverletzungen be-
gehen. Wenn aber Russland ein demokratischer Rechtsstaat
ist, dann muss er die Grundlagen demokratischer Rechts-
staatlichkeit auch und gerade gegenüber unbescholtenen
Bürgerinnen und Bürgern, gegenüber den russischen
Staatsbürgern der Russischen Föderation in Tschetschenien
zum Tragen bringen. Deswegen befinden wir uns in der
schwierigen Situation, einerseits Russland als Partner zu
haben und diese Partnerschaft fortzuentwickeln, anderer-
seits aber der russischen Seite zu vermitteln, dass Demo-
kratien auch unter schwierigsten Bedingungen an die eige-
nen Grundregeln und Rechtsstaatsprinzipien gebunden
sind. Das macht unseren Umgang mit Tschetschenien bzw.
mit der russischen Politik in Tschetschenien aus.

Ich kann von dieser Stelle aus nur nochmals an die Ver-
antwortlichen in Russland appellieren, endlich eine poli-
tische Lösung herbeizuführen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Dr. Angela Merkel [CDU/CSU])


Wer die Geschichte des Kaukasus und Tschetscheniens
kennt, weiß, dass dort mit Gewalt letztendlich keine Lö-
sung herbeizuführen ist, sondern dass sie nur zu immer
weiteren Blutbädern führen würde. Deswegen ist eine po-
litische Lösung notwendig.

Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch eines
ansprechen. DieTürkei ist direkter Nachbar dieser Krisen-
region. Sie ist auch direkter Nachbar der Region, über die
ich vorhin gesprochen habe. Es ist abwegig zu meinen –
wer unsere Position kennt, weiß, dass es abwegig ist –, wir
würden als überzeugte Europäer aus Gefälligkeit – deswe-
gen spreche ich es an, Herr Kollege Schäuble; nehmen Sie
jedes Wort so, wie es es sage – zum jetzigen Zeitpunkt die
Tür öffnen.Wir haben die in Helsinki gefassten Beschlüsse
nicht aus Gefälligkeit gegenüber den USA gefasst. Wenn
ich in den USA bin – ich würde mich freuen, wenn andere
dies genauso tun würden –, führe ich das immer an, um es
den amerikanischen Gesprächspartnern zu verdeutlichen.

Im Übrigen ist auch an die Kosten zu denken. Gerade
der jüngst gefundene deutsch-französische Kompromiss
im Zusammenhang mit der Agrarpolitik zeigt, dass das al-
les nicht kostenneutral zu bekommen ist. Das mache ich
den amerikanischen Gesprächspartnern klar. Das ist sehr
wichtig.


(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Haben Sie das auch schon gemerkt?)


– Auf der einen Seite wird gesagt, der deutsch-französi-
sche Motor solle laufen – ich frage Sie, was es zum Bei-
spiel Helmut Kohl gekostet hat, diesen Motor immer am
Laufen zu halten –, und auf der anderen Seite fragen Sie
jetzt: „Haben Sie das auch schon gemerkt?“ – So ist das
mit der Opposition. Sie müssen sich aber entscheiden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Michael Glos [CDU/CSU]: Hören Sie jetzt auf damit! Sie führen sich auf da oben!)


Ich komme zu einem anderen Punkt. Hinsichtlich der
Türkei haben wir möglicherweise eine Kontroverse, nicht
aber in der Frage, ob wir eine Gefälligkeitsentscheidung
zugunsten der USA treffen. Wir haben keine Gefälligkeit
zu erbringen. Wir sind gute Partner in der Operation
Enduring Freedom im Kampf gegen den Terror. Wir sind
uns einig in der Umsetzung der einschlägigen Resolutio-
nen des Sicherheitsrats im Zusammenhang mit dem Irak.
Wir sind uns nicht einig in der Bewertung einer Militärak-
tion. In dieser Frage sind wir unterschiedlicher Meinung
und wir werden uns an einer Militäraktion nicht beteiligen.

Aber die EU-Mitgliedschaft der Türkei ist eine völlig
andere Frage. Ich frage die Union umgekehrt: Sie wissen
so gut wie ich, Herr Schäuble, dass Sie, wenn Sie der Tür-
kei die Tür zur Mitgliedschaft verschließen, damit für die
zivilen Kräfte in der Türkei und für die Modernisierer seit
Kemal Atatürk die Tür schließen; denn Modernisierung in
der Türkei bedeutet Orientierung an Europa. Wir wissen,
dass die Türkei ein schwieriger Partner ist und dass sie
heute die Kopenhagener Kriterien noch nicht erfüllt. Ich
bin mir auch nicht sicher, ob die Türkei dann, wenn sie ei-
nes Tages diese Kriterien erfüllt, bereit sein wird, den
Souveränitätsverzicht zu leisten, den eine Vollmitglied-
schaft in der Europäischen Union bedeutet und der not-
wendig ist, um in der Europäischen Union voll integriert
zu sein. Aber in einem bin ich mir sicher: Wenn wir das,
was Sie wollen, machen würden, dann würden sich die
Nationalisten und die Islamisten in der Türkei die Hände
reiben. Das wäre das Ende der Modernisierung. Darin
bin ich mir sicher. Das und nichts anderes macht unsere
Position und die des Bundeskanzlers aus.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist nicht wahr!)


Ich bestreite überhaupt nicht – niemand tut das –, dass
es sich bei der Türkei um einen schwierigen Partner han-
delt. Aber die Schwierigkeiten mit der Türkei wird man
nicht durch Wegsehen oder durch einfache Antworten be-
seitigen können. Denn wenn meine Analyse der strategi-
schen Bedrohung Europas und damit auch unseres Landes
durch den islamistischen Terrorismus richtig ist, dann
stellt sich die Frage: Gelingt eine laizistische, also weltli-
che, Modernisierung der Türkei, eines der größten islami-
schen Länder, auf demokratischer und rechtsstaatlicher
Grundlage? Diese Frage ist wichtiger als viele Diskussio-
nen, die wir gegenwärtig im Zusammenhang mit militäri-
schen Optionen bezüglich eines anderen Landes führen;
denn wenn es gelänge, die Türkei zu modernisieren, dann
hieße das, eine Antwort auf die Frage nach der strategi-
schen Sicherheit der gesamten Region zu geben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



(A)



(B)



(C)



(D)


96


(A)



(B)



(C)



(D)






Für diese Politik steht die jetzige Bundesregierung in der
Außen- und Sicherheitspolitik.

Ich kann Ihnen nur versichern: Gründend auf den Kon-
tinuitäten, die wir vorgefunden haben, werden wir uns den
neuen Herausforderungen stellen und dafür sorgen, dass
Deutschland seinen Beitrag in einem zusammenwachsen-
den Europa, aber auch in einem sich verändernden, ge-
stärkten atlantischen Bündnis leisten wird.

Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1500402700

Nächster Redner ist Dr. Wolfgang Schäuble, CDU/

CSU-Fraktion.


Dr. Wolfgang Schäuble (CDU):
Rede ID: ID1500402800

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Herr Bundesaußenminister, Sie sind geübt, wenn es da-
rum geht, von den eigentlichen Problemen abzulenken.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Und sonst haben Sie keine Antwort?)


– Darauf komme ich noch zu sprechen. Lassen Sie mich
wenigstens zwei Sätze im Zusammenhang sagen, bevor
Sie dazwischenrufen.

Das eigentliche Problem ist doch nicht, dass man nicht
darüber reden kann, welches die angemessene Antwort
auf die terroristische Bedrohung ist, dass man mit den
Vereinigten Staaten von Amerika nicht darüber reden
kann, welches die richtige Politik ist, und dass es unter-
schiedliche Meinungen gibt. Sie entwerfen ja ein Zerrbild
von den Vereinigten Staaten von Amerika. Das eigentliche
Problem der letzten Monate ist doch vielmehr Folgendes
gewesen – ich lese Ihnen einmal vor, was Kleine-
Brockhoff und Thumann in der Ausgabe der „Zeit“, die in
der Woche nach der Bundestagswahl erschienen ist, unter
der Überschrift „Das Gift der Gerd-Show“ geschrieben ha-
ben; die Autoren sind auch sicherlich keine Kettenhunde –:

Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepu-
blik hat eine große Volkspartei Wahlkampf mit ker-
nig antiamerikanischen Parolen geführt. Zum ersten
Mal seit 1945 hat ein Bundeskanzler amerikanische
Politiker angegriffen und dafür auf den Marktplätzen
tosenden Beifall erhalten. Zum ersten Mal hat eine
deutsche Ministerin den amerikanischen Präsidenten
– wie verklausuliert auch immer – mit Adolf Hitler
verglichen.

Das ist das Problem gewesen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Es geht auch nicht um die Frage, ob der Irak die rich-
tige Priorität ist. Darüber kann man diskutieren. Das Pro-
blem ist vielmehr, dass wir, wenn wir den Gefahren des
21. Jahrhunderts, denen wir durch neue Formen der Be-
drohung ausgesetzt sind – asymmetrische Kriegs-
führung und Terrorismus klingen in meinen Ohren wie
eine halbe Privatveranstaltung; die asymmetrische

Kriegsführung ist angesichts der Tatsache, dass sich alles
miteinander vermischt, viel komplizierter geworden –,
begegnen wollen, unsere Bemühungen um die interna-
tionale Solidarität, und zwar sowohl um die atlantische
als auch um die europäische, verstärken müssen. Darauf
sind wir auf Gedeih und Verderb angewiesen. Deswegen
geht es nicht um Meinungsfreiheit – die braucht man
gegenüber den Amerikanern nicht zu verteidigen –, son-
dern um europäische Geschlossenheit, atlantische Soli-
darität und die Handlungsfähigkeit der Vereinten Natio-
nen. Diese haben Sie schwer geschädigt und das war der
Fehler.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Daran können Sie nicht vorbeireden.

In vielem sind wir ja gar nicht unterschiedlicher Mei-
nung. Über die Einzelheiten wird man in den kommen-
den Jahren weiter diskutieren. In den Diskussionen wird
es darum gehen, wie wir ein großes und starkes, ein
handlungsfähiges, ein effizienteres Europa zustande
bringen, wie wir die Rolle Europas in globaler Verant-
wortung, in atlantischer Partnerschaft stärken, sodass
europäisches Engagement keine Alternative zu atlanti-
scher Solidarität ist, weil wir die atlantische Partner-
schaft nur wirkungskräftig erhalten werden, wenn das
Ungleichgewicht zwischen dem amerikanischen Teil
und dem europäischen Teil nicht immer größer wird,
wenn die Europäer einen stärkeren Beitrag leisten, mehr
mit einer Stimme sprechen, mehr Fähigkeiten haben.
Das alles ist richtig. Aber in den letzten Monaten haben
Sie Europa in der entscheidenden Frage handlungsun-
fähig gemacht, indem Sie Europa durch Ihren Allein-
gang blockiert haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es geht nicht um unterschiedliche Meinungen. Die Christ-
lich-Demokratische Union, CDU und CSU haben in die-
sem Wahlkampf vom ersten Tag an gesagt: Wir treten
dafür ein – das ist nicht die Position aller Amerikaner –,
dass wir nur auf der Grundlage von Beschlüssen der Ver-
einten Nationen und nur im Rahmen von Beschlüssen der
Vereinten Nationen handeln. Aber Sie haben gesagt: Was
immer auch die Vereinten Nationen beschließen, wir je-
denfalls werden uns nicht beteiligen.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Da liegt der Kern!)


Das war der Alleingang, die Isolierung Deutschlands, und
das war ein Fehler.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dafür zahlen wir einen erheblichen Preis.

Zunächst einmal haben Sie im Wahlkampf natürlich
Ihre eigenen Anhänger getäuscht. Wir werden das noch
sehen, Fortsetzung folgt in diesem Theater. Das Mandat
Enduring Freedom wird zum 15. November verlängert
werden müssen. Dann wird Ihr Verharmlosungsmanöver,
für das es sehr gute Gründe gibt, aber man muss es so nen-
nen, deutlich werden. Es täuscht die Menschen in unse-
rem Lande über den Ernst der Lage. Wenn Sie von Af-
ghanistan reden, sprechen Sie immer nur von dem
Beitrag, den die Bundeswehr aufgrund der Beschlüsse,

Bundesminister Joseph Fischer




Dr. Wolfgang Schäuble
die auf dem Petersberg gefasst wurden, leistet. Sie reden
überhaupt nicht über den Beitrag, den die Soldaten der
Bundeswehr – KSK heißt die Einheit – im Rahmen des
Mandats von Enduring Freedom leisten. Sie tun so, als
wären Sicherheitspolitik und Kampf gegen den Terroris-
mus nur eine Art von Friedensarbeit und polizeilicher
Tätigkeit. Nein, es ist ein hochgefährlicher Beitrag, den
die Soldaten der Bundeswehr leisten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das muss ausgesprochen werden, sonst wird der Dank un-
ehrlich. Wir unterstützen den Dank und haben großen
Respekt, aber wir sind dagegen, die Bevölkerung über die
wirkliche Bedrohung und die wirklichen Gefahren zu täu-
schen.


(Joseph Fischer, Bundesminister: Wer macht denn das?)


Mit dem, was Sie zum Problem Tschetschenien gesagt
haben, stimmen wir weitgehend überein. Das ist ja über-
haupt in vielem so, Herr Bundesaußenminister. Sie haben
die lange Linie der Kontinuität deutscher Außen- und Si-
cherheitspolitik erwähnt, die von Konrad Adenauer bis
Helmut Kohl gut gewesen ist. Wir haben Sie in der ver-
gangenen Legislaturperiode in den Grundfragen von
Außen- und Sicherheitspolitik mehr unterstützt als die
Regierungsparteien. Sie konnten sich auf die Opposition
eher verlassen als auf Ihre eigenen Reihen. Das ist doch
die Wahrheit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Aber Sie haben diese Gemeinsamkeit im Wahlkampf ein-
seitig verraten. Auch das ist die Wahrheit. Wenn Sie zu
dieser Gemeinsamkeit zurückkehren, werden wir unsere
Verantwortung weiterhin wahrnehmen. Aber es bleibt da-
bei, dass Sie aus reinen Wahlkampfinteressen die Grund-
linien, die Verantwortung, die Kontinuität deutscher
Außen- und Sicherheitspolitik in diesem Wahlkampf ver-
raten haben. Dafür zahlen wir einen hohen Preis.

Zum Thema Tschetschenien gehört für mich schon,
dass man sagt: Es braucht politische Lösungen und Russ-
land muss auf dem Weg zum Westen und zur Demokratie
diese Anforderungen für sich gelten lassen. Man muss
übrigens hinzufügen: Solch schreckliche Erfahrungen wie
die der letzten Tage machen uns im Westen gelegentlich
ein bisschen weniger selbstsicher. Wir müssen vielleicht
erkennen, dass wir Fragen, die wir bei Problemen an an-
dere stellen, gelegentlich mit den Augen anderer sehen
und auch für uns gelten lassen müssen. Wir brauchen also
in jedem Fall politische Lösungen und repressive Maß-
nahmen zugleich.

Das andere muss aber auch klar sein: Was immer die
politischen Konflikte auf dieser Welt sein mögen, es geht
nicht an, dass unschuldige unbeteiligte Menschen, ob im
World Trade Center in New York oder im Theater in Mos-
kau, von irgendwelchen Irregeleiteten getötet oder als
Geiseln genommen werden. Die Welt muss zusammen-
stehen, um so etwas zu unterbinden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Da darf es keine Alleingänge geben; denn damit
schwächen wir die internationale Gemeinschaft, die Ge-
meinschaft der zivilisierten Welt. Da lag Ihr Fehler.


(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Wo denn?)

– Sie schwächen die Vereinten Nationen, wenn Sie sagen:
Was immer auch der Sicherheitsrat der Vereinten Natio-
nen beschließt – wir machen jedenfalls nicht mit. Der
deutsche Weg, von dem der Außenminister jetzt nach der
Wahl sagt „Vergessen Sie es!“ – vor der Wahl hat der Bun-
deskanzler den deutschen Weg gepredigt –, ist nichts an-
deres als das Wiederaufleben des alten „Ohne mich“-
Standpunkts aus der Frühzeit der Bundesrepublik
Deutschland.


(Uta Zapf [SPD]: Wenn man das für falsch hält, ist es auch vernünftig, „ohne mich“ zu sagen!)


Sie haben gefährliche Ressentiments angesprochen, Herr
Bundeskanzler. Sie werden dafür einen hohen Preis be-
zahlen. Die Geister, die man ruft, wird man oft nicht wie-
der los. Das ist nicht nur beim „Zauberlehrling“ so.


(Zuruf von der SPD)

– Wir werden sehen. Der Herr stellvertretende Fraktions-
vorsitzende Ströbele hat in der vergangenen Woche schon
in einer bemerkenswerten Weise zwischen den einzelnen
Bundeswehreinsätzen unterschieden. All das wird uns be-
gleiten.

Ich will Ihnen zu dem Thema Türkei Folgendes sagen:
Wir haben schon den Verdacht, dass die Veränderung der
Position, was die Mitgliedschaft der Türkei anbetrifft
– das klang in den Äußerungen des Bundeskanzlers vor
der Wahl ganz anders als in der letzten Woche –, ein Teil
des Preises ist, den man bezahlen muss. Ich will Ihnen
deshalb sagen, was unsere Meinung in Sachen Türkei war
und noch immer ist.

Wir haben ein großes Interesse daran, dass die Türkei
untrennbarer Bestandteil des Westens bleibt.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist klar!)


– Natürlich, Frau Roth; da ist überhaupt kein Unterschied;
ich stelle gerade unsere Position dar. Dass die Türkei in ei-
ner möglichst engen Beziehung zu Europa bleiben soll, ist
völlig unstreitig.

Unsere Vorstellung von dem, was die Europäische
Union ist und noch werden soll, ist die einer handlungs-
fähigen politischen Einheit auf der Grundlage gemeinsa-
mer Identität; denn freiheitliche Organisation bekommt
man nicht ohne eine hinreichende Grundlage an Identität,
Zusammengehörigkeit und gemeinsamen Werten. Unsere
Vorstellung von der Europäischen Union – dazu gibt es
unterschiedliche Meinungen in Deutschland und auch un-
ter unseren Partnern in Europa – ist die einer politischen
Identität der Europäischen Union.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Meine auch!)


Das heißt dann aber auch, dass man genauer prüfen
muss, ob diese Europäische Union nicht auch Grenzen
braucht, ob man für solche Länder, die zum Teil zu Europa


(A)



(B)



(C)



(D)


98


(A)



(B)



(C)



(D)






gehören, zum Teil aber eben auch nicht – Russland ist ein
solches Land; Sie haben mich ausgelacht, als ich vor ein
paar Jahren die Parallele gezogen habe; heute lacht nie-
mand mehr –, in deren Interesse – auch die Türkei braucht
ihre eigene Identität für ihre Stabilität und ihre Zukunfts-
chancen – nicht besser eigene Formen der Zugehörigkeit
zu Europa vereinbart. – Das ist unsere Position. Das ist
nicht Türzuschlagen, sondern das ist der bessere Weg.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Die Europäische Union und auch schon die Europä-
ischen Gemeinschaften haben, wenn ich es richtig weiß,
der Türkei seit 1964, also seit 38 Jahren – das waren nicht
immer Sie, Herr Bundeskanzler Schröder, und Ihre Re-
gierung; es waren auch schon andere –, die Perspektive
einer vollen Mitgliedschaft in der Europäischen Union
angeboten.


(Zuruf von der SPD: Ludwig Erhard!)

– Ja, 1964. So lang ist das her. – Deswegen sage ich: Die
Lösung, von der ich rede, können wir nicht der Türkei
oktroyieren. Wir sollten offen und ehrlich und im Hin-
blick auf das gemeinsame Ziel mit der Türkei darüber
sprechen, ob das nicht im gemeinsamen Interesse der bes-
sere Weg ist. Das ist ehrlicher, als eine Debatte zu führen,
bei der es im Grunde nur nach dem Motto geht: Jetzt ist
die Bundesregierung dafür – in der Hoffnung, dass in Ko-
penhagen genügend andere dagegen sein werden, damit
nichts vorankommt. Die Türkei hat doch längst begriffen,
dass ihr immer die Wurst hingehalten und dann wieder
weggezogen wird. So darf man mit der Türkei nicht um-
gehen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Herr Bundeskanzler, ich glaube im Übrigen, dass über
Ihre Regierungserklärung schon deswegen wenig zu sa-
gen ist, weil sie wenig enthalten hat. Ich habe mir immer
wieder die Frage gestellt: Was machen Sie aus diesem
nichts sagenden Koalitionsvertrag in Ihrer heutigen
Regierungserklärung? Sie sind mit Ihrer Regierungser-
klärung wirklich noch unter dem Niveau des Koalitions-
vertrages geblieben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Es war wirklich nichtssagend.
Was überhaupt gefehlt hat – ich glaube, das wird wich-

tiger werden –, war, den Menschen in unserem Lande zu
erklären, wie wichtig es ist, dass wir außenpolitische Ver-
antwortung, außenpolitische Interessen, sicherheitspoliti-
sche Interessen und Risiken ernst nehmen. Wenn wir den
Menschen einreden: „Wir haben so viele Probleme, dass
wir uns nicht auch noch um andere kümmern können;
denn wir haben mit uns selbst schon genug zu tun“, dann
werden wir die Reformkräfte in unserer Gesellschaft nicht
stärken. Ein Volk, das zu Introvertiertheit neigt, weil es
glaubt, es habe so viele eigene Sorgen, dass es sich nicht
auch noch um die der anderen kümmern könne, und weil
es glaubt, dass die Bedrohung nicht so groß werde, wenn
es sich in der Nische verstecke, wird eher Besitzstände

verteidigen. Wir müssen aber mehr Besitzstände auf den
Prüfstand stellen.

Ich hätte mir deshalb in Ihrer Regierungserklärung eine
realistische Bedrohungsanalyse gewünscht. Ich hätte mir
gewünscht, dass Sie darstellen, worin deutsche Interessen
und deutsche Verantwortung eigentlich bestehen und was
im Zusammenwirken zwischen Außenpolitik, Entwick-
lungspolitik und Sicherheitspolitik notwendig ist, damit
wir, unsere Kinder und unsere Enkel in sicherem Frieden
leben können. Der jetzige Friede ist nämlich bedroht; der
Terrorismus bedroht auch uns. Wir leisten nicht nur Soli-
darität mit den Amerikanern – darauf weisen Sie zur Be-
gründung von Enduring Freedom gelegentlich hin –, son-
dern wir nehmen auch unsere eigenen Interessen, unsere
eigene Verantwortung wahr. Das muss gesagt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Sie werden ganz schnell erkennen, dass die Art, wie Sie
mit der Bundeswehr umgehen, völlig unverantwortlich
ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Auch das will ich Ihnen schon an dieser Stelle sagen. Ver-
ehrter Herr Struck, als Sie Verteidigungsminister wurden,
haben Sie erst einmal nur Wahlkampf gemacht. Ihre Ver-
antwortung als Verteidigungsminister haben Sie erst nach
der Wahl entdeckt. Sie werden die Probleme der Bundes-
wehr noch nicht einmal im Ansatz lösen können, wenn
Sie den Weg fortsetzen, der Bundeswehr immer mehr
Aufgaben aufzubürden, auch wenn Sie mittlerweile den
Weizsäcker-Bericht, in dem von einer realistischen Be-
drohungsanalyse die Rede war, entdeckt haben, was Sie
zumindest verbal zum Ausdruck bringen.

Ein Preis, den wir für Ihre antiamerikanischen Entglei-
sungen zahlen müssen, ist, dass Sie das deutsche Engage-
ment in der afghanischen Hauptstadt, in Kabul, durch
Übernahme der Führung der internationalen Schutztruppe
stärken wollen. Das würde uns noch teurer zu stehen kom-
men. Es stellt sich übrigens die Frage, worin, was die Si-
cherheit anbetrifft, die höchste Priorität besteht.

Sie haben kein Wort zum NATO-Gipfel in Prag ge-
sagt. Was ist eigentlich mit dem amerikanischen Vor-
schlag im Hinblick auf eine schnelle Eingreiftruppe? Wol-
len Sie Deutschland – Frau Merkel hat Sie das gefragt –
auch auf dem NATO-Gipfel in die Isolierung führen? Was
ist eigentlich mit der Umsetzung des richtigen Beschlus-
ses von Helsinki? Ich denke an die europäische Sicher-
heitskomponente und die 60 000 Mann. Für nichts ist die
finanzielle Grundlage da.


(Joseph Fischer, Bundesminister: Ist doch nicht wahr!)


Jetzt wird der Bundeswehr die halbe Milliarde Euro schon
wieder entzogen, die ihr aufgrund der Steuererhöhungen,
die Sie nach dem 11. September 2001 beschlossen haben,
zukommen sollten. So wird die Bundeswehr ihre Aufga-
ben nicht erfüllen können. So werden wir unserer Verant-
wortung gegenüber den Soldaten und gegenüber der Zu-
kunft zu wenig gerecht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Wolfgang Schäuble




Dr. Wolfgang Schäuble

Sie haben von den Leitlinien der deutschen Außen-
politik gesprochen. Wir haben diese Leitlinien in den Jah-
ren, in denen wir in der Opposition waren, mitgetragen.
Wir werden das auch weiterhin tun. Diese Regierung hat
im Zweifel ohne jede Verantwortung und gewissenlos die
Interessen der Bundesrepublik Deutschland den Wahl-
kampfgesichtspunkten untergeordnet.


(Zuruf von der SPD)

– So war der Wahlkampf. Ich könnte Ihnen stundenlang
entsprechende Zitate vorlesen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir werden die Alternative zu einer solchen Regierung

sein, eine Alternative der Verlässlichkeit und der Bere-
chenbarkeit. Wir haben in der Endphase der Regierung
Schmidt gegen die Linke atlantisches Engagement und
Solidarität vertreten. Die Menschen in unserem Lande
und unsere Partner in der Welt können sich darauf verlas-
sen, dass die CDU auch in der Endphase der Regierung
Schröder die Alternative bleiben wird, die für Verlässlich-
keit und Berechenbarkeit steht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1500402900

Das Wort hat der Kollege Gernot Erler, SPD-Fraktion.


Dr. h.c. Gernot Erler (SPD):
Rede ID: ID1500403000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In-

ternationale Politik ist nicht mehr etwas Fernes, von der
Innenpolitik Abgetrenntes. Internationale Politik hat Aus-
wirkungen auf unser Alltagsleben, sie dringt regelrecht in
unsere Lebenswelt ein. Das haben wir mehr als bisher
nach dem 11. September, bei den Vorgängen auf Djerba,
in Bali und jetzt bei der Tragödie in Moskau erfahren.
Dies hat uns gelehrt: Globalisierung spielt sich nicht nur
auf den Finanzmärkten und in der Ökonomie ab; Globali-
sierung heißt auch: Kein Konflikt auf dieser Welt ist mehr
so fern, dass er uns unberührt lässt. Jeder Konflikt kommt
in irgendeiner Weise bei uns an, kann unsere Sicherheit
beeinträchtigen, kann uns sogar zu einem anderen Leben
zwingen. Die Trennung von Innen- und Außenwelt wird
tendenziell gegenstandslos. Sie hebt sich von allein auf.

In den nächsten vier Jahren wird viel davon abhängen,
ob wir in unserem Denken und Handeln mit dieser Ent-
wicklung Schritt halten. Herr Kollege Schäuble, es tut mir
Leid, dies sagen zu müssen: Mit dem Auskippen eines
Zettelkastens, in dem nur die Schablonen des Wahlkampfs
enthalten sind, werden Sie diesem Anspruch von Politik
wirklich nicht gerecht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir, die SPD-Bundestagsfraktion und die Koalition,
werden uns der Aufgabe stellen, die Innovationsforderung
über die Gesellschaftspolitik hinaus auch für die interna-
tionale Politik zu stellen, und zeigen, dass wir dieser He-
rausforderung gerecht werden. Hier fangen wir nicht bei
Null an. In den letzten Jahren hat es in Europa bereits

wichtige Lernprozesse gegeben. So wissen wir, dass Eu-
ropa in der Praxis eine Gemeinsame Außen- und Sicher-
heitspolitik braucht und auch Instrumente, sowohl zivile
als auch militärische, um diese Politik umzusetzen.

Mit Trauer und Zorn blicken wir darauf zurück, dass
Europa nicht imstande war, in den der 90er-Jahren vier
blutige Kriege auf europäischem Boden zu verhindern.
Aber Europa hat die Kraft zu einer umfassenden Integra-
tionsstrategie entwickelt: mit dem Instrument des Stabi-
litätspakts für Südosteuropa und mit der Stabilisierungs-
und Assoziierungsstrategie gegenüber den Ländern, die
bisher nicht an dem europäischen Integrationsprozess
teilgenommen haben. Im Fall Mazedoniens gelang
schließlich erstmals die Verhinderung einer weiteren blu-
tigen Katastrophe in unserer Nachbarschaft. Das war der
Erfolg einer Präventionspolitik, die primär auf Diplo-
matie, auf Verhandlungen, aber ohne Ausschluss einer Si-
cherheitskomponente, setzte. Wir haben in der letzten
Woche darüber gesprochen.

Herr Kollege Schäuble, wenn ich Sie noch einmal an-
sprechen darf: Ich habe, ehrlich gesagt, nicht begriffen,
warum letzte Woche vier Kollegen aus Ihren Reihen mit
Nein gestimmt und sich sechs der Stimme enthalten ha-
ben, als es darum ging, diese wichtige und erfolgreiche
Mission fortzusetzen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Mitten in den Erfolg einer regionalen Prävention, wie

sie in Mazedonien stattgefunden hat, platzte dann der
11. September 2001. Dies war ein Schock nicht nur we-
gen der Zahl der Opfer, sondern auch, weil die bisherigen
Antworten für diese Herausforderung neuer Dimensionen
offensichtlich ungeeignet waren. So waren die 13 Monate
nach dem 11. September ein neuer, schwieriger Lernpro-
zess für uns alle. Ich behaupte, dass sich bei der Beant-
wortung der Herausforderungen der Nach-September-
Welt allmählich so etwas wie ein europäisches Modell
für eine neue internationale Politik herausstellt, durch-
aus in Parallele zu jenem europäischen Gesellschaftsmo-
dell, von dem heute Vormittag der Bundeskanzler gespro-
chen hat.

Das Nachdenken über ein solches europäisches Modell
ermöglicht uns auch eine bessere Einordnung bestimmter
aktueller Dissenspunkte in der internationalen Politik. Ich
bin sicher, hinter dem internationalen Ringen darüber, ob
es richtig ist, jetzt mit militärischen Mitteln das Regime
Saddam Hussein zu beseitigen, steckt mehr als eine un-
terschiedliche Bewertung in einer Einzelfrage. Hier geht
es letztlich um die Grundausrichtung der internationalen
Politik in der Nach-September-Welt. Dabei gibt es viele
transatlantische Gemeinsamkeiten – ich begrüße das –,
aber eben auch einige besondere europäische Ansätze, für
die wir werben und die es in unseren Augen wert sind, dis-
kutiert zu werden. Ich sehe in diesem Zusammenhang
fünf wichtige Komponenten des europäischen Modells:

Als Erstes ist die Notwendigkeit der weiteren unmittel-
barenVerfolgung derMitglieder von Terrornetzwerken
zu nennen. Es hat hier ja Erfolge gegeben, auch militäri-
sche. Wir müssen aber feststellen: Die Netzwerke sind im-
mer noch handlungsfähig. Wichtige Führer wie Bin Laden
und Mullah Omar sind immer noch nicht gefasst. Deswe-


(A)



(B)



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(D)


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(A)



(B)



(C)



(D)






gen haben im europäischen Modell die Aufrechterhaltung
und Stärkung der großen politischen Koalition gegen den
Terrorismus höchste Priorität. Diese ist, Herr Schäuble,
eben nicht nur eine transatlantische Veranstaltung, son-
dern bezieht ihre Wirksamkeit gerade daraus, dass die
große Mehrheit der arabischen und moslemisch geprägten
Staaten daran teilnimmt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist notwendig, die Arbeitsfähigkeit dieser großen Koa-
lition zu erhalten. Weiterhin brauchen wir die Zusam-
menarbeit der Polizei und der Dienste und auch militäri-
sche Zusammenarbeit. Jede Gefährdung dieser Koalition,
egal wodurch, gefährdet auch den Erfolg im Kampf gegen
den internationalen Terrorismus.

Die zweite Komponente, die ich hier nennen möchte,
kann man mit dem Stichwort „Testfall Afghanistan“
beschreiben. Afghanistan ist ein exemplarischer Fall.
Afghanistan entscheidet darüber, ob wir bei den Menschen
Vertrauen gewinnen, die gegen Taliban und al-Qaida auf-
gestanden sind.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das deutsche Engagement in Form von humanitärer
Hilfe, beim Post-Taliban-Prozess in Form der Petersberg-
Konferenz und jetzt vor Ort beim Wiederaufbau, beim
Bau von Schulen, bei der Schaffung von Voraussetzungen
für Gleichberechtigung, beim Bau einer Polizeiakademie
und bei der dort schon angelaufenen Ausbildung von Po-
lizisten, das finanzielle und militärische Engagement bei
ISAF – all das machen wir nicht planlos, sondern dahin-
ter steckt die Überzeugung, dass wir diesen Testfall ge-
winnen müssen. Dahinter steht die Einsicht, dass das rich-
tig ist, was uns an dieser Stelle hier Kofi Annan, der
Generalsekretär der Vereinten Nationen, über nachhaltige
Friedensstrategien, über „sustainable peace“, gesagt hat.
Afghanistan ist der Testfall. Deswegen hat es aus unserer
Sicht oberste Priorität, diese Mission zum Erfolg zu
führen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die dritte Komponente besteht in der neuen Einsicht,
welche Bedeutung regionalen Konflikten zukommt.
Joschka Fischer hat hier schon über den Nahen Osten ge-
sprochen. Bin Laden hat sich ja immer auf die Demütigung
der Palästinenser bezogen, wenn er irgendeine Legi-
timation für sein Handeln anführen wollte. Der Kaschmir-
Konflikt ist erwähnt worden. Man könnte hinzufügen, dass
uns in den letzten Tagen noch einmal in Erinnerung ge-
bracht und deutlich gemacht worden ist, welche Gefahren
von dem ungelösten Tschetschenien-Konflikt ausgehen.
Aber all diese Konflikte sind doch nicht nur auf terroristi-
sche Gewalt zurückzuführen, sondern aus ihnen gehen
auch zu allem bereite terroristische Potenziale hervor.
Deshalb muss es oberste Priorität in der internationalen
Politik sein, diese regionalen Konflikte zu analysieren und
zu lösen. Es dürfen nicht neue Schauplätze eröffnet wer-
den, sondern dort muss mit dem Kampf gegen den Terro-
rismus angefangen werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die vierte Komponente des europäischen Modells
stellt die Einsicht dar, welche bedeutende Rolle der
regionalen Stabilität zukommt. In Amerika sind For-
scher zu der Erkenntnis gekommen, dass „failing states“,
„failed states“ und No-go-Areas – das heißt, das Ver-
schwinden von staatlicher Autorität auf großen Teilen un-
seres Globusses – die Privatisierung von Gewaltanwen-
dung und Rechtlosigkeit zur Folge haben und im Grunde
genommen die Voraussetzung für die Entwicklung von
Terrorismus darstellen. Deswegen ist ein solches Ver-
schwinden von staatlicher Kontrolle schon aus sicher-
heitspolitischen Gründen nicht hinnehmbar. Die Antwort
muss doch sein, dass wir uns mehr bei der Etablierung von
Stabilitätsregimen engagieren. Wir haben unsere Erfah-
rungen damit auf dem Balkan gemacht; ich habe den Sta-
bilitätspakt schon angesprochen. Das Gleiche ist notwen-
dig in der Region Afghanistan, in der Region Kaukasus,
in Zentralasien und ganz besonders in Afrika. Wir haben
doch nicht vergessen, was 1993 in Somalia passiert ist.
„Restore Hope“ hieß die Mission dort. Dann, ganz plötz-
lich, nach einigen Verlusten, zog sich nicht nur Amerika,
sondern die ganze westliche Welt zurück. Heute ist das
genau eine solche Region eines „failing state“ und wir
wissen ganz genau, dass dort die gefährlichsten Entwick-
lungen ablaufen. Deswegen wird ja auch darüber disku-
tiert, dort militärisch zu intervenieren. Das zeigt, welche
Bedeutung regionale Stabilitätsregime im Kampf gegen
den Terrorismus haben.

Schließlich die fünfte Komponente: Kampf um eine
gerechtere Weltordnung. Dort wo die Verteilung von
Lebenschancen und materiellen Gütern zu Verbitterung,
Demütigung und Marginalisierung führt, entstehen Bio-
tope für Extremismus und Terrorismus. In der langen Li-
nie bekommen Entwicklungspolitik und Entwicklungszu-
sammenarbeit dadurch eine ganz andere Bedeutung. Sie
werden zu einem zentralen Instrument der internationalen
Sicherheitspolitik. Das ist die Bedeutung auch der Festle-
gung in unserem Regierungsprogramm auf die Fortset-
zung der Antiarmutspolitik, der Entschuldungspolitik, der
Politik gegen Seuchen, besonders der Ausbreitung von
Aids in Afrika, und der Festlegung auf das Ziel von
0,33 Prozent bis zum Jahre 2006, die der Bundeskanzler
heute noch einmal bestätigt hat. Das wird die SPD-Bun-
destagsfraktion wegen des genannten Zusammenhangs
sehr aufmerksam und sehr engagiert begleiten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das ist übrigens auch immer mehr europäische Politik
und ein wesentliches Element dieses europäischen Mo-
dells.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese fünf Kompo-
nenten weisen in der Tat einen Weg über vier Jahre hinaus,
einen Weg, der uns von der regionalen Prävention zu der
Notwendigkeit des Aufbaus einer globalen, strukturellen
Prävention führen wird, und zwar im Sinne einer Ge-
samtstrategie in der Nach-September-Welt. Das ist ein
großer Anspruch, ein großes Ziel. Man kann auch sagen:
Das ist eine Vision. Aber am Anfang eines neuen vier-
jährigen Auftrags ist wohl auch die Gelegenheit, einmal
über so etwas zu reden. Wann denn eigentlich sonst? Über
dieses Politikmodell, über diese Gesamtstrategie wollen

Gernot Erler




Gernot Erler
wir auch mit denen reden, die andere Modelle, andere Vi-
sionen haben.

Transatlantische Partnerschaft kann nicht heißen, dass
der Schwächere irgendwann doch dem Stärkeren nach-
gibt, ohne überzeugt zu sein. Transatlantische Partner-
schaft kann nicht heißen, dass alle schon aufatmen, wenn
erwachsene Menschen mit anderen erwachsenen Men-
schen erwachsen umgehen, indem sie sich, wenn sie sich
begegnen, wieder die Hand geben. Transatlantische Part-
nerschaft, wenn sie den Anspruch auf Verantwortungs-
partnerschaft überzeugend vorbringen will, heißt, dass
wir über unterschiedliche Politikmodelle, unterschiedli-
che Vorstellungen von einer stabilen und Sicherheit pro-
duzierenden Weltordnung ernsthaft diskutieren vor dem
Hintergrund beiderseitig pluralistischer Gesellschaften
– das gilt zum Glück für Amerika wie auch für Europa –,
und zwar mit dem Ziel, das, was Konsens ist, auszuwei-
ten und zur Grundlage gemeinsamen Handelns zu ma-
chen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1500403100

Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege

Dr. Wolfgang Gerhardt, FDP-Fraktion.


Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP):
Rede ID: ID1500403200

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Meine

Fraktion und auch ich selbst diskutieren gerne über um-
fassende Sicherheitsbegriffe und über die Traditionslinien
deutscher Außenpolitik. Wir teilen auch die Auffassung in
Bezug auf die detaillierte Schilderung der Elemente des
Kaschmir-Konflikts, die der Außenminister hier genannt
hat. Ich habe ferner Teilen der Rede des Kollegen Erler
mit Vergnügen zugehört. Allerdings frage ich mich, wieso
bei dieser Einschätzung und angesichts der Kompliziert-
heit der internationalen Lage sowie der Notwendigkeit,
die Situation umfassend zu beurteilen, ausgerechnet der
deutsche Bundeskanzler im Wahlkampf vom „deutschen
Weg“ gesprochen hat. Das ist unbegreiflich.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Das ist auch intellektuell unbegreiflich. Was ist der

„deutsche Weg“ angesichts der internationalen Zusam-
menhänge, der Aufgaben der Nation-Bildung, der regio-
nalen Sicherheitsstrukturen, die wir herausbilden müssen,
sowie des Kommunikationsangebots, das die Europäische
Union anderen weltweit unterbreitet? Vom „deutschen
Weg“ zu reden ist absurd. Eine Opposition, die ernst ge-
nommen werden will, muss darauf zurückkommen. Die
Rede vom „deutschen Weg“, der vor der Wahl angeboten,
auf Marktplätzen allen verkauft und vom Außenminister
fünf Minuten nach der Wahl mit dem Hinweis „Forget it“
wieder eingesackt wurde, ist der größte außen- und
sicherheitspolitische Wahlbetrug, den sich eine Bundesre-
gierung in der Geschichte des Landes je erlaubt hat.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Herr Kollege Erler und Herr Außenminister Fischer,
wir wollen nicht um folgende Tatsache herumreden – wir
werden uns in den entsprechenden parlamentarischen De-
batten ja wiedersehen –: Sie haben bis heute die Irak-
Frage nicht abschließend und klar beantwortet.


(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stimmt doch nicht!)


Wenn Saddam Hussein am Ende Inspektoren nicht ins
Land lässt, wenn Beweise vorgelegt werden, dass er Mas-
senvernichtungswaffen entwickelt, und wenn sich die
Weltgemeinschaft mit Sicherheitsratsbeschluss, also mit
Zustimmung Frankreichs, Russlands, Chinas und anderer,
entschließt, dagegen vorzugehen und vorgehen zu müs-
sen, um Menschen zu schützen, werden Sie eines Tages
gezwungen sein – das sage ich Ihnen voraus –, im deut-
schen Parlament vorzutragen, dass wir doch nicht umhin-
kommen – wenn wir schon nicht Soldaten entsenden –,
Logistik und medizinische Hilfsmaßnahmen anzubieten.


(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Ihr Wunschdenken!)


Natürlich würden wir die Spürpanzer zum Schutz der ame-
rikanischen Soldaten in Kuwait belassen. Sie wissen das.
Sie wissen auch – das wussten Sie schon vor der Wahl –,
dass Sie eines Tages ein solches Eingeständnis mögli-
cherweise würden machen müssen. Mit dem, was Sie ge-
tan haben, schädigen Sie die Glaubwürdigkeit der deut-
schen Außenpolitik in einem unerträglich hohen Maß.
Das muss einfach angesprochen werden.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ein zweiter Sachverhalt. Herr Außenminister, natürlich

freuen wir uns alle, dass jetzt das Tor zu einem Akt der
Wiedervereinigung Europas aufgestoßen wird. Wir wis-
sen, dass das nicht kostenlos zu haben ist. Ich möchte ein
kleines Plädoyer für ein Mindestmaß an Handwerkszeug
in der Politik halten. Dass das deutsch-französische Ver-
hältnis als europapolitischer Motor in den letzten Jahren
geradezu ausgefallen war, konnten Sie vor niemandem
verbergen. Unterlassen Sie es daher bitte, die Tatsache als
Großtat zu feiern, dass sich der Bundeskanzler bei dem
Kompromiss zur Agrarpolitik mit dem französischen
Präsidenten bei den realen Ausgaben und Obergrenzen in
einer Höhe von 6 Milliarden Euro – und das mit steigen-
der Tendenz – vertan hat. Da hilft auch der Hinweis auf
den Dolmetscher nicht. Damit können Sie Ihre Koaliti-
onsvereinbarung zur Agrarpolitik vergessen. Die Umstel-
lung wird nicht gelingen, weil sie nicht finanzierbar sein
wird. Diese Vorgänge lassen schlicht und einfach das not-
wendige Handwerkszeug vermissen. Sie gehen in ein Ge-
spräch und verwechseln eine Summe von 6 Milliar-
den Euro, eine Summe, die ab 2007 eine steigende
Tendenz aufweisen wird.


(Joseph Fischer, Bundesminister: Quatsch!)

Ich weise deshalb darauf hin, weil wir uns die Verbes-

serung des deutsch-französischen Verhältnisses so nicht
vorgestellt haben. Das ist ein äußeres Zeichen eines inne-
ren Zustandes. Sie bereiten sich nicht mehr anständig auf
solche Gespräche vor. Sie nehmen sich zu wenig Zeit, mit
den französischen Nachbarn zu sprechen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



(A)



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Wir haben das schon in der außenpolitischen Debatte
erlebt, was den Irak betraf. Sie bereiten die Gipfel nicht
vernünftig vor. Das ist nicht der erste Vorgang dieser Art.
Der Berliner Gipfel sollte sich mit Finanzierungsfragen
und der Gipfel von Nizza mit Entscheidungsabläufen und
Mehrheitsentscheidungen beschäftigen. Der Konvent
muss nun die notwendigen Reparaturarbeiten überneh-
men. Jetzt passiert es zum dritten Mal, dass europäische
Entscheidungen von Ihnen nicht in ausreichendem Maße
vorbereitet wurden. Uns reicht es nicht, dass Sie uns von
weiten Reisen berichten, oder über internationale Zusam-
menhänge der Außenpolitik informieren. Sie müssen das
kleine Einmaleins auch umsetzen. In der Europapolitik
verlangen wir dieses Mindestmaß.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ein dritter Gesichtspunkt. Kollege Schäuble hat schon
danach gefragt, wie man den Aufbau einer eigenen euro-
päischen sicherheits- und verteidigungspolitischen Kapa-
zität klar finanziert. Ich sage dazu ganz einfach: Das Min-
destmaß ist, dass man seine Hausaufgaben macht. Dazu
möchte ich Ihnen Ihre Koalitionsvereinbarung zur Bun-
deswehr vorlesen:

Aufgaben, Struktur, Ausrüstung und Mittel der Bun-
deswehr werden wieder in ein ausgewogenes Ver-
hältnis gebracht.

Das Wort „wieder“ ist gut.

(Lachen des Abg. Dr. Guido Westerwelle [FDP] und des Abg. Bartholomäus Kalb [CDU/CSU] – Rudolf Bindig [SPD]: Wie in den Jahren zuvor!)


Dann heißt es später – diesen Satz hätten Sie sich spa-
ren können –:

Die mittelfristige Finanzplanung bleibt die Grund-
lage für die Planungen der Bundeswehr.

Das können Sie nicht miteinander in Einklang bringen.
Ein weiterer Satz:
Hierbei werden die Vorschläge ... der Weizsäcker-
Kommission die Richtschnur bilden.

Die waren es schon bisher nicht; denn es wurde gar nicht
abgewartet, bis die Weizsäcker-Kommission einen Vor-
schlag gemacht hat. Der damalige Bundesverteidigungs-
minister Scharping hat ja eigene Vorschläge gemacht. Die
werden im Folgenden genannt. Sie schreiben:

Nach der weitgehenden Umsetzung der im Jahr 2000
eingeleiteten Bundeswehrreform ... muss erneut
überprüft werden, ob weitere Strukturanpassungen
oder Änderungen bei der Wehrverfassung notwendig
sind ...

Selten ist ein solches Durcheinander in wenigen Sätzen
hintereinander in eine Koalitionsvereinbarung geschrie-
ben worden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Nichts von alldem gilt. Sie machen Ihre Hausaufgaben
nicht. Sie finanzieren die Bundeswehr nicht, stehen aber

vor weit größeren Aufgaben als in der Vergangenheit. Sie
geben keinen Hinweis auf einen deutschen Beitrag in Be-
zug auf die Finanzierung.

Wissen Sie, was die deutsche Außenpolitik immer aus-
gezeichnet und damit auch stabil und verlässlich gemacht
hat? – Sie war glaubwürdig. Dies war sie zunächst bei
Konrad Adenauer. Sie war in der großen Koalition unter
Kurt Georg Kiesinger, der als Vorsitzender des Auswärti-
gen Ausschusses über viele Jahre Erfahrungen gesammelt
hatte, glaubwürdig. Auch in unserer Koalition unter Willy
Brandt war sie glaubwürdig. Sie hatte klare Ziele. Da gab
es auch Rückschläge; aber man wusste, worauf man hi-
nauswollte. Auch unter Helmut Kohl war sie glaubwür-
dig.

Beim jetzigen Bundeskanzler vermisse ich jedes
außenpolitisch klare Prinzip.


(Peter Hintze [CDU/CSU]: Jawohl!)

Deshalb war die Regierungserklärung, wie sie war: Er ist
für alles gut, aber dann geradezu für nichts. Mir ist die Be-
liebigkeit der Außenpolitik in Deutschland ein Gräuel.
Dagegen wehren wir uns.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Herr Außenminister Fischer, es geht doch nicht um die

Frage, wie wir die Türkei bewerten. Auch wir wissen,
dass wir alle Anstrengungen unternehmen müssen, um
dieses Land modernisierungsbereit zu halten, um alle eu-
ropäischen Verbindungsstränge in die Türkei zu bewahren
und um die türkische Gesellschaft schrittweise in die Mo-
derne zu führen – und dies nicht nur auf der Ebene der po-
litischen, wirtschaftlichen und kulturellen Elite.

Alle Erfahrungen, die wir seit den 60er-Jahren

(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer war da eigentlich Außenminister?)


mit der Türkei gemacht haben, beruhen auf falschen Ver-
sprechungen, die in der Türkei immer wieder große Frus-
trationen ausgelöst haben. Deshalb täte jede deutsche
Bundesregierung gut daran, nicht mit weiteren falschen
Versprechungen auf den EU-Gipfel nach Kopenhagen am
Ende dieses Jahres zu reisen.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind keine falschen Versprechen!)


Die Wahrheit ist, dass es nicht reicht, wenn die Türkei eine
neue Verfassung und neue Gesetze beschließt. Entschei-
dend ist die Gesellschaft, die hinter den Gesetzen steht
und die Verfassung lebt. Die geschriebene Verfassung al-
lein reicht nicht aus.

Es ist einfach wahr, dass die Türkei heute noch nicht
für einen Beitrittsprozess reif ist bzw. dafür, zu Beitritts-
verhandlungen eingeladen zu werden. Wenn das so ist,
dann muss man das auch sagen. Wenn man anders ver-
fährt und meint, wir Deutsche seien aufgefordert, einen
besonderen Beitrag zu leisten, um die strategischen Inte-
ressen unserer amerikanischen Verbündeten zu beachten,
dann wird sich das für uns sehr nachteilig auswirken, weil
wir alle wissen, dass ein Beitritt der Türkei in den nächs-
ten Jahren nicht vollzogen werden kann. Die türkische

Dr. Wolfgang Gerhardt




Dr. Wolfgang Gerhardt
Gesellschaft wird, auch durch das Votum Deutschlands,
ein weiteres Mal enttäuscht werden. Damit wird der Tür-
kei überhaupt nicht geholfen.

Deshalb kommen wir an folgenden Kernpunkten nicht
vorbei: Welche europäische Sicherheitspolitik machen
wir wirklich? Wie finanzieren wir die Elemente der Ost-
erweiterung tatsächlich? Welche ehrliche Antwort geben
wir der Türkei? Wie bringen wir das Verhältnis zwischen
Deutschland und Amerika wieder in Ordnung? Und zual-
lerletzt: Was macht der Bundeskanzler, wenn am Ende ei-
nes Prozesses im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen
alle unsere Verbündeten, Großbritannien bzw. die übrige
Europäische Union, nicht darum herumkommen, der Völ-
kergemeinschaft ein Vorgehen gegenüber Saddam
Hussein, das auch Zwangsmittel einschließt, zu empfeh-
len? Dann erneut zu sagen: „Daran nehmen wir nicht teil“
schlägt allem ins Gesicht, was der Bundeskanzler selbst in
der Regierungserklärung bezüglich unserer eigenen
Sicherheit vorgetragen hat. Wir können nicht nur immer
von anderen Sicherheit für uns erwarten, wir müssen
manchmal auch unangenehme Konsequenzen ziehen, um
Sicherheit für alle mit anzubieten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir werden uns in dieser Debatte wiedersehen; ich

sage sie Ihnen fast schon voraus. Dann wird die deutsche
Öffentlichkeit zur Kenntnis nehmen, dass alles Schall und
Rauch war, was vom Bundeskanzler im Wahlkampf ge-
sagt worden ist. Darauf muss hier hingewiesen werden.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1500403300

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Angelica

Schwall-Düren, SPD-Fraktion.


Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD):
Rede ID: ID1500403400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute, zu Be-
ginn der 15. Legislaturperiode, befindet sich die Europä-
ische Union an einem entscheidenden Wendepunkt ihrer
Geschichte. Die Einigung Europas und damit die endgül-
tige Überwindung der künstlichen Teilung des Kontinents
als Folge des Zweiten Weltkrieges ist in greifbare Nähe
gerückt. Gleichzeitig stellt die aktuelle internationale
Lage – dazu haben wir heute schon einiges gehört – die
Europäische Union vor große neue Herausforderungen
nach innen und außen.

Die EU ist heute der entscheidende Handlungsrahmen
für eine aktive und an demokratischen Grundwerten
orientierte Gestaltung der Globalisierung. Nur im EU-
Kontext kann es gelingen, die Herausforderungen der
Globalisierung für das europäische Gesellschafts- und
Sozialmodell erfolgreich zu meistern.


(Beifall bei der SPD)

Drei große Aufgaben hat die EU in den kommenden

Jahren zu bewältigen: Sie muss auf dem Weg der europä-
ischen Einigung voranschreiten, sie muss ihre Hand-

lungsfähigkeit erhalten und erweitern und sie muss ein
Europa der Bürger werden.

Die Europäische Union ist ein einzigartiges Erfolgs-
modell der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Hätten
unsere Großeltern und Eltern je davon zu träumen gewagt,
dass ein durch Hass, Krieg und Verbrechen gegen die
Menschlichkeit zerrissener Kontinent ein Modell der Ver-
ständigung und Zusammenarbeit entwickeln kann, wie es
mit der EU und ihren Vorläuferorganisationen gelungen
ist? Wir haben heute ein Modell der friedlichen und kon-
struktiven Lösung von Interessenkonflikten, ein Modell,
das zunächst den Gründungsmitgliedern und dann den im
Laufe der Jahre hinzugekommenen Ländern Wachstum,
Wohlstand und soziale Sicherheit beschert hat, ein Mo-
dell, das keineswegs zu einer Nivellierung unserer Ge-
sellschaften geführt, sondern den Reichtum der Unter-
schiedlichkeit bewahrt hat, insbesondere auch die
kulturelle Vielfalt.

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ist nun die
Chance gegeben, Europas Wiedervereinigungsprozess
weiter voranzubringen. Der Gipfel in Kopenhagen wird
die Entscheidung bringen, dass zehn Länder in die Euro-
päische Union aufgenommen werden. Weitere können in
der Zukunft dazukommen.

Lassen Sie mich deshalb in diesem Zusammenhang auf
die Türkei zu sprechen kommen. Die in diesem Land an-
gepackten Reformen, Herr Schäuble und Herr Gerhardt,
belegen, dass die Heranführungsstrategie der Union ihre
Früchte trägt.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Deshalb macht es Sinn, dass der Türkei in Kopenhagen
ein weiteres positives Signal gegeben wird, dergestalt,
dass das Land bei Fortführung des Reformprozesses in
absehbarer Zeit damit rechnen kann, ein Datum für den
Beginn von Verhandlungen genannt zu bekommen.

Meine Damen und Herren, wir alle wissen: Die EU-
Osterweiterung stößt bei manchen Bürgerinnen und Bür-
gern noch auf Vorbehalte. Was aber viel zu oft vergessen
wird, sind die enormen Chancen, die mit der Erweiterung
der Europäischen Union verbunden sind. Das ist einer-
seits die weitere Ausdehnung des Raums des Rechts, der
Sicherheit und der Freiheit in Europa und das ist anderer-
seits der zu erwartende Wohlstandsmehrwert, bei dem wir
letztlich alle durch höhere Wachstumsraten und Einkom-
men profitieren. Deutschland profitiert übrigens ganz be-
sonders von der EU-Erweiterung. Diesen Prozess zu un-
terstützen ist die erklärte Absicht der SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)

Nicht erst die Aussicht, zehn weitere Länder in die

Europäische Union aufnehmen zu können, hat deutlich
gemacht, dass die Strukturen der EU optimiert werden
müssen. Nur eine handlungsfähige Gemeinschaft wird in
der Lage sein, die großen wirtschaftlichen, politischen
und gesellschaftlichen Herausforderungen im Zeitalter
der Globalisierung zu meistern.

Ich nenne Ihnen nur die Stichworte Kosovo-Konflikt,
11. September 2001, Hochwasserkatastrophe dieses Som-


(A)



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(D)


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(B)



(C)



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mers, hohe Arbeitslosigkeit in vielen europäischen Län-
dern, Flüchtlingsproblematik und internationale Krimina-
lität. Schon daran wird deutlich, dass wir eine gemein-
schaftliche Politik in den Bereichen der Außen- und
Sicherheitspolitik, der Klimaschutzpolitik sowie der So-
zial- und Rechtspolitik brauchen.

