Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den einzigen Punkt der Tagesordnung auf:
Regierungserklärung des Bundeskanzlers
mit anschließender Aussprache
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
heutige Aussprache nach der Regierungserklärung neun
Stunden, morgen ebenfalls neun Stunden und am Don-
nerstag drei Stunden vorgesehen. Sind Sie damit einver-
standen? – Dann ist so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland,
Gerhard Schröder.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen ha-ben am 22. September von den Wählerinnen und Wählernden Auftrag zur weiteren sozialen und ökologischen Er-neuerung unseres Landes erhalten.
– Das mag Ihnen komisch vorkommen; aber es war so.
Ich habe schon gelegentlich feststellen müssen, dass Siedas vielleicht ein bisschen anders erwartet hatten. Abernehmen Sie zur Kenntnis: Sie saßen auf der Oppositions-seite, Sie sitzen da und Sie werden da sitzen bleiben.
Wir haben den Auftrag, Gemeinsinn und Verantwor-tungsbereitschaft zu stärken, Solidität, aber auch Solida-rität zu organisieren und diesen Auftrag werden wir erfül-len. Die Menschen in Deutschland wissen, dass wir inwirtschaftlich schwierigen Zeiten leben. Sie wissen umdie Gefahren durch den internationalen Terrorismus; siewissen um die Gefahren durch regionale Konflikte – allesGefahren, die unsere innere Sicherheit, aber auch unserenwirtschaftlichen Wohlstand bedrohen; sie wissen, dassuns der veränderte Altersaufbau unserer Bevölkerung undder Wandel im Erwerbsleben zu weit reichenden Verände-rungen bei den Systemen der sozialen Sicherung, zu Spar-samkeit, zu höherer Effizienz und zu größerer Gerechtig-keit zwingen.Aber die Menschen in Deutschland haben sich aus-drücklich nicht dafür entschieden, den Sozialstaat abzu-schaffen, wahllos Leistungen zu kürzen
oder gar die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer zurückzudrehen.
Sie haben der neuen Regierung eben nicht den Auftrag er-teilt, die Interessen von Gruppen und Verbänden über dasGemeinwohl zu stellen.
Wir wissen um den Wählerauftrag und deshalb überneh-men wir Verantwortung für das Ganze.
Die Entwicklung der internationalen Finanz- undAktienmärkte, die Zurückhaltung von Konsumenten undInvestoren in allen großen Volkswirtschaften, eine anhal-tende Unsicherheit auf den Rohstoff- und Energiemärktendurch die explosive Lage im Nahen Osten, das alles gibtwenig Anlass zu der Hoffnung auf eine kurzfristige Bes-serung der Weltwirtschaft. Deshalb kommt es für uns da-rauf an, im Inland die Kräfte für Wachstum und Erneue-rung zu stärken.
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Bundeskanzler Gerhard SchröderDabei stehen die klassischen Instrumente, um denKonsum und die Investitionstätigkeit durch Subventio-nen, durch Finanzspritzen zu stimulieren, nicht mehr zurVerfügung; denn diese Instrumente können in einer Zeitder fortschreitenden wirtschaftlichen Verflechtung keineWirkung entfalten.Die bereits beschlossene nächste Stufe der Steuer-reform, die wir zur Beseitigung der nicht vorhersehbarenFlutschäden um ein Jahr verschieben mussten, tritt mitihren bedeutenden Entlastungseffekten im Jahr 2004 inKraft. Weitere Entlastungen werden folgen. Sie sind für2005 bereits beschlossen und werden die Wachstums-kräfte in Deutschland stärken.
Gerade weil die Politik der abgestuften Steuersenkun-gen weiterverfolgt wird,
ist es nötig, einzelne Ausnahme- und Subventionstatbe-stände im Steuerrecht auf ihre Zweckmäßigkeit und aufihre Zielgenauigkeit hin zu überprüfen und gegebenen-falls auch abzuschaffen. Die in der Koalition vereinbartenEinsparungen und Einschnitte sind in sich ausgewogen.Sie dienen allein dem Ziel, neue Handlungsmöglichkeitenfür Zukunftsinvestitionen und damit für Wachstum undBeschäftigung zu eröffnen.
Obenan stehen Reformen auf dem Arbeitsmarkt und imBildungswesen. Wir müssen und wir werden die Qualitätvon Bildung und Ausbildung deutlich verbessern und damitdie Lebenschancen insbesondere junger Menschen erhöhen.
Gegen vielfachen Widerstand werden wir die Familienfördern und die Sozialsysteme reformieren,
ohne den Grundsatz der Solidarität preiszugeben.
Wir setzen einen Schwerpunkt öffentlicher Investitio-nen bei der Wiederherstellung und der weiteren Moderni-sierung der Infrastruktur in den neuen Bundesländern.Damit stärken wir die innovativen Kräfte in der Wirt-schaft, und zwar ganz gleich ob in kleinen, mittleren odergroßen Unternehmen.
Es geht uns darum, unsere Spitzenposition in der For-schung und bei der Anwendung neuer Technologien so-wie bei der ökologischen Modernisierung zu halten undsie, wo immer es geht, auszubauen.
Meine Damen und Herren, zur weiteren Konsolidie-rung der öffentlichen Haushalte gibt es keine vernünftigeAlternative. Wir brauchen Zukunftsinvestitionen statt Zins-zahlungen. Wir dürfen heute also nicht das konsumieren,was wir unseren Kindern und Enkeln als Zukunftschan-cen eröffnen wollen.
Wir brauchen und wir werden Spielräume im Etat schaf-fen, um Vorsorge für unsere Volkswirtschaft treffen zukönnen, und werden bei Bedarf gezielt gegensteuern. DieBundesregierung hält an dem Ziel fest, bis 2006 einenausgeglichen Bundeshaushalt zu erreichen.
Dabei muss klar sein: Der Stabilitätspakt selbst stehtnicht zur Diskussion. Was wir aber brauchen, ist seinekonjunkturgerechte Ausgestaltung.
Gerade in der gegenwärtigen Situation muss es möglichsein, die automatischen Stabilisatoren wirken zu lassen.Erforderlich ist also mehr Flexibilität, um in konjunktu-rell schwierigen Zeiten gegensteuern zu können.
Angesichts der schwierigen weltwirtschaftlichen Lage,die natürlich unmittelbare Auswirkungen auf die Kon-junktur und das Wachstum in Deutschland hat, müssenwir eines erkennen: Es ist jetzt nicht die Zeit, neue Forde-rungen zu stellen, ohne zu neuen Leistungen bereit zusein. Wer nur seine Ansprüche pflegt, der hat wirklichnoch nicht verstanden, worum es geht.
Wer soliden Wohlstand, nachhaltige Entwicklung undneue Gerechtigkeit will, der wird Verständnis dafür auf-bringen, dass man bei bestimmten staatlichen Leistungenauch kürzer treten muss und dass auf das erreichteLeistungsniveau des Staates und der Sozialversicherun-gen nicht fortwährend draufgesattelt werden kann.
Zur Reform und Erneuerung gehört auch, manche An-sprüche, Regelungen und Zuwendungen des deutschenWohlfahrtsstaates zur Disposition zu stellen. Manches,was auf die Anfänge des Sozialstaates in der Bismarck-Zeit zurückgeht und vielleicht noch vor 30, 40 oder50 Jahren selbstverständlich und berechtigt gewesen seinmag, hat heute seine Dringlichkeit und damit seine Be-rechtigung verloren.Diese Bundesregierung, diese Koalition hat eine ge-lungene Mischung aus mehr wachstumsfördernden Inves-titionen des Staates,
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intelligentem Sparen, mehr Steuerehrlichkeit und mehrSteuergerechtigkeit vereinbart.
Wer in einer labilen konjunkturellen Situation nochhöhere Einsparungen des Staates fordert, der nimmt inKauf, dass die berechtigten Anliegen der Bürgerinnen undBürger Schaden nehmen.
Meine Damen und Herren von der Opposition, ichkann ja verstehen, dass Sie wegen der verlorenen Wahlimmer noch ein wenig sauer sind.
Wenn man in Ihre Gesichter schaut, merkt man es Ihnenan. Ich kann das gut nachvollziehen. Sie alle haben sichschon auf der Regierungsbank sitzen sehen und nun ist eswieder nichts geworden. Wenn Sie so weitermachen, wirdes auch so bleiben; seien Sie sich dessen ganz sicher.
Wie man hört, sind Sie auf dem besten Wege, so weiter-zumachen.
Zu der Politik, die wir vereinbart haben, gibt es keinevernünftige, jedenfalls keine verantwortbare Alternative.
Ich sage es noch einmal: Wer in einer labilen konjunktu-rellen Situation noch höhere Einsparungen des Staatesfordert, der nimmt in Kauf, dass die berechtigten Anlie-gen der Bürgerinnen und Bürger ernsthaft Schaden neh-men. Theoretisch gibt es eine Alternative: Wir hätten, wiees ja gelegentlich vorgeschlagen worden ist, über die be-schlossenen und notwendigen Einsparungen – etwa beiden konsumtiven Ausgaben und bei den Subventionen –hinaus in allen Ressorts einen gleich hohen Prozentsatzder Leistungen ersatzlos streichen können. Das wäre aberdas Gegenteil von sozialer Gerechtigkeit gewesen.Wir brauchen vor allem Investitionen in Zukunfts-chancen; das werden wir organisieren. Wir wollen des-halb keinen Staat, der verarmt und damit handlungsun-fähig wird.
Es bleibt dabei – das ist unsere gemeinsame Überzeugung –:Einen solchen Nachtwächterstaat kann sich nur eine kleineMinderheit von Mächtigen und Privilegierten leisten. DieMehrheit in unserem Land kann und will das nicht.
Die Mehrheit in unserem Land hat Anspruch auf einenStaat, der Gemeinwohl befördert, Chancen eröffnet undGerechtigkeit organisiert. Gerechtigkeit ist nach unsererAuffassung viel mehr als die Forderung, dass alle Opferbringen müssen. Mehr als auf die Verteilung knapper wer-dender öffentlicher Mittel kommt es heute auf die Vertei-lung von Chancen in unserer Gesellschaft an. Unsere po-litische Generation steht vor der historischen Aufgabe,Gerechtigkeit im Zeitalter der Globalisierung zu definie-ren und sie politisch zu organisieren. Das ist der Grund,warum wir die Menschen in Deutschland, auch diejenigen,die in diesem Hause auf welcher Seite auch immer Politikmachen, zu einer Verantwortungspartnerschaft aufrufen.
Gemeinsam können wir die gewiss großen, aktuellenSchwierigkeiten überwinden und weit über diese Legisla-turperiode hinaus die Kräfte und das Können unseres Lan-des für ein in jeder Hinsicht reicheres Leben der heutigenund der künftigen Generationen mobilisieren.
Vordringliche Aufgabe in der beginnenden Legislatur-periode ist nach unserer festen Überzeugung die Reformder Arbeitsmärkte. Wir haben in Deutschland nicht nureine zu hohe Arbeitslosigkeit; wir haben auch zu vieleÜberstunden, zu viel Schwarzarbeit und zu viele offene,also nicht besetzte Stellen.Mit den Vorschlägen der Hartz-Kommission ist es ge-lungen, nach mehr als 30 Jahren fortwährender Diskus-sionen um Reformen auf dem Arbeitsmarkt ein schlüssi-ges Gesamtkonzept vorzulegen.
Diese Vorschläge, die wir ohne Abstriche umsetzen, wer-den die größte Arbeitsmarktreform seit Bestehen der Bun-desrepublik bewirken. Ich denke, wir alle sollten die Ge-legenheit nutzen, um Herrn Hartz und den Mitgliedern derKommission für ihre Arbeit zu danken, und darangehen,die Ergebnisse umzusetzen.
Was wir mit dieser Reform erreichen werden, ist ebennicht nur eine schnellere und effizientere Vermittlung vonArbeitslosen in offene Stellen. Nein, wir eröffnen darüberhinaus neue Beschäftigungsmöglichkeiten, vor allen Din-gen in den Dienstleistungsberufen. Wir schaffen auch beigeringem Eigenkapital neue Chancen auf Selbstständig-keit und Existenzgründung. Wir sorgen für neue Flexibi-lität durch die Einrichtung von Personal-Service-Agentu-ren und geben den Menschen die Chance, sich auf Zeitberuflich zu bewähren. Vor allem Langzeitarbeitslose er-halten endlich wieder Gelegenheit, auf diese Weise inBeschäftigung zu kommen.
Wir machen mit dieser Reform gerade bei den Dienst-leistungen legale Arbeit attraktiv und verringern so dieBundeskanzler Gerhard Schröder
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Bundeskanzler Gerhard SchröderVersuchung, Arbeitskraft illegal anzubieten. Damit keineMissverständnisse aufkommen: Schwarzarbeit ist nachunserer Auffassung kein Kavaliersdelikt, sondern einMissbrauch unserer Sozialsysteme. Diesen Missbrauchmüssen wir mit aller Konsequenz bekämpfen.
Bei allem geht es mit dieser Reform nicht um einefalsch verstandene Öffnung der Arbeitsmärkte durch be-denkenlose Beschneidung von Arbeitnehmerrechten. Unsgeht es um die Eröffnung neuer Möglichkeiten. Die Vor-schläge der Hartz-Kommission und die Beschlüsse derBundesregierung, die dort erarbeiteten Ergebnisse unver-wässert umzusetzen, demonstrieren auch etwas, das weitüber die dringlichen Reformen auf dem Arbeitsmarkt hin-ausweist: Hier ist gezeigt worden, dass auch in vermach-teten, teilweise verkrusteten Strukturen die nötigen Verän-derungen möglich und politisch machbar sind, jedenfallsdann, wenn alle Beteiligten ihre Kraft zur gemeinsamenVerantwortung in die Waagschale werfen.
Aus diesem großen Reformprojekt können wir einezentrale Botschaft herauslesen, die auch die Maxime inden vor uns liegenden Regierungsjahren sein wird und– das füge ich hinzu – sein muss: Es geht nicht darum,immer nur zu fragen, was nicht geht. Es geht vielmehr da-rum, zu fragen, was jede und jeder Einzelne von uns dazubeitragen kann, dass es geht.
Die Bundesregierung tritt ihr neues Mandat mit demfesten Willen an, unser Land weiter zu erneuern. Innova-tionen, wie wir sie uns vorgenommen haben, brauchen ge-wiss Geduld und gelegentlich einen langen Atem. Auchwenn der Weg der Reformen mitunter beschwerlich ist –wir werden nicht nachlassen.In der Koalitionsvereinbarung sind für viele Bereichewichtige Schritte benannt. Gelegentlich sind es erst be-scheidene Schritte. Ich meine aber, in allen Punkten istfestzustellen, dass die Richtung stimmt.Wir haben in der vergangenen Legislaturperiode dieVoraussetzungen für eine Politik der Gerechtigkeit, derErneuerung und der Nachhaltigkeit geschaffen. In dennächsten vier Jahren werden wir diese Politik weiterhinkonsequent in die Wirklichkeit des Alltags umsetzen.Denn das ist der Maßstab unserer Politik: Sie hat sich imAlltag der Menschen zu bewähren.
Vieles von dem, was wir bereits begonnen haben oderwomit wir jetzt beginnen, weist über die nächsten vierJahre hinaus. Manches bei den Veränderungen an den So-zialsystemen, an der Finanzstruktur und bei der Entfal-tung neuer Wirtschaftskraft wird erst nach einiger Zeitvollends zur Wirkung kommen. Unsere große Chance istes, die Gestaltung des gesamten Jahrzehnts in Angriff zunehmen und damit die Frage zu beantworten, wie im Zeit-alter der Globalisierung und strukturellen Veränderungendes Wirtschaftens und des Arbeitens Gerechtigkeit herge-stellt bzw. gesichert werden kann. Deshalb begreifen wires als unsere vordringliche Aufgabe, Deutschland zu ei-nem wirklich kinderfreundlichen Land zu machen,
und zwar zu einem Land, in dem Kinder so gut betreutwerden, dass sie beim Spielen lernen können und beimLernen das Spielen nicht vergessen müssen.
Meine Damen und Herren, wir werden erreichen, dassFrauen wirkliche Wahlfreiheit zwischen Familie undBeruf haben.
Wir werden erreichen, dass das Großziehen von Kinderneben nicht als Last oder gar als Risiko empfunden wird.Wir werden die Bedingungen dafür schaffen, dass Kinder-erziehung als selbstverständlicher und glücklicher Ab-schnitt eines erfüllten Lebens erfahren werden kann.
Wir wollen also ein Land sein, das seinen Kindern alleMöglichkeiten einräumt, in einer sicheren Umwelt mit ge-sunden und bezahlbaren Lebensmitteln aufzuwachsen,und das allen eine erstklassige Bildung und Ausbildunggarantiert.
Allein dafür stellen wir in den nächsten vier Jahren 4 Mil-liarden Euro für die Einrichtung von 10 000 neuen Ganz-tagsschulen zur Verfügung.
Damit wollen wir mithelfen, dass Deutschland in zehnJahren wieder zu den führenden Bildungsnationen zählt.Genauso wenig, wie der Zugang zu erstklassigen Bil-dungsangeboten vom Geldbeutel der Eltern abhängendarf, dürfen Bildungschancen vom Wohnort bestimmtsein.
Wir werden daher gemeinsam mit den Ländern einen Kernvon nationalen Bildungs- und Leistungsstandards erarbei-ten. Den Schulen schließlich müssen wir mehr Autonomiegewähren und sie zu mehr Wettbewerb und Eigenverant-wortlichkeit herausfordern.
Für Kinder bis zum Alter von drei Jahren werden wireine gesetzliche Betreuungsquote von 20 Prozent errei-
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chen. Dies finanzieren wir über die Entlastung der Kom-munen durch die Reformen am Arbeitsmarkt.
Das ist ein weiteres Beispiel dafür, dass Gerechtigkeit undZukunftsinvestitionen erreicht werden können, wenn un-sere Politik ganzheitlich auf diese Ziele ausgerichtet wird.
Wir werden unsere rechtsstaatliche Demokratie stär-ken und weiter ausbauen. Die demokratische Teilhabewerden wir entwickeln und fördern. Deshalb halten wir anunserem Ziel fest, Volksinitiative, Volksbegehren undVolksentscheid auf Bundesebene einzuführen.
Wir setzen auf eine umfassende Politik der Integrationgegen jede Ausgrenzung sozialer, ethnischer, religiöseroder kultureller Gruppen und Minderheiten.
Dabei verstehen wir unter Integration weder die zwang-hafte Angleichung noch die Akzeptanz von Parallelge-sellschaften. Integration heißt für uns vollkommene Teil-habe an den Chancen, aber natürlich auch an den Pflichtenunseres Gemeinwesens. Eine gesteuerte Zuwanderungwird die Zukunftschancen aller Menschen in Deutschlanderhöhen und denjenigen, die zu uns kommen, weil sie zuuns kommen dürfen, eine sichere Lebensperspektive bie-ten. Dazu gehört das Angebot, aber auch die Verpflichtungzur Integration.
Von entscheidender Bedeutung ist dabei auch die nach-holende Integration der Ausländerinnen und Ausländer,die bei uns leben. Zugleich werden wir die Ausreisepflichtfür die Nichtbleibeberechtigten konsequent durchsetzen.
Wir werden mit einer umfassenden Integrationspolitiknicht zuletzt die Versäumnisse früherer Jahrzehnte korri-gieren.
Unser Ziel ist, ein Land zu schaffen, in dem derMensch wirklich im Mittelpunkt aller gesellschaftlichenund politischen Entscheidungen steht. Das ist auch einGrund dafür, dass wir den Verbraucherschutz über dieLebensmittelsicherheit hinaus stärken und eine moderneFamilienpolitik fortsetzen, damit die Menschen lebenkönnen, wie sie leben wollen, anstatt sich vorschreiben zulassen, wie sie leben sollen.Vergessen wir aber auch nicht: Mehr Wachstum undmehr Produktion bedeuten nicht automatisch mehr Frei-heit für den Einzelnen. Für uns ist Lebensqualität mehrals Lebensstandard, mehr als Konsum oder Einkommens-niveau. Lebensqualität umfasst die ganze Vielfalt des Le-bens der Menschen in unserem Land, hat also sehr viel mitFreiheit zu tun, und zwar Freiheit von Angst und Not. Dasheißt aber auch Freiheit zur Verwirklichung ganz persönli-cher Lebensentwürfe. Dies ist deswegen so, weil wir Frei-heit eben nicht auf Gewerbefreiheit reduzieren.
Freiheit heißt für uns, dass jede und jeder Einzelne dieChance auf ein selbstbestimmtes und eigenverantwortli-ches Leben hat.Wir wollen ein Land sein, das seine Spitzenstellung imUmwelt- und Klimaschutz sowie in Forschung und Tech-nologie behauptet und weiter ausbaut.
Wir schaffen auf diese Weise einen neuen Zusammenhalt,der auf Freiheit, auf Selbstbestimmung und auf Nachbar-schaft gründet. Wir wollen einen neuen Gemeinsinn undeinen Staat, der öffentliche Güter wie Gesundheit, Sicher-heit und Mobilität bereitstellt, ohne in das private Lebender Menschen hineinzuregieren. Deshalb brauchen wirnicht einfach weniger oder mehr Staat, sondern vor allemeinen effizienten, an den Interessen und Bedürfnissen derBürgerinnen und Bürger orientierten Staat, der in derWirtschafts- und in der Gesellschaftspolitik wichtige undvor allem richtige Impulse gibt.