Diese Herausforderungen sind aber mit den herge-
brachten Gemeinschaftsmechanismen auf Dauer nicht zu
bewältigen. Deshalb haben die europäischen Staats- und
Regierungschefs am 15. Dezember 2001 mit der Er-
klärung von Laeken – nicht zuletzt als Ergebnis der ent-
schiedenen Initiative der Bundesregierung – den Grund-
stein für den umfassendsten und ambitioniertesten
Reformprozess seit Gründung der Europäischen Gemein-
schaften gelegt.

Für uns ist dabei besonders wichtig, dass erstmals in
der Geschichte der europäischen Integration Parlamenta-
rier aus den nationalen Parlamenten und dem Europä-
ischen Parlament im Konvent von Anfang an maßgeblich
an dem großen Reformprojekt einer europäischen Ver-
fassung beteiligt sind. Wie ernst unser Bundeskanzler
diese Arbeit nimmt, ergibt sich schon allein aus der Ent-
sendung des Außenministers in den Konvent.

Gestern nun hat der Präsident des europäischen Ver-
fassungskonvents, Valéry Giscard d’Estaing, den ersten
Verfassungsentwurf vorgelegt. Nun gilt es, mit diesem
Entwurf zu arbeiten. Mit der Bundesregierung will die
Fraktion darauf hinarbeiten, dass die Ausübung europä-
ischer Macht demokratischer, transparenter und effizien-
ter wird. Dabei müssen das Prinzip der Gewaltenteilung
besser durchgesetzt und die demokratische Verantwort-
lichkeit auf europäischer Ebene erhöht werden. Dies
schließt die Bindung der EU-Organe an die Charta der
Grundrechte ein. Darüber gibt es inzwischen eine große
europäische Einigkeit.

Die Reform der EU muss dazu beitragen, dass Europa
eine Gemeinschaft der Bürger wird. Europa muss ein Ge-
sicht bekommen. Europa muss mit Namen verbunden
werden. Aber eine entsprechende Konstruktion wie zum
Beispiel die Einsetzung eines EU-Präsidenten darf nicht
zu einer Schwächung der EU-Kommission oder des Par-
laments führen. Vielmehr müssen die demokratische Le-
gitimation gestärkt und die Transparenz der Entscheidun-
gen erhöht werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dazu ist eine Stärkung des EU-Parlaments unabdingbar.
Gerade weil wir eine stärkere Vergemeinschaftung wol-
len, muss das Europäische Parlament mehr Befugnisse
bekommen.

Die Musik spielt mehr und mehr in Europa. Immer
mehr Politikfelder werden auf der europäischen Ebene
vorgeprägt oder entschieden werden. Ich kann hier heute
nur wenige davon ansprechen. Ich will beispielhaft den
Ansatz der EU-Kommission nennen, die zweite Säule der
Agrarpolitik für Maßnahmen der ländlichen Entwicklung
zu stärken und eine integrierte ländliche Entwicklung vo-
ranzubringen. Dies wird von uns ausdrücklich begrüßt
und unterstützt.

Durch die baldige Erweiterung der Europäischen
Union werden politische Stabilität und wirtschaftliches
Wachstum in weitere Länder Ost- und Mitteleuropas ex-
portiert. Das europäische Sozialmodell muss dabei erhal-
ten und ausgebaut werden. Die Europäische Union muss
weiter an den in Lissabon vereinbarten Zielen zur Er-
höhung der Beschäftigungsquote bis hin zur Vollbeschäf-
tigung festhalten und Europa zu einer der wachstums-
stärksten Regionen der Welt machen. Zur Erreichung
dieses Zieles ist aber ein Gleichgewicht zwischen Wirt-
schafts- und Sozialpolitik erforderlich.

Günter Verheugen hat in Brüssel den Erweiterungspro-
zess vorangebracht, Michaele Schreyer steht für die Fi-
nanzierbarkeit der europäischen Aufgaben. Denn eine so-
lide Haushaltspolitik ist nicht nur im nationalen Rahmen
nötig. Wenn man in Europa ein Gleichgewicht zwischen
starker Wirtschafts- und Sozialpolitik erreichen will, be-
darf es einer soliden Finanzbasis.

Mit großer Erleichterung ist deshalb in vielen Ländern
die Nachricht aufgenommen worden, dass sich Bundes-
kanzler Gerhard Schröder und Staatspräsident Jacques
Chirac auf eine Grundlage für die Finanzierung der EU-
Agrarpolitik über das Jahr 2006 hinaus geeinigt haben.

Die Interessenlage konnte dabei nicht unterschiedli-
cher sein: Neumitglieder, zu denen das agrarpolitisch
wichtige Land Polen gehört, möchten die gleichen Leis-
tungen bekommen, wie sie die Altmitglieder der EU er-
halten. Länder wie Frankreich, die überdurchschnittlich
von den Direktzahlungen profitieren, möchten keine Re-
duzierung der Leistungen hinnehmen. Nettozahler wie
Deutschland wehren sich gegen eine Steigerung der Bei-
tragslast.

Deshalb möchte ich Bundeskanzler Schröder aus-
drücklich dafür danken, dass er mit dem französischen
Staatspräsidenten einen Kompromiss gefunden hat, der
das Beitrittsverfahren weiter voranbringt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Herr Gerhardt, jeder weiß, dass Kompromisse die
Eigenart haben, dass keine Seite ihre Position zu 100 Pro-
zent durchsetzen kann.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Es war ja kein Kompromiss! Er hat sich ja nur verhört!)


Deshalb möchte ich die polnische Zeitung „Gazeta Wy-
borcza“ zitieren, die das Ergebnis des Gipfeltreffens als
eine „Lektion des europäischen Realismus“ charakteri-
siert hat.

Herr Gerhardt, deutsche und französische Politiker, der
französische Staatspräsident und der deutsche Bundes-
kanzler treffen sich so häufig wie nie in der Geschichte
zuvor.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Gut vorbereitet!)


Deshalb können wir davon ausgehen, dass der deutsch-
französische Motor, wie in der Vergangenheit und wie es
in diesem Augenblick bewiesen worden ist, auch in Zu-
kunft gut funktionieren wird. In Kopenhagen kann jetzt

Dr. Angelica Schwall-Düren




Dr. Angelica Schwall-Düren
der nächste entscheidende Schritt für die Erweiterung der
EU vollzogen werden. Der Konvent wird bis Som-
mer 2003 die entscheidende Vorarbeit für die Reform der
Institutionen leisten.

Europa ist unsere Zukunft. Diese Zukunft ist gestaltbar.
Europa hat keine andere Zukunft als die des Dialogs und
der Einbindung in die europäische Aufklärung. Alles an-
dere führt zur Destabilisierung. Die rot-grüne Koalition
packt die vor uns liegenden Aufgaben für ein friedliches,
soziales und nachhaltiges Europa an.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1500403500

Das Wort hat der Kollege Peter Hintze, CDU/CSU-

Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1500403600

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Wenn es eine Lehre aus der Geschichte des
20. Jahrhunderts gibt, dann ist es die, dass Deutschland
jede Form eines deutschen Sonderweges schadet und dass
es der europäische Weg ist, der unseren Interessen dient.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP])


Der Bundesaußenminister ist erfreulicherweise noch
unter uns. Wir haben heute auch eine neue Form des grü-
nen Sonderweges kennen gelernt. Das ganze Plenum war
gespannt auf die zwei klugen Kolleginnen, die die Grünen
zu Fraktionssprecherinnen gewählt haben; aber Herr
Fischer hat beschlossen, alle Debattenbeiträge selber zu
leisten. Ich hoffe im Interesse des Hauses, dass das in Zu-
kunft nicht so weitergeht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Für eine erfolgreiche Europapolitik gibt es zwei
Grundregeln. Europa kommt voran, wenn Deutschland
und Frankreich zusammenwirken. Ich finde es gut – das
will ich in dieser Debatte zum Ausdruck bringen –, dass
es gelungen ist, beim jüngsten Gipfel Deutschland und
Frankreich zusammenzuführen, dass 13 Staaten der Euro-
päischen Union diesem gemeinsamen Weg gefolgt sind
und damit den Weg zur Erweiterung frei gemacht haben.
Wir haben unser Versprechen gegenüber den jungen De-
mokratien Mittel- und Osteuropas einlösen und damit den
Raum wirtschaftlicher Prosperität und politischer Stabi-
lität ausweiten können. Herr Außenminister, ich stehe
nicht an zu sagen, dass es gelungen ist, ein Stück der po-
litischen Kontinuität zurückzugewinnen, die in den letz-
ten Jahren verloren zu gehen drohte.

Der Bundeskanzler ließ sich allerdings für eine Verein-
barung feiern, die es so gar nicht gibt.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Ja! Das ist richtig!)


Der Außenminister hatte empört und nervös auf der Re-
gierungsbank reagiert, als FDP-Fraktionsführer Gerhardt
darauf zu Recht hinwies. Es geht mir nicht nur um diese
6 Milliarden Euro pro anno – das ergibt mit insgesamt
über 40 Milliarden Euro eine riesige Summe zusätzlich
für die nächste Finanzierungsperiode –, kläglich ist doch
vielmehr, eine solche Verhandlungspanne auf die Dol-
metscher zu schieben. Das ist die dämlichste Ausrede, die
ich je in der europäischen Politik gehört habe.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Es wird auch beim Irak-Konflikt noch eine geben! – Zuruf des Abg. Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


– Jetzt bleiben Sie aber mal entspannt.

(Ute Kumpf [SPD]: Kein Problem!)


Das wäre aber noch hinnehmbar, wenn der von uns im
Ergebnis begrüßte Gipfel nicht lediglich die Steine aus
dem Weg geräumt hätte, die nicht zuletzt von deutschen
Verhandlungsfehlern beim Berliner Gipfel 1999 herrühren.
Das, was wir jetzt mühsam repariert haben, ist durch Ver-
handlungsfehler entstanden, die sich diese Bundesregie-
rung in der Vergangenheit geleistet hat.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Günter Gloser [SPD]: Das ist doch falsch!)


Ich bin geneigt, Sie trotz guter Freundschaft zu ihm ge-
genüber dem Kollegen Pflüger in einem kleinen Punkt et-
was in Schutz zu nehmen.


(Günter Gloser [SPD]: Aber nur ein bisschen!)

Es ist richtig, dass Sie bei den Arbeiten zur Europäischen
Verfassung zu denjenigen gehört haben, die unsere Ideen
aufgegriffen und gesagt haben, dass hier die nationalen
Parlamentarier ranmüssten. Das haben wir im Europaaus-
schuss immer gefordert. Sie haben das irgendwann zu Ih-
rer eigenen Sache gemacht. Aber warum ist es denn zu
diesem Konvent überhaupt gekommen? Doch deshalb,
weil die Regierungen, auch diese Regierung, gescheitert
sind und sich mit Nizza einen grandiosen Fehlschlag ge-
leistet haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Man kann unter solcher Führung Europa nicht mehr den
Regierungen überlassen. Das müssen – ich greife ein Wort
von Gerd Müller auf – wir Parlamentarier mit in die Hand
nehmen, damit es gut wird.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die zweite Grundregel für ein Gelingen in Europa, ge-

gen die Sie allerdings noch verstoßen, ist der faire Um-
gang mit den kleinen Mitgliedstaaten. Es war immer das
deutsche Erfolgsrezept, dass die Europapolitik nicht von
den Großen monopolisiert wurde, sondern dass die
Großen und die Kleinen im fairen Miteinander Dinge re-
gelten. Hier hat sich die Regierung schwer versündigt.
Wenn nun also der Stabilitätspakt unter maßgeblicher
Beteiligung Deutschlands zur Auflösung freigegeben
wird, dann ist das ein Affront nicht zuletzt gegen die klei-
nen Mitgliedstaaten, die unter großen Anstrengungen ihre


(A)



(B)



(C)



(D)


106


(A)



(B)



(C)



(D)






Aufgaben gemacht haben und die die Stabilitätskriterien,
die wir gefordert haben, eingehalten haben. Von diesen
Stabilitätskriterien sagen wir nun, sie seien nicht mehr so
wichtig. Das ist ein Fehler dieser Bundesregierung, lieber
Herr Fischer.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Es ist wichtig, dass die Staaten, die neu hinzukommen
werden und mit denen wir unser Schicksal teilen wollen,
erkennen, dass hier Fairness herrscht. Da Sie etwas
lächeln – ich möchte das harte Wort „grinsen“ vermeiden –,
möchte ich Folgendes sagen: Es ist auch ein persönlicher
Fehler von Ihnen, Herr Fischer, dass Ungarn und Tsche-
chien im Vertrag von Nizza weniger Sitze im Europä-
ischen Parlament zugesprochen bekommen haben, als
ihnen nach der Bevölkerungszahl zustehen. Wir von der
Union erwarten, dass diese Ungerechtigkeit bei den Bei-
trittsverträgen korrigiert wird. Ungarn und Tschechien
müssen genauso fair behandelt werden wie Portugal, Bel-
gien und andere Staaten in Westeuropa. Wir werden un-
sere Zukunft nur dann gemeinsam bewältigen, wenn wir
fair miteinander starten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Friedbert Pflüger wird gleich in seinem Beitrag das
Thema des Terrorismus genauer beleuchten. Aus euro-
päischer Sicht will ich nur einen Punkt dazu sagen. Es ist
auffällig –, dies geht mir in der öffentlichen Kommentie-
rung zu stark unter – dass die Terroristen gerade zu einem
Zeitpunkt in Moskau zuschlugen, in dem sich die politi-
sche Führung in Russland klar an die Seite Europas und
Amerikas stellte. Deswegen muss auch hier Klarheit herr-
schen: Auf diesem Weg an der Seite Europas und Ameri-
kas braucht auch Russland unsere Solidarität.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Uns allen fiel ein Stein vom Herzen, als die Ergebnisse

des zweiten irischen Referendums bekannt wurden. Ich
möchte uns alle aber dazu auffordern, diese Reaktion in
Irland ernst zu nehmen. Das Projekt Europa wird dann
gut, wenn es uns gelingt, die Bevölkerungen mitzuneh-
men. Es ist nicht nur ein Projekt der politischen Führun-
gen und der Regierungen und es ist auch nicht allein ein
Projekt der Parlamente. Es ist ein Projekt der Bevölke-
rungen in Europa; wir wollen sie mitnehmen. Es ist aus-
gesprochen wichtig, dass wir mit der Art und Weise, wie
wir debattieren und öffentlich dafür eintreten, dokumen-
tieren, dass wir auch die Menschen in unseren Ländern
mitnehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dazu, dass die Bevölkerung mitgenommen werden

muss, gehören auch einige neuralgische Themen. Ich
komme hier noch einmal auf das Thema Türkei zu spre-
chen. Nachdem die Regierung ihre Absicht erklärt hat, die
europafreundlichen Kräfte in der Türkei zu unterstützen,
was ja akzeptabel ist


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist richtig und gut!)


– Frau Roth, ich möchte das entwickeln –, hat die Regie-
rung eine ganze Reihe von Fehlern gemacht. Sie ist, ohne

dass die entsprechenden Kriterien erfüllt waren, Schritte
gegangen, die es gerade den europaorientierten Kräften in
der Türkei schwerer machen, die Dinge, die wir in Europa
brauchen, auch tatsächlich einzufordern.


(Beifall bei der CDU/CSU – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stimmt doch gar nicht! Die Kriterien sind doch ganz klar!)


Es ist ein schwerwiegender Fehler, wenn wir von den
Menschenrechtskriterien und den politischen Kriterien
absehen. Wir werden den islamischen Fundamentalismus
nicht dadurch eindämmen, dass wir die Kriterien herab-
setzen. Liebe Freunde, meine Damen und Herren, nur ein
klares Festhalten an unserer Werteordnung kann uns
tatsächlich zum Erfolg führen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kein Mensch will die Kriterien nach unten verändern!)


Frau Merkel hat es heute Morgen kurz angesprochen;
Sie haben mit Unverstand reagiert. Der Bundesaußenmi-
nister weiß doch, dass der Oberstaatsanwalt in Ankara mit
dem Vorwurf der Spionage und einer Strafandrohung von
acht bis 15 Jahren gegen Vertreter politischer Stiftungen
ermittelt. Das muss hier doch einmal ausgesprochen wer-
den. Zu einem solchen Zeitpunkt, in dem die Erfüllung
der klaren Kopenhagener Kriterien – übrigens nicht nur
der politischen, sondern auch der wirtschaftlichen – in
weiter Ferne liegt, kann man doch keinen Termin verge-
ben. Es ist gerade einmal eineinhalb Jahre her, dass die
Türkei eine der größten Währungskrisen in der Ge-
schichte Europas und Asiens hinter sich gebracht hat.
Auch auf diese Fragen müssen wir achten. Wolfgang
Schäuble hat heute schon dazu gesprochen.

Ich habe allerdings eine Theorie, die sich an die von
Wolfgang Schäuble anschließt: Es ist nicht allein der
Blick auf Amerika – es gibt außenpolitische Interessen;
das ist zu verstehen –, sondern es ist möglicherweise auch
der Blick auf die eigene, sich erweiternde Wählerschaft,
die das europäische Interesse und die klaren Kriterien
zurückstehen lassen.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

Das halte ich für kein verantwortliches Handeln vonseiten
der Regierung. Sie haben das Interesse unseres Landes
und das der Europäischen Union wahrzunehmen.


(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Möllemann!)


Dazu gehört die klare Einhaltung der Kriterien und der
Verträge.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Lassen Sie mich zum Schluss noch kurz auf den Kon-
vent und den Verfassungsvertrag kommen.


(Günter Gloser [SPD]: Laut ist die Rede ja!)

Die Regierung hat das bisher ja recht lieblos behandelt.
Peter Glotz, ein kluger Mann, war selbst erstaunt, dass er

Peter Hintze




Peter Hintze
benannt wurde. Jetzt wurde er durch Herrn Fischer er-
setzt. Wir hoffen, dass in das, was die Regierung in diesen
großen und wichtigen Fragen will, jetzt etwas mehr Klar-
heit kommt. Der Kanzler ist nicht mehr da. Er hat aber von
diesem Pult aus angekündigt, er werde die Europa-
zuständigkeit ins Kanzleramt holen. Allerdings erschöpft
sich die ganze Geschichte in der Ernennung eines Grup-
penleiters zum Abteilungsleiter. Das ist ein kleiner Teil-
erfolg des Herrn Bundesaußenministers, der damals in der
Debatte schon freundlich gelächelt hatte; der Kanzler
hätte mal genauer hinschauen sollen.

Wichtiger ist jetzt aber, was in der Sache herauskommt.
Ich will zwei Punkte nennen. Der Bundeskanzler hat jetzt
sein großes Interesse – so hat es der Regierungssprecher
verkündet – an einem Präsidenten des Europäischen Ra-
tes, der für mehrere Jahre gewählt wird, entdeckt. Dazu
können wir nur sagen: Damit käme es zu einem Gegen-
einander der Institutionen, was Europa bremsen und hem-
men würde. Wir brauchen nicht mehr Institutionen. Wir
brauchen eine klare Abgrenzung zwischen den Institutio-
nen. Das ist der erste Punkt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Der zweite Punkt. Im Himmel herrscht mehr Freude

über einen Sünder, der umkehrt, als über 99 Gerechte. Der
Bundesaußenminister hat gestern bei seinem Vortrag im
Konvent Ziele vertreten, die wir lange gefordert haben:
klare Kompetenzabgrenzung, klare Gewaltenteilung.
Wenn Sie durch Ihre Arbeit und Ihr Tun beweisen, dass
Sie zu den Grundlinien, die Sie am Anfang Ihrer Rede be-
schworen haben, zurückkehren wollen, dann können wir
das nur begrüßen.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1500403700

Herr Kollege Hintze, Ihre Redezeit ist deutlich über-

schritten.


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1500403800

Meine Redezeit ist zu Ende. Es gäbe noch viel zu sa-

gen, zum Beispiel zur europäischen Sicherheits- und Ver-
teidigungspolitik. Kollege Schmidt und andere werden
das machen. Wir jedenfalls freuen uns auf spannende, kri-
tische und konstruktive Jahre. Dort, wo Sie gute Arbeit
leisten, werden Sie unsere Unterstützung haben. Dort, wo
Sie von dem abweichen, was Sie hier selbst proklamieren,
werden Sie uns kritisch erleben.

Schönen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1500403900

Nächster Redner in der Debatte ist Rudolf Bindig,

SPD-Fraktion.


Rudolf Bindig (SPD):
Rede ID: ID1500404000

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Der Schutz und die Förderung der Menschenrechte sind

auch in der 15. Legislaturperiode politische Leitlinie der
Koalition. Dies gilt nach innen und nach außen. Da
Menschenrechtspolitik eine Querschnittsaufgabe ist, ist
es nur konsequent, wenn Menschenrechte in der Koali-
tionsvereinbarung in verschiedenen Politikfeldern ange-
sprochen werden: in der Sozialpolitik, der Frauenpolitik,
der Rechts- und Innenpolitik sowie an zahlreichen Stellen
im Bereich der Außenpolitik, vor allem unter dem Stich-
wort gerechte Globalisierung.

In der letzten Legislaturperiode wurde der Politikbe-
reich Menschenrechte mit der Bildung eines eigenständi-
gen Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre
Hilfe, der Schaffung der Stelle eines Menschenrechtsbe-
auftragten im Auswärtigen Amt und der Einrichtung des
Deutschen Instituts für Menschenrechte erheblich ge-
stärkt. Die neuen Instrumente haben erfolgreich dazu
beigetragen, dass menschenrechtliches Denken und Han-
deln in Politik und Gesellschaft gefördert wurden.

In dieser Legislaturperiode soll die Menschenrechts-
politik weiter gefestigt und größtmögliche Kohärenz zwi-
schen den einzelnen Politikbereichen hergestellt werden.
Dies soll durch einen intensiven Austausch mit den im
Forum Menschenrechte zusammengeschlossenen Nicht-
regierungsorganisationen geschehen. Die weitere Ver-
rechtlichung der menschenrechtlichen Grundlagen der in-
ternationalen Beziehungen ist uns ein wichtiges Anliegen.
Deshalb wollen wir noch ausstehende Konventionen und
Zusatzprotokolle im Menschenrechtsbereich ratifizieren
sowie bestehende Vorbehalte und Einschränkungen
zurücknehmen.

Wir treten dafür ein, die Kontrollgremien der internatio-
nalen Pakte zu stärken, um die völkerrechtliche
Verbindlichkeit und Wirksamkeit dieser Instrumente aus-
zubauen. Wie schon in den letzten Jahren wollen wir
den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in
Straßburg stärken. Menschenrechtsverletzungen an Frauen
und Kindern gehören leider immer noch zum weltweiten
Alltag. Auf ihre Rechte wollen wir deshalb besonderes Au-
genmerk legen. Weitere Schwerpunktthemen der Men-
schenrechtspolitik der 15. Legislaturperiode werden die
stärkere Beachtung wirtschaftlicher, sozialer und kulturel-
ler Menschenrechte im Rahmen der Globalisierung sein.

Die größte Herausforderung stellt sich für die Men-
schenrechtspolitik dort, wo in Krisen-, Konflikt- und
Kriegssituationen die elementaren Menschenrechte ver-
letzt und missachtet werden. Im Rahmen des größeren Eu-
ropas ist dies zurzeit der Tschetschenien-Konflikt. Der
russisch-tschetschenische Konflikt war im Bewusstsein
der Weltöffentlichkeit in letzter Zeit zurückgedrängt wor-
den. Durch die brutale Geiselnahme durch tschetscheni-
sche Terroristen und den tragischen Ausgang der Beendi-
gung der Geiselnahme mit weit über hundert Opfern
haben sich die Tschetschenen gewissermaßen gewaltsam
zurückgemeldet. Die Spirale der Gewalt im Tschetsche-
nien-Konflikt hat sich um eine schreckliche Windung
weitergedreht. Zu den täglichen Opfern auf allen Seiten in
Tschetschenien selbst kommen jetzt in Moskau die Opfer
der Geiselnahme im Rahmen der Beendigung dieses Ter-
roraktes hinzu. Wer politische Ansätze finden will, um
Einfluss darauf zu nehmen, wie die Spirale der Gewalt in
Tschetschenien durchbrochen werden kann, muss Be-


(A)



(B)



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(B)



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zugsfelder, Ursachen und Hintergründe des Konflikts
sorgfältig analysieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Einfache Muster einer undifferenzierten Anschuldi-
gung entsprechen nicht der Lage. Weder die offizielle rus-
sische Sprachregelung, dass es sich beim Tschetschenien-
Konflikt allein um eine Ausprägung des internationalen
Terrorismus handelt, wie er sich in New York und Bali
ausgetobt hat, noch die Erklärung auf der anderen Seite,
dass es sich hauptsächlich um den Freiheitskampf eines
unterdrückten Volkes handele, wird dem Problem auch
nur annähernd gerecht. Schon die Auflistung der Akteure
auf tschetschenischer Seite belegt dies. Da gibt es die in
den Untergrund gedrängten Repräsentanten eines Iksche-
ria ebenso wie Clanführer als Kriegsherren, organisierte
Kriminelle und religiös motivierte Terroristen mit Verbin-
dungen zu weltweit operierenden Netzwerken.

Wer alle diese Akteure pauschal als internationale Ter-
roristen radikalislamistischer Prägung abstempelt, ver-
baut sich politische Strategien zur Eindämmung und Lö-
sung dieses Konflikts.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Hierbei muss man genau sein. Man kann nicht zwi-
schen einem fürchterlichen Terrorismus, der völlig inak-
zeptabel ist, und einem weniger fürchterlichen Terroris-
mus, der vielleicht begründet sein kann, unterscheiden.
Terrorismus ist und bleibt Terrorismus.


(Beifall bei der SPD)

Wer ihn bekämpfen will, muss aber die verschiedenen
Hintergründe und Nährböden kennen, um wirksam
agieren zu können.

Der Tschetschenien-Konflikt reicht in seinen Ursachen
Jahrhunderte zurück und ist nach dem Zerfall der Sowjet-
union und dem Entstehen der Russischen Föderation
durch das Streben der Tschechenen nach Unabhängigkeit
in eine neue Dimension eingetreten. Es ist in erster Linie
ein lokaler bzw. regionaler Konflikt, den es schon lange
vor dem Entstehen des internationalen Terrorismus isla-
misch-fundamentalistischer Ausprägung gab. Wenn ei-
nige tschetschenische Akteure auch Verbindungslinien zu
international operierenden terroristischen Netzwerken ha-
ben, so rechtfertigt dies nicht, den Tschetschenien-Kon-
flikt nur unter diesem Aspekt zu sehen.

Radikaler islamischer Fanatismus ist nicht das allei-
nige Motiv. Triebkraft vieler Tschetschenen, die nie streng
gläubige Muslime waren und es auch heute nicht sind, ist
der Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben in ihrer
eigenständigen Kultur und Tradition.

Fakt in Tschetschenien ist – dies muss die internatio-
nale Gemeinschaft auf den Plan rufen –, dass der Tschet-
schenien-Konflikt in Kürze in seinen vierten Winter geht
und weiterhin zahlreiche Opfer sowohl in der Zivilbevöl-
kerung als auch bei russischen Sicherheitskräften fordert.
Die Ereignisse der letzten Monate haben gezeigt, dass
sich der Konflikt nicht mit Gewalt austreten lässt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb müssen neue Initiativen ergriffen werden, um die
russische Regierung davon zu überzeugen, ohne Vorbe-
dingungen Verhandlungen mit dem Ziel aufzunehmen,
die Gewalt zu beenden und eine politische Lösung her-
beizuführen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dabei müssen auf tschetschenischer Seite jene Perso-
nen einbezogen werden, die von den Tschetschenen als le-
gitime Sachwalter ihrer Anliegen angesehen werden. Aus
meiner Erfahrung im Rahmen des Europarates und aus
vielen Gesprächen komme ich zu dem Schluss, dass der
gewählte Präsident Tschetscheniens, Aslan Maschadow,
eine so einflussreiche Person in der Region ist, dass es
ohne Verhandlungen keine politische Lösung geben wird.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn es die Zielsetzung des Europarates ist, im
großeuropäischen Rahmen ein Gebiet der Demokratie,
der Geltung des Rechts und der Menschenrechte zu schaf-
fen, so kann Europa nicht weiter akzeptieren, dass im
Tschetschenien-Konflikt täglich von allen Seiten die
Menschenrechte massiv verletzt werden. Nach dem Gei-
seldrama scheint sich die russische Haltung sogar verhär-
tet zu haben. Im Rahmen der Gemeinsamen Außen-
und Sicherheitspolitik der EU, im Rahmen der OSZE
und/oder im Rahmen des Europarates müssen die Regie-
rungen – und zwar in der Tat die Regierungen und nicht
nur die Parlamente dieser Institutionen – ihre Anstren-
gungen intensivieren, Russland davon zu überzeugen,
dass dieser Konflikt einer politischen Lösung bedarf.

Auch Russland sollte aus seiner Interessenlage heraus
internationale Mitwirkung bzw. Bemühungen – wie soll
ich es nennen? – akzeptieren. Je mehr die russische Staats-
führung darauf beharrt, dass sie hauptsächlich bzw. aus-
schließlich mit einer Form des internationalen Terroris-
mus konfrontiert ist, desto mehr müsste sie eigentlich
bereit sein, im Rahmen internationaler Zusammenarbeit
dagegen vorzugehen. Umgekehrt gilt: Je mehr Russland
darauf besteht, dass es sich weitgehend um eine innere
Angelegenheit handelt, desto deutlicher bringt es damit
zum Ausdruck, dass der Einfluss des internationalen Ter-
rorismus eben doch geringer ist als behauptet. Faktisch
wird damit eingestanden, dass der Konflikt und das Ge-
schehen in Tschetschenien in erheblichem Umfang auch
regionale, nationalistische und historische Ursachen hat.

Ein letzter Blick auf einen innenpolitischen Aspekt
dieses Problemkreises: Auch in Deutschland leben Tschet-
schenen. Angesichts der Berichterstattung und der Ereig-
nisse in der letzten Zeit ist die Gefahr groß, dass sie alle in
die terroristische Ecke gestellt werden. Ich warne davor.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Viele von ihnen sind hier, weil sie vor den Übergriffen
russischer Sicherheitskräfte oder lokaler Banden geflüch-
tet sind oder weil sie in Filtrationslagern gefoltert worden
sind. Andere haben sich der russischen Armee entzogen,
weil sie nicht auf die eigenen Leute schießen wollten.

Rudolf Bindig




Rudolf Bindig
Diese Menschen sind Opfer und keine Täter. In dieser an-
gespannten Lage darf es keine ausländerrechtliche Rück-
führung von Tschetschenen nach Russland geben. Auch
eine inländische Fluchtalternative in Russland ist derzeit
nicht gegeben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir müssen uns immer wieder aufs Neue daran erin-
nern, dass wir über dem Kampf gegen den Terrorismus
nicht den Schutz der Menschenrechte sowie unsere huma-
nitären Aufgaben in Deutschland vergessen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1500404100

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Werner Hoyer,

FDP-Fraktion.


Dr. Werner Hoyer (FDP):
Rede ID: ID1500404200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Der Kollege Erler hat zu Beginn seiner Ausführungen ge-
sagt, dass die internationale Politik nichts Fernes mehr
sei, dass die klassische Trennung von Innen- und Außen-
politik in unserem heutigen politischen Leben gar nicht
mehr so aufrechtzuerhalten sei, wie es einmal gewesen
sei. Wir haben allerdings bisher in diesem Hohen Hause
– das gilt für die gesamte Bundesrepublik Deutschland –
eines vermieden, nämlich die internationale Politik, ins-
besondere die Außenpolitik, nur noch zum Markt der
Innenpolitik oder zur Funktionsgröße innenpolitischen
Taktierens zu machen. Das hat sich durch die Bundes-
tagswahl 2002 geändert. Das bedauere ich sehr.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es gibt ein paar Konstanten deutscher Außenpolitik
der letzten 50 Jahre, mit denen wir sehr gut gefahren sind
und die bisher noch keine Bundesregierung infrage ge-
stellt hatte, und zwar weder vorsätzlich noch fahrlässig.
Die jetzige Bundesregierung hat es getan. Sie hat Kern-
elemente des außenpolitischen Konsenses auf dem Wahl-
kampfaltar geopfert. Dazu gehört unter anderem ein star-
kes Engagement für den Multilateralismus, und zwar
sowohl im Hinblick auf Systeme kooperativer Sicherheit
wie die UNO und die OSZE als auch im Hinblick auf Sys-
teme kollektiver Verteidigung wie die NATO. Das gilt erst
recht für die europäische Integration, die in den letzten
Jahrzehnten eine so große Blüte erreicht hat.

Zu diesen Kernelementen gehören des Weiteren die
konsequente Entnationalisierung der Sicherheits- und
Verteidigungspolitik durch tiefe Integration, das beson-
dere Bemühen um das Vertrauen der kleineren Partner in
den Verbünden, ein enges und vertrauensvolles Verhältnis
zu Frankreich als notwendige Bedingung für jeglichen
Fortschritt in der Europäischen Union und – last, but not
least – eine auf Vertrauen und gemeinsame Werte gegrün-
dete Freundschaft mit den Vereinigten Staaten von Ame-
rika. Manchmal sind diese Elemente gewiss nicht leicht
auszubalancieren. Das erfordert im besten Sinne des Wor-

tes Staatskunst. Genau daran hat es in den letzten Jahren
und vor allen Dingen in den letzten Monaten in dramati-
scher Weise gefehlt.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sonst stünde nicht die Glaubwürdigkeit unseres
UN-Engagements in Zweifel. Sie steht aber in Zweifel,
wenn der deutsche Bundeskanzler von vornherein mögli-
che Sicherheitsratsresolutionen als für die deutschen Ent-
scheidungen auf nationaler Ebene irrelevant erklärt. Sonst
würden unsere Partner nicht die Frage stellen, ob sich hin-
ter dem Begriff des deutschen Weges nicht doch eine Re-
nationalisierung der deutschen Sicherheits- und Verteidi-
gungspolitik verbirgt. Sonst würden wir nicht mit
Verblüffung und Empörung vor der Tatsache stehen, dass
das deutsch-französische wie das deutsch-amerikani-
sche Verhältnis gleichermaßen einen historischen Tief-
punkt erleben.

Meine Damen und Herren, es gehört zum Imperativ
deutscher Außenpolitik, dass sich eine Bundesregierung
nie in eine Situation manövrieren darf, wo sie zwischen
Europa und den USA, zwischen transatlantischer Bin-
dung und europäischer Integration, zwischen Washington
und Paris wählen muss. Die Kollegen im britischen Un-
terhaus und in der französischen Nationalversammlung
werden in der Frage, ob ihnen die NATO oder die EU, ob
die transatlantische Bindung oder europäische Integration
wichtiger ist, zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen,
aber sie werden klare Prioritäten ausdrücken. Wir Deut-
schen dürfen es uns niemals leisten, uns überhaupt in eine
Situation zu bringen, diese Frage beantworten zu müssen.

Aber der Trick kann ja nicht darin bestehen bzw. das
Problem nicht dadurch als gelöst gelten, dass am Ende das
Verhältnis mit beiden Partnern gleichermaßen schlecht
ist. Genau das haben wir hier aber festzustellen. Deswe-
gen ist der Befund der aktuellen Europa- und Außenpoli-
tik fatal:


(Beifall des Abg. Peter Altmaier [CDU/CSU])

Die Verletzungen sind tief. Die Verletzungen, die insbe-
sondere in den Vereinigten Staaten entstanden sind, nicht
nur bei der Regierung, sondern auch bei den Menschen,
werden in Deutschland nicht überschätzt, sondern noch
gewaltig unterschätzt. Es wird unterschätzt, dass das
deutsch-amerikanische Verhältnis immer auch eine ganz
starke emotionale Komponente gehabt hat, und das hat
insbesondere etwas mit dieser Stadt, mit Berlin, zu tun.
Man macht einen Riesenfehler, wenn man das übersieht.

Am schlimmsten war wahrscheinlich bei all diesen
verbalen Entgleisungen, dass man unsere amerikanischen
Partner in die Ecke von Abenteurern gerückt und diesen
Begriff auch benutzt hat. Meine Damen und Herren, das
übersieht die ausgesprochen ernste und kontroverse De-
batte, die in den Vereinigten Staaten zum Beispiel zur
Irak-Frage geführt wird. Ich wünsche mir manchmal,
auch in der Medienwelt in Deutschland würden wir eine
solche kontroverse tief gehende Debatte führen, wie das
in den Vereinigten Staaten der Fall ist. Das hat tiefe Ver-
wundung hinterlassen und das persönliche Verhältnis
weitgehend zerstört. Ich fürchte, selbst wenn der Bundes-


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kanzler jetzt auf die Idee käme, wieder einmal dort anzu-
rufen, er würde schon bei der Telefonzentrale scheitern.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Meine Damen und Herren, wir fangen an, Preise zu

zahlen; das ist bereits gesagt worden. Selbst wenn es diese
ominöse Liste im formalen Sinne nicht gibt, ist gleich-
wohl klar: Die Bundesrepublik Deutschland wird auf an-
deren Gebieten als auf denen, die jetzt im Wahlkampf dis-
kutiert worden sind, Preise zahlen müssen. Das beginnt
mit der Irak-Frage – insbesondere in der Zeit nach einer
möglichen Intervention –, setzt sich fort in der Frage der
Lead-Funktion in Afghanistan, die uns dort sehr, sehr
lange binden kann, und gilt auch für die Türkei-Frage, auf
die verschiedene Kolleginnen und Kollegen hier einge-
gangen sind.

Meine Damen und Herren, in dieser Situation außenpo-
litischer Irritationen schlimmster Art stehen wir vor dem
NATO-Gipfel in Prag. Dieser NATO-Gipfel in Prag ist
eben keineswegs in allererster Linie ein Erweiterungsgip-
fel – die Entscheidungen sind im Wesentlichen abgefrüh-
stückt –, sondern in Prag werden die Vereinigten Staaten
versuchen, ihre militärstrategischen Neuorientierungen ei-
nes Präventivschlages


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Ja!)

und einer Abkehr vom unbedingten Gewaltmonopol der
Vereinten Nationen auch in der NATO durchzusetzen. Die
Amerikaner stellen in dem Zusammenhang manche wohl
berechtigte Frage, aber wir als Europäer und speziell als
Deutsche müssen uns fragen, ob wir uns eigentlich schon
intellektuell in die Lage versetzt haben, auf diese Fragen
tatsächlich auch Antworten zu geben, und ob wir bereit
sind, mit den Amerikanern über gemeinsame Antworten
zu debattieren. In Prag werden möglicherweise schon
recht weit gehende Festlegungen geschaffen. Die Bundes-
regierung hat noch nicht einmal angefangen, das über-
haupt intern zu durchdenken,


(Dr. Peter Struck, Bundesminister: Woher wissen Sie das?)


geschweige denn gemeinsam mit unseren Partnern in
Europa. Sie, Herr Kollege Struck, drohen die erforder-
liche Strategiediskussion vollkommen zu verschlafen und
laufen Gefahr, unser Engagement mit KSK in Afghanistan
vor unserer deutschen Bevölkerung verheimlichen zu
wollen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Dr. Peter Struck, Bundesminister: Auch Quatsch!)


Meine Damen und Herren, mir graut jedenfalls vor der
Vorstellung, dass wir Europäer und vor allem wir Deut-
schen in Prag den USA nur deshalb hinterherlaufen müs-
sen, weil wir es uns nicht leisten können, unsere eigenen
Vorstellungen gegenüber Washington vorzubringen.

Das Irritationspotenzial zwischen Europäern und Ame-
rikanern ist gewaltig. Das beginnt bei der Zukunft der
WTO und anderen Handelsfragen und reicht über den In-
ternationalen Strafgerichtshof und die Raketenabwehr bis
zur Rolle der Vereinten Nationen. Vergleichbar schwierig
war nach meiner Einschätzung nur die Situation Ende der
80er-Jahre, als wir über amerikanische Kurzstreckenatom-

raketen in Europa und in Deutschland diskutiert haben.
Bei allen, zum Teil riesigen Differenzen ist der Gesprächs-
faden damals aber niemals abgerissen. Das wäre Hans-
Dietrich Genscher oder Helmut Kohl niemals passiert.
Heute ist das der Fall. Da nützt dann auch der Besuch des
Außenministers nicht viel. Die Telefonleitung zwischen
dem Kanzleramt und dem Weißen Haus muss wieder her-
gestellt werden.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1500404300

Das Wort hat der Bundesminister der Verteidigung,

Dr. Peter Struck.


Dr. Peter Struck (SPD):
Rede ID: ID1500404400

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Erlauben Sie, dass ich zunächst auf den Beitrag
des Kollegen Schäuble eingehe. Dieser Beitrag, Herr Kol-
lege Schäuble, zeichnete sich durch eine Mischung von
Halbwahrheiten und Verdrehungen aus.


(Peter Hintze [CDU/CSU]: Unverschämtheit!)

Das bin ich von Ihnen nicht anders gewohnt. Ich will das
auch belegen.

Herr Kollege Schäuble, wenn Sie behaupten, die Dis-
kussion über die Lead-Funktion bei ISAF, die wir begon-
nen haben – wir werden das Parlament darum bitten, dem
Regierungsbeschluss zu folgen –, habe etwas mit dem
Irak zu tun, dann sagen Sie bewusst die Unwahrheit.

Ich bin im Juli in einer Sondersitzung des Deutschen
Bundestages vereidigt worden.


(Zuruf des Abg. Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU])


– Hören Sie doch einmal zu, Herr Schäuble!

(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Was ist das für ein gereizter Ton?)

Am nächsten Tag bin ich in Kabul gewesen und habe dort
mit den türkischen und den anderen Kollegen die Debatte
darüber begonnen, wer denn wohl Nachfolgenation für
die Türkei werden würde. Da war vom Irak überhaupt
noch nicht die Rede. Es ist schon brutal, wie Sie hier ver-
suchen, das in Zusammenhang mit einer militärischen In-
tervention im Irak zu setzen. Das ist aber typisch für Sie.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie behaupten auch, wir würden nicht über die Arbeit
der Kommandospezialkräfte informieren. Fragen Sie
doch bitte einmal Ihre Kollegen, die im Verteidigungs-
ausschuss Verantwortung getragen haben!


(Widerspruch des Abg. Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU])


– Schütteln Sie nicht den Kopf!

(Lachen und Zurufe von der CDU/CSU)


Dr. Werner Hoyer




Bundesminister Dr. Peter Struck
– Ich ärgere mich darüber. Herr Schäuble sagt bewusst die
Unwahrheit oder er weiß nicht, wovon er redet.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Im Verteidigungsausschuss sitzen Kollegen, Herr Kol-

lege Schäuble, denen ich genau berichtet habe, was die
circa 100 Soldaten der Kommandospezialkräfte in Afgha-
nistan, in Kabul tun. Ich habe die Sprecherinnen und Spre-
cher der Fraktionen darüber informiert und ich werde das
auch weiter tun. Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht,
dass diese Soldaten eine höchst gefährliche Mission aus-
üben. Aber ich stehe zu dieser Mission. Wir werden im
Zusammenhang mit der Entscheidung über die Operation
Enduring Freedom auch wieder über den Einsatz dieser
Soldaten zur Bekämpfung des internationalen Terroris-
mus beschließen.

Dann haben Sie gesagt, Herr Kollege Schäuble, ich
müsse mir 500 Millionen wegnehmen lassen und solle Ih-
nen einmal darlegen, wie ich die Verteidigungsausgaben
bestreiten wolle. Diese Zahl von 500 Millionen, Herr
Schäuble, ist falsch. Sie unterstellen einfach etwas und
erklären: Damit kommen Sie nicht zurecht. – Wir werden
– das garantiere ich Ihnen – die Haushaltsprobleme lösen.


(Beifall bei der SPD)

Herr Kollege Schäuble, ich werde dem Parlament im Zu-
sammenhang mit dem Haushalt 2003 und der mittelfristi-
gen Finanzplanung genau das vorschlagen, was zur Um-
setzung der Koalitionsvereinbarung notwendig ist, nämlich
eine solide mittelfristige Finanzplanung. Natürlich werde
ich manche Großprojekte auf den Prüfstand stellen. Es ist
überhaupt gar keine Frage, dass wir uns überlegen müssen,
ob die Situation, in der solche Großprojekte – zum Teil vor
Jahren, noch in der Verantwortung der Vorgängerregie-
rung – beschlossen worden sind, heute noch so gegeben ist
und ob wir bestimmte Waffensysteme in diesem Umfang
brauchen. Das ist eine höchst vernünftige Entscheidung.
Wir müssen uns doch an den neuen Aufgaben der Bundes-
wehr und dürfen uns nicht an den Aufgaben der Bundes-
wehr von vor zehn oder 20 Jahren ausrichten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nun noch ein Wort zu Ihnen, Herr Schäuble, und dann
soll es auch gut sein. Was Herr Stoiber im Wahlkampf
zum Thema Irak gesagt hat, ging weit über das hinaus,
was Sie uns gerade vorgeworfen haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Er hat über Überflugrechte und dergleichen geredet. Da-
von wollen wir heute überhaupt nicht sprechen; sonst
würde es ganz bitter für Sie.

Nun zum Kollegen Schmidt. Ich gratuliere Ihnen, Herr
Schmidt, herzlich zu Ihrer neuen Funktion, die Sie in Ih-
rer Arbeitsgruppe als Nachfolger von Paul Breuer wahr-
nehmen,


(Beifall des Abg. Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU])


und wünsche mir eine gute Zusammenarbeit mit Ihnen ge-
nauso wie mit dem Kollegen Nachtwei, dem Kollegen

Rainer Arnold und natürlich auch dem neuen Vorsitzen-
den des Verteidigungsausschusses, Reinhold Robbe.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das bedeutet übrigens auch, dass ich nicht nur die Mit-

glieder des Verteidigungsausschusses, sondern sämtliche
Abgeordneten des Parlaments, die daran interessiert sind,
zu erfahren, was unsere Soldatinnen und Soldaten bei
ihren schwierigen Auslandseinsätzen tun – über diese
Einsätze werden wir neu entscheiden müssen; im Kabinett
wird in der nächsten Woche erneut über Enduring Free-
dom entschieden; Mitte November wird im Parlament da-
rüber abgestimmt; danach müssen wir im Zusammenhang
mit Afghanistan über ISAF einen Beschluss fassen –,
herzlich dazu einlade, sich mithilfe des Verteidigungsmi-
nisteriums, mithilfe der Parlamentarischen Staatssekre-
täre und mit meiner Hilfe vor Ort ein Bild von deren Ar-
beit zu machen. Wenn das geschähe, dann würde vieles
von dem, was man nicht ganz genau weiß und was man
mit bestimmten Verdächtigungen belegt, wirklich aus der
Welt sein und würde jeder anerkennen: Das, was die deut-
schen Soldaten dort tun, verdient höchsten Respekt und
höchste Anerkennung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Herr Kollege Schmidt, in der „Windsheimer Zeitung“
vom 25. Oktober 2002 haben Sie erklärt, Sie wären jetzt
Schattenminister der Verteidigung, wenn es in Deutsch-
land so wie in England ein Schattenministerium gäbe.
Wollen wir einmal sehen, ob mehr „Schatten“ oder mehr
„Minister“ herauskommt. Wie gesagt, versuchen wir ein-
mal, gut zusammenzuarbeiten.


(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)

Ich will angesichts der Kürze der Zeit, die für die heu-

tige Diskussion über Verteidigung vereinbart worden ist,
nur noch einige Anmerkungen machen. Herr Kollege
Hoyer, Sie haben sich zu Prag geäußert. Ich möchte wis-
sen, wie Sie dazu kommen, die Behauptung aufzustellen,
die Bundesregierung bereite sich auf Prag nicht vor.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das frage ich mich auch!)


Woher wissen Sie das eigentlich? Wir müssen unsere Vor-
arbeiten zunächst einmal in der Regierung leisten. Herr
Kollege Hoyer, ich muss Sie nicht fragen, was ich da zur
Erweiterung der NATO vorschlagen werde. Dass es in
Prag vor allen Dingen um die NATO-Erweiterung geht,
das wissen Sie. Dass wir diesbezüglich, bis auf zwei Län-
der, keine Probleme haben werden, das versteht sich von
selbst.

Aber wir reden auch über die neuen Initiativen des
NATO-Generalsekretärs und wir reden über eine Initia-
tive meines Kollegen Rumsfeld, nämlich über die so ge-
nannte NATO-Response-Force. Sie haben danach ge-
fragt und ich will Ihnen Ihre Frage beantworten. Die
Initiative von Donald Rumsfeld, eingebracht auf einer
Verteidigungsministertagung in Warschau, an der, wie
man allenthalben erfahren konnte, auch ich teilgenommen
habe, war überraschend. Donald Rumsfeld hat uns vorge-
schlagen, eine NATO-Response-Force mit 21 000 Mann


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und einer Bereitschaftszeit von sieben Tagen zu installie-
ren. Dieser Vorschlag von Rumsfeld ist aber noch nicht
konkretisiert worden. Die Konkretisierung erfolgt jetzt
peu à peu.

Herr Schäuble, darüber wird in Prag nicht entschieden
werden. Das wäre auch nicht möglich, weil wir in der eu-
ropäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik – Sie
haben es selbst angesprochen – die so genannten Hel-
sinki-Headline-Goals beschlossen haben, das heißt – das
wissen auch Sie –: Wir wollen eine eigene europäische
Eingreiftruppe installieren. Deutschland soll sich an einer
solchen Truppe mit maximal 32 000 Soldaten beteiligen.
Ich will Ihnen dazu nur Folgendes sagen: Ich halte es für
sehr vernünftig, dass man, bevor man auf eine Initiative
der Amerikaner eingeht, zunächst einmal prüft, ob das,
was wir in der europäischen Sicherheitspolitik verabredet
haben, kompatibel mit dem ist, was Donald Rumsfeld und
andere wollen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Herr Schäuble, da wägen wir noch ab. Vielleicht kön-
nen wir uns in einem Punkte treffen: Es macht keinen
Sinn, zwei parallele Eingreiftruppen für nahezu den glei-
chen Zweck mit jeweils einem deutschen Kontingent zu
installieren. Das ist nicht machbar.

Ich will noch etwas zu den internationalen Einsätzen,
gerade zum ISAF-Mandat, dessen Verlängerung dem-
nächst ansteht, sagen. Ich habe mich mit meinem nieder-
ländischen Amtskollegen darauf geeinigt, dass wir die
Lead-Funktion übernehmen. Ich will dem Parlament Fol-
gendes nicht vorenthalten: Das wird bedeuten, dass die
Anzahl der deutschen Soldaten, die jetzt für ISAF in Ka-
bul tätig sind, erhöht werden muss. Das hängt insbeson-
dere damit zusammen, dass wir von der Türkei, der jetzi-
gen Lead Nation, den Betrieb und die Bewachung des
Flughafens in Kabul übernehmen müssen, was höchst
personalintensiv ist. Die Übernahme der Lead-Funktion
ist sehr vernünftig: Deutschland ist das Land, das, was
Auslandseinsätze angeht, nach den Amerikanern weltweit
das größte Kontingent stellt.

Zum Thema Deutschland/Amerika will ich Ihnen
noch Folgendes sagen: Natürlich gibt es auf der anderen
Seite Irritationen. Wir müssen uns nicht vorwerfen lassen,
im Kampf gegen den internationalen Terrorismus oder
beim Aufbau Afghanistans nicht das Nötige getan zu ha-
ben – ganz im Gegenteil, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das wissen die Amerikaner auch.
Es wird sich alles normalisieren, auch meine Begeg-

nungen mit meinem amerikanischen Amtskollegen.

(Zurufe von der FDP: Ihre Nichtbegeg nungen!)

Das alles wird so laufen, dass Sie nachher sagen: Na wun-
derbar, die Verhältnisse haben sich entwickelt.

Ich möchte zum Schluss auf Folgendes hinweisen: Es
gibt verteidigungspolitische Richtlinien, die aus dem

Jahre 1992 stammen, vom Kollegen Rühe damals festge-
legt. Das ist jetzt zehn Jahre her und in diesen zehn Jah-
ren hat sich viel verändert. Wir haben fast 10 000 Solda-
ten im Einsatz. Wir geben für den Auslandseinsatz der
deutschen Soldaten 1,7 Milliarden Euro aus. Vor vier Jah-
ren waren es nur 170 Millionen. Natürlich gibt es auch
eine andere Bedrohungsanalyse. Davon ist heute in dieser
Debatte schon die Rede gewesen. Deshalb werde ich dem
Parlament gegebenenfalls im März oder April nach Ab-
schluss der Diskussion mit dem Generalinspekteur und
den Inspekteuren der Teilstreitkräfte neue verteidigungs-
politische Richtlinien vorlegen, die ich für das Haus erar-
beiten will, weil ich glaube, dass sich die Bundeswehr auf
eine andere Situation einstellen muss, als wir sie noch vor
zehn Jahren hatten.

Ich setze nicht nur auf eine freundliche Zusammenar-
beit mit meiner eigenen Fraktion – davon gehe ich aus;
das ist eine Selbstverständlichkeit – oder dem grünen
Partner, sondern auch auf eine konstruktive Zusammenar-
beit mit Ihnen von der CDU/CSU und der FDP.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1500404500

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian Schmidt.


Christian Schmidt (CSU):
Rede ID: ID1500404600

Herr Verteidigungsminister, das Angebot der guten, der

fairen Zusammenarbeit wiederhole ich gerne auch von
unserer Seite. Wir alle wissen, dass die Bundeswehr ein
Organismus ist, der aus Menschen besteht, die zwar, wie
man dem Löchel-Bericht und anderen Berichten entneh-
men kann, langsam, aber nachhaltig das Vertrauen in ihre
politische Führung verloren haben, dass sie aber unter der
Bereitschaft, ihr Leben einzusetzen, politische und mi-
litärische Aufträge für uns erfüllen, bei denen sie nicht den
Eindruck haben sollten, hier werde über ihren Kopf hin-
weg entschieden und eigentlich würden ihre Interessen
überhaupt nicht berücksichtigt.

Heute Vormittag war bereits die Rede davon, dass in der
Regierungserklärung darüber überhaupt kein Wort verlo-
ren worden ist. Das finde ich bedauerlich. Es reicht eben
nicht – um einen kleinen Nachtrag zu machen, Herr
Struck –, zu Bier und großer Party etwa 50 000 Soldaten
einzuladen und ihnen einen Dank abstatten zu wollen, der
eigentlich nur camoufliert, dass man mit ihnen Wahlkampf
machen will. Die Soldaten haben nicht vergessen und wir
haben auch nicht vergessen, dass Sie versucht haben, die
Bundeswehr parteipolitisch zu instrumentalisieren. Das
darf nicht durchgehen und darüber werden wir noch reden
müssen. Halbwahrheiten und Verdrehungen, die Sie ge-
nannt haben, sind in keiner Weise geäußert worden.

Natürlich ist das Thema: Die Not ist groß; wie kommen
wir um die notwendigen Canossa-Gänge herum? Herr
Fischer ist jetzt gerade auf einem unterwegs. Wie kom-
men wir wieder ins Gespräch mit den Amerikanern, die
wir im eigenen Interesse brauchen? Was können wir ihnen

Bundesminister Dr. Peter Struck




Christian Schmidt (Fürth)

anbieten, das so verpackt ist, dass die rot-grüne Koalition
und die ihr anhängenden Bürgerinnen und Bürger gar
nicht merken, dass wir etwas tun müssen, was wir eigent-
lich nach eigenem Reden nicht tun wollen? Das ist übri-
gens auch der Punkt, der heute früh angesprochen worden
ist.

Natürlich werden Sie zum Thema Irak mehr tun müs-
sen und Sie wissen, dass Sie mehr tun müssen als das, was
während des Wahlkampfes auf den Plätzen vom Bundes-
kanzler dargelegt und von vielen anderen nachgesprochen
worden ist. Machen Sie sich keine Sorgen: Wir werden bei
der Frage der Stationierung, vom Kanzlerkandidaten an-
gefangen bis zu jedem einzelnen Mitglied der CDU/CSU-
Bundestagsfraktion, wenn es zur Entscheidung über die
Frage kommt, welche alliierten Streitkräfte unseren
Grund und Boden benutzen dürfen, treu zum Bündnis ste-
hen und verlässlich sein, so wie dies immer gewesen ist.


(Beifall bei der CDU/CSU – Gernot Erler [SPD]: Das hoffen wir auch!)


Ob das bei Ihnen der Fall sein wird, das weiß ich nicht.
Irgendwie habe ich bei Ihrem Beitrag, Herr Struck, den

Eindruck gewonnen – darüber müssen wir wohl in einer
eigenen Debatte, die vor Prag stattfinden sollte, noch ein-
mal reden –, dass Sie die Ernsthaftigkeit des Problems,
dass es nämlich um die Zukunft der NATO geht – das
wird nicht nur in Washington so gesehen –, nicht spüren.
Sie haben übrigens die DCI-Initiative von 1999 etwas mit
der nun von Rumsfeld vorgeschlagenen Response Force
vermischt. Dabei handelt es sich um ganz verschiedene
Dinge. Sie können nicht die Headline Goals der ESVP in
Form von 60 000 Soldaten, die 2003 einsatzbereit sein
sollen, aber faktisch nur auf dem Papier stehen – General
Schubert wartet noch immer auf die Einsatzbereitschaft
dieser Truppe –, realisieren und dann diese Einheiten den
Amerikanern anbieten. Nein, Rumsfeld will doch die
Probe aufs Exempel machen.

Hinter den 21 000 Soldaten, die Rumsfeld für die Res-
ponse Force will, steckt doch – das wissen Sie genauso
gut wie ich – im Kern die politische Frage, ob die NATO
als Bündnis noch in der Lage ist, militärisch an vorderer
Front im Antiterroreinsatz zu reagieren oder nicht. Wenn
Sie darauf mit der Antwort reagieren: „Sehr geehrter Herr
Rumsfeld, wir diskutieren gerade darüber, Herr Solana
bastelt mit den Türken und den Griechen am Zustande-
kommen einer europäischen Eingreiftruppe und schaut,
ob das Berlin plus-Abkommen umgesetzt werden kann“,
dann wird uns die NATO mittelfristig um die Ohren flie-
gen.


(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: So ist es!)


Sie wird kaputtgehen, und zwar entgegen unserem eige-
nen Interesse. Die Axiome der Außen- und Sicherheitspo-
litik, dass das Bündnis des freien Westens ein Stabilitäts-
anker ist und jetzt auch Verpflichtungen über die früheren
Begrenzungen hinaus bestehen, gelten nämlich nach wie
vor. Das hat auch Senator Lugar 1993, wie ich glaube, bei
seiner Rede im Budapester Parlament gesagt: NATO will
go out of area or out of business – die NATO muss sich
engagieren oder sie wird aus dem Geschäft herausfallen.

Es darf nicht dazu kommen – die Gefahr sehe ich –,
dass die Sicherheitspolitik nachlässig auf der Basis eines
Laisser-faire-Denkens behandelt wird. Aus diesem Desin-
teresse könnte die Gefahr entstehen, dass wir so alleine
dastehen, dass der Begriff vom deutschen Weg, mit dem
Herr Schröder gezündelt hat, auf einmal zur Realität wird,
weil keiner mehr da ist, der mit uns Bündnisse schließen
will. Diese Frage steht auf der Tagesordnung, nichts an-
deres.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Kommen wir noch einmal auf die Situation in Afgha-
nistan zurück. Wir alle hier im Hause wissen – aber nicht
jeder draußen unterscheidet genau –, dass es zum einen
die Mission Enduring Freedom zur Terrorbekämpfung
gibt, an der das KSK, das Kommando Spezialkräfte, mit
circa 100 Mann teilnimmt. Ich bedanke mich ausdrück-
lich auch im Namen des Kollegen Breuer, dass Sie hierzu
Informationen gegeben haben. In diesem Punkt unter-
scheiden Sie sich sehr lobenswert von Ihrem Vorgänger.
Von dem hätten wir nämlich überhaupt nichts erfahren. In
der nächsten Zeit ist aber nicht nur eine offene Informati-
onspolitik über Enduring Freedom, sondern auch über die
Probleme, die sich bei der anderen Mission in Afghanis-
tan, bei ISAF, deren Führung Sie der Bundeswehr anver-
trauen wollen, ergeben, erforderlich.

Wenn man in solch eine Sache mit mehr Engagement
hineingeht, muss man auch wissen, wie man wieder he-
rauskommt. Bisher war das gerade einmal einigermaßen
darzustellen. Wenn aber die Amerikaner ihr Engagement,
dessen Schwerpunkt bei der Operation Enduring Freedom
liegt, in andere Wetterecken dieser Welt verlagern, dann
darf es nicht dazu kommen – darüber müssen wir schon
sehr intensiv reden –, dass Soldaten der deutschen Bun-
deswehr und von Alliierten, die in und um Kabul stehen,
im Falle einer Zunahme der Spannungen auf sich alleine
gestellt sind.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Sie wissen sehr genau, warum ich das so sehr betone.
Der letzten schriftlichen Unterrichtung des Parlaments

entnehme ich, dass es erst vor kurzem wieder eine ge-
fährliche Situation gegeben hat, von der auch unsere Sol-
daten hätten betroffen sein können. Gott sei Dank ist
nichts passiert und es wird sicherlich viel getan, um sol-
che Gefahren zu verhindern. Sie sind aber nicht auszu-
schließen und es ist zu befürchten, dass mit einer Expo-
nierung der Bundeswehr die Gefahren auch für sie
steigen. Das wird in Zusammenhang mit der Verlänge-
rung von Enduring Freedom und von ISAF zu behandeln
sein.

Damit komme ich zu einem weiteren Punkt grundsätz-
licher Art, den wir heute schon ansprechen sollten. Der
Kollege Schäuble hat das bereits dargelegt. In diesem
Punkt herrscht bei uns die tiefste Enttäuschung über Ihren
Koalitionsvertrag. Über die vielen Prosateile des Koali-
tionsvertrages kann man hinweglesen, aber wir stellen
auch fest, dass etwas nicht darin steht. Meiner Meinung
nach hätten wir bei diesem Punkt im Rahmen eines kon-


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struktiven Dialogs feststellen können, was da getan wer-
den muss. Bei dem Punkt handelt es sich um die innere
und äußere Sicherheit als Ganzes. Ich habe noch in Er-
innerung, wie Alterspräsident Schily zur Eröffnung der
15. Wahlperiode des Deutschen Bundestages auf die in-
soweit bestehenden Gefährdungen hingewiesen hat, und
Herr Fischer hat gerade auch noch einmal Djerba und al-
les andere heruntergebetet. Die Frage lautet, wie sich Ge-
fährdungen, die vermeintlich die innere Sicherheit betref-
fen, aber faktisch Angriffe von außen sind – Stichwort:
asymmetrische Konflikte –, in einer Strukturreform der
Bundeswehr niederschlagen können. Davon haben wir
nichts gehört bzw. gelesen.

Wir sind gerne bereit, über diese Frage im Zusammen-
hang mit den verteidigungspolitischen Leitlinien, die Sie
vorlegen wollen, zu sprechen, weil wir sie für sehr wich-
tig halten. Wir wissen, dass hierbei viele Hindernisse zu
überwinden sind. Das geht bis hin zu der Frage, was an-
gesichts der deutschen Tradition und der Geschichte der
Bundesrepublik Deutschland an Fragezeichen dahinter
steht. Jedenfalls bin ich fest davon überzeugt, dass eine
Strukturreform, wenn Sie sie jetzt wieder ansetzen, weil
die erste nicht finanziert war und weil auch die zweite
drangegeben worden ist, nur eine Camouflage für nicht
vorhandenes Geld und für Kürzungen ist, wenn Sie solche
Fragen nicht anpacken. Ich sage hier ausdrücklich: Bei
diesen Fragen, bei denen Sie natürlich in ganz entschei-
dendem Maße auch die Länder brauchen, werden Sie auf
eine kritische, konstruktive Arbeit und auf Initiativen von
uns rechnen können.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wir werden Sie an dieser Aussage messen!)


Wir werden Sie daran messen, wie Sie diese Initiativen
dann auch finanziell umzusetzen in der Lage sind.

In der Koalitionsvereinbarung haben Sie sehr intensiv
auch Herrn von Weizsäcker genannt. Mit Genehmigung
der Frau Präsidentin möchte ich aus der Koalitionsverein-
barung kurz zitieren.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1500404700

Ich muss Sie auf die abgelaufene Redezeit hinweisen.

Wenn es ein ganz kurzes Zitat ist, dann erlaube ich das.


Christian Schmidt (CSU):
Rede ID: ID1500404800

Nur einen Satz aus der Nr. 256 – Ich zitiere –:
Für den Übergang

– der Reform, welcher Reform auch immer –

(Anschubfinanzierung)

gangen werden.

Das wird das Dilemma Ihrer nächsten Jahre sein.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Warten Sie mal ab!)

Ich hoffe, dass es nicht das Dilemma der Sicherheit
Deutschlands wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1500404900

Für eine Kurzintervention erhält jetzt der Abgeordnete

Dr. Peter Struck das Wort.

(Peter Hintze [CDU/CSU]: Er hat eigentlich schon genug geredet!)



Dr. Peter Struck (SPD):
Rede ID: ID1500405000

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu dieser

Kurzintervention hat mich der Beitrag des Kollegen
Schmidt veranlasst. Herr Schäuble hat das auch schon an-
gesprochen. Beide haben mir vorgeworfen, im Zusam-
menhang mit der Flutkatastrophe Wahlkampf gemacht
zu haben.

Ich möchte darauf hinweisen – das müsste eigentlich
auch Ihnen bekannt sein –, dass dieser Einsatz bei der
Flutkatastrophe an der Elbe der größte war, den die Bun-
deswehr je durchgeführt hat, und zwar höchst erfolgreich,
meine Damen und Herren. Das weiß man ja wohl.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dass in einer solchen Situation der zuständige Minis-
ter bei den Soldaten sein muss, gehört sich auch.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Herr Kollege, was hätten Sie wohl gesagt, wenn ich nicht
dorthin gefahren wäre, sondern am Schreibtisch sitzen ge-
blieben wäre? Sie hätten gesagt, dass ich es noch nicht
einmal für nötig halte, meine Soldaten zu besuchen.

Nehmen Sie endlich diesen Unsinn aus der Welt!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Jetzt können Sie sich eigentlich nur noch entschuldigen, Herr Schmidt! So einfach kann die Welt sein!)



Christian Schmidt (CSU):
Rede ID: ID1500405100

Herr Kollege und Namensvetter Schmidt, Sie haben

mal wieder nicht Recht. Ich habe es nicht nur akzeptiert,
sondern eindeutig bejaht, dass der Einsatz der Bundes-
wehr bei dieser Flutkatastrophe – wie auch bei anderen
Naturkatastrophen – eine äußerst wichtige, lobenswerte
und erfolgreiche Aktion war. Das ist überhaupt keine
Frage. Wir brauchen nicht darüber zu streiten, dass der
Verteidigungsminister vor Ort sein muss. Aber diesen
Punkt habe ich nicht gemeint.


(Zuruf des Abg. Dr. Peter Struck [SPD])

– Nein.

Es stellt sich allerdings die Frage, was man aus dem
Einsatz der Bundeswehr macht. Dabei geht es zum einen
um die Frage, wie die Feier für die Soldaten gestaltet wird
und wo sie stattfindet. Zum anderen geht es – da gibt es
einen mittelbaren Zusammenhang mit der Flutkatastro-
phe; diesen Punkt habe ich gemeint – um die Initiative

Christian Schmidt (Fürth)





Christian Schmidt (Fürth)

„Soldaten für Schröder“. Das war der eigentliche Sün-
denfall.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Es geht um die Frage, wie man vor einer Wahl mit der
Bundeswehr umgeht. Sie haben kurz vor der Wahl den
Versuch der SPD zugelassen – Herr Müntefering hat Sie
darin unterstützt –, die Bundeswehrsoldaten vor den
Wahlkampfkarren zu spannen. Das muss schärfstens kri-
tisiert werden; das darf es nicht geben. In diesem Punkt
haben Sie die Fürsorgepflicht für Ihre Soldaten nicht rich-
tig wahrgenommen. Bei dieser Einschätzung bleibe ich.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wo ist denn die Antwort auf die Kurzintervention?)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1500405200

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Winfried

Nachtwei.


Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1500405300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Am Anfang dieser Legislaturperiode stehen wieder Ent-
scheidungen über Auslandseinsätze der Bundeswehr
an, genauso wie zu Beginn der vorherigen Legislaturperi-
ode, als es nämlich um die Androhung von Luftangriffen
gegen die Bundesrepublik Jugoslawien ging. Damals
– das wissen wir alle – war diese Entscheidung in diesem
Haus und in der Gesellschaft heiß umstritten. Damals war
die Befürchtung verbreitet, dass damit ein Präzedenzfall
im Hinblick auf das Verhältnis zu den Vereinten Nationen
geschaffen werde.

Diese Befürchtung hat sich nicht bewahrheitet. Wir ha-
ben uns bemüht, aus dem Kosovo-Konflikt und aus dem
Kosovo-Krieg die angemessenen friedens- und sicher-
heitspolitischen Lehren zu ziehen. Dies zeigt sich deutlich
zu Beginn dieser Legislaturperiode. Die Verlängerung des
Mazedonien-Mandats in der vorigen Woche stand – da-
rauf wurde ausdrücklich hingewiesen – im Kontext um-
fassender Politik einer wirksamen Krisenvorbeugung.
Die bevorstehenden Entscheidungen zur weiteren Betei-
ligung an Enduring Freedom und an der ISAF-Schutz-
truppe in Kabul sollen der Gewalteindämmung und Ge-
fahrenabwehr dienen.

In der Koalitionsvereinbarung stellen wir eindeutig
klar: Zweck von Kriseneinsätzen der Bundeswehr ist
nicht eine militärische Konfliktlösung; denn das wäre il-
lusionär. Ihr Zweck ist, zur Gewaltverhütung beizutragen
und Stabilisierungs- und Friedensprozesse dort zu unter-
stützen, wo zivile Beobachter und Vermittler, wo Poli-
zisten nicht mehr ausreichen. Der Rahmen von Kri-
seneinsätzen ist die Charta der Vereinten Nationen, ist das
Völkerrecht und eine Politik gemeinsamer und koopera-
tiver Sicherheit. Diese Grundhaltung kontrastiert mit Be-
strebungen, über eine „präventive Selbstverteidigung“
das allgemeine Gewaltverbot der UN-Charta zu unterlau-
fen. Die Absage der Bundesregierung an einen Krieg zum

Sturz des irakischen Regimes ist die logische Konsequenz
aus dieser Grundhaltung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Bundeswehr soll wirksam und verantwortlich zur
internationalen Sicherheit beitragen können. Dafür ist zu-
mindest Folgendes unabdingbar: Friedenseinsätze und
Kriegsverhütung brauchen einen ausgewogenen Mix an
zivilen, polizeilichen, politischen und militärischen Fä-
higkeiten. Die rot-grüne Bundesregierung baut nun – so
steht es im Koalitionsvertrag – das in diesem Jahr ge-
gründete Zentrum für Internationale Friedenseinsätze
zu einer vollwertigen Entsendeorganisation aus. Das
heißt, wir bemühen uns, die zivilen Säulen von Friedens-
missionen der Vereinten Nationen, der OSZE usw. ent-
sprechend zu stärken.

Wir haben uns zum anderen vorgenommen, einen res-
sortübergreifenden Aktionsplan im Hinblick auf Krisen-
prävention auszuarbeiten, was bedeutet, dass wir die ver-
schiedenen notwendigen Fähigkeiten in diesem Bereich
systematisch aufbauen und entwickeln wollen.

Was hat das mit der Bundeswehr zu tun? Nur wenn wir
diese Fähigkeiten vernünftig entwickelt haben, kommen
wir aus Kriseneinsätzen wieder heraus. Das ist schlicht-
weg die Konsequenz.

DieBundeswehrreform, das heißt die Befähigung der
Bundeswehr zur Bewältigung neuer Aufgaben, ist nicht
nur fortzusetzen, sondern ausdrücklich auch weiterzuent-
wickeln; so haben wir es in der Koalitionsvereinbarung
formuliert. An die Lösung dieser Aufgaben geht Rot-Grün
mit Klarheit über die Zielsetzung der Bundeswehrreform
und mit – so formuliere ich diplomatisch – gewachsenem
Realismus. Dabei sind für uns die Vorschläge der
Weizsäcker-Kommission die Richtschnur. Eine notwen-
dige Modernisierung ist nur mit einer deutlichen Senkung
des Personalumfangs zu realisieren. Das ist die
offensichtliche Konsequenz.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sehr geehrter Herr Minister, lieber Kollege Struck, am
25. Juli dieses Jahres wurden Sie zum Minister vereidigt.
Manche Gratulanten der Oppositionsfraktionen dachten
damals an eine Befristung Ihrer Amtszeit. Wir sind aus-
drücklich froh, dass Sie Minister geblieben sind. Ich bin
mir sicher, dass Sie Ihre Verantwortung mit sicherheits-
politischer Klarheit und mit Realismus wahrnehmen. Da-
bei wünschen wir Ihnen eine glückliche Hand und hoffen
auf eine gute Zusammenarbeit.

Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1500405400

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Friedbert

Pflüger.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



(A)



(B)



(C)



(D)


116


(A)



(B)



(C)



(D)







Dr. Friedbert Pflüger (CDU):
Rede ID: ID1500405500

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Herr Minister Struck, noch ein Wort zu Ihrer
Kurzintervention soeben. Wahlkampf haben Sie wirklich
gemacht.


(Gernot Erler [SPD]: Ihr ja nicht!)

Soweit ich mich erinnern kann, hat es noch nie einen Ver-
teidigungsminister gegeben, der selbst – und das in der
kurzen Zeit vor der Wahl, in der er das Amt innehatte –
eine solche Initiative wie „Soldaten für die SPD“ vorge-
stellt hat. Es ist falsch, Parteipolitik in die Bundeswehr, zu
unseren Soldaten zu tragen. Das haben wir kritisiert, Herr
Bundesverteidigungsminister.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wir beschäftigen uns heute in der Tat nicht mehr mit
dem Wahlkampf,


(Gernot Erler [SPD]: Das wäre ja schön!)

sondern mit den großen Bedrohungen, denen wir gegen-
überstehen. Eine Bedrohungsanalyse habe ich weder
vom Bundeskanzler heute Morgen in der Regierungs-
erklärung vernommen noch in der Koalitionsvereinbarung
gefunden. Wenn man die Koalitionsvereinbarung liest,
dann stellt man fest, dass Sie fast so tun, als müsse man nur
ein bisschen Konfliktprävention machen und Friedensmis-
sionen unterstützen. Aber dass wir in einer sehr gefähr-
lichen Welt leben, nehmen Sie nicht zur Kenntnis.

Kofi Annan hat die Weltgemeinschaft zur Einheit im
Kampf gegen den internationalen Terrorismus aufgeru-
fen. Kofi Annan sagt: Alles, woran wir glauben, ist heute
bedroht, Respekt vor menschlichem Leben, Gerechtig-
keit, Toleranz, Pluralismus und Demokratie.

Meine Damen und Herren, der Generalsekretär der
Vereinten Nationen hat mehr von den Bedrohungen ver-
standen, als es der Bundeskanzler heute bei sich hat er-
kennen lassen. Das ist ein großes Problem, vor dem wir
stehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

New York und Washington am 11. September, Djerba,

Bali, Moskau, der Anschlag auf den französischen Tanker
Limburg und viele Anschläge, die gerade noch verhindert
werden konnten, sind eine weltweite Herausforderung.
Die internationale Antiterrorallianz kämpft in Afghanis-
tan und am Horn von Afrika. Überall auf der Welt gibt es
diese neue Form der Bedrohung, ja man kann sagen, das
Ganze ist eine neuartige Form von weltweitem Krieg, in
dem wir uns befinden. Davon lesen wir bei Ihnen nichts.

Sicher, die Art der Anschläge weist natürlich Unter-
schiede auf. Es gibt regional völlig unterschiedliche
Punkte, an denen islamistische Extremisten ansetzen. So
werden Lebensumstände wie Armut, Unterdrückung und
Unabhängigkeitsbestrebungen, beispielsweise in Tschet-
schenien, ausgenutzt, ausgebeutet und aufgeblasen. Vor
allem junge Menschen, die aufgrund der Globalisierung
nach Orientierung und Würde suchen, die in Not und
Armut leben, werden aufgeheizt, missbraucht und zu
Selbstmordattentätern ausgebildet. Das ist die Lage, die
wir zurzeit überall auf der Welt erleben.

Das ist kein Angriff gegen Amerika, das ist ein Angriff
gegen uns alle, gegen unsere Form des Zusammenlebens,
gegen unsere Kultur und gegen die Art von Demokratie,
die wir seit einigen Jahrhunderten erleben. Das ist das
Problem, dem wir gegenüberstehen. Dazu hätten wir gern
heute etwas von Ihnen gehört.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Niemand kann diesem Konflikt dadurch ausweichen,

dass man nicht darüber redet oder ihn verharmlost. Wir
leben nicht auf einer Insel der Glückseligen. Hier in
Deutschland hat es bereits Tote gegeben. Ein 16-jähriger
Junge aus Lübeck ist mit seiner Familie nach Tunesien ge-
fahren. Als er nach Hause kam, waren sein Bruder, seine
Mutter und seine Großmutter tot. Er selbst lebt schwer
verletzt weiter. Meine Damen und Herren, der Terroris-
mus ist hier bei uns, er ist nicht etwas für ferne Länder.
Wir Deutsche sind bereits betroffen und deswegen ist er
eine fundamentale Herausforderung für uns alle.

Das BKA, so berichtet der „Spiegel“ in seiner jetzigen
Ausgabe, hält Deutschland inzwischen annähernd für so
gefährdet wie die USA. Unser Land, bisher nur Vorberei-
tungsraum für Terroranschläge, sei inzwischen auch ein
mögliches Ziel von Anschlägen. Deutschland, so das
BKA, werde direkt von al-Qaida bedroht. Wir hätten gern
Auskunft von der Bundesregierung darüber, ob sie mit der
Einschätzung des BKA übereinstimmt, ob wir wirklich
unmittelbar bedroht werden. Denn das ist eine völlig an-
dere Dimension als die, die uns in den schönfärberischen
Berichten untergejubelt wird.

Geradezu apokalyptisch würde diese Gefahr des Terro-
rismus werden, wenn er in den Besitz von Massenver-
nichtungswaffen käme. Wer die barbarischen Terrorakte
vom 11. September zu verantworten hat, dem ist jedes
Mittel recht, auch der Einsatz von Massenvernichtungs-
waffen.

Schauen wir einmal nach Russland: In den vergange-
nen zehn Jahren wurden in Russland nach offiziellen An-
gaben 29 Diebstähle von Kernmaterial aufgedeckt. Im
Dezember 1995 verschwanden in Tscheljabinsk 18,5 Ki-
logramm und im März 2001 in Krasnojarsk 3,6 Kilo-
gramm hoch angereichertes Uran. Der russische Duma-
Abgeordnete Mitrochim erklärt dazu:

In Russland und in anderen GUS-Staaten gibt es ei-
nen schwarzen Markt, auf dem sie Kernsprengstoff
überall kaufen können. Auch die al-Qaida ist dazu in
der Lage, über gut bezahlte Agenten in russischen
Atomanlagen an waffenfähiges Uran oder Plutonium
zu kommen.

Die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen
und nuklearem Know-how ist unsere Realität. Wir wis-
sen, dass sich Saddam Hussein das zum Ziel erklärt hat.
Das ist keine Vermutung, nichts, was konservative Ket-
tenhunde sagen. Es ist das Wissen unserer Dienste, dass er
A-, B- und C-Waffen haben will. Können wir aus-
schließen, dass er sie in Kürze hat und auch benutzt?

Vielleicht war es doch ein Fehler, dass der Herr Bun-
desaußenminister vorhin gesagt hat: Na ja, ob Irak die
richtige Priorität sei? Doch, meine Damen und Herren!
Hier sitzt ein Diktator, ein Tyrann, den Enzensberger be-
reits 1991 als den Nachfolger Hitlers bezeichnet hat, der




Dr. Friedbert Pflüger
sich diese Waffen besorgt, der bereit ist, sie anzuwenden
und sie bereits gegen sein eigenes Volk angewendet hat.
Dann erklärt Herr Fischer, diesem Bereich müsse nicht
die Priorität unserer Außenpolitik eingeräumt werden.
Welcher Bereich unserer Außenpolitik besitzt denn
höhere Priorität, als diesen Wahnsinnigen bei dem Ver-
such zu stoppen, in den Besitz von Massenvernichtungs-
waffen zu kommen?


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war gekonnt verkürzt!)


Alexander Kwasniewski, der polnische Präsident, hat
– wie ich glaube – Recht, wenn er sagt:

Die Bedrohung durch Saddam Husseins Massenver-
nichtungswaffen ist real. Wir wollen eine neue,
scharfe UN-Resolution, die nicht nur Inspektionen,
sondern die Vernichtung dieser Waffen erzwingt und
Militärschläge erlaubt, wenn Saddam trickst.

Dies ist die Meinung der Polen, der Franzosen und sogar
der Saudis. Sie alle sagen: Wenn es eine UN-Resolution
gibt, unterstützen wir die Amerikaner und die Weltge-
meinschaft bei dem Versuch, Saddam zu entwaffnen. Dies
sagen selbst die Saudis, nur die deutsche Bundesregierung
nicht. Nur Rot-Grün sagt: Wir auf gar keinen Fall.

DieAmerikaner hat nicht verletzt – das habe ich in den
Gesprächen immer wieder gemerkt, Herr Müntefering –,
dass wir eine andere Meinung haben. Der Kollege
Schäuble hat darauf hingewiesen. Dies haben sie auch in
ihrem eigenen Kongress erlebt, wo sie sehr ernsthaft ge-
stritten haben. Die Amerikaner hat nicht verletzt, dass wir
gesagt haben: Wir wollen keine Soldaten schicken. Sie ha-
ben uns auch gar nicht danach gefragt. Sie haben auch gar
nicht nach Geld gefragt. Verletzt hat sie, dass wir ihnen
nicht einmal ein Minimum an politischer Solidarität und
moralischer Unterstützung geben. Dies ist und bleibt ein
Skandal. Sie werden es schwer haben, den dadurch ange-
richteten Schaden in den nächsten Wochen und Monaten
zu reparieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es bleibt die große Aufgabe der deutschen Politik, über

die selbst gewählte Isolation, den Vertrauensverlust und
den Gewichtsverlust hinwegzukommen.


(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind doch Wahnvorstellungen!)


– Dies sind keine Wahnvorstellungen, Frau Sager. Reden
Sie doch einmal mit den Amerikanern.


(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eben! Genau entgegengesetzt! Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da sind viele erleichtert!)


Die Nagelprobe dafür ist der nächste NATO-Gipfel.
Wir werden sehen, wie sich die Bundesregierung dort ver-
hält. Neben der Erweiterung der NATO, die wir sehr be-
grüßen, kommt es auf diesem NATO-Gipfel darauf an,
dass wir zwei Dinge miteinander vereinbaren: Die Bereit-
schaft, gegen die eben beschriebene terroristische Bedro-
hung, gegen die Hersteller von Massenvernichtungswaffen
mit allen polizeilichen, geheimdienstlichen und militäri-
schen Mitteln vorzugehen und uns dabei nicht auszuklin-

ken und abzukoppeln, sondern Teil der Weltgemeinschaft
zu sein, ist die eine Säule unserer Sicherheitspolitik. Die
andere Säule unserer Sicherheitspolitik, die aber nur eine
von zwei Säulen ist, ist die Lösung von regionalen Kon-
flikten. Dies beinhaltet den kulturellen Dialog mit den
Moslems überall auf der Welt, die durch ihre Weltreligion
natürlich große Leistungen für die Welt vollbracht haben,
die aber extremistische Ränder haben, die im Moment
stärker werden. Ich glaube aber zutiefst, dass die Religion
als solche zum Dialog bereit ist.

Wir müssen unsere Märkte öffnen. Wir müssen Ent-
wicklungsprojekte durchführen sowie die Demokratie
fördern. Auch eines ist wahr: Nicht jeder, der gegen Ter-
rorismus ist, ist auch unser Freund. Es gibt Länder, die ge-
gen den Terrorismus sind, aber trotzdem wenig für die De-
mokratie in ihrem Land tun. Auch hier müssen wir zu
unseren Werten und Überzeugungen stehen. Beides ist
notwendig: Demokratieförderung und Kulturdialog zu-
sammen mit einer Öffnung der Märkte, mit Hilfe, um Ar-
mut und Würdelosigkeit zu überwinden.

Dies alles geht umso besser, je mehr wir bereit sind, zu-
sammen mit anderen – nie alleine – militärische, polizei-
liche und geheimdienstliche Verantwortung zu tragen.


(Gernot Erler [SPD]: Haben wir doch gemacht!)


Mein letzter Gedanke: Jimmy Carter hat den Frie-
densnobelpreis bekommen. Ich glaube, in diesem Fall
kann ich für das ganze Haus sprechen und dem früheren
amerikanischen Präsidenten zu diesem Friedensnobel-
preis herzlich gratulieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Er ist gegen den Irak-Krieg!)


Jimmy Carter hat diesen Preis durch seinen lebenslan-
gen Einsatz für den Frieden wirklich verdient.


(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!)


Aber Jimmy Carter war nie jemand, der gesagt hat: Frie-
den um jeden Preis. Für ihn bestand der Kern der Frie-
densbotschaft aus einem würdigen Leben und der Einhal-
tung der Menschenrechte. Der Friede macht nur Sinn,
wenn die Menschen auch Freiheit haben.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Was soll das jetzt?)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1500405600

Herr Kollege Pflüger, jetzt haben Sie weit überzogen.

Ich bitte Sie, zum Ende zu kommen.


Dr. Friedbert Pflüger (CDU):
Rede ID: ID1500405700

Uns für die Freiheit und für den Frieden einzusetzen,

darauf kommt es an. Dem fühlen wir uns als Union ver-
pflichtet.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Vielen Dank für die Bestätigung!)



(A)



(B)



(C)



(D)


118


(A)



(B)



(C)



(D)







Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1500405800

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Reinhold Robbe.


Reinhold Robbe (SPD):
Rede ID: ID1500405900

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Ich will nicht auf all die Stichworte
eingehen, die unmittelbar mit dem im Zusammenhang
standen, was sich im Wahlkampf abgespielt hat. Aber eine
Bemerkung, sehr verehrter Herr Kollege Pflüger, sei mir
doch erlaubt. Ich glaube, bei all dem, was, auch hier in
diesem Hohen Hause und in dieser Debatte, an Über-
treibungen hingenommen werden kann, darf eines nicht
hingenommen werden: dass – Sie haben das mehr oder
weniger direkt zum Ausdruck gebracht – diesem Verteidi-
gungsminister und dieser Bundesregierung ein unsolida-
risches Verhalten gegenüber unserem wichtigsten Bünd-
nispartner, den Vereinigten Staaten von Amerika,
unterstellt wird.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Deswegen erscheint es mir, bei allem Verständnis auch für
Aufgeregtheiten, angemessen und erforderlich, das an
dieser Stelle zurückzuweisen.

Erst vor wenigen Wochen konnten wir alle zusammen
hier in Berlin den zwölften Jahrestag der Wiedervereini-
gung feiern. Der 3. Oktober steht aber nicht nur als sym-
bolisches Datum für den Fall der Mauer und für die fried-
liche Revolution in der damaligen DDR. Der 3. Oktober
steht auch für den Zusammenbruch des kommunistischen
Ostblocks und für eine vollkommen veränderte sicher-
heitspolitische Lage in der Welt. Vor zwölf Jahren hat
niemand in diesem Hohen Hause und in unserem Land
auch nur andeutungsweise ahnen können, mit welchen
Krisenherden wir es heute zu tun haben. Weder die Bür-
gerkriege im ehemaligen Jugoslawien noch der schlimms-
te Terroranschlag in der Nachkriegsgeschichte am
11. September vergangenen Jahres mit all den Folgen wa-
ren vor zwölf Jahren absehbar. Wenn man sich einmal vor
Augen führt, welche Konsequenzen in der Sicherheitspo-
litik die Krisenherde bei uns und unseren Bündnispart-
nern hatten, stellt man fest, dass wir es heute nicht nur mit
ganz neuen politischen und militärischen Sichtweisen zu
tun haben. Nein, ich wage zu behaupten, dass im öffentli-
chen Bewusstsein noch gar nicht richtig realisiert wurde,
dass wir in Deutschland aufgrund der neuen Verantwor-
tung einen regelrechten Quantensprung in der Sicher-
heitspolitik vollzogen haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nichts ist mehr so, wie es war. Deutschland hat sich
von der reinen Landesverteidigung verabschiedet und
internationale Verantwortung übernommen. Die Welt
ist enger zusammengewachsen. Die internationalen Er-
wartungshaltungen gegenüber Deutschland sind gewach-
sen. Heute befinden wir uns auf einem Weg, von dem zur-
zeit noch niemand genau weiß, wie er mittelfristig und
langfristig exakt verlaufen wird.

Aber eines steht trotz unvermeidlicher Differenzen im
Detail und trotz gewisser tagespolitischer Aufgeregthei-

ten unumstößlich fest: Wir sind ein verlässlicher und so-
lidarischer Partner in Europa und in der Welt. Unsere
Außen- und Sicherheitspolitik ist aktive Friedenspolitik.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir stehen zu unseren Bündnisverpflichtungen und im
Zweifelsfalle immer auf der Seite derer, die von Vertrei-
bung, Verfolgung oder Schlimmerem bedroht werden.

Hierbei verkennen wir nicht die Grenzen unserer Mög-
lichkeiten, die sich naturgemäß auch an unseren verfas-
sungsrechtlichen Auflagen und an den militärischen
Fähigkeiten unserer Bundeswehr festmachen. Dazu hat
sich der Verteidigungsminister heute und auch in der Ver-
gangenheit umfassend geäußert, ein Verteidigungsminis-
ter im Übrigen – dieser Hinweis sei mir an dieser Stelle
erlaubt –, der seinen Job ausgesprochen gut macht, kom-
petent, führungsstark, umsichtig und sensibel.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die konsequente Fortsetzung des eingeschlagenen Re-
formweges für die Bundeswehr ist Grundvoraussetzung
für die außen- und sicherheitspolitische Handlungsfähig-
keit Deutschlands. Die außerordentlich komplizierte und
schwierige internationale Lage lässt auf absehbare Zeit
keine Entlastung für das deutsche Engagement und die
Einsätze der Bundeswehr erwarten. Die Anforderungen
an Deutschland und seine Streitkräfte sind und bleiben
hoch. Wir haben eine Pflicht zur Solidarität, zur Wahr-
nehmung von Verantwortung und zur Unterstützung de-
rer, die auf uns bauen.

Mit jedem Fortschritt bei der Umsetzung der Reform
der Bundeswehr werden wir besser in der Lage sein, das
zu leisten, was von ihr in Deutschland, in der NATO, in
der Europäischen Union, in den Vereinten Nationen und
seitens unserer Partner und Freunde in aller Welt zu Recht
erwartet wird, nämlich deutsche Politik für Frieden und
Sicherheit wirksam und mit allen zur Verfügung stehen-
den Mitteln zu unterstützen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Die aktuelle sicherheitspolitische Agenda steht weiter-
hin stark im Zeichen des Kampfes gegen den internatio-
nalen Terrorismus; verschiedene Redner sind in dieser
Debatte schon ausführlich darauf eingegangen. Der
schreckliche Anschlag in Moskau hat uns dies erneut
mehr als deutlich vor Augen geführt. Auch die Lage im
Nahen Osten und in anderen Krisenherden dieser Welt ist
alles andere als hoffnungsvoll. Der Prozess der Anpas-
sung der Außen- und Sicherheitspolitik an diese neue Ge-
fährdungslage ist noch lange nicht abgeschlossen. Für die
Bundeswehr bedeutet die vielfältige Beteiligung an En-
during Freedom und ihre Schlüsselrolle bei dem ISAF-
Auftrag – zusammen sind hier übrigens über 2 700 Sol-
daten im Einsatz – eine große Herausforderung und bringt
ganz neue Belastungen mit sich.

Die Stabilisierung Südosteuropas bleibt ein Schwer-
punkt der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Deshalb
ist die Bundeswehr in Bosnien-Herzegowina, im Kosovo




Reinhold Robbe
und in Mazedonien auch weiterhin gefordert, und zwar
wahrscheinlich noch über viele Jahre hinweg. Meine Da-
men und Herren, hinzuweisen ist aber auch auf die Tatsa-
che, dass die Bundeswehr bei ihren Einsätzen im Ausland
an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit und Belast-
barkeit gestoßen ist. Deutschland stellt weltweit nach den
USA das größte Truppenkontingent für internationale
Einsätze, noch weit vor England und Frankreich. Der
Bundeskanzler hat heute Morgen übrigens sehr deutlich
darauf hingewiesen. Noch 1998 haben wir 178 Millionen
Euro hierfür aufgewendet, jetzt im Jahre 2002 sind es be-
reits mehr als 1,7 Milliarden Euro. All dies muss in der ak-
tuellen innenpolitischen Diskussion und bei der Konsulta-
tion mit unseren Partnern eine Rolle spielen. Wenn die
Beziehungen zwischen der NATO und der Europäischen
Union auch institutionell endgültig ausgestaltet sind, wird
dies die europäische Handlungsfähigkeit erheblich stärken.

Auch bei uns in Deutschland hat der 11. September
2001 die Anpassung unserer Sicherheits- und Friedenspo-
litik an die veränderten Bedingungen beschleunigt. Als
diese Regierung im September 1998 Verantwortung über-
nahm, war die Bundeswehr mit rund 2 800 Soldaten in
Bosnien und in Georgien engagiert, um den Frieden zu si-
chern. Inzwischen sind es rund 10 000 Soldaten, die die
Bundeswehr für multinationale Einsätze stellt. So sind
deutsche Soldaten als Teil von ISAF in Afghanistan und
darüber hinaus in vielfältiger Weise innerhalb und außer-
halb Europas militärisch im Kampf gegen den Terror en-
gagiert. Die Bundeswehr ist hierdurch mehr denn je zu ei-
ner Armee im Einsatz geworden. Sie steht dabei im Dienst
einer deutschen Politik für Frieden und Sicherheit, die
umfassend angelegt und konsequent auf Interessenaus-
gleich und Zusammenarbeit im europäischen, transatlan-
tischen und globalen Rahmen ausgerichtet ist.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir müssen
uns, wie dies Bundeskanzler Gerhard Schröder am
11. Oktober vergangenen Jahres im Bundestag erklärt hat,
in neuer Weise der internationalen Verantwortung stellen.
Der deutsche Beitrag muss hierbei aber an unseren politi-
schen und militärischen Möglichkeiten gemessen werden.
Die Einsätze der Bundeswehr haben trotz der hohen Pro-
fessionalität unserer Soldaten und Soldatinnen und trotz
der großen Anerkennung bestätigt: Die Bundeswehr ver-
fügt noch nicht über alle erforderlichen und angemesse-
nen Fähigkeiten für das gesamte neue Aufgabenspektrum.
Der Wandel zu einer Armee im Einsatz muss in den
nächsten vier Jahren weiter mit Nachdruck vorangetrie-
ben werden. Die laufende Reform ist der Schlüssel dazu.
Die Reform ist deshalb auf gutem Wege, weil sich die
Menschen in der Bundeswehr ihre Ziele und Inhalte zu Ei-
gen gemacht haben.

Ich glaube, meine sehr verehrten Damen und Herren,
es ist heute auch ein geeigneter Anlass, um gerade den
Soldatinnen und Soldaten ganz herzlich zu danken.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Vor diesem Hintergrund – ich komme sofort zum Schluss,
Frau Präsidentin – muss uns, wie ich glaube, um die Si-
cherheit unserer Grenzen, um die internationalen Ver-
pflichtungen Deutschlands gegenüber unseren Partnern

und auch um die Zukunftsfähigkeit der deutschen Bun-
deswehr nicht bange sein.

In diesem Sinne bedanke ich mich. Ich freue mich auf
meine neue Aufgabe als Vorsitzender des Fachausschusses.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1500406000

Das Wort hat jetzt die Frau Bundesministerin

Heidemarie Wieczorek-Zeul.

Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
dieser Legislaturperiode wollen wir die Entwicklungspo-
litik, wie wir dies in der letzten Legislaturperiode begon-
nen haben, zu einem zentralen Baustein für globale Zu-
kunfts- und Friedenssicherung weiterentwickeln.

Wir stehen unter dem Leitbild der gerechten Globali-
sierung und wir steigern die Mittel für die Entwicklungs-
finanzierung; das hat der Bundeskanzler in seiner Rede
heute noch einmal deutlich gemacht. Als Zwischenziel
zur Verwirklichung des 0,7-Prozent-Ziels wollen wir bis
zum Jahr 2006 die 0,33-Prozent-Quote für die Entwick-
lungszusammenarbeit umsetzen und im Übrigen in den
internationalen Finanzinstitutionen andere Finanzie-
rungsinstrumente, wie Nutzungsentgelte oder auch Devi-
sentransaktionssteuern, prüfen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist schade, dass
sich manche der Debatte hier entziehen.


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Sagen Sie das Ihrer Fraktion!)


In dieser Diskussion ist immer wieder deutlich geworden,
wie wichtig eine verantwortliche Regierungsführung
auch mit Blick auf die Länder der so genannten Dritten
Welt, also auf die Entwicklungsländer, ist. Wir verlangen
von ihnen eine Beteiligung der Bevölkerung an Entschei-
dungen und wir verlangen von ihnen Rechtsstaatlichkeit.
Wir müssen aber auch dazu beitragen, dass die Kriterien,
die an die Entwicklungsländer angelegt werden, auch an
die internationalen Entscheidungsmechanismen ange-
legt werden. Hier gibt es noch viel zu tun.

Ich möchte Ihnen das sagen, was ich immer schon ge-
sagt habe: Der UN-Sicherheitsrat spiegelt keineswegs die
Verhältnisse wider, wie sie sich Ende des letzten Jahrhun-
derts und auch jetzt in der Welt entwickelt haben. Es gibt
noch viel zu reformieren und viele Notwendigkeiten für
eine bessere Repräsentanz.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


In der heutigen Diskussion – das möchte ich an dieser
Stelle auch ansprechen – ist viel von Amerika die Rede
gewesen. Ich möchte aber daran erinnern, dass Amerika


(A)



(B)



(C)



(D)


120


(A)



(B)



(C)



(D)






nicht nur aus dem Norden, sondern auch aus dem Süden
besteht. In den letzten Tagen gab es eine wichtige Ent-
scheidung. In Brasilien, dem zentralen Land in Latein-
amerika, ist ein neuer Präsident, Luiz Inácio da Silva, ge-
wählt worden. An dieser Stelle möchte ich ihm zu seiner
Wahl gratulieren


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


und ihm zusagen, dass wir die wirtschaftliche Zusam-
menarbeit und die Unterstützung seiner Politik fortsetzen
werden, so wie wir das gegenüber Brasilien bisher auch
getan haben.

Er hat besonders darauf hingewiesen, dass er die Ar-
mutsbekämpfung im eigenen Land in den Mittelpunkt
stellen wird. Der Erfolg des neuen brasilianischen Präsi-
denten kann von zentraler Bedeutung für ganz Latein-
amerika sein; denn in fast allen Ländern Lateinamerikas
gab es immer die Hoffnung und Erwartung, dass die Ver-
ankerung der Demokratie mit deutlichen wirtschaftlichen
und sozialen Fortschritten für die breite Masse der Bevöl-
kerung einhergehen werde. Gerade das ist für die Stabili-
sierung von Demokratie und auch für die Situation der
Armen wichtig. Deshalb ist es eine sehr wichtige Ent-
wicklung, die wir entsprechend fördern wollen.

Es ist schade, dass ich den Kollegen Pflüger jetzt nicht
entdecken kann. Er hat ja über die Frage gesprochen, wo
Ursachen für Terrorismus zu finden sind. An dieser
Stelle will ich sagen: Kofi Annan hat betont, wie wichtig
es ist – wir betonen es ebenfalls; es ist ein Schwerpunkt –,
dazu beizutragen, dass die Ziele der internationalen Ge-
meinschaft, die weltweite Armut bis zum Jahr 2015 dras-
tisch zu reduzieren und dafür zu sorgen, dass alle Kinder
die Chance haben, bis zum 14. Lebensjahr in die Schule
zu gehen, erreicht werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Das ist eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür, den
Koran-Schulen entgegenzuwirken und dazu beizutragen,
dass die Mädchen eine Chance haben. Dafür investieren
wir Finanzmittel. Ein besonderer Schwerpunkt wird daher
die Eröffnung des Zugangs von Kindern zu Bildung und
Ausbildung sein.

Ich möchte an dieser Stelle den Punkt aufgreifen, der
eine große Rolle gespielt hat. Es gibt weiterhin gewalt-
tätige Gruppierungen und terroristische Banden, die ab-
scheuliche Verbrechen verüben. Ich zitiere aber den ame-
rikanischen Politikwissenschaftler Benjamin Barber, der
in der sicherlich nicht des Linksradikalismus zu bezichti-
genden Zeitung „Welt am Sonntag“ kürzlich erklärt hat:
„Armut und Hoffnungslosigkeit schaffen eine Umgebung
für Terror.“ Seine Folgerung lautet:„Wir müssen die Welt
verändern und verbessern.“

Diese Aufgabe dürfen wir in der Diskussion über die
Frage, wo und wann Militär eingesetzt werden soll, nicht
vergessen. Ich bin erstaunt, dass diese Perspektive, über die
wir uns doch immer einig waren, in dieser Debatte fehlt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich habe während des Bundestagswahlkampfes viele
Diskussionen zur Irak-Frage geführt. Erstens. Ich ver-
bitte mir die Unterstellung, dabei sei Antiamerikanismus
praktiziert worden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zweitens. Die Leute, die da auf den Plätzen standen,
hatten keine antiamerikanischen Ressentiments, sondern
sie wollten dort stehen und sich engagieren, weil sie ein
Signal für Frieden und Prävention und gegen Krieg setzen
wollten. Das ist doch eine wunderbare Motivation, aus der
heraus sich Menschen engagieren. Das sollte hier nicht
diffamiert werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos])


Wir brauchen Investition in Prävention, nicht in
Krieg. Und ich habe die ganze Debatte über zugehört. Ich
bin doch erstaunt: Es wird wirklich mit doppelter Elle ge-
messen. Nordkorea hat eingestanden, Massenvernich-
tungswaffen entwickelt zu haben. Dieses schlimme, wi-
derwärtige Regime aus Altstalinisten hat mehrfach gegen
internationale Verträge und Verpflichtungen verstoßen.
Aber die USA wie auch die internationale Gemeinschaft
sind insgesamt der Auffassung, dass massiver politischer
und wirtschaftlicher Druck gegenüber Nordkorea not-
wendig ist, und engagieren sich für politische Lösungen.

Warum soll das mit Blick auf den Nahen Osten und den
Irak nicht möglich sein, um zu erreichen, dass die Waffen-
inspekteure ins Land gelassen werden und damit ein
Krieg verhindert werden kann? Diese Frage stellt sich
doch jeder. Wir müssen uns dafür engagieren, dass ein
Krieg verhindert wird. Hier wird immer nach Visionen ge-
fragt. Statt hoch gefährlicher Konzeptionen von „preem-
tive strike“,wie sie die US-Regierung ersinnt, sollte end-
lich die atomare Abrüstung auch von den Ländern
begonnen werden, die selber über Atomwaffen verfügen.
Das ist die richtige Konsequenz und Schlussfolgerung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Entwicklungszusammenarbeit in ihren vielen Berei-
chen ist eben Friedenspolitik. Sie legt eine erweiterte Si-
cherheitspolitik zugrunde. Ich nenne nur stichwortartig
den Versuch, den Transfer von Kleinwaffen zu verhin-
dern, die Reform der Sicherheitssektoren von Entwick-
lungsländern, den Aufbau des Zivilen Friedensdienstes,
den wir deutlich aufstocken und ausweiten wollen. Das
macht deutlich, mit welcher Perspektive wir Entwick-
lungszusammenarbeit praktizieren.

Lassen Sie mich zum Schluss zwei Schritte in Richtung
auf eine gerechte Weltwirtschaftsordnung und für eine ge-
rechte Globalisierung nennen. Der eine Schritt ist die
Fortsetzung der Entschuldung. Mittlerweile gibt es im
Rahmen der Entschuldung der ärmsten Entwicklungslän-
der 26 Entwicklungsländer, die ihre Entscheidungen zur
Entschuldung erhalten und Entschuldungsentlastung er-
fahren haben. Aber von den Betroffenen haben bisher
ganze sechs Entwicklungsländer ihren endgültigen
Schlusspunkt zur vollen Entschuldung erhalten. Der Grund

Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul




Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul
liegt darin, dass sie durch die weltwirtschaftliche Ent-
wicklung doppelt bestraft werden: zum einen deshalb,
weil sie schon jetzt unter der weltwirtschaftlichen Ent-
wicklung leiden, und zum anderen, weil sie nicht im-
stande sind, den Programmen und Forderungen des IWF
zur Erreichung der makroökonomischen Stabilität nach-
zukommen. Damit diese Entwicklungsländer den Com-
pletion Point, den Schlusspunkt der Entschuldung wirk-
lich erreichen, treten wir dafür ein – das ist die Position
der Bundesregierung –, dass diesen Ländern gegenüber
flexibel reagiert wird und dass notfalls auch weitere fi-
nanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden, damit die
volle Entschuldung dieser Länder beschlossen und er-
reicht werden kann.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Zweitens. Das konkrete Ziel, das wir mit anderen Part-
nern in dieser Legislaturperiode erreichen wollen, ist das
Insolvenzverfahren für hoch verschuldete Staaten, zu-
mal Entwicklungsländer. Das ist ein Vorschlag, der von
Anne Krueger vom Internationalen Währungsfonds und
übrigens auch von vielen Nichtregierungsorganisationen
stammt.

Ich möchte an dieser Stelle begründen, warum es sich da-
bei um eine wichtige Entscheidung im Interesse der Ent-
wicklungsländer handelt. Zum einen kann durch die diszi-
plinierende Wirkung eines solchen Insolvenzverfahrens
dazu beigetragen werden, dass kein Schuldenüberhang ent-
steht. Zum anderen würde die Mehrheitsentscheidung der
Gläubiger im Rahmen eines Insolvenzverfahrens verhin-
dern, dass einzelne Gläubiger ein Umschuldungsverfahren
blockieren können. Das klingt zwar einfach, aber das Sich-
Hinziehen von Umschuldungsverhandlungen mit Ent-
wicklungsländern bedeutet in vielen Fällen die Agonie der
wirtschaftlichen Entwicklung zulasten der armen Bevölke-
rungsschichten. Deshalb ist ein Insolvenzverfahren auch ein
Schritt, um zu verhindern, dass sich die enormen sozialen
Kosten von Finanzkrisen in den Entwicklungsländern auf
diese Art und Weise auswirken. Es ist ein Schritt zur Ver-
besserung der Situation der betreffenden Länder.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum
Schluss. Der Bundeskanzler hat es heute Morgen bereits
angesprochen: Angesichts all der Aufgaben sind wir, jen-
seits von einzelnen Problemen und einzelnen unter-
schiedlichen Auffassungen, sicherlich einer Meinung,
dass ein Engagement in diese Richtung notwendig ist,
wenn wir in Zukunft eine gerechte und friedliche Welt
verwirklichen wollen. Ich bitte alle um Zusammenarbeit
und biete ausdrücklich – wie wir es schon immer getan ha-
ben – die weitere Zusammenarbeit im Rahmen der Ent-
wicklungspartnerschaft mit der Wirtschaft an. Derzeit
gibt es bereits 800 solcher Initiativen; diese Zahl wollen
wir noch erhöhen. Ich biete aber auch die Zusammenar-
beit mit den Kirchen, den Nichtregierungsorganisationen,
den Gewerkschaften und selbstverständlich mit allen
Fraktionen dieses Hohen Hauses an.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1500406100

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian Ruck.


(Zuruf von der CDU/CSU: Ein Ruck geht durch Deutschland!)



Dr. Christian Ruck (CSU):
Rede ID: ID1500406200

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich

möchte mit dem beginnen, mit dem die Ministerin aufge-
hört hat, nämlich damit, worin wir uns einig sind. Auch
für die Union ist die Entwicklungspolitik ein zentrales
Element zur Bewältigung weltweiter Zukunftsaufgaben.
Sie ist ein entscheidendes Medium, um eine internationale
Ordnungspolitik, die wirklich nachhaltig und zukunfts-
fähig ist, und weltweit menschenwürdige Lebensbedin-
gungen durchzusetzen und um den weltweiten Schutz
und die Wahrung der natürlichen Lebensgrundlagen zu
sichern.

Es trifft in der Tat zu, dass die Globalisierung auch für
die Entwicklungsländer sowohl Chancen als auch Risiken
mit sich bringt. Es ist nicht zu übersehen, dass viele Län-
der in diesem Zusammenhang große Schwierigkeiten ha-
ben, ihre wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen
Herausforderungen adäquat anzunehmen.

Wir müssen auch erkennen, dass diese Probleme in
der Tat auf uns durchschlagen. Spätestens die Terroran-
schläge vom 11. September und die anschließende Aus-
einandersetzung mit dem internationalen Terrorismus ha-
ben gezeigt, dass Sicherheit, Wachstum und Wohlstand
auch bei uns letztlich davon abhängen, welche Perspek-
tiven die Menschen in ärmeren Ländern des Ostens und
des Südens für sich und ihre Zukunft sehen.

Deshalb wird das, was wir vor Jahrzehnten in Deutsch-
land als Entwicklungshilfe karitativ und bescheiden be-
gonnen haben, zu einer immer wichtiger werdenden Zu-
kunftsaufgabe für unser eigenes Land sowie für unsere
Kinder und Enkel: eine Politik der wirtschaftlichen Zu-
sammenarbeit und Entwicklung zur Abwehr von Gefah-
ren, zur Eindämmung sozialer Zeitbomben und zur welt-
weiten Gestaltung von Strukturen, die Stabilität, Frieden
und Prosperität weltweit sichern können. Wir brauchen
deshalb auf nationaler wie auf internationaler Ebene – ich
möchte jetzt gar nicht so sehr von der Rolle sprechen, die
die Vereinigten Staaten hier und da spielen, sondern von
den Hausaufgaben, die Sie hätten machen müssen – eine
koordinierte, effiziente und kohärente Entwicklungspoli-
tik. Davon sind wir leider nach vier Jahren Rot-Grün wei-
ter denn je entfernt.


(Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stimmt doch gar nicht!)


Frau Ministerin, Ihr Optimismus in allen Ehren, aber in
Wahrheit ist aus dem Aufwärtstrend zum Beispiel im
Haushalt des BMZ nichts geworden. Im Gegenteil: Im
Jahr 2002 steht Ihr Haushalt wesentlich ärmer da als 1998.
Daran wird sich auch im nächsten Jahr nichts ändern;
denn im Vergleich zu 2002 wurde Ihr Haushalt für 2003
erneut um 51 Millionen Euro abgespeckt. Die Durch-
führungsorganisationen der Entwicklungspolitik bekla-


(A)



(B)



(C)



(D)


122


(A)



(B)



(C)



(D)






gen ja inzwischen ganz unverhohlen, dass ihnen die
Handlungsunfähigkeit drohe. Die finanzielle Misere wird
noch durch den von Ihnen verschuldeten Trend verschärft,
mehr Geld aus dem nationalen in den internationalen Ver-
fügungsbereich und hin zu den multilateralen Entwick-
lungsorganisationen zu verlagern. Das sind oft Institutio-
nen, die nicht gerade durch Koordinationsbereitschaft und
Effizienz glänzen. Um es auf den Punkt zu bringen:
Deutschland ist zwar finanziell nach wie vor ein Riese,
wird aber im Einflussbereich immer mehr zu einem
Zwerg. Das ist leider auch für die EU und die Weltbank
eine traurige Entwicklung.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir kritisieren auch, dass Sie trotz zurückgehender

Haushaltsmittel praktisch auf jede neue Initiative auf-
springen und jeden neuen Sondertopf im internationalen
Bereich unterstützen. Wir kritisieren dabei nicht, dass Sie
dafür sorgen, dass sich Deutschland an Programmen zur
Bekämpfung der Armut, an Kaukasus- und Afrika-Initia-
tiven oder an Programmen zur Bekämpfung von Aids be-
teiligt. Wir kritisieren vielmehr, dass Sie zur Verzettelung
der deutschen Entwicklungspolitik beitragen, dass
Sie ihr damit die Schlagkraft nehmen, dass Sie dem eige-
nen Ministerium die Koordinations- und Führungsrolle
immer schwerer machen und dass Sie Etikettenschwindel
betreiben; denn alle groß angekündigten Aktionen sind
entweder wie die Schuldeninitiative in Wirklichkeit
stecken geblieben oder wie die Kaukasus-Initiative völlig
unterfinanziert, oder stehen nur auf dem Papier.

Vor eineinhalb Jahren haben Sie zum Beispiel einen
Plan zur Umsetzung des Armutsbekämpfungsprogramms
angekündigt. Auf den warten wir bis heute. Die negative
Folge ist, dass Sie für die Entwicklungspolitik unerfüll-
bare Erwartungen wecken, dass Sie Enttäuschungen pro-
vozieren und dass Sie die tatsächlich möglichen Erfolge
im Sand verlaufen lassen. Es wundert daher niemanden,
dass die jüngste Überprüfung der deutschen Entwick-
lungspolitik durch die OECD zu einem ernüchternden
Ergebnis kommt: verkrustet, veraltet und unflexibel.
Erfolge in der Entwicklungspolitik erreicht man eben
nicht nur durch Show und Medienwirksamkeit, sondern
vor allem durch eine klare und langfristig angelegte Linie,
eine klare Kompetenzverteilung und eine konsequente
Arbeit inklusive der Bündelung der Kräfte.