Um das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger, aberauch der Unternehmen in die Zukunft unseres Landes zustärken sowie die Binnennachfrage und die Investitionenanzukurbeln, brauchen wir eine Wirtschafts- und eine Ar-beitsmarktpolitik aus einem Guss. Diese Politik steht auffünf Säulen: strategische Investitionen in Bildung, For-schung und Infrastruktur für die Familien und zur besse-ren Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie für dieökologische Erneuerung unseres Landes, Fortsetzung derHaushaltskonsolidierung und Einsparungen bei den kon-sumtiven Staatsausgaben und den Subventionen, nachhal-tige Entlastung der Menschen von Steuern und Abgaben,
Strukturreformen am Arbeitsmarkt, bei Rente und Ge-sundheit, um die sozialen Sicherungssysteme zukunfts-fähig zu machen und, wo immer es geht, die Lohn-nebenkosten zu senken,
und Abbau unnötiger Bürokratie.Deutschland ist ein Land mit einem großartigen wirt-schaftlichen Potenzial und enormen eigenen Wachstums-kräften. Unsere Position auf den Weltmärkten im Export,das Qualifikationsniveau unserer Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer, die Vielzahl der bei uns entwickelten Ver-fahren und Patente und die gute Infrastruktur sind Stärken,die wir weiterentwickeln müssen und werden, um auch inZeiten ungünstiger Weltkonjunktur bestehen zu können.Bundeskanzler Gerhard Schröder
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Bundeskanzler Gerhard SchröderWir wollen eine neue Kultur der Selbstständigkeit undeinen neuen Aufschwung bei den Existenz- und Unter-nehmensgründungen.
Dazu bündeln wir die Mittelstandsförderung. Wer sichaus der Arbeitslosigkeit heraus selbstständig machen willund kann, den werden wir dabei unterstützen.
In den ostdeutschen Bundesländern werden wir in denInno-Regio-Prozess durch weiterentwickelte Fördermaß-nahmen zur Gründung neuer Unternehmen eingreifen undihn ergänzen. Wir werden die Entwicklung eines neuenMittelstandes im Dienstleistungssektor fördern und dieExistenzbedingungen kleiner Dienstleistungsbetriebesystematisch verbessern.Mit dem neuen Bundesverkehrswegeplan werden wirAufbau Ost und Ausbau West gleichermaßen voranbrin-gen. Wir werden die Planung von Bauvorhaben verein-fachen und auf diese Weise Investitionen beschleunigen.Auf der Grundlage des Solidarpakts II, der bis ins Jahr 2019Planungssicherheit gewährt, werden wir die Wirtschafts-entwicklung in den ostdeutschen Bundesländern vorantrei-ben. Ostdeutschland muss besser in die überregionale undinternationale Arbeitsteilung eingebunden werden.
Besonderes Augenmerk legen wir dabei auch auf die För-derung von Direktinvestitionen in den ostdeutschen Län-dern und Regionen.
Es bedarf nicht erst jener grausamen terroristischenBedrohung, deren Aktualität uns auch in diesen Tagenständig vor Augen geführt wird, um zu erkennen: Sicher-heit ist in unserer einen Welt längst nicht mehr mit natio-nalen Maßnahmen allein, sondern nur durch internatio-nale Zusammenarbeit zu gewährleisten.
Aber auch im nationalen Maßstab, in unserer eigenen Ge-sellschaft, ist Sicherheit eben nicht allein Sache von Poli-zei, Justiz oder Militär. Die Bundesregierung hat schonfrühzeitig national und international einen erweiterten Si-cherheitsbegriff definiert und dafür geworben. Dazu ge-hört die Sicherheit von Leib und Leben vor Krieg und Kri-minalität, keine Frage, aber eben auch die materielle,soziale und kulturelle Sicherheit, eben zur Vergewisse-rung der eigenen Identität, und nicht zuletzt die Sicherheitdes Rechts und die Absicherung gegen Krankheit und an-dere Lebensrisiken.
Wir sind davon überzeugt: Erst eine Gesellschaft, die indieser Weise umfassend Sicherheit bereitstellen kann, istfähig zu guter Nachbarschaft und zu friedlicher Zusam-menarbeit nach außen, aber eben auch zu den notwendi-gen Veränderungsmaßnahmen nach innen.Die demographische Entwicklung unserer Bevölke-rung etwa kann nicht ohne Auswirkung auf die Strukturunserer Systeme der sozialen Sicherung bleiben. Medi-zinischer Fortschritt und gestiegene Lebensqualität habenunsere Gesellschaft erfreulich verändert, die Lebenser-wartungen der Menschen verlängert und immer mehrKrankheiten therapierbar gemacht. Doch wenn ein immerkleinerer Teil der Gesellschaft die Beiträge für die Kassenaufbringen muss, deren Leistungen im Gesundheitswe-sen und bei der Altersversorgung von einem immergrößeren Teil in Anspruch genommen werden, dann be-droht das auf Dauer die Funktionsfähigkeit der Solidarge-meinschaft.
Die Bundesregierung setzt alles daran, das hohe Ni-veau der medizinischen Versorgung, das es in unseremLand Gott sei Dank gibt, zu sichern und – das ist das Ent-scheidende – für jede und für jeden zugänglich zu halten.
Wir werden dieses leistungsfähige Gesundheitswesendann und nur dann auch für das Wohlergehen aller Men-schen nutzen können, wenn wir die Strukturen verändern,die Systeme öffnen und in hohem Maße vorhandene Effi-zienzreserven auch wirklich nutzen.Wir wollen keine Zweiklassenmedizin und mit unswird es sie nicht geben.
Was wir aber brauchen und was wir schaffen werden, sindmehr Verantwortung und mehr Wettbewerb im System,eine Stärkung der Prävention und mehr Zusammenarbeitzwischen Kassen, Patienten, Ärzten, Krankenhäusern undGesundheitszentren.
Die Rolle der Patienten werden wir durch mehr Rechteund verbesserte Schutzvorkehrungen stärken. Wir wollenmündige Patienten, die aktiv an der Vorsorge und derPflege ihrer Gesundheit teilnehmen.In der Rentenpolitik haben wir mit der zusätzlichen ka-pitalgedeckten Altersvorsorge begonnen, das Siche-rungssystem wirklich zukunftstauglich zu machen. DenWeg zu mehr Eigenverantwortung und mehr Wettbewerb,den wir mit der Errichtung der zweiten Säule in der Al-tersvorsorge eingeschlagen haben, werden wir fortsetzen,um so auf Dauer die Renten sicherer zu machen und dieBeiträge bezahlbar zu halten.
Sowohl die Gesundheits- als auch die Altersversor-gung werden wir nach dem Muster reformieren, mit demwir in der Hartz-Kommission Blockaden beseitigt und
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neue Wege eröffnet haben. Im Gesundheitswesen erwar-ten wir von allen Beteiligten die unbedingte Orientierungan den gemeinsamen Zielen: der Bereitstellung des medi-zinisch Notwendigen, dem effizienten Einsatz der Mittelund der Entlastung bei den Arbeitskosten. Dabei folgenwir dem Grundsatz: „Soziale Sicherheit durch Solidaritätund Verantwortung“ heißt auch in diesen Bereichen: för-dern, aber die Betroffenen auch fordern.Neben der sozialen Sicherheit ist die innere Sicherheitein wesentliches Fundament unserer Gesellschaft undeine wesentliche Bedingung unserer Freiheit. Wir habendeshalb stets betont, dass es keinen Widerspruch zwi-schen Sicherheit auf der einen Seite und Bürgerrechtenauf der anderen Seite geben kann und geben darf.
Wir verstehen Sicherheit als ein elementares Bürgerrecht.
So verstandene Sicherheit ist nur durch das Zusam-menspiel dreier Schlüsselelemente zu gewährleisten: ei-ner effizienten, gut ausgerüsteten und bürgernahen Poli-zei, entwickeltem Bürgersinn und aktiver Zivilcouragesowie einer unabhängigen Justiz in einem starken Rechts-staat. Diesem Konzept bleibt die Bundesregierung ver-pflichtet.Im Kampf gegen das organisierte Verbrechen werdenwir auf der Basis der europäischen Beschlüsse die Zu-sammenarbeit weiter verbessern. Im Strafprozess stärkenwir die Rechte der Verbrechensopfer. Die Strafvorschrif-ten gegen sexuellen Missbrauch, insbesondere von Kin-dern, werden wir fortentwickeln.Parallel dazu setzen wir die Reformen in der Gesell-schaftspolitik fort. Die Gleichstellung und die gleicheBerücksichtigung von Frauen und Männern setzen wir fürden Bereich der Bundesregierung als durchgängiges Leit-prinzip durch.
Auf die völlig neue Bedrohungssituation nach den Ter-roranschlägen vom 11. September 2001 haben wir umfas-send und schnell reagiert. Bis Mitte der Legislaturperiodewerden wir die Antiterrorgesetzgebung den Erforder-nissen weiter anpassen. Moderne Methoden zur Iden-titätsfeststellung und zur Aufklärung von Straftaten wer-den wir weiterentwickeln und selbstverständlich nutzen.Der erweiterte Sicherheitsbegriff ist auch Leitmotivder Bundesregierung in der Außen-, in der Sicherheits-und in der Entwicklungspolitik. Wir setzen die Politik derguten Nachbarschaft fort und kommen unserer Verant-wortung nach, die sich aus Deutschlands politischer undgeographischer Lage im Herzen Europas, aus der Part-nerschaft im Altantischen Bündnis und aus der Wertege-meinschaft für Freiheit, Menschenrechte, Demokratie undGerechtigkeit ergibt.Die außen- und sicherheitspolitischen Herausforderun-gen lassen sich an zwei Daten anschaulich festmachen:Durch den 9. November 1989 hat sich Deutschlands Rollein der Welt langfristig gewandelt und der 11. Septem-ber 2001 hat die Sicherheit in der Welt insgesamt drama-tisch verändert. Mir liegt daran, dass Folgendes immerwieder deutlich wird: Deutschland ist heute mit fast10 000 Soldatinnen und Soldaten nach den VereinigtenStaaten von Amerika der größte Truppensteller, was in-ternationale Einsätze angeht. Der Kampf gegen den inter-nationalen Terrorismus, der – was wir gerade in diesen Ta-gen wieder spüren – längst nicht gewonnen ist, wird unsauch weiterhin ebenso substanzielles Engagement abfor-dern wie unsere langfristig eingegangenen Sicherheits-und Aufbauverpflichtungen, etwa auf dem Balkan, aberauch in Afghanistan.Gleichzeitig befindet sich die Bundeswehr im größtenReformprozess ihrer Geschichte, der sie für ihre komple-xen Aufgaben von heute und morgen tauglicher als in derVergangenheit machen soll. Die Bundesregierung – mirliegt daran, das hier deutlich zu machen – dankt den Sol-datinnen und Soldaten ausdrücklich für ihr großes profes-sionelles Engagement unter diesen enormen Belastungen.
Völlig zu Recht genießen unsere Soldatinnen und Solda-ten das große Vertrauen der Menschen, für die sie, ob inKabul, in Bosnien-Herzegowina oder in Mazedonien, imKosovo oder in Georgien, immer auch Hoffnung auf Frie-den und auf Sicherheit verkörpern. Welch glückhafterWandel in der deutschen Geschichte!
Die Fortsetzung der Reform unserer Streitkräfte setztvoraus, dass wir das Gesamtspektrum der Aufgaben derBundeswehr unter heutigen sicherheitspolitischen Bedin-gungen analysieren und bereit sind, die daraus notwen-digen Konsequenzen zu ziehen. Dies erfordert auch eineumfassende Prüfung dessen, was wir unter diesen neuenBedingungen an materieller Ausrüstung und an Personalwirklich benötigen. Bis Ende der Legislaturperiode wer-den wir überprüfen, ob über das beschlossene und insWerk Gesetzte hinaus weitere Strukturanpassungen odergar eine Änderung der Wehrverfassung nötig sind.
Auch wenn wir infolge unserer wiedererlangten staat-lichen Einheit und der damit erlangten vollen Souveränitätwiederholt unsere nunmehr selbstverständliche Bereit-schaft unter Beweis gestellt haben und stellen, ge-gebenenfalls unseren militärischen Beitrag für Frieden undSicherheit zu leisten, ist sich die Bundesregierung jedochbewusst: Sicherheit ist heute weniger denn je mit militäri-schen Mitteln, geschweige denn mit militärischen Mittelnallein herzustellen.
Wer Sicherheit schaffen und aufrechterhalten will, dermuss – das ist klar – einerseits Gewalt entschieden be-kämpfen, andererseits aber auch das Umfeld befrieden, inBundeskanzler Gerhard Schröder
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Bundeskanzler Gerhard Schröderdem Gewalt entsteht, und zwar durch präventive Kon-fliktregelung, durch Schaffung sozialer und ökologischerSicherheit, durch ökonomische Zusammenarbeit unddurch das Eintreten für Menschen- und auch für Minder-heitenrechte.
Einer solchen präventiven und umfassend ansetzendenAußen- und Sicherheitsrepublik bleibt die Bundesregie-rung verpflichtet.Wir haben nicht erst durch die Attentate von New York,Washington, Djerba, Bali und zuletzt Moskau schmerz-lich erfahren müssen, dass die Modernisierungs- und Ver-flechtungsprozesse unserer heutigen Welt weder zwangs-läufig friedlich verlaufen noch automatisch zu mehrFreiheit und Demokratie führen. Umso größer ist unsereVerpflichtung, den Prozess der Globalisierung nicht nuranzunehmen, sondern ihn auch aktiv politisch zu gestalten.
Sicherheit setzt gerade bei beschleunigten, aber un-gleichzeitigen Entwicklungen voraus, dass wir uns ständigum Interessenausgleich und auch um eine gerechtere Ver-teilung der Globalisierungsgewinne bemühen. Wir wer-den unter den Bedingungen einer enger zusammengerück-ten Welt keine Sicherheit erreichen, wenn wir Unrecht,Unterdrückung und Unterentwicklung weiter gären lassen.
Gegen die neue Gefahr einer privatisierten Gewalt vonKriegsherren, Kriminellen und Terroristen setzen wir in-ternationale Allianzen gegen Terrorismus und gegen Un-freiheit. Wir wollen die Stärkung von Gewaltmonopolendurch starke, legitimierte internationale Organisationen,allen voran die Vereinten Nationen.
Dies werden wir auch durch unsere Mitarbeit im Weltsi-cherheitsrat und den Vorsitz, den Deutschland dort tur-nusgemäß übernehmen wird, bekräftigen.Die Bundesregierung tritt in ihrer internationalen Ver-antwortung dafür ein, dass mit der Globalisierung derMärkte eine Globalisierung der Menschenrechte und dersozialen Sicherheit einhergeht.
In diesem Sinne haben wir uns zuletzt auf dem Welt-nachhaltigkeitsgipfel in Johannesburg
für konsequente Armutsbekämpfung, Öffnung der Welt-märkte sowie eine weltweite Anstrengung für Klima-schutz und ökologische Energienutzung engagiert.
Die Finanzierungsbasis für die Entwicklung haben wirfestgeschrieben; wir werden bis zum Jahr 2006 das Zieleiner Quote von 0,33 Prozent für die Entwicklungsarbeitumsetzen.
Deutschlands Platz bei der Durchsetzung universellerWerte unter Wahrnehmung unserer internationalen Ver-antwortung bleibt durch die feste Verankerung in unserenBündnissen, unsere Rolle in der Europäischen Union undunsere Freundschaft zu den Vereinigten Staaten von Ame-rika bestimmt.
Unsere transatlantischen Beziehungen, die auf der So-lidarität freiheitlicher Demokratien und auf unserer tiefempfundenen Dankbarkeit für das Engagement der Verei-nigten Staaten beim Sieg über die Nazibarbarei und beider Wiederherstellung von Freiheit und Demokratie beru-hen, sind von strategischer Bedeutung und von prinzipi-ellem Rang.
Diese Beziehungen finden ihren Ausdruck in einer Viel-zahl von politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und zi-vilgesellschaftlichen Kontakten und Freundschaften.Dies schließt aber unterschiedliche Bewertungen in öko-nomischen und politischen Fragen nicht aus.
Wo es sie gibt, werden sie sachlich und im Geiste freund-schaftlicher Zusammenarbeit ausgetragen.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat im-mer deutlich gemacht, dass Deutschland die Prioritäten beider Bekämpfung des internationalen Terrorismus im fortge-setzten Engagement bei Enduring Freedom und in der Fort-setzung und Stärkung internationaler Koalitionen gegen denTerror sieht. Wir wissen, dass gerade der Nahe und Mitt-lere Osten dringend Hoffnung auf greifbare Fortschritte inRichtung eines dauerhaften und gerechten Friedens brau-chen. In diesem Sinne hat sich die Bundesregierung inten-siv für ein Ende der tödlichen Spirale von Terror und Gewaltin Israel und in Palästina eingesetzt. Mit unseren europä-ischen und amerikanischen Partnern sind wir uns einig, dassFrieden im Nahen Osten nur durch ein Ende der Gewalt unddie Ermöglichung eines Zusammenlebens von Israelis undPalästinensern in zwei eigenständigen, anerkannten Staatenmit sicheren Grenzen erreicht werden kann.
Eine solche Lösung muss auf dem Verhandlungsweg ge-funden werden.Um die Gefahr, die von Massenvernichtungswaffenausgeht, zu mindern, haben wir unsere technischen, per-sonellen und sachlichen Mittel angeboten und werden die
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Mission der VN-Waffeninspektoren im Irak mit allenKräften, die wir haben, unterstützen.
Die Region und die gesamte Welt brauchen genaueKenntnis über die Waffenpotenziale des Regimes im Irak.Wir brauchen die Gewissheit, dass die dortigen Massen-vernichtungswaffen vollständig abgerüstet werden.
Über den Weg zu diesem Ziel hat die Bundesregierungfrühzeitig ihre Auffassung und auch ihre Besorgnisse zumAusdruck gebracht.Die zwischenzeitliche Entwicklung und die internatio-nale Diskussion vor allen Dingen im Weltsicherheitsratzeigen, dass die Chance besteht, eine militärische Kon-frontation am Golf doch noch zu vermeiden. Ich bekräftigein diesem Zusammenhang unsere Haltung, dass wir aufunbeschränktem Zugang der Waffeninspektoren zu denArsenalen Saddam Husseins beharren. Angesichts der be-drohlichen Lage im Nahen Osten und der Notwendigkeit,den Kampf gegen den internationalen Terrorismus aufmöglichst breiter Grundlage zu führen und ihn dann zu ge-winnen, setzt die Bundesregierung auf die Ausschöpfungaller Möglichkeiten von internationalen Inspektionen.Gegenüber dem Irak und anderen Gefahrenherdenmüssen eine konsequente Politik der Abrüstung und in-ternationale Kontrollen vorrangiges Ziel bleiben. Das isteiner der Gründe, warum wir immer gesagt haben – dasgilt nach wie vor –, dass wir uns an einer militärischen In-tervention im Irak nicht beteiligen werden.
Meine Damen und Herren, unsere Politik für Frieden,Menschenrechte und Sicherheit ist und bleibt eine Politikin Europa, für Europa und als Folge dessen auch von Eu-ropa aus. Wir setzen die Politik der freundschaftlichenPartnerschaft mit Russland in gemeinsamer Verantwor-tung fort. Wir unterstreichen unsere Solidarität mit derrussischen Bevölkerung angesichts brutaler Terroran-schläge wie zuletzt in Moskau. Gleichzeitig setzen wir aufeine politische Lösung der Konflikte in Tschetschenienund in der gesamten Kaukasusregion.
Dies ist auch zentrale Forderung der gemeinsamen euro-päischen Außen- und Sicherheitspolitik, die zu stärkenund auszubauen unser Ziel ist.Ende der vergangenen Woche ist es dem EuropäischenRat in Brüssel gelungen, eine tragfähige Grundlage für dieErweiterung der Europäischen Union zu schaffen. Da-mit kann das zentrale europäische Projekt am Anfang die-ses Jahrhunderts, nämlich die endgültige Überwindungder schmerzlichen Teilung Europas, erfolgreich abge-schlossen werden.
Wir haben gewusst, dass wir diese historische Chance nurnutzen können, wenn sich die Mitgliedstaaten im Europader Fünfzehn vor dem Ende der Beitrittsverhandlungen,also noch in diesem Jahr, auf ein belastbares finanziellesKonzept vor allem bei der Agrarfinanzierung einigen. Mitdem Brüsseler Kompromiss, vor allem auch durch die Zu-sammenarbeit mit unseren französischen Freunden, ist einErgebnis erzielt worden, das den Erfordernissen der Be-grenzung der Agrarkosten in der erweiterten Europä-ischen Union Rechnung trägt,
das die historische Tragweite der Entscheidung, um die esgeht, aber nie aus den Augen gelassen hat. Zusammen mitunseren Partnern sind wir der gemeinsamen Verantwor-tung vor der europäischen Geschichte gerecht gewordenund haben die Grundlagen dafür gelegt, dass nun auch inEuropa zusammenwachsen kann, was zusammengehört.
Wir werden nunmehr beim europäischen Gipfel im De-zember in Kopenhagen die Beitrittsverhandlungen mitzehn mittel- und osteuropäischen Ländern abschließen.Dabei wissen wir: Gerade uns Deutschen bieten sich mitder Vertiefung und der Erweiterung der EuropäischenUnion großartige politische wie ökonomische Möglich-keiten.Wir wissen: Die Geschichte der Einigung Europas isteine Erfolgsgeschichte. Der Prozess der wirtschaftlichenIntegration mit der Herstellung des größten Binnenmarktsder Welt und der Einführung einer gemeinsamenWährung hat nicht zuletzt dazu beigetragen, Nationalis-men in Europa klein zu halten oder sie zu überwinden.
Aber, meine Damen und Herren, unser Europa zeichnetsich durch mehr aus als durch wirtschaftliche Stärke, Leis-tungsfähigkeit, Erfindergeist und Arbeitsfleiß. Europa, dasja nie geographisch, sondern immer politisch definiertwar, steht nach unserer Auffassung für eine ganz spezifi-sche Kultur und auch Lebensform. In Europa, unseremEuropa, hat sich ein eigenes, auch einzigartiges Zivilisa-tions- und Gesellschaftsmodell durchgesetzt, das auf demGedanken der europäischen Aufklärung fußt und auf Teil-habe aller Menschen als Triebkraft für seine Entwicklungsetzt. Dieses Europa, das so mühevoll aus seiner blutigenVergangenheit zur freiheitlichen und friedlichen Gegen-wart und Zukunft gefunden hat, ist eine echte Werte-gemeinschaft geworden.