Einer der größten Schwachpunkte der Entwicklungs-
politik der rot-grünen Bundesregierung war das Desinte-
resse des deutschen Außenministers an entwicklungspoli-
tischen Fragen wie auch an denen der internationalen
Umweltpolitik. Wenn die Entwicklungspolitik nicht die
Rückendeckung der Außenpolitik hat, dann ist sie zum
Scheitern verurteilt,


(Beifall bei der CDU/CSU)

wenn man zum Beispiel nur an die Forderung des ganzen
Hauses denkt, die Verantwortung der Entwicklungsländer
für ihre eigene Entwicklung einzufordern. Die Union bie-
tet der Regierungskoalition auch auf diesem Gebiet eine
kritische, aber konstruktive Begleitung an, vor allem
wenn es darum geht, die Effizienz zu steigern und erfolg-
reich Schwerpunkte zu setzen.

Das gilt für den Bereich der Gefahrenabwehr genauso
wie für die zentrale Aufgabe einer langfristig angelegten
weltweiten Politik der Zukunftssicherung. Das heißt vor
allem, die Globalisierung in vernünftige Bahnen zu len-
ken, sodass sie auch zum Positiven für Entwicklungs- und
Schwellenländer ausfällt. Es bedeutet für uns gerade auch
den Einsatz für die internationale soziale Marktwirt-
schaft.Dieses Eintreten muss man wirklich mit Leben er-
füllen, zum Beispiel mit sozialen und ökologischen Min-
deststandards in den WTO-Runden, durch die Stärkung
von Bildung und Ausbildung und durch das Eintreten und
die Unterstützung beim Aufbau handlungsfähiger staat-
licher Strukturen, aber auch – das wirkt beim wirklichen
Angehen von tief greifenden Reformen – in der interna-
tionalen Szene.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1500406300

Herr Kollege Ruck, achten Sie bitte auf die Zeit.


Dr. Christian Ruck (CSU):
Rede ID: ID1500406400

Jawohl. Es bedeutet außerdem eine wesentlich stärkere

Unterstützung der Entwicklungspolitik durch die Außen-
politik und den Bundeskanzler.

Wir werden die Grundzüge unserer Politik für wirt-
schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in den
Debatten des Hauses einbringen und dabei auch die bis-
herigen Positionen rot-grüner Politik auf den Prüfstand
stellen, –


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1500406500

Herr Kollege Ruck, Sie sind jetzt zwei Minuten über

die Zeit. Jetzt können Sie nicht mehr allzu viel sagen.


Dr. Christian Ruck (CSU):
Rede ID: ID1500406600

– aber nicht nur wohlfeile Erklärungen im Koalitions-

papier, sondern das, was Sie wirklich umsetzen.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1500406700

Das Wort hat jetzt die Frau Staatssekretärin Uschi Eid.

Dr
Ursula Eid-Simon (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1500406800


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Koalitionsvertrag schreibt das, was wir vor vier Jah-
ren in der Entwicklungspolitik begonnen haben, konse-
quent fort. Wir machen im Zeitalter der Globalisierung
Politik auf gleicher Augenhöhe mit den Entwicklungs-
ländern für mehr Gerechtigkeit in der Welt. Wir machen
eine Politik, die die Chancen zur Teilhabe am wirtschaft-
lichen, technischen, gesellschaftlichen und kulturellen
Fortschritt für alle Staaten verwirklichen will. Wenn ich
von Fortschritt spreche, meine ich immer auch den Fort-

Dr. Christian Ruck




Parl. Staatssekretärin Dr. Uschi Eid
schritt der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit; denn De-
mokratie erst garantiert die Teilhabe der Menschen und
Rechtsstaatlichkeit erst fördert den Schutz der Menschen-
rechte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir haben diese Politik auf den großen internationalen
Konferenzen der vergangenen Jahre erfolgreich vertreten.
Die Ziele Bekämpfung der Armut, gerechte Verteilung der
Süßwasserreserven, nachhaltige Entwicklung und Schutz
der Umwelt, gemeinschaftliche Finanzierung der großen
Entwicklungsaufgaben und gerechte Gestaltung des Welt-
handels sind gemeinsam mit den Entwicklungsländern er-
arbeitet und verhandelt worden. Sie wurden nicht erkauft
und nicht aufgezwungen. Deshalb sind sie so bedeutsam.
Sie spiegeln den Kompromiss unserer unterschiedlichen,
häufig sehr gegensätzlichen Interessen wider und sind
deshalb für alle Seiten bindend.

Ich muss in aller Klarheit auch sagen: Unsere Interes-
sen sind nicht immer identisch mit den Interessen der
Entwicklungsländer. Ich möchte hier nur an die Weige-
rung vieler Entwicklungsländer in Johannesburg erinnern,
eine Energiewende mit dem Ziel der Ausweitung erneu-
erbarer Energien global einzuläuten. Auch die Interessen
der Entwicklungsländer untereinander sind nicht immer
gleich und deswegen liegt es in der Natur der Sache, dass
wir nicht grundsätzlich die Interessenvertreter der Ent-
wicklungsländer sind.

Das heißt aber: Wir wollen sie in die Lage versetzen,
ihre Interessen selbst formulieren und auch umsetzen zu
können. Denn nur wenn diese Staaten selbst Verantwor-
tung übernehmen, werden wir gemeinsame, nachhaltig
wirksame Entwicklungsziele auch erreichen. Deshalb in-
vestieren wir in der Entwicklungskooperation in ihre
Fähigkeiten, bei internationalen Verhandlungen ihre
wichtige Rolle zu spielen. Deshalb investieren wir in ihre
Fähigkeiten, ihre inneren wie zwischenstaatlichen oder
regionalen Konflikte mit friedlichen Mitteln beizulegen.
Deshalb unterstützen wir ihre Bestrebungen zur regiona-
len Integration und deshalb fördern wir ihre Potenziale
zur Integration in den Weltmarkt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, gemeinsame Ziele
haben und Politik auf gleicher Augenhöhe machen, das
heißt auch, anzuerkennen, dass unsere Beziehungen bis-
lang nicht auf Chancengleichheit beruhen, dass Ent-
wicklungsländer auf der einen Seite große nationale Pro-
bleme mit schwachen Institutionen, geringem Vertrauen
in die eigene Wirtschaft, fehlender Rechtsstaatlichkeit,
Klientelismus und Korruption haben, andererseits aber
strukturell in den internationalen Beziehungen benachtei-
ligt sind und dass ihre Bestrebungen, Fortschritte zu er-
zielen, häufig durch Entscheidungen bei uns konterkariert
werden. Stichworte dazu sind zum Beispiel Agrarsubven-
tionen und Markthindernisse.

Unsere bisherige Regierungsarbeit und der neue Koali-
tionsvertrag beweisen: Wir sind uns dieser Ungleichheit
bewusst und wir werden weiter daran arbeiten, gerade

diese strukturellen Ungleichheiten abzubauen. Deshalb
werden wir Doha zu einer Entwicklungsrunde machen.
Den Marktzugang werden wir erleichtern. Wir werden die
Entschuldungspolitik vorantreiben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich sehe drei zentrale politische Herausforderungen für
die Zukunft. Wir werden diese zusammen mit den Ent-
wicklungsländern lösen, und zwar partnerschaftlich und
in vollem Respekt füreinander, um zu verhindern, dass es
in der Globalisierung zu einer gefährlichen Spaltung zwi-
schen Nord und Süd kommt. Ich kann diese Herausforde-
rungen aus Zeitgründen jetzt nur benennen – ich hätte sie
gern etwas ausgeführt und hätte auch gern dargelegt, was
wir zu tun gedenken –: erstens der fortschreitende Funda-
mentalismus, zweitens die Frage der Ressourcengerech-
tigkeit, also die Frage der gleichberechtigten Nutzung von
Ressourcen, und drittens die fortschreitende Umweltzer-
störung. Um diese Aufgaben in Angriff zu nehmen, ist
diese rot-grüne Regierung bestens gerüstet. Herr Ruck,
das wurde uns durch das DAC, den Entwicklungsaus-
schuss der OECD, auch international bescheinigt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, machen wir uns aber
keine Illusionen. Viele Entwicklungsländer haben andere
Prioritäten. Wir werden viel Überzeugungsarbeit leisten
und auch Nachteilsausgleiche schaffen müssen, um die
gerade skizzierten Ziele zu erreichen. Gelingen wird uns
das aber, wie ich bereits gesagt habe, nur mit einer Politik
auf gleicher Augenhöhe, also in echter Partnerschaft. Da-
bei haben wir uns in den vergangenen vier Jahren viel Ver-
trauen bei den Entwicklungspartnern erworben. Das ist
unser Kapital für die kommenden vier Jahre und dieses
Kapital werden wir nutzen, damit mehr Menschen in den
Entwicklungsländern in Afrika, Asien und Lateinamerika
bessere Chancen bekommen und in Würde leben können.

Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1500406900

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Dr. Gesine Lötzsch.


Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1500407000

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Stellen

Sie sich vor, das Dubrowka-Theater stünde nicht in
Moskau, sondern in Bagdad. Stellen Sie sich vor, Kurden
hätten 700 Geiseln genommen und mit dem Tod der Gei-
seln gedroht, wenn nicht endlich die Verfolgung von Kur-
den beendet werden würde. Stellen Sie sich vor, Saddam
Hussein hätte Nervengas in das Theater geleitet, um die
Geiselnehmer unschädlich zu machen. Wie lange hätte es
Ihrer Meinung nach gedauert, bis der amerikanische Prä-
sident seinen Krieg begonnen hätte? Tage? Stunden?

Warum dürfen bestimmte Staaten Nervengas produzie-
ren und andere nicht? Die Antwort ist einfach. Man ist der
Meinung, dass in den so genannten zivilisierten Staaten
der Einsatz von Massenvernichtungswaffen faktisch
nicht möglich ist – einmal weil die demokratischen Gre-


(A)



(B)



(C)



(D)


124


(A)



(B)



(C)



(D)






mien eine solche Entscheidung nicht mittragen würden
und zum anderen weil die Hemmschwelle in den so ge-
nannten zivilisierten Staaten für einen Einsatz von Gas
viel zu hoch wäre. Den Einsatz von Nervengas traut man
nur unberechenbaren Diktatoren wie Saddam Hussein zu,
der ja bekanntlich mit Gas unschuldige Kinder und
Frauen getötet hat.

Doch nun haben wir eine neue Situation. Es gibt Men-
schen, die nur noch Terroristen genannt werden. Sie leben
auf der ganzen Welt und haben angeblich ein gigantisches
Netzwerk gebildet. Doch die Tschetschenen brauchen
kein internationales Netzwerk, um zu sehen, dass ihr Land
in Trümmer gelegt wird, und die Palästinenser brauchen
kein internationales Netzwerk, um zu sehen, dass ihr
Recht auf einen eigenen Staat mit Füßen getreten wird.

Offensichtlich hat die Allmacht einiger weniger Staa-
ten zur Ohnmacht bei vielen Menschen in der ganzen Welt
geführt. Die Zahl derjenigen, die sich gegen die Allmacht
gewaltsam zur Wehr setzen, nimmt zu und das ist eine
reale Gefahr für uns alle. Die betroffenen Staaten reagie-
ren mit Stärke und jeder Staat hat jetzt offensichtlich das
Recht, Menschen zu Terroristen zu erklären und damit
Völkerrecht sowie nationales Recht außer Kraft zu setzen.
Aber offensichtlich haben auch einige wenige Staaten das
Recht, andere Staaten als terroristisch zu bezeichnen und
damit einen Krieg zu rechtfertigen.

Der Bundeskanzler hat vor der Wahl versprochen, dass
Deutschland an einem Krieg gegen den Irak nicht teil-
nehmen wird. Er hat es heute in der Regierungserklärung
bekräftigt. Das wurde von vielen Menschen als mutig und
aufrichtig empfunden und dafür wurde der Bundeskanz-
ler auch im Osten gewählt. Aus dem Wahlversprechen ist
ein Wählerauftrag geworden.

Letzten Sonnabend demonstrierten viele Menschen auf
der ganzen Welt gegen einen drohenden Irak-Krieg. Al-
lein in Washington waren es 200 000 Menschen. Auch in
Berlin wurde demonstriert; allerdings waren es hier be-
deutend weniger Menschen. Die „Frankfurter Rund-
schau“ kommentierte das begrenzte Engagement in Ber-
lin mit dem Gefühl vieler Menschen, dass sie mit der
Friedensforderung bei der Bundesregierung offene Türen
einrennten.

Doch ist das wirklich so? Tut diese Bundesregierung
alles, um einen Krieg gegen den Irak zu verhindern?


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ja!)


Vor der Wahl, am 29. August, erklärte Verteidigungsminis-
ter Struck noch, dass er die Spürpanzer der Bundeswehr
aus Kuwait abziehen wolle. Letzte Woche war zu hören,
dass die deutschen Spürpanzer in Kuwait bleiben sollen.
Fängt die Bundesregierung etwa an, in dieser Frage zu
wackeln?


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Nein!)


Die Bundesregierung soll aus der Sicht der PDS nicht
nur nicht am Irak-Krieg teilnehmen, sondern sie soll auch
dazu beitragen, dass dieser Krieg erst gar nicht stattfindet.


(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos])


Einige Instrumente – das ist von meiner Kollegin Petra Pau
heute schon angesprochen worden – hat die Bundes-
regierung in der Hand. Offensichtlich wird das deutsche
Hoheitsgebiet von US-Streitkräften als Militärbasis ge-
nutzt, um die logistischen Vorbereitungen für einen Irak-
Krieg zu treffen. Doch dafür gibt es keine Rechtsgrundlage.

Ich bin der Auffassung, dass die Bundesregierung von
der US-Regierung Auskunft über ihre Aktivitäten vom
deutschen Territorium aus verlangen muss.


(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos])

Wenn sich herausstellen sollte, dass Deutschland als
Rollfeld für den Irak-Krieg dienen soll, dann muss die
Bundesregierung der US-Regierung die Nutzung dieser
Basen sowie die Überflugrechte verweigern, so wie es
übrigens der damalige Kanzlerkandidat Stoiber an einem
Tag im Wahlkampf gefordert hat, um es am nächsten Tag
sofort zu dementieren. Es ist notwendig, dass diese
Regierung beweist, dass deutsche Außenpolitik Friedens-
politik ist und dass sie alle Mittel dafür einsetzt, diesen
Beweis anzutreten.

Herzlichen Dank.

(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos] sowie des Abg. Florian Pronold [SPD])



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1500407100

Weitere Wortmeldungen liegen zu diesem Themen-

bereich nicht vor.
Wir kommen jetzt zu den Bereichen Innen, Recht und

Kultur. Das Wort zur Eröffnung der Debatte hat die Frau
Bundesministerin Zypries.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1500407200

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! In diesen Tagen jährt sich zum 40. Mal eine der großen
Bewährungsproben unserer Demokratie, die „Spiegel“-
Affäre. Es war, wie wir wissen, eine bestandene Probe, die
zu unserem demokratischen Selbstverständnis viel beige-
tragen hat. Damals, 1962, konnte ein Bundesminister
noch beschönigend sagen, die Verhaftung des „Spiegel“-
Redakteurs Conrad Ahlers sei halt „etwas außerhalb der
Legalität“ erfolgt. Heute nehmen wir – und gerade auch
diese Regierungskoalition – die Bindung der vollziehen-
den Gewalt an Gesetz und Recht und die Bindung der Ge-
setzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung sehr ernst.
Denn das Grundgesetz ist eine gute Verfassung, die sich
bewährt hat.

Zu den maßgeblichen Prinzipien dieser Verfassung
und zu den Fundamenten der lebendigen Demokratie
zählen die in der Menschenwürde wurzelnde Gleichheit
aller, die Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Freiheit
der Meinung und der Kunst, die Freiheit, sich zu versam-
meln und Vereinigungen zu bilden. Das Grundgesetz ist
dabei nicht wertneutral. Es ist auf den Wert der Men-
schenwürde und die daraus folgenden Grundsätze indivi-
dueller Selbstbestimmung und gleicher Freiheit gegrün-
det. Vermittelt dadurch schützt es auch die Autonomie der
verschiedenen Teile unserer Gesellschaft wie der Politik,
der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Kunst.

Dr. Gesine Lötzsch




Bundesministerin Brigitte Zypries

Hier geht es nicht nur um den rein technischen Bauplan
einer komplexen Gesellschaft, sondern vielmehr um ein
zukunftsfähiges Erfogsrezept: Durch diese Strukturen
insbesondere ermöglicht die Verfassung ein friedliches
Zusammenleben in Deutschland. Mir ist dieser Gedanke
ganz besonders wichtig, denn in Zukunft werden wir im-
mer mehr und immer verschiedenere Lebensstile, Über-
zeugungen, Religionen und Traditionen auf deutschem
Boden haben, die miteinander leben.

Dass dies friedlich geschieht, setzt eines voraus: die
Bereitschaft, andere so leben zu lassen, wie sie es für rich-
tig halten oder gewohnt sind, soweit sie dabei im Rahmen
der gesetzlichen Grenzen bleiben, versteht sich. Diese Be-
reitschaft muss allerdings nicht nur da sein, wenn einem
der Lebensstil des anderen egal ist; das ist keine Leistung.
Eine Leistung ist es erst dann, wenn einem die Verschie-
denheit nicht egal ist, wenn wir also Toleranz üben und
die Unterschiedlichkeit quasi ertragen müssen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Toleranz ist eine Frage der inneren Einstellung. Die
Rechtsordnung kann niemanden zur Toleranz zwingen,
sie kann aber den Boden dafür bereiten. Ein Beispiel: Das
vom Bundesverfassungsgericht als verfassungskonform
bestätigte Gesetz über die Einführung der eingetragenen
Lebenspartnerschaften ermöglicht den Partnern, rechts-
verbindlich füreinander einzustehen. Gleichzeitig stärkt
es aber auch die Toleranz in unserer Gesellschaft gegen-
über anderen Lebensformen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Diese Politik steht in der Tradition unseres Grundge-
setzes; denn das lässt die Gegensätze und die Vielfalt zu
und schützt sie grundrechtlich. Wer von Mehrheitsauffas-
sungen abweicht, muss keine Unterdrückung befürchten.
Es ist also auch nicht nötig, Gewalt zu ergreifen, um sei-
nen Vorstellungen entsprechend leben zu können. Das
Grundgesetz lehnt Gewalt deshalb ab. Unsere Verfassung
ist – in der Sprache unserer Zeit – ein echtes Antigewalt-
projekt. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes wussten
nach den bitteren Erfahrungen mit der Gewaltherrschaft
des Dritten Reiches: Freiheit im Leben miteinander ist die
beste Gewaltvorbeugung. Eine unserer wesentlichen Auf-
gaben wird es deshalb auch künftig sein, die Grundrechte
so wenig wie möglich zu beschneiden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Freilich: Es kann sich nicht auf seine Freiheit berufen,
wer anderen nicht ihre Freiheit gönnt. Gewaltanwendung
zur Durchsetzung der eigenen Vorstellungen oder Über-
zeugungen ist unter keinen Umständen rechtfertigungs-
fähig. Gewalt muss vom Staat – notfalls mit all seinen
Machtmitteln – unterbunden werden, zum Beispiel mit
der Umsetzung des Gewaltschutzgesetzes. Dieses Gesetz
stärkt die Rechte und die Stellung Schwächerer und ihren
Schutz vor Gewalt im familiären Nahbereich. Und es
wirkt: In Nordrhein-Westfalen hat die Polizei in knapp
fünf Monaten in mehr als 1 000 Fällen prügelnde Ehe-
männer der Wohnung verwiesen und ihnen die Rückkehr
verboten.

Meine Damen und Herren, wir müssen konstatieren,
dass auch in unserer Gesellschaft die Gewaltbereitschaft
wächst. Das ist eine große Bedrohung des von der Verfas-
sung angestrebten friedlichen Zusammenlebens. Dieser
Bedrohung müssen wir uns entschlossen stellen, und zwar
nicht erst, wenn der Gewaltausbruch bereits passiert ist,
sondern bereits deutlich vorher.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dies allerdings kann der Staat allein nicht leisten. Wir
brauchen im Elternhaus, in der Schule, in Vereinen und Ver-
bänden eine Erziehung zurToleranz. Junge Leute müssen
lernen, die Meinung anderer zu respektieren und sich im
Rahmen der demokratisch vorgesehenen Spielregeln mitei-
nander auseinander zu setzen. Sie müssen lernen, tolerant
zu sein und die Verschiedenheit zu akzeptieren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)


Nicht zuletzt deshalb hat die Bundesregierung das Bünd-
nis für Demokratie und Toleranz ins Leben gerufen und
deshalb werden wir das Deutsche Forum für Kriminal-
prävention noch stärker in seiner Arbeit unterstützen.

Was wir damit erreichen wollen, darf aber auch nicht
an anderer Stelle konterkariert werden. Deshalb wird die
Bundesregierung hart gegen Gewaltverherrlichungen, ge-
gen die Propagierung von Gewalt oder die Anleitung zu
Gewaltanwendungen vorgehen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das schließt Initiativen zur Änderung des Strafrechts ein.
Denn das Strafrecht als klares Zeichen für die Grenzen der
Gewalt ist auch und gerade dort wichtig, wo in der Ge-
sellschaft elementare Wertebindungen ihre Bindungskraft
verlieren. Wir müssen insbesondere auch die Strafvor-
schriften gegen sexuellen Missbrauch von Kindern, Ju-
gendlichen und widerstandsunfähigen Personen fortent-
wickeln. Auch durch die Strafandrohung in diesen Fällen
muss deutlich werden, dass solche Taten an den Men-
schen, die sich am wenigsten wehren können, zu den ab-
scheulichsten Verbrechen überhaupt gehören.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)


Wir werden deshalb unter anderem schon den Straf-
rahmen für die Grundtatbestände des sexuellen Miss-
brauchs von Kindern von Vergehen zu Verbrechen her-
aufstufen. Auch die psychische sexuelle Gewalt wird
nicht länger straflos bleiben. In Zukunft macht sich auch
derjenige in einem früheren Stadium als bisher strafbar,
der auf Kinder einwirkt, damit ein Kind sexuelle Hand-
lungen vornimmt. Auch die Wegseher und die Profiteure
sollen künftig nicht mehr ungeschoren davonkommen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)


Wer diese Taten nicht anzeigt, wer sie belohnt oder billigt,
wird sich in Zukunft vor dem Strafrichter wiederfinden.


(A)



(B)



(C)



(D)


126


(A)



(B)



(C)



(D)






Wir werden auch gegen jede Form der Verbreitung von
Kinderpornographie mit dem gesamten Arsenal der straf-
prozessualen Möglichkeiten vorgehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)


Insoweit steht auch der Katalog des § 100 a StPO auf dem
Prüfstand.

Gleich der erste Untertitel der Koalitionsvereinbarung
lautet nicht von ungefähr: Für ein wirtschaftlich starkes,
soziales und ökologisches Deutschland. Die Wirtschaft ist
im Justizministerium insoweit betroffen, als die dringend
gebotene Reform des Aktienrechtes dort angesiedelt ist.
Dabei geht es nicht etwa um technische Details, für die
sich dann nur die Buchprüfer begeistern können. Die Ver-
hinderung von falschen Bilanzen und der Anlegerschutz
allgemein bewahrt viele tausend Menschen vor dem Ver-
lust ihrer Ersparnisse und erhält Arbeitsplätze.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Deshalb liegt dieses Problem gerade uns Sozialdemokra-
ten besonders am Herzen.

Ganz klar gesagt: Bei allen Fragen, wie etwa der per-
sönlichen Haftung von Vorständen und Aufsichtsräten, geht
es darum, den guten Ruf der unzähligen redlichen Akteure
unserer Wirtschaft vor den schwarzen Schafen zu schützen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Gerade die spektakulären Bilanzskandale auf dem US-
amerikanischen Markt haben es uns drastisch vor Augen
geführt: Bereits einer oder wenige Chefmanager mit kri-
mineller Energie können das Vertrauen ganzer Märkte
zerstören.

Meine Vorgängerin im Amt, Frau Professor Dr. Herta
Däubler-Gmelin, hat die Lösung der Probleme auf der
Grundlage der Arbeiten einer hochkarätig besetzten
Kommission in Angriff genommen. Nicht nur bei diesem
Thema hat sie Zeichen gesetzt und wichtige rechtspoliti-
sche Vorhaben vorangebracht. Dafür möchte ich mich
auch an dieser Stelle bedanken.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich werde den Anlegerschutz weiter forcieren. Unser
Motto dabei wird sein: so schnell wie möglich, aber auch
so solide wie nötig. Viele wichtige Diskussionen werden
wir dabei zu berücksichtigen haben. Unter anderem hat
sich der Deutsche Juristentag im September in Berlin mit
diesen Fragen auseinander gesetzt und dazu einen um-
fangreichen Bericht veröffentlicht.

Wir werden in dieser Legislaturperiode auch das Zehn-
punkteprogramm zur Stärkung der Unternehmensinte-
grität und des Anlegerschutzes, das die letzte Bundesre-
gierung bereits beschlossen hat, umsetzen.

Ganz wichtig ist des Weiteren die Reform des Ver-
sicherungsvertragsgesetzes, das inzwischen bereits
130 Jahre alt ist. Dabei geht es unter anderem um die Be-
handlung von Gentests, um Überschussbeteiligungen in

der Lebensversicherung und um Altersrückstellungen in
der privaten Krankenversicherung.

Wir werden das Urheberrecht in der Informationsge-
sellschaft anpassen. Dabei muss die Vielfalt unserer Kul-
tur und der faire Umgang zwischen Urhebern und Ver-
wertern gewährleistet bleiben bzw. werden. Ich meine,
auch im Reich des Internet dürfen Autoren und andere
Künstler nicht dem Raubrittertum ausgeliefert werden.

Natürlich werden wir die Reform des Gesetzes gegen
den unlauteren Wettbewerb anfassen. Auch hier drängt
die Zeit. Wir wollen ein vollständig neues, schlankes und
faires Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb vorlegen,
das den redlichen Wettbewerber genauso schützt wie den
Verbraucher.

Meine Damen und Herren, ich bin zuversichtlich, dass
wir uns über die skizzierten allgemeinen Grundlagen re-
lativ schnell werden verständigen können. Über die kon-
kreten Konsequenzen, die sich in den nächsten vier Jah-
ren daraus ergeben, werden wir sicherlich nicht immer
einer Meinung sein. Insoweit freue ich mich auf eine sach-
liche und konstruktive Diskussion.


(Anhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Beifall bei der FDP)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1500407300

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Norbert

Röttgen.


Dr. Norbert Röttgen (CDU):
Rede ID: ID1500407400

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Sehr geehrte Frau Zypries, als rechtspolitischer
Sprecher der CDU/CSU-Fraktion möchte ich Ihnen
zunächst zu Ihrem neuen Amt gratulieren. Wir wünschen
Ihnen persönlich Glück in und Freude an diesem Amt.
Das möchte ich auch übertragen auf unseren Kollegen mit
dem neuen Amt, Herrn Alfred Hartenbach. Wir haben
– das muss ich gleich einschränkend hinzufügen – nicht
die Absicht, diese Freude wirklich aktiv zu fördern,


(Heiterkeit – Zuruf von der SPD: Das hätte uns auch gewundert!)


aber persönlich wollen wir Ihnen das gern gönnen.
Wir bieten Ihnen statt Freude eine faire Auseinander-

setzung an. Wir sind bereit zur Zusammenarbeit, zur Ge-
meinsamkeit dort, wo wir der Auffassung sind, dass die
Lösung von Problemen, die wir gemeinsam erkennen, der
Gemeinsamkeit bedarf.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zum Beispiel beim Volksentscheid!)


Auch das möchte ich gleich zu Beginn hier betonen.
Wir appellieren gleichzeitig an Sie – anderenfalls

würde eine schlechte Tradition der letzten vier Jahre fort-
gesetzt –, in der Rechtspolitik nicht nur Ihre Mehrheit zu
exekutieren, auf Mehrheit zu setzen, sondern gerade
auf dem Gebiet der Rechtspolitik der Auseinandersetzung
um das bessere Argument auch dann, wenn es von der

Bundesministerin Brigitte Zypries




Dr. Norbert Röttgen
Minderheit im Parlament kommt, nicht auszuweichen,
sich dieser Auseinandersetzung zu stellen.

Die rot-grüne Rechtspolitik der vergangenen Legisla-
turperiode hat mit der Proklamierung großer Projekte be-
gonnen und in Kraftlosigkeit geendet,


(Unruhe bei der SPD)

gemessen an Ihren eigenen Maßstäben, weil Sie Ihre ei-
genen Projekte nicht realisiert haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der SPD: Unglaublich!)


– Ich komme gleich noch darauf. – Diese Kraftlosigkeit
hat sich in dem Koalitionsvertrag fortgesetzt. Auch in Ih-
rer heutigen Antrittsrede habe ich keine Idee von Rechts-
politik gehört.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was? Sie haben am Anfang nicht zugehört!)


Es war eine Aufzählung einzelner Baustellen und die
Rede war in ihrer Allgemeinheit für mich enttäuschend.
Aber das Entscheidende ist, dass kein roter Faden, kein
rot-grüner Faden, keine Idee, keine Konzeption da war.


(Unruhe bei der SPD)

Jetzt sind Sie an der Macht, haben die Posten und ich frage
Sie, wozu Sie sie gebrauchen wollen, meine Damen und
Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir hätten erwartet, dass eine neue Ministerin mit einer
Eröffnungsbilanz startet. Das wäre auch Ihre Chance ge-
wesen, dass Sie all die Projekte, die liegen geblieben sind,
Ihre eigenen Projekte, bilanzieren.


(Zurufe von der SPD)

In der letzten Sitzungswoche der vergangenen Legislatur-
periode ist die Beratung des Rechtsanwaltsvergütungsge-
setzes vertagt worden. Die 120 000 Anwälte in diesem
Lande warten seit acht Jahren darauf.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Auch im Koalitionsvertrag jetzt findet sich dazu keine
Aussage. Es ist liegen geblieben, und auch jetzt hören wir
von Ihnen dazu keine Aussage.


(Zuruf von der SPD: Wer hat das denn behindert? – Hans Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das sagt der Rechtsanwalt!)


– Lassen Sie mich bitte ausreden. Es gehört zur Diskus-
sion, dass man auch zuhört.

Sie hätten heute die Chance gehabt, die Diskussion in
Ihrem Arbeitskreis „Kommunalfinanzen“ über den Vor-
schlag, alle Freiberufler – damit auch die selbstständigen
Anwälte – der Gewerbesteuer zu unterziehen, zu beenden.
Ich fordere Sie auf, klarzustellen, dass die rot-grüne Ko-
alition das nicht will. Wir lehnen die konkreten Vor-
schläge, die Freiberufler unter die Gewerbesteuer fallen
zu lassen, ab.


(Joachim Stünker [SPD]: Was wollen Sie denn?)


Liegen geblieben ist die Biopatent-Richtlinie. Die Um-
setzungsfrist ist abgelaufen. Die Bundesrepublik Deutsch-
land kommt der Pflicht, gesetzgeberisch tätig zu werden,
in einem wichtigen Bereich nicht nach, nämlich im Be-
reich des Schutzes biotechnologischer Erfindungen, also
der Patentierbarkeit menschlicher Gene und menschlicher
Gensequenzen. Das ist eine Grundsatzfrage, weil es da-
rum geht, die ethischen Grenzen von freier Forschungs-
tätigkeit rechtlich festzulegen. Sie haben dieses Thema
nicht einmal erwähnt.

Sie haben auch nicht den Reparaturbedarf Ihrer eige-
nen Politik erwähnt. Wie ist denn die Wirkung der Zivil-
prozessreform, bei der wir das Schlimmste haben verhin-
dern können? Es gibt Überlastung und mehr
Bürokratisierung. Im Bereich des Schuldrechts gibt es al-
lemal Reparaturbedarf rot-grüner Rechtspolitik.


(Zuruf von der SPD: Wo denn da?)

Wir möchten diese Debatte nutzen – damit komme ich

zum entscheidenden Punkt –, um unsere Leitlinien von
Rechtspolitik darzustellen. Rechtspolitik darf sich nicht
verstehen als das Schräubchendrehen an irgendwelchen
Stellen. Sie muss vielmehr aus einem Guss sein.

Wir haben im Wesentlichen zwei Leitlinien, an denen
wir die Rechtspolitik messen, eine für den Bereich der Ge-
sellschaft und eine für den Bereich des Staates. In dem Be-
reich der Gesellschaft drückt sich unsere Leitlinie in der
Auffassung aus, dass das Recht Freiheit sichern soll. Das
ist die Aufgabe des Rechts in der Gesellschaft. Ich werde
gleich etwas dazu sagen, wie es um diesen Maßstab be-
stellt ist.

Im staatlichen Bereich geht es nach unserer Auffassung
um die Wiederherstellung staatlicher Entscheidungs-
fähigkeit, die die einzelnen Ebenen von der Gemeinde bis
zur Europäischen Union in unterschiedlicher Weise ver-
loren haben.

Was ist damit gemeint, dass das Recht die Freiheit si-
chern soll? Nach unserer Auffassung liegt das Problem
darin, dass der Anspruch des Rechts, Freiheit zu sichern,
unter einer doppelten Störung leidet. Einerseits haben wir
in vielen Lebensbereichen eine freiheitsbeschränkende
Überregulierung. Der Staat tut zu viel; er beschränkt die
Eigeninitiative und den Gemeinsinn der Bürger. Er er-
drosselt sozusagen die Freiheit. Andererseits gibt es eine
Inaktivität des Staates gerade in den Bereichen, wo die
Bürger überfordert sind und wo sie des staatlichen
Schutzes bedürfen. Dort handelt der Staat nicht.


(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Nennen Sie doch einmal Beispiele!)


– Ich komme dieser Aufforderung, Beispiele zu nennen,
sehr gerne nach.

Ich will zunächst ein Beispiel für die Überregulierung
nennen. Natürlich ist die Therapie Deregulierung. Das ist
nicht sehr originell, sondern die mangelhafte Deregulie-
rung ist die Beschreibung des Problems. Wir haben er-
wartet, dass Sie Vorschläge liefern. Wie wollen Sie des
permanenten und unbegrenzten Wachstums staatlicher
Regulierung Herr werden?


(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Beispiele!)



(A)



(B)



(C)



(D)


128


(A)



(B)



(C)



(D)






Wir schlagen vor – ich will dazu sagen, dass wir es nur
gemeinsam schaffen können –, dass es eine institutiona-
lisierte Gesetzesfolgenabschätzung im Gesetzgebungs-
verfahren gibt. Die Rubrik „Folgekosten“, unter der meist
„keine“ steht, reicht nicht aus. Wir plädieren ferner für
eine Befristung von Gesetzen. Warum soll ein Gesetz
immer für alle Ewigkeit wirksam sein?


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Warum soll man nicht nach beispielsweise drei Jahren ein
Gesetz unter dem Gesichtspunkt bewerten, ob es sich be-
währt hat?


(Zuruf von der SPD)

– Hören Sie einfach zu! Sie können nachher Ihre Vor-
schläge machen. Das ist doch viel sinnvoller.

Wir brauchen weiterhin eine Veränderung im Selbst-
verständnis des Bundesjustizministeriums und der Bun-
desjustizministerin. Wenn Sie sich als eine Justizministe-
rin verstehen sollten, die nur für die Justizpolitik im
engeren Sinne zuständig ist, dann werden wir dieses Pro-
blem der mangelhaften Deregulierung nicht in den Begriff
bekommen. Wenn Sie der Auffassung sind, dass Sie allein
für die Justizpolitik zuständig sind und dass Arbeitsrecht
im Arbeitsministerium, Familienrecht im Familienminis-
terium und Umweltrecht im Umweltministerium gemacht
wird, wenn Sie nicht verstehen, dass es die Aufgabe der
Rechtspolitik ist, sich um die Rechtsordnung als
Ganzes, um die Konsistenz der Regelungen und um die
Beschränkung der Rechtsmasse zu sorgen, dann werden
Sie an Ihrer Aufgabe scheitern.


(Zuruf von der SPD: Lassen Sie sie doch erst mal machen!)


Wir fordern Sie daher auf, Ihr Amt als eine Koordinie-
rungsstelle für die Gesetzgebung in den Ministerien und
nicht als eine periphere Tätigkeit zu verstehen. Diese
Rolle muss es geben!

Wenn Sie nach vier Jahren nicht nur auf die neuen Ge-
setze, die durch Rot-Grün verabschiedet worden sind,
stolz sind, sondern auch bilanzierend auflisten, welche
Gesetze Sie verhindert haben, dann werden Sie wahr-
scheinlich mit unserem Beifall rechnen können. Wir ha-
ben keinen Mangel an Gesetzen, sondern brauchen die
Beschränkung der gesetzgeberischen Tätigkeit.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

In anderen Bereichen haben wir das glatte Gegenteil:

gesetzgeberische Inaktivität. Es hat im Bundesjustizminis-
terium in den letzten vier Jahren einen Ausnahmebereich
im Hinblick auf gesetzgeberische Tätigkeit gegeben: Das
war die innere Sicherheit.


(Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/CSU]: Sehr wahr!)


Dort ist kategorisch nichts passiert. Dies betrifft die Mas-
senalltagskriminalität, etwa Graffiti – Eigentumsverlet-
zungen,


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo waren Sie denn?)


und beispielsweise die Jugendkriminalität. Über 30 Pro-
zent der Tatverdächtigen sind unter 21 Jahre alt.


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Waren Sie in den letzten vier Jahren auf Dienstreise, Herr Röttgen?)


Gleichzeitig haben wir ein mangelhaftes Jugendstraf-
recht, von dem einige Experten sagen, es sei verfas-
sungswidrig, wie wenig gemacht worden sei. Wir müssen
den Jugendlichen klar machen: Es gibt eine Grenze, wenn
sie kriminell werden. Darum halten wir es für falsch, in
der Praxis auf junge Erwachsene, auf 18- bis 21-Jährige,
regelmäßig das Jugendstrafrecht anzuwenden und nicht
das Erwachsenenstrafrecht.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Immer die alten Kamellen!)


Wir müssen die jungen Erwachsenen, auch wenn sie kri-
minell werden, ernst nehmen und ihnen sagen, wo die
Grenzen sind. Dies muss deutlich werden.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat etwas mit Reife zu tun, Herr Röttgen!)


Wir brauchen eine Umkehrung dieses Verhältnisses.
Aber dann müssen wir uns um die Jugendlichen auch
kümmern. Therapieangebote werden benötigt. Es ist Auf-
gabe des Staates, sich darum zu kümmern. Auch dort
kommen Sie Ihrer Aufgabe nicht nach. Es reicht nicht, all-
gemein zu reden. Hier ist konkrete Arbeit zu tun.

Ich komme zu den Bereichen Kronzeugenregelung und
nachträgliche Sicherungsverwahrung. Hier ist ein ekla-
tantes Versagen, eine Inaktivität der rot-grünen Bundesre-
gierung zu verzeichnen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Diese beiden Bereiche sind keine, von denen man sagen
kann, dass sie toll sind. Es sind keine Hurra-Themen, son-
dern Kompromissthemen.

Kronzeugenregelung heißt: Der individuelle Täter er-
hält nicht die volle Strafe, die ihm für sein Verbrechen ei-
gentlich gebührt. Es ist ein rechtsstaatlicher Kompromiss,
dass er ohne Strafe oder mit Strafmilderung ausgeht, weil er
andere Verbrechen verhindert oder zur Aufklärung anderer
Taten beiträgt. Auch Sie von der SPD wollen dies. Sie sind
aber eine politische Geisel Ihres grünen Koalitionspartners.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der SPD: Oh!)


Emanzipieren Sie sich! Machen Sie von der großen Mehr-
heit in diesem Haus Gebrauch! Wir bzw. 90 Prozent des
Hauses wollen die Kronzeugenregelung. Wegen Ihres
Partners kommt es nicht dazu.

Auch die von Ihnen benannten Experten im Rechtsaus-
schuss haben ausgeführt, dass wir die Kronzeugenregelung
brauchen, um in die Strukturen der organisierten Krimi-
nalität eindringen zu können. Reden Sie nicht nur allge-
mein von der Bekämpfung der organisierten Kriminalität!
Handeln Sie! Sie haben es vier Jahre lang nicht getan.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die gleiche Situation besteht beim Thema nachträg-

liche Sicherungsverwahrung. Ich sage es ganz ruhig,

Dr. Norbert Röttgen




Dr. Norbert Röttgen
obwohl hier meiner Meinung nach eine unerträgliche
Lücke im Schutzsystem des Staates besteht.


(Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Dann rücken Sie mal heraus!)


Wir reden über den Fall, dass ein Sexualstraftäter zwar we-
gen eines Verbrechens verurteilt worden ist, bei der Verur-
teilung aber nicht erkannt wurde, dass dieser Straftäter
krank ist, und sich die krankhafte Veranlagung dieses Tä-
ters erst während der Haft herausstellt. Während der Haft
sagen die Therapeuten also: Der Täter ist krank und auf-
grund seiner Krankheit gefährlich. – In diesem Fall besteht
bis auf den heutigen Tag keine strafrechtliche Möglichkeit,


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber kein Fall der Sicherungsverwahrung! Das hat nichts mit Sicherungsverwahrung zu tun! Maßregelvollzug!)


diesen Verbrecher in eine psychiatrische Klinik einzuwei-
sen. Die brutale Wahrheit in unserem Land ist, dass dieser
Täter erst noch einmal ein Verbrechen begehen muss, be-
vor es nach jetzigem Recht die Möglichkeit gibt, ihn ab-
zuurteilen und einzuweisen.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Quatsch! – Zuruf von der SPD: Unsinn!)


Sie leisten sich in diesem Bereich eine unerträgliche
Lücke. Sie muss geschlossen werden.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fragen Sie einmal die Herren von der FDP! Es ist Quatsch, was Sie erzählen!)


Es ist unverantwortlich, dies nicht zu tun.

(Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lieber Kollege, Sie haben im Studium nicht aufgepasst!)


Am unverantwortlichsten ist der Bundeskanzler. Jedes
Mal, wenn ein schlimmes Verbrechen geschieht, kommen
markige, martialische Worte: Wegschließen, und zwar für
immer! – Das ist die Terminologie Ihres Bundeskanzlers.
Das ist aus drei Gründen unverantwortlich: Erstens täuscht
er die Bevölkerung, indem er so tut, als ob der Staat etwas
unternimmt. In Wahrheit tut der Staat nichts. Zweitens ist
dies Stimmungsmache und kein rationales Verhalten. Drit-
tens gibt es auch eine Verantwortung gegenüber den Tätern.


(Zurufe von der SPD: Oh! – Hört! Hört!)

Auch Täter sind Menschen. Auch bei Tätern kann man
nicht von Wegschließen sprechen und ihnen keine Le-
bensperspektive geben. Wer Stimmung macht und gleich-
zeitig nichts tut, handelt unverantwortlich. An dieser
Stelle müssen Sie handeln!


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1500407500

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Abgeordneten Dr. Wiefelspütz?

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Röttgen (CDU):
Rede ID: ID1500407600

Sehr gern.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1500407700

Herr Wiefelspütz, Ihnen gratulieren wir auf diesem

Wege herzlich.


Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD):
Rede ID: ID1500407800

Herr Kollege, Sie sprachen gerade von Stimmungsma-

che, was ich bemerkenswert finde. Haben Sie eigentlich
zur Kenntnis genommen, dass Sie für Ihre Position hier
im Parlament nicht einmal ansatzweise in die Nähe einer
Mehrheit gekommen sind, dass Sie eine Minderheitsposi-
tion vertreten, und zwar nicht nur hier im Parlament, son-
dern auch im rechtswissenschaftlichen Bereich? Nehmen
Sie zur Kenntnis, dass die Kernthese vieler, die darüber
debattieren – die Literatur ist voll davon –, lautet: Die
äußerste Grenze dessen, was wir rechtsstaatlich machen
dürfen – darüber ist auch im Parlament sehr intensiv dis-
kutiert worden –, ist die vorbehaltene Sicherungsver-
wahrung, die wir, Rot-Grün, am Ende der letzten Wahl-
periode auf Initiative des Bundeskanzlers, der uns, wenn
Sie so wollen, einen Arbeitsauftrag erteilt hat, durchge-
setzt haben.

Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass es in der
Tat nicht um Stimmungsmache, sondern um eine sorgfäl-
tige Abwägung der widerstreitenden Interessen – und das
immer im Rahmen strikter Rechtsstaatlichkeit – geht?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – HansChristian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Röttgen, waren Sie bei der Anhörung anwesend?)



Dr. Norbert Röttgen (CDU):
Rede ID: ID1500407900

Ich bin bereit, die Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen.

Tatsache ist, dass wir für unsere Position in diesem Hause
keine Mehrheit haben. Das wird uns aber nicht davon ab-
bringen, dafür zu streiten und uns dafür einzusetzen, dass
diese Lücke zum Schutz von Kindern und Frauen ge-
schlossen wird.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir streiten für unsere Position in der Erwartung, eine
Mehrheit zu bekommen.

Ich nehme zur Kenntnis, dass diese Frage rechtswis-
senschaftlich – wie im Grunde fast alle Fragen – eine um-
strittene Frage ist. Hier gibt es keine Mehr- oder Minder-
heit. – Herr Kollege Wiefelspütz, ich beantworte noch
Ihre Frage; bitte bleiben Sie stehen. Die betroffenen
Richter – reden Sie einmal mit dem Richterbund – befür-
worten diese Maßnahme aus der tagtäglichen Erfahrung
in ganz großer Mehrheit.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie waren in der Anhörung nicht da! – Joachim Stünker [SPD]: Das ist doch gar nicht wahr!)


Die Praktiker befürworten sie in großer Mehrheit; viel-
leicht nehmen Sie sie nicht zur Kenntnis.


(A)



(B)



(C)



(D)


130


(A)



(B)



(C)



(D)






Nun eine letzte Bemerkung zu Ihrer Vorbehaltslösung.
Die Vorbehaltslösung, zu der Sie sich in letzter Sekunde
in der letzten Legislaturperiode bereit erklärt haben,


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Letzte Sekunde stimmt nicht!)


ist Ausdruck dafür, dass Sie es nicht mehr durchgehalten
haben, gar nichts zu tun und jede Aktivität zu verweigern.
Deshalb sind wir ganz guter Dinge, dass wir noch zu ei-
ner Lösung kommen werden. Die Vorbehaltslösung ist die
schlechteste Lösung von allen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie bietet erstens natürlich nicht die Möglichkeit der

Rückwirkung. Für Täter, die bereits einsitzen, wirkt diese
Lösung nicht. Hier gilt weiterhin das Gefährdungspoten-
zial, das Sie bestätigt haben, indem Sie etwas getan haben.
Sie sagen doch: Es muss diese Möglichkeit geben. Mit Ih-
rer Lösung schließen Sie diejenigen aus, die bereits ver-
urteilt worden sind. Dieses Risiko gehen Sie ganz offen-
sichtlich ein.

Ich halte es zweitens rechtsstaatlich – ich habe schon
die Grundrechte von Tätern angesprochen – und verfas-
sungsrechtlich für hoch problematisch, wenn der Staat ei-
nem Bürger sagt, du bist vielleicht krank, du bist vielleicht
gefährlich, du wirst vielleicht in eine psychiatrische Ein-
richtung eingewiesen, aber wir wissen es noch nicht. Re-
den Sie einmal mit den Praktikern in den Gerichten. Wie
soll der Richter den Vorbehalt handhaben? Er sagt, ich
habe keine Gewissheit darüber, dass er gefährlich ist, wie
soll ich denn eine Prognose machen? Das führt dann viel-
leicht zur Zurückhaltung und es kommt nicht zum Vorbe-
halt. Damit ist auch die Möglichkeit ausgeschlossen, die
Sicherungsverwahrung anzuordnen.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1500408000

Ich glaube, die Frage ist jetzt ausreichend beantwortet.

Herr Wiefelspütz, Sie können sich gern setzen.
Herr Röttgen, Sie haben mit der Beantwortung Ihre Re-

dezeit reichlich strecken können.


Dr. Norbert Röttgen (CDU):
Rede ID: ID1500408100

Nein, es gibt nur ein Instrument: Geben Sie Ihren poli-

tischen, auch koalitionspolitisch bedingten und dort zum
Teil ideologischen Widerstand auf! Tun Sie etwas für den
Schutz der Bevölkerung vor gefährlichen, krankhaften
Sexualstraftätern!


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich komme zu einer weiteren Leitlinie: die Wieder-

herstellung staatlicher Entscheidungsfähigkeit in un-
serem Land. Wir haben sie weitgehend eingebüßt. Ich
fange bei den Gemeinden an, die – egal ob rot, rot-grün-
oder CDU-geführt – finanziell ausgezehrt sind. Die Ge-
meinden in Deutschland haben nicht mehr die finanzielle
Basis, um ihre Aufgaben der gemeindlichen Selbstver-
waltung ausüben zu können. Darum brauchen wir eine
Gemeindefinanzreform, die aber nicht darin bestehen
kann, dass wir die Steuerlast erhöhen. Vielmehr müssen
wir über eine andere Verteilung des Rechts, Steuern zu er-
heben, reden. Dafür setzen wir uns ein.

Wir setzen uns für eine Reform des Föderalismus ein,
also der Kompetenzabgrenzung zwischen Bund und Län-
dern, die wir brauchen. Unser Föderalismus ist in schlechter
Verfassung. Nach unseren Vorstellungen sollen die Bundes-
länder Gestaltungsmacht zurückerhalten und Blockade-
macht abgeben. Wir brauchen neue Zuständigkeiten.


(Zurufe von der SPD: Stoiber!)

Die Erfahrungen mit dem Blockadeexzess, den Sie nach
dem Motto „zuerst das Parteiwohl, dann die Staatsräson“
betrieben haben,


(Widerspruch bei der SPD)

sprechen sicherlich auch für diese Reform.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Stichwort Zuwanderung!)


Auf Ihrer Seite hat es bewiesenermaßen die Bereitschaft
gegeben, den Föderalismus zu parteipolitischen Zwecken
zu missbrauchen.

Weil mir die Zeit wegläuft, komme ich zu einem letz-
ten Thema, der Europapolitik.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1500408200

Aber nur eine letzte Bemerkung!


Dr. Norbert Röttgen (CDU):
Rede ID: ID1500408300

Letzte Bemerkung: Die europäische Dimension des

Rechts ist in Ihrer Rede auch nicht vorgekommen. Des-
halb muss ich leider zu der Schlussfolgerung kommen,
dass diese Antrittsrede in ihrer Allgemeinheit enttäu-
schend war und die konkreten Probleme nicht angespro-
chen hat. Gott sei Dank gibt es aber eine christdemokrati-
sche und christsoziale Alternative. Die werden wir Ihnen
immer wieder vorhalten.


(Zuruf von der SPD: Die wird auch lange die Alternative bleiben!)


Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord neten der FDP)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1500408400

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Joachim

Hacker.


Hans-Joachim Hacker (SPD):
Rede ID: ID1500408500

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Herr Röttgen, Sie haben Ihre Rede mit schönen
Freundlichkeiten begonnen. Dies hat jedoch nicht lange
angehalten, sondern Sie glitten ab in eine platte Agitation.
Ich finde, das lässt für die nächsten vier Jahre, die vor uns
liegen, nichts Gutes ahnen. Ich hätte schon gedacht, dass
wir – auch im Rechtsausschuss – jetzt einen neuen Start
suchen, um dort in einer konstruktiven Art und Weise an
den Problemen zu arbeiten, die vor uns liegen,


(Zuruf von der SPD: Herr Röttgen ist das Problem!)


Dr. Norbert Röttgen




Hans-Joachim Hacker
statt in dieser populistischen Art und Weise miteinander
zu streiten.


(Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Warten Sie einmal, bis ich gesprochen habe!)


Ich glaube, Herr Röttgen, Sie haben den 22. September
noch nicht richtig verarbeitet. Daran können Sie noch ein
wenig arbeiten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dann können wir vielleicht auch hier im Plenum und im
Rechtsausschuss auf einer anderen Ebene arbeiten, sodass
am Ende auch etwas herauskommt.


(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Legen Sie los!)


Ich lade Sie dazu ein, Herr Röttgen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, hinter uns

liegt eine Legislaturperiode, für die Rot-Grün eine erfolg-
reiche Reformpolitik im Bereich der Innen- und Rechts-
politik vorweisen kann. Die SPD-Bundestagsfraktion will
diesen Weg gemeinsam mit Bündnis 90/Die Grünen wei-
tergehen und das werden wir auch tun.

Schreckliche Ereignisse und die Ausbreitung des in-
ternationalen Terrorismus, für den die Anschläge des
11. September 2001 stehen, haben auch auf die deutsche
Politik Auswirkungen gehabt. Die Bundesregierung und
die Koalitionsfraktionen haben gehandelt. Wir haben uns
den Herausforderungen gestellt und wir haben überlegt
gehandelt. Wir haben den Gruppierungen, von denen
Terror und Gewalt ausgehen, den Kampf angesagt und
gleichzeitig erklärt, dass – soweit es geht – die politi-
schen und ökonomischen Wurzeln, aus denen sich
Gewalt, Hass und Terror in diese Welt ergießen, beseitigt
werden müssen. Hierfür und für den Wiederaufbau ehe-
maliger Krisengebiete wendet die Bundesrepublik
Deutschland enorme finanzielle und materielle Mittel
auf. Die Koalition wird ihre erfolgreiche Politik zur
Wahrung der inneren Sicherheit fortsetzen. Dies gilt
für die Bekämpfung von Terrorismus und organisierter
Kriminalität ebenso wie für die Bekämpfung der Alltags-
kriminalität.

Der europäische Raum der Sicherheit, der Freiheit
und des Rechts muss entsprechend den Beschlüssen von
Tampere ausgebaut werden. Das umfasst auch die weitere
Harmonisierung der europäischen Flüchtlings- und Ein-
wanderungspolitik. Die Zuwanderung in die Europäische
Union muss sinnvoll gesteuert werden und die europä-
ische Polizeibehörde Europol soll zu einer mit Ermitt-
lungsbefugnissen ausgestatteten Gemeinschaftseinrich-
tung ausgebaut werden. Die bilaterale und multilaterale
Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von Terrorismus
und organisierter Kriminalität wird verstärkt werden.

Wir meinen, dass Sicherheit und der Schutz vor Über-
griffen, vor Verbrechen und Terror, ein Grundrecht für
alle Bürgerinnen und Bürger ist. Dafür, dies zu garantie-
ren, ist die Politik verantwortlich.

Die Förderung von Toleranz, die Achtung von Minder-
heiten und ihrer Rechte sowie die Ermöglichung von
Selbstbestimmung der Menschen sind Leitziele unserer

Politik. Wir handeln danach. Wir gestalten Einwande-
rung, schützen Flüchtlinge und fördern Integration. Wir
werden das Zuwanderungsgesetz im Sinne seiner Ziel-
stellung zügig umsetzen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. HansChristian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Dabei sind wir uns der breiten Zustimmung und Unter-
stützung aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Berei-
chen wie den Gewerkschaften, den Arbeitgeberverbänden
und den Kirchen sicher.


(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)


Sie, meine Damen und Herren von der Union, sollten end-
lich – das sage ich hier mit Nachdruck – Ihre Blockade-
haltung gegenüber einer modernen Zuwanderungspolitik
aufgeben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Was haben wir mit dem Zuwanderungsgesetz beab-
sichtigt und verwirklicht? Entscheidende Elemente sind
einerseits die Steuerung und Begrenzung der Zuwande-
rung, andererseits der humanitäre Schutz, die Integration,
die Beschleunigung von Asylverfahren und – auch das
gehört dazu – die verbesserte Durchsetzung von Ausrei-
sepflichten.

Darüber hinaus ist für uns die nachholende Integra-
tion von in Deutschland lebenden Migrantinnen und Mi-
granten eine wichtige Frage. Unsere Integrationspolitik
ist Querschnittspolitik. Dazu gehört auch ein modernes
Staatsangehörigkeitsrecht. Wir werden die Anstrengun-
gen fortsetzen, mit einer umfassenden Integrationspolitik
die Fehler und Versäumnisse der so genannten Gastarbei-
terära zu korrigieren. Die Instrumentalisierung des The-
mas durch die CDU im hessischen Wahlkampf war
beispiellos und unerträglich. Sie haben mit dumpfen Ge-
fühlen gespielt und bewusst Unwahrheiten verbreitet. Das
darf sich nicht wiederholen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/CSU)


Ich fordere die Opposition an dieser Stelle auf: Unterstüt-
zen Sie unsere Politik, eine Politik des inneren Friedens in
Deutschland.

Zur Abwehr von Rechtsextremismus, Ausländerfeind-
lichkeit und Antisemitismus werden wir Handlungs- und
Vorbeugungsstrategien für Toleranz und gegen Gewalt
weiter ausbauen. Wir werden die Korruption verstärkt
bekämpfen. Die Zielsetzung, die wir mit der Gesetzes-
initiative zur Einrichtung eines Korruptionsregisters ver-
binden, verfolgen wir weiter und prüfen im Übrigen
weitere konkrete Maßnahmen, die sich aus der Korrup-
tionsrichtlinie der Bundesregierung ergeben.