Das europäische Modell der Verbindung aus Eigeninitia-tive und Gemeinsinn, aus Individualität und Solidarität,hat sich bewährt. Wir, die Deutschen, haben unseren Bei-trag dazu geleistet. Es ist ein Modell, das sich auch in Zei-ten der Globalisierung durchsetzen kann und ohne dass wires exportieren können oder wollen, auch vielen anderenEntwicklungschancen bietet. Die Europäische Union istdie Antwort der Völker auf Krieg und Zerstörung. Sie istBundeskanzler Gerhard Schröder
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Bundeskanzler Gerhard Schröderunsere Antwort auf die Globalisierung und auch auf dieHerausforderung durch Instabilität und durch Terrorismus.
Allerdings hat sich in der vergangenen Zeit das eigent-liche Problem in der Konstruktion der EuropäischenUnion zunehmend bemerkbar gemacht. Ich meine vor al-lem die Zuordnung der Verantwortlichkeiten. Wir müssendafür Sorge tragen – das ist in dieser Legislaturperiodemöglich –, dass die Europäische Union auch mit 25 odergar mehr Mitgliedstaaten politisch führbar bleibt. UnserZiel ist eine starke und handlungsfähige, eine verständlichorganisierte und demokratisch legitimierte EuropäischeUnion, die sich durch Transparenz und Bürgernähe aus-zeichnet.
Dieses Ziel wollen wir bis zur Regierungskonferenz imJahr 2004 erreichen. Mit der in Nizza beschlossenenGrundrechte-Charta liegt bereits ein wichtiges Elementfür eine künftige europäische Verfassung vor. Was wir da-rüber hinaus zur Komplettierung der europäischen Ver-fassung benötigen, wird im Konvent unter Vorsitz vonGiscard d’ Estaing beraten.Die Bundesregierung unterstützt die Arbeit des Kon-vents mit allen Kräften. Wir werden daran mitwirken, ei-nen Verfassungsentwurf zu präsentieren. Er muss bein-halten: eine eindeutigere Abgrenzung der Kompetenzenzwischen den Mitgliedstaaten auf der einen Seite und derEuropäischen Union auf der anderen Seite; die Schaffungeiner starken und zugleich auch politisch verantwort-lichen Kommission, deren Präsident vom EuropäischenParlament zu wählen ist; ein in seinen Rechten deutlichgestärktes Europäisches Parlament, die Reform des Rates,der grundsätzlich mit qualifizierter Mehrheit entscheidensoll, sowie eine verbesserte Zusammenarbeit der Ge-meinschaft in Fragen der inneren und der äußeren Sicher-heit. Die bevorstehenden historischen Weichenstellungenwie auch die Arbeiten an der europäischen Verfassungwerden wir in enger Abstimmung mit unseren französi-schen Freunden betreiben.
Wir haben in Brüssel gesehen, dass wir ohne ein ge-meinsames deutsch-französischesVorgehen – auch wenngelegentlich schmerzhafte Kompromisse gemacht werdenmüssen – ein Europa der Bürger, dessen Nutzen aus Vertie-fung und Erweiterung allen Europäern zugute kommensoll, nicht werden schaffen können.Wir wollen eine neue Kultur der Selbstständigkeitund der geteilten Verantwortung. Deshalb fördern wir dieweitere Stärkung der freiheitlichen und sozialen Bürger-gesellschaft. Ich will allerdings deutlich machen: Wirwollen die Zivilgesellschaft nicht deshalb stärken, damitsich der Staat aus seinen originären Aufgaben zurückzie-hen kann.
Es ist gewiss richtig, dass der Staat nicht die Bereiche or-ganisieren soll, in denen es die Gesellschaft besser kann.Deshalb brauchen wir weniger Bürokratie und wenigerObrigkeitsdenken, aber nicht unbedingt weniger Staat.Ebenso klar ist: Der allgegenwärtige Wohlfahrtsstaat,der den Menschen die Entscheidungen abnimmt und siedurch immer mehr Bevormundung zu ihrem Glück zwin-gen will, ist nicht nur unbezahlbar, er ist am Ende auchineffizient und inhuman.
Deshalb fördern wir die Eigenverantwortung und dieKräfte zur Selbstorganisation unserer Gesellschaft. Vorallem die vielen Tausend ehrenamtlich und freiwillig Täti-gen in kulturellen und sozialen Projekten sowie in Pro-jekten des Sports brauchen größere Gestaltungsräume.Wir fördern diese Verantwortung für das Gemeinwohlnicht nur, wir fordern sie auch.
Der Reichtum und die Kreativität unseres Landes wer-den wesentlich bestimmt durch großartige kulturelleLeistungen und Angebote. Die Bundesregierung hat be-reits in der vergangenen Legislaturperiode begonnen, denDialog mit Künstlern, Intellektuellen und Kulturschaffen-den wieder aufzunehmen. Das Amt des Beauftragten fürKultur und Medien hat sich als segensreich erwiesen, undzwar nicht nur für die Kultur, sondern auch für unserganzes Land und unsere Gesellschaft.
Mir liegt daran, dass deutlich wird: Für die Bundes-regierung ist Kultur nicht einfach eine angenehme Ne-bensache im Leben der Menschen. Wir wissen vielmehr,dass Sicherheit, Identität und die Fähigkeit zur friedlichenNachbarschaft in erheblichem Maße kulturelle Errungen-schaften sind. Wir wissen, dass Kunst und Kultur wesent-liche Bausteine für eine Gesellschaft der Partnerschaftund auch für eine Gesellschaft der Gerechtigkeit sind.An diesem Ziel richten wir unsere Kulturpolitik aus – imInnern, aber auch im Rahmen der auswärtigen Bezie-hungen.
Die Aufgabe ist klar: Um die Erneuerung Deutschlandsvoranzutreiben und die wirtschaftlichen Probleme zumeistern, um neue Chancen zu eröffnen und neue Ge-rechtigkeit zu organisieren, brauchen wir das Mitwirkenaller auf allen Ebenen. Wir brauchen eine neue Selbstver-antwortung und auch eine neue unternehmerische Verant-wortung. Wir stehen vor großen Reformen auf den Ar-beitsmärkten sowie bei Bildung und Ausbildung undauch – wir wissen, dass dies manchen schmerzen wird –in unserem Sozialsystem.Dabei setzen wir auf die vielen Tausend Frauen undMänner, die in diesen Bereichen engagiert tätig sind. Siesind die eigentlichen Vorantreiber des Wandels. Wir wer-den, wo immer es geht, den Konsens mit den volkswirt-schaftlichen Akteuren, den Bürgern und den gesellschaft-lichen Gruppen suchen.
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Aber genauso klar muss sein: Wir lassen am Primatder Politik nicht rütteln.
Bei aller Bereitschaft zum Dialog – dies wird ja gele-gentlich als Vorwurf konstruiert – und aller Bereitschaftzum Konsens muss am Ende die Politik, das heißt dieBundesregierung und ihre parlamentarische Mehrheit, dienotwendigen Entscheidungen treffen – und sie wird estun.
Die Frage, ob unser Land politisch geführt oder mäch-tigen Interessengruppen überlassen wird, ist entscheidendfür unsere Zukunft.
Eine Gesellschaft, deren Regierung nicht für die Nutzungaller Chancen und für den gleichen Zugang zu den Chan-cen sorgt, wird unter den Fliehkräften der Globalisierungvon innen in Schwierigkeiten kommen, wenn nicht garzusammenbrechen.Für Zusammenhalt und Wohlergehen der Gesellschaftin Zeiten äußerer Risiken, in Zeiten äußerer Unsicherhei-ten und in Zeiten tief greifender innerer Veränderungen zusorgen, das verstehen wir als die zentrale Aufgabe dieserRegierung in den nächsten vier Jahren. Das Ziel unseresWeges ist klar: ein Leben reicher an Chancen, reicher anArbeitsmöglichkeiten und Arbeitsformen, reicher anDienstleistungen und Märkten, reicher an Zukunftshoff-nungen sowie an Kultur und Sicherheit, aber durchausauch reicher an Einkommen und Vermögen für alle.
Gemeinsam werden wir dieses Ziel erreichen und ge-meinsam werden wir damit für uns und unsere Kindereine lebenswerte Zukunft schaffen.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort der Kollegin Angela Merkel, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Herr Bundeskanzler, beim Zuhören, insbesondere beider letzten Passage Ihrer Regierungserklärung, in der Sieso salbungsvoll die hehren Ziele Ihrer Politik – ein Lebenreicher an Chancen, reicher an Arbeitsmöglichkeiten,reicher an Zukunftshoffnungen, reicher an Einkommen –,die wir – so haben Sie gesagt – gemeinsam erreichen wer-den, aufgelistet haben, kam mir ein Satz aus dem Johan-nesevangelium in den Sinn: „Mein Reich ist nicht von die-ser Welt.“
Ich füge hinzu: Ihre Wahrnehmung der Realität, HerrBundeskanzler, und Ihre Regierungserklärung sind auchnicht von dieser Welt.
Eigentlich war man mehr als eine Stunde lang versucht,den Satz herauszubrüllen: Die Wahrheit ist konkret, Ge-nosse! – Das haben wir vermisst, Herr Bundeskanzler.
Sie haben manches Problem durchaus richtig beschrie-ben. Aber man konnte bei mancher ProblembeschreibungIhnen und denjenigen, die Ihnen zugehört haben, förmlichansehen, dass sie sich dabei ziemlich schlecht fühlen.Denn Lyrik ist nötig. Ich frage Sie: Wen wollen Sie dies-mal zum Schuldigen stempeln?Die Probleme von heute können Sie eben nicht mehrder imaginären Erblast von 16 Jahren Helmut Kohl in dieSchuhe schieben.
Sie spüren es und Sie haben es die ganze Zeit gespürt.Das, Herr Bundeskanzler, lastet auf Ihrer Rede. Sie wis-sen, es gibt eine Erblast und Sie tragen schwer daran, aberes ist Ihre eigene Erblast, die rot-grüne Erblast, dieDeutschland bremst und Wachstum unmöglich macht.
Die Staatskassen wollen sich partout nicht füllen, dieLöcher werden täglich größer. Die Rentenversicherungverlangt mehr Beiträge und gibt weniger Sicherheit, dasGesundheitssystem schluckt das Geld wie ein Pillensüch-tiger die Pillen. Daran werden auch die Ankündigungeneines Vorschalt- oder Nachschaltgesetzes nichts ändern,das wird so bleiben.Herr Bundeskanzler, das Schlimmste ist: Die Arbeits-losigkeit sinkt nicht, sondern wird weiter steigen. Dabeigeht es nicht um irgendeine Zahl, um 4 Millionen oder4,5 Millionen in diesem Winter; nein, hier geht es umMenschen, um Familien, um das Selbstwertgefühl dieserMenschen, um Hoffnungen, um Verletzungen, um Ent-täuschungen, um richtige menschliche Schicksale. Es istkeine nackte Zahl und deshalb sage ich Ihnen: Keines die-ser konkreten Schicksale hat in den letzten 65 Minuten indiesem Saal eine Rolle gespielt und das werfen wir Ihnenvor.
Bundeskanzler Gerhard Schröder
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Dr. Angela MerkelMan hätte sich gewünscht, dass Sie nach der mit Achund Krach gerade einmal so gewonnenen Bundestags-wahl diesmal richtig durchstarten.
Der Titel Ihres Koalitionsvertrags ist durchaus viel ver-sprechend. „Erneuerung – Gerechtigkeit – Nachhaltig-keit“ – das ist Ihr Angebot an die Gesellschaft.
Sie wollen das mit einem Kabinett, das insgesamt anLebensalter auf 800 Jahre kommt, durchsetzen. Ich würdesagen: So alt waren Aufbruch und Erneuerung selten inDeutschland.
Aber wenn man sich einmal die Mühe macht, die darinenthaltenen Absichtserklärungen zu verstehen und mitdem zu vergleichen, was Ihre Regierung heute, in den Ta-gen vor und in den Tagen nach der Wahl gesagt hat,kommt es noch schlimmer. Herr Bundeskanzler, es kannnur ein einziges Urteil geben: Dies ist ein Koalitionsver-trag der Enttäuschung, es ist ein Koalitionsvertrag derTäuschung und es ist ein Koalitionsvertrag der Vertu-schung. Dies werden wir auch weiterhin beim Namennennen.
Man weiß ja auch schon, was jetzt kommt: Wahlkampffortsetzen, schlechte Verlierer, CDU-Staat beenden, Ket-tenhunde loslassen, Helfershelfer und so weiter und sofort.
Aber damit bekommen Sie nicht einmal mehr die Treues-ten der Treuen in Ihren eigenen Reihen hinter dem Ofenhervorgelockt.
Die deutsche Öffentlichkeit fällt auf so etwas schonlange nicht mehr herein. Dies alles bestätigt nur den Ein-druck, dass Ihnen diese knapp gewonnene Wahl ziemlichin den Knochen steckt. Sie haben heute schon Angst vorder Quittung, die Sie in Niedersachen und Hessen be-kommen werden.
Wir werden es den Menschen auch immer wieder sagen.
Sie zeigen an diesen Stellen auch schon Verfolgungs-wahn. Aber nicht wir haben Ihnen Verfolgungswahn vor-geworfen, sondern die „Süddeutsche Zeitung“, die Siewahrscheinlich noch nicht zu den Kettenhunden des kon-servativen Lagers zählen können, Herr Bundeskanzler.
Dass Ihr Koalitionsvertrag ein Vertrag der Täuschungund Vertuschung ist, belegen einige Zitate:Steuererhöhungen sind in der jetzigen konjunkturel-len Situation ökonomisch unsinnig und deswegenziehen wir sie auch nicht in Betracht.Gerhard Schröder in der ARD am 26. Juli 2002.
Wir halten die Rentenbeiträge langfristig stabil.Gerhard Schröder in der „Frankfurter Rundschau“ am18. Juni 2002.
Ich bin sicher, wir kriegen keinen blauen Brief ausBrüssel.Herr Eichel am 17. September 2002, fünf Tage vor derWahl, in der ARD-Sendung mit dem schönen Titel „IhreWahl 2002“.
Meine Damen und Herren, ich erspare Ihnen, dies allesauf die Waagschale zu legen. Ich nenne hier nur das Bei-spiel Eichel: Von einer Neuverschuldung in Höhe von2,5 Prozent war am Tag vor der Wahl die Rede, von2,9 Prozent am Tag nach der Wahl und 14 Tage später warvon einem blauen Brief aus Brüssel die Rede. Inzwischenist er froh, wenn er ihn bekommt und vonseiten der Kom-missare in Brüssel nicht noch mehr draufgepackt wird.Das ist die Wahrheit.
Die Wahrheit ist so konkret, dass man sagen kann: JedeFamilie in diesem Lande wird draufzahlen. Die Menschenkommt die Wahl buchstäblich teuer zu stehen. 200 Euro imMonat beträgt die Mehrbelastung für jede deutsche Durch-schnittsfamilie mit zwei Kindern und 30 000 Euro Ein-kommen.
Zur Kürzung der Eigenheimzulage:
– Richtig, Herr Schmidt, man weiß nicht, was am Endekommt. Dies ist das Einzige, was bei Ihnen Gültigkeit hat.
Ich füge nur noch hinzu: Es ist gut, dass es uns gibt,
sonst wüssten die Leute nicht, was kommt. Wenn sie nurSie hätten, würde es ganz schlimm kommen.
Nun zur Eigenheimzulage:Hören Sie sich einmal IhreAbgeordnete Margrit Wetzel aus Stade an. Sie sagt: Die
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Streichung der Eigenheimzulage ist ein Schlag ins Ge-sicht der deutschen Bauwirtschaft.
– Wo Sozialdemokraten Recht haben, haben sie Recht.
Sie begreifen doch gar nicht, was Sie den Menschenantun! Wissen Sie, was dies für eine Familie bedeutet, dieein Haus bauen will? Sie weiß, dass sie ohne diese Förde-rung bei der Bank – dies ist doch der entscheidendePunkt – nicht mehr kreditfähig ist.
Riesige Bauunternehmen machen heute mit Fertigteil-häusern Dumpingangebote und zerstören so die kleinenBaubetriebe vor Ort. Herr Stolpe, hier frage ich Sie: Wastun Sie mit solchen Plänen eigentlich für die Bauwirt-schaft im Osten?
Dem Stichwort Eigenheimzulage kann man hinzufü-gen: Gassteuer, Tabaksteuer, Steuerreform verschoben,höhere Rentenbeiträge und höhere Krankenkassenbei-träge. Dies zusammen macht die Mehrbelastung in Höhevon 200 Euro pro Familie und Monat aus.
Dann behaupten Sie, Ihre Maßnahmen seien nicht nurnotwendig, sondern gerecht und maßvoll und träfen vorallem diejenigen, die noch mehr tragen können.
Schauen Sie sich doch einmal an, was das in Wahrheit be-deutet. Es trifft alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerin diesem Lande, es trifft alle Autofahrer und insbeson-dere die Pendler. Es trifft die, die Lebensmittel einkaufen,denn sie sind von der Erhöhung der Preise der landwirt-schaftlichen Vorprodukte betroffen. Es trifft die Leis-tungsträger – das sind die Facharbeiter, die Gesellen, die-jenigen, die Überstunden machen in diesem Lande –, weilSie die Beitragsbemessungsgrenze erhöhen.
Es trifft die Mieter in diesem Lande, es trifft die, die fürihre Altersvorsorge Wertpapiere gekauft haben, und estrifft natürlich wie immer – weil die Sie nicht wählen –ganz besonders die Bauern; das ist schon fast Routine.
Man muss doch wirklich einmal fragen dürfen: Was istan diesen Belastungen eigentlich gerecht? Wo ist die Ba-lance, von der Sie bei diesen Belastungen so gerne spre-chen?
Besteht schon deshalb eine Balance und ein Gleichge-wicht, weil alle in diesem Lande gemeinsam am Bodenliegen? Das kann doch nicht die Balance sein, die Sie mei-nen.
Deshalb heißt die schlichte Schlussfolgerung: Rot-Grün macht arm
und, noch schlimmer, Rot-Grün bietet den Menschenüberhaupt keine Aussicht in Bezug auf die Frage, wie indiesem Lande Wachstum und damit wieder mehr Be-schäftigung entstehen können.
Wirklich schlimm an Ihrer Politik ist, dass Sie wissen,dass die Lage der öffentlichen Haushalte viel schlechterist, als Sie uns heute sagen.
Deshalb werden Sie uns, vor allen Dingen nach dem2. Februar, scheibchen- und tröpfchenweise weitereMaßnahmen zumuten. Darum frage ich heute schon ein-mal vorsorglich: Was haben Sie mit dem Ehegattensplit-ting vor?
Was soll mit dem Sparerfreibetrag geschehen? Was wirdaus der Entfernungspauschale? Verändert sich an derMehrwertsteuer noch mehr? Beabsichtigen Sie, die Le-bensversicherungen noch stärker zu belasten? Es ist dochkein Zufall, dass das alles in den Koalitionsgesprächenaufgetaucht und anschließend wieder in der Schubladeverschwunden ist.Deshalb sagen wir Ihnen sehr bewusst: Wir verlangenim Namen der Bürger dieses Landes,
dass Sie uns heute und diese Woche hier reinen Wein inBezug auf das einschenken, was Sie in den nächsten Mo-naten vorhaben.
Dr. Angela Merkel
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Dr. Angela MerkelEs ist ganz klar: Sie, die Sie dort sitzen, sind keine Re-gierung der Erneuerung, sondern eine Regierung der Ver-teuerung.
Oskar Lafontaine hatte doch Recht:
Nicht der Mut wächst, Herr Bundeskanzler, sondern die Wutder Menschen in diesem Lande über diese Art der Politik.
Herr Bundeskanzler, man möchte es mit einem IhrerLieblingsworte kommentieren: Wie Sie mit den Men-schen in diesem Lande umgehen, das ist schlicht und er-greifend unanständig.
Unanständig ist das, was Sie machen,
und unanständig ist vor allen Dingen das Brechen vonVersprechen.Ich möchte auf die Debatte vom 13. September 2002hier in diesem Hause zurückkommen. Ich habe mich da-mals gar nicht lange mit den vielen gebrochenen Verspre-chen in der Arbeitsmarkt-, Gesundheitspolitik usw. auf-gehalten,
sondern ich habe Ihnen nur eines gesagt: Die größte Täu-schung der Nachkriegszeit ist Ihre Haltung im Zusammen-hang mit einem militärischen Einsatz gegen den Irak.
Es hat sich jetzt erwiesen, dass meine Aussage richtig war.
Ihre Haltung war und ist der größte Betrug am deutschenWähler in der Nachkriegsgeschichte. Vor der Wahl gab esnur ein einziges Wort: Nein. Nein zur UN, nein zum Ver-bleib der ABC-Panzer in Kuwait, nein zu Sanktionen.
Nach der Wahl besitzt der Bundesaußenminister dieDreistigkeit, einer englischen Zeitung auf die Frage, wasmit dem so genannten deutschen Weg sei, zu antworten,er könne natürlich nicht für den Kanzler sprechen, aber:Forget it! – Auf Deutsch: Vergesst es!Das ist es, was Sie hoffen und wovon Sie ausgehen.
Für wie dumm halten Sie eigentlich die deutsche Bevöl-kerung? Die Menschen werden das nicht vergessen.
Die Wahrheit und die Politik sind – Herr Schmidt, dakönnen Sie so viel schreien, wie Sie wollen – eben nichtso einfach.
Wie steht es denn mit der Beantwortung der vielen kon-kreten Fragen, die sich ergeben? Wie wird sich die Bun-desregierung verhalten? Ist sie bereit, sich an einerUN-Peacekeeping-Maßnahme nach einer militärischenAuseinandersetzung mit dem Irak zu beteiligen? Zu wel-chen Hilfsmaßnahmen wäre sie bereit, wenn der Irak Israelangreift? Was machen die ABC-Spürpanzer in Kuwait imFalle eines militärischen Konfliktes? Würden deutscheSoldaten Hilfe für die verwundeten US-Soldaten leisten?Würde die Bundesregierung dem NATO-Mitglied Türkeimilitärisch zu Hilfe kommen, wenn sie vom Irak ange-griffen würde? Wie verhält sich die Bundesregierung beieiner Abstimmung über eine Resolution des UN-Sicher-heitsrates nach dem 1. Januar?