Wir wollen auch die demokratische Teilhabe der Be-
völkerung an unserem demokratischen Gemeinwesen för-
dern. Wir werden unser Ziel weiterverfolgen, Volksinitia-
tive, Volksbegehren und Volksentscheid auf Bundesebene


(A)



(B)



(C)



(D)


132


(A)



(B)



(C)



(D)






auf der Basis des Gesetzentwurfes aus der 14. Legislatur-
periode einzuführen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir werden prüfen, wie der gesetzliche Rahmen für
die Freiwilligenarbeit weiterentwickelt und verbessert
werden kann und wie Initiativen zur Verbesserung des
freiwilligen Engagements in der Gesellschaft auf eine
breitere Grundlage gestellt werden können. Bürger-
schaftliches Engagement ist für den Zusammenhalt in
unserer Gesellschaft unverzichtbar. Wir wollen deshalb
auch in Zukunft die Vielfalt dieses Engagements unter-
stützen. Dazu wollen wir die Ergebnisse aus der Arbeit der
Enquete-Kommission „Bürgerschaftliches Engagement“
aufgreifen und damit die Erwartung der Bürgerinnen und
Bürger in Deutschland sowie der Verbände und Vereine
erfüllen, dass der Analyse konkrete Taten folgen. Das soll
in den nächsten vier Jahren geschehen.


(Beifall bei der SPD)

Ich spreche hier ein weiteres Thema an, das nicht nur

uns, sondern auch die breite Bevölkerung interessiert,
nämlich den Sport.Dieses Thema spielt nicht nur am Wo-
chenende eine Rolle. Wir können hier im Hohen Haus
dazu einiges vorweisen. Wir wollen in diesem Bereich
ganz konkrete Punkte nennen, an deren Umsetzung wir
nach vier Jahren gemessen werden können.

Die Regierungskoalition wird den Leistungssport wei-
terhin auf hohem Niveau fördern. Das schließt die Förde-
rung des Spitzensports durch die Bundeswehr und den
Bundesgrenzschutz – oder wie immer der Bundesgrenz-
schutz später einmal benannt werden wird, Herr Minis-
ter – ein. Ebenso stärken wir den Behindertensport. Für
mich ist auch wichtig, dass der Goldene Plan Ost verlän-
gert wird. Damit wird sich die Sportstättensituation für
den Breitensport in den neuen Ländern weiter verbessern.

Darüber hinaus sind natürlich auch die neuen Länder
aufgefordert, mit Finanzmitteln des Solidarpaktes II ver-
stärkt Sportstätten zu modernisieren. Ich spreche das hier
auch mit Blick auf die Länderbank ganz bewusst an; denn
so können wir auch in diesem Bereich, der für uns eben-
falls wichtig ist, einen aktiven Beitrag zur Angleichung
der Lebensverhältnisse in Deutschland leisten.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sehr gut!)


Die Dopingbekämpfung werden wir auf hohem Ni-
veau fortführen. Die Zahl der Dopingkontrollen soll er-
höht werden. Die Nationale Doping-Agentur wird ihre
Arbeit in Kürze aufnehmen.

Meine Damen und Herren, ich spreche nun zu einem
Themenbereich, den Herr Röttgen hier sehr kritisch be-
leuchtet hat. Ich komme – das wird Sie nicht wundern –
zu einem ganz anderen Ergebnis. Die Bundesregierung
und die beiden Fraktionen können im Bereich der Rechts-
politik für die 14. Legislaturperiode nämlich eine gute Bi-
lanz vorlegen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Norbert Röttgen [CDU/ CSU]: Nein! Das glaube ich nicht!)


Wir können Reformergebnisse vorweisen, die sich wirk-
lich sehen lassen können. Diese will ich, Herr Röttgen,
meine Damen und Herren von der Union, mit Blick auf
die Uhr ganz kurz zusammenfassen: Wir haben die Hilfe
für Schwächere in der Gesellschaft, insbesondere für Op-
fer von Gewalt, Kriminalität und Rechtsextremismus
durch das Gewaltschutzgesetz verstärkt.

Wir haben die Toleranz gegenüber anderen Lebensfor-
men gestärkt und Diskriminierungen abgebaut. Ich ver-
weise insbesondere auf die Einführung der eingetragenen
Lebenspartnerschaft für gleichgeschlechtliche Partner.
Das war eine wichtige Gesetzgebung. Ich bitte Sie, auf
diesem Weg mitzugehen.

Wir haben die Modernisierung von zentralen Rechts-
gebieten, wie des Zivilprozesses, des Schuld- und des Ak-
tienrechts, im Auge gehabt. Durch die Modernisierungen,
die wir vorgenommen haben, haben wir erreicht, dass die
Regelungen transparenter und für die Beteiligten ver-
ständlicher gestaltet wurden. Wir haben die europäische
Zusammenarbeit im Rechtsbereich weiterentwickelt, eine
wichtige Aufgabe, die in Zukunft an Bedeutung gewinnen
wird.

Herr Röttgen, Sie haben Recht.

(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Ja, das ist richtig!)

– Was Recht ist, muss Recht bleiben. – In der letzten Le-
gislaturperiode ist es nicht gelungen, die BRAGO zu no-
vellieren.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das machen wir jetzt!)


Das besondere Problem der unterschiedlichen Gebüh-
rensätze ist uns allen bekannt. Ich spreche hier insbeson-
dere für die Kollegen im Rechtsbereich. Wir alle wissen
aber auch – das haben Sie an dieser Stelle allerdings nicht
angesprochen –, dass da ein inhaltlicher Zusammenhang
zum Justizkostengesetz besteht.

Ich will, ohne das Ganze auszuweiten, zwei Punkte an-
sprechen, die aus meiner Sicht sehr wichtig sind und ge-
klärt werden müssen, wenn wir zu einer Novellierung
kommen wollen. Herr Funke, ich schaue dabei auch in
Ihre Richtung.

Zum einen müssen wir zu einem Konsens mit den Län-
dern kommen. Wir alle wissen, dass dieses Gesetz durch
den Bundesrat muss. Wenn wir eine Regelung vorlegen,
die im Bundesrat nicht die Chance auf Annahme hat
– Herr Funke, ich schaue noch einmal in Ihre Richtung –,
dann ist unsere Mühe umsonst. Die Länder müssen also in
die Konsensfindung eingebunden werden. Wir müssen
eine Regelung vorlegen, die die Chance hat, im Bundes-
rat akzeptiert zu werden.

Zum anderen müssen die Vorschläge solide sein und
dürfen nicht von vornherein darauf angelegt sein, dass sie
ins Leere laufen. Mein Vorwurf geht in die Richtung der
FDP, Herr Funke. Sie hatten Vorschläge unterbreitet, die
im Bundesrat keine Chance gehabt hätten. Wir wären mit
dieser Initiative gescheitert.


(Rainer Funke [FDP]: Das müssen wir erst einmal sehen!)


Hans-Joachim Hacker




Hans-Joachim Hacker

Ziehen wir aber nun einen Strich darunter, die 14. Le-
gislaturperiode ist schließlich zu Ende; wird sind jetzt in
der 15.


(Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt machen Sie wieder vier Jahre nichts!)


– Wir haben einen Teil der Gebührenangleichung schon
durchgeführt. Das scheinen Sie nicht zu wissen. – Ich
halte fest: Die Gebührenangleichung in der BRAGO spe-
ziell für die neuen Länder bleibt ein zu lösendes Problem.
Die SPD-Bundestagsfraktion signalisiert Gesprächs- und
Lösungsbereitschaft. Dazu werden wir stehen. Wir bitten
aber, fundierte Gespräche zu führen und Vorschläge zu
unterbreiten, die am Ende die Chance haben, im Gesetz-
blatt abgedruckt zu werden.

Für den Bereich der Justizpolitik gilt: Rot-Grün bleibt
dem Ziel treu, Deutschland weiter zu modernisieren und
fit für den internationalen Wettbewerb zu machen. Der
Schutz der Bürgerrechte ist und bleibt zentrales Thema
unserer Justizpolitik.


(Beifall des Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich komme
am Ende meiner Rede auf zwei Punkte zu sprechen, die
insbesondere aus der Sicht der neuen Länder eine Rolle
spielen, die uns im Rechtsausschuss schon seit vielen
Jahren beschäftigen und die hier aus historischer Verant-
wortung heraus noch einmal angesprochen werden soll-
ten.

Der eine Punkt betrifft die Frage, wie wir mit den Op-
fern der SED-Diktatur umgehen. Wir haben festgestellt,
dass das, was die damalige Regierung vorgelegt hatte,
fehlerhafte Gesetze zur Beseitigung von SED-Unrecht
und zur Rehabilitierung waren. In der letzten Legislatur-
periode haben wir die Zusagen eingelöst, die wir den
Opferverbänden gegeben haben. Wir haben eine Novel-
lierung in Kraft gesetzt, durch die die Opfer des SED-
Regimes deutlich besser gestellt worden sind. Dafür haben
wir einen Betrag von mehreren Millionen zur Verfügung
gestellt. Das betrifft sowohl die Opfer des SED-Regimes
als auch die Lösung von offenen Problemen auf dem Ge-
biet des Kriegsfolgenrechts.


(Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: Was ist denn mit der Opferrente? Warum habt ihr die denn abgelehnt?)


– Herr Büttner, zu Ihnen sage ich: Die Vorschläge, die Sie
jetzt, zwölf Jahre nach der deutschen Einheit, bringen,
hätten Sie zwei Jahre nach der deutschen Einheit bringen
können.


(Beifall bei der SPD)

Ich frage Sie: Warum haben Sie die 1994 nicht gebracht?
Warum haben Sie die auch 1996 nicht gebracht? Sie brin-
gen hier wieder – das ist eine unerträgliche Kombination –
das AAÜG-Problem mit den Entschädigungsleistungen
für die SED-Opfer in Verbindung. Das ist rechtsstaatlich
nicht haltbar. Lassen Sie es; das gehört nicht zusammen.
Sie hätten das längst – 1994 oder auch 1996 – regeln kön-
nen.

Sie wissen genau, dass die Systematik der Entschädi-
gung der Opfer von staatlicher Gewalt und auch der Ent-
schädigung der Opfer des Dritten Reiches in eine schwere
Schieflage gekommen wäre, wenn wir Ihre Vorschläge
aufgegriffen hätten. Allein deswegen konnten wir sie
nicht aufgreifen. Ich bitte Sie: Kommen Sie von dem Po-
pulismus ab, den Betroffenen wenige Wochen vor der
Bundestagswahl Vorschläge zu unterbreiten, die Sie jah-
relang – fast ein Jahrzehnt lang – nicht verfolgt haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dieses Problem stellt sich in umgedrehter Weise aller-

dings auch bei der Novellierung des Stasi-Unterlagen-
Gesetzes. Ich muss an dieser Stelle noch einmal daran
erinnern, dass es eine Koalition der Vernunft und Verant-
wortung gab. Herr Büttner, diese haben Sie aufgegeben.


(Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: Das ist ja wohl das Letzte! Wer hat sie denn aufgegeben? – Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/CSU]: Er hat keine Ahnung davon!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1500408600

Herr Kollege Hacker, ich bitte Sie, zum Schluss zu

kommen.


Hans-Joachim Hacker (SPD):
Rede ID: ID1500408700

Ich komme zum Schluss, Herr Vorsitzender. – Sie ha-

ben einen Eiertanz vollführt. Ich bin froh, dass wir am
Ende – auch unter Mitwirkung der FDP – noch eine No-
vellierung erreicht haben. An die Adresse der Union sage
ich: So kann es nicht weitergehen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, seit der deut-
schen Einheit haben wir viel erreicht. Der Wähler hat Rot-
Grün erneut die Mehrheit im Deutschen Bundestag ver-
schafft. Wir stellen uns dieser Verantwortung. Ich lade
insbesondere Sie von der Union, aber auch Sie von der
FDPein, im Rechts- und im Innenausschuss in dem Sinne,
wie es die Bundesministerin angeboten hat, Lösungen
sachgerecht und problemorientiert zu diskutieren. Schla-
gen Sie die ausgestreckte Hand bitte nicht aus.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1500408800

Das Wort hat der Kollege Rainer Funke von der FDP-

Fraktion.


Rainer Funke (FDP):
Rede ID: ID1500408900

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Mi-

nisterin, als rechtspolitischer Sprecher der FDP beglück-
wünsche ich Sie zunächst herzlich. Dieser Glückwunsch
geht natürlich auch an die Adresse des Kollegen Alfred
Hartenbach. Wir freuen uns, mit Ihnen gemeinsam an der
deutschen Rechtsordnung arbeiten zu können. Ich sichere
Ihnen zu, dass wir gemeinsam versuchen werden, die vor


(A)



(B)



(C)



(D)


134


(A)



(B)



(C)



(D)






uns liegenden Probleme im rechtspolitischen Bereich
konstruktiv zu lösen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: Ja, konstruktiv!)


Wenn man die Koalitionsvereinbarung liest oder heute
die Regierungserklärung gehört hat, könnte man zunächst
glauben, dass nach Auffassung der Koalitionsfraktionen
Rechtspolitik in dieser Legislaturperiode gar nicht statt-
zufinden braucht. Sie, Frau Ministerin, haben das eben et-
was dezidierter ausgeführt. Allerdings haben auch Sie
sich sehr im Allgemeinen gehalten. Das war auch gut so;
denn man kann heute nicht alle Probleme lösen. Es war
auch angenehm, dass die Debatte nicht in einem verlet-
zenden, wie es sonst üblich war, sondern in einem ange-
messenen Ton geführt wurde.


(Beifall bei der FDP – Joachim Stünker [SPD]: Das muss doch nicht sein! – Weiterer Zuruf von der SPD: Na, na, Herr Funke, mehr Diplomatie!)


Meine Damen und Herren, wir müssen natürlich eine
ganze Reihe von Gesetzesinitiativen aufgreifen, die zum
Teil – zum Beispiel von Ihrer Kollegin Frau von Renesse –
in einem interfraktionellen Arbeitskreis aufgenommen
worden sind. Ich spreche jetzt vom Betreuungsrecht. Ich
meine, wir sind es der Kollegin von Renesse schuldig,
dass wir an diesem Betreuungsrecht weiter arbeiten. Wir
benötigen nämlich auch im Interesse der Länder ein prak-
tikables Betreuungsrecht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das ist eine Sache, die bislang noch nicht erwähnt worden
ist. Deswegen versuche ich, es in die Debatte einzuführen.

Dasselbe gilt für die Neuordnung des Strafsanktio-
nensystems. Sie wissen, dass auch diese Frage liegen ge-
blieben ist. Wir hatten schon in der 13. Legislaturperiode
eine Kommission eingesetzt, die in der letzten Legislatur-
periode gearbeitet hat. Die Beschlüsse dieser Kommis-
sion müssen wir jetzt umsetzen.


(Joachim Stünker [SPD]: Nicht alle!)

– Sicherlich nicht alle. Aber wir müssen sie miteinander
diskutieren. Dasselbe gilt für viele Fragen des Jugend-
strafrechts.

Auch Fragen des Wirtschafts- und Zivilrechts werden
im Koalitionsabkommen überhaupt nicht behandelt, ob-
wohl sie aufgrund europäischer Vorgaben und auslaufen-
der Gesetze – ich erinnere zum Beispiel an das Bilanz-
recht des HGB – unbedingt angegangen werden müssen.
Dazu zählt im Übrigen auch das Urheberrecht.Dazu gibt
es eine Reihe von europäischen Richtlinien, die unter an-
derem wegen der Digitalisierung umgesetzt werden müs-
sen. Ich habe das Bilanzrecht erwähnt, das nicht nur, wie
Sie es ausgedrückt haben, die Bilanzbuchhalter erfreuen
soll, sondern das Fragen der internationalen Wettbewerbs-
ordnung enthält. Diese Fragen müssen wir aufnehmen,
weil die entsprechenden Gesetze am 31. Dezember 2004
auslaufen. Wir brauchen eine gewisse Vorlaufzeit. Des-
wegen eilt es etwas.

Dasselbe gilt für die Novellierung des Versicherungs-
vertragsgesetzes. Daran hat eine Kommission unter Pro-

fessor Niederleithinger gearbeitet. Ich glaube, dass davon
vieles übernommen werden kann. Gleiches lässt sich über
die Kommissionsarbeit zum Corporate Governance, also
zur Novellierung des Aktienrechtes, sagen, die weit ge-
diehen ist. Dies sollten wir genauso wie die Vorschläge
zum Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb und zum
Markenrecht alsbald umsetzen. All das ist bislang im Ko-
alitionsabkommen nicht enthalten und kam in der Regie-
rungserklärung nicht vor. Da muss kräftig nachgebessert
werden.

Im Übrigen ist weiterhin das Thema der Anwalts-
gebühren aktuell. Wir können den Anwälten nach acht
Jahren Stillstand, also keinerlei Gebührenerhöhung, nicht
immer versprechen, etwas zu machen, wie es die voran-
gegangene Ministerin getan hat, und sie dann auflaufen
lassen.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben doch ein Gesetz! Wir waren doch fleißig! – Hans-Joachim Hacker [SPD]: Es gibt einen Vorschlag, Herr Funke!)


Die Anwälte fühlen sich im wahrsten Sinne verraten und
verkauft. Das darf man nicht machen.


(Beifall bei der FDP – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gibt doch ein Gesetz!)


– Ich kenne das Gesetz. Danach rechne ich genau wie Sie,
Kollege Ströbele, ab. Aber dass es nicht ausreichend ist,
das wissen Sie ganz genau. Es müssen strukturelle und
auch lineare Verbesserungen vorgenommen werden.


(Beifall bei der FDP)

Dasselbe gilt im Übrigen natürlich auch für das

Rechtsberatungsgesetz. Wir können das Rechtsbera-
tungsgesetz, das ja ein Verbraucherschutzgesetz ist – es ist
kein Schutzgesetz für die Rechtsanwälte –, nicht so ohne
weiteres verändern, wie Sie sich das offensichtlich in Ih-
rer Koalitionsvereinbarung vorgestellt haben. Das ist
wohl auf Wunsch der Grünen aufgenommen worden. Dies
halte ich für falsch. Wir müssen an die Verbraucher den-
ken. Die Verbraucher dürfen nicht von Leuten rechtlich
beraten werden, die davon nichts verstehen.


(Beifall bei der FDP)

In der Rechtspolitik haben wir also reichlich zu tun.

Die Regierung sollte bald erkennen lassen, in welche
Richtung sie denkt und was konkret geschehen soll. Wir
sind bereit, konstruktiv mitzuarbeiten und den Dialog zu
suchen. Wir hoffen sehr, dass in die Rechtspolitik und in
den Rechtsausschuss im Interesse unserer Rechtsord-
nung, die insgesamt wirklich verteidigungswert ist, wie-
der Kollegialität, Herr Kollege Hartenbach, und Sach-
lichkeit zurückkehren.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1500409000

Das Wort hat jetzt der Kollege Jerzy Montag vom

Bündnis 90/Die Grünen.

Rainer Funke






Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1500409100

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erlauben Sie mir
zu Beginn kurz einige persönliche Worte. Dies ist meine
erste Rede im Deutschen Bundestag und ich verhehle
nicht, dass mich dieser für mich einmalige und erstmalige
Vorgang tief berührt.

Es war mir wahrlich nicht in die Wiege gelegt worden,
einmal als frei gewählter Abgeordneter für ein demokra-
tisches Deutschland zu stehen. Meine Eltern und nur we-
nige meiner Familie haben durch Zufall und Glück das
schlimmste Unrechtsregime, das je von Deutschland aus-
gegangen ist, überlebt. Deshalb gilt in diesem Moment
mein erster Gedanke ihnen.

Für mich und sicherlich für uns alle gilt es, die besten
Lehren, die Deutschland aus seiner dunklen Vergangen-
heit ziehen konnte, nämlich die unbedingte Achtung der
Menschenrechte und die Errichtung eines Rechtsstaats, zu
verteidigen, zu festigen und auszubauen.


(Beifall im ganzen Hause)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir diskutieren nach

der Regierungserklärung des Bundeskanzlers jetzt die In-
nen-, Rechts- und Kulturpolitik. Ich halte es für richtig,
auch von der Kultur des Rechts zu sprechen. In einem
Rechtsstaat hat niemand das Recht, sich über das Recht zu
stellen. Das gilt auch für Prominente, welcher Sparte auch
immer, und auch für die so genannten besser Betuchten.
Weder Ruhm noch Geld entbinden von der Bindung an
das Recht. Dies gilt aber auch und, wie ich meine, vor al-
lem für uns, die Politikerinnen und Politiker auf allen
Ebenen der Politik. Es gilt selbstverständlich für gemeine
Rechtsbrecher und auch für selbst ernannte Erlöser und
Befreier. Es gilt aber auch für die Staatsdiener in den Be-
reichen der Exekutive, die das Recht zu schützen haben.
Vor Recht und Gesetz müssen alle gleich sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Aber auch die Gesetzgebung selbst – und damit wir, die
sie gestalten – darf sich nicht über das Recht stellen. Die
Grundrechte und die Menschenrechte bestimmen, welche
Gesetze und Verordnungen in diesem guten Sinne Recht
oder eben Unrecht sind.

Wir Grüne wollen in der 15. Legislaturperiode des
Bundestags einer solchen Kultur des Rechts Gestalt und
Kraft geben. War die Rechtspolitik in den vergangenen
vier Jahren noch da und dort von der Abwehr von Be-
schädigungen einer solchen Kultur des Rechts bestimmt,
so wollen wir Grüne in den nächsten vier Jahren die
Rechte der Bürgerinnen und Bürger und die Menschen-
rechte aller in Deutschland lebenden Menschen festigen
und ausbauen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir werden damit einen Beitrag zu einer Kultur des
Rechts in Deutschland leisten.

Herr Röttgen, Sie haben in Ihrem Beitrag ausgeführt,
dass Sie in Zukunft zum Beispiel gern die Gesetzesfolgen-
abschätzung und auch die Befristung von Gesetzen dis-
kutieren würden. Ich persönlich meine dazu, das ist ein guter

Gedanke, der aber der CDU/CSU bzw. der Opposition in
vielen Jahrzehnten der Gesetzgebung nie eingefallen ist.


(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Wir werden immer klüger! – Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/CSU]: Die Kronzeugenregelung!)


Sie haben es sich von uns abgeschaut. Es ist auch ein gutes
Vorhaben. Wir werden in Zukunft noch über die Befris-
tung von Gesetzen und die Gesetzesfolgenabschätzung
diskutieren können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Joachim Stünker [SPD]: Das haben wir schon gemacht!)


Meine Damen und Herren, das Gesetz über die Ein-
getragene Lebenspartnerschaft für homosexuelle Paare
stellt die konkrete Bekämpfung von Diskriminierung dar.
Das Bundesverfassungsgericht hat uns mit seiner Ent-
scheidung in dieser Richtung in vollem Umfang Recht ge-
geben. Jetzt wollen wir dieses Gesetz weiterentwickeln
und auch den Schutz von Menschen in nicht ehelichen Le-
bensgemeinschaften verbessern;


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


denn wir Grünen wollen die Menschen schützen und stär-
ken,


(Jörg Tauss [SPD]: Wir auch!)

die Verantwortung füreinander und für Kinder überneh-
men. Wir wollen den Menschen nicht vorschreiben, wie
sie dies zu machen haben. Aber wir wollen sie fördern,
wenn sie es machen.

Wir wollen außerdem ein Gentestgesetz schaffen, das
die Autonomie der Menschen über ihre Gendaten, die ein
integraler Bestandteil ihrer Persönlichkeit sind, wahrt,
Diskriminierungen aufgrund genetischer Dispositionen
unterbindet, ein Recht auf Nichtwissen anerkennt und Zu-
griffe von Dritten auf Gendaten ausschließt.

Wir werden des Weiteren den gesetzlichen Schutz vor
Diskriminierungen im Alltag weiter ausbauen; denn nie-
mand soll wegen seines Geschlechts, seiner Herkunft, sei-
ner Religion und Weltanschauung im öffentlichen Raum
benachteiligt werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


DieKorruption – Herr Kollege Hacker hat dies schon
angesprochen – wollen wir verstärkt bekämpfen. Union
und FDP haben in der letzten Wahlperiode im Bundesrat
die Schaffung eines Korruptionsregisters blockiert. Wir
wollen es in einem zweiten Anlauf einbringen.


(Zuruf von der FDP: Aber diesmal besser!)

Unternehmen, die wegen Korruption von der Vergabe öf-
fentlicher Aufträge ausgeschlossen werden, dürfen zu-
mindest auf längere Zeit keine zweite Chance erhalten;
denn auch Korruption, Bestechung und Untreue sind
keine Kavaliersdelikte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Max Stadler [FDP]: Sie müssen nachgewiesen sein!)



(A)



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136


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– Aber, Herr Kollege, sie müssen nachgewiesen sein. Von
einem Verdacht habe ich nicht gesprochen. Ich hoffe, dass
Sie das so gehört haben.


(Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Das ist der Punkt, um den gestritten wird!)


Herr Kollege Röttgen hat in seiner Rede beklagt, dass das
Schuldrecht und die Reform der Zivilprozessordnung schon
wieder nachzubessern seien. Ich erkenne durchaus an, dass
es sinnvoll ist, eine Überprüfung nach einiger Zeit vorzu-
nehmen. Ich schlage aber vor, dass auch Sie von der Oppo-
sition dem großen Reformwerk des Schuldrechts und der
Zivilprozessordnung eine Zeit der Bewährung einräumen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Wir können nach vier oder acht Jahren immer noch
darüber diskutieren, ob das eine oder andere nicht noch
einmal verbessert werden kann.

Wir wollen nach dem Zivilverfahren auch den Straf-
prozess modernisieren. Er soll bürgernäher, schneller und
effektiver werden. Aber wir werden dabei die verfas-
sungsmäßigen Rechte der Beschuldigten,


(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Täterfreundlich!)


ihrer Verteidiger sowie auch die der Nebenkläger, der Op-
fer und ihrer Vertreter nicht zur Disposition stellen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Bereits in der letzten Legislaturperiode wurden in der Ko-
alition Eckpunkte einer Reform der Strafprozessord-
nung verabredet. Ich finde, diese stellen eine gute Grund-
lage dar. Wir Grünen werden weitergehende Vorschläge in
die Diskussion über die Reform der Strafprozessordnung
einbringen.

Ich wollte eigentlich zur Kronzeugenregelung nichts
sagen; denn sie ist nicht verabredet. Aber nachdem schon
Vorredner darauf eingegangen sind, will ich es doch tun.
Wenn hinter dem Rücken des Gerichts für bestimmte Aus-
sagen, die nicht überprüft sind und die manchmal nicht
überprüft werden können, Zusagen auf Straferlass ge-
macht werden, dann ist dies ein schlechter Deal und hat in
einem rechtsstaatlichen Verfahren nichts zu suchen.


(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Wer schlägt das vor?)


Wenn dies unter Kronzeugenregelung verstanden wird,

(Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/CSU]: Moment!)

dann können wir uns sicherlich darauf einigen, dass wir
das nicht wollen.


(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das hat zwar keiner vorgeschlagen, aber in Ordnung!)


Was wir wollen, steht in der Koalitionsvereinbarung. Wir
wollen die Strafmilderungsgründe in § 46 StGB in denje-
nigen Fällen erweitern, in denen Täter für das Gericht
nachweisbar zur Aufklärung beigetragen haben.


(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das ist doch schon heute Praxis!)


– Das ist heutige Praxis. Sie haben völlig Recht. Des-
wegen haben wir festgelegt, dass wir die Möglichkeiten
der Strafminderung erweitern wollen.

Dies ist für uns keine Kronzeugenregelung.

(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Für uns auch nicht!)

Das, was wir von Rot-Grün gemeinsam festgelegt haben,
können wir ja alle gemeinsam angehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, die Koalitionsvereinbarung zwischen SPD und
Bündnis 90/Die Grünen ermöglicht eine moderne, den
Grundrechten verpflichtete Rechtspolitik. Wir Grünen
werden die darin liegenden Chancen nutzen. Durch uns
und unsere Politik ist die Gesellschaft offener und tole-
ranter geworden. Rechtsstaatlichkeit und Selbstbestim-
mung in Verantwortung – dies ist unser Weg und diesen
Weg werden wir fortsetzen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1500409200

Herr Kollege Montag, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ers-

ten Rede in diesem Hause.

(Beifall)


Das Wort hat jetzt Bundesminister Otto Schily für die
Bundesregierung.


Otto Schily (SPD):
Rede ID: ID1500409300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! In

einer solchen Debatte steht uns allen nur eine begrenzte
Redezeit zur Verfügung. Deshalb ist es nicht möglich, hier
alle Aspekte der Innenpolitik zu beleuchten und alle Auf-
gabenbereiche zu erörtern. Ich werde mich daher auf ei-
nige wenige wesentliche Elemente beschränken müssen.

Innenpolitik als Bestandteil der allgemeinen Sicher-
heitspolitik muss sich – das muss man mit Sorge und mit
großem Ernst sagen – auf sehr schwierige und gefahrvolle
Jahre einstellen. Die Bedrohung durch den internatio-
nalen islamistisch-fundamentalistischen Terrorismus
– das ist eine realistische Einschätzung – hat zugenom-
men. Das entspricht der Lagebeurteilung unserer Sicher-
heitsinstitutionen ebenso wie der unserer engsten Verbün-
deten. Wir sehen die breite Blutspur des Terrors, dem
zahllose Menschen, darunter viele Kinder und Jugendli-
che, zum Opfer gefallen sind, und wir müssen leider vo-
raussehen, dass sich der Terror fortsetzen wird.

Wir sind mit einem weltweiten Terrorismus konfron-
tiert, dessen Todesbesessenheit, dessen Menschenverach-
tung und dessen Brutalität uns mit Entsetzen und mit Ab-
scheu erfüllen. Dieser Terrorismus verkörpert die zum
Äußersten getriebene Menschenfeindschaft und Lebens-
verachtung, die Verachtung fremden und des eigenen

Jerzy Montag




Bundesminister Otto Schily
Lebens. Dieser Terrorismus entspringt einem in gottesläs-
terlichen Wahnsinn abgeirrten Weltbild. Dieser Terroris-
mus ist der Feind aller menschlichen Grundwerte.


(Beifall im ganzen Hause)

Das entbindet uns sicherlich nicht von der Verpflich-

tung, uns auch mit der Frage auseinander zu setzen, wie
Menschen in den Sog von Hass und Menschenverachtung
geraten sind. Präventive Politik muss immer auch darauf
gerichtet sein, Menschen gegen Anwandlungen von Hass
und Extremismus, der schlimmstenfalls in Terrorismus
umschlägt, zu immunisieren.

Meine Damen und Herren, New York, Daressalam,
Bali, Djerba und Moskau – es waren stets so genannte
weiche Ziele, die sich die Terroristen für ihre Mordtaten
ausgesucht haben. Das Ausmaß der Bedrohung hat damit
eine Größenordnung angenommen, die uns vor bisher nie
gekannte Probleme stellt. Das Ausmaß der Bedrohung be-
schreibt aber zugleich die Größenordnung unserer ge-
meinsamen Verantwortung. Wir müssen auf der einen
Seite alles Menschenmögliche tun, um uns gegen eine sol-
che Bedrohung zu schützen, dürfen uns aber auf der an-
deren Seite nicht in Panik treiben lassen und erst recht nie-
manden in Panik treiben.


(Beifall bei der SPD)

Unbestreitbar haben wir durchaus Erfolge in der

Bekämpfung des internationalen Terrorismus erzielt. Der
Polizei in Bund und Ländern, den Anklagebehörden, den
Verfassungsschutzämtern in Bund und Ländern und dem
Auslandsnachrichtendienst verdanken wir beachtliche
Fortschritte bei der Ermittlung und Ahndung terroristi-
scher Straftaten ebenso wie die Aufdeckung terroristischer
Strukturen. Allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der
genannten Sicherheitsinstitutionen spreche ich dafür mei-
nen herzlichen Dank und meine Anerkennung aus.


(Beifall im ganzen Hause)

Wir wissen, dass die Bekämpfung des internationalen

Terrorismus nicht im nationalen Rahmen, sondern nur in
enger und vertrauensvoller internationaler Zusammenar-
beit erfolgreich sein kann. Deshalb hat die Bundesregie-
rung in den zurückliegenden Jahren stets auf die interna-
tionale Zusammenarbeit, insbesondere mit den engsten
Verbündeten, mit den Vereinigten Staaten von Amerika
und mit den EU-Mitgliedstaaten, besonderen Wert gelegt.
Besonders bewährt hat sich die freundschaftliche und ver-
trauensvolle Zusammenarbeit mit den Sicherheitsinstitu-
tionen der USA, sowohl bei den Ermittlungsaufgaben als
auch in der Abstimmung und Kooperation bei umfassen-
den präventiven Maßnahmen.

Diese Zusammenarbeit wird von beiden Seiten über-
einstimmend als ausgezeichnet bewertet. Meine Ge-
spräche, die ich vor wenigen Tagen in Washington und zu-
vor in Kopenhagen mit dem Attorney General, meinem
Freund John Ashcroft, geführt habe, haben dies noch ein-
mal bestätigt. Wir werden diese Zusammenarbeit weiter
intensivieren. Aus diesem Grunde werde ich in Kürze
noch einmal nach Washington reisen, um mich zusammen
mit meiner Kollegin Zypries um die Lösung bestimmter
Detailprobleme zu kümmern.

Die Erfolge, die wir bei der Aufklärung und im Rah-
men von Ermittlungen erzielt haben, stehen im Übrigen in

einem engen Zusammenhang mit den erweiterten Befug-
nissen, die wir den Sicherheitsbehörden in der vergange-
nen Legislaturperiode verschafft haben. Wir werden im
Laufe dieser Legislaturperiode aber unvoreingenommen
zu prüfen haben, ob es an der einen oder anderen Stelle
Korrektur- und Justierungsbedarf gibt. Übrigens, Herr
Kollege Röttgen: Wir haben einige Gesetze schon als be-
fristet geltende Gesetze ausgestaltet. Der Ratschlag
kommt also ein bisschen zu spät.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Joachim Stünker [SPD]: Das musste mal gesagt werden!)


Darüber wird hier im Parlament ebenso wie im Kreis
der Länderinnen- und -justizminister zu reden sein. Wer
immer konstruktive Vorschläge entwickelt, wird uns will-
kommen sein. Wir werden sie vorurteilsfrei prüfen. Ich
bitte Sie, die Diskussion so zu führen, dass wir den Streit
nicht um des Streites willen inszenieren. Gerade in den
Fragen der inneren Sicherheit gibt es eine gemeinsame
Verantwortung. Das war in der Vergangenheit so und das
sollte auch in der Zukunft so sein. Dass wir in der Innen-
ministerkonferenz nur im Konsens entscheiden, ist Aus-
druck einer solchen vernünftigen Politik. Wenn Sie, Herr
Kollege Röttgen, für sich in Anspruch nehmen, das bes-
sere Argument zu haben, sollten wir es vorurteilsfrei prü-
fen, wenn Sie es denn haben, aber Sie sollten genauso auf
das Argument auf der Seite der Regierungskoalition
hören, wenn das das bessere ist.


(Beifall bei der SPD)

Wenn wir in dieser Weise miteinander umgehen, dann
wäre es zum Besten unseres Volkes.

Ungeachtet der Erfolge der Sicherheitsinstitutionen ist
es ferner geboten, deren Strukturen und Arbeitszusam-
menhänge darauf zu überprüfen, ob und auf welche Weise
Effizienzsteigerungen möglich sind. Das gilt insbeson-
dere für die Voraufklärung in manchen Bereichen, in de-
nen wir aufgrund bestimmter Schwierigkeiten, die den
Experten durchaus geläufig sind, noch nicht das haben zu-
stande bringen können, was wir erreichen wollten.

Damit eine solche Arbeit erfolgreich sein kann, werde
ich auch in Zukunft strikt darauf achten, dass unsere Si-
cherheitsinstitutionen mit angemessenen finanziellen
Ressourcen ausgestattet sind und dass bestimmte Anpas-
sungen, beispielsweise die Stellenstruktur im Bundes-
grenzschutz und hoffentlich in der künftigen Bundespoli-
zei, vorgenommen werden, damit sie ihren Aufgaben
gerecht werden können.

Effizienzsteigerungen gilt es auch im Allgemeinen zu
erreichen. Wir haben in der vergangenen Legislaturperi-
ode mit der Modernisierung der Verwaltung begonnen.
Auf diesem Gebiet haben wir durchaus Erfolge erzielt;
aber wir sind sicherlich noch nicht am Ende angelangt.
Das gilt sowohl für das Projekt „Bund-Online 2005“ und
für den Bürokratieabbau. Die eingeleitete Politik muss
entschlossen fortgesetzt werden. Auch dazu sage ich Ih-
nen: Wenn Sie, die Abgeordneten der Oppositionsfraktio-
nen, vernünftige Vorschläge haben, dann werden wir sie
gerne zur Kenntnis nehmen und prüfen.


(Jörg Tauss [SPD]: „Wenn“!)



(A)



(B)



(C)



(D)


138


(A)



(B)



(C)



(D)






Aber wenn – „wenn“ muss betont werden – der Vor-
schlag nur darin besteht, wieder eine große Kommission
ins Leben zu rufen, wie wir es schon in früheren Jahren er-
lebt haben – ich habe den Vorschlag von Herrn Minister-
präsident Stoiber gelesen –, dann wird sich das Vorhaben
des Bürokratieabbaus wieder in einer Kommission verir-
ren und der Bürokratieabbau wird nicht vorankommen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es kann an dieser Stelle mit einer Kommission also nicht
sein Bewenden haben. Gegen Kommissionen ist im Prin-
zip nichts einzuwenden.


(Lachen bei der CDU/CSU)

– Natürlich nicht. Sie können die Einrichtung einer Kom-
mission doch nicht immer dann für richtig halten, wenn
Sie es vorschlagen, während Sie deren Einrichtung für
falsch halten, wenn wir es wollen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In dieser Weise kann man mit diesen Fragen nicht umge-
hen.

Wir werden – auch das hat übrigens einen Bezug zur Si-
cherheitspolitik – unsere Integrationspolitik entschlossen
voranbringen. Wir haben mit dem Zuwanderungsgesetz
dafür eine gute Grundlage geschaffen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich bin dafür dankbar, dass sich mittlerweile, seitdem der
Wahltag vorüber ist, auch die Länder an den Maßnah-
men, die zur Anwendung dieses Gesetzes erforderlich
sind – Rechtsverordnungen, Durchführungsverordnun-
gen –, konstruktiv beteiligen. Ich hoffe, dass auch die Op-
position im Deutschen Bundestag die gleiche konstruk-
tive Haltung einnehmen wird.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Innen- und Sicherheitspolitik sind heute insbesondere
in die europäischen Zusammenhänge eingebettet. Ich bin
darüber froh, dass die Bundesregierung immer an der
Spitze der europäischen Entwicklung mitarbeitet. Das gilt
sowohl für die Konferenz der Innen- und Justizminister
der Europäischen Union wie auch für die Arbeit an der
europäischen Verfassung. Gerade wir, die beiden Verfas-
sungsminister, Frau Kollegin Zypries und ich, werden uns
in die Arbeit des EU-Konvents sehr aktiv einbringen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Von Europa als einem Raum der Freiheit und des
Rechts war heute schon die Rede; davon sollte man auch
weiterhin sprechen. Europa ist eine Wertegemeinschaft,
die auch den Begriff, den der Kollege Montag eben ange-
sprochen hat, umfasst. Ich bin ihm sehr dankbar dafür,
dass er diesen Begriff verwendet hat.

Mein Freund Leoluca Orlando, der frühere Bürger-
meister von Palermo, der Erfahrungen mit der Bekämp-
fung der Mafia gemacht hat, hat gesagt: Die Mafia haben

wir zurückgedrängt auf der Grundlage einer Kultur des
Rechtes. Auch wir werden den Kampf gegen die organi-
sierte Kriminalität, gegen den Terrorismus auf der Basis
der Kultur des Rechts gewinnen. Deshalb müssen wir
auch daran arbeiten, dass sich diese Kultur des Rechts,
aber auch die allgemeine Wertegemeinschaft so darstellt,
dass sie eine wehrhafte Wertegesellschaft gegenüber den
Anfechtungen des internationalen Terrorismus ist. Ob das
wirklich von Erfolg gekrönt ist, hängt auch davon ab, wie
wir uns zueinander verhalten: ob dies einmündet in eine
Kultur des Respekts, der Achtung vor unseren Institutio-
nen, vor unseren Werten und vor dem jeweils anderen,
dem man gegenübersteht.

Frau Kollegin Merkel, verstehen Sie es als eine Bitte
des Kirchenministers: Ich glaube, die Achtung vor dem
Evangelium sollte so weit gehen, dass wir das Johannes-
Evangelium nicht für parteipolitische Polemik miss-
brauchen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/CSU)


– Entschuldigen Sie, dass ich das sage. Ich habe es ganz
freundlich als eine Bitte formuliert. Überlegen Sie sich
einen Moment lang, ob das ein guter Einstieg in Ihre
heutige Rede war, Frau Merkel!


(Zurufe von der CDU/CSU)

Ich bin nicht dagegen, dass Polemik stattfindet. Ich selber
kann, wie Sie wissen, auch damit umgehen, wenn es Not
tut. Ich glaube allerdings, dass wir gut daran tun, sowohl
was die religiösen Überzeugungen als auch was die
staatlichen und die gesellschaftlichen Institutionen
angeht, damit so umzugehen, dass sie keinen Schaden
nehmen. Wenn uns das nicht gelingt – das alles mögen Sie
ja lächerlich finden –, wird dort eine Einbruchstelle für fa-
natische Extremisten und Terroristen entstehen.


(Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/ CSU]: Jetzt überziehen Sie aber!)


Ich sagen Ihnen das in allem Ernst. Das ist auch eine Frage
des Umgangs im Parlament. Niemals, meine Damen und
Herren, darf die politische Gegnerschaft in Feindseligkeit
umschlagen. Das ist jedenfalls meine Überzeugung. Ich
hoffe, dass wir uns auf dieser Basis auseinander setzen
können.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1500409400

Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Bosbach für

die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Wolfgang Bosbach (CDU):
Rede ID: ID1500409500

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Mi-

nister Schily, weite Teile Ihrer Rede waren gut, und Sie

Bundesminister Otto Schily




Wolfgang Bosbach
haben auch Applaus von unserer Fraktion bekommen.
Aber die letzten zwei Minuten waren in jeder Form in-
akzeptabel.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der CDU/CSU: Unerträglich!)


Ihre Kritik an unserer Fraktionsvorsitzenden ist völlig
neben der Sache, und wer im Glashaus sitzt, der sollte
nicht mit Steinen werfen. Es gibt nämlich auch das Gebot:
Du sollst kein falsches Zeugnis geben wider deinen Näch-
sten. Wenn Sie noch einmal ein Flugblatt zum Thema
„Zuwanderung“ herausbringen, sollten Sie sich wenigs-
tens in der Nähe der Wahrheit befinden und nicht
Volksverdummung betreiben, dazu noch auf Kosten des
Steuerzahlers.


(Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Wahrheit tut immer weh!)


Vermutlich hat es in der Geschichte der Bundesrepublik
noch keine einzige Koalitionsvereinbarung gegeben, die
so massiv kritisiert worden ist wie die rot-grüne Koali-
tionsvereinbarung in dieser Wahlperiode. Die öffentliche
Kritik hat sich im Wesentlichen auf Wirtschafts-, Finanz-
und Arbeitsmarktpolitik konzentriert, aber der Bereich In-
nen- und Rechtspolitik ist genauso enttäuschend, ja de-
primierend wie der Rest der Koalitionsvereinbarung.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Frau Zypris, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer Berufung zur

Bundesministerin der Justiz.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wir alle hoffen, dass Sie stets kluge, vernünftige und
richtige Entscheidungen treffen. Im Klartext: Wir alle
hoffen, dass Sie die Politik Ihrer Vorgängerin nicht fort-
setzen. Wenn das so ist, haben Sie unsere Unterstützung.
Dann bieten wir Ihnen eine faire Zusammenarbeit an.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Herr Kollege Schily, bei Ihnen fällt mir das schon ein

bisschen schwerer; das werden Sie sicherlich verstehen.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)


Aber ich gratuliere Ihnen ebenso zu Ihrer Wiederernen-
nung zum Bundesminister des Innern. Sie wissen aus der
vergangenen Legislaturperiode, dass wir Sie immer dann
unterstützen, wenn Sie Entscheidungen treffen, die den
Interessen des Landes wirklich dienen. Aber wir haben
aus der Erfahrung begründete Zweifel daran, dass Sie den
Willen und die Kraft haben, in der Koalition diejenigen
Entscheidungen durchzusetzen, die notwendig sind,
beispielsweise wenn es darum geht, die Bevölkerung
wirksamer vor Kriminalität und Terrorismus zu schützen.


(Jörg Tauss [SPD]: Ach du lieber Gott!)

Vieles von dem, was Sie nach dem 11. September 2001
gesagt haben, und auch vieles von dem, was Sie gerade
von dieser Stelle aus gesagt haben, haben wir schon im-
mer für richtig gehalten und sind dafür heftigst kritisiert
worden, nicht nur, aber auch von Ihren sozialdemokrati-
schen Kolleginnen und Kollegen. Entscheidend ist aber
nicht, Herr Schily, was Sie sagen, sondern entscheidend

ist, was Sie machen, was Sie politisch durchsetzen und
nicht durchsetzen in Ihrer Koalition.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Unübersehbar ist, dass sich Rot-Grün in vielen Punk-

ten nicht hat einigen können. Nach den Erfahrungen der
letzten Jahre ist davon auszugehen, dass sich das in dieser
Wahlperiode nicht ändern wird. Die Politik der ruhigen
Hand war in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik un-
verantwortlich. Beim Thema der inneren Sicherheit ist sie
es nicht minder.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Nicht nur, dass die Koalition nicht das tut, was drin-

gend getan werden müsste; zumindest in einigen Berei-
chen geschieht genau das Gegenteil dessen, was notwen-
dig ist. Beispiel Bürokratieabbau: Wir haben in
Deutschland eine Regelungsdichte, die weltweit einzigar-
tig ist, etwa im Steuerrecht. 70 Prozent der steuerrechtli-
chen Literatur, die in der Welt erscheint, ist in deutscher
Sprache. Die zehn Gebote bestehen aus 283 Wörtern.


(Jörg Tauss [SPD]: Die habt ihr nicht gemacht!)


§ 19 a des Einkommensteuergesetzes besteht aus 437 Wör-
tern und gewährt einen Steuervorteil pro Jahr von maxi-
mal 80 Euro.

Blicken wir zurück auf die rot-grüne Koalitionsverein-
barung des Jahres 1998. Ich zitiere wörtlich:

Wir wollen einen effizienten und bürgerfreundlichen
Staat. Deswegen werden wir die Bürokratie abbauen ...

(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD] und des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


– Wir kommen gleich zur Praxis, Herr Tauss. Dann wer-
den Sie viel leiser sein, als Sie sonst hier immer dröhnend
in Liegestuhlhaltung das Parlament bereichern.

Weiter heißt es:
Die neue Bundesregierung wird die Bundesverwal-
tung modernisieren; dazu wird eine besondere Stabs-
stelle unter Leitung des BMI eingerichtet, die die
dafür geltenden Verfahrensabläufe und Rechtsvor-
schriften überprüfen und vereinfachen sowie die Re-
gelungsdichte verringern soll.

Das waren die Verheißungen des Jahres 1998. Jetzt
kommen wir zur Praxis. Ergebnis nach vierjährigem rot-
grünen „Bürokratieabbau“: Im Jahr 2002 haben wir 391
Gesetze und sage und schreibe 973 Rechtsverordnungen
mehr als vor vier Jahren.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So fleißig waren wir!)


Das dürfte der weltweit einzigartige Versuch sein, durch
1 364 neue Gesetze eine Verringerung der Regelungs-
dichte herbeizuführen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich denke, wir haben nichts gemacht, hat der Herr Röttgen behauptet!)



(A)



(B)



(C)



(D)


140


(A)



(B)



(C)



(D)






Herr Schily, jetzt versprechen Sie schon wieder einen
Abbau von Bürokratie. Das können wir vor dem Hinter-
grund der Erfahrungen in den letzten vier gemeinsamen
Jahren mit allen Bürgern in diesem Lande nur als Dro-
hung verstehen. Vieles in der rot-grünen Koalitionsver-
einbarung ist ja auch nebulös und völlig inhaltsleer. Da
heißt es unter anderem: Die Alltagskriminalität werden
wir konsequent bekämpfen. – Das ist prima. Wir wollen
aber gern wissen, wie.


(Zuruf von der SPD: Dann machen wir ein Gesetz!)


Wenn Sie den Worten Taten folgen lassen, dann haben Sie
uns an Ihrer Seite.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das haben Sie vier Jahre lang vergeblich versucht!)


Wir wollen aber wissen, wie die Bekämpfung ganz kon-
kret aussieht. Sind Sie dafür, dass wir die Graffiti-Schmie-
rereien,


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


eine Landplage zwischen Flensburg und Mittenwald mit
vielen 100 Millionen Euro Schaden jedes Jahr an Gebäu-
den und öffentlichen Verkehrsmitteln, endlich konsequent
als Sachbeschädigung strafrechtlich ahnden oder wollen
Sie das nicht?


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch falsch! Das steht im Gesetz: § 303 StGB!)


Sie haben in der vergangenen Wahlperiode alle entspre-
chenden Initiativen der Union abgelehnt. Sie haben die
Alltagskriminalität nicht konsequent bekämpft, sondern
Sie haben sie konsequent bagatellisiert. Dabei werden wir
nicht mitmachen. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

An anderer Stelle gibt uns die Koalition echte Rätsel

auf. Beispiel: Einführung biometrischer Daten in Aus-
weisen. In der Vereinbarung sprechen Sie von einer Wei-
terentwicklung moderner Methoden der Biometrie zur
Identitätssicherung, ohne dass dem gesamten Text auch
nur andeutungsweise zu entnehmen ist, was das heißen
soll. Werden jetzt fälschungssichere Pässe mit biometri-
schen Daten eingeführt, ja oder nein? Wird es fälschungs-
sichere Personalausweise mit biometrischen Daten geben,
ja oder nein?

Ist irgendjemand hier der Auffassung, dass durch die
Einführung biometrischer Daten in Ausweispapieren ir-
gendein Bürgerrecht tangiert wird? Ist jemand ernsthaft
der Auffassung, dass es ein Bürgerrecht auf leicht fälsch-
bare Ausweispapiere gibt? Das kann doch niemand ernst-
haft meinen.


(Zurufe von der SPD)

Tatsache ist: Sie nehmen dieses Thema auf, weil der In-

nenminister zutreffenderweise der Auffassung ist, dass
die Fälschungssicherheit erhöht werden müsste. Tatsache
ist aber auch, dass sich die Koalition darauf nicht einigen
kann. – Herr Kollege Schily, Sie können gerne eine Zwi-
schenfrage stellen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1500409600

Herr Kollege Bosbach, das Wort zu einer Zwi-

schenfrage erteilt aber immer noch der amtierende Präsi-
dent.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Bei aller Reformfähigkeit!)


Herr Kollege Schily, bitte schön.


Otto Schily (SPD):
Rede ID: ID1500409700

Herr Kollege Bosbach, Sie sprechen die Fälschungssi-

cherheit an. Ich glaube, Sie machen einen Fehler, indem
Sie zwei Dinge vermischen. Identifizierung und Fäl-
schungssicherheit sind zwei Paar Schuhe.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Frage!)

Ist Ihnen bekannt, dass heutzutage in Deutschland Pässe
hergestellt werden, die praktisch fälschungssicher sind?


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Das ist es!)



Wolfgang Bosbach (CDU):
Rede ID: ID1500409800

Ist das die Frage?


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)



Otto Schily (SPD):
Rede ID: ID1500409900

Ja, ich frage, ob Ihnen das bekannt ist.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wir haben ja immer Zweifel, Herr Bosbach, ob Sie auch einfache Fragen verstehen! – Weitere Zurufe von der SPD)



Wolfgang Bosbach (CDU):
Rede ID: ID1500410000

Herr Kollege Schily, ist Ihnen bekannt, dass Sie sich

vor wenigen Monaten mit Ihrem eigenen Personalausweis
und Ihrem eigenen Fingerabdruck darin in der Öffentlich-
keit so lange haben fotografieren lassen, bis die Bevölke-
rung geglaubt hat, das habe der Bundestag wirklich be-
schlossen?


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)

Sie sind in allen deutschen Medien mit zwei Bildern prä-
sent, nämlich mit dem Bild von Ihrem eigenen Personal-
ausweis mit falschem Geburtsdatum


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

und mit dem Bild, für das Sie sich einen riesigen Helm
aufgesetzt und einen Schlagstock in die Hand genommen
haben, um damit zu demonstrieren, dass das Ihr Beitrag
zu mehr innerer Sicherheit in Deutschland sei.

Ihnen, Herr Schily, nehme ich es sogar ab, dass Sie der
Auffassung sind, was ja auch richtig ist, dass die Aus-
weispapiere so fälschungssicher wie möglich gemacht
werden sollten. Welches biometrische Merkmal in die
Ausweispapiere aufgenommen wird, ist dann eine zweite
Frage. Wir wissen aber auch, dass Sie weder den Willen
noch die Kraft haben, das, was notwendig ist, mit dieser

Wolfgang Bosbach




Wolfgang Bosbach
Truppe hier im Deutschen Bundestag durchzusetzen. Das
ist die Wahrheit.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1500410100

Herr Kollege Bosbach, erlauben Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Tauss?


Wolfgang Bosbach (CDU):
Rede ID: ID1500410200

Ja.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1500410300

Bitte schön, Herr Tauss.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1500410400

Herr Kollege Bosbach, ist Ihnen bekannt, dass der

Deutsche Bundestag über sein Büro für Technikfolgen-
abschätzung ein Gutachten zum Thema Biometrie in Auf-
trag gegeben hat, das zum Inhalt hat, dass es zu bio-
metrischen Systemen noch erhebliche technische
Fragestellungen gibt, dass es noch kein biometrisches
System gibt, das, zumindest über viele Jahre hinweg, be-
reits als sicher angesehen werden kann? Halten nicht auch
Sie es für sinnvoll, dass man vor der Realisierung Ihrer
Forderungen zumindest über die technischen Grundlagen
nachdenken sollte, über die man reden will? Ich meine,
das sollte man auch von jemandem verlangen, der nicht
Forschungspolitiker ist. – Stimmen Sie mir darin zu?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Wolfgang Bosbach (CDU):
Rede ID: ID1500410500

Herr Kollege Tauss, ich betrachte Ihre Fragestellung

als heftige Kritik an dem Innenminister,

(Jörg Tauss [SPD]: Nein!)


der sich Ihrer Meinung nach – –

(Jörg Tauss [SPD]: Nein, den schätze ich sehr!)

– Entschuldigung, Herr Kollege Tauss. Sie fragen, ich ant-
worte und jetzt müssen Sie die Antwort tapfer hinnehmen.


(Jörg Tauss [SPD]: Ja, jetzt antworten Sie einmal!)


Ich entnehme Ihrer Fragestellung, dass sich der Bun-
desinnenminister nach Ihrer Auffassung voreilig mit sei-
nen biometrischen Daten


(Jörg Tauss [SPD]: Nein!)

in seinem eigenen Personalausweis hat fotografieren lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Nein, der denkt nach!)


Herr Tauss, ich will es ganz kurz machen. Sie haben
nach dem 11. September gesagt: Das werden wir einführen.


(Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/CSU]: Sehr wahr!)


Sie haben hier zwar gesetzliche Änderungen beschlossen.
Diese haben aber nichts anderes zum Inhalt als die Aus-
sage, dass es demnächst durch ein neues Gesetz einge-
führt werden könnte, weil Sie sich auf die Einführung sel-
ber in der Koalition nicht haben einigen können. – Ende
der Durchsage zu diesem Thema.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Es gibt eine weitere Kuriosität, über die ebenfalls ge-
rade gesprochen worden ist: die Kronzeugenregelung.
Am gleichen Tag, als Sie, Herr Schily, der staunenden Öf-
fentlichkeit erklärt haben, dass Sie in der Koalition eine
Kronzeugenregelung beschlossen haben, hat der Außen-
minister Fischer für die Grünen gesagt, dass Sie keine
Kronzeugenregelung beschlossen haben. Es gibt folgende
Möglichkeiten: Schily hat Recht; dann kann Fischer nicht
Recht haben. Oder Fischer hat Recht; dann kann Schily
nicht Recht haben. Ausgeschlossen ist, dass beide gleich-
zeitig Recht haben. Wir haben keine Kronzeugenrege-
lung, sondern bestenfalls die Wiederholung einer Selbst-
verständlichkeit in Bezug auf die Strafzumessung, Herr
Kollege Montag, nämlich dass das Verhalten des Täters
nach der Tat bei der Strafzumessung zu berücksichtigen
ist.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!)


Wir sind leider – das ist ein ernstes Thema – insbeson-
dere bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität
und des internationalen Terrorismus auch auf Aussagen
von Täterzeugen angewiesen.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, und?)


Wenn wir es mit ethnisch geschlossenen Tätergruppen zu
tun haben, dann können wir dort nicht mit verdeckten Er-
mittlern operieren.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat mit dem anderen nichts zu tun! Das ist Unsinn!)


In diesem Fall gibt es leider Verbrechen, die wir nicht auf-
klären und bei denen wir die Täter nicht überführen kön-
nen, wenn wir nicht Angaben von Täterzeugen haben,


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was hat das mit dem Kronzeugen zu tun?)


die zum Teil ihr Leben riskieren, wenn sie aus der Szene
aussteigen und gegen ihre ehemaligen Mittäter aussagen.
Wenn sich jemand beim Bundeskriminalamt, beim Ver-
fassungsschutz oder wo auch immer meldet, um unter Le-
bensgefahr auszupacken, dann braucht er eine neue Iden-
tität. Außerdem fragt er sich, was er davon hat.


(Es erfolgt eine Lautsprecherdurchsage – Heiterkeit – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das ist der Kronzeuge!)


– Jetzt fehlt nur noch die Aussage „Don’t leave your
baggage unattended!“.


(Heiterkeit)



(A)



(B)



(C)



(D)


142


(A)



(B)



(C)



(D)






Dann sagen Sie zu diesem Täterzeugen, Herr Montag:
Wenn Sie gegen Ihre ehemaligen Mittäter aussagen, dann
kann es sein, dass die Strafzumessung möglicherweise
milder ausfällt. – Glauben Sie ernsthaft, dass bei dieser
Regelung ein Schwerverbrecher aussteigt?


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was sagen Sie denn zu dem?)


– Ich sage zu ihm das, was wir in der Vergangenheit schon
oftmals gesagt haben. Wenn er auspackt und wenn seine
Aussage dazu beiträgt, Verbrechen aufzuklären, Verbre-
cher zu überführen und vor allen Dingen neue schwere
und schwerste Straftaten zu verhindern, dann muss er wis-
sen, dass ihm keine langjährige Haftstrafe droht und dass
wir ihn schützen.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist geltendes Recht!)


Ich sagen Ihnen, auch wenn Sie es nicht verstehen: Das ist
kein schmutziger Deal mit Mördern, sondern dieses Vor-
gehen hilft, Menschenleben zu retten.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Immerhin gibt es in der Koalitionsvereinbarung eine

Kehrtwende zu etwas mehr Ehrlichkeit. Über dem Gesetz
zur Zuwanderung steht „Steuerung und Begrenzung“.
Dieses Begriffspaar haben Sie aufgegeben. In der Koali-
tionsvereinbarung heißt es jetzt „Gestaltung der Einwan-
derung“. Das ist offensichtlich etwas anderes. Gemeint ist
die Ausweitung der ohnehin schon großen Zuwanderung
nach Deutschland.


(Zurufe von der SPD: Oh!)

Am 1. Januar wird vorbehaltlich der Entscheidung des

Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe das neue Zu-
wanderungsgesetz in Kraft treten, soweit es nicht schon in
einigen Teilen in Kraft getreten ist. Am 1. Januar wird der
Anwerbestopp für ausländische Arbeitnehmer aus
Nicht-EU-Staaten aufgehoben, und zwar generell und
nicht nur für hoch qualifizierte Arbeitnehmer.

Eingeführt wurde der Anwerbestopp von Willy Brandt
bei einer Arbeitslosenquote von 1,2 Prozent und bei einer
Ausländerarbeitslosenquote von 0,8 Prozent. Sie heben
heute bei einer Arbeitslosenquote von knapp 10 Prozent
und einer Ausländerarbeitslosenquote von knapp 20 Pro-
zent diesen Anwerbestopp auf. Wir haben eine dramati-
sche Situation auf dem Arbeitsmarkt: Es gibt 4 Millionen
Arbeitslose und 1,5 Millionen in der stillen Reserve
– Tendenz steigend –, nicht nur aus saisonalen Gründen,
sondern auch wegen der völlig verfehlten Wirtschaftspo-
litik. Lieber Herr Minister Schily, wir begehen mit der
generellen Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes für Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus Nicht-EU-Staa-
ten einen kapitalen Fehler.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das gibt es doch überhaupt nicht! Das sind doch Parolen! – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Unsinn!)


Solange wir eine derart dramatische Situation auf dem
deutschen Arbeitsmarkt haben, muss die Weiterqualifizie-
rung, Umschulung und Vermittlung von inländischen Ar-

beitslosen Vorrang haben vor einer weiteren Zuwande-
rung auf den deutschen Arbeitsmarkt.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist böse Propaganda!)


Das hat mit Ausländerfeindlichkeit überhaupt nichts zu
tun.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Zu meinem letzten Punkt, der für uns im Moment an-

gesichts der fürchterlichen Verbrechen in den letzten Mo-
naten ein ganz wichtiger, entscheidender Punkt ist: dem
zum besseren Schutz der Bevölkerung, insbesondere un-
serer Kinder, vor Sexualstraftaten und Sexualstraftätern.


(Monika Griefahn [SPD]: Das hat abgenommen!)


– Dies genügt nicht. Jeder einzelne Fall, Frau Griefahn, ist
ein Fall zu viel. Wenn Sie hier angesichts der polizeilichen
Kriminalstatistik in Deutschland, in der von 14 000 bis
15 000 sexuell missbrauchten Kindern ausgegangen wird,
sagen, diese Zahl habe abgenommen, so ist Ihre Feststel-
lung eine glatte Unverschämtheit für alle Opfer.


(Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist doch alles Demagogie bei diesem Thema!)


– Nein, nein.
Wir wollen, dass der sexuelle Missbrauch von Kindern

strafrechtlich endlich als das behandelt und bezeichnet
wird, was er ist: als ein Verbrechen und nicht nur als ein
Vergehen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir wollen die DNA-Analyse konsequent anwenden,


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben vorhin bei der Ministerin nicht zugehört!)


und zwar bei jedem Delikt mit sexuellem Bezug, weil wir
den Tätern sagen wollen: Wenn ihr noch einmal eine
Straftat begeht, dann bekommen wir euch. – Denn die Ge-
fahr, dass der Täter entdeckt und überführt wird, ist das,
was den Täter abschreckt – und nicht die abstrakte Straf-
androhung.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Herr Präsident, ich komme gleich zum Schluss. – Ob-

wohl Sie hier die vorbehaltene Sicherungsverwahrung,
die Sie in der letzten Wahlperiode fünf vor zwölf einge-
führt haben, preisen, wissen Sie genau: Kein einziger
Straftäter, der jetzt in Haft sitzt, wird von dieser Regelung
tangiert. Diese Regelung gilt nur für die Zukunft. Obwohl
Sie das wissen, täuschen Sie in der Bevölkerung vor, das
getan zu haben, was in Deutschland zum besseren Schutz
insbesondere von Kindern getan werden müsste.

Diese Koalition hat nicht die Kraft, die Bevölkerung
wirksamer vor Kriminalität zu schützen.


(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das war eine unglaubliche Rede! Unfassbar! Üble Demagogie!)


Wolfgang Bosbach






Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1500410600

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Silke Stokar von

Neuforn vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich
halte heute als neue Abgeordnete meine erste Rede im
Bundestag.


(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])

Ich muss feststellen: Ich bedauere es, dass ich nur eine
Redezeit von zehn Minuten habe. Es ist mir gar nicht
möglich, die vielen Verdrehungen und Verfälschungen,
die in den Reden aus den Reihen der CDU/CSU, vor al-
lem im letzten Redebeitrag, vorkamen, richtig zu stellen.
Dafür braucht man nicht zehn Minuten, sondern zehn
Stunden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Oh!)


Lassen Sie mich zu Beginn auf zwei Dinge eingehen,
die wiederholt in sehr unterschiedlichen Nuancen ange-
sprochen worden sind. Beide Dinge halte ich persönlich
für nicht akzeptabel. Sie haben den Grünen in der Ausei-
nandersetzung um die Rechtspolitik vorgeworfen – das
sage ich vor dem Hintergrund des Geiseldramas in Mos-
kau, das mich sehr betroffen gemacht hat; ich denke, Sie
genauso –, wir hätten die SPD bei der Innen- und Rechts-
politik als Geisel genommen. Ich halte es für einen
falschen Sprachgebrauch bzw. für eine politische Entglei-
sung, so zu argumentieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich möchte noch eines klarstellen: Ich halte es nicht für
angemessen, hier die zweite, die kleinere Regierungspar-
tei als Truppe zu bezeichnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, wenn Sie diesen Stil ein-
führen wollen, werden wir darauf antworten, denn auch
wir beherrschen dieses Spiel. Ich möchte heute zu Beginn
der Auseinandersetzung den Appell an Sie richten: Lassen
Sie uns doch die Auseinandersetzung über fachliche Kon-
zepte suchen und lassen Sie uns in fachlicher und sachli-
cher Art argumentieren.

Ich will überhaupt nicht verhehlen – Sie haben Unter-
schiede zwischen SPD und Grünen angesprochen –, dass
es nicht immer leicht ist, in Koalitionsvereinbarungen zu
Ergebnissen zu kommen. Ich denke, den kritischen Beo-
bachtern ist nicht verborgen geblieben, dass es diese Un-
terschiede auch zwischen SPD und Grünen gibt. Natürlich
werden in den Auseinandersetzungen manchmal kultu-
relle Werte unterschiedlich gewichtet. Es ist aber gerade
der Erfolg dieser rot-grünen Bundesregierung, dass es uns
in der vergangenen Legislaturperiode und jetzt zum zwei-
ten Mal gelungen ist, den Sicherheitsaspekt, den wir als

Grüne genauso ernst nehmen wie jede andere demokrati-
sche Partei hier im Raum, und den Aspekt der Bürger-
rechte, der immer ein Minderheitenaspekt ist, zu einer ge-
meinsamen Politik zusammenzufassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das ist der Erfolg der rot-grünen Bundesregierung und
wir sind fest entschlossen, diese Politik, die keinen Ge-
gensatz mehr zwischen Sicherheit und Bürgerrechten
sieht, in den nächsten vier Jahren fortzusetzen.

Das große Projekt dieser Legislaturperiode – das
wurde bereits angesprochen – ist die Umsetzung des
Zuwanderungsgesetzes. Ich hege die große Hoffnung,
dass das Bundesverfassungsgericht in seiner Entschei-
dung berücksichtigt, welch wichtiges gesellschaftspoliti-
sches Vorhaben das ist.

Wir verhandeln im Moment über die Verordnung zum
Zuwanderungsgesetz. Wir als Grüne legen auf zwei
Punkte einen besonderen Wert. Zum einen wollen wir
– ich denke, das ist vernünftig – angesichts der ange-
spannten finanziellen Situation nicht nur des Bundes, son-
dern auch der Länder und Kommunen vernünftige Rege-
lungen in der Frage des Zugangs zum Arbeitsmarkt.

In diesem Punkt verstehe ich Ihre Argumentation über-
haupt nicht. Gehen Sie doch zu Herrn Koch nach Hessen
und fragen Sie ihn, warum gerade er – er war nicht der Erste,
er war nach seinem Kollegen aus Bayern der Zweite – beim
Bundesinnenminister beantragt hat, in bestimmten Fällen
Ausnahmeregelungen vom Anwerbestopp zu veranlas-
sen. Das gehört zur Ehrlichkeit in dieser Debatte dazu.

Der Anwerbestopp existiert seit vielen Jahren nicht
mehr. Wir haben mittlerweile mehr Ausnahmen vom An-
werbestopp, als Rot-Grün an Zugängen zum Arbeitsmarkt
im Zuwanderungsgesetz zulassen will.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Angesprochen wurde auch die Auseinandersetzung mit
dem internationalen Terrorismus.Auch in dieser Frage
wird es Ihnen einfach nicht gelingen, eine Trennung zwi-
schen Rot-Grün herbeizureden. Ich denke, dass alle Frak-
tionen hier in diesem Hause die Sicherheit der Bevölke-
rung vor terroristischen Angriffen sehr ernst nehmen.

Ich habe mir Ihr 100-Tage-Programm sehr genau an-
gesehen. Ich glaube nicht, dass es ein Beitrag zu mehr Si-
cherheit ist, wenn Sie nach wie vor den Vorschlag ma-
chen, die Bundeswehr im Innern einzusetzen. Ich habe
den Eindruck, dass unsere Polizei und unsere Sicherheits-
behörden sehr wohl in der Lage sind, eine gute Arbeit zu
leisten, und im internationalen Vergleich gut dastehen.

Wir brauchen im Innern die Bundeswehr nicht. Diese
Auseinandersetzung – ich erinnere mich noch daran, ich
war damals noch sehr jung – haben wir bereits bei den
Notstandsgesetzen geführt. Zum Glück hat die 68er-Be-
wegung schon damals gewonnen. Ich denke, dass wir hier
keine Neuauflage dieser Debatte brauchen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



(A)



(B)



(C)



(D)


144


(A)



(B)



(C)



(D)






Die Trennung von Polizei und Armee ist im Grundgesetz
verankert. Dies soll auch in Zukunft so bleiben. Ich denke,
dies ist gut so.

Wir haben in der Koalitionsvereinbarung festgelegt,
dass wir die Sicherheitsgesetze evaluieren wollen. Eva-
luieren heißt für uns nicht, den Wettlauf fortzuführen, der
darin besteht: Die CDU fordert mehr Befugnisse für die
Polizei; der Innenminister fühlt sich unter Druck gesetzt,
vielleicht vom Kanzler, vielleicht von wahltaktischen Fra-
gen in der Innenpolitik, und will keine Flanke eröffnen.


(Zurufe von der CDU/CSU: Aha!)

Ich möchte bei der Evaluierung der Sicherheitsgesetze,

dass wir den Bürgerinnen und Bürgern zwei Fragen öf-
fentlich beantworten. Wir treffen hier die Entscheidung,
dass wir in individuelle Freiheitsrechte eingreifen, weil
wir der Auffassung sind, dass dies erforderlich ist, um die
Sicherheit in unserem Land zu gewährleisten. Ich möchte
in jedem einzelnen Punkt, und zwar in einer fachlichen
Debatte, nicht in einer polemischen Debatte, wie sie hier
geführt worden ist, nachgewiesen bekommen,


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Der Genosse Schily lächelt sehr finster!)


ob diese Eingriffe tatsächlich zum Ziel führen, ob sie er-
forderlich, geeignet und verhältnismäßig sind.


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

Dies werden die Prüfkriterien sein.

Darüber hinaus werden wir Ansätze einbringen – wir
haben dies in den Koalitionsvereinbarungen festgelegt –,
um in dieser Auseinandersetzung nicht nur die Polizei,
sondern auch die Demokratie zu stärken. Wir setzen eben
nicht nur wie Sie von der Opposition auf einen starken
Staat. Wir setzen auf eine starke Zivilgesellschaft. Des-
wegen haben wir ein Informationsfreiheitsgesetz, mehr
Transparenz in der Gesellschaft, mehr Zugang für die
Bürgerinnen und Bürger zu Informationen vereinbart, da-
mit sie als selbstbewusste und eigenständige Bürgerinnen
und Bürger ihren Beitrag zu mehr Sicherheit und Demo-
kratie leisten.

Ich sehe an der Uhr, dass meine Zeit so gut wie abge-
laufen ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Aber nur hier!)

Lassen Sie mich noch ganz kurz einen Punkt, der mir

ebenso wichtig ist, ansprechen: Wir übernehmen auch
Verantwortung für die Vergangenheit. Es ist uns ein
großes Anliegen, die Arbeit der Birthler-Behörde fortzu-
setzen. Ich möchte Sie hier bitten – wie dies zuvor schon
jemand von der SPD gemacht hat –: Lassen Sie uns hier
zu einem parteiübergreifenden Konsens zurückkommen.
Lassen Sie uns eine große Koalition aus allen Fraktionen
bilden, damit die Aufarbeitung der Stasivergangenheit
wieder aufleben kann


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Bravo!)

und damit dieses Gerede über den Schlussstrich beendet
werden kann.

Meine Damen und Herren, ich sehe jetzt: Hier leuchtet
der Präsident.


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich muss meine Rede beenden.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und freue

mich auf einen konstruktiven Streit im Innenausschuss
und hier im Hause.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1500410700

Frau Kollegin Stokar von Neuforn, ich gratuliere Ihnen

zu Ihrer ersten Rede hier in diesem Hause.

(Beifall)


Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Max Stadler
von der FDP-Fraktion das Wort.


Dr. Max Stadler (FDP):
Rede ID: ID1500410800

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Ich möchte in der Debatte kurz auf den Beitrag des
Kollegen Hacker von der SPD zurückblenden. Ich will
nicht Wortklauberei betreiben; aber Herrn Hacker ist eine
Formulierung unterlaufen, bei der ich hellhörig geworden
bin, weil sie in ähnlicher Weise immer wieder gebraucht
wird. Er hat, wenn ich es richtig mitbekommen habe, da-
von gesprochen, dass das Sicherheitsgefühl der Bürgerin-
nen und Bürger ein Grundrecht sei. Das heißt, das Grund-
recht auf Sicherheit, von dem Minister Schily so oft
spricht, ist hier noch ausgedehnt worden auf ein Grund-
recht auf Sicherheitsgefühl.

Ich greife das aus einem Grund auf: um deutlich zu ma-
chen, dass wir als Liberale hier einen ganz konservativen
Ansatz haben. Es gibt kein Grundrecht auf Sicherheit,
aber es gibt die Pflicht des Staates, die innere Sicherheit
zu gewährleisten. Dazu brauchen seine Institutionen,
dazu brauchen Polizei, Justiz und auch die Geheimdiens-
te Eingriffsbefugnisse. Bei diesen Eingriffen sind sie aber
an die Grundrechte gebunden und stoßen an die durch die
Grundrechte gezogenen Grenzen. Da, wo die Grundrechte
ausnahmsweise eine Einschränkung erfahren müssen, gilt
aber immer noch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Das ist unser Grundprinzip, mit dem wir die Politik von
Innenminister Schily in den vergangenen vier Jahren kri-
tisch und konstruktiv begleitet haben.


(Beifall bei der FDP)

Das hat dazu geführt, dass wir, auch wegen des für das

Parlament unwürdigen Verfahrens, zum Beispiel das so
genannte Sicherheitspaket Schily II abgelehnt haben, weil
wir uns bei den dafür notwendigen Abwägungen hier im
Hause oft sehr alleine gelassen fühlten. Ich nenne nur ein
Beispiel, das jetzt in Hamburg wieder aktuell geworden
ist. Wenn es darum geht, in die Berufsgeheimnisse von
Rechtsanwälten, Steuerberatern, Geistlichen oder auch

Silke Stokar von Neuforn




Dr. Max Stadler
Journalisten einzugreifen, dann sind diese Abwägungen
sehr sorgsam vorzunehmen. Da haben wir oft weder, wie
man es bei unserem konservativen Ansatz erwarten
würde, von der Union noch von den Grünen oder der SPD
hinreichend Unterstützung erhalten.

Deswegen sage ich, Herr Minister Schily: Wir haben
Sie kritisch, aber auch konstruktiv begleitet. Es gab
äußerst wichtige Gesetzesvorhaben in der letzten Legisla-
turperiode. Ich nenne noch einmal die Zwangsarbei-
terentschädigung, bei der wir sehr wohl unseren Anteil an
der Gesetzgebung hatten, sowie das Staatsangehörigkeits-
recht und das Zuwanderungsgesetz, zu deren Umsetzung
wir über Rheinland-Pfalz unseren Beitrag geleistet haben.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das erkennen wir auch an!)


Ich sage es bewusst, Herr Kollege Bosbach, weil Sie
der deutschen Öffentlichkeit in Ihrer ansonsten brillant
formulierten Rede hier leider eines verschwiegen haben:
Das Zuwanderungsgesetz sieht nach wie vor den Vorrang
der inländischen Arbeitnehmer vor.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)


Das bedeutet, es wird niemand von seinem Arbeitsplatz
verdrängt. Die FDPhätte über Rheinland-Pfalz doch nicht
einem Gesetz zugestimmt, das in unvernünftiger Weise
zusätzliche Zuwanderung zugelassen hätte, die der deut-
sche Arbeitsmarkt nicht vertragen würde. Hier gibt es die
Vorrangprüfung als entscheidendes Instrumentarium.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das entspricht natürlich nicht Herrn Bosbachs demagogischem Ansatz!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1500410900

Herr Kollege Stadler, erlauben Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Bosbach?


Dr. Max Stadler (FDP):
Rede ID: ID1500411000

Ja, obwohl ich in der Erwartung derselben schon jetzt

20 Sekunden wertvoller Redezeit verloren habe.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1500411100

Die werden Ihnen aber nicht abgezogen.
Bitte schön, Herr Bosbach.


Wolfgang Bosbach (CDU):
Rede ID: ID1500411200

Lieber Max, bist du bereit, zur Kenntnis zu nehmen,

dass ich erstens nicht gesagt habe, dass mit dem Gesetz
beabsichtigt sei bzw. dass das Gesetz die unbeabsichtigte
Nebenfolge habe, Arbeitsplatzbesitzer von ihrem Arbeits-
platz zu verdrängen, sondern dass ich gesagt habe, dass
ich angesichts der dramatischen Situation auf dem Ar-
beitsmarkt keinerlei Begründung dafür kenne, warum wir
den deutschen Arbeitsmarkt ab dem 1. Januar unter Auf-

hebung des Anwerbestopps für ausländische Arbeitneh-
mer aus Nicht-EU-Staaten generell öffnen sollten, und
dass die Weiterqualifizierung und Umschulung Vorrang
haben sollen?


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das stimmt doch schon mal nicht!)


Zweitens. Bist du mit mir der Auffassung, dass fol-
gende Rechnung nicht aufgehen kann: „Mehr Zuwande-
rung auf den deutschen Arbeitsmarkt beim weltweiten
Wettbewerb um die klügsten Köpfe und zusätzliche Maß-
nahmen aus humanitären Gründen haben im Ergebnis
eine Reduzierung der Zuwanderung nach Deutschland zur
Folge“?


Dr. Max Stadler (FDP):
Rede ID: ID1500411300

Lieber Wolfgang Bosbach, in der öffentlichen Diskus-

sion geht es doch um folgende entscheidende Frage: Ist es
bei einem angespannten Arbeitsmarkt mit 4 Millionen Ar-
beitslosen überhaupt noch sinnvoll, über Zuwanderung
nach Deutschland zu reden? Wir wissen ganz genau, dass
dies zwar auf den ersten Blick perplex erscheint, dass aber
der Arbeitsmarkt in Deutschland gespalten ist, dass es ge-
rade dem Mittelstand trotz aller Bemühungen nicht gelingt,
Facharbeiterstellen zu besetzen.

Wir alle sind uns darüber einig, dass die Qualifizierung
der eigenen Arbeitskräfte, eine Bildungspolitik für die ei-
gene Jugend und die bessere Vereinbarkeit von Familie
und Arbeitsleben Vorrang haben müssen. Das steht außer
Streit.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Der Streit geht doch nur darum, ob es nicht ein Instru-
mentarium geben muss, damit das, was sowieso prakti-
ziert wird, wie zum Beispiel auch von unionsregierten
Ländern wie etwa Bayern, nun gesetzlich geregelt wird.
Es bestehen nämlich schon jetzt Ausnahmeverordnun-
gen für bestimmte berufliche Bereiche und für bestimmte
Regionen, in denen nachgewiesenermaßen Bedarf be-
steht, der nicht befriedigt werden kann – nur darum geht
es –, in denen Wachstumschancen für die deutsche Wirt-
schaft verloren gehen und in denen wir dadurch, dass wir
nicht tätig werden, Arbeitsplätze vernichten.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir müssen uns mit der Frage beschäftigen, ob wir in die-
sen Segmenten weiterhin mit Ausnahmeverordnungen ar-
beiten wollen, so wie das Bayern mit der Anwerbung von
Krankenschwestern aus Kroatien und Pflegekräften aus
der Slowakei macht, oder ob wir endlich zu einem ganz-
heitlichen System mit einer gesetzlichen Regelung kom-
men wollen, die das Problem insgesamt angeht. Deswe-
gen hat die FDP über Rheinland-Pfalz dieser gesetzlichen
Steuerungsmöglichkeit zugestimmt.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich darf nun an die sehr bemerkenswerten Ausführun-
gen des Kollegen Montag in seiner ersten Rede anknüp-


(A)



(B)



(C)



(D)


146


(A)



(B)



(C)



(D)






fen und möchte ohne Besserwisserei einen Punkt ergän-
zen. Gesetzesfolgenabschätzung und Befristung von
Gesetzen sind nicht so neu, wie man das nach Ihrem Bei-
trag denken möchte. Sie werden damit vielleicht noch
Verdruss haben; denn die alte Koalition von CDU/CSU
und FDP hat 1998 zum Beispiel die umstrittene Regelung
über verdachtsunabhängige Kontrollen eingeführt. Diese
war aber befristet. Es wird jetzt Ihre Aufgabe sein, sich da-
rüber zu einigen, ob diese Regelung weiterhin so bestehen
bleiben soll oder ob Sie sie auslaufen lassen wollen. Da
bin ich neugierig.

Aus der Koalitionsvereinbarung kann man leider nicht
erkennen, ob wir in der gewohnten Weise kritisch, aber
konstruktiv mit Ihnen zusammenarbeiten können, Herr
Minister Schily, oder ob der kritische Faktor überwiegen
muss. Denn die Koalitionsvereinbarung enthält so viele
Unverbindlichkeiten und Prüfaufträge, so genannte Eva-
luationen, dass man heute überhaupt noch nicht sagen
kann, was Sie wirklich in der Innenpolitik machen wer-
den. Deswegen muss ich diesen Vorbehalt formulieren.

Am Ende, Herr Minister Schily, gestatten Sie mir eine
kleine Bezugnahme auf die jüngste Zeit, obwohl die The-
men ansonsten äußerst ernst sind. Für mich gab es zwei
große Überraschungen. Die erste Überraschung war der
Wahlsieg von Rot-Grün, nicht wegen Ihrer Politik, Herr
Minister, sondern vor allem wegen der Finanz- und Ar-
beitsmarktpolitik. Zum Zweiten habe ich mich gefragt
– bitte verzeihen Sie mir diese kleine Abschweifung vom
eigentlichen Thema –, wie Sie es geschafft haben, Herr
Minister Schily, dass Gianna Nannini Sie als Schlagzeu-
ger in einer Rockband verpflichten will. Wenn wir dies
auch noch erfahren, dann könnte es sein, dass die weitere
Zusammenarbeit doch wieder konstruktiv wird und nicht
so kritisch, wie es nach der Koalitionsvereinbarung jetzt
den Anschein hat.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1500411400

Das Wort hat jetzt der Kollege Hartmut Koschyk von

der CDU/CSU-Fraktion.


Hartmut Koschyk (CSU):
Rede ID: ID1500411500

Herr Stadler, wir sind darüber nicht so gut informiert

wie Sie, aber vielleicht kann uns bei einer der ersten Sit-
zungen im Innenausschuss der Minister Antwort darauf
geben, wie es sich mit dieser möglichen neuen Berufskar-
riere als Schlagzeuger verhält.

Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Kon-
trastreicher hätte der Zwiespalt in der Innenpolitik zwi-
schen Rot und Grün heute nicht ausfallen können: Wir ha-
ben uns zuerst die in weiten Teilen von großem Ernst
getragene und aus unserer Sicht zustimmungsfähige Rede
des Innenministers angehört und sind dann sehr aufmerk-
sam der ersten Rede der Frau Kollegin Stokar von
Neuforn gefolgt.

Auch der Blick in die Koalitionsvereinbarung macht
diese Ambivalenz deutlich. Da ist für jeden etwas dabei.

Die Grünen kommen auf ihre Kosten, indem in der In-
nenpolitik die gesellschaftspolitischen Themen nach
vorne geschoben werden. Ich nenne nur Ausgestaltung
der Zuwanderung, Drogenpolitik, Antidiskriminierungs-
gesetz und


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut!)


Informationsfreiheitsgesetz.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Noch besser!)

– Herr Ströbele ruft schon „Gut so!“.

Von all diesen Dingen hat man in der Rede des Bun-
desinnenministers aber nichts gehört.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Datenschutz auch noch!)


Er hat zu Recht davon gesprochen, dass wir uns in der
Innenpolitik als Bestandteil der allgemeinen Sicher-
heitspolitik auf schwere Jahre einstellen müssen. Herr
Bundesinnenminister, da bei den Grünen Zuwanderungs-
begrenzung, Terrorismusbekämpfung und innere Si-
cherheit allenfalls Fußnoten der Innenpolitik sind, muss
man sich fragen, ob Sie für all das, was Sie mit großem
Ernst zur Terrorismusbekämpfung und zur Verstärkung
der Anstrengungen für die innere Sicherheit hier gesagt
haben, wirklich die Unterstützung Ihres grünen Koali-
tionspartners haben.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Lassen Sie das mal unsere Sorge sein! – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich denke, Sie wollen mit den Grünen koalieren!)


Nach Ihrer Rede und nach der Rede von Frau Stokar
von Neuforn, auf die ich im Einzelnen noch zurückkom-
men will, müssen wir uns schon fragen, wer die Musik in
der Innenpolitik in Deutschland macht:


(Rüdiger Veit [SPD]: Das haben Sie doch eben gehört! Herr Schily ist der Schlagzeuger!)


Sie, Herr Minister, oder Herr Ströbele und seine neue Kol-
legin, die beim Thema Evaluierung der Terrorismus-
gesetze schon angedeutet hat, dass sie hier scheinbar ganz
anderer Auffassung ist als Sie.

Herr Minister, wir sehen sehr wohl einen Widerspruch.
Es ist zwar richtig, dass Sie am 15. Oktober auf der
EU-Innenministerkonferenz gefordert haben, dass das
Thema Terrorismusbekämpfung auf die Tagesordnung
der EU kommt. Es ist aber doch unverkennbar, dass Sie in
Ihren Ausführungen von der EU Dinge gefordert haben,
die Sie in den beiden Antiterrorgesetzen in Deutschland
– also innerstaatlich – nicht verwirklicht haben. Wir glau-
ben, dass die Koalitionsvereinbarung vor allem im Bereich
der elementaren Themen der Innenpolitik – Zuwande-
rungsbegrenzung, Zuwanderungssteuerung, Terrorismus-
bekämpfung und mehr innere Sicherheit – nicht die richti-
gen Antworten auf die wirklichen Herausforderungen gibt.


(Jörg Tauss [SPD]: Glauben heißt nicht wissen!)


Herr Minister Schily, Sie haben die Gefahr, die vom
Terrorismus auch für die Bürgerinnen und Bürger in

Dr. Max Stadler




Hartmut Koschyk
unserem Land ausgeht, sehr drastisch beschrieben. Der
Terrorismus ist grausame Realität unseres Lebens gewor-
den. Er hat weltweite Ziele und trifft, wie Djerba, Mos-
kau, Bali und auch der 11. September gezeigt haben, auch
deutsche Mitbürgerinnen und Mitbürger.

Der stellvertretende Vorsitzende des Bundes Deutscher
Kriminalbeamter Klaus Jansen, ein Experte aus dem Bun-
deskriminalamt, hat zur Bedrohungslage in Deutschland
vor kurzem in der „FAZ“ gesagt, dass es in Deutschland
nicht nur eine abstrakte Gefahr von Terroranschlägen
gebe. Jansen sagte in der „FAZ“ wörtlich:

Ich glaube nicht, dass die deutsche Öffentlichkeit
derzeit vollständig von der politischen Führung über
die bevorstehenden Gefahren unterrichtet wird.

Solche in der Öffentlichkeit von sicherheitspolitischen
Praktikern gemachten Aussagen müssen uns doch zu den-
ken geben.

Welche Brisanz die Bekämpfung des internationalen
Terrorismus vor allem auch in Deutschland besitzt, haben
vor kurzem die Verhaftungen des Marokkaners Mzoudi,
der zu der Hamburger Zelle um Mohammed Atta enge
Beziehungen unterhalten und sie logistisch unterstützt
haben soll, und des Jemeniten Ramzi Binalshibh gezeigt.
Wir müssen doch zur Kenntnis nehmen, dass gerade
Deutschland im Zentrum der Ermittlungen im Zuge der
Anschläge des 11. September steht. Drei der vier in den
USA entführten Flugzeuge wurden von Selbstmordpilo-
ten gesteuert, die lange Zeit in Deutschland gelebt haben.

Samuel Huntington hat erst vor kurzem in der „Zeit“
festgestellt:

Im 21. Jahrhundert hat die Ära der muslimischen
Kriege begonnen.

Mancher mag das für überzogen halten. Sicherlich gibt es
verschiedene Ursachen für die Gefahr, die auch unserem
Land und der internationalen Gemeinschaft durch den is-
lamischen Fundamentalismus droht.

Auch wenn wir immer wieder die Notwendigkeit ei-
nes Dialogs mit dem Islam beschwören und wir diese
Aufgabe auch leisten müssen, so müssen wir doch zur
Kenntnis nehmen, dass es auch im islamischen Funda-
mentalismus ausgesprochene Feindseligkeit gegenüber
spezifisch westlichen Ideen gibt – wie Individualismus,
Liberalismus, Konstitutionalismus, Demokratie, Men-
schenrechten sowie Gleichheit von Gruppen und Ge-
schlechtern. Feindseligkeit gibt es auch – das haben mich
viele, mich bestürzende Aussagen gelehrt – gegenüber
dem christlich-jüdischen Wertekanon. Wir müssen zur
Kenntnis nehmen, dass aus dieser Aggression der Nähr-
boden für Gewalt und Terror entsteht.

Die Praxis in den letzten Monaten hat deutlich ge-
macht, dass Ihre Antiterrorpakete I und II gravierende
Sicherheitslücken haben. Ihre Antiterrorpakete sind mehr
von der Hoffnung geprägt, die latente Gefahr möge nie-
mals Wirklichkeit werden. Sie verkennt, dass Deutschland
nicht nur Ruheraum, sondern Operationsraum ist und im
Visier des internationalen Terrorismus steht.


(Rüdiger Veit [SPD]: Das verkennt kein Mensch!)


Herr Minister, Sie haben vorhin zu Recht gesagt, dass
das Ausmaß der Größenordnung der terroristischen Ge-
fahr in Deutschland das Maß unserer gemeinsamen Ver-
antwortung beschreibt. Deshalb bieten wir Ihnen an und
wir appellieren an Sie: Lassen Sie uns noch einmal da-
rüber sprechen, ob nicht die aus unserer Sicht bestehen-
den Sicherheitslücken in den beiden Antiterrorpaketen
durch die Vorschläge, die die Union unterbreitet hat, ge-
schlossen werden können.

Es gibt durchaus einen Unterschied zwischen dem, was
Sie zu der Evaluierung des Antiterrorpakets II meinen und
was die Kollegin von den Grünen dazu gesagt hat. Sie ha-
ben von Korrektur- und Justierungsbedarf im Sinne von
möglichen Verbesserungen gesprochen, während die Kol-
legin von den Grünen gesagt hat: Wir wollen nicht länger,
dass der Innenminister den Wettlauf gegen die Opposition
gewinnen muss, die ihn in dieser Frage unter Druck setzt.


(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stimmt überhaupt nicht! – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn Sie zitieren, dann zitieren Sie richtig!)


Herr Minister, warten Sie mit dieser Evaluierung nicht
zwei Jahre! Überlegen Sie jetzt, was getan werden muss!
Setzen Sie sich mit unseren Vorschlägen konstruktiv aus-
einander! Die Politik, die die Kollegin von den Grünen
angedeutet hat und die klar erkennen lässt, dass es eher
um Aufweichung und die Wiederabschaffung einiger die-
ser Teile des aus unserer Sicht unzureichenden Antiterror-
paketes II geht, wird auf unseren entschiedenen Wider-
stand stoßen.

Für uns ist ein zentraler Punkt der Verbesserung, dass die
Einreise gewaltbereiter Extremisten nach Deutschland
verhindert wird bzw., sofern sie bereits in unserem Land
sind, die Voraussetzungen geschaffen werden, um diese
Personen leichter auszuweisen und abzuschieben.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich kann weitere Punkte nennen. Wenn der Innenaus-

schuss seine Arbeit wieder aufgenommen hat, können wir
unsere Vorschläge Punkt für Punkt diskutieren. Dabei
können Sie, Herr Minister, deutlich machen, wo Sie un-
sere Vorschläge für nicht praktikabel halten. Aber dass
seinerzeit viele unserer Vorschläge bei der Behandlung im
Bundestagsinnenausschuss einfach abgelehnt worden
sind,


(Jörg Tauss [SPD]: Zu Recht!)

können wir bis heute nicht verstehen.

Wir meinen, wir brauchen eine Erweiterung der Ver-
botsmöglichkeiten für islamistisch-extremistische Ver-
eine.Wir brauchen die Strafbarkeit der Unterstützung sol-
cher Vereine.


(Lachen des Abg. Jörg Tauss [SPD])

– Herr Tauss, darüber lacht man nicht.


(Jörg Tauss [SPD]: Wir haben doch gerade damit angefangen! Das haben Sie nie geschafft! Was war denn mit dem Kalifatsstaat? Wo leben Sie denn?)



(A)



(B)



(C)



(D)


148


(A)



(B)



(C)



(D)






– Ich komme gleich auf das Thema Verbotsverfahren,
al-Aksa und Kalifatsstaat. Aber wenn wir über solch
ernste Themen reden, sollten Sie dies nicht lächerlich
machen, Herr Tauss.


(Jörg Tauss [SPD]: Sie sollten seriös bleiben! Das ist Ihr Problem!)


Ich darf weitere Punkte nennen. Wir brauchen – ich
sage es noch einmal – die Strafbarkeit der Unterstützung
und der Werbung für ausländische terroristische Vereini-
gungen. Über das Thema biometrische Daten hat der Kol-
lege Bosbach bereits gesprochen. Wir brauchen auch Ver-
sagungsgründe für Visa und Aufenthaltsgenehmigungen
bei Terrorismus- und Extremismusverdacht. Wir brau-
chen die Erfassung und Speicherung der Daten hin-
sichtlich ethnischer und religiöser Zugehörigkeit auch im
Ausländerzentralregister. Wir brauchen im Einbürgerungs-
verfahren und bei der Erteilung von Aufenthaltsrechten
eine Regelanfrage beim Verfassungsschutz.

Sowohl der Kollege Röttgen als auch der Kollege
Bosbach haben schon über eine sinnvolle Ausgestaltung
der Kronzeugenregelung gesprochen. Wir sehen sehr
wohl – auch durchaus selbstkritisch –, an welchen Stellen
die seinerzeit von uns eingeführte Kronzeugenregelung
nicht dem entsprach, was aus rechtsstaatlichen Gründen
wünschenswert gewesen wäre. Ich meine aber, dass man
auch und gerade unter der terroristischen Bedrohung über
eine vernünftig auszugestaltende Kronzeugenregelung re-
den müsste.

Wir meinen, dass es auch im operativen Bereich not-
wendig ist, die Maßnahmen von Polizei und Verfas-
sungsschutz zu verbessern. In diesem Zusammenhang
sind Rasterfahndungen und Beobachtungen islamisti-
scher Bestrebungen durch den Verfassungsschutz des
Bundes und der Länder zu nennen.

Herr Minister, Sie haben im Zusammenhang mit den
Sicherheitsbehörden unseres Landes den Diensten ge-
dankt. Auch darin stimmen wir Ihnen zu. Aber uns ist
doch die grundsätzliche Skepsis und Ablehnung Ihres
grünen Koalitionspartners gegenüber den Geheimdiens-
ten bekannt. Angesichts dessen, was Herr Ströbele immer
wieder lauthals zu diesem Thema von sich gegeben hat,
befürchten wir, dass bei der im Koalitionsvertrag an-
gekündigten Überprüfung von Aufgaben, Struktur, Effek-
tivität, Befugnissen und Kontrolle der Geheimdienste
eine Schwächung der Dienste erfolgt. Das hielten wir für
unverantwortlich und das würde auf unseren entschiede-
nen Widerstand stoßen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Jetzt komme ich dazu, was Sie in der Koalitionsverein-

barung zu dem Thema „Weitere Erleichterungen im Staats-
angehörigkeitsrecht“ angekündigt haben, Herr Minister.


(Jörg Tauss [SPD]: Haben Sie noch Redezeit?)

Wir meinen, dass aufgrund der bisherigen Erkenntnisse bei
der Terrorismusbekämpfung über weitere Erleichterun-
gen im Staatsangehörigkeitsrecht noch einmal nachge-
dacht werden müsste. Ich will an dieser Stelle nicht darüber
sprechen, dass hinsichtlich des Anstiegs der Zahl der Ein-
bürgerungen im Jahr 1999 um 30 Prozent davon auszuge-

hen ist, dass fast die Hälfte der neu eingebürgerten Auslän-
der noch ihren alten Pass besitzt und somit entgegen der of-
fiziellen Darstellung der Bundesregierung quasi eine dop-
pelte Staatsangehörigkeit hat. Ich will auch nicht darüber
sprechen, dass man manchmal vermuten könnte, dass Sie
sich durch weitere Erleichterungen im Staatsangehörig-
keitsrecht neue Wählerschichten erschließen möchten.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das ist doch absurd! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das hätten Sie wirklich sein lassen sollen! Das ist Unsinn! – Jörg Tauss [SPD]: Und was ist mit den Aussiedlern?)


Ich meine aber, Herr Minister, dass Ihnen das, was ich ge-
rade ausgeführt habe, sicherlich bei den verschiedenen
Verfahren zu denken gegeben hat, wenn Sie ehrlich sind.
Denn Sie haben schon bei den Verbotsverfahren die Fol-
gen der Reformen im Staatsangehörigkeitsrecht zu spüren
bekommen.

Im Zusammenhang mit dem Verbot des Spendensam-
melvereins al-Aksa hat die „taz“ Anfang Oktober berich-
tet, dass dieser Verein für sich nicht mehr gelten lassen
wollte, dass er in Deutschland ein von Ausländern getra-
gener Verein ist, weil viele der Aktionisten inzwischen
eingebürgert sind.


(Otto Schily, Bundesminister: Nach Ihrem alten Recht! Deshalb haben wir es verschärft! – Hans-Joachim Hacker [SPD]: Herr Koschyk, das war ein Eigentor!)


– Deshalb lassen Sie uns doch gemeinsam darüber nach-
denken, Herr Minister, dass es nicht das richtige Signal
ist, über weitere Erleichterungen bei der Einbürgerung
ohne Regelanfrage nachzudenken. Schließlich mussten
Sie sowohl beim al-Aksa-Verfahren als auch beim Ver-
botsverfahren im Zusammenhang mit dem Kalifatsstaat
zur Kenntnis nehmen, dass eine Reihe der Aktivisten eben
keine Ausländer, sondern eingebürgert sind.

Ich meine, wir müssen auch eine Diskussion über die
gesellschaftspolitische Dimension des Terrorismus füh-
ren. Wir müssen uns schon fragen, wie viel Unterschied-
lichkeit ein Land verträgt, wie viel Gemeinsamkeit ein
Land braucht, um seine innere Bindungskraft und seine
Widerstandsfähigkeit gegenüber extremistischen Strö-
mungen nicht zu verlieren, und ob wir nicht von Neuem
damit beginnen könnten, ohne ideologische Verbrämung


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ausgerechnet Sie, Herr Koschyk!)


die Gefährdungen für die innere Sicherheit unseres Lan-
des auch im Zusammenhang mit einer ungesteuerten Zu-
wanderung zu sehen.


(Jörg Tauss [SPD]: Haben Sie Stadler nicht zugehört?)


– Ich sage das so deutlich: auch nach den bisherigen Er-
fahrungen einer ungesteuerten Zuwanderung.

Herr Minister, Ihnen ist doch sicherlich auch die Ent-
scheidung des Vorsitzenden des zuständigen Gerichts
bekannt, der den Kalifen von Köln verurteilt hat. Der
Richter hat sich in der Urteilsbegründung zutiefst er-
schüttert gezeigt über das Ausmaß der in Deutschland

Hartmut Koschyk




Hartmut Koschyk
entstandenen, gegen unsere Verfassung, gegen die Demo-
kratie und gegen unseren Wertekanon gerichtete Parallel-
gesellschaft, die sich hinter dem Kalifen von Köln und
dem Kalifatsstaat verborgen hat.


(Jörg Tauss [SPD]: Da habt ihr nichts gemacht!)


Darum, dass wir, wenn wir solche Gefahren erkennen,
entschiedener handeln, dass noch einmal über eine Nach-
besserung der Antiterrorpakete nachgedacht wird und
dass mit der Evaluierung nicht zwei Jahre gewartet wird,
möchte ich Sie, Herr Minister, namens meiner Fraktion im
Sinne einer konstruktiven Zusammenarbeit, wie Sie sie
angeboten haben, bitten.

Herr Minister, das Thema ist zwar zu ernst. Dennoch
möchte ich wie der Kollege Stadler mit einer etwas
scherzhaft gemeinten Bemerkung enden.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1500411600

Nein, Herr Kollege Koschyk, Sie haben Ihre Redezeit

bereits überschritten.


Hartmut Koschyk (CSU):
Rede ID: ID1500411700

Wir helfen Ihnen gegenüber allen Größeren.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord neten der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1500411800

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der Kol-

legin Silke Stokar von Neuforn.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Kollege Koschyk, im Zusammenhang mit der
Evaluierung der Sicherheitsgesetze haben Sie mich unter
Nennung meines Namens – ich vermute: bewusst – falsch
zitiert und wiedergegeben. Ich möchte das richtig stellen.

Ich habe vorhin deutlich gesagt, welches Ziel wir mit
der Evaluierung verfolgen: Wir werden untersuchen, ob
die verabschiedeten Gesetze und die damit verbundenen
Befugnisse in jedem Einzelfall geeignet sind, das Ziel der
Terrorismusbekämpfung – auch dieses habe ich vorhin
genannt; das ist ein gemeinsames Ziel von Rot-Grün; ich
sage das, damit hier keine Unklarheiten entstehen – zu er-
reichen. Wir werden uns das von den Diensten und vom
Bundesinnenministerium an der Praxis erläutern lassen.
Selbstverständlich werden wir auch klären, ob die Ge-
setze verhältnismäßig sind. Dies ist ein ganz normaler
Vorgang. Ihre Darstellung dessen, was ich gesagt haben
soll, weicht weit von dem ab, was ich in meiner ersten
Rede in diesem Hohen Hause tatsächlich gesagt habe.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1500411900

Herr Kollege Koschyk, wollen Sie erwidern?


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Nein!)


Für die Bundesregierung hat jetzt das Wort die Frau
Staatsministerin Dr. Christina Weiss.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


D
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1500412000


Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-
ren! Ich begreife Kultur als ein Regelwerk des Füreinan-
ders und des Miteinanders. Sie umgrenzt das Feld der
Auseinandersetzung einer Gesellschaft mit ihren Tradi-
tionen und Wurzeln, ihren Werten, ihren Zielen, ihren
Konflikten und natürlich ihren Visionen, den zukünftigen
Pfaden der Entwicklung. Kultur prägt die Lebensent-
würfe der Individuen und bildet zugleich den Nährboden
ihrer Realisierung. Sie umfasst außerdem das Selbstbe-
wusstsein einer Gesellschaft und eines Staates. Sie defi-
niert die Verhältnisse des Umgangs miteinander sowie die
von Gerechtigkeit und Verantwortung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn der Staat die Kultur vernachlässigt, dann vergeht
er sich an seiner eigenen Zukunft; denn er nimmt sich die
kreative Kraft der Visionen, der Utopien. Ich zögere nicht,
diese großen Begriffe hier einzuführen. Verstehen Sie
mich bitte nicht falsch: Es geht mir nicht primär – jeden-
falls nicht heute – um die Frage des Geldbetrages, den die
öffentliche Hand für die Kultur aufbringt, auch wenn ich
gleich zu Beginn meiner Amtszeit durchaus mit fiskali-
schen Dingen konfrontiert war. Es geht mir heute viel-
mehr um die Haltung gegenüber den Künsten, um die
Wertschätzung dessen, was Künstlerinnen und Künstler
zum Gemeinwohl beitragen.


(Beifall bei der SPD)

Die Künste sind ein Spezialfall der Kultur, das Kraft-

feld der Kreativität in einer Kultur. In der Begegnung mit
den Künsten lernen wir, unsere Subjektivität, das heißt
unsere innere Vielfalt, unsere geistige Unabhängigkeit auf
der Basis der Gewissheit kultureller Identität, auszuprä-
gen. Die Künste erschließen Grundlegendes, aber nicht
Selbstverständliches. Sie trainieren die Wahrnehmungs-
fähigkeit, sie schulen die emotionale Intelligenz ebenso
wie das Vermögen, über plurale Weltsichten nachzuden-
ken. Künstler erkunden Grenzbereiche, sie zeigen Gren-
zen auf und überschreiten sie zugleich. Die Ergebnisse
dieser Grundlagenforschung präsentieren sie als ein An-
gebot an die Sinne, ein Angebot, das im Übrigen bei je-
dem Wahrnehmungsakt neu und anders ergriffen werden
kann.

Kunst stellt immer wieder neue Beziehungen her zwi-
schen Optionen der Wahrnehmung und Formen der Reak-
tion. Die Künste ermöglichen und erfordern auf diese
Weise eine Art von Kommunikation, wie sie für unsere
Gesellschaft einmalig ist. Diese Art von Kommunikation
eröffnet uns neue Denkräume, neue Erfahrungsmöglich-
keiten. Kunst ist das Labor für die Energien der Fantasie,
des freien, sich selbst reflektierenden Denkens. Das Re-
gelwerk des Miteinanders, meine Damen und Herren,
gründet sich nicht zuletzt auf dieses Denken.


(A)



(B)



(C)



(D)


150


(A)



(B)



(C)



(D)






Nun bin ich nicht nur die Beauftragte der Bundesre-
gierung für Kultur, sondern auch für Medien. Hier soll
eine Anmerkung genügen: Die Medien nehmen innerhalb
des eben skizzierten Kontextes eine Doppelstellung ein.
Sie sind einerseits Teil der Kultur, auch in dem Sinne, dass
sie wesentlich zur Ausbildung von Subjektivität beitra-
gen, andererseits vermitteln sie Ausprägungen von Kul-
tur. Damit ist eines der Spannungsfelder benannt, inner-
halb dessen wir uns mit den Medien und damit natürlich
mit uns selbst auseinander setzen müssen.

Was folgt aus diesen Überlegungen für mein Amtsver-
ständnis? Ich möchte es so beschreiben: Regelwerke,
nicht nur juristische, sind auf Anwältinnen und Anwälte
angewiesen, damit sie ausgelegt werden und in Kraft blei-
ben können. In diesem Sinne sehe ich mich als Anwältin
für die Kultur. Zum Spektrum meiner „Anwaltspraxis“
gehört in erster Linie dreierlei: das Moderieren, das Reprä-
sentieren – auch verstanden als Vertretung von Interessen –
und ebenso „Missionieren“, das heißt das Werben, ver-
standen als Vermitteln von Kunst und Kultur und dem,
was sie uns als Möglichkeitssinn eröffnen. Dass mich bei
der Verfolgung dieser Mission der Wirklichkeitssinn nicht
verlässt und verlassen wird, dessen bin ich mir sicher,
auch dank der Bindung meines Amtes an dieses Haus.

Ich sprach von einem Regelwerk des Miteinanders.
Beziehen möchte ich diese Leitideen auch ganz praktisch
auf die Kooperation mit anderen Ressorts. Kulturpoli-
tik muss ressortübergreifend gedacht werden – ich könnte
auch sagen: grenzübergreifend.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)


Beziehen möchte ich die genannten Ideen vor allem auch
auf die Arbeit mit Ihnen hier im Parlament, im Ausschuss
für Kultur und Medien und in den anderen Ausschüssen
des Deutschen Bundestages. Es geht mir um eine Kultur
des miteinander Debattierens, aber auch des miteinander
Entwickelns.

Ich bin gespannt darauf, mich mit Ihnen auseinander zu
setzen und – davon gehe ich einfach aus – zu verstän-
digen. Verständigung suchen wir über Grundsätzliches,
aber auch über sehr konkrete kultur- und medienpolitische
Fragen. Lassen Sie uns aber in jedem Fall gemeinsam der
Kultur, der geistigen Orientierung unserer Gesellschaft,
etwas mehr Gewicht verleihen!

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1500412100

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Norbert Lammert

von der CDU/CSU-Fraktion.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1500412200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit

Beginn des rot-grünen Projekts ist die Kulturpolitik eine

besonders auffällige, aber keine besonders starke Seite
dieser Bundesregierung.


(Widerspruch bei der SPD)

Dem ersten Beauftragten der Bundesregierung war das
Amt nicht wichtig genug, um der Versuchung zu wider-
stehen, bei der erstbesten Gelegenheit in einen scheinbar
noch interessanteren Spitzenjob in der Medienwirtschaft
zu wechseln.


(Beifall des Abg. Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP])


Sein Nachfolger war dem Bundeskanzler nicht wichtig
genug, um in dem Bundesland, aus dem er selbst kommt,
in Niedersachsen, eine Regelung mit der staatlichen
Hochschule, von der jener beurlaubt war, zur Sicherung
einer späteren Laufbahn als Hochschullehrer sicherzu-
stellen.

Nun Christina Weiss. Ich begrüße Sie herzlich, Frau
Weiss. Ich wünsche Ihnen eine glückliche Hand, insbe-
sondere aber die Hartnäckigkeit und das Durchsetzungs-
vermögen, die Sie in einer Koalition brauchen werden, die
sich seit Jahren mit Ankündigungen sehr viel leichter tut
als mit der tatsächlichen Stärkung des Stellenwerts von
Kunst und Kultur.


(Monika Griefahn [SPD]: Wir haben alles abgearbeitet! – Jörg Tauss [SPD]: Sie waren vier Jahre abwesend, Herr Kollege!)


Bei der sprichwörtlichen kulturpolitischen Feinfühligkeit
des Bundesfinanzministers werden Sie genug Schwierig-
keiten haben, den höchst bescheidenen Anteil Ihres
Teilressorts am Bundeshaushalt aufrechtzuerhalten, der
in der Zeit Ihrer Amtsvorgänger übrigens von überschau-
baren 0,4 Prozent auf ganze 0,3 Prozent des Bundeshaus-
halts gesunken ist – bei gleichzeitiger Ankündigung eines
dramatischen Anstiegs des Stellenwerts von Kunst und
Kultur.

Der Blick in die Koalitionsvereinbarung ist ebenso
ernüchternd wie die heutige Regierungserklärung. Das
gilt sowohl mit Blick auf die nationale Kulturpolitik als
auch – vielleicht in noch stärkerem Maß – mit Blick auf
die auswärtige Kulturpolitik. Heute Morgen haben wir
dazu zwei, vielleicht drei Sätze gehört – einer so belang-
los wie der andere. Gerhard Schröder hat hier heute Mor-
gen vorgetragen, die Kulturpolitik sei für diese Bundesre-
gierung nicht einfach eine angenehme Nebensache.


(Zuruf von der SPD: So ist das!)

Nach dem, was er nicht vorgetragen hat, und nach dem,
was auch in der Koalitionsvereinbarung dazu nicht zu fin-
den ist, muss man befürchten: nicht einmal das.

Wer in der Koalitionsvereinbarung unter dem Stich-
wort „Kunst und Kultur“ nachschaut, findet eine An-
sammlung von deprimierend einfallslosen und lustlosen
Formulierungen zu diesem Gegenstand.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Was in dieser Koalitionsvereinbarung neu ist, ist nicht
richtig, und was richtig ist, ist nicht neu. Leider, Frau
Weiss, haben wir auch von Ihnen außer einigen völlig

Staatsministerin Dr. Christina Weiss




Dr. Norbert Lammert
unstreitigen Allgemeinplätzen über den Stellenwert von
Kunst und Kultur heute nichts dazu gehört, was Sie denn
an konkreten Vorhaben für diese Legislaturperiode in Ihr
Amt übernehmen wollen.


(Zuruf von der SPD: Warten Sie doch mal ab!)

Nun gibt es eine auf den ersten Blick aufregende, je-

denfalls elektrisierende Vokabel, die man in den wenigen
Sätzen zur Kunst- und Kulturförderung in der Koalitions-
vereinbarung nur schwerlich übersehen kann, und das ist
die Prüfung auf die künftige Kulturverträglichkeit der
eigenen Politik, die Klausel zur Kulturverträglichkeit, mit
deren Überwachung offenkundig die Beauftragte der
Bundesregierung ausdrücklich ausgestattet werden soll.


(Günter Nooke [CDU/CSU]: Planfeststellungsverfahren!)


Was von dieser Kulturverträglichkeitsklausel zu halten
ist, haben wir mit einer nun wirklich erstaunlichen Ge-
schwindigkeit in den wenigen Tagen zwischen dem Ab-
schluss der Koalitionsvereinbarung und den ersten An-
kündigungen des Bundesfinanzministers erlebt. Während
es in der Vereinbarung der Koalition noch lautet – ich zi-
tiere – „Wir werden auch in Zukunft die Vielfalt des En-
gagements von Bürgerinnen und Bürgern in Vereinen ...
nach Kräften unterstützen“, hat der Finanzminister einen
Tag nach dem Abschluss dieser Koalitionsvereinbarung
erklärt,


(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Geringe Halbwertzeit!)


was er sich unter einer tatkräftigen Unterstützung des En-
gagements von Bürgerinnen und Bürgern in Vereinen vor-
stellt: Er beabsichtigt die Streichung der Abzugsfähigkeit
von Spenden von Unternehmen für gemeinnützige Orga-
nisationen und Verbände. Dies war ein Anschlag auf das
bürgerschaftliche Engagement in unserem Land.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Umsetzung Ihres Vorhabens wäre die mutwillige Zer-
störung der finanziellen Grundlagen ehrenamtlichen En-
gagements in Hunderttausenden von gemeinnützigen Ver-
einen, Verbänden und Organisationen gewesen. Ihr Plan
war ein ganz unglaublicher steuerrechtlicher Salto mor-
tale nach unserer gemeinsamen Kraftanstrengung zur No-
vellierung des Stiftungsrechts und nach der Ermutigung
ehrenamtlichen Engagements durch eine famose, gran-
diose Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages,
die mindestens in dieser Zielsetzung völlig einig war.