Wollen Sie alleine mit Syrien mit Nein stimmen? DieseFragen interessieren uns. Wir wollen sie beantwortet ha-ben. Auf eine Antwort warten wir schon lange.
Herr Bundeskanzler, Sie haben es bis heute nicht ge-schafft, unser nationales Interesse zu definieren. Deshalbsage ich Ihnen für die CDU und die CSU: Wir alle wollenkeinen Krieg.
Das habe ich schon damals deutlich gemacht und tue esjetzt wieder. Wann immer Konflikte diplomatisch oderpolitisch gelöst werden können, sollte in dieser Beziehungnichts unversucht gelassen werden.Eine kurze Anmerkung zum Wochenende sei mir indiesem Zusammenhang gestattet. Wir alle sind gegen ter-roristische Angriffe. Ich hätte mir deswegen von Ihnen,Herr Bundeskanzler, schon gewünscht, Sie hätten demrussischen Präsidenten Putin mit aller Klarheit deutlichgemacht, dass wir mit Nachdruck erwarten, dass auch po-litische Anstrengungen in Tschetschenien unternommenwerden. Das wurde versäumt.
CDU und CSU sind bereit, die von der UN erwartetenBeschlüsse gegen den Irak zu unterstützen. Wir sind imÜbrigen der Auffassung, dass die französischen Ansätzehierfür eine gute Grundlage bieten.
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Ich komme zu einem Punkt, zu dem Sie auch nichtStellung genommen haben, der aber schon im Novemberaktuell wird. CDU und CSU erwarten, dass sich die Bun-desregierung auf dem NATO-Gipfel in Prag, auf demdas Thema Irak mit Sicherheit zur Sprache kommen wird,nicht aus dem Kreis der Verbündeten stiehlt, sondern sichfür eine gemeinsame Position der NATO-Mitgliedstaateneinsetzt.
Ich möchte nicht erleben – das sage ich für die Union –,dass Norwegen, Ungarn und Polen auf der Seite der Ame-rikaner sind und wir nicht. Deutschland hat Freundschaf-ten. Diese Freundschaften sind an Werte gebunden undmüssen in einem Bündnis etwas zählen.
Das alles sage ich mit Blick auf die Zukunft. Wir ahnendoch schon, wie es ablaufen wird, wenn es Weihnachtenwird, der Januar kommt und die Wahlen in Niedersachenund in Hessen vor der Tür stehen. Sie werden in Hessen diealten Plakate aus dem Jahr 1991 auspacken, auf denensteht: Kein Blut für Öl. – Ich kann Ihnen sagen: Genau daswird nicht funktionieren, weil sich die Menschen im Landeziemlich erstaunt die Augen reiben und sich fragen werden:War der Irak nicht das Wahlkampfthema? In den Koalitions-vereinbarungen sucht man diesen Punkt vergeblich. VomKosovo, von Mazedonien und von Afghanistan ist zu lesen,aber vom Irak ist nicht mit einer Silbe die Rede.
Ich vermute, wenigstens der Außenminister hat Sie darangehindert, Ihre Lügen in der Koalitionsvereinbarung auchnoch in Schriftform zu fassen.
Wenn man sich anschaut, was in den letzten fünf Wo-chen passiert ist, dann drängt sich die Frage auf, was Siewirklich wollen. Warum gehen Sie so vor? „Man erkenntnicht, wohin es eigentlich geht.“
So klage nicht nur ich, so klagte auch der thüringischeSPD-Landesvorsitzende Matschie am Wochenende.Wo der Mann Recht hat, hat er Recht; denn genau dasist das Problem dieses Bundeskanzlers. Man weiß nicht,wo es hingeht. Ich sage es mit meinen Worten: Herr Bun-deskanzler, welchen Wert hat für Sie eigentlich der Ge-staltungsanspruch der Politik gerade jetzt, also in, wie Sieso gerne betonen, unserer Zeit der Globalisierung? SehenSie überhaupt einen Gestaltungsanspruch oder sehen Siein der Globalisierung immer nur einen imaginären Schul-digen?Ich sage: Gestaltung ist nicht punktuelles Handeln undnicht das Reagieren auf kurzfristige Ereignisse, neu-deutsch auch Krisenmanagement genannt – selbst wennauch das manchmal erforderlich ist. Ich meine eine Ge-staltung, die dem Leben eine Richtung gibt und die Zu-sammenhänge herstellt. Ich glaube, dies ist die vor-nehmste Aufgabe der Politik.
Sie wollen, wie Sie gesagt haben, eine „rot-grüne Epo-che“ beginnen.
„Epochen muss man begründen können.“
– Hören Sie doch zu, Herr Stiegler! „Das ist mit diesen90 Seiten Koalitionsvertrag nicht getan.“ – Auch das habewiederum nicht ich, sondern das hat der stellvertretendeFraktionsvorsitzende Erler im jüngsten „Spiegel“ gesagt.
Herr Erler, herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Wahl! Esgibt selbst in der SPD-Fraktion einen kleinen Hoffnungs-schimmer. Es ist eben so: Ausrufen allein reicht nicht. Esmacht die Sache fast noch schlimmer, weil ein ganzmerkwürdiges und unsicheres Gefühl bleibt; es ist wie einPfeifen im Walde.Meine Damen und Herren, was ist Ihr Gestaltungsan-spruch der Politik? Finanzminister Eichel hatte sich mitseinem Sparkurs beinahe ein Stück weit in die Herzen derMenschen eingegraben. Am Tag der Unterzeichnung derKoalitionsvereinbarung in der Neuen Nationalgalerie er-klärte er aber dem staunenden deutschen Publikum, dasses mit dem Stabilitätspakt nun vorbei sei, dass man ihnirgendwie anders auslege und dass man ihn konjunktur-bedingt interpretieren müsse. Er tut das Gegenteil vondem, was er vier Jahre lang versucht hat, den Menschenbeizubringen; das zerstört die Politik.
Auf der einen Seite erhöhen Sie die Arbeitskostendurch steigende Sozialbeiträge für Rente und Gesundheit– das ist unstrittig – und auf der anderen Seite wollen Sieebendiese Arbeitskosten über die 500-Euro-Jobs – dorthalbherzig – und die Ich-AGs wieder heruntersubventio-nieren. Meine Damen und Herren, fördern Sie doch dengesamten deutschen Mittelstand – denn dann erhalten Siemehr Arbeitsplätze –,
statt mit Ich-AGs und sonstigen Hilfskonstruktionen an-zufangen! Das bringt Deutschland nicht weiter.
Und dann das viel gelobte Hartz-Konzept: Die Wirt-schaftsweisen – das waren also nicht wir – haben die Er-wartung, dass die Arbeitslosigkeit auf unter 2 MillionenDr. Angela Merkel
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Dr. Angela Merkelsinken könnte, einhellig als schlicht und ergreifend „illu-sorisch“ bezeichnet.
Meine Damen und Herren, es ist ziemlich doll, dass derSuperminister Clement – noch bevor er vereidigt war –die Sachverständigen bezichtigte, dass sie keinen Sach-verstand haben. So wird es nicht gehen. Sie werden dieStatistik fälschen und versuchen, zu tricksen und zu täu-schen; aber damit werden Sie keinem einzigen Menschenin Deutschland wirklich helfen.
Wir werden das zum Thema machen und Sie zur Redestellen.
Auf der einen Seite wollen Sie, wie das vernünftig ist,die Menschen zu mehr Eigenverantwortung heranziehen,auf der anderen Seite bestrafen Sie aber diejenigen, diediese – auch ohne staatliche Förderung – wahrnehmenkönnten, indem Sie die Beitragsbemessungsgrenze bei derRente wieder hochsetzen und damit den Menschen dieMöglichkeit nehmen, eine eigenständige private Vorsorgezu treffen. Das ist widersprüchlich und nachhaltig falsch.
Sie führen die Nachhaltigkeit groß im Munde. Deshalbist es das Allerdollste, dass Sie mit der Erhöhung der Bei-tragsbemessungsgrenze heute Rentenansprüche begrün-den, von denen Sie wissen, dass Sie sie in der Zukunft nie-mals werden erfüllen können; das muss den Grünen imHerzen wirklich weh tun.
Das ist eine nachhaltige Täuschung, nicht mehr und nichtweniger.
Sie haben – das war durchaus richtig – in der vergan-genen Legislaturperiode die Steuern auf einbehaltene Ge-winne gesenkt, um die Investitionskraft zu stärken. Nunaber, wo die Unternehmen dadurch, dass ihre Investitions-kraft gestärkt wurde, wieder an Wert gewinnen könnten,planen Sie, die Eigentümer durch die Besteuerung vonAktiengewinnen zu bestrafen. Wozu führt das? Das führtdazu, dass die Gewinne natürlich sofort einbehalten wer-den, dass nicht investiert wird, dass die Menschen nichtbesser dastehen und dass die Eigentümerstrukturen wech-seln, weil in anderen Ländern keine Steuern bezahlt wer-den müssen.
Deshalb hat Professor Sinn zu Recht gesagt: Alles, wasSie vorschlagen, ist Gas geben und zugleich bremsen. Ichwarte auf den Tag, Herr Bundeskanzler, an dem Sie unsdas als großer Autofreak einmal praktisch vormachen:bremsen und zugleich Gas geben. Das kann nach meinemtechnischen Sachverstand nur zu einem nachhaltigen Mo-torschaden führen.
Die Latte der Beispiele ließe sich beliebig fortsetzen.Der Bundesumweltminister reist heute nach Neu Delhi.Sie haben das Klimaschutzziel für 2005 auf ganz ge-schickte Art und Weise eliminiert. Was ist denn nun mit derMinderung des CO2-Ausstoßes um 25 Prozent bis zumJahr 2005? Das Ziel taucht nicht mehr auf, weil es in IhreLegislaturperiode fällt. Dafür haben Sie ein Ziel für 2020formuliert – unter dem Vorbehalt, dass auch die anderen eu-ropäischen Staaten ihren Beitrag dazu leisten. Wir erwartenheute von Herrn Trittin, dass er uns genau sagt – ich per-sönlich habe mir oft Anschuldigungen anhören müssen –,welches Ziel Sie unterstützen und wie hoch die CO2-Min-derung für das Jahr 2005 sein wird. Wir wollen wissen,welches das konkrete Ziel für diese Legislaturperiode ist.
Um Ihr widersprüchliches Verhalten noch einmal deut-lich zu machen: Sie haben in der vergangenen Legislatur-periode das Erdgas von der Ökosteuer-Regelung aus-drücklich ausgenommen, weil es so umweltverträglich istund weil Sie wollten, dass die Menschen dies als Anreizbegreifen, möglichst viel mit Erdgas zu heizen.
Nun tun das 15 Millionen Menschen in Deutschland. Wasmachen Sie? Als Dankeschön wird Erdgas mit der Öko-steuer belegt.
Das ist es, was die Menschen so missmutig stimmt.Herr Bundeskanzler, dieser Missmut ist auch nicht da-durch aus der Welt zu schaffen, dass Sie heute eine neueMaxime aufgestellt haben – sozusagen der Kennedy-Ver-schnitt aus Hannover.
Sie haben uns gesagt: Hören wir auf, immer nur zu fragen,was nicht geht; fragen wir uns, was jeder Einzelne dazubeitragen kann, dass es geht.
Nun muss ich Sie einmal fragen: Was ist „es“?
„Es“ ist nämlich im September 2001 die uneinge-schränkte Solidarität mit den Amerikanern. Aber „es“ istim September 2002 der deutsche Sonderweg in Bezug aufden Irak. „Es“ ist während der Flut der Gemeinsinn unddie Hilfe. Aber „es“ ist am Tage der Unterschrift unter dieKoalitionsvereinbarung, dass man allen, die spenden wol-len, eines vor das Schienbein gibt und die Abzugsfähig-keit der Spenden streicht. So werden Sie die Dinge nichtregeln können.
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Ihre Maxime ist in Wahrheit: Wer etwas leistet, wirdvom Staat zusätzlich belastet. Wer mehr Verantwortungfür sich oder andere übernehmen will, dem werdenSteine in den Weg gelegt. Wer bereit ist, sich für eine si-chere Zukunft und die notwendigen Veränderungen ein-zusetzen, der wird von der Regierung spätestens nachein paar Monaten allein gelassen. – Deshalb, Herr Bun-deskanzler, hätten Sie besser die Finger von Kennedygelassen. Oder aber, Herr Bundeskanzler, Sie hätten ihnwirklich beim Wort genommen: Frage nicht, was deinLand für dich tun kann, sondern frage, was du für deinLand tun kannst.
Ich bin sicher: Viele Menschen würden gerne etwastun. Aber die Menschen können nichts tun, wenn sie einenKoalitionsvertrag vorgelegt bekommen, der das Papiernicht wert ist, auf dem er geschrieben ist, und der schongar nicht die Miete des Museums wert ist, in dem er ab-geschlossen worden ist.
Weil hinter der Streichliste kein Konzept erkennbarist, lässt sich jeder einzelne Punkt mit Aussicht aufErfolg angreifen.Auch das stammt nicht von mir, sondern das hat gesterndie „Süddeutsche Zeitung“ festgestellt.Was heute gesagt wird, ist morgen überholt. Was mor-gen gesagt wird, steht im Widerspruch zu dem, was vor-her galt. Die Halbwertszeit Ihrer Aussagen wird immerkürzer. So regieren Sie zurzeit: im Hier und Jetzt, ohne einBewusstsein für das, was gestern war und was morgenkommt. Das ist das Schlimme.Ihr Kronprinz aus Niedersachsen, Herr Bundeskanz-ler, der voll auf Ihrer Linie liegt, hat es wieder einmalauf den Punkt gebracht. Gabriel sagte auf die Frage,warum Rot-Grün seine Vorhaben eigentlich nicht vorder Wahl offen gelegt hat: „Das hätten Sie wohl gernegehabt.“
Meine Damen und Herren, das ist das, was Sie in derSozialdemokratie unter Politik verstehen. Politik brauchtaber kein kurzfristiges Ereignismanagement, sondern siemuss mehr denn je gestalten können.
Denn es geht in der Tat um die Frage, wie wir aus Verän-derungen Nutzen ziehen können. Deshalb ist es doch sofatal, dass der Bundeskanzler von Augenblick zu Augen-blick lebt. Da ist es doch geradezu folgerichtig, dass er alsFreund großer symbolischer Handlungen genau zu Be-ginn dieser Legislaturperiode die Grundsatzabteilung imKanzleramt schließt. Politik ohne Grundsätze – das ist dieBotschaft für diese Legislaturperiode.
Gebraucht wird aber das Gegenteil: Wir brauchen dieRückkehr des Politischen.
Darüber gäbe es Einvernehmen. Wir brauchen die Rück-kehr des Politischen, nicht ein Verwalten des Augen-blicks. Denn Politik hat die Aufgabe, Weichen zu stellenund – Richtungen zu geben – Veränderungen über denTellerrand des Hier und Jetzt hinaus.
Das bedeutet auf der einen Seite die Fähigkeit zu Verän-derungen auch gegen Stagnation und auf der anderenSeite das Setzen von Grenzen und Orientierungspunkten.
Es ist keine plumpe Machbarkeitsidee, sondern es gehtdarum, Maßstäbe zu setzen und Linien zu entwickeln, dieüber eine längere Zeit durchgehalten werden.
– Dass Sie so schreien, zeigt doch nur, wie schlecht es Ih-nen geht.Wir von der CDU/CSU wollen ein Deutschland, dasdie Bürger ermuntert, füreinander einzustehen:
in der Ehe, in der Familie, im Ehrenamt, durch die Sozial-pflichtigkeit des Eigentums. Wir meinen, dass die Vo-raussetzung dafür in einem transparenten, gerechten undeinfachen Steuersystem besteht, das Sie bis heute nichtgeschaffen haben.
Falls Sie der Meinung sind, Sie wollten das auch, mussman sich doch wundern, dass nicht nur der Bundeskanz-ler, sondern zehn, 20 oder 30 Leute an einer Koalitions-vereinbarung arbeiten und nicht merken, dass sie mit demStreichen der Spendenabzugsfähigkeit für bestimmte In-stitutionen genau diesen Gemeinsinn zerstören. Dafürbrauchen Sie erst die Bevölkerung und die Opposition.Das ist doch das Dilemma in diesem Lande.
Wir wollen ein Deutschland, das im internationalenWettbewerb besteht und damit die Chancen der Globalisie-rung nutzt. Genau dafür brauchen wir die Stärkung der klei-nen Einheiten, der Familien, aber vor allen Dingen auch derKommunen und der Gebietskörperschaften. Diese brauchenkeine Geschenke von oben, hier 10000 Ganztagsschulenund dort ein paar Brosamen,
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sondern sie brauchen langfristige Möglichkeiten, ihreKommunen so zu entwickeln, wie es die Menschen wol-len, und zwar inklusive Tagesbetreuung und Kindergär-ten. Die ordentliche finanzielle Ausstattung der Kommu-nen ist das Gebot der Stunde.
Wir wollen ein Deutschland, das Sicherheit im umfas-senden Sinn garantiert: soziale Sicherheit, Sicherheit desVerbrauchers und Sicherheit im Inneren genauso wieim Äußeren. Deswegen brauchen wir eine Politik – derBundeskanzler hat darauf hingewiesen; er tut aber nichtsdafür –,
die das Zusammenwachsen von innerer und äußererSicherheit besser bewältigt. Wir brauchen ein Sicherheits-paket III, damit endlich bestimmte Lücken geschlossenwerden, die uns im Kampf gegen den Terrorismus behin-dern. Dazu enthält Ihre Koalitionsvereinbarung nur ver-schwommene Formulierungen, nichts Konkretes.
Herr Bundeskanzler, wir brauchen ein Zuwande-rungsgesetz, durch das die Integration der bei uns leben-den ausländischen Bürgerinnen und Bürger verbessertwird.
Diese erfolgt vor Ort. Wir haben bisher nichts darüber ge-lesen, welche finanziellen Maßnahmen Sie auf den Wegbringen wollen, damit die Integration gelingen kann. Siehaben zwar pro forma von „Steuerung der Zuwanderung“gesprochen. Aber Sie haben das Wort „Begrenzung derZuwanderung“ nicht in den Mund genommen. Ich sageIhnen: Bei Ihnen gibt es viel zu viele, die noch immer ihremultikulturellen Tagträume träumen und sich nicht um dieeigentlichen Anliegen der Bürgerinnen und Bürger küm-mern.
Wir wollen wie Sie ein verlässliches, zusammenwach-sendes und klar geregeltes Europa. Wir begrüßen, wannimmer es in die richtige Richtung geht, die Arbeit desEU-Konvents. Keine Frage, Herr Fischer, wir freuen unsüber Ihren Sitz im Konvent. Wenn Sie, Herr Bundeskanz-ler, uns aber – wie neulich bei der Frage, wie Oppositionund Regierung gut zusammenarbeiten könnten – großher-zige Angebote machen, dann müsste es doch möglichsein, dass neben dem Bundesaußenminister auch wir vonder Opposition einen Sitz in dem EU-Konvent für denausgeschiedenen Bundestagsabgeordneten Meyer be-kommen. Herr Schäuble wäre ein toller Partner für HerrnFischer gewesen. Es wäre zum Wohle Deutschlands ge-wesen. Das hätte ich unter Großherzigkeit verstanden,Herr Bundeskanzler.
Wenn Sie in diesen Tagen über Europa sprechen, dannhalte ich es für einen Fehler – ich würde es für einen be-sonders großen Fehler halten, wenn dies auch noch Teileines Kompensationsgeschäfts wäre –, wenn Sie über denBeitritt der Türkei zur Europäischen Union sprechen.
Sie wissen doch, dass Ihre Kollegen von der Friedrich-Ebert-Stiftung genauso wie die von der Konrad-Adenauer-Stiftung und der Heinrich-Böll-Stiftung alleHände voll damit zu tun haben, zu verhindern, dass sienicht jahrzehntelang ins Gefängnis müssen. Ich sage Ih-nen: Es ist jetzt nicht der Zeitpunkt, an dem wir über denBeitritt der Türkei zur Europäischen Union sprechen soll-ten. Lassen Sie das sein! Das ist nicht zum Wohle der Eu-ropäischen Union.
Wir wollen ein Deutschland, das sich europäischer Tra-dition und Werte – ich sage ganz besonnen: gerade auchder christlich-abendländischen – bewusst ist. Deshalbbrauchen wir eine Politik, die fest verwurzelt ist und sichgleichzeitig Neuem öffnet. Das ist dann eine Politik, dieum die Bedeutung von Halt, Heimat und Orientierung derMenschen in Zeiten der Globalisierung weiß. Wie wich-tig dies gerade auch für jüngere Menschen in unseremLand ist, hat noch einmal die Shell-Studie in diesem Jahrgezeigt.Wir wollen ein Deutschland, das selbstbewusst ist unddas sein Licht nicht unter den Scheffel stellt. Aber diesesselbstbewusste Deutschland werden wir nur bekommen,wenn wir ein verlässlicher Partner sind. Verlässlichkeit istdie Voraussetzung dafür, dass wir Leadership in Partner-ship wirklich leben können.
Sie haben auf diesem Gebiet Vertrauen verspielt. Wir vonder Opposition werden versuchen, es so weit wie möglichwiederzugewinnen.
Deshalb heißt die Rückkehr des Politischen, dass wirden Gestaltungsanspruch der Politik bei dem, was wirwollen, auch wieder zur Geltung bringen, dass die Men-schen wissen, was sie von einer Regierung erwarten kön-nen, und zwar nicht nur von Montag bis Dienstag, sondernüber vier Jahre bzw. – besser – über einen noch längerenZeitraum.
Deshalb sage ich Ihnen – hören Sie noch einmal genau zu –:„Wir sind zurzeit dabei auszutesten, wo es beginnt, die Wett-bewerbsfähigkeit der deutschen Industrie und der deutschenUnternehmen zu gefährden.“ – Das sagte Herr Supermini-ster Clement vorgestern bei „Sabine Christiansen“. Lassenwir uns dieses Wort „austesten“ wirklich einmal auf derZunge zergehen: die Wettbewerbsfähigkeit der deut-schen Industrie als Versuchskaninchen von Rot-Grün.
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Da kann ich nur sagen: Der Superminister wird zum Su-per-GAU für diese Bundesrepublik Deutschland.
Wenn Sie so viel schreien, muss man doch einfach einmalfragen: Haben Sie eigentlich verstanden, was Globalisie-rung ist?
Wissen Sie, dass Globalisierung eine permanente Wettbe-werbssituation für jeden kleinen und großen deutschenBetrieb bedeutet? Wissen Sie, wie viele Betriebe sich indiesem Land mit der Absicht tragen, das Land zu verlas-sen, weil sie diese Koalitionsvereinbarung gelesen haben?Wenn Sie dann schon einen Supermann für Superwirt-schaft aus dem angeblichen Superland holen und der alsErstes erklärt, dass er jetzt mal ein paar Versuchsballonsstartet, dann kann ich nur sagen: Sie haben nicht verstan-den, wie ernst es um die Arbeitsplätze in dieser Bundes-republik Deutschland steht.
Deshalb sage ich Ihnen: Wir stehen in diesem Parla-ment für Verlässlichkeit. Wir wissen, dass unsere Gesell-schaft vor großen Herausforderungen steht. Und wir wis-sen, dass es wichtig ist, dass wir eine neue bürgerlicheGesellschaft in diesem Lande schaffen,
eine Gesellschaft, in der jeder Einzelne bereit ist, Initia-tive zu ergreifen und Verantwortung zu übernehmen.
Wir sind bereit, mit den Menschen genau in diesem Sinneeinen Vertrag zu schließen, weil wir langfristig berechen-bar sind.
– Hören Sie doch zu! Sie wollen doch immer wissen, wiewir unsere Oppositionszeit verstehen.
Wir verstehen uns als Wächter, nicht als Blockierer, undzwar als Wächter im Sinne der Menschen dieses Landes:im Bundestag, im Bundesrat und auf allen Ebenen, in de-nen wir Verantwortung haben, sei es als Regierung odersei es als Opposition.Herr Bundeskanzler, Sie haben in der Debatte am13. September, der letzten vor der Bundestagswahl, in derIhnen eigenen bescheidenen Art dem Kanzlerkandidatender Union, Edmund Stoiber, gesagt – ich wiederhole eswörtlich: „Sie wollen vielleicht Kanzler werden, aber Siehaben nicht die Fähigkeiten dazu.“
Ich antworte Ihnen, und zwar im Lichte dessen, was Sieheute hier vorgetragen haben und was wir in den letztenWochen gehört haben:
Sie, Herr Bundeskanzler, wollen vielleicht dieses Land ir-gendwie von Ereignis zu Ereignis bringen; aber die Fähig-keit, es zum Wohle der Menschen in diesem Land zuführen und die schöpferischen Kräfte in diesem Land zuwecken, haben Sie nicht.
Die haben Sie nicht, weil Sie keine Idee haben und weilSie die Menschen in diesem Land nicht ernst nehmen.Und weil Sie die Menschen nicht ernst nehmen, wird dieUnion gebraucht, mehr denn je, CDU und CSU. Ich sageIhnen: Wir nehmen genau diesen Auftrag – und dann auchnoch mit Freude – an.Herzlichen Dank.
Ich erteile dem Kollegen Franz Müntefering, SPD-
Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Der Start in eine Legislaturperiode ist immer die Ge-legenheit, die politischen Ziele der kommenden Jahre zumarkieren und auch die ersten konkreten Schritte festzu-legen. Das hat der Herr Bundeskanzler auf der Grundlageder Koalitionsvereinbarung von SPD und Grünen heutefür die Regierung getan.
Wir 251 von der SPD werden in der Koalition mit denGrünen zusammen alles dafür tun, dass BundeskanzlerGerhard Schröder und diese Regierung gute Politik fürunser Land machen können. Die Arbeit kann beginnen.
Das Wahlergebnis vom 22. September war knapp, aberklar. Die Mehrheit der Menschen hat Gerhard Schröderals Bundeskanzler gewollt und gewählt, auch bewusst dieKoalition von SPD und Grünen gewählt.
Dr. Angela Merkel
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Franz MünteferingDie Verlierer vom 22. September heißen Edmund Stoiberund Angela Merkel.
Die Opposition hat in der Demokratie eine wichtige Funk-tion – das wissen wir und das respektieren wir –, aber HerrStoiber hat es vorgezogen, nicht im Deutschen Bundestagdabei zu sein und nun aus München Strippen zu ziehen.Ihnen, Frau Merkel, will ich sagen: Es macht keinenSinn, dass Sie uns heute wieder Ihre verkorksten Wahlre-zepte anbieten. Was Sie heute vorgelesen haben, war eineRede aus der Wahlkampfzeit.
Sie hätten in der Zwischenzeit lesen sollen, was wir unsfür diese Legislaturperiode vorgenommen haben.
Mit genau den Thesen, die Sie heute vorgetragen haben,sind Sie am 22. September gescheitert. Die Menschenwollen Ihre Politik nicht. Auch deshalb haben sie uns ge-wählt und uns das Vertrauen für die kommenden vierJahre für die Regierung in Deutschland gegeben.
Sie, Frau Merkel, sind gut beraten, neu zu beginnen.Lassen Sie Ihre in der Wahl gescheiterten Positionenfriedlich ruhen und denken Sie neu nach! Kümmern Siesich vor allem um Ihre Selbstfindungskommission, vonder man lesen konnte! Da haben die lange Zeit etwas zutun, zum Beispiel in der Geschichte mit dem Tafelsilber.Klären Sie sicherheitshalber auch, ob die Herren Merzund Koch denn Ihre Helfer oder Ihre Helfershelfer sind!Schauen Sie, ob das mit den Referenten denn jetzt unter-einander geklärt ist!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen hier überPolitik, nicht über die Neuroseprobleme von CDU/CSUsprechen. Es gibt schwerwiegende politische Herausfor-derungen in Deutschland – nur Ignoranten verdrängendas –, aber diese Probleme sind lösbar; nur Angsthasenleugnen das. Deutschland ist ein starkes Land mit großemPotenzial, mit tüchtigen Unternehmern und tüchtigen Un-ternehmerinnen, mit tüchtigen Arbeitnehmern und Ar-beitnehmerinnen, mit einer tragfähigen Infrastruktur, miterstklassigen Forschungseinrichtungen und vielen Paten-ten, mit leistungsfähigen Schulen und Hochschulen, miteinem Wohlstand wie nie zuvor in der Geschichte, mit ei-nem stabilen sozialstaatlichen Aufbau, mit Menschen, diezu Anstrengungen bereit sind – der Gegenwart und derZukunftsfähigkeit wegen.Wir wissen: Es wird nicht leicht. Aber die deutschen So-zialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind voller Zu-versicht in die Gestaltbarkeit der Dinge und der Zukunft.
Deutschland ist mit dieser Regierung auf gutem Weg.
Politik hat eine große Verantwortung, aber sie schafftnicht alles allein. Wir wollen Verantwortungspartner-schaft. Wir wollen die Koalition mit den Menschen in un-serem Land. Dazu suchen wir das offene und, wo es nötigist, auch streitige Gespräch um den richtigen Weg. Wirkehren nichts unter den Teppich. Wir machen deutlich, wogemeinsame Anstrengungen erforderlich sind. Wir wollenden Dialog und den Kompromiss.Wir brauchen viele, die diesen Weg aktiv mitgehen,zum Beispiel in den Vereinen, in den Verbänden, in denGewerkschaften, in den Kirchen, in den Initiativen und inden Gruppen. Es sind Millionen, die sich für die Gesell-schaft aktiv und oft mit viel Einsatz von Zeit und mitihrem wenigen Geld engagieren. Das ist der gesellschaft-liche Kitt, der dazu beiträgt, Lebensqualität in den Städ-ten und Dörfern zu garantieren.
Diejenigen, die sich zum Beispiel in den kleinen Sport-vereinen engagieren, tun für die Entwicklung der Kinderund Jugendlichen unendlich viel. Diese Menschen habenDank verdient und wir brauchen sie auch weiterhin.
Unser Land braucht auch das Engagement der Ent-scheidungsträger in der Wirtschaft. Die meisten dieserEntscheidungsträger werden akzeptieren, dass sie auf ei-nige steuerliche Privilegien in Zukunft verzichten müs-sen, weil die Lage der Staatskasse und das Gemeinwohldas erfordern. Sie werden deswegen nicht arm und siebleiben wettbewerbsfähig. Man konnte lesen – FrauMerkel zitierte das eben –, dass einige über die Verlage-rung des Standorts ihres Unternehmens ins Ausland nach-denken. Diejenigen, die das tun, darf man daran erinnern,dass die Wirtschaft für die Menschen da ist und nicht um-gekehrt.
Wer mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern inDeutschland über Jahrzehnte Erfolge erzielt und Reich-tum erworben hat, der muss auch seine Verantwortung fürdie Menschen und Regionen in Deutschland sehen. Ver-ehrte Bosse, so viel Patriotismus muss schon sein, dassman nicht wegläuft, wenn es im eigenen Land einmal an-strengend wird.
In diesen Tagen wird vieles gleichzeitig angemahnt –mit Recht.Erstens. Die Konsolidierung des Haushalts muss wei-tergehen; die Neuverschuldung muss sinken. 2006 mussdie Nettokreditaufnahme des Bundes bei null sein. Ichmöchte Sie an das erinnern, was Sie uns 1998 hinterlassen
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haben: Das, was wir da geerbt haben, bedeutete, dass wiran jedem Tag in Bonn und dann in Berlin 220 Milli-onen DM Schuldzinsen zu zahlen hatten – nicht Schulden,sondern Zinsen für Schulden! Das darf so nicht weiter-gehen. Wir werden mit Hans Eichel dafür sorgen, dassdie Nettokreditaufnahme sinkt; denn wir wollen unserenKindern etwas anderes als Schuldscheine und Hypo-theken vererben. Das bleibt das Ziel unserer Politik.
Zweitens. Es geht um die Investitionen des Bundes inBildung, Forschung und Infrastruktur. Diese Investi-tionen müssen weitergehen, und zwar mit steigender Ten-denz. In die Infrastruktur muss auch deshalb investiertwerden, weil wir nicht von der Substanz leben dürfen.Übrigens, die Investitionen des Bundes sind im kommen-den Jahr höher als je zuvor:
Sie liegen bei fast 29 Milliarden Euro.Drittens. Die Steuern müssen sinken. Das werden sie2004 und 2005. Das entsprechende Gesetz ist beschlossenund gilt. Nach Ablauf von sechs Jahren werden wir denEingangssteuersatz von 25,9 Prozent auf 15 Prozent undden Spitzensteuersatz ebenfalls deutlich gesenkt haben.Das ist eine steuerpolitische Großtat, von der Sie nur träu-men können. Wir haben die Steuern gesenkt und wir wer-den das auch weiterhin tun.
Viertens. Die Lohnnebenkostenmüssen sinken. Dafürzu sorgen ist besonders schwer, weil die Last in Zeiten ho-her Arbeitslosigkeit auf wenigen Schultern liegt. Wir wer-den die Entwicklung der Rentenversicherungs- und derKrankenversicherungsbeiträge sehr bald gesetzlich stabi-lisieren. Sie alle werden dann Gelegenheit haben, dafür zustimmen und mit dafür zu sorgen, dass das, was wir allemiteinander wollen, nämlich stabile Lohnnebenkosten, er-reicht wird. Man darf gespannt sein, ob diejenigen, diedem Grundsatz heute Beifall zollen, mitmachen, wenn esum die Umsetzung in konkrete Maßnahmen geht.
Zum Kapitel Lohnnebenkosten gehört auch, dass wirder illegalen Beschäftigung – der am schnellsten wach-senden Branche überhaupt – noch massiver als bisher denKampf ansagen. Ein Bauunternehmer mit 20 Angestell-ten, für die er ordnungsgemäß Arbeitnehmer- und Arbeit-geberbeiträge entrichtet, wird von solchen Bauunterneh-mern ausgetrickst, die durch Ausbeutung illegalBeschäftigter die Preise unterbieten. Es darf nicht so blei-ben, dass die ehrlichen Unternehmer und die ehrlichen Ar-beitnehmer in Deutschland die Dummen sind, währendsich die anderen ins Fäustchen lachen.
Es verwundert schon, dass die Spitzen der Unterneh-merverbände die Bundesregierung wegen der zu hohenLohnnebenkosten attackieren, obwohl sich in ihren eige-nen Reihen genau diejenigen befinden, die das Systemdurch illegale Beschäftigung massiv unterlaufen. Die Ver-bände sollten sich um die schwarzen Schafe in ihren ei-genen Reihen kümmern. Wenn sie das täten, dann wäreviel gewonnen. Die Verbände sollten zugeben, dass Kün-digungsschutz für Arbeitnehmer und Flächentarife unver-zichtbare Stabilisatoren unserer wirtschaftlichen Ordnungsind und bleiben müssen.
Konsolidierung des Haushalts, steigende Investitions-quote, sinkende Steuern, stabile Sozialversicherungs-beiträge – das alles bei den gegebenen weltwirtschaft-lichen Rahmenbedingungen gleichzeitig zu erreichen istnicht leicht, aber möglich. Wir werden das schaffen. Dazumüssen alle einen Beitrag leisten, der ihren Möglichkei-ten entspricht. Privilegien werden beschnitten, Ausgabengekürzt, eine gerechte Verteilung der Lasten gesichert.Starke Schultern werden mehr zu tragen haben alsschwächere, damit alle Chancen haben, die Chance aufBildung und auf Beschäftigung ganz vorneweg. Deshalbmachen wir diese Politik.
Zu dieser für die kommenden Jahre dominierendenAufgabe gehört es auch, die Verkrustungen des Fördera-lismus in unserem Land aufzubrechen und wieder mehrKlarheit über Zuständigkeiten und Verantwortlichkeitenzwischen Bund und Ländern einschließlich Gemeindenzu schaffen. Bürgernähe, Demokratie und moderne Ver-waltung brauchen klare Regeln. Die Gemeindefinanz-reform, die in Vorbereitung ist, wird uns dicht an diesesThema heranführen. Es wäre gut, wenn jenseits der Ta-gesaktualitäten ein zielführendes Nachdenken über dieFrage begänne, wie sich deutsche Politik in einem unbe-strittenen förderalen System so organisiert, dass sie effi-zient und unkompliziert zeitgemäß wirken kann und neueImpulse möglich werden. Ich fordere keinen Konvent,aber doch einen zielgerichteten Dialog hierzu. Ich hoffe,dass sich keine Seite des Hauses diesem Dialog entzieht.
Unabhängig davon werden wir mit unserer Entschei-dung vor allem zu Arbeitsmarkt-, Steuer- und Finanzpoli-tik jetzt die Basis für die großen politischen Projekteschaffen, die wir in dieser Legislaturperiode voranbringenwollen, die sich von dem Motto der Koalitionsvereinba-rung „Erneuerung – Gerechtigkeit – Nachhaltigkeit“ ab-leiten. Ein Projekt heißt: Beschäftigung. Beschäftigungschafft Wachstum, Wachstum schafft Beschäftigung. Da-ran orientieren wir uns bei der Umsetzung der Hartz-Vor-schläge und bei der Mittelstandsinitiative.Hartz nimmt den zentralen Gedanken auf, dass die Ar-beit, die es in Deutschland gibt, von denen getan werdenmuss, die legalerweise in Deutschland sind. Wir könnenes uns nicht leisten, über 4Millionen gezählte Arbeitslose,über 1 Million offene Stellen und wachsende illegale Be-schäftigung zu akzeptieren.Vermittlung ist nicht alles – klar – aber gezieltere Ver-mittlung ist schon wichtig. Personal-Service-Agenturen,Franz Müntefering
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Franz Münteferingdie Arbeitnehmer auf Zeit vermitteln, sie nicht in die Ar-beitslosigkeit zurückfallen lassen, sondern sie sozial si-chern und qualifizieren, werden nicht das ganze Problemlösen, aber doch zur Lösung beitragen. Kapital für Arbeithilft den Arbeitgebern, die Arbeitslose dauerhaft einstel-len, ihre Eigenkapitaldecke und ihre Investitionskraft zustärken.Beschäftigung schaffen, Vermittlung verbessern, kun-denfreundliche und effiziente Strukturen in der Arbeits-marktpolitik schaffen, das will das Konzept Hartz. MeinAppell geht an das ganze Haus, als Gesetzgeber das rund-um vernünftige Konzept Hartz schnell auf den Weg zubringen. Sie werden in wenigen Tagen dazu alle mitei-nander Gelegenheit haben.
Es wird uns wichtige Schritte voranbringen und derBekämpfung der Arbeitslosigkeit dienen.Dazu gehört aber auch die Mittelstandsinitiative alsweiterer zusätzlicher Impuls, der bald realisiert werdenmuss. Unser Land braucht mehr Unternehmerinnen undUnternehmer. In der Wissensgesellschaft sind mehr dennje Menschen gefragt, die den Mut haben, eigene unterneh-merische Initiativen und Ideen zu verwirklichen, Verant-wortung zu übernehmen und Arbeitsplätze zu schaffen.Wir werden deshalb mit einer neuen Gründerinitiative denSprung in die berufliche Selbstständigkeit fördern undbegleiten. Es geht um Beratung und Information, um Exis-tenzgründerlehrstühle, um verbesserte Finanzierung. Dazugehört auch, den unternehmerischen Generationswechselzu erleichtern und den Berufszugang sowie die Vereinbar-keit von Familie und Beruf zu verbessern.Wir werden im Handwerksbereich den eingeleitetenLiberalisierungsprozess fortführen und darauf hinwirken,dass das Handwerksrecht einen wirksamen Beitrag zurBekämpfung der Schwarzarbeit erbringen kann. Wir wol-len die erleichterte Betriebsübernahme durch langjährigeGesellen und Lockerung des Inhaberprinzips auch bei denPersonengesellschaften.
Existenzgründer werden in den ersten vier Jahren vonBeiträgen zur Industrie- und Handelskammer freigestellt.Die Kreditanstalt für Wiederaufbau und die DeutscheAusgleichsbank werden zu einem Förderinstitut zur Un-terstützung der mittelständischen Wirtschaft mit dem Zielkostengünstiger Förderinstrumente zusammengelegt. DieUmsetzung der Idee einer Mittelstandsinitiative ist eineder zentralen Punkte dieser Bundesregierung für die kom-mende Legislaturperiode. Das hat die volle Unterstützungder SPD-Bundestagsfraktion.
Ein Projekt heißt: Deutschland kinder- und familien-freundlicher machen. In den vergangenen vier Jahren ha-ben wir in diesem Bereich viel aufgeholt. Es bleibt aberauch noch genug zu tun. Die Familienmüssen selbst ent-scheiden, wie sie leben und wie sie ihr Leben organisie-ren wollen. Wir machen da niemandem Vorschriften. Dieeine Lebensform ist genauso viel wert wie jede andere. Esist aber offensichtlich, dass die unzureichenden Möglich-keiten für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ganzbesonders junge Frauen und Mütter behindern. Das wol-len wir ändern. Betreuungsangebote für die Kinder wer-den verbessert, bei den 0- bis 3-Jährigen im Krippenalterund bei den Grundschülern im Hortalter ist der Nachhol-bedarf besonders groß. Den Ausbau des Angebots anGanztagsschulen und Krippenplätzen werden wir mitBundesmitteln forcieren. Das ist gut für die Kinder, aberauch für die Eltern.Die in anderen Ländern gemachten Erfahrungen leh-ren: Bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf bedeu-tet mehr Kinder, nicht weniger. Das bedeutet im Übrigenauch, das Können und die Kreativität der Frauen stärkerals bisher in die Volkswirtschaft einzubeziehen. Eine Er-werbsquote von nur 60 Prozent bei den Frauen im Westender Republik ist zu wenig. Es müssen noch mehr eineChance bekommen.
Noch etwas zum Thema junge Frauen: Diese müssenmehr Chancen im Bereich der Informations- und Kom-munikationstechnologien bekommen. Dass Studienplätzein diesem Bereich bisher überwiegend von jungen Män-nern besetzt werden, ist nicht gut. Frauen beherrschen dasThema und die Technik mindestens genauso gut wie dieMänner. Wir wollen – das steht in unserer Koalitionsver-einbarung –, dass bis 2005 Frauen mindestens 40 Prozentder Studien- und Ausbildungsplätze in den IT-Berufeneinnehmen. So konkret sieht bei uns die Schaffung vonChancengleichheit aus. Das werden wir auch durchsetzen.
Übrigens gibt es nicht nur bei Frauen auf dem Arbeits-markt Nachholbedarf, sondern generell auch bei älterenMenschen. Zu den Älteren zählen heute vielfach schon50-Jährige und nicht selten noch Jüngere. Wir wollen mitentsprechenden Maßnahmen auf dem Arbeitsmarkt dafürsorgen, dass sich das ändert. 55-Jährige gehören nicht inden Vorruhestand. Sie gehören an die Arbeit und könnendas auch.
Dass in Deutschland das Arbeitsleben im Durchschnittmit 21 Jahren beginnt und mit circa 59 Jahren endet, hatzu schlimmsten Verwerfungen in unserem Sozialstaat ge-führt. 38 Jahre Lebensarbeitszeit sind zu wenig. Wirwerden daran arbeiten müssen, dass man ins Arbeitslebenfrüher hineinkommt und später aussteigt.Das offizielle Renteneintrittsalter von 65 Jahren mussnicht erhöht werden. Wer wie Herr Merz das fordert, re-det Unsinn. Wer wirklich zu einem Invaliden wird, musssozial abgesichert sein, egal wann er Invalide wird. Mitunseren Maßnahmen kommen wir aber auf ein faktischesRenteneintrittsalter von 62 oder 63 Jahren, nicht mehr wiebisher von 59 Jahren. In den sozialen Sicherungssystemenmacht das einen riesigen Unterschied aus. Wir müssen dieTrendwende in den kommenden Jahren schaffen.
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Auch für die Betroffenen ist das übrigens wichtig. Die al-lermeisten wollen nicht mit 59 oder 55 oder 52 oder nochfrüher vom Arbeitsmarkt verdrängt werden; sie wollen ar-beiten. Sie können das auch, sie haben Erfahrung, sie ha-ben Wissen. Die Unternehmen in unserem Land müsstenverrückt sein, wenn sie diese Altersklasse abschrieben.Diesen Menschen muss eine Chance im Leben und aufdem Arbeitsmarkt gegeben werden.
Damit hängt noch ein Weiteres zusammen: Ich höre vonden Unternehmensverbänden, es fehlten HunderttausendequalifizierterArbeitnehmer.Dazu sage ich: Erstens. Bil-den Sie doch aus, Herr Rogowski und Herr Hundt.
Personalentwicklungspolitik ist doch auch Ihre Aufgabe.Zweitens. Vergessen Sie die Älteren nicht und ver-steigen Sie sich nicht auf Zuwanderung als einzige Mög-lichkeit. Gegen das, was die Kochs und Becksteins daerzählen, ist festzuhalten: Mit unserem Zuwanderungs-gesetz wird Arbeitsmigration gelenkt und gesteuert undnicht ausgeweitet. Es wird kein Mandat für 100 000 Inge-nieure in der Altersklasse zwischen 30 und 35 Jahren vonirgendwo aus der Welt geben, während hier im LandIngenieure und qualifizierte Facharbeiter, die älter als45 Jahre sind, arbeitslos sind. Dafür werden wir sorgen.
Ein Projekt heißt: die Jungen an die Arbeit. KlugeKommentatoren vermissen Visionen in unserer Koali-tionsvereinbarung. Da steht aber:Kein junger Mensch darf nach der Schule in die Ar-beitslosigkeit entlassen werden.Wenn das nicht ein Anspruch ist, vielleicht sogar eineVision! Es ist nämlich das Schlimmste, was jungen Men-schen passieren kann, dass sie in der Schule – erfolgreichoder weniger erfolgreich – pauken und nach der Schuledie Perspektivlosigkeit folgt. Die jungen Menschen müs-sen die Chance haben, weiter zu lernen und zu studieren.Mehr von ihnen als bisher müssen studieren oder abereine duale Ausbildung bekommen oder aber anderswie anAusbildung oder Arbeitsfähigkeit herangeführt werden.Modulare Ausbildung wird dabei ein größeres Gewichtbekommen; denn eines ist klar: Wer 22 oder 25 Jahre altist und seinen Tag nie zu strukturieren brauchte, nie or-dentlich zu lernen oder zu arbeiten brauchte, ist für denArbeitsmarkt verloren. Politik und Wirtschaft, Städte undArbeitsverwaltung sowie Schulen und Familien sind ge-fordert. Auch die 6 bis 8 Prozent der jungen Menschen,die die Schule ohne Abschluss verlassen, brauchen eineChance, gerade sie.
Es wird auch deutlich, wie wichtig es ist, dass unsere Schul-kinder die deutsche Sprache lernen, dass sie sie beherrschen.Diese Aufgabe beginnt im Vorschulalter und in der Integra-tionsförderung, aber auch in den Familien, gerade dort.
Ein Projekt heißt: ökologische Modernisierung. DieNaturkatastrophen rücken näher an die Zivilisation heran.Jahrhunderthochwasser sind wahrscheinlich gar keineJahrhunderthochwasser mehr. Wir müssen noch massiverKlimaschutz betreiben und den Weg eines vernünftigenEnergiemix gehen.
In der vergangenen Legislaturperiode haben wir im Deut-schen Bundestag 17-mal über wichtige Umweltgesetzeabgestimmt. Darunter waren die Gesetze zum Klima-schutz, zu erneuerbaren Energien, zur Nutzung von Sonneund Wind, zur Verstärkung der Kraft-Wärme-Kopplung.15-mal haben CDU/CSU dagegen gestimmt.
Die Menschen in Deutschland waren gut beraten, dass sieauch an dieser Stelle uns und nicht dem selbst ernanntenUmweltexperten Stoiber vertrauten.
Ein Projekt heißt: das Gesundheitswesen solidarisch or-ganisieren und paritätisch finanzieren. Die gesetzlicheKrankenversicherung ist das solidarischste System über-haupt. Sie kann nur funktionieren, wenn alle wissen: Vielemüssen mehr einzahlen, als sie herausbekommen, damiteinige, die darauf angewiesen sind, mehr an Sachleistungherausbekommen, als sie eingezahlt haben. So funktio-niert das. Aber jeder kann betroffen sein, jeder kann hilfs-bedürftig werden, kann auch schon in jungen Jahren aufqualifizierte medizinische Hilfe angewiesen sein.Das System kann gesichert werden, wenn alle Betei-ligten mithelfen, seine Effizienz zu verbessern und da zusparen, wo es ohne Einschränkung in der Qualität mög-lich ist. Darauf richten sich unsere Bemühungen um eineumfassende Gesundheitsreform. Im Vorgriff darauf wirdes darum gehen, die Versicherungsbeiträge schnell zu sta-bilisieren.Ein Projekt heißt: lebendige Demokratie, offene Ge-sellschaft.Es gibt in unserer Gesellschaft Minderheiten unter-schiedlichster Art. Sie alle können sich darauf verlassen: So-lange Sozialdemokraten regieren, solange diese Koalitionregiert, werden sie nicht ausgegrenzt, sondern akzeptiert.
Wir haben in den vergangenen Jahren in Deutschland vieleböse Heimsuchungen durch Menschen erlebt, die Minder-heiten beschimpft und drangsaliert haben, einige bis zumschlimmsten Exzess. Wir wollen in einem Land leben, indem kein Mensch Angst haben muss, nur weil er anders istals andere, und zwar unabhängig von seiner Hautfarbe,seiner Religion, seiner Herkunft, seiner Eigenart. Das wol-len wir zusammen mit allen Gutwilligen erreichen: einLand der guten Nachbarschaft sein nach innen und nachaußen, ein Land ohne Bundesprüfstelle für Leitkultur.
Franz Müntefering
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002
Franz MünteferingEin Projekt heißt: Deutschland, ein normales Land inEuropa. Lange Zeit war Deutschland getrennt und wirDeutschen in West und in Ost lebten in einer besonderenSituation. Wir hatten einVaterland, aber wir lebten in zweiWelten. Unsere Situation war unnormal. Wie tief greifenddie Entwicklung seit 1990 für unser Land und für uns alsDeutsche in diesem Land sein würde, haben wir 1990vielleicht noch nicht geahnt.Jetzt ist Deutschland ein normales Land in Europamit Rechten und Pflichten und in der Verantwortung, sei-nen Beitrag für das Gelingen Europas zu leisten. Bundes-kanzler Gerhard Schröder tut das, selbstbewusst die In-teressen Deutschlands wahrend – das hat sich in denvergangenen Tagen nicht zum ersten Mal gezeigt –, aberauch darauf bedacht, dass Deutschland seinen Beitragdazu leistet, dass dieses Europa weiter wachsen kann undeine Region des Friedens, der Demokratie und des Wohl-stands bleibt. Die Bundesregierung hat dafür unsere Un-terstützung.
Vor mehr als zehn Jahren meinten manche in Deutsch-land, die Zeit der Sozialdemokratie sei vorbei, sie habenahezu alles erreicht. Diejenigen, die damals dieser Mei-nung waren, haben sich geirrt. Die Sozialdemokratenregieren heute. Wir werden dafür sorgen, dass sich diesesLand erneuert; denn die Erneuerung zu gestalten ist drin-gend notwendig in einer Zeit der Globalisierung, der Eu-ropäisierung, der tief greifenden demographischen Verän-derung und der neuen Kulturtechniken. Wir sichern dabeisoziale Gerechtigkeit. Denn das ist und bleibt der Kern so-zialdemokratischer Politik: das Soziale und das Demo-kratische.Wir wissen, dass Politik heute nur gut sein kann, wennsie auch morgen und übermorgen gut ist. Nachhaltigkeitist für manche nur ein Modewort. Aber sie ist unverzicht-bar. Deshalb gilt für unsere Politik in den kommendenvier Jahren und, wie wir hoffen, weit darüber hinaus, wasüber der Koalitionsvereinbarung steht, nämlich das Landzu erneuern, soziale Gerechtigkeit zu sichern und fürNachhaltigkeit zu sorgen. Wir wollen zusammen mit denGrünen Deutschland voranbringen. Wir nehmen uns vielvor. Wir werden es schaffen.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Westerwelle,
FDP-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Herr Bundeskanzler, Sie haben Ihre Regierungser-klärung in einer Geschäftsmäßigkeit abgegeben, die fürdie erste Regierungserklärung dieser Legislaturperiodewirklich bemerkenswert ist.
Sie haben den Text der Regierungserklärung, der Ihnenaufgeschrieben wurde und der selbst ohne Schwung ist,ohne Dynamik und ohne Temperament vorgetragen.
So kann man das Land nicht in Schwung bringen.
Diese Regierungserklärung war eine Regierungser-klärung der babylonischen Sprachverwirrung. Als ichgestern Nacht diesen Text zum ersten Mal lesen konnte,den Sie heute im Stile eines Notars bis auf wenige Ab-weichungen eins zu eins verlesen haben, ist mir wie demgesamten Bundestag heute ein Wort aufgefallen, das esverdient, noch einmal erwähnt zu werden: intelligentesSparen. Herr Bundeskanzler, es ist zwar gut, dass Sie,wenn auch unbeabsichtigt, Ihren Wortwitz in Anbetrachtder Erblast, die Schröder Schröder hinterlassen hat, nichtverloren haben. Aber man muss schon fragen: Was heißteigentlich intelligentes Sparen? Intelligentes Sparen heißtfür die Deutschen nichts anderes als höhere Steuern,höhere Abgaben, höhere Schulden und weicher Euro. Siehaben eine babylonische Sprachverwirrung vorgetragen,aber keine sachliche, vernünftige und konkrete Regie-rungserklärung.
Man muss im Detail nachlesen, was Sie im Koalitions-vertrag aufgeschrieben haben. Zunächst einmal haben SieIhren Koalitionsvertrag mit „Erneuerung – Gerechtigkeit– Nachhaltigkeit“ überschrieben.
Das sind ebenfalls drei Worte der babylonischen Sprach-verwirrung. Denn nach rot-grüner Lesart heißen Erneue-rung, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit Folgendes: Er-neuerung heißt bei Ihnen neue Steuern und neueSchulden. Gerechtigkeit heißt bei Ihnen: Alle haben dieChance, arbeitslos zu werden. Nachhaltigkeit heißt bei Ih-nen: Solange Rot-Grün regiert, wird es auch so bleiben.
Deswegen ist es notwendig, dass wir auf das hinweisen,was Sie vor der Wahl gesagt haben und was Sie nach derWahl sagen. Vor der Wahl haben Sie gesagt, die Steuernwürden nicht erhöht. Nach der Wahl haben Sie allen mit-teilen müssen, dass die Steuern natürlich erhöht werden.
Vor der Wahl haben Sie gesagt – auch das ist bemerkens-wert –, die Abgaben würden nicht steigen. Mittlerweilewissen wir, dass alle Abgaben für die sozialen Siche-rungssysteme steigen werden.
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Vor der Wahl haben Sie davon gesprochen, man dürfekeine Politik zulasten der Jungen machen und dement-sprechend dürfe unser Land nicht mit neuen Schuldenkonfrontiert werden. Mittlerweile wissen wir, dass Sie dieSchulden entgegen dem, was Sie sich für die nächstenJahre vorgenommen hatten, deutlich erhöhen werden, undzwar schon nach jetzigem Stand vermutlich um weit mehrals 6 Milliarden Euro. Das ist ein falscher Weg der Regie-rung und das wird Ihnen zunehmend entgegengehalten.Wir haben in der letzten Woche bemerkenswerte Kron-zeugen bekommen, die ich Ihrer Aufmerksamkeit emp-fehle. Nach Ihrer Lesart sind das ja die „Kettenhunde“ derOpposition. Die Repräsentanten großer Verbände, die amgesellschaftlichen Leben mitwirken, auf dem Bundespar-teitag der SPD als Kettenhunde zu bezeichnen, allein dasist schon eine bemerkenswerte Wortwahl.
Es gibt übrigens einen weiteren Beitrag zur babyloni-schen Sprachverwirrung. Von Herrn Müntefering habenwir gerade Entsprechendes gehört. Er hat über Toleranz ge-genüber Minderheiten gesprochen und festgestellt, dass sienotwendig ist. Aber als bei der Kanzlerwahl eine Stimmeaus Ihren Reihen fehlte, haben Sie großspurig hinaus-posaunt: Wir werden den schuldigen Abweichler finden.
Das ist Ihr Parlamentsverständnis und Ihr Toleranzver-ständnis. Es ist ein politischer Treppenwitz, was Sie alspolitischer Wächter für Kultur hier einbringen.
Ich möchte für Sie aus dem Herbstgutachten derführenden Wirtschaftsforschungsinstitute, das letzte Wo-che veröffentlicht worden ist, zitieren. Dies muss aus un-serer Sicht vorgetragen werden. Mögen Sie die führendenWirtschaftsköpfe in unserem Lande auch Kettenhundenennen; sie haben Ihnen die Wahrheit ins Stammbuch ge-schrieben. Wörtlich stand im Herbstgutachten der letztenWoche:Die Koalitionsvereinbarungen zur Anhebung vonSteuern und Sozialabgaben sind das Gegenteil des-sen, was wachstumspolitisch geboten ist. ... Auchhier hat sich die Politik in den vergangenen Jahren indie falsche Richtung bewegt.Aus meiner Sicht füge ich hinzu: All das, was Sie hierzur Wirtschafts-, Finanz-, Steuer- und Sozialpolitik vor-getragen haben, ist exakt das Gegenteil von dem, wasDeutschland braucht, damit es einen besseren Weg ein-schlagen kann.
Sie haben ja die Hartz-Kommission als Generallö-sungsmittel eingeführt, so als ob das der entscheidendeBeitrag sei. In Wahrheit haben Sie dabei vergessen, dassSie damit nur an den Symptomen kurieren werden. AlsHerr Hartz im Sommer dieses Jahres das erste Mal mit sei-nem Konzept an die Öffentlichkeit gegangen ist,
da konnte man noch hoffen, dass aus „Hartz“ irgendwanneinmal ein Bernstein wird. Mittlerweile haben wir fest-stellen können, dass durch die Intervention Ihrer Gewerk-schaftsfunktionäre und Ihrer Regierungsmitglieder dienotwendigen Strukturmaßnahmen, die seinerzeit vonHartz vorgeschlagen worden sind, weich gespült und aus-geblendet wurden.Der eigentliche Problempunkt ist: Sie drücken sich vordem, was Deutschland wirklich braucht. Die Regierunggeht den Weg der ungeplanten Planwirtschaft, anstatt denWeg der Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft zu ge-hen. Das wird Ihnen auf die Füße fallen.
Genauso wie Sie vor der Bundestagswahl zu all unse-ren Vorhaltungen gesagt haben, das sei Propaganda derOpposition,
sagen Sie jetzt vor der Hessenwahl und der Niedersach-senwahl wieder nicht die Wahrheit. Sie werden die Steu-ern nach der Hessen- und der Niedersachsenwahl weitererhöhen.
Sie werden an die Mehrwertsteuer herangehen und denBürgern noch kräftiger in die Tasche greifen. Deswegenwerden wir in diesen beiden Landtagswahlkämpfen aufFolgendes aufmerksam machen: Wer sich diesem Abkas-sieren entgegenstellen will, wer eine Politik der wirt-schaftlichen Vernunft will, der hat bei den beiden Land-tagswahlen die Möglichkeit zu einer schnellen Revanchegegen Rot-Grün.
In der Wirtschafts-, in der Steuer- und in der Finanzpo-litik gibt es keine Perspektive.
Man sollte sich einmal ansehen, mit welcher Flickschus-terei Sie an die Steuersystematik herangegangen sind. Esmacht schon fast Freude, sich die Details einmal anzu-schauen. Wir erleben beispielsweise, dass die Umsatzbe-steuerung der landwirtschaftlichen Vorprodukte erhöhtwird. Bei der Landwirtschaft findet die Mehrwert-steuererhöhung jetzt schon statt, das haben Sie beschlos-sen. Davon ausgenommen sind die Futterzubereitung fürHunde und Katzen sowie Kuchen und Kauspielzeuge fürHunde und andere Tiere.Dr. Guido Westerwelle
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Dr. Guido WesterwelleIch kann Ihnen sagen, wie so etwas zustande kommt.Ich habe da so eine Ahnung: Als Rote und Grüne am Ko-alitionstisch zusammengesessen sind, haben sie sich ge-sagt, die Bauern können wir strafen, sie haben uns nichtgewählt, aber unter den Katzenliebhabern könnte es nochein paar Anhänger geben, deshalb können wir die Steuernicht erhöhen. Das ist Ihre Steuer- und Abgabenpolitikohne Sinn und Verstand, Herr Bundeskanzler.
Dann gibt es die Kettenhunde. Ich möchte Ihnen einenKettenhund der Opposition vorstellen.
– Frau Kollegin, da Sie von den Grünen mit Ihrem Zwi-schenruf auf unser Spendenkonto in Nordrhein-Westfalenanspielen, möchte ich Ihnen Folgendes dazu sagen: Wis-sen Sie, was der Unterschied ist? Bei uns gibt es einenVorgang, den wir aufklären, bei Ihnen kann man eine pri-vate Urlaubsreise auf Staatskosten nach Bangkok antretenund wird danach in die Regierung befördert. Das ist derUnterschied in unserem Moralverständnis. Wo ist dennHerr Schlauch?
Grüne als moralische Instanz? Das ist doch wohl ein Witz.Ich möchte jetzt auf die Kettenhunde der Oppositioneingehen, denn das ist ein bemerkenswerter Punkt.
Ein Kettenhund der Opposition, der IG-BAU-Chef undSPD-Politiker Wiesehügel – er ist ein echter Kettenhund,er saß bisher für die Sozialdemokraten im DeutschenBundestag –, sagt zu dem, was Sie bei der Eigenheimzu-lage vorhaben, wörtlich:Finger weg von der Eigenheimzulage! Rot-Grün ris-kiert, zehntausende Jobs in der Baubranche wegzu-sparen. Normalverdiener verlieren die Möglichkeit,der Mietspirale zu entkommen und privates Wohnei-gentum zu bilden.So schnell fällt Ihr Lügengebäude zusammen, denn inWahrheit machen Sie keine Politik für Familien. Was istdas für eine Familienpolitik, wenn man künftig ein Ei-genheim nur noch mit Zulage bauen kann, wenn mansechs Kinder hat und in einen Neubau einziehen will? Dasist doch keine Familienpolitik. Wir müssen allen Familienmit Kindern helfen, wir müssen alle, die mit Kindern zu-sammenleben, finanziell entlasten.
Sie gehen den Weg der Bestrafung von Familien und Be-ziehern kleiner Einkommen.Entscheidend ist auch, dass Sie sich vor notwendigenStrukturreformen drücken.
Ich nenne in diesem Zusammenhang das StichwortHartz: Hartz immer wieder und überall,
als ob damit irgendjemandem geholfen wäre. Ich trage Ih-nen das Zitat eines weiteren Kettenhundes der Opposi-tion, des Altbundeskanzlers Helmut Schmidt – der ist einechter Kettenhund der Opposition –, vor. Er sagt in der„Zeit“:Die hartzschen Vorschläge vom Sommer dieses Jah-res gehen in die richtige Richtung, aber sie betreffenhöchstens ein Drittel der gebotenen Deregulierungdes deutschen Arbeitsmarktes.
Im Bereich der Lohnfindung muss der flächen-deckende Tarifvertrag verschwinden, dazu muss imTarifvertragsgesetz die Verordnung der Allgemein-verbindlichkeit gestrichen
und im Betriebsverfassungsgesetz müssen jeneParagraphen abgeschafft werden, die es den Ge-schäftsleitungen und den Betriebsräten verbieten,Betriebsvereinbarungen über Löhne, Arbeitszeitenund Bedingungen abzuschließen.Herrgott, dieser Kettenhund der Opposition, HelmutSchmidt, hat so Recht, dass Sie endlich einmal auf ihnhören sollten. Sie werden mit Hartz ein bisschen an denSymptomen herumdoktern, wie Sie es bis jetzt auch ge-macht haben, die Ursachen der Arbeitslosigkeit werdenSie jedoch nicht bekämpfen; denn die Ursache heißt: Ar-beit in Deutschland wird durch zu hohe Steuern und Ab-gaben und zu viel Bürokratie zu teuer.
Sie stehen für mehr Steuern, für mehr Abgaben und fürmehr Bürokratie. Das ist genau der Weg, der in Deutsch-land gestoppt werden muss.
Sie haben mittlerweile einige Beschlüsse gefasst. Ichhabe sie gelesen und gebe zu, dass mir eine Passage auchdeshalb besonders aufgefallen ist, weil sie ausgerechnet inder zweiten oder dritten Zeile auf der Seite 18 Ihres Ko-alitionsvertrags stand. Da ist Bemerkenswertes enthalten.
Dort schreiben Sie allen Ernstes nicht nur, dass Sie dieAbgaben erhöhen wollen – vor der Wahl war dies allesnicht wahr –, sondern Sie schreiben auch hinein, dass Sienoch weiter an die Schwankungsreserve der Renten ge-hen wollen. Die Bürgerinnen und Bürger, die uns jetztzuschauen, wissen vielleicht nicht, was sich dahinter ver-steckt. Ich möchte es ihnen sagen: Die Schwankungsre-serve ist nichts anderes als der Notgroschen, den man fürdie Rente braucht. Mit Ihrer Politik gehen Sie an diesen
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Notgroschen der Rente. Sie verschulden die Rente. Diesist eine Katastrophe für Deutschland und für die Rentne-rinnen und Rentner.
Nun zu Bundesfinanzminister Hans Pinocchio Eichel,der vor der Wahl erzählt hat: Die 3 Prozent werden wirnicht reißen. – Ich saß gemeinsam mit Herrn KollegenMerz und Ihnen wenige Wochen vor der Wahl in einerFernsehsendung. Dort haben wir Ihnen gesagt: Sie wer-den natürlich die 3 Prozent reißen.
– Sie haben es gewusst und gesagt, dies sei alles Propa-ganda der Kettenhunde der Opposition.Mittlerweile kann man erkennen, dass Sie in der Tatden Wählern vorher die Unwahrheit gesagt haben. Des-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bei einer
flexiblen Auslegung der Stabilitätskriterien, von der Sie
jetzt sprechen, bekommen Sie den Widerstand der Oppo-
sition zu spüren. Wir wollen einen Euro, der so stabil ist
und bleibt, wie es die D-Mark war. Wir wollen keinen
Euro nach dem Vorbild der italienischen Lira. Genau da-
hin geht aber Ihre Politik mittel- und langfristig, weil die
anderen Länder nachmachen werden, was Deutschland
und Frankreich an Verletzung der Kriterien vormachen.
Frau Kollegin Merkel hat in ihrer bemerkenswerten
Rede zur Außenpolitik
– in ihrer außergewöhnlich bemerkenswerten Rede; dies
hat Ihnen nicht gepasst, aber es muss einmal gesagt wer-
den –
schon vieles gesagt und ich will dazu nur zwei Sachen
nachtragen: Ich glaube, es ist schon ein bemerkenswerter
Vorgang, dass Sie vor einer Wahl mit der Angst vor einem
Krieg, mit Antiamerikanismus Wahlkampf gemacht ha-
ben. Mit Antiamerikanismus und dem Schüren der Angst
vor einem Krieg sind Sie an die Macht gekommen. Sie ha-
ben andere in der Öffentlichkeit mehr oder weniger als
Kriegstreiber dargestellt.
Dies war schäbig. Mittlerweile sieht man auch, welchen
Schaden Sie damit angerichtet haben.
Sie haben jetzt den außenpolitischen Schaden wieder
gutzumachen, den Sie angerichtet haben. Hierzu nenne
ich das Beispiel Türkei.
Es ist doch schlechterdings unvorstellbar, dass man der
Türkei jetzt mit konkreten Daten sagt: Ihr werdet dem-
nächst Mitglied der Europäischen Union. Solange in tür-
kischen Gefängnissen gefoltert wird, kann der Türkei
doch nicht allen Ernstes durch solche unbedachten Äuße-
rungen von Ihnen eine konkrete Beitrittsperspektive ge-
geben werden.
Wo ist denn Ihr Eintreten für Menschenrechte geblieben?
Nun ein letzter und entscheidender Punkt: Zur Bundes-
wehr haben Sie gesagt, was alles getan werden muss, und
Sie haben der Bundeswehr für ihre Aufgabenerfüllung ge-
dankt. Dies ist wohl wahr. Aber über das rhetorische Be-
kenntnis zur Bundeswehr sind Sie nie hinausgekommen.
Vor der Wahl hieß es – von Herrn Struck initiiert –: Solda-
ten für Schröder. Nach der Wahl heißt es: Schröder gegen
Soldaten. Sie kürzen weiter und weiten gleichzeitig die
Aufgaben der Bundeswehr aus. Dies ist nicht in Ordnung.
Herr Bundeskanzler, Sie haben in Richtung der Oppo-
sition gesagt: Sie saßen da, Sie sitzen da und Sie werden
da sitzen bleiben. Ich sage Ihnen: Sie saßen da, Sie sitzen
da, aber Sie werden da so gemütlich nicht sitzen bleiben.
Dies werden Ihnen die nächsten beiden Landtagswahlen
und einige danach noch zeigen. Die Leute haben gemerkt,
dass Sie mit Lug und Trug, mit der Vorspiegelung falscher
Tatsachen zu Ihrer knappen Mehrheit gelangt sind, meine
sehr geehrten Damen und Herren.
Das Wort hat der Kollege Fischer, Bundesminister des
Auswärtigen, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol-lege Westerwelle, von Sprachverwirrung konnte ich beiIhnen nichts feststellen; Sie sprachen deutsch. Aber ichfrage mich: In welcher Realität sind Sie eigentlich zuHause, wenn Sie hier der Bundesregierung und der Ko-alition Lug und Trug vorwerfen? Das sagt einer derHauptprotagonisten des Projekts 18,
das sagt ausgerechnet derjenige, der hier meinte, mit einerPolitik vorankommen zu können, die sich nicht zu schadewar, Antisemitismus und antisemitische Stimmungen zumobilisieren.
Von so jemandem wird Wahrheit und Klarheit eingefor-dert.Es rentiert sich eigentlich nicht, auf diese Rede weitereinzugehen. Allerdings lohnt es sich, etwas zu der FrageDr. Guido Westerwelle
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Bundesminister Joseph Fischerder politischen Kultur in diesem Lande zu sagen. Das wer-den Sie nicht hinbekommen, Herr Westerwelle, indem Siesagen, Möllemann sei der allein Verantwortliche; die FDPund der Vorsitzende der FDP hätten mit der Strategie deskalkulierten Wahnsinns, wie die „FAZ“ es genannt hat,nichts zu tun.Ich werde nie das nette und kesse Sprüchlein – dafürsind Sie ja immer gut – vergessen, das Sie damals auf demFDP-Parteitag in der Auseinandersetzung mit HerrnMöllemann formuliert haben: Auf allem, was da dampftund segelt, gibt’s einen, der die Sache regelt, und das binich, Guido Westerwelle.
Aber es rentiert sich nicht, weiter darauf einzugehen.Die entscheidende Frage ist die Herausforderung, vor derunser Land, vor der wir tatsächlich stehen. Frau Merkel,Sie sind vorhin noch einmal auf die Bundestagswahlen zusprechen gekommen. Mir wird, nachdem ich Ihrer Redezugehört habe, sehr klar, warum Sie diese Wahlen verlo-ren haben.
Die Opposition kann die Regierung in der jetzigen Situa-tion kritisieren; das verstehe ich wohl. Das ist Ihre Pflicht,die Sie freudig erfüllen. – Das „freudig“ streichen wir, dasist natürlich nicht wahr, das wissen Sie so gut wie ich; Siewürden lieber auf der Regierungsbank sitzen. Aber Sie ha-ben die Wahlen verloren, weil Sie in Ihrer Rede wie imWahlkampf nicht die alternativen Vorstellungen derUnion, was in diesem Land konkret anders gemacht wer-den soll, dargestellt haben.
Sie haben keine eigene Antwort gebracht – von HerrnWesterwelle rede ich da gar nicht –, weder auf die Frageder gerechten Gestaltung der Globalisierung und Deutsch-lands Rolle in diesem Zusammenhang noch auf die Kriseder Weltwirtschaft. Sie können die Regierung trefflichkritisieren; aber Sie können nicht ignorieren, dass es keinSpezifikum der bundesrepublikanischen Wirtschaft ist,sondern im gesamten EU-Raum, in den Vereinigten Staa-ten und in Japan so ist, dass wir mit einer krisenhaftenEntwicklung der Weltwirtschaft rechnen müssen. Sie ha-ben dazu nichts gesagt.Mich würde einmal interessieren, wie die Antwort derUnion darauf ist. Wenn wir Wachstumszahlen zwischen0,2 und 0,6 Prozent schreiben, können wir dann noch die-selben Antworten geben wie bei Wachstumszahlen über1 Prozent, 2 Prozent oder gar 3 Prozent? Ich behaupte, se-riöse Politik kann das nicht. Von der Opposition muss manverlangen können, dass sie sich hierzu äußert.
Schließlich zu der Frage – das werden wir im außen-politischen Teil noch etwas ausführlicher zu debattierenhaben – der terroristischen Bedrohung. In diesem Zu-sammenhang wünsche ich mir eine Aussprache darüber,ob der Irak in der Tat das zentrale Problem ist, ob wir an-gesichts des 11. September letzten Jahres, angesichts vonDjerba, angesichts von Bali oder auch angesichts desjüngsten tschetschenischen Terrors wirklich gut beratensind, hier eine Prioritätenveränderung vorzunehmen. Ichmeine, nein. Der Terrorismus ist die große strategischeBedrohung für uns. Aber den Antworten darauf muss imSinne des Bundeskanzlers ein umfassender Sicherheits-begriff zugrunde liegen; man darf hier nicht versuchen,durch Lippenbekenntnisse einen innenpolitischen Vorteilzu erlangen. Auch dazu haben Sie bis zur Stunde keineAntwort gegeben.
Stattdessen haben Sie, Frau Merkel – das sollten Sie ru-hig weiterhin machen –, aus Ihrer Rede eine Fragestundegemacht, in der Sie Fragen an die Bundesregierung ge-stellt haben. Das fand ich sehr bemerkenswert. Das heißt,Sie nehmen die Oppositionsrolle an; die Opposition fragtund die Regierung muss darauf antworten.Aber das wird zur Gestaltung der Zukunft unseres Lan-des nicht reichen. Die Koalition hat hier eine klare Posi-tion. Wir müssen Erneuerung, Wachstum, Nachhaltigkeitund Gerechtigkeit für unser Land erreichen. In dergegenwärtigen negativen wirtschaftlichen Entwicklungwerden die Probleme und Schwachstellen in unseremWirtschaftssystem und unserem Sozialsystem, die wir seitlangem mit uns herumschleppen, offen gelegt. Deswegenmüssen wir sie anpacken. Es hätte mich gefreut, wenn Siemit Blick auf die Wirtschaftskrise etwas zu Ihren alter-nativen Konzepten gesagt hätten.Was sind denn die konkreten Antworten in dieser Si-tuation? Wie geht die Union denn mit der Tatsache um,dass es allein im Bundeshaushalt – von den anderen staat-lichen Ebenen rede ich erst gar nicht – ein Defizit vonannähernd 14 Milliarden Euro gibt? Wie soll dieses Lochdenn geschlossen werden? Denkt die Union an Steuerer-höhungen? Ist das ihr Konzept? Oder spricht sie vonEinsparungen? In diesem Fall würde es uns interessieren,wo sie Einsparungsalternativen sieht. Die Koalition hathierzu ihre Vorstellungen klar auf den Tisch gelegt. Oderist die Union vielleicht für Leistungskürzungen? Dannsollten Sie, Frau Merkel, hier im Deutschen Bundestag sa-gen, dass Sie zum Beispiel die Renten kürzen wollen undwenn, in welcher Größenordnung.
Eine solche Diskussion macht nur dann Sinn, wenn wirkonkret werden. Die Koalition ist konkret geworden. Alserste unmittelbare Reaktion auf den Koalitionsvertrag er-leben wir jetzt, dass alle Interessengruppen aufschreien.Das ist in einer Demokratie aber auch völlig legitim.Als ich von den Koalitionsverhandlungen nach Hauseging, begegnete ich einem Apotheker. Er hielt mich anund sagte mir: Das könnt ihr doch nicht allen Ernstes be-schließen. Ich fragte ihn: Was? Er antwortete nur: Das,was ihr in eurem Vorschaltgesetz vorhabt. Ich habe ihn ge-fragt, was wir denn genau vorhätten. Es stellte sich he-raus: Er hat jahrelang die Legende geglaubt, dass es Wind-fall-Profite für die deutsche Pharmaindustrie geben soll.Deswegen dürften wir nicht den Handel über Internet ein-führen und hätten am Forschungsstandort Deutschland
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höhere Preise. Sieht man sich die Situation in anderenLändern an, so stellt man aber fest, dass an denForschungsstandorten Großbritannien, Japan und USAkräftig geforscht wird, teilweise auch von deutschen Un-ternehmen in Größenordnungen, die beachtlich sind. Ichhöre aber nicht, dass dort die Preise höher sind.Deswegen frage ich Sie ganz konkret: Wird die Unionetwas gegen die Freigabe des Internethandels einwen-den? Haben Sie etwas dagegen, dass zum Beispiel dasVerbot des Mehrfacheigentums an Apotheken angegan-gen wird? Oder ich frage Sie nach dem Monopol der Kas-senärztlichen Vereinigungen. Man lernt hier ja einiges.Wollen wir dieses Monopol tatsächlich infrage stellen?Soll die Wahlfreiheit von Kassenpatienten – hier sprichtein Kassenpatient – auch in Zukunft in den Händen derKassenärztlichen Vereinigungen bleiben oder wollenwir darüber hinausgehen und direkte Beziehungen zwi-schen Ärzten und den Kassen ermöglichen, um somit kos-tengünstigere Strukturen zu schaffen? Das sind Fragen,auf die wir uns auch von Ihnen Antworten wünschenwürden. Wir hätten heute gerne die Position der Opposi-tion gehört.
Ich komme nun zu der entscheidenden Problematik,mit der wir es zu tun haben. Reden wir also nicht darumherum. Der Bundeskanzler hat zu Recht auf den 9. No-vember 1989 hingewiesen. Die deutsche Einheit ist eingroßes Glück für unser Land. Aber es ist zugleich einelangfristige Herausforderung, die Folgen von Nationalso-zialismus, Zweitem Weltkrieg und vier Jahrzehnten deut-scher Teilung zu überwinden. Dass die bundesrepublika-nische Volkswirtschaft diese großen Herausforderungenstemmen kann, zeigt, wie stark sie tatsächlich ist.Doch es führt umgekehrt kein Weg daran vorbei, zu be-greifen, was der Aufbau Ost, der eine langfristige He-rausforderung darstellt, die nur die BundesrepublikDeutschland im EU-Wirtschaftsraum hat, tatsächlich be-deutet. Für diese Herausforderung sind wir dankbar. Aberwir müssen doch auch begreifen, dass deswegen dieseganzen Schlusslicht-Debatten hinken. Bedeutende Mit-gliedstaaten der Europäischen Union, die 1 Prozent ihresBruttoinlandsprodukts durch Transfers von Brüssel be-kommen und gleichzeitig meinen, uns Ratschläge gebenzu können, sollten das angesichts dieser Sondersituation,in der wir uns befinden, besser sein lassen. Wir werden dieErneuerung anpacken, wissend, dass wir mit dem Zusam-menwachsen unseres Landes eine Sonderherausforderunglangfristiger Natur zu stemmen haben. Das werden wirschaffen. Das versprechen wir den Menschen in denneuen Bundesländern.
Ich komme auf Hartz zu sprechen. Was ist das Problemdes deutschen Arbeitsmarktes? Es wird immer so schöndarüber geredet und gesagt, der Arbeitsmarkt sei zu starkreguliert. Wir haben nicht nur hinsichtlich der Debatteüber den Arbeitsmarkt, sondern auch im Zusammenhangmit unserem Steuersystem die Erfahrung gemacht, dassalle sagen, wir brauchten den Abbau von Subventionenim Steuersystem. Aber wehe, man geht einen konkretenPunkt an: Dann kommt eine Interessengruppe und sagt,das sei eine Steuererhöhung. Natürlich ist der Abbau vonSubventionen keine Steuersenkung. Für denjenigen, derdie Subvention bekommt, ob es nun ein halber Mehrwert-steuersatz ist oder ein Fördersteuersatz, wirkt der Abbaunatürlich belastend. Aber das ist mehr oder weniger dieKonsequenz eines solchen Abbaus staatlicher Leistungen.Wir haben die Erfahrung gemacht – das galt heute auchfür Frau Merkel –, dass Sie sich hinstellen und sagen,einerseits würden wir zu wenig an Subventionen abbauen,andererseits würden unsere Maßnahmen aber höhere Be-lastungen für die Menschen bedeuten. Sie müssen schonsagen, wie Sie es gerne hätten, gnädige Frau.
Ich komme zurück zu Hartz. Der entscheidende Punktist: Der Arbeitsmarkt ist bei uns in der BundesrepublikDeutschland so gestaltet, dass bei einem Wachstum vonetwa 2 Prozent und mehr eingestellt wird. Bei unserenNachbarländern, die früher notwendige Reformen ange-packt haben, wurde diese Eintrittsschwelle des Wieder-einstellens gesenkt. Genau um diese Aufgabe wird es inZukunft gehen. Ich sage Ihnen: Die Reform des Arbeits-marktes ist für die Koalition der strategische Ansatzpunkt,um die Systeme der sozialen Sicherung zu erneuern undzu entlasten, um unseren Sozialstaat neu zu gestalten undum die Wettbewerbsfähigkeit wiederzugewinnen.Ich möchte Ihnen jetzt kurz erläutern, worin der strate-gische Ansatz liegt: Gegenwärtig ist die Situation so, dasses aufgrund des konjunkturellen Wegbrechens der Welt-wirtschaft ab dem Frühsommer des letzten Jahres trotz derZuzahlung über die Ökosteuer – etwa bei den Rentenver-sicherungen und dem Staatsanteil – zu einer Überwölbunggekommen ist, sodass die Arbeitslosigkeit die Reformen,die wir angepackt haben, aufzufressen droht oder bereitsaufgefressen hat.
– Herr Merz, es ist überhaupt kein Unfug, dass es auf-grund der steigenden Arbeitslosigkeit zu höheren Belas-tungen kommt – Sie können das pro Hunderttausend so-gar quantifizieren – und dass diese Belastungenentsprechend negativ wirken.
– Entschuldigung, das Wegbrechen der Konjunktur imFrühjahr letzten Jahres – – Die Bundestagswahlen sindjetzt doch vorbei.
Selbst von einem Weltökonomen wie Ihnen kann jetzt,nach den Bundestagswahlen, doch anerkannt werden,dass die Bundesrepublik Deutschland bezogen auf dieWachstumszahlen in der EU nicht mehr Schlusslicht ist,sondern dass wir uns mit unseren niedrigen Wachstums-zahlen im unteren Mittelfeld bewegen. Das kann dochauch der Weltökonom Merz nicht abstreiten.
Bundesminister Joseph Fischer
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Bundesminister Joseph Fischer– Ich verstehe überhaupt nicht, warum Sie sich so aufre-gen.
– Ich verstehe es wirklich nicht.
Insofern kann ich an diesem Punkt nur sagen: Der ent-scheidende strategische Ansatz ist, dass wir die Einstel-lungsschwelle durch diese Reformen am Arbeitsmarktnach unten senken.
Meines Erachtens hat das Hartz-Konzept hierzu dreiwesentliche Elemente. Uns würden die Argumente inte-ressieren, die Sie diesen entgegenzusetzen haben.Als Erstes schaffen wir mit der Umsetzung des Hartz-Konzeptes sozusagen ein Arbeitslosengeld Teil 2. Damitwerden wir eine Entlastung des kommunalen Bereichs er-möglichen und somit die Investitionsmöglichkeiten ge-rade auf der kommunalen Ebene erhöhen.Mit der Möglichkeit, von der Arbeitslosigkeit leichterin die Selbstständigkeit zu kommen, bieten wir – zwei-tens – gleichzeitig nicht nur Anreize zur Aufnahme vonArbeit, sondern wir schaffen vor allen Dingen ein Stückweit auch die Möglichkeit, legale Arbeit wieder aufzu-nehmen. Das ist in vielen Bereichen von entscheidenderBedeutung.Der dritte und wichtigste Punkt in diesem Zusammen-hang wird das Förderprogramm in Verbindung mit der Re-form der Bundesanstalt für Arbeit sein. Wir müssen dieLeiharbeit ausweiten. Damit schaffen wir die Möglichkeiteines flexibleren Arbeitsmarktes, wodurch die Einstellungs-schwelle insgesamt nach unten gebracht werden kann.Für uns ist das der erste und zentrale Schritt. Ich denke,das ist ein wichtiger Schritt, den Sie nicht kleinreden kön-nen, und ein wichtiger und entscheidender Ansatz.
Ich habe es vorhin, bezogen auf die Gesundheitsre-form, schon gesagt: Ich bin wirklich gespannt, wie IhreInteressenvertretung im Parlament – wenn die Vorschlägeim Zusammenhang mit dem Vorschaltgesetz auf demTisch liegen – zum Tragen kommt.
Ich bin gespannt, ob Sie im Interesse des Allgemeinwohlshandeln oder ob Sie gruppenspezifische Interessen ver-treten werden.
Dasselbe gilt für den Bürokratieabbau.Ich würde gerne noch den Punkt Zuwanderung an-sprechen. Amerika wird, bezogen auf die wirtschaftlicheEntwicklung, unter vielen Gesichtspunkten immer alsgroßes Vorbild hingestellt. Damit ich nicht missverstan-den werde: Ich behaupte gar nicht, dass wir Amerika ko-pieren können. Der kulturelle und der historische Hinter-grund im Europa der Nationalstaaten ist nämlich anders.Die Zuwanderung ist aber einer der wesentlichen dyna-mischen Wachstumsfaktoren der amerikanischen Volks-wirtschaft. Das wollen wir nicht vergessen.Mit Ihrer im Grunde genommen reaktionären Positionmeinen Sie gegenwärtig bei den Menschen in diesemLand Stimmungen und Ängste mobilisieren und gegendas Zuwanderungsgesetz polemisieren zu können. Dazukann ich Ihnen nur sagen: Wenn das Ihre Position ist, dannhaben Sie mit Wachstum und Zukunftsfähigkeit in unse-rem Land wirklich nicht viel zu tun; genau damit sind Siegescheitert.
Ein weiterer Punkt. Neben der strukturellen Erneue-rung, neben der Konsolidierung, neben dem Kampf gegendie Arbeitslosigkeit ist die Frage der strategischen Zu-kunftsinvestitionen von entscheidender Bedeutung. Diesestrategischen Zukunftsinvestitionen betreffen vor allenDingen den ökologischen Bereich. Damit führen wir fort,was wir in den ersten vier Jahren angepackt haben.Die ökologische Erneuerung ist wichtig, weil jetztklar wird, dass wir es beim Klimaschutz nicht mit einemtheoretischen Problem zu tun haben. Gleichzeitig müssenwir neue Beschäftigungsfelder erschließen. Das heißt, wirmüssen Klimaschutz auch unter beschäftigungspoliti-schen und wettbewerblichen Gesichtspunkten für denStandort Deutschland als unternehmerisches Problem an-packen. Genau das tun wir mit der Umsetzung der Koali-tionsvereinbarung.
Die ökologische Erneuerung ist für uns im Verkehrsbe-reich und im Energiebereich von zentraler Bedeutung.Genau damit werden wir auch fortfahren.Noch wichtiger ist angesichts der demographischenEntwicklung, aber auch eines veränderten Rollenver-ständnisses gerade junger Frauen – dieses Thema ist Ih-nen im Wahlkampf um die Ohren geflogen, deswegenführen Sie die Strategiedebatte vor allen Dingen an die-sem Punkt –, dass die Vereinbarkeit von Kindern undBeruf in Deutschland nicht mehr allein bei den jungenFrauen abgeladen wird, wie es bis heute die Realität ist.Das haben wir klipp und klar gesagt.
Deswegen werden wir für Kinder von null bis drei Jah-ren einen flächendeckenden Versorgungsgrad von 20 Pro-zent in der Bundesrepublik Deutschland durchsetzen. DerBund lässt sich hier in die Pflicht nehmen. Wir werden ei-nen solchen Versorgungsgrad gesetzlich festschreiben.Dieses Gesetz wird hier im Bundestag beschlossen wer-den. Das ist der Einstieg in ein kinderfreundlichesDeutschland, in dem es nicht mehr darum geht, diesen Be-reich zu privatisieren und an einem antiquierten Rollen-
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verständnis von Frauen festzuhalten. Wir wollen vielmehrJa zu Kindern und gleichzeitig Ja zu Beruf und Karrierevor allen Dingen für junge Frauen sagen, damit es fürdiese in Zukunft einfacher wird.
Das ist nur einer der Punkte; denn es soll weitergehen.Das Gesetz betreffend die Betreuung von Kindern zwi-schen drei und sechs Jahren existiert bereits. Wir wollenaber auch den Bereich der Vorschule, das Heranführen andie Schule angehen. Dabei ist die Frage, ob die notwendi-genDeutschkenntnisse vorhanden sind, für die volle Par-tizipation von entscheidender Bedeutung. Anschließendwollen wir das Thema Ganztagsschule anpacken. All dashalte ich für die entscheidende gesellschaftliche Reform.Zukunftsfähigkeit macht sich an der Frage eines kin-derfreundlichen Deutschlands fest. Zusammen mit derstrategischen Zukunftsinvestition, der ökologischen Er-neuerung, den Strukturerneuerungen, die wir angegangensind und noch angehen werden, der Reform im Bereichdes Arbeitsmarktes, der Rente und der Gesundheit sowieeiner weiteren Konsolidierung ist dies das Programm, fürdas die Koalition konkret steht. Das meinen wir mit Er-neuerung, Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit. Das ist diePolitik, die wir für unser Land in den kommenden vierJahren umsetzen wollen.
Frau Merkel, Sie haben es uns heute – jenseits IhrerAngriffe – bei den Alternativen einfach gemacht.
In dem Streit zwischen Regierung und Opposition, sosehrich ihn auch liebe und sosehr ich es auch liebe, zuzuspit-zen – das gehört dazu –, muss eine Alternative aufgezeigtwerden. Wenn die Grundanalyse richtig ist – von dem Be-fund gehen auch Sie aus, Frau Merkel –,
dass wir es in der Tat national wie international mit einersehr fordernden Situation zu tun haben, dann wird die de-mokratische Auseinandersetzung vor allen Dingen um dieAlternativen stattfinden müssen.
– Herr Glos, dazu kann ich Ihnen nur sagen: An Alterna-tiven – insofern sind Sie über die Wahlnacht noch nichthinausgekommen – haben Sie zum Programm der Koali-tion bis heute nichts geboten.
Ich sage: Unser Land ist dringend erneuerungsbedürf-tig. Dafür haben wir den Auftrag. Sie haben den Auftrag,sich in der Opposition zu erneuern. Dafür müssen Sie abernoch kräftig zulegen, Frau Merkel.
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Friedrich
Merz, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Bundesaußenminister, ich habe mich die ganze
Zeit gefragt, warum eigentlich Sie in dieser Debatte zur
Wirtschaftspolitik sprechen und kein einziger Vertreter
Ihrer Fraktion, der doppelten Doppelspitze der Grünen,
hier sprechen darf.
Aber das ist ein anderes Thema.
Ich möchte Ihnen, weil Sie morgen auf einer Aus-
landsreise sein werden und weil ich dazu auch mehrere
Zwischenrufe gemacht habe, auf einen Ihrer Punkte kurz
erwidern und Ihnen zu dem, was Sie zum Thema Welt-
wirtschaft behauptet haben, etwas sagen. Herr Fischer, Sie
und die Regierung werden in diesen Wochen nicht mit den
Problemen der Weltwirtschaft konfrontiert, sondern Sie
sind mit den Versäumnissen der rot-grünen Wirt-
schafts- und Finanzpolitik der letzten vier Jahre kon-
frontiert. Das ist die Wahrheit.
Sie können sich nicht mehr mit allen möglichen Entwick-
lungen herausreden.
Wir haben Ihnen vier Jahre lang in diesem Parlament
vorausgesagt, dass Sie mit der Wirtschafts- und Finanz-
politik dieser Bundesregierung das Schlusslicht in der Eu-
ropäischen Union werden und dass Sie das Wachstum in
diesem Lande zerstören. Wenn es eines Beweises bedurft
hätte, dass das, was wir gesagt haben, richtig ist, dann ist
es das Gutachten der Wirtschaftsforschungsinstitute in der
letzten Woche gewesen. Diese haben Ihnen gesagt, dass
allein die Politik der rot-grünen Bundesregierung uns im
nächsten Jahr 0,5 Prozent Wachstum kosten wird.
Das Problem – ich wiederhole es – hat einen Namen.
Das Problem ist nicht die Weltwirtschaft, der Name des
Problems ist Rot-Grün. Herr Fischer, dazu hätten Sie
heute etwas sagen müssen, statt die Opposition und unsere
Fraktionsvorsitzende in einer geradezu unflätigen Art und
Weise zu beschimpfen, wie Sie es getan haben.
Zur Erwiderung erhält der Kollege Fischer das Wort.
Herr Merz, ich enthalte mich jetzt jeder Polemik,
warum Sie meinen, ich hätte die Opposition unflätig be-schimpft. Lassen wir das!Bundesminister Joseph Fischer
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Bundesminister Joseph FischerFür mich geht es um etwas anderes. Sie können dochnicht alle strukturellen Verwerfungen in der Versiche-rungslandschaft – die gibt es nicht nur bei uns, sondern imgesamten EU-Raum – und im Banken- und Finanzsys-tem – ich könnte Ihnen da nicht nur Banken, die in rot-grün regierten Ländern zu Hause sind, nennen, sondernauch welche in tiefschwarz regierten Ländern –, wenn Sieseriös bleiben wollen, Herr Merz,
bei der rot-grünen Bundesregierung abladen.
– Ich versuche jetzt, eine Antwort auf Herrn Merz undnicht auf Herrn Glos zu geben.Ich kann Ihnen nur sagen: Sie können doch den Zu-sammenbruch des Neuen Marktes nicht bei der Bundes-regierung oder bei der Bayerischen Staatsregierung abla-den. All diese Dinge, über die ich spreche, hängen dochzusammen, Herr Kollege Merz. Ich nehme an, das wür-den Sie, wenn wir in Ruhe und nicht polemisch darüberdiskutieren würden, jenseits der Fehler, die Sie uns vor-werfen, sofort konzedieren. Sie können doch nicht ab-streiten, dass das Platzen der Spekulationsblase in denVereinigten Staaten Konsequenzen hat zum Beispiel fürden Neuen Markt, für den ganzen Nemax-Bereich, derheute faktisch nicht mehr existiert, und für die Bereiche,in denen in diesem Zusammenhang Überkapazitäten auf-gebaut wurden, zum Beispiel im Medienbereich und imBanken- und Finanzsystem. Ich nenne jetzt nur einigeBereiche. Das können Sie, wenn Sie als Ökonom seriösbleiben wollen, nicht allen Ernstes bei der Bundesregie-rung abladen.Das habe ich angesprochen. Wenn wir uns darauf ver-ständigen können, dann harre ich Ihrer alternativen Vor-schläge.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kolle-
gen Ernst Bahr für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich HerrnWesterwelle höre, dann muss ich mich nicht wundern,dass wir bei der Bundestagswahl so gut abgeschnitten ha-ben. Über manche Späße im Sommer konnte man ja viel-leicht noch schmunzeln, aber über die Art und Weise undden Inhalt der heutigen Rede wird mancher Zuschauer amFernsehschirm nur den Kopf geschüttelt haben.
Ich muss wirklich sagen: Wenn man so miteinander um-geht, dann muss man sich nicht wundern, wenn die Wählervon der Wahl bestimmter Parteien Abstand nehmen.Wir haben gerade gehört, wir könnten Schwierigkeitennicht bewältigen. Dann sollten diejenigen, die die Schwie-rigkeiten verursacht haben und uns 1998 einen Scherben-haufen hinterlassen haben, einmal gucken, was sie allesangerichtet haben. Sich heute hinzustellen und so zu tun,als hätten wir in vier Jahren das aufräumen können, wasin 16 Jahren kaputtgemacht wurde, das ist ein bisschen zueinfach.
Die rot-grüne Koalition wird ihre Arbeit in der15. Wahlperiode fortsetzen. Dazu haben die Wählerinnenund Wähler in den neuen Bundesländern einen wichtigenund wesentlichen Beitrag geleistet. Sicherlich haben vielevon diesen Wählerinnen und Wählern Herrn Stoiber alsBundeskanzler verhindern wollen, und zwar nicht weil erein Bayer ist – Bayern sind schließlich sympathischeMenschen –, sondern weil er als Person und in der Sachenicht überzeugen konnte. Ich möchte erst gar nicht auf dieuntauglichen Konzepte und das dazugehörige Kompe-tenzteam eingehen. Nein, die Menschen in Ostdeutsch-land haben nicht vergessen, wie sich Herr Stoiber in derVergangenheit gegen eine Politik für Ostdeutschland ge-stellt hat und wie er das noch heute tut;
denn Herr Stoiber klagt bis heute gegen den Risikostruk-turausgleich für die neuen Bundesländer. Ich denke, dasist deutlich genug wahrgenommen worden.
Ich sehe unseren Wahlerfolg im Osten zu einemgroßen Teil mit dem Vertrauen begründet, das die Men-schen von Rostock bis Suhl, von Magdeburg bis Frankfurt
in unsere Politik setzen. Das Vertrauen, das uns in
der Bundestagswahl 1998 geschenkt worden ist, habenwir gerechtfertigt, und das trotz der schwierigen Bedin-gungen, unter denen wir damals unsere Regierungsarbeitaufnehmen mussten. Ich erinnere unter anderem an diehohe Staatsverschuldung, die uns täglich so viele Zinsenkostet, wie manche Landkreise in Ostdeutschland in ei-nem ganzen Jahr nicht zur Verfügung haben. Ich erinnerean den Reformstau, den uns die Vorgängerregierung hin-terlassen hat und den wir zu einem großen Teil erfolgreichaufgelöst haben, und an die neuen Aufgaben mit interna-tionaler Verantwortung, denen wir uns stellen mussten.All dies sind Schwierigkeiten, die wir in der Regierungs-arbeit mit bewältigen mussten. Wenn uns also die Wähle-rinnen und Wähler in Ostdeutschland am 22. Septemberin so hohem Maße gewählt haben, dann deshalb, weil sie– zu Recht – erfahren haben, dass die jetzige Bundes-regierung mit großen Herausforderungen fertig wird.
Das gilt insbesondere auch für den Aufbau Ost.Aufgrund der verfehlten Förderpolitik der alten Bun-desregierung zu Beginn der 90er-Jahre entstand ein weitüberdimensionierter Bausektor, der die Wirtschaftsstruk-tur verzerrte und die Dynamik der wirtschaftlichen Ent-
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wicklung in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre deutlichbremste. Dieses Problem wirkt noch heute nach. Wir ha-ben mit der Regierungsübernahme 1998 gegengesteuert,
indem wir die Reformen in Ostdeutschland auf zwei we-sentliche Handlungsfelder ausgerichtet haben: erstens dieSicherung der finanziellen Grundlagen für den AufbauOst und zweitens die Modernisierung der Förderinstru-mente. Durch unsere Konsolidierung des Bundeshaus-halts haben wir die finanzpolitische Handlungsfähigkeitdes Staates wiederhergestellt und gestärkt sowie diefinanziellen Grundlagen für den Aufbau Ost geschaffen.Nur so konnten wir eine Anschlussregelung für den Soli-darpakt II ab 2004 durchsetzen und das Fördervolumenfür den wirtschaftlichen Aufbau Ost verstärken.
Diese Politik werden wir nun mit modifizierten Schwer-punkten fortsetzen; denn wir haben dafür die Stimmen inden neuen Bundesländern bekommen. Wir haben die Po-litik für Ostdeutschland auf die Zukunft der Menschen inden neuen Bundesländern hin orientiert und mit dem So-lidaritätspakt II auf solide Füße gestellt.
Damit ist Planungssicherheit bis 2019 gegeben.Im Koalitionsvertrag werden die soliden Grundlinienvon 1998 fortgeschrieben. Auf dieser Basis gestalten wirweiter unsere Politik. Wer Politik für Ostdeutschland ge-stalten will – das haben wir frühzeitig erkannt –, mussMecklenburg-Vorpommern, Berlin, Brandenburg, Sachsen,Sachsen-Anhalt und Thüringen als integralen Bestandteilder Politik für Deutschland begreifen und gestalten.
Die Aufgabe einer jeden Bundesregierung liegt darin, dieEntwicklung der neuen Bundesländer nicht als Selbst-zweck, sondern als eine Aufgabe zu begreifen, Deutsch-land als Ganzes zu einem starken und verlässlichen Part-ner in der Welt zu entwickeln. Das tun wir mit unsererPolitik für Ostdeutschland.Uns Ostdeutschen geht es nicht um den Nachbau West,sondern um eine Entwicklung von Wirtschaft und Gesell-schaft, mit der wir einen Beitrag für ein starkes, solidari-sches Deutschland leisten. Dafür haben wir in den vergan-genen vier Jahren Bedingungen geschaffen, die wir jetztverbessern und den neuen Verhältnissen anpassen wollen.Deshalb sieht der Koalitionsvertrag für den Aufbau Ostfolgende Schwerpunkte vor: die Förderung von Inves-titionen und Mittelstand. Der gewerbliche Mittelstandals Kernstück der ostdeutschen Wirtschaft wird weiterhinunsere besondere Aufmerksamkeit und Unterstützung er-fahren. Die Fortsetzung der Investitionsförderung, dieExistenzgründerinitiative, die Bestandspflege und dieSchaffung von Pilotregionen für integrierte Entwicklungin den Bereichen Innovation, Investition, Infrastrukturund Ansiedlungsförderung sind Instrumente dafür.Investitionen in Ausbildung und Forschung sind Zu-kunftsinvestitionen. Erfolgreiche Programme wie „Inno-Regio“ und „Regionale Wachstumskerne“ werden fortge-setzt. Der Aufbau wissenschaftlicher Kompetenzzentrenund die finanzielle Förderung der Hochschulbibliothekensind ebenso wichtige Maßnahmen für eine gute Wirt-schaftsentwicklung wie der Ausbildungsaustausch. Aus-bildungsfähigkeit und Ausbildungsbereitschaft der klei-neren und mittleren Unternehmen müssen erhalten undgefördert werden, um die jungen Menschen in eine be-triebliche Erstausbildung zu bringen.Die Kommunen benötigen eine leistungsfähige Infra-struktur. Ein gut ausgebautes Verkehrssystem ist eineentscheidende Voraussetzung für die Wettbewerbsfähig-keit der Wirtschaft. Wir wollen, dass der neue Bundes-verkehrswegeplan 2003 einen klaren Schwerpunkt Ost-deutschland enthält.
Der Stadtumbau Ost und die ungebundene Finanzzuwei-sung der Mittel aus dem Investitionsgesetz werden fortge-setzt. Eine tragfähige Altschuldenregelung ist für die Ent-wicklung der kommunalen Infrastruktur unverzichtbar.Wir schaffen Arbeit und neue Qualifikation. Damitdie Vorschläge der Hartz-Kommission auch in den neuenBundesländern ihre Wirkung voll entfalten können, sollendie Personal-Service-Agenturen in Ostdeutschland be-schleunigt aufgebaut und das Programm „Kapital für Ar-beit“ auf die betrieblichen Verhältnisse in den neuen Län-dern ausgerichtet werden.Mit einem JUMP-plus-Programm soll den Jugendli-chen nach der Erstausbildung eine Brücke in den Arbeits-markt gebaut werden.
Die Bundesregierung beginnt im Jahr 2003 mit dem Wett-bewerb „Die Jugend bleibt“, mit dem innovative undkreative Jugendprojekte sowie Beispiele für die Gestal-tung des Lebens- und Wohnumfeldes junger Menschenausgezeichnet werden.Für die zweite besonders betroffene Gruppe, die älte-ren Langzeitarbeitslosen, werden wir das Programm„AQTIV plus“ starten. In den künftigen Tarifverhandlun-gen von Bund, Ländern und Gemeinden mit denGewerkschaften wollen wir eine differenzierte Stufenre-gelung zur Angleichung der Einkommen im öffentlichenDienst in Ost und West bis 2007 umsetzen.Landwirtschaft, Natur und Tourismus sind wichtigeWirtschaftsbereiche in Ostdeutschland. Für die ost-deutsche Landwirtschaft ist die Altschuldenfrage dasletzte ungelöste Vereinigungsproblem. Wir werden einGesetz zur abschließenden Lösung der Altschuldenrege-lung vorlegen, wobei die wirtschaftliche Situation der ein-zelnen Unternehmen berücksichtigt wird.Die Gesundheitsversorgung ist ein wichtiger Beitragfür die Lebensqualität in den neuen Ländern. Wir setzenuns für den Erhalt des Risikostrukturausgleichs der ge-setzlichen Krankenkassen ein. Es müssen Anreize fürHaus- und Fachärzte geschaffen werden, sich in unterver-sorgten Regionen der neuen Länder niederzulassen. Da-bei stehen die Kassenärztlichen Vereinigungen mit in derVerantwortung.
Ernst Bahr
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Ernst Bahr
Die EU-Osterweiterung bietet vielfältige Chancen fürOstdeutschland, sich zu einer europäischen Verbindungs-region zu entwickeln. Wir werden deshalb grenzüber-schreitende Kooperationen von Betrieben, Hochschulen,Vereinen und Kommunen mit Osteuropa besonders för-dern und in der Wissenschaftskomponente stärkere Ak-zente in den Natur- und Ingenieurwissenschaften sowie inder Informatik setzen.Die Opfer des SED-Regimes haben weiterhin unserebesondere Aufmerksamkeit. Die Bundesregierung hat inder vergangenen Wahlperiode wichtige Initiativen ergrif-fen, um eine Besserstellung der SED-Opfer zu erreichen.Wir wollen dafür sorgen, dass Menschen, die für Demo-kratie gekämpft haben, nicht vergessen werden.
Sie sehen, meine sehr geehrten Kolleginnen und Kol-legen, wir haben uns kritisch mit unserer Arbeit in denvergangenen vier Jahren auseinander gesetzt, die wirt-schaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen inOstdeutschland genauestens analysiert und die Anregun-gen aus der Bevölkerung aufgegriffen. Das, was wir bis-her erreicht haben, kann sich sehen lassen. Aber es sindnoch viele Aufgaben und Probleme in Ostdeutschland zulösen. Wir werden unsere Arbeit für eine gute Entwick-lung in den neuen Ländern fortsetzen.Wie gut wir in dieser Arbeit vorangekommen sind,zeigt sich auch in unserer Beteiligung als Ostdeutsche ander Verantwortung für ganz Deutschland, zum Beispieldurch Kanzleramtsminister Rolf Schwanitz, dem ich andieser Stelle für seine erfolgreiche Arbeit und sein Enga-gement für Ostdeutschland recht herzlich danken möchte,
oder den neuen Bau- und Verkehrsminister ManfredStolpe, der mit seinen Erfahrungen aus seiner Arbeit inBrandenburg nun für ganz Deutschland arbeiten wird, oderdie Parlamentarischen Staatssekretärinnen und Staatsse-kretäre Gerald Thalheim, Ditmar Staffelt, Iris Gleicke,Christoph Matschie und Christel Riemann-Hanewinckel,die ebenfalls in gesamtdeutscher Verantwortung stehen.
Ihnen allen wünsche ich viel Glück und Erfolg für ihreArbeit.Den Menschen in den alten Bundesländern sage ich andieser Stelle ein recht herzliches Dankeschön für ihre So-lidarität und ihre Unterstützung für Ostdeutschland.
Wir werden diese Hilfsbereitschaft noch eine Weilebenötigen, um zu einer sich selbst tragenden Entwicklungin Ostdeutschland zu kommen. Dafür werden wir Ost-deutsche uns noch stärker als bisher engagieren und un-sere Arbeit intensiv fortsetzen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Michael Glos, CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident, vielen Dank für die Gelegenheit, hierzu sprechen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der HerrDr. med. h. c. Fischer ist wohl nicht im Raum.
Herr Fischer, Sie haben es derzeit schwer. Sie sind gleich-zeitig Fraktionsvorsitzender, Parteivorsitzender, Außen-minister und offensichtlich auch noch Chefökonom. Ichdarf Ihnen und den Grünen ein paar ökonomische Rat-schläge geben. Die Frau Höhn hat ja gesagt: Das Problemist, dass bei den Grünen die Parteivorsitzenden zu schlechtbezahlt werden; deswegen läuft das Ganze nicht. Bezah-len Sie Ihre Leute ordentlich, dann müssen Sie nicht allesselbst machen und dann sind Sie hier auch nicht so lautund aufgeregt, wie Sie es gerade waren.
Das „Handelsblatt“ hat heute geschrieben: „Stim-mungstief vor Schröders Rede.“ Was die allerdings mor-gen schreiben, Herr Bundeskanzler, weiß ich nicht.
Ich bin nicht sicher, dass