(Vorsitz: Präsident Wolfgang Thierse)

Im Übrigen war es auch eine schwer verständliche

haushaltspolitische Dummheit; denn die auf diesem Wege
bestenfalls zu erreichenden zusätzlichen Steuereinnah-
men stehen in überhaupt keinem Verhältnis zu den sicher
entgangenen Einnahmen der Vereine und Verbände, die
diese Mittel dringend benötigen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Was ist jetzt Ihr Problem, Herr Kollege?)


Was es im Übrigen mit der Ermutigung bürgerschaft-
lichen Engagements zu tun haben soll, dass eigennützige

Sponsorentätigkeiten steuerlich berücksichtigt werden
können, gemeinnützige Aktivitäten dagegen nicht, das
bliebe das große Geheimnis einer rot-grünen Koalition.


(Jörg Tauss [SPD]: Die ganze Rede über das, was nicht ist!)


– Verehrter Herr Kollege Tauss, es würde uns etwas feh-
len, wenn nicht auch diese Rede hauptsächlich durch Ihre
Zwischenrufe bei gelegentlichen Interventionen des ge-
meldeten Redners gekennzeichnet würde.


(Jörg Tauss [SPD]: Ich danke Ihnen!)

Aber ich will mindestens zu Ihrer vorübergehenden

Beruhigung gerne Folgendes einräumen: Ich gehe aus-
drücklich davon aus, dass kein Kulturpolitiker sowohl der
roten wie der grünen Fraktion an den Formulierungen der
Koalitionsvereinbarung und schon gar nicht an den Ab-
sichten des Finanzministers beteiligt war. Das strahlende
Lächeln des Kollegen Barthel bestätigt diese freundliche
Vermutung. Dies entlastet in der Tat die Kulturpolitiker;
aber es zeigt den tatsächlichen Stellenwert von Kultur
und Medien in dieser rot-grünen Koalition.


(Jörg Tauss [SPD]: Es zeigt unseren Einfluss!)

Verehrte Frau Weiss, Sie treten ein Amt an, das mitt-

lerweile, nach anfänglichem Streit, insbesondere zwi-
schen Bund und Ländern, mehr als zwischen den Parteien,
als Ausdruck der Verantwortung des Bundes für die För-
derung von Kunst und Kultur – neben der Verantwortung
der Länder und Kommunen – als allgemein anerkannt gel-
ten kann.


(Jörg Tauss [SPD]: Prima!)

Sie werden im Deutschen Bundestag auf einen Ausschuss
für Kultur und Medien treffen, in dem das gemeinsame
Bemühen um die Förderung von Kunst und Kultur noch
ausgeprägter als die Wahrnehmung der jeweiligen Rolle
von Regierung und Opposition ist. Das soll, soweit es an
uns liegt, so bleiben.

Sie werden eine breite Unterstützung im Übrigen drin-
gend brauchen. Ich sage Ihnen heute für die CDU/
CSU-Fraktion gerne zu: Sie werden sie auch bekommen,
jedenfalls dann – allerdings auch nur dann –, wenn es
nicht nur um Allgemeinplätze, sondern auch um konkrete
Maßnahmen, um die Förderung von Kunst und nicht um
die Selbstinszenierung von Politik geht. Es muss sich al-
lerdings vieles ändern, damit manches besser werden
kann.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Jetzt loben Sie uns mal!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1500412300

Ich erteile das Wort der Kollegin Monika Griefahn,

SPD-Fraktion.


Monika Griefahn (SPD):
Rede ID: ID1500412400

Herr Präsident! Sehr verehrte Frau Staatsministerin,

herzlich willkommen!
Lieber Herr Lammert, Sie haben die Kulturverträg-

lichkeitsprüfung besonders erwähnt. Ich kann nur sagen:


(A)



(B)



(C)



(D)


152


(A)



(B)



(C)



(D)






An diesem Begriff und an der Tatsache, dass Sie die
Hälfte Ihrer Redezeit dazu benutzt haben, darzustellen,
was hätte sein können, zeigt sich, dass unsere Kulturver-
träglichkeitsprüfung funktioniert.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Denn wir haben Einspruch erhoben. Ich kenne die gute
Praxis der Umweltverträglichkeitsprüfung: Wenn die
Umweltpolitiker gesagt haben: „So geht das aber nicht;
das ist nicht verträglich“, und gegen eine Sache angegan-
gen sind, um sie zu korrigieren, dann war das ein gutes
Zeichen, dann war das Ausdruck der Bewältigung einer
Querschnittsaufgabe, wie sie nun auch die Ministerin und
wir, die Ausschussmitglieder, zu erfüllen haben.


(Beifall bei der SPD – Dr. Norbert Lammert [CDU/CSU]: Dürfen wir künftig regelmäßig mit weiteren Kamikazeaktionen rechnen, die dann rechtzeitig dementiert werden?)


– Wir können das Problem gemeinsam in bewährter Ma-
nier lösen.

Die letzten vier Jahre haben gezeigt, Herr Dr. Lammert,
wie erfolgreich Kulturpolitik des Bundes sein kann. Die
Regierungskoalition hat 1998 einen mutigen und innova-
tiven Schritt getan, indem sie das Amt des Staatsminis-
ters für Kultur und Medien eingerichtet hat. Die ersten
beiden Amtsinhaber – Michael Naumann und Julian
Nida-Rümelin – haben, jeder auf seine Art, gemeinsam
mit uns, dem Parlament, in vier Jahren sehr viel geschafft
und angestoßen. Wir haben nämlich fast die gesamte Ko-
alitionsvereinbarung vom letzten Mal abgearbeitet – das
wissen Sie auch –: das Stiftungsrecht, ein neues Gedenk-
stättenkonzept, viele Dinge wie zum Beispiel der Haupt-
stadtkulturvertrag, die Förderung der Buchpreisbindung
usw. Ich meine, wir brauchen uns nicht sagen zu lassen,
dass wir nichts gemacht hätten.


(Beifall bei der SPD)

Die Kulturpolitik des Bundes hat Impulse gegeben

und auch Debatten auf Länderebene und kommunaler
Ebene belebt. Das ist ein wichtiger Punkt; denn dort war
die Kultur sozusagen noch mehr weggebrochen. Sie hat
ferner die Stärke Deutschlands sichtbar gemacht: kultu-
relle Vielfalt in vielen Orten, von der Oper bis zur Sozio-
kultur, von München über die Lüneburger Heide bis nach
Berlin. Um diese Vielfalt und diese vielen Orte beneiden
uns andere Länder sehr. Deutschland ist noch immer – bei
allen Sparmaßnahmen – eines der in diesem Bereich best-
ausgestatteten Länder. Dafür werden wir weiter und, wie
ich meine, auch gemeinsam kämpfen. Das heißt, dass wir
die Prozesse in den Kommunen besonders begleiten wer-
den, natürlich auch in Berlin. Das wird eine unserer Auf-
gaben jetzt im Ausschuss sein.


(Beifall bei der SPD)

Unser Ziel am Anfang dieser neuen Legislaturperi-

ode ist es, die erfolgreiche Politik für Künstler und Kunst
fortzusetzen sowie den Dialog der Kulturen nach innen
und außen weiterzuführen. Kultur ist essenzieller Aus-
druck der Gesellschaft, in der sie entsteht, in der sie wirkt
und sich weiterentwickelt. Kultur ist, wie es im Koaliti-

onsvertrag steht, „Voraussetzung einer offenen, gerechten
und zukunftsfähigen Gesellschaft“.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Kulturpolitik ist damit auch Gesellschaftspolitik par ex-
cellence, und Kulturpolitik hat damit viel größere und tie-
fere Wirkungen, als ordnungspolitische Initiativen allein
sie erzielen könnten. Deshalb ist Kulturpolitik untrennbar
mit gesellschaftlichem, mit zivilem Engagement verbun-
den und ohne sie überhaupt nicht denkbar. Deshalb wol-
len wir sie weiter fördern. Deshalb ist die Steuerabzugs-
fähigkeit von Spenden ein wichtiger, zentraler Punkt
genauso wie das Stiftungsrecht, zu dessen Zustandekom-
men wir gemeinsam beigetragen haben.

Dialogfähigkeit der Kulturen nach innen und außen ist
auch Grundlage von Demokratie. Dabei helfen gerade
Künste: Musik, Literatur, Theater, Film und zunehmend
neue Medien und die Vermengung der verschiedenen
Ebenen in neuen Medien.


(Beifall bei der SPD)

Deswegen werden wir besonders alle diese Verschrän-
kungen unterstützen und darauf schauen, dass das in der
Welt präsent ist.

Wenn wir diese offene und gerechte Gesellschaft haben
wollen, sind unsere internationalen Kulturbeziehungen
und die auswärtige Kulturpolitik ein zentraler Bestand-
teil davon. Deshalb ist der viel zitierte Dialog der Kultu-
ren ein Teil von Krisenprävention und wird immer wich-
tiger in den internationalen Beziehungen, auch in der
Außen- und Sicherheitspolitik. Das sehen wir immer wie-
der; wir müssen auch immer wieder dafür kämpfen. So er-
leben wir es gerade in Afghanistan, wo unsere aktiven
Bemühungen, zum Beispiel Mädchenschulen einzurich-
ten oder Goethe-Institute wieder einzurichten, von vie-
len Seiten stark torpediert werden; denn dort gibt es
Kräfte, die Mädchenschulen wieder schließen wollen. Es
ist ein ganz wichtiger Punkt unserer Außen-, Bildungs-
und Kulturpolitik, dies voranzutreiben und damit auch
Menschenrechte und die Fähigkeit, gleichberechtigt mit-
einander zu leben, zu vermitteln.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Aber es gibt nicht nur die Goethe-Institute und die
deutschen Schulen, auf die ich noch komme, sondern
auch die Deutsche Welle, die einen wichtigen Beitrag zur
Demokratisierung, zum zivilgesellschaftlichen Wieder-
aufbau in Afghanistan leistet. Das betrifft zum Beispiel
die Unterstützung beim Aufbau des Fernsehens mit Pro-
grammen in Dari und Paschtu. Auch das sind ganz prak-
tische Möglichkeiten, den Dialog der Kulturen zu fördern,
Demokratisierung und Menschenrechte voranzubringen.
Auch das wird eine wichtige Aufgabe sein, für die wir uns
aktiv einsetzen müssen, für die wir immer wieder werben
müssen. Denn das sind die Dinge, die tatsächlich nach-
haltig da wirken, wo wir als Deutsche vor Ort vertreten
sind und Beziehungen zu den Menschen in anderen Län-
dern knüpfen.


(Beifall bei der SPD)


Monika Griefahn




Monika Griefahn
Deshalb ist die Neuformulierung des Deutsche-Welle-Ge-
setzes ein wichtiger Punkt in dieser Legislaturperiode, um
den Programmauftrag neu zu formulieren.

Neben der Präsentation von Deutschland im Ausland
stellen sich auch die Fragen des Kriseninterventions-
radius, aber eben auch der Dialogstruktur, die ganz wich-
tig ist. Ganz nebenbei, Herr Koschyk hat sich immer sehr
für die deutsche Sprache eingesetzt. Auch das ist ein wich-
tiger Punkt, der dabei mitvermittelt wird.

Wichtig sind auch die deutschen Auslandsschulen.
Sie sind Orte, an denen der Bezug zu Deutschland und sei-
ner Kultur früh hergestellt wird. Hier entsteht Bindung an
unser Land und die Schüler und Schülerinnen in den deut-
schen Schulen – ob sie nun aus Deutschland kommen oder
aus dem jeweiligen Gastland – sind Botschafter für
Deutschland. Sie sind Botschafter für die Werte und für
die Normen, über die wir gerade hinsichtlich der Innen-
politik diskutiert haben: Menschenrechte, Demokratisie-
rung und Gleichberechtigung. Dies alles sind Ziele, die
wir versuchen zu erreichen.

Dafür haben wir in diesem und im nächsten Jahr zu-
sätzliche Gelder vorgesehen, die wir einsetzen wollen.
Wir müssen mit den Ländern – auch dabei ist wieder die
Kooperation der Länder notwendig – darüber diskutieren,
wie wir vor Ort die Standards organisieren. Das ist natür-
lich ein wichtiger Punkt, damit nicht auf einmal die Län-
der die Anerkennung von Abschlüssen infrage stellen,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

sondern damit wir weiterhin die Möglichkeit haben, auch
bei größerem Anteil von örtlichen Schülern und orts-
ansässigen Kräften, die Abschlüsse zu gewährleisten.

Die Wahrnehmung Deutschlands als Kultur- und Wirt-
schaftsnation – ganz klar beides – ist das Entscheidende
und der Punkt, von dem aus wir agieren müssen. Dazu
gehört zum Beispiel – auch das werden wir in dieser Le-
gislaturperiode vorlegen – ein novelliertes Filmförde-
rungsgesetz. Hier geht es darum, den europäischen Film
und damit auch den deutschen Film als Kulturgut zu be-
wahren, ihn zu exportieren und als Teil von Europa zu prä-
sentieren. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, den wir auch
mit der Buchpreisbindung deutlich gemacht haben. Lite-
ratur, Bücher und eben auch Filme sind nicht nur Wirt-
schafts-, sondern auch Kulturgüter. Das ist ein Punkt, den
wir deutlich machen müssen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1500412500

Kollegin Griefahn, Sie haben Ihre Redezeit überzogen.

Kommen Sie bitte zum Ende.


Monika Griefahn (SPD):
Rede ID: ID1500412600

Ja gut, ich komme zum Schluss. – Das heißt, wir haben

eine Menge zu tun.

(Zurufe von der CDU/CSU: Ja!)


Wir haben schon viel gemacht. Aber wir existieren erst
seit vier Jahren, Sie haben das vorher nicht gemacht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich wünsche mir, dass Sie auch weiterhin im Ausschuss
so aktiv und kooperativ mit uns zusammenarbeiten und
mit der Ministerin all diese Dinge auf den Weg bringen.
Ich wünsche uns eine wirklich konstruktive Zeit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1500412700

Der Herr Kollege Otto ist schon da und hat das Wort.


Hans-Joachim Otto (FDP):
Rede ID: ID1500412800

Vielen Dank, Herr Präsident. Liebe Frau Weiss, auch

die Liberalen gratulieren Ihnen herzlich zur Übernahme
des Amtes und bieten Ihnen unsere konstruktive Zusam-
menarbeit an. Der Kollege Funke aus Hamburg hat uns
von Ihrem segensreichen Wirken in Hamburg erzählt. Wir
hoffen, dass es Ihnen hier in Berlin genauso gelingen wird.

Offen gesagt haben wir das Gefühl, dass Sie den Rück-
halt und die Unterstützung des Parlaments als Parteilose,
die über kein Parlamentsmandat verfügt, brauchen. Je-
denfalls fällt es auf, dass von Ihren Wünschen, die Sie in
Ihren Berufungsverhandlungen mit dem Bundeskanzler
geäußert haben, kein einziger erfüllt worden ist. Insbe-
sondere haben Sie keine Zuständigkeit für die Goethe-
Institute und die auswärtige Kulturpolitik erhalten. Sie ha-
ben nicht die Zuständigkeit für den Denkmalschutz
erhalten und zu meinem großen Bedauern auch keine ein-
heitliche Zuständigkeit für die Medienpolitik bekommen.

Viel schlimmer noch, die aktuellen Koalitionsbe-
schlüsse im Koalitionsvertrag fördern nicht die Kultur, son-
dern sie schwächen sie. Da gab es den, wie Sie, Frau Weiss,
sagten, unglücklichen Plan, die Spendenabzugsmöglich-
keiten nach § 9 Körperschaftsteuergesetz zu streichen.


(Ernst Burgbacher [FDP]: Unerhört!)

Der Plan ist jetzt erst einmal zurückgestellt. Warten wir
den 2. Februar 2003 ab. Aber ich frage mich: Welcher
Geist steckt hinter einer solchen Überlegung? Es ist je-
denfalls kein Beitrag zu einer Zivilgesellschaft, wenn
Spenden an gemeinnützige Organisationen bestraft wer-
den, während – Kollege Lammert hat schon darauf hinge-
wiesen – die eigennützigen Sponsoringbeiträge weiterhin
steuerlich abgesetzt werden können.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Glaubt denn irgendjemand, dass man Spender und Mä-
zene mit solch abenteuerlichen Plänen motivieren kann,
mehr als bisher für Kunst und Kultur zu leisten? Was wir
brauchen, sind bessere steuerliche Rahmenbedingungen,
nicht schlechtere und schon gar keine Verunsicherung der
potenziellen Spender.

Ich möchte mich aber hauptsächlich einem anderen
Thema zuwenden. Ich empfinde es geradezu als Kata-
strophe für Kunst und Kultur, insbesondere für den Kunst-
handel, dass es einen weiteren Plan unseres Pinocchio
Eichel gibt, der nicht zurückgezogen, sondern beschlos-
sen worden ist. Auf Seite 71 des Koalitionsvertrages
findet sich folgender salbungsvolle Satz:


(A)



(B)



(C)



(D)


154


(A)



(B)



(C)



(D)






Der Mehrwertsteuersatz im Kulturbereich muss erhal-
ten bleiben.
Die linke Hand, die Kulturhand, weiß offensichtlich nicht,
was die rechte Hand, die Steuerhand, tut; denn auf
Seite 19 desselben Papiers steht scheinheilig Folgendes:

Wir werden den Abbau ungerechtfertigter ... Steuer-
vergünstigungen konsequent fortführen.

Was bedeutet das, meine Damen und Herren? Inzwi-
schen wissen wir es. Der ermäßigte Umsatzsteuersatz für
Kunst- und Sammlungsgegenstände soll von bisher 7 Pro-
zent auf 16 Prozent angehoben werden.


(Dr. Norbert Lammert [CDU/CSU]: Vorbehaltlich der Kulturverträglichkeit!)


– Ja, vorbehaltlich der Kulturverträglichkeit. – Meine Da-
men und Herren, das ist die Logik des Koalitionsvertra-
ges. Ich möchte einmal sehen, was dabei herauskommt.
Das eine, Frau Kollegin Griefahn, konnten Sie heraus-
schießen, das andere offensichtlich noch nicht. Dem
Kunsthandel wird an der einen Stelle versprochen, dass
der ermäßigte Steuersatz erhalten bleibt – daraufhin sind
die meisten der Händler beruhigt –, und einige Seiten vor-
her wird in demselben Papier das Gegenteil festgelegt.


(Ernst Burgbacher [FDP]: Unerhört!)

Das Finanzministerium, unser Freund Eichel, beziffert

die Steuermehreinnahmen aus der genannten Mehrwert-
steuererhöhung bis zum Jahre 2006 locker auf 200 Milli-
onen Euro. Mehr, meine Damen und Herren, können Sie
dem Kunsthandel und den Künstlern in Deutschland
wirklich nicht schaden.

Frau Weiss, Sie sagten, entscheidend sei die Haltung
und Wertschätzung gegenüber Künstlern. Ich frage mich
in der Tat, welche Haltung und Wertschätzung gegenüber
Künstlern dadurch zum Ausdruck kommt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Frau Weiss, die liberale Opposition möchte Sie gern un-
terstützen. Wenn Sie gegen diese kultur- und kunstfeind-
lichen Pläne vorgehen, dann werden Sie uns an Ihrer Seite
finden.

Gestatten Sie mir abschließend noch eine kurze Anre-
gung. Frau Weiss, Sie tragen den Titel einer Staatsminis-
terin für Kultur und Medien. Ihr Hauptinteresse liegt an-
gesichts Ihrer bisherigen Tätigkeit sicherlich im Bereich
der Kultur. Bedenken Sie aber bitte, dass der weit größere
Reformbedarf in der Medienpolitik liegt. Wir brauchen
dringend eine umfassende Reform der Medien- und Kom-
munikationsordnung. Das bisherige Regelungs- und Zu-
ständigkeitsdickicht ist antiquiert und muss geliftet wer-
den.


(Jörg Tauss [SPD]: Unserem Antrag haben Sie nicht zugestimmt!)


Nehmen Sie sich auch dieses überfälligen Reformprojekts
an.

Auf eine gute Zusammenarbeit mit Ihnen! Wir freuen
uns darauf.

Danke schön.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1500412900

Ich erteile dem Kollegen Günter Nooke von der CDU/

CSU-Fraktion das Wort.
Jörg Tauss [SPD]: Das ist der neue Kulturmi-

nister!)


Günter Nooke (CDU):
Rede ID: ID1500413000

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-

ren! Zunächst, Frau Staatsministerin, auch von mir als
Sprecher für Kultur und Medien herzlichen Glückwunsch
zum Amtsantritt. Sie treten ein Amt an, das mit einer
großen Hypothek belastet ist. Die Erwartungen der ein-
schlägigen Szene sind umso größer.

Leider wurde das Amt von den bisherigen Inhabern ein
bisschen als Durchlauferhitzer verstanden oder – besser
gesagt – missverstanden. Das hat dem Amt nicht gutgetan.
Ich kann nur hoffen, dass Sie das besser machen und die
Kultur im Rahmen Ihrer Amtsausführung mit größerer
Verlässlichkeit fördern.

Das Wichtigste ist doch, dass wir hier für dieses Land
arbeiten und dass das, im Gegensatz zu Ihren Vorgängern,
als ehrenvolle Aufgabe angesehen wird. Bei Herrn
Naumann und Herrn Nida-Rümelin kritisiere ich nicht
den Mangel an Engagement, aber was Ihren Vorgängern
doch nachgesagt werden muss, ist etwas, was auch mit
Kultur zu tun hat, nämlich ein Mangel an Patriotismus,


(Lachen bei der SPD)

für den man sich gerade als für Kultur Verantwortlicher in
Deutschland wohl nicht schämen sollte.

Das Angebot der konstruktiven Mitarbeit vonseiten
der Opposition will auch ich Ihnen hier machen. Ich tue
das umso lieber, wenn Sie sich die Anträge und Vor-
schläge der Union zu Eigen machen, in denen wir uns
bemühen werden, die überzeugenderen Lösungen anzu-
bieten, wie wir das schon in den vergangenen vier Jahren
gemacht haben.

Unter den vielen nicht ganz zu Ende gedachten, wenig
überzeugenden und von vornherein korrekturbedürftigen
Papieren zur Kulturpolitik der Koalitionsfraktionen, mit
denen Sie sich in den vergangenen Jahren auch im Aus-
schuss für Kultur und Medien beschäftigten, gehört der
Koalitionsvertrag nun wirklich zu den schwächsten Tex-
ten.

Mein Eindruck, dass diese Worte zur Kultur eine
Sammlung von Selbstverständlichkeiten, Wünschen und
kostenlosen Versprechungen an die Klientel sind, wurde
durch das, was Sie hier gesagt haben und was der Bun-
deskanzler heute Vormittag gesagt hat, leider bestätigt.
Das wäre nach den vielen Enttäuschungen dieser Art mit
einem eben noch vertretbaren Maß an Gleichmut hin-
nehmbar. Wenn sich aber schon knapp 24 Stunden nach
der Unterzeichnung herausstellt, dass Ihre Ministerkolle-
gen – vor allem der Finanzminister – den Text ohnehin nur
als unverbindliche Empfehlung ansehen und sich ihn eben
nicht zu Eigen machen, dann muss schon die Ernsthaftig-
keit der Aussagen, die Sie hier treffen und die Sie zu Pa-
pier gebracht haben, infrage gestellt werden.

Hans-Joachim Otto (Frankfurt)





Günter Nooke

Ich will einmal eine Aussage, die den Mehrwertsteu-
ersatz im Kulturbereich betrifft, zitieren:

Der Mehrwertsteuersatz ... muss erhalten bleiben.
Was heißt denn das? An wen richtet sich eigentlich das
Wort „muss“? Diese Forderung klingt wie eine Selbstver-
pflichtung. Dass sie aber wie ein frommer Wunsch be-
handelt wird, dürften die Kulturpolitiker leidvoll bemerkt
haben, und zwar schneller, als sie es selbst wahrhaben
wollten.

Über die Spendenabzugsfähigkeit haben wir gerade
gesprochen.

Die Erfindung der Kulturverträglichkeitsklausel ist
übrigens auch nur solch ein kostenloses Versprechen, und
dazu noch eines, das die Kulturszene selber einlösen
muss. Nicht einmal die Prüfung wird bezahlt; Sie lassen
sie durch den Protest der Öffentlichkeit auch noch die Öf-
fentlichkeit und die Klientel selber machen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Schöner hätte der operative Nutzen dieser Klausel kaum
demonstriert werden können.

Weder das Papier noch der bisherige Umgang der Ko-
alitionäre damit geben ein Zeichen an die Kultur, das sie
vielleicht am nötigsten braucht, nämlich ein Zeichen der
Verlässlichkeit. Wenn es der Politik schon nicht möglich
ist, „Probleme mit Geld zuzukleistern“, wie Sie gesagt
haben, dann sollten Sie vor allem eines vermeiden, näm-
lich neue Probleme durch Unzuverlässigkeit zu verursa-
chen. Kultur braucht vor allem Verlässlichkeit.

Im Koalitionsvertrag wird festgestellt, dass Kultur im-
mer wichtiger werde. Das ist schön gesagt und leicht ge-
schrieben, und man hat den Eindruck, dass hinter der For-
mulierung der naive Glaube steckt, dass sich bei so großer
Wichtigkeit bei allen die Einsicht einstellt, an der finan-
ziellen Ausstattung nicht mehr weiter zu kürzen. Aber
auch dazu gibt es kein Wort von Ihnen. Sie haben nicht
einmal die Themen aufgezählt – Frau Griefahn hat das im-
merhin getan –, geschweige denn gesagt, wie viel Sie wo
tun wollen. Anspruch und Wirklichkeit klaffen aber wei-
ter und in wachsendem Maße auseinander; denn es stehen
auch im Haushalt 2003 weniger Mittel für Kultur zur Ver-
fügung, und das bei nun angekündigtem größeren En-
gagement, zum Beispiel bei den Stätten des Weltkulturer-
bes und in Berlin.

Über das Engagement des Bundes in der Hauptstadt
heißt es, es werde erhalten und ausgebaut. So mutig das
Reden vom Ausbau auch erscheinen mag: Wir hätten es
– das ist hier schon mehrfach gesagt worden – gern etwas
genauer gewusst. Zum anderen übersieht die Formulie-
rung, dass es in erster Linie an der Gestaltung des Ver-
hältnisses zwischen Bund und Land mangelt; denn der
Hauptstadtkulturvertrag genügt aus einer ganzen Reihe
von Gründen nicht den Ansprüchen, die Berlin – als Bun-
deshauptstadt wie als Land – und der Bund zu Recht stel-
len. Wir werden im kommenden Jahr über die Neufassung
dieses Hauptstadtkulturvertrages reden müssen.

Weitere Beunruhigung entsteht auch, wenn der Koali-
tionsvertrag vorsieht, dass sich der Bund aus der kulturel-

len Filmförderung verabschieden will, indem er die
Kompetenzen an die Filmförderungsanstalt abgibt. Das
ist eine Idee, wie sie unnötiger und unsinniger kaum sein
könnte. Sie gehört in die Kategorie „Probleme, die die
Welt nicht braucht“, könnte man sagen. Besonders bizarr
wirkt es, dass die bedachte Filmförderungsanstalt das Ge-
schenk überhaupt nicht haben will.

All die anderen Dinge will ich gar nicht aufzählen. Der
schwache Punkt dieser Koalitionsvereinbarung – das will
ich hier nur noch einmal zusammenfassend sagen – ist: Es
fehlt an belastbaren, konkreten Aussagen zur Kulturför-
derung für die nächsten Jahre.

Einen anderen Punkt möchte ich auch noch anspre-
chen. Sie haben hier fernab der Wirklichkeit auch philo-
sophische Dinge besprochen und uns gebeten, die Anbin-
dung an die Realität zu organisieren. Doch Kultur – da
sind wir uns einig – hat nicht nur mit Geld zu tun. Inso-
fern will ich diesen Faden gerne aufnehmen. Es ist näm-
lich auch über eine Aufgabe zu reden, die im Koalitions-
vertrag nicht erwähnt wird, die aber uns als Kultur- und
Medienpolitiker beschäftigen muss und künftig auch stär-
ker beschäftigen wird. Die Medien – die alten wie die
neuen – sind nicht nur ein wachsender Wirtschaftsfaktor.
Vielmehr haben sie auch einen großen Anteil an der kul-
turellen Entwicklung und an der gesellschaftlichen und
auch nationalen Identität. Ob bewusst oder unbewusst,
beabsichtigt oder unbeabsichtigt tragen sie dazu bei, das
zu erzeugen, was jeder Einzelne als sein Bild von der Welt
bezeichnet. Presse und elektronische Medien vermitteln
das, was die Gesellschaft als Realität annimmt.

Mit diesem Phänomen haben wir uns viel stärker als
bisher auseinander zu setzen. Denn die Wirklichkeit wird
über Medien wahrgenommen, ohne dass diese uns Instru-
mente überlassen, mit denen ein Wahrheitsgehalt festge-
stellt werden könnte. Wir können also nur annehmen, dass
das, was uns vermittelt wird, die Realität ist. Sicherer kön-
nen wir nur werden, wenn wir Kompetenz haben, wenn
wir gelernt haben, mit Fiktion und Realität gleichermaßen
kritisch umzugehen.

Mir geht es in diesem Zusammenhang deshalb um
zweierlei:

Erstens muss auch die Kultur- und Medienpolitik deut-
licher als bisher die Bedeutung der Medienkompetenz in
den Vordergrund stellen und zum selbstverständlichen
Bestandteil der kulturellen Bildung machen.

Zweitens müssen wir uns mit der Frage beschäftigen,
was es für unser Bewusstsein bedeutet, dass Fiktion zur
Realität wird, wie zum Beispiel beim Terroranschlag auf
das World Trade Center geschehen, das als Science-Fic-
tion vorformuliert existierte.

Dabei geht es nicht nur um das Bewusstsein des Einzel-
nen, sondern auch darum, das Bewusstsein einer Nation zu
bilden, wie der Film „Baader“ von Christopher Roth im
Sommer dieses Jahres exemplarisch gezeigt hat. Fiktion
und Wirklichkeit, Imitation und Tatsachen werden hier in
einer unschlüssigen Halbdistanz ununterscheidbar. Je bes-
ser die Erfindungen in das linke Klischee passen, desto
leichter ist Glaubwürdigkeit herzustellen. Das Tragen eines
T-Shirts mit RAF-Symbolen ist nicht länger politisch, Herr


(A)



(B)



(C)



(D)


156


(A)



(B)



(C)



(D)






Umweltminister. Es ist nur noch in oder out. Politik wird
zum Zitat, Klassenkampf zum Kult: „Prada Meinhof“. Ich
glaube, auch darüber lohnt es sich zu sprechen.

Die RAF war davon überzeugt, Geschichte machen zu
können, ein Geschäft, das die Medien mittlerweile sou-
verän und gut beherrschen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1500413100

Herr Kollege Nooke, Sie müssen bitte zum Ende kom-

men.


Günter Nooke (CDU):
Rede ID: ID1500413200

Ja. – Der Weg von den wirklichen Ereignissen zur his-

torischen Kolportage ist kürzer geworden. Bei der Kol-
portage geht es nicht mehr um historisch-kritische Refle-
xion oder gar um die politische Wahrheit. Die jüngste
Zeitgeschichte wird aus dem historischen Kontext gelöst.

In diesem Zusammenhang wird es besonders wichtig
sein, darüber zu diskutieren, wie wir im Rahmen der Er-
innerungs- und Gedenkstättenkultur mit der Interpre-
tation der NS- und der SED-Diktatur umgehen. Ich würde
mir wünschen, dass sich der Bund engagiert, wenn es zum
Beispiel am 9. November darum geht, hier in Berlin den
Weg zu einer Mauergedenkstätte einzuschlagen und die-
sen Tag als einen zu entdecken, der nicht nur das Land
Berlin, sondern auch uns auf Bundesebene betrifft.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1500413300

Herr Kollege, Sie müssen wirklich zum Ende kommen.


Günter Nooke (CDU):
Rede ID: ID1500413400

Jawohl, Herr Präsident, ich komme zum Schluss und

sage: Es wäre gut, wenn wir uns gemeinsam darüber ver-
ständigten, dass es in der Kulturpolitik richtig ist zu sagen
– dieser Satz hat ja im Vorfeld dieser Debatte eine gewisse
Rolle gespielt –: Es ist Zeit für Taten und nicht nur für
schöne Worte.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1500413500

Weitere Wortmeldungen zu diesen Themenbereichen

liegen nicht vor.
Wir kommen damit zum Themenbereich Umwelt.
Das Wort hat Bundesminister Jürgen Trittin.

Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir
zum Auftakt der 15. Wahlperiode über die Umweltpolitik
in den nächsten vier Jahren sprechen, dann wird Ihnen ei-
niges bekannt vorkommen.


(Dr. Klaus W. Lippold [Offenbach] [CDU/CSU]: Das stimmt!)


Selbstverständlich wollen wir den Weg, den wir beispiels-
weise mit dem Ausstieg aus der Atomenergie
eingeschlagen haben, fortsetzen.


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker [SPD])


Wir werden in diesen vier Jahren das Ende der Transporte
in die Wiederaufarbeitung organisieren. Die Kraftwerke
in Stade und Obrigheim werden vom Netz gehen. Dies
alles dürfte uns weiter in unseren Debatten begleiten.

Wenn Sie den Koalitionsvertrag und das dort festge-
legte Programm anschauen, dann werden Sie etwas Neues
finden. In Kap. V der Koalitionsvereinbarung finden Sie
im Hinblick auf die Umwelt-, Verkehrs- und Energiepoli-
tik erstmalig im Kern zusammengefasst, was wir unter ei-
ner nachhaltigen Politik verstehen: Wir wollen Umwelt-
politik nicht auf technischen Umweltschutz beschränken,
sondern ganz bewusst auch die Aspekte der Verkehrs-
und Energiepolitik einordnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Abg. Hubert Ulrich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] stößt gegen die Verblendung seines Sitzplatzes, die daraufhin zu Boden fällt)


– Ja, es ist die Agrarpolitik. Nein, Entschuldigung, Uli, ich
nehme es zurück.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1500413600

Der junge Kollege ist noch etwas heftig.

Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit:

Er ist aber nicht der Erste, dem das passiert ist.
Meine Damen und Herren, ich möchte zu drei Dingen

etwas sagen. Erstmalig sind wir im Bereich der ökologi-
schen Finanzreform nicht nur darangegangen, stärker
für Gerechtigkeit beim Abbau von Subventionen zu sor-
gen, sondern wir haben darüber hinaus auch ökologische
Signale gesetzt.

Ist es wirklich sinnvoll, dass beispielsweise bei der Be-
steuerung mit Umsatzsteuer das Fliegen besser gestellt
wird als der Erwerb von Nahrungsmitteln? Während für
den Erwerb von Nahrungsmitteln nur der halbe Mehr-
wertsteuersatz galt, musste beim Fliegen bisher gar keine
Mehrwertsteuer gezahlt werden. Dies war insbesondere
im Vergleich zu einem anderen Verkehrsträger, nämlich
der Bahn, unvernünftig, weil das ökologisch vorteilhafte
Verkehrsmittel höher besteuert wurde als das ökologisch
unzweifelhaft nachteiligere. Das korrigieren wir mit un-
serem Ansatz.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich frage die Kommunalpolitiker, ob es in Zeiten knap-
per Kassen wirklich sinnvoll gewesen ist, diejenigen, die
Wohneigentum aus dem Bestand erworben haben – das
ist verkehrs-, kommunal- und auch steuerpolitisch ver-
nünftig gewesen –, für dieses vernünftige Verhalten zu

Günter Nooke




Bundesminister Jürgen Trittin
bestrafen, indem sie nur die halbe Eigenheimzulage erhiel-
ten, während diejenigen, die auf der grünen Wiese neu ge-
baut haben, die volle Eigenheimzulage bekamen. Auch hier
haben wir in der Koalitionsvereinbarung gezeigt, wie man
auch in der Steuerpolitik umweltpolitisch umsteuern kann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich will ein drittes Beispiel nennen. Wir wollen das
fortsetzen, was wir mit dem Erneuerbare-Energien-
Gesetz auf den Weg gebracht haben. Wir wollen für die
Offshore-Windanlagen in den nächsten Jahren ein gro-
ßes Ausbauprogramm auflegen und den Weg zur ökologi-
schen Modernisierung der Energiepolitik fortsetzen.

Wir wollen das aber nicht nur in Deutschland machen
– deswegen haben wir das Marktanreizprogramm für
die erneuerbaren Energien vor die Klammern gezogen –,
sondern wir wollen das auch international unterstützen.
Das ist der Grund, warum wir uns dazu verpflichtet haben,
nicht nur eine große Konferenz zu erneuerbaren Energien
in den nächsten Jahren durchzuführen, sondern auch eine
halbe Milliarde Euro allein dafür in die Hand zu nehmen,
dass erneuerbare Energien in den Entwicklungsländern
eine Zukunftschance erhalten. So packen wir drei Dinge
zusammen: Armutsbekämpfung, Klimaschutz und ein
Stück Standortpolitik für eine wachsende Branche in
Deutschland.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Eine letzte Bemerkung: Ich wünsche mir für die
nächste Klimakonferenz vom gesamten Haus die Unter-
stützung, die wir beim Kioto-Protokoll erfahren haben.
Wir stehen am Vorabend der Konferenz in Neu-Delhi vor
der Situation, dass wir darüber neu verhandeln müssen,
wie es weitergehen wird, wenn die erste Verpflichtungs-
periode 2012 endet. Schon jetzt beginnen die Ansagen für
die Zeit danach.

Wir haben mit der Koalitionsvereinbarung ein interna-
tional klares Signal gesetzt: Deutschland will weiter sei-
ner Rolle als Vorreiter beim Klimaschutz gerecht wer-
den. Wir sind bereit, wenn andere diesen Weg mitgehen
– Vorreiter heißt nämlich nicht Stellvertreter –, bis zum
Jahr 2020 um 40 Prozent zu reduzieren. Das heißt, wir
werden das, was wir bisher erbracht haben, faktisch noch
einmal verdoppeln.

Unser Angebot zur Klimaschutzpolitik ist: Wir wollen
international gemeinsam mit den Europäern, mit den In-
dustrieländern und – ich füge hinzu – auch mit bestimm-
ten Schwellenländern ein entsprechendes Signal setzen.

Ich würde mich freuen, wenn wir dieses Haus jenseits al-
len Streites, den wir immer wieder in dieser Frage haben
werden, lieber Kollege Lippold, auf dem Weg des Klima-
schutzes und der gemeinsamen Zielsetzung für die Bundes-
republik Deutschland auch weiterhin so gemeinsam vertre-
ten können, wie wir das zum Beispiel beim Kioto-Protokoll
gemacht haben. Ich glaube, an dieser Stelle können wir auf
das, was wir gemeinsam erreicht haben, stolz sein.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1500413700

Ich erteile dem Kollegen Klaus Lippold, CDU/CSU-

Fraktion, das Wort.

(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Der Lippold ist wieder im Amt! Das ist toll!)



Dr. Klaus W. Lippold (CDU):
Rede ID: ID1500413800

Es hätte euch etwas gefehlt, oder?
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bundesmi-
nister, Sie haben Kioto zu Recht angesprochen. Ich
komme gleich im Detail darauf zu sprechen, aber einlei-
tend muss etwas gesagt werden: Ich kann Ihnen nicht an-
kreiden, dass Sie hier wenig gesagt haben, weil Ihre Re-
dezeit hier offensichtlich begrenzt war. Es wäre unfair,
dies zu tun.


(Horst Kubatschka [SPD]: Die ist immer begrenzt! Auch Ihre Redezeit ist begrenzt!)


Wir werden eine Reihe von anderen Positionen später
miteinander ausmachen müssen.

Ihr Bundeskanzler hatte heute eigentlich hinreichend
Zeit,


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Hat er die genutzt?)


etwas zur Umwelt zu sagen. Aber außer einer beiläufigen
– ich würde fast sagen: abfälligen – Bemerkung zum
Umweltschutz hat er überhaupt nichts dazu gesagt.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das war eine Null-Nummer!)


Diese Thema ist von ihm systematisch nicht beachtet
worden, was dafür spricht, Herr Bundesminister, dass Sie
bei diesem Bundeskanzler nicht die Unterstützung haben,
die Sie brauchen, um international wirklich durchstoßen
zu können. Darauf kommt es aber letztendlich an.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie können sicher sein, Herr Minister, dass wir Ihnen

für das, was auf der Konferenz in Delhi anzustreben ist,
genauso Rückendeckung zusagen, wie wir dies seinerzeit
für Kioto gemacht haben, weil wir konstruktive Kritik und
keine negative Kritik üben.

Der Sachverhalt ist aber der, dass man sich hier mit der
Klimaschutzpolitik der Bundesregierung auseinanderset-
zen muss. Wie sieht diese aus? Sachverhalt ist doch – ich
komme auf Versäumnisse in Ihrer Koalitionsvereinbarung
später noch detailliert zu sprechen –, dass Sie bei den ver-
gangenen Konferenzen immer mit dem Minderungsziel
von minus 25 Prozent bis 2005 durch die Gegend gezogen
sind, welches wir aufgestellt haben, dass Sie gleichzeitig
mit der Minderungsrate, die wir bei Kohlendioxidemis-
sionen für Sie erreicht hatten, überall Eindruck geschun-
den haben und jetzt unter Ihrer Regentschaft, wo Ihre Po-
litik zu wirken anfängt, die Kohlendioxidemissionen
steigen, Herr Minister.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



(A)



(B)



(C)



(D)


158


(A)



(B)



(C)



(D)






Dies müsste Sie eigentlich nachdenklich machen, aber
nicht nur nachdenklich, sondern dies müsste Sie auch
wesentlich selbstkritischer machen. Wenn Ihre Politik
wirklich so erfolgreich wäre, wie Sie tun und Sie dies in
Nebensätzen immer wieder sagen, würden die Kohlen-
dioxidemissionen doch nicht wieder steigen. Ich könnte
dies ja noch verstehen, wenn wir eine boomende Wirt-
schaft hätten, die aus allen Nähten kracht, weil die Pro-
duktion läuft, die Leute sich des Lebens freuen, das Leben
genießen und dabei die Emissionen steigen.

Sie aber sind doch gar nicht in der Lage, die Wirtschaft
boomen zu lassen. Die katastrophale Lage der Wirtschaft
und am Arbeitsmarkt, die Abnahme von Beschäftigung und
die Zunahme von Arbeitslosigkeit sind doch alles Faktoren,
die eigentlich dazu beitragen, dass die Emissionen sinken
und nicht steigen. Trotz dieses Trends schaffen Sie es nicht,
die Emissionen weiter sinken zu lassen, das, was wir auf den
Weg gebracht haben, deutlich weiter nach vorn zu schieben.

Deshalb verstehe ich auch, Herr Trittin, dass sich eine
explizite Formulierung des 25-Prozent-Ziels, das Sie bis
zum Jahre 2005 erreichen wollen, nicht in Ihrer Koaliti-
onsvereinbarung findet. Dies haben Sie ganz schamhaft
unter den Tisch fallen lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Wie vieles andere!)


Da hilft auch nicht das Ablenkungsmanöver, dass Sie
in fernen 20 Jahren um 40 Prozent reduziert haben wol-
len. In 20 Jahren, Herr Minister, sind die Dinge alle ge-
gessen.


(Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schön wäre es!)


Den vernünftigen Einstieg brauchen wir jetzt.
Mit Blick auf Delhi muss man aber sagen, dass das,

was wir bis zum Jahre 2005 erreichen wollen, die Basis
ist. Wenn ich den ersten Teil des Gebäudes nicht ordent-
lich baue, brauche ich mir über die erste Etage keine Ge-
danken mehr zu machen. Das Fundament und das Erdge-
schoss müssen richtig gebaut sein. Dies verpassen Sie im
Moment aber. Sie schlampen in der Grundfrage der Re-
duktion der Kohlendioxidemissionen. Auch bei den ande-
ren Klimagasen haben Sie nicht zugelegt. Dies heißt also:
Fehlanzeige auf der ganzen Linie.

Dies finde ich bedauerlich, denn wer draußen wirken
will – und das wollen Sie in Delhi –, der muss zu Hause
Erfolge vorzeigen, wie Sie früher immer richtig gesagt ha-
ben. Dies können Sie aber vor dem Hintergrund, wie ich
ihn gerade skizziert habe, nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich sage ganz offen, Herr Minister, dass es vor diesem

Hintergrund schwer ist, andere zu überzeugen. Es ist not-
wendig, dass in Delhi jetzt weitere möglichst konkrete
Vorentscheidungen fallen, wie es über das Jahr 2012
hinaus weitergehen soll. Es wäre ausgesprochen wichtig,
dass wir in dieser Richtung jetzt klar von Ihnen hören, wo
in Zukunft die Minderung liegen soll, wie Sie sich insbe-
sondere die Zusammenarbeit mit den Entwicklungs-
ländern und den Schwellenländern vorstellen. Wir müs-

sen den Entwicklungsländern einen Zuwachs an Ener-
gieverbrauch gönnen; ich glaube, das ist unstrittig. Bei
dem Verbrauch, den wir haben, können wir andere nicht
von der Verbesserung ihres Lebensstandards abhalten.

Auf der anderen Seite ist unbestreitbar notwendig – ich
bitte Sie, sich dafür einzusetzen –, dass wir die Schwel-
lenländer in Delhi mit ins Boot bekommen; denn ohne die
Schwellenländer werden wir das Klimaproblem, das ich
für das gravierendste Umweltproblem überhaupt halte,
nicht lösen können. Da ist jetzt Ihr Geschick gefragt. Ich
habe manchmal das Gefühl, dass Sie jenseits der Kern-
energiediskussion zu Hause nicht den nötigen Nachdruck
auf internationale Verhandlungen legen und dieses Thema
nicht entsprechend vertreten. Deshalb appelliere ich an
Sie, Ihre Strategie und Ihre Vorgehensweise zu ändern.
Genauso erwarte ich von Ihnen, dass Sie in Zukunft im
europäischen Umweltschutz mehr Engagement zeigen,
statt bei den gelegentlichen Umweltschutzvorstößen aus
Europa bundesrepublikanisch noch draufzulegen und un-
sere Wettbewerbsfähigkeit zu verschlechtern.


(Beifall des Abg. Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU])


Eine der Grundlinien, die wir vertreten, ist, den Um-
weltschutz mit einer vernünftigen Wirtschaftspolitik
und einer Politik, die arbeitsmarkt- und arbeitsplatzorien-
tiert ist, zu verbinden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Herr Trittin, was Sie gerade in Sachen Eigenheimzulage
gesagt haben, ist in dieser Frage völlig kontraproduktiv.
Ich sage es einmal so: Auch Ihre Baupolitiker schwelgen
ja immer in der Vorstellung, dass man jungen Familien
mehr Wohnraum zu vernünftigen Preisen usw. anbieten
muss. Aber jetzt an der Eigenheimzulage so herumzu-
basteln, wie Sie es tun, ist falsch, vor allem wegen der ne-
gativen Folgen.

Unsere Vorstellungen im Klimaschutzbereich waren
ganz klar. Ich bedaure, dass wir sie jetzt nicht umsetzen
können. Der Punkt ist, dass im Altbaubestand,wo in Be-
zug auf die Klimapolitik das erheblichste Potenzial für die
Reduktion von Kohlendioxidemissionen liegt, mit steu-
erlichen Anreizen gearbeitet werden muss. Wir haben da
ganz klare Vorstellungen entwickelt.

Ich habe diese Passage mit den steuerlichen Zuschüs-
sen oder steuerlichen Anreizen jetzt bei Ihnen wiederent-
deckt, Herr Trittin. Ich sage Ihnen zu: Wenn Sie zu dem
Thema steuerliche Anreize dynamisch etwas wirklich
Profundes mit entsprechender Stoßkraft vorlegen, werden
wir Sie unterstützen. Das ist gar keine Frage; denn das
wäre produktiv in dem Sinne, dass mit einer Maßnahme
sowohl Arbeitsplätze gesichert und geschaffen werden
könnten und gleichzeitig etwas für den Umweltschutz ge-
tan würde. Das ist eine Politik, wie ich sie mir vorstelle.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Aber das haben Sie nur schwach angedeutet.

(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Er hat ja auch kein Geld dafür!)


Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach)





Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach)

Diese Positionen müssten bei Ihnen besser dargestellt sein,
sonst ergeht es Ihnen in dieser Frage so wie bei den natio-
nalen Nachhaltigkeitsstrategien. Die entsprechenden Ziel-
setzungen haben Sie schon in die letzte Koalitionsverein-
barung hineingeschrieben, aber nichts ist passiert. Sie
wollten – auch das steht in der Koalitionsvereinbarung von
1998 – ein Umweltgesetzbuch, aber nichts ist passiert.


(Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist im Bundesrat an Ihnen gescheitert! – Horst Kubatschka [SPD]: Da habt ihr nicht mitgespielt! Da brauchen wir doch den Bundesrat!)


Sie wollten die Novelle der Sommersmogverordnung,
Sie wollten die Novelle der Verpackungsverordnung,
aber nichts ist passiert. Alles steht de facto wieder in der
Vereinbarung; manches haben Sie zwischenzeitlich auch
wieder vergessen.


(Horst Kubatschka [SPD]: Sie aber auch!)

Das ist ein Punkt, den wir Ihnen nicht durchgehen las-

sen: dass Sie von Mal zu Mal die gleichen Positionen brin-
gen, die Sie schon in grauer Vorzeit realisieren wollten,
und die Eiszeittiger, die Sie ausgraben, als völlig neue, le-
bende Objekte verkaufen wollen. So geht das nicht. Da
muss wirklich etwas Neues kommen.


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Säbelzahntiger, nicht Eiszeittiger!)


Wir werden uns, Herr Trittin, wie ich das sehe, in Zu-
kunft auch kritisch über die Instrumente auseinander set-
zen. Wir meinen, dass wir marktwirtschaftliche Power
nutzen müssen, um den Umweltschutz voranzubringen,
national wie international. Die Selbstverpflichtung, die
Sie langsam anfingen mitzutragen, findet sich in der
neuen Koalitionsvereinbarung jetzt nur noch sehr ober-
flächlich. Sie haben die Verhandlungen in Brüssel über
die handelbaren CO2-Emissionen mit solcher Nachläs-sigkeit geführt, dass das Instrument der Selbstverpflich-
tung gefährdet ist. Das ist falsch, Herr Minister, so kön-
nen wir das nicht angehen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


So können wir nichts umsetzen. Dann haben Sie die salva-
torische Klausel aufgenommen, dass die EU das Ganze so
abschließen soll, dass Selbstverpflichtung möglich blei-
ben könnte – Konjunktiv! –, nicht möglich bleiben muss.

Diese Positionen lassen wir Ihnen so nicht durchgehen,
Herr Minister, denn sie sind in Brüssel nicht mit dem
Nachdruck verhandelt worden, wie sie hätten verhandelt
werden müssen.

Hier komme ich wieder auf die Querbeziehung zurück.
Wenn ein Emissions Trading eingeführt wird, das die
Arbeitsplätze in großen Teilen der Chemie und anderer In-
dustrie nachhaltig gefährdet, dann werden wir Ihnen die
Verantwortung dafür nicht abnehmen, sondern ganz klar
sagen: Die Arbeitsplatzvernichter sitzen auf der Regie-
rungsbank und auf der linken Seite des Parlaments.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Die Nachlässigkeit, mit der Sie diese Dinge gestrickt ha-
ben, werden Sie noch aufzuarbeiten haben. Andere Länder
wie die Niederlande oder England haben hier ganz anders
vorgebaut, als Sie das getan haben. Ich meine, das muss
deutlich angesprochen werden. Das geht nicht anders. Hier
gibt es noch Punkte, über die diskutiert werden muss.

Sie haben über die Energiewende gesprochen. Ich sage
dazu nur so viel, da Kollege Paziorek noch näher auf die
Frage der regenerativen Energien eingehen wird: Wir
brauchen regenerative Energien. Sie unterstellen uns im-
mer zu Unrecht, dass wir diese nicht wollten. Wir brau-
chen aber wettbewerbsfähige regenerative Energien und
nicht regenerative Energien um jeden Preis. Wir brauchen
angepasste regenerative Energien und nicht Windkraft-
werke an Standorten, an denen die Windgeschwindigkeit
0,1 Meter pro Sekunde beträgt und dadurch die Subventi-
onsdauer verlängert wird. Das kann es doch wohl nicht
sein. In dieser Frage werden wir uns auseinander setzen
müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wenn Sie das Ganze so angehen wollen, dann zitiere

ich Altminister Müller, den ehemaligen Wirtschaftsminis-
ter, den schon jetzt keiner mehr kennt. Ich habe ihm da-
mals gesagt, Schröder würde ihn nicht wieder berufen.
Das ist auch so gekommen und ich verstehe auch, warum.
Aber ob derjenige, der neu gekommen ist, besser ist, da-
rüber werden wir noch nachdenken müssen. Er ist näm-
lich aus Nordrhein-Westfalen weggegangen, bevor man
erkennen konnte, was er dort alles nicht geleistet hat. Der
Bundeskanzler ist aus Niedersachsen weggegangen, be-
vor ihn das Übel, das er dort angerichtet hat, eingeholt hat.

Zurück zur Thematik. In diesem Punkt werden wir,
wenn Sie das so angehen, das gewünschte Ziel nicht er-
reichen. Eine Energieversorgung ohne Kernenergie nur
mit regenerativen Energien schafft Zusatzkosten in der
Größenordnung von 250Milliarden Euro für die nächsten
Jahre. Angesichts des Etats, den Ihr Finanzminister hier
vorlegt und angesichts der Perspektiven, die er hier ent-
wickelt hat, können wir das vergessen. Ich sage ganz deut-
lich: So wird das nicht funktionieren, wenn wir eine ver-
nünftige Finanzpolitik auf der einen Seite und eine
vernünftige Klimaschutzpolitik auf der anderen Seite ma-
chen wollen. Also: Der Ausstieg aus der Kernenergie wird
– das können Sie nicht ändern – teuer im Klimaschutz be-
zahlt werden.

Dabei wird natürlich auch deutlich, dass Ihr Instrument
der Ökosteuer schlussendlich über die ganzen Jahre hin-
weg nichts bewirkt hat.


(Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihre Redezeit ist abgelaufen!)


Sie haben abkassiert, aber sie selbst hat kein ökologisches
Ziel erreicht und hat zum Erreichen eines ökologischen
Zieles nichts beigetragen.


(Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das Gegenteil ist richtig! – Horst Kubatschka [SPD]: Sie kennen wohl die Zahlen nicht! – Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lesen Sie die Zahlen vom Mineralölwirtschaftsverband!)



(A)



(B)



(C)



(D)


160


(A)



(B)



(C)



(D)






– Darüber könnten wir gerne im Detail diskutieren.
Horst Kubatschka [SPD]: Da gehen Sie ganz

schön ein!)
Ich sage Ihnen aber, dass wir – unterfüttert bis hin zum
Sachverständigenrat – deutlich machen können, dass dies
so nicht läuft.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Unsere Strategie wird eine andere sein. Wir setzen auf
marktwirtschaftliche Instrumente.


(Horst Kubatschka [SPD]: Das ist doch Ökosteuer!)


Wir setzen auf Selbstverpflichtungen. Wir setzen auf
steuerliche Anreize, nicht auf ein Abkassieren durch die
Ökosteuer. Wir wollen sicherstellen, dass europäisch im
Gleichklang marschiert wird, dass wir nicht alles alleine
tragen, sondern dass die anderen die ökologische Verant-
wortung wesentlich stärker mit tragen. Das Gleiche wol-
len wir auch auf internationaler Ebene. Auch in dieser
Frage sind wir wesentlich flexibler. Hier gibt es noch In-
strumente, die wir gemeinschaftlich diskutieren müssen.

Ihnen, Herr Minister, wünsche ich trotzdem guten Er-
folg in Delhi. Wir werden kritisch betrachten, was Sie dort
erreicht haben. Ich wünsche Ihnen einen guten Flug.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1500413900

Ich erteile das Wort der Kollegin Ulrike Mehl, SPD-

Fraktion.


Ulrike Mehl (SPD):
Rede ID: ID1500414000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenn ich Sie, Herr Lippold, hier höre, kriege ich gleich
Heimatgefühle. Wir sind wieder mittendrin, Ihre Rede
war wie immer laut, dafür aber weitgehend substanzlos.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Nein, nein, nein! So ruhig war der noch nie!)


Sie haben hier lange geredet und haben uns erzählt, was
Sie alles zu kritisieren haben. Aber Aussagen darüber, was
Ihre Ziele sind und wie Sie die erreichen wollen, fehlten.
Aber Sie haben ja noch vier Jahre Zeit.


(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Länger!)

In dieser Zeit können Sie noch viele Reden halten. Ich
kann es in einem Satz zusammenfassen: Die rot-grüne
Koalition hat in den letzten vier Jahren eine erfolgreiche
Umweltpolitik gemacht. Genau das werden wir fortset-
zen. Das können Sie sich gerne ansehen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir haben in unserer Politik die Menschen und die
Umwelt in das Zentrum der Arbeit gestellt. Deswegen
freue ich mich sehr, dass ein wichtiger Grundstein gelegt
worden ist. Durch die Politik der Bundesregierung haben
wir nämlich eine Nachhaltigkeitsstrategie, die wir in den

nächsten Jahren umsetzen werden. Sie enthält sehr viele
einzelne Punkte, an denen Sie sich gerne noch aufreiben
können.

Natürlich bleiben wichtige Fragen offen. Sie selber ha-
ben es ja 16 Jahre nicht geschafft, wichtige Probleme zu
lösen. Dann können Sie nicht erwarten, dass wir diese
Probleme in vier Jahren lösen.

Es werden noch viele Fragen zu beantworten sein, um
eine dauerhafte Generationengerechtigkeit und die Erhal-
tung von Lebensqualität zu erreichen.

Ich will fünf Punkte nennen – es wären viel mehr zu
nennen, aber Sie können das im Koalitionsvertrag ja auch
selbst nachlesen –:

Erstens. In Johannesburg ist wieder deutlich geworden,
dass eine nachhaltige Entwicklung überhaupt kein Selbst-
läufer ist. Wir müssen vielmehr alle Vertragsstaaten und
letztendlich auch die Entwicklungsländer dazu bringen,
dass sie die selbst eingegangenen Verpflichtungen auch
tatsächlich erfüllen. Es besteht Einigkeit darüber, dass
diese Verpflichtungen notwendig sind. Allerdings werden
diese eben nur bruchstückhaft umgesetzt. Dies ist in dem
Aktionsplan von Johannesburg – darin geht es um den Zu-
gang zu Wasser, um eine angemessene Abwasserentsor-
gung, um eine weltweite Energiewende usw. – klar gesagt
worden.

Die Bundesregierung hat sehr schnell gehandelt und
bereits entsprechende Mittel, die in den nächsten fünf Jah-
ren für diese Themenbereiche zur Verfügung gestellt wer-
den sollen, zugesagt. Wir werden die uns angehenden
Punkte in der nationalen Umweltpolitik natürlich eben-
falls schnellstmöglich umsetzen. Wir haben eine Vorrei-
terrolle im Klimaschutz und werden selbstverständlich
mit Druck daran arbeiten, dass das auch zukünftig so
bleibt.

Die aktuelle Situation fordert zum Handeln. Das heißt,
dass das Kioto-Protokoll endlich in Kraft gesetzt werden
muss. Wir haben das Unsere dazu beigetragen. Das heißt
aber, dass auch auf internationaler Ebene weiterhin eine
kräftige Überzeugungsarbeit geleistet werden muss; denn
letztendlich kann man mittel- und langfristig nicht darauf
verzichten, dass die USAund auch Australien, Länder, die
sehr zögerlich mit dem Thema umgehen, mit ins Boot
kommen. So ärgerlich es ist, wie die amerikanische Re-
gierung bisher mit dem Thema umgegangen ist: Man
kann es nichts links liegen lassen, sondern es muss Über-
zeugungsarbeit geleistet werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Bei genauerem Hinsehen stellen sich auch in Europa
die erreichten Fortschritte als sehr unterschiedlich dar.
Das Wissen darum, dass ein Klimawandel eingesetzt hat,
ist vorhanden. In den letzten Tagen konnten wir in den
Zeitungen wieder lesen, was die letzten Stürme – so wie
andere vorhergehende auch – alleine die Allianz-Versi-
cherung gekostet haben, nämlich 18 Millionen Euro.

Dass also auch ökonomische Folgen daraus entstehen,
ist jedem klar; es ist augenscheinlich geworden. Deswe-
gen muss bei uns im Lande das Ziel lauten, das Begon-
nene ohne Abstriche weiterzuführen und die europäischen

Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach)





Ulrike Mehl
Partnerländer aufzufordern, ihre Beiträge dazu zu leisten.
Wir sind nicht der Stellvertreter für andere europäische
Länder. Alle müssen ihre Verpflichtungen erfüllen. Es ist
sicherlich richtig, dies auch von unserer Seite aus anzu-
mahnen.

Zweitens. In der Energiepolitik – diese wurde eben
schon mehrfach angesprochen – bleibt der Ausbau der
erneuerbaren Energien natürlich unser zentrales politi-
sches Vorhaben; denn langfristig ist nur eine Energiever-
sorgung auf der Grundlage erneuerbarer Energien auch
zukunftsfähig.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deswegen werden wir die Politik der letzten vier Jahre
fortsetzen. Sie können natürlich viel darüber reden, dass
dieses oder jenes nicht funktioniert hat. Eines ist aber klar:
Wir haben erreicht, dass der Anteil der erneuerbaren
Energien an unserer Stromversorgung bereits über 50 Pro-
zent zugenommen hat. Allein die Windkraft hat sich ver-
dreifacht; die Photovoltaik boomt. Es sind Zigtausende
von Arbeitsplätzen entstanden. Sie können noch so viel
drumherumreden: In diesem Zukunftsbereich werden
Arbeitsplätze geschaffen und Innovationen in den neuen
Technologien gefördert. Durch ihn verschaffen wir uns
eine Vorreiterstellung in dieser Technologie. Darüber hi-
naus wird in diesem Bereich der Umwelt- und Klima-
schutz gefördert. Deswegen werden wir an diesem Thema
mit Macht weiterarbeiten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich komme zu den Subventionen. Herr Lippold, Sie
haben eben angedeutet, dass das alles zu teuer sei. Dazu
will ich nur einen kleinen Zahlenvergleich bringen: Durch
das Erneuerbare-Energien-Gesetz wurden letztes Jahr
Zahlungen in Höhe von 1,5 Milliarden Euro fällig. Das
bedeutete eine monatliche Belastung pro Haushalt von
3,25 Euro und entsprach etwa den Kosten eines Weizen-
bieres oder eines vergleichbaren Getränks. Bei aller Lust
am Streit denke ich, dass uns der Aufbau einer nachhalti-
gen Energieversorgung diesen Betrag wert sein sollte.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Drittens. Wir werden uns in dieser Legislaturperiode
natürlich auch mit der Kehrseite unserer Produkte befas-
sen müssen, nämlich mit dem gesamten Komplex Abfall-
wirtschaft. Dabei ist es wichtig, dass in einer modernen
Abfallwirtschaft nicht nur Feuer gespeist werden, sondern
dass ganz am Anfang der Diskussion die Produktverant-
wortung steht.

Vor uns liegt unter anderem die Umsetzung der euro-
päischen Elektronikschrottverordnung, für die wir eine
ökologisch und ökonomisch tragfähige Umsetzung brau-
chen, die sowohl für die private als auch die öffentlich-
rechtliche Entsorgungswirtschaft akzeptabel ist. Daneben
gibt es als wesentlichen Punkt das Setzen von Standards,
die für alle vergleichbar sind, für die Verbrennung von
Abfällen, egal wo sie verbrannt werden, und für die Ver-

wertung. Das heißt unter anderem, dass Brennstoffe aus
Müll dringend standardisiert werden müssen.

Über all dem steht natürlich die Abfallvermeidung an
vorderster Stelle. Nicht zu vergessen: Das ist der erste
Schritt der Abfalldiskussion. Das werden wir fortsetzen.

Das Thema Dosenpfand bzw. das Einwegver-
packungspfand bei Getränkeverpackungen haben wir
hinreichend diskutiert. Ich glaube nicht, dass wir darüber
weiter diskutieren müssen. Am 1. Januar 2003 tritt diese
Verordnung in Kraft.

Die Produktverantwortung ist für die Abfallpolitik Leit-
motiv. Das gilt unter anderem für das Thema Klär-
schlamm in der Landwirtschaft, das wir in Kürze angehen
werden. Dazu gibt es sicherlich einiges zu diskutieren. Ich
finde, dass der Sachverständigenrat für Umweltfragen
dazu bemerkenswerte Vorschläge gemacht hat, Vor-
schläge, wie die Umwelt geschont und die Klärschlamm-
problematik einer Lösung zugeführt werden kann.

Viertens. In diesem Sommer gab es – das ist schon viel
erwähnt worden – die so genannte Jahrhundertflut, wobei
ich meine Probleme mit dem Begriff Jahrhundertflut
habe. Ich glaube, dass die Flut in diesem Jahrhundert nicht
die letzte gewesen sein wird. Damit ist aber wohl jedem
vor Augen geführt worden, dass in der Flusspolitik ins-
gesamt dringend neue Konzepte angepackt werden müs-
sen. Damit haben wir bereits begonnen. Im Koalitions-
vertrag ist deutlich festgehalten worden, dass sich die
Technik den Flüssen anzupassen hat und nicht umgekehrt.
Ich glaube, das ist der richtige Weg.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Im Übrigen hat auch die Wasserrahmenrichtliniemit
ihren Ansätzen, die wir bereits umgesetzt haben, gezeigt,
dass Flüsse als Gesamtsystem betrachtet werden müssen
und nicht nur partiell darüber nachgedacht werden darf,
was wo ausgebaut werden kann. Wir haben aufgrund der
Hochwasserkatastrophe, aber auch im Sinne des Natur-
schutzes ganz klar gesagt, dass zum Beispiel ein Ausbau
der Elbe und der Donau nicht infrage kommt. Dazu würde
ich gerne einmal Ihre Konzepte sehen; denn Sie haben
insbesondere bei der Donau, als wir den Antrag in der
letzten Legislaturperiode durchgesetzt haben, aus allen
Rohren mächtig dagegen geschossen. Deswegen ist Ihre
Glaubwürdigkeit auf diesem Gebiet mit einem dicken
Fragezeichen zu versehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zum Thema Naturschutz – fünftens – kann ich noch
anfügen, dass dazu in der letzten Legislaturperiode von
uns sehr viel umgesetzt worden ist. Damit ist aber noch
nicht alles erledigt. Wir werden den Naturschutz weiter
stärken. Wir werden dafür sorgen, dass die Umsetzung der
Übertragung der 100 000 Hektar ökologisch wertvoller
Flächen in den neuen Bundesländern zügig vorankommt.
Wir werden dabei einen besonderen Schwerpunkt auf die
Sicherung des so genannten grünen Bandes legen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1500414100

Kollegin Mehl, Sie müssen bitte zum Ende kommen.


(A)



(B)



(C)



(D)


162


(A)



(B)



(C)



(D)







Ulrike Mehl (SPD):
Rede ID: ID1500414200

Ich bin bereits am Ende angekommen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1500414300

Wie schön.


Ulrike Mehl (SPD):
Rede ID: ID1500414400

Wir haben uns in dieser Legislaturperiode durchaus

nicht weniger vorgenommen als in der letzten. Ich glaube,
dass Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen in der
Opposition, sehr viel mit uns zu tun haben werden. Wir
werden in vier Jahren ein weiteres positives Ergebnis der
Umweltpolitik verkünden und abschließen können.

Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1500414500

Ich erteile Kollegin Birgit Homburger, FDP-Fraktion,

das Wort.


Birgit Homburger (FDP):
Rede ID: ID1500414600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

diskutieren heute über die Vereinbarungen im Koalitions-
vertrag zur Umweltpolitik. Herr Minister Trittin, der
Sachverständigenrat hat Ihnen nach der letzten Legisla-
turperiode ins Stammbuch geschrieben, dass er über die
Umweltpolitik enttäuscht ist, weil es eine einseitige Kon-
zentration auf Themen gab. Er hat Ihnen eine inhaltliche
Dürftigkeit bescheinigt. Die erste Reaktion der Umwelt-
verbände auf diese Vereinbarung zeigt die gleiche Enttäu-
schung.

Ich habe mit Spannung erwartet, ob Ihre Ausführungen
heute über das hinausgehen würden, was in blumigen For-
mulierungen im Koalitionsvertrag steht. Ich meine, dass
sie keine Perspektive und kein Konzept enthalten. Des-
wegen wird das Gewurstel in diesem Bereich sicherlich in
den nächsten vier Jahren so weitergehen.


(Ernst Burgbacher [FDP]: Leider!)

Sie haben die Konferenz zu den regenerativen Ener-

gien sehr stark herausgestellt, Herr Minister. Wir können
Ihnen versichern, dass wir das Vorhaben sehr unterstützen
und dass wir ebenfalls erkennen, welche Möglichkeiten
gerade auch auf internationaler Ebene in der Förderung
von regenerativen Energien liegen. Ich möchte aber gerne
von Ihnen die Frage beantwortet bekommen, warum Sie
die Chancen, die das Kioto-Protokoll mit den so genann-
ten Clean Development Mechanism in diesem Bereich
längst bietet, für Deutschland bisher nicht genutzt haben.
Wir haben das mehrfach gefordert. Warum haben Sie das
verhindert? Sie haben alle unsere Anträge abgelehnt. Sie
bekommen zwar unsere Unterstützung, aber wir erwarten
von Ihnen, dass Sie endlich auch über das, was Sie schrift-
lich formuliert haben, hinausgehen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Zum Erneuerbare-Energien-Gesetz hat der Kollege
Lippold von der CDU/CSU schon einiges gesagt. Ich
möchte an dieser Stelle nur darauf hinweisen, dass wir
vonseiten der FDP-Fraktion ein eigenes Fördermodell
vorgelegt haben. Wir sind gerne bereit, in diese Ausei-
nandersetzung einzusteigen. Wir wollen die Förderung re-
generativer Energien, aber wir wollen, dass sie auf eine
wirtschaftlich sinnvolle Weise organisiert wird. Und da-
bei gibt es Spielraum.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Es ist schon bezeichnend, dass der Bundeskanzler in

seiner einstündigen Regierungserklärung heute Vormittag
kein Wort über die Umweltpolitik verloren hat. Damit hat
Herr Schröder programmatisch das bestätigt, was wir
schon die ganze Zeit vermutet haben: Rot-Grün hat die
Umweltpolitik abgeschrieben.

Die Bankrotterklärung Ihrer Regierung in der Umwelt-
politik ist symptomatisch in der Klimapolitik zu sehen. In
diesem Bereich ist fraktionsübergreifend ein Ziel be-
schlossen worden, für das wir uns immer eingesetzt ha-
ben, nämlich die CO2-Emissionen bis 2005 um 25 Pro-zent zu verringern. Im Wahlkampf haben Sie plötzlich nur
noch vom europäischen Ziel geredet. Inzwischen reden
Sie von keinem der beiden Ziele mehr. Sie reden weder
vom nationalen noch vom europäischen Ziel. Jetzt reden
Sie blumig darüber, dass Sie bis 2020 eine Verringerung
um 40 Prozent erreichen wollen, und knüpfen das an völ-
lig utopische Bedingungen, die andere nicht erfüllen wer-
den. Sie sind völlig unglaubwürdig, weil Sie sich von dem
Klimaschutzziel, das wir alle gemeinsam mit getragen ha-
ben, verabschiedet haben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Aus Ihrem Mund klingt das richtig wie ein Lob!)


Die EU wird in den nächsten Wochen den Emissions-
handel beschließen. In diesem Zusammenhang muss man
sich auch fragen, was Sie eigentlich getan haben, um
Deutschland darauf vorzubereiten. – Sie haben nichts ge-
tan. Herr Schröder meint, wir brauchten das nicht. Ihr
früherer Wirtschaftsminister meint auch, wir brauchten
das nicht. Und Ihr neuer Superminister Clement hat aus-
geführt, es sei wichtig, dass die Wirtschaftlichkeit der hei-
mischen Stromerzeugung nicht durch unkalkulierbare Be-
lastungen aus dem Emissionshandel gefährdet werde.

Insofern muss ich Ihnen entgegenhalten: Warum haben
Sie sich eigentlich nicht um die europäische Vereinbarung
gekümmert? Nachdem inzwischen in Europa sozusagen
der Käse gegessen ist, schreiben Sie in Ihre Koalitions-
vereinbarung, welche Bedingungen notwendig sind, um
den Emissionshandel in einer vernünftigen Weise in
Deutschland einzuführen. Das zeigt einmal mehr, dass im
Vergleich mit dieser Bundesregierung die Schnecke ein
Torpedo ist, Herr Minister.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wenn ich Ihnen zugute halte, dass Sie den Emissions-

handel nie wollten, dann lassen Sie uns einen Blick auf
den Atomausstieg werfen, den Sie schließlich immer
zum Ziel hatten. Was steht dazu in Ihrer glorreichen Ver-
einbarung? – Nichts anderes als das, was ohnehin bereits
gesetzlich geregelt ist. Hinzu kommt, dass Sie in einer




Birgit Homburger
Situation, in der es zum ersten Mal darauf ankommt, Ihr
grünes Prestigeprojekt durchzuziehen, umfallen. Ich
nenne nur das Stichwort zwei Jahre Laufzeitverlängerung
für das Kernkraftwerk Obrigheim, Herr Minister. Das ist
Ihre Art von Glaubwürdigkeit in der Umweltpolitik.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Es wird systematisch abkassiert. Dabei bleibt es auch

in dieser Legislaturperiode. Entgegen allen Beteuerungen
steigt die Ökosteuer zum 1. Januar. Hinzu kommt, dass Ihr
Versprechen, dass mit der Ökosteuer eine Stabilisierung
oder sogar die Senkung der Rentenbeiträge verbunden sei,
nicht stimmt. Auch das mussten Sie zwischenzeitlich zu-
geben.

Sie liegen in allen Punkten völlig daneben. Das setzen
Sie in dieser Legislaturperiode genauso fort. Sie haben
aus der letzten Legislaturperiode nichts gelernt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

ZumHochwasserschutz: Es gab in der Wahlkampfzeit

– die Kollegin Mehl hat das bereits angesprochen – eine
Flusskonferenz, die ich mit großem Interesse verfolgt habe.
Das Bundesverkehrsministerium sagt, dass diese Konfe-
renz nicht ordentlich vorbereitet gewesen sei. Was muss ich
feststellen? Genau auf diese Konferenz wird in der Koaliti-
onsvereinbarung Bezug genommen. Wir brauchen im
Hochwasserbereich eine internationale Zusammenarbeit.


(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Das steht doch drin!)


Die Anrainerstaaten müssen aufgerufen werden, sich an
einen Tisch zu setzen. Nur so können wir gemeinsame
Konzepte über die großen Flussläufe hinaus entwerfen.
Das ist das, was wir von Ihnen erwarten, Herr Minister
Trittin.


(Beifall bei der FDP – Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen wir!)


Ich möchte eine letzte Bemerkung zur Abfallpolitik
machen. Es kann ja wohl nicht wahr sein, was ich dazu in
der Koalitionsvereinbarung gelesen habe. Dort wird das
Zwangspfand ausdrücklich bekräftigt, während die viel
wichtigere und eigentlich unumgängliche Novelle zur
Verpackungsverordnung erst gar nicht erwähnt wird.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

In der letzten Legislaturperiode haben Sie wenigstens noch
in Ihre Koalitionsvereinbarung geschrieben, dass Sie das
Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz novellieren wollen.
Auf eine solche Novelle wartet die Wirtschaft in diesem
Bereich dringend, weil sie weiß, dass sie notwendig ist.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1500414700

Kollegin Homburger, Sie müssen bitte zum Ende kom-

men. Erwägen Sie das zumindest.


Birgit Homburger (FDP):
Rede ID: ID1500414800

Herr Präsident, ich erwäge das zu Ihren Gunsten.

(Heiterkeit im ganzen Hause – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Nein, zu unseren!)


Ich möchte nur noch Folgendes sagen: Die Branche er-
wartet diese Novelle. Tatsächlich wird diese Novelle noch
nicht einmal mehr angesprochen. Sie wollen das bisherige
Chaos über den Verordnungsweg fortsetzen.


(Rudolf Bindig [SPD]: Jawohl, wir wollen unsere Politik fortsetzen!)


Das ist der deutschen Umweltpolitik nicht angemessen.
Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1500414900

Nun kommen Sie aber zum Schluss.


Birgit Homburger (FDP):
Rede ID: ID1500415000

Jetzt kommt mein letzter Satz, Herr Präsident.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Zwei letzte Sätze gibt es nicht!)


Wir haben in der letzten Legislaturperiode feststellen
müssen – wie es auch der Sachverständigenrat getan hat –,
dass auf dem Papier mehr steht, als tatsächlich geschehen
ist. Sie haben daraus Konsequenzen gezogen. Ich stelle
fest, dass die jetzige Koalitionsvereinbarung dazu nichts
mehr enthält.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1500415100

Ich erteile das Wort dem Kollegen Michael Müller,

SPD-Fraktion.


Michael Müller (SPD):
Rede ID: ID1500415200

Meine Damen und Herren! Die Hochwasserkatastro-

phe vor einiger Zeit hat schlagartig deutlich gemacht, wie
wichtig die ökologische Modernisierung ist. Interessan-
terweise hat die Öffentlichkeit so reagiert, wie sie reagie-
ren musste. Sie standen auf einmal als eine Partei ohne
Kompetenzen in den Umweltfragen da. Sie haben auf
einmal ein schwarzes Loch gehabt. Das war die Wirklich-
keit. Jetzt tun Sie so, als ob Sie Vorreiter der Umweltpoli-
tik wären. Das glaubt Ihnen niemand, und zwar vor allen
Dingen deshalb, weil Sie – um ein Beispiel zu nennen –
bei den 18 klimaschutzrelevanten Maßnahmen der letzten
Legislaturperiode nicht einmal Ja gesagt haben.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Zweimal!)

– Sie haben im Bundestag nicht einmal Ja gesagt. Die
Union hat zwar im Bundesrat zweimal zugestimmt. Aber
hier haben Sie 18-mal Nein gesagt. Das ist die Wirklich-
keit.

Im Übrigen muss ich Ihnen, Frau Homburger, sagen,
dass das, was Sie gesagt haben, überhaupt nicht zusam-
menpasst. Sie haben gesagt, dass alles, was Herr Trittin in
der Atompolitik mache – diese Politik betreibt nicht Herr
Trittin allein, sondern die Koalition –, völlig unproblema-
tisch sei. Warum haben Sie dann diese Politik bekämpft?


(Birgit Homburger [FDP]: Was heißt „unproblematisch“?)



(A)



(B)



(C)



(D)


164


(A)



(B)



(C)



(D)






– Sie haben doch vorhin behauptet, dass es sich bei dem
Ganzen nur um ein Auslaufen handle. Demnach sei das al-
les nicht problematisch.


(Birgit Homburger [FDP]: Das habe ich überhaupt nicht gesagt!)


Warum haben Sie dann aber unsere Atompolitik be-
kämpft? Ich sage Ihnen, warum Sie sie bekämpft haben:
Sie haben in der Umweltpolitik und insbesondere bei der
ökologischen Modernisierung nichts zu bieten, weil Sie
immer dann, wenn es darauf ankommt, umfallen und weil
Sie zusammen mit den anderen Umweltpolitikern in Ihrer
Fraktion in Wahrheit isoliert sind. Das ist die Wirklichkeit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Birgit Homburger [FDP]: Das ist eine Fehleinschätzung!)


– Das ist keine Fehleinschätzung, sondern leider die Wirk-
lichkeit. Interessanterweise hat das Ergebnis der Bundes-
tagswahl gezeigt – das war einer der wesentlichen Punkte –,
dass die Bevölkerung genau das begriffen hat.

Wir müssen trotzdem über das, was im Sommer ge-
schehen ist, weiter diskutieren; denn die letzte Flutkata-
strophe hat wie kaum ein anderes Ereignis gezeigt, dass
Umweltpolitik kein Schönwetterereignis sein darf. Wir
wissen, dass sich der Energiehaushalt in den letzten Jah-
ren weiter dramatisch verschlechtert hat. Wir wissen
auch, dass im Wasserkreislauf dramatische Verschiebun-
gen stattfinden. Deshalb können wir bei dem Hochwasser
nicht von einem singulären Ereignis ausgehen. Im Ge-
genteil, alle zentralen Faktoren im Wasserkreislauf – sei
es die Gletscherbildung, sei es die Verdunstung, seien es
die Veränderung der ozeanischen Prozesse und auch das
Abflussregime von Flüssen – verändern sich in einer
Weise, die es erforderlich macht, dass wir noch sehr viel
mehr handeln müssen, als wir das bisher schon tun. Wir
kommen an diesem Punkt nicht vorbei und deshalb muss
und wird die ökologische Modernisierung Markenzeichen
dieser Regierung bleiben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Aber ich will hinzufügen: Wir werden die ökologische
Modernisierung erweitern. Im Kern – auch da besteht ein
Unterschied zur Opposition – geht es für mich nicht mehr
um traditionelle Umweltpolitik im klassischen Sinne.
Vielmehr ist das, was wir machen müssen, Mitweltpolitik.
Wenn ich den Bundeskanzler richtig verstanden habe, vor
allem in seinen Ausführungen zur Zivilisierung der Welt-
gesellschaft, war das für mich im klassischen Sinne Mit-
weltpolitik.


(Birgit Homburger [FDP]: Das war aber nicht heute Morgen!)


– Doch, das hat er heute gesagt. Ich habe eben übrigens
sowieso den Eindruck gehabt, dass die PISA-Schwäche
bei Ihnen ziemlich durchschlägt;


(Beifall des Abg. Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD])


denn die Koalitionsvereinbarung haben Sie nicht richtig
gelesen. Sonst hätten Sie beispielsweise zum Thema Ab-

fall genauso wie zu anderen Punkten andere Schlussfol-
gerungen ziehen müssen.

Meine Damen und Herren, ich glaube, der eigentliche
Punkt ist: Wir müssen die ökologische Modernisierung
konzeptionell erweitern. Ich will hier einen zentralen
Punkt herausstellen, der für uns ganz wichtig sein wird,
nämlich die Frage der Verbindung von Arbeit und Um-
welt.Wenn es so ist, dass sich die Bundesrepublik als Ex-
portland vor allem durch eine ungeheuer hohe Arbeits-
produktivität auszeichnet, dann kommen wir an der
Tatsache nicht vorbei, dass Arbeit immer häufiger durch
Technik ersetzt wird und es deshalb immer schwieriger
wird, das Beschäftigungsproblem auf diesem Weg zu lö-
sen. Wir kommen aus dieser Produktivitätsfalle nur heraus,
wenn wir die Produktivität sehr viel stärker auf den ebenso
wichtigen – kostenmäßig sogar sehr viel größeren – Fak-
tor der Energie- und Ressourcenproduktivität lenken. Es
wird dazu keine Alternative geben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich würde das in einem historischen Bild so sehen: Das

19. Jahrhundert war vor allem das Jahrhundert der Aus-
beutung des Faktors Arbeit. Im 20. Jahrhundert haben wir
das Beschäftigungsproblem zum Teil durch die Ausbeu-
tung der Natur entschärft. Im 21. Jahrhundert erleben wir,
dass sowohl die Umweltzerstörung fortgesetzt als auch
der Faktor Arbeit durch die technologische Entwicklung
verdrängt wird.

Wir kommen nicht daran vorbei, die Energie- und Res-
sourcenproduktivität als die Strategie zur Verbindung von
Arbeit und Umwelt im 21. Jahrhundert zu begreifen. Das
ist das Markenzeichen, das wir wollen. Es ist auch eine
Vision, um beispielsweise durch hohe Energie- und Res-
sourcenproduktivität dazu beizutragen, dass die Ressour-
cen der Erde nicht mehr so ausgeplündert werden, dass die
Kosten für die Umweltbelastungen geringer werden, dass
wir die natürlichen Lebensgrundlagen schonen und dass
wir vor allem mehr Arbeitsintensität schaffen; denn öko-
logische Lösungen sind in der Regel arbeitsintensive Lö-
sungen. Sie verlangen nämlich sehr viel mehr mensch-
liche Kreativität und Dienstleistung. Und das ist der
richtige Ansatz.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir wollen ein Zukunftsmodell entwickeln. Es geht da-
bei nicht mehr nur um einen verengten Umweltschutzan-
satz. Der neue Ansatz ist aus meiner Sicht ganz wichtig für
die von mir angesprochene Zivilisierung der Weltgesell-
schaft. Wie Sie wissen, hat Francis Fukuyama, der Wis-
senschaftsjournalist und Professor der John-Hopkins-Uni-
versität, mit seiner These vom Ende der Geschichte einen
Streit ausgelöst. Seine zentrale These ist, dass die Mensch-
heit nach dem Zusammenbruch der bipolaren Welt sozu-
sagen in der Mischung aus liberaler Gesellschaft und libe-
ralem Kapitalismus das Ende der Geschichte gefunden hat.
Meines Erachtens hat er in einer völligen Fehlinterpreta-
tion von Hegel die Alternativlosigkeit mit der Konflikt-
losigkeit verwechselt und liegt deshalb schief.

Aber bei allem, was wir im letzten Jahr erlebt haben,
beispielsweise mit der Entfaltung neuer Gewalt am

Michael Müller (Düsseldorf)





Michael Müller (Düsseldorf)

11. September, beispielsweise mit den wachsenden Protes-
ten gegen die Form der Globalisierung, beispielsweise mit
dem völlig unzureichenden Vorankommen einer globalen
Umweltpolitik – was leider ja auch in Johannesburg deut-
lich wurde –, kann man nicht von der Alternativlosigkeit
einer unilateralen ökonomischen Welt reden. Das wäre so-
zusagen die Selbstaufgabe der Politik.

Der ökologische Ansatz ist unter dem Gesichtspunkt
der Nachhaltigkeit gerade deshalb so interessant, weil er
im Kern auf eine Welt der Vielfalt und der Demokratien
hinausläuft.


(Beifall bei der SPD)

Nachhaltigkeit – das ist der interessante Punkt – funktio-
niert nur mit mehr Demokratie und Vielfalt. Nachhaltig-
keit schafft einen Ansatz, um sehr viel stärker wieder
spezifische Lösungen, die kulturellen Potenziale einer
Gesellschaft und die technologischen Fähigkeiten für un-
terschiedliche Lösungen zu entfalten. Nachhaltigkeit ist
die richtige Antwort auf die Herausforderungen der Glo-
balisierung. Die Alternative, eine globale Weltregierung,
will ich nicht. Aus meiner Sicht ist sie bürgerfern, tech-
nokratisch und letztlich nicht in der Lage, die Fähigkeiten,
die wir vor allem für dezentrale Lösungen, also für sehr
effiziente Lösungen vor Ort, brauchen, zu entfalten. Es
gibt, glaube ich, eine Riesenchance für das europäische
Modell, wenn Nachhaltigkeit zum Maßstab unserer Re-
formpolitik wird. Das ist eine Vision, die wir übrigens
auch in unsere Koalitionsvereinbarung hineingeschrieben
haben.

Ich will das wie folgt zusammenfassen: Aus meiner
Sicht geht es heute eben nicht um ein paar Detailkorrek-
turen. Wir sind am Beginn eines ganz neuen, sehr schwie-
rigen und auch sehr unsicheren Weges. Deshalb plädiere
ich sehr dafür – ich sage das in alle Richtungen –, damit
aufzuhören, über die Herausforderungen zum Teil so
kleinkariert zu reden, wie wir das oft tun. Die Herausfor-
derungen, vor denen wir stehen, sind so gewaltig, dass wir
aus meiner Sicht eine offene, kreative und vor allem auch
intellektuell redliche Auseinandersetzung über Lösungs-
strategien brauchen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir diskutieren hier zum Teil nur rückwärts gewandt
und rechthaberisch. Das darf man bei diesen Themen
nicht. Ich glaube, dass die Nachhaltigkeit im Kern der
Versuch war – angestoßen insbesondere durch die Ar-
beiten von Olof Palme, von Willy Brandt und von Gro
Harlem Brundtland –, auf der einen Seite die eigenstän-
digen Kulturen, die eigenständigen Inhalte von Gesell-
schaftsmodellen zu bewahren, sie aber auf der anderen
Seite gleichzeitig mit dem zu verbinden, was heute not-
wendig ist, nämlich dem Berücksichtigen globaler Anfor-
derungen.

Ich sage Ihnen: Diese Chance ist eine große Chance für
unser Land. Wir werden die großen Herausforderungen
nur bewältigen, wenn wir eine Vision haben, wenn wir
eine große Idee davon haben, wo es hingeht, damit die
Menschen wissen: Es ist das bessere, das gute Leben im
Sinne von Adorno, das wir anstreben.

Deshalb, meine Damen und Herren: Wir wollen eine
Politik der Nachhaltigkeit betreiben. Wir können über ein-
zelne Instrumente streiten, Sie können uns auch kritisie-
ren, wenn wir in der einen oder anderen Frage vielleicht
einmal falsch liegen, aber an dieser Grundlinie lassen wir
nicht rütteln. Ich bin sicher: Wir werden diese Aufgabe
besser erfüllen, als Sie das je können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1500415300

Ich erteile dem Kollegen Peter Paziorek, CDU/CSU-

Fraktion, das Wort.


Dr. Peter Paziorek (CDU):
Rede ID: ID1500415400

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr

Müller, es war sehr interessant, was Sie zum Schluss an-
gesprochen haben.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Richtig vor allem!)


Aber ich hatte auch den Eindruck, dass Sie den untaugli-
chen Versuch unternommen haben, von all den Schwä-
chen in Ihrer Umweltpolitik in den letzten vier Jahren ab-
zulenken und vor allem von einer konkreten Diskussion
darüber, was Sie in der Koalitionsvereinbarung nebulös
und oberflächlich formuliert haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Birgit Homburger [FDP] – Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Jetzt fängt er schon wieder an!)


– Herr Müller, zunächst zur Klimaschutzpolitik. Da ha-
ben Sie in den letzten vier Jahren


(Rudolf Bindig [SPD]: Wieder rückwärts gewandt!)


– zu dem Vorwärtsgewandten komme ich noch – einen
Abbau um zusätzlich 3 Prozent gegenüber 15 Prozent aus
der Zeit der CDU/CSU-FDP-Regierung erreicht.

In der letzten Koalitionsvereinbarung haben Sie fest-
gelegt, dass Sie ein neues Gesetz zur Kreislaufwirtschaft
und zur Abfallwirtschaft in Deutschland vorlegen wollen.


(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Machen wir auch! – Gegenruf der Abg. Birgit Homburger [FDP]: Wo denn?)


Das Gesetz haben Sie in der letzten Legislaturperiode
nicht vorgelegt. Sie haben gekniffen, obwohl Sie das ver-
einbart hatten.

Sie haben in der Koalitionsvereinbarung vor vier Jahren
festgelegt, ein Fluglärmschutzgesetz vorzulegen. Dies-
bezüglich hat sich Herr Trittin mit Herrn Bodewig gestrit-
ten. Herr Trittin hat sich nicht durchgesetzt. Das Fluglärm-
schutzgesetz ist in der Versenkung verschwunden.

Sie haben in der letzten Koalitionsvereinbarung fest-
gelegt, ein Konzept zur so genannten Entsiegelung des
Bodens vorzulegen. Wir warten bis heute auf dieses Kon-
zept.


(A)



(B)



(C)



(D)


166


(A)



(B)



(C)



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Herr Müller, ich wollte all das gar nicht schildern. Ich
hatte es schon gestrichen.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Hätten Sie es mal so gelassen!)


Nur, als Sie gerade anfingen, großartig zu philosophieren
– ich bin gern bereit, mit Ihnen bei Stiftungen über diese
Themen zu diskutieren –, habe ich das wieder hervorge-
kramt. Philosophisch hört sich das alles großartig an, in
der konkreten Formulierung der Aufgaben in der Um-
weltpolitik aber haben Sie in den letzten vier Jahren ver-
sagt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie werden auch bei der Umsetzung der neuen Koali-

tionsvereinbarung versagen. Sie hatten zum Beispiel an-
gekündigt, ein Umweltgesetzbuch vorzulegen. Sie sind
gescheitert,


(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: An Bayern und Baden-Württemberg!)


weil Sie angeblich die wasserrechtlichen Kompetenzen
nicht haben. Sie haben das Vorhaben jetzt wieder einge-
baut. Ich will nur sagen: groß angekündigt, nichts erreicht.

Ich kann durchaus verstehen, dass die „Berliner Zei-
tung“ heute getitelt hat: „Koalition sucht klaren Kurs“.
Das bezog sich auf die Wirtschafts- und auf die Sozialpo-
litik. Nach der Koalitionsvereinbarung und nach dem,
was Sie, Herr Müller, gerade gesagt haben, kann ich nur
feststellen: Es ist klar, dass das nicht nur für die Wirt-
schafts- und für die Sozialpolitik gilt, sondern leider auch
für die Umweltpolitik in Deutschland. Das liegt an der
schlechten Koalitionsvereinbarung, die Sie getroffen ha-
ben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es ist offenkundig: Nachdem aus Ihrer Sicht das große

Thema Atomausstieg – eigentlich ist es kein Atomaus-
stieg; aber ich übernehme einmal Ihr Vokabular – erledigt
ist, kommt nun die große umweltpolitische Leere; deshalb
werden Sie nebulös.

Sie sprechen in der Koalitionsvereinbarung davon,
dass die Ökoeffizienz die Jobmaschine von morgen ist.


(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Sehr richtig!)


Ich habe mir gedacht: Großartig! Jetzt bin ich einmal ge-
spannt, wie ihr für Ökoeffizienz sorgen wollt. In einem
zentralen Satz der Koalitionsvereinbarung steht, dass Sie
Netzwerke fördern wollen, um Ihr Ziel zu erreichen. Ist
das denn alles, was Ihnen zu diesem Thema einfällt?


(Beifall der Abg. Birgit Homburger [FDP])

Was dort steht, ist doch nur Romanformuliererei. Ihre
ganze Umweltpolitik enthält nichts Konkretes.

Des Weiteren sprechen Sie – das haben Sie, Herr
Müller, und auch Minister Trittin heute Abend getan – von
der ökologischen Modernisierung. Wer einmal konkret
überprüft, was Sie darunter verstehen, der wundert sich,
wie wenig konkret Ihre Politik ist. Es ist auch darauf hin-
gewiesen worden – ich glaube, es waren Frau Mehl und

der Minister –, in der Koalitionsvereinbarung sei das Ziel
der Energieeinsparung festgelegt. In der Koalitionsver-
einbarung steht:

Zur Fortentwicklung der Energieeinsparung im Ge-
bäudebereich werden ein Förderprogramm zur Er-
richtung von Passivhäusern mit

– jetzt kommt eine sensationelle Zahl –
30 000 Wohneinheiten

(Beifall der Abg. Michaele Hustedt [BÜND NIS 90/DIE GRÜNEN])

und ein Anschlussprogramm zur energetischen Mo-
dernisierung des Gebäudebestandes aufgelegt, das
anstelle von zinsvergünstigten Krediten Zuschüsse
oder Sonderabschreibungen beinhaltet.

Das hatten wir doch schon einmal. Das ist beim letzten
Mal doch schon einmal gescheitert.


(Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deswegen!)


Dieses Programm ist doch gar nicht erfolgreich gewesen.
Es war verdammt kompliziert.

Mittlerweile haben Sie daraus natürlich gelernt und
wollen es verbessern. Warum haben Sie denn nicht in die
Koalitionsvereinbarung geschrieben, wie Sie das machen
wollen? Ich kann Ihnen sagen: Ihnen ist dazu bis heute
Abend nichts Neues eingefallen. Sie argumentieren ne-
bulös, nur um von den tatsächlich vorhandenen schwarzen
Löchern Ihrer Umweltpolitik abzulenken.

Aus diesem Grunde wird es natürlich notwendig sein,
in den nächsten vier Jahren ganz konkrete Fragen zu stel-
len, zum Beispiel: Wie soll es in der Klimaschutz- und
Energiepolitik weitergehen? Wie sehen Ihre Konzepte für
eine nachhaltige Energiepolitik wirklich aus?

Sie sprechen die erneuerbaren Energien an. Ich sage
noch einmal ganz deutlich – ich will das fortsetzen, was
der Kollege Lippold hier angesprochen hat –: Sie werden
die Union immer an Ihrer Seite finden, wenn es darum
geht, die erneuerbaren Energien sinnvoll zu fördern. Bei
all den Problemen, die wir in der Klimaschutzpolitik ha-
ben, sind auch wir der Ansicht, dass es darauf ankommen
wird, die erneuerbaren Energien als eine wesentliche
Säule unserer Energie- und Klimaschutzpolitik auszu-
bauen. Deshalb sind auch wir dafür, darüber nachzuden-
ken, im Rahmen des EEG die Offshoreförderung zeitlich
zu verlängern. Darüber werden wir uns höchstwahr-
scheinlich einigen.

Wir sind nicht prinzipiell gegen die Anwendung der
Windkraft; allerdings fragen wir uns, ob es richtig war
– Sie haben das in den letzten vier Jahren gemacht –, mit
– aus unserer Sicht – überzogenen Fördersätzen zu versu-
chen, an ungeeigneten Standorten im Binnenland Wind-
kraftanlagen anzusiedeln. Sie haben dabei die Proteste der
Bevölkerung ignoriert. Am schlimmsten war, dass Sie
überhaupt keine Rücksicht darauf genommen haben, dass
es an vielen Stellen zu großen Konflikten mit dem Natur-
schutz und dem Landschaftsschutz gekommen ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Peter Paziorek




Dr. Peter Paziorek
Sie als Umweltpolitiker haben diese Sichtweise einfach
vernachlässigt. Das ist keine gute und sinnvolle Art und
Weise, die Nutzung erneuerbarer Energien zu fördern.

Es gibt im Rahmen erneuerbarer Energien Alternati-
ven: Biomasse und Biogas. Man kann Biomasse- und
Biogasanlagen landschaftsgerecht bauen. Man kann da-
durch der Landwirtschaft helfen, wie Sie es im Zuge der
Förderung der Nutzung der Windkraft wollten. Man muss
feststellen, dass Sie die Anreizförderung im letzten Jahr
gestrichen haben. Seitdem Sie diese Streichung im letzten
Jahr durchgeführt haben, ist das Wirtschaften mit Bio-
masse- und Biogasanlagen nicht mehr rentabel. Jetzt lie-
gen Förderanträge und Baugenehmigungsanträge auf
Halde, weil die Antragsteller sagen: Wir können das, was
wir vorhatten, nur deswegen nicht mehr realisieren, weil
Rot-Grün die Förderung gestrichen hat.

Vor diesem Hintergrund müssen Sie doch unsere Skep-
sis verstehen, die sich darin ausdrückt, dass wir sagen: Sie
formulieren immer alles nebulös; aber wenn es darum
geht, Biomasse- und Biogasanlagen ganz konkret zu för-
dern, dann tauchen Sie ab. Ihre Politik war sogar gegen
diese Anlagen gerichtet. Das war unverantwortlich, weil
Sie damit nicht dafür gesorgt haben, dass zum Beispiel
auch in interessanten Naturräumen erneuerbare Energien
gefördert werden. Sie waren bei der Förderung erneuer-
barer Energien ideologisch einseitig ausgerichtet. Eine
solche Haltung lehnen wir ab.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie reden immer so groß von Nachhaltigkeit. Herr

Müller, Ihre Rede enthielt einen interessanten Ansatz. Sie
wissen, dass ich mit Ihnen über prinzipielle Fragen der
Nachhaltigkeit immer sehr gerne diskutiere. Jetzt tun Sie
so, als ob wir im Bundestag wirklich darüber diskutieren
müssen. Schauen Sie sich doch einmal den Gang der Be-
ratung des Berichts des Rats für Nachhaltigkeitsfragen in
der letzten Legislaturperiode an. Die Beratung ist doch
vollständig am Parlament und an seinem Umwelt-
ausschuss vorbeigegangen. Uns wurde vom zuständigen
Staatsminister gesagt, es müsse erst einmal auf der Staats-
sekretärebene ein Papier zusammengebastelt werden,
dann könne man darüber diskutieren.


(Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: So ist das!)


Wo war denn Ihr Versuch, Nachhaltigkeit ins Plenum
zu bringen und die große öffentliche Diskussion zu die-
sem Thema zu führen? Sie sind dieser Diskussion ausge-
wichen und wundern sich danach, dass Ihre Politik nicht
dazu geführt hat, dass der Begriff der Nachhaltigkeit ein
wesentlicher Begriff auch unserer Umwelt- und Sozialpo-
litik geworden ist. Sie haben in dieser Frage versagt und
wir können nur sagen: Man sollte nicht die großen Reden
schwingen, sondern dafür sorgen, dass wir hier im Ple-
num über diese wesentlichen Fragen diskutieren. Das
wäre ein wichtiger Ansatz zur Nachhaltigkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wenn Sie davon sprechen, dass wir im Naturschutz

weitermachen müssen, stimmen wir zu. Nur sage ich wie
bei der Nachhaltigkeit: Über die Zielvorstellungen sind

wir uns gar nicht so uneins. Aber eines ist doch klar: Sie
meinen, Naturschutzpolitik könne im heutigen Zeitalter
nur hoheitlich, von oben gemacht werden. Sie meinen,
Naturschutzpolitik solle nicht mehr auf Instrumente
zurückgreifen, die sich in vielen Regionen unseres Lan-
des bewährt haben, etwa das Kooperationsprinzip: mit
den Nutzern tatsächlich reden, freiwillige Vereinbarungen
schließen.

In den letzten Tagen sind Pressemeldungen von meh-
reren interessierten Verbänden erschienen – nicht aus der
Landwirtschaft, sondern zum Beispiel von der Wasser-
wirtschaft. Es wird dafür geworben, eine Allianz zwi-
schen Wasserwirtschaft, Umweltschutz und Landwirt-
schaft zustande zu bringen. Wenn ich sehe, wie es bei
Ihnen, Herr Göppel, in Bayern läuft und wie es bei mir in
Westfalen läuft, dass wir vor Ort diese Allianzen haben,
frage ich mich: Wo ist denn dieser wesentliche Grundsatz
bei Ihnen in der Koalitionsvereinbarung? Warum sagen
Sie nicht, wir wollen das Kooperationsprinzip im Natur-
schutzbereich stärken, wir wollen die Allianzen stärken,
wir wollen die Menschen mitnehmen? Nein, Ihre Koali-
tionsvereinbarung ist immer noch geprägt von einem ho-
heitlichen, obrigkeitsstaatlichen Ansatz. Und dann wun-
dern Sie sich, wenn die Leute vor Ort sagen, wir fühlen
uns überfahren. Sie schaden den Prinzipien, und deshalb
sage ich: Schon vom Ansatz her ist Ihre Koalitionsverein-
barung falsch, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der SPD)


Zur Frage der verantwortungsbewussten Politik: Es ist
sehr schade, dass Sie wieder nicht den Mut hatten, zum
Bereich Endlager und Entsorgung eine klare Aussage
zu treffen, unabhängig davon, wer nun die friedliche Nut-
zung der Kernenergie in Deutschland eingeführt hat, ob es
Sozialdemokraten oder Christdemokraten waren. Wir alle
waren in den 60er-Jahren begeistert davon. Wir haben
eine gemeinsame Verantwortung.


(Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht alle, wir nicht!)


– Die Grünen gab es damals als politische Kraft noch
nicht, Frau Hustedt. – Wir müssen uns jetzt darum küm-
mern, wohin mit dem so genannten Atommüll.


(Ulrike Mehl [SPD]: Tun wir ja!)

Wenn ich mir vor Augen führe, wie Sie sich in den letzten
vier Jahren um eine klare Standortaussage gedrückt haben
und jetzt wieder nebulös formulieren, kann ich nur sagen:
Bei Ihnen scheint wiederum die Verantwortungslosigkeit
um sich zu greifen. Auch das werden wir Ihnen nicht
durchgehen lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Deshalb zum Schluss: Meine Damen und Herren, Sie

haben in den letzten Jahren Ihre Koalitionsvereinbarung
nicht sauber abgearbeitet. Warum sollen wir davon aus-
gehen, dass Sie es jetzt besser machen? Es spricht, da Sie
jetzt wieder vieles nebulös formuliert haben, alles dafür,
dass Sie wieder wegtauchen werden. Die Bundesregie-
rung hat mit der Koalitionsvereinbarung der sie tragenden
Parteien zur Umweltpolitik die Chance vertan, die Wei-


(A)



(B)



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168


(A)



(B)



(C)



(D)






chen für eine wirklich nachhaltige Umweltpolitik in
Deutschland zu stellen. Das, was Sie sich in der Koali-
tionsvereinbarung umweltpolitisch vorgenommen haben,
lässt leider keine klare Handschrift erkennen, hat leider
große Textlücken und wird den Umweltschutz in
Deutschland leider nicht voranbringen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1500415500

Ich erteile dem Kollegen Winfried Hermann, Bünd-

nis 90/Die Grünen, das Wort.


Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1500415600

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist mir

leider nicht vergönnt, all das abzuräumen, was uns in lan-
gen Redezeiten aufgetischt wurde, vor allem das, was Sie,
Herr Paziorek, gesagt haben. Ich kann also nur das eine
oder andere aufgreifen.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Im Ausschuss diskutieren wir weiter darüber!)


Ich hatte mir für heute vorgenommen, zu Beginn einer
neuen Legislaturperiode mir selber, der Regierung, den
Koalitionsfraktionen, aber auch der Opposition einige
grundsätzliche und auch kritische Fragen zur Orientie-
rung in der Politik zu stellen. Für mich stellen sich fol-
gende Fragen: Erstens. Haben wir auf die wirklich großen
Herausforderungen, auf die globalen Herausforderungen
mit unseren Politikansätzen die richtige Antwort?

Zweitens. Wie schaffen wir es, das allgemeine Konzept
der Nachhaltigkeit und des integrierten ökologischen An-
satzes konkret zu machen?

Drittens. Schaffen wir es, eine mehr bürgerfreundliche
und bürgerbeteiligungsorientierte Umweltpolitik zu ma-
chen?

Viertens. Ist unser Ansatz strategisch geradlinig oder
widersprüchlich?

Ich sage dies bewusst nicht nur als Herausforderung an
die Regierung, sondern diese Fragen muss sich auch die
Opposition stellen. Man kann hier nicht nur von der Re-
gierung einen klaren Kurs fordern. Man muss diese Maß-
stäbe dann auch bei sich selber anlegen und seinen Stand-
punkt einhalten. Einerseits wirft man uns vor, wir wären
nicht radikal genug, und andererseits sagt man zu unseren
Vorschlägen zur Reduktion des CO2-Verbrauchs, sie seienviel zu radikal und würden die Wirtschaft und bestimmte
Gruppen schädigen Diese Widersprüchlichkeit halten
Sie konsequent durch. Ich finde, diese paradoxe Logik ist
nur schwer erträglich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sie haben – jetzt werde ich konkret – die große He-
rausforderung Klimaschutz genannt. Das haben Sie zu
Recht als wichtiges Thema angesprochen. Wir haben es
im Koalitionsvertrag ganz vornean gestellt. In diesem Be-
reich haben wir sehr konkrete Vorschläge gemacht. Sie
haben Recht, nicht in allen Punkten ist der Koalitionsver-

trag konkret. Aber in manchen Punkten ist er sehr konkret:
Im Hinblick auf Energiepolitik und Klimaschutz haben
wir klare Ziele und Vorschläge. Das ist weit konkreter als
das, was Sie von der Opposition in den letzten vier Jahren
produziert haben.


(Birgit Homburger [FDP]: Das stimmt aber nicht, Herr Hermann!)


Sie müssen einmal zur Kenntnis nehmen – auch die große
Volkspartei FDP muss dies tun –: Sie sind immer sehr
großzügig mit Kritik. Aber wenn man Sie nach Ihren kon-
kreten Plänen und Gegenkonzepten fragt, dann werden
Sie sehr allgemein.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das kommt ja noch! Heute ist Regierungserklärung!)


Sie jammern zum Beispiel, indem Sie sagen, wir würden
jetzt von dem CO2-Minderungsziel von minus 25 ProzentAbstriche machen. Aber bitte schön, wo sind denn Ihre
Vorschläge? Warum sagen Sie nicht, dass Sie ein konkre-
tes Konzept haben? Fehlanzeige! Wo sind Ihre langfristi-
gen Orientierungen? Wir haben uns zu dem ambitionier-
ten Ziel von minus 40 Prozent und auf EU-Niveau von
minus 30 Prozent durchgerungen. Das ist ein wirklich am-
bitioniertes Ziel angesichts der EU-Erweiterung.


(Birgit Homburger [FDP]: Und wie kriegen Sie die EU dazu?)


Sie sind jetzt aufgefordert, einmal zu sagen, wie man da-
hinkommt.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Ihr seid an der Regierung! Ihr müsst das vorlegen!)


Sie dürfen nicht nur jammern, wir hätten keine präzisen
Ziele. Sie selber haben nämlich keine.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Im Übrigen haben Sie den Vertrag nicht genau gelesen. Es
wird ausdrücklich das Klimaschutzprogramm aus dem
Jahre 2000 betont, in dem das 25-Prozent-Ziel steht.

Frau Homburger und Herr Lippold haben davon ge-
sprochen, der Kanzler habe nicht viel zur Ökologie und
zur Nachhaltigkeit gesagt.


(Birgit Homburger [FDP]: Nichts!)

Das stimmt übrigens nicht. Haben Sie einmal registriert,
wie viel Frau Merkel zu dem Thema gesagt hat? Einen
Satz. Da würde ich an Ihrer Stelle den Mund nicht so voll
nehmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Kommen wir zum Thema Hochwasser. Sie haben es

auch angesprochen. Wir setzen dieses Regierungspro-
gramm mit den Ländern und mit den Kommunen um. Das
wird uns viel Arbeit kosten. Dazu müssen wir harte Ziele
formulieren und schwierige Wege gehen, etwa wenn man
Gewerbegebiete in Talauen nicht mehr realisieren möchte.
Da werden wir auf allen Ebenen gemeinsam kämpfen
müssen. Das ist ein Feld, auf dem wir uns klar zu einem
konkreten Konzept bekannt haben und nicht nur allge-
mein herumschwadroniert haben.

Sie haben zu Recht den Bodenschutz angesprochen.
Die Senkung des Boden- und Flächenverbrauchs ist ein

Dr. Peter Paziorek




Winfried Hermann
wichtiges Ziel. Das stand schon im letzten Koalitionsver-
trag. Das ist übrigens ein schwieriges Ziel. Wer ist der
Erste, der sagt, es gehe nicht? Stichwort Eigenheimzu-
lage. Das waren Sie! Unser Vorschlag ist ökologisch be-
gründet, weil es nicht klug ist, dass man Eigenheime auf
der grünen Wiese mehr fördert als die Sanierung von Ei-
genheimen in der Stadt. Wir setzen das gleich. Schon
kommt wieder das Argument: Aber das schadet dem
Häuslebau. Wenn man ökologisch argumentiert und wenn
man in diesem Bereich wirklich etwas erreichen möchte,
dann muss man diesen Weg auch beschreiten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sie haben uns vorgeworfen, wir hätten im Bereich
Lärmschutz nichts getan. Sie haben Recht, wir sind mit
diesem Versuch gescheitert. Wir haben dieses Thema aber
wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Aber seien Sie ein-
mal ehrlich: Das Fluglärmgesetz wird alle Länder betref-
fen. Da wird man nur erfolgreich sein, wenn auch Sie und
Ihre Länderregierungen mitmachen. Da können Sie nicht
einfach sagen: Nichts erreicht. Da muss man Sie schon
fragen: Was haben Sie unternommen und was werden Sie
unternehmen, um ein Fluglärmgesetz hinzubekommen?
Auch das ist eine große Herausforderung, der wir uns stel-
len.

Der Präsident zeigt mir an, dass ich zum Schluss kom-
men muss. Ich kann leider viele Punkte nicht mehr abar-
beiten.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1500415700

Sie sind der letzte Redner und Sie haben noch so viele

Zettel.


Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1500415800

Ich überblättere daher viele Seiten und fasse zusam-

men. Man kann von einem Koalitionsvertrag nicht erwar-
ten, dass er ganz detailliert alles abarbeitet. Er kann nur ei-
nen Rahmen abstecken. Das leistet er. Das Ziel ist
nachhaltige Entwicklung und Gerechtigkeit. Ökologische
Prinzipien haben sich im ganzen Koalitionsvertrag durch-
gesetzt. Der Koalitionsvertrag enthält ein Leitbild für die
Umweltpolitik und für die Politik insgesamt. Insofern
könnte man auch sagen: Das Konzept ist zukunftsorien-
tiert.

Wenn Sie, Herr Präsident, gestatten, zum Schluss noch
ein nettes Zitat aus der hohen Literatur, nämlich von Victor
Hugo:

Die Zukunft hat viele Namen. Für die Schwachen ist
sie das Unerreichbare. Für die Furchtsamen ist sie
das Unbekannte. Für die Tapferen ist sie die Chance.

Lassen Sie uns die Chance nutzen!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1500415900

Das war doch ein schönes Wort zur Nacht.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Wir sind da-

mit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-

tags auf morgen, Mittwoch, den 30. Oktober, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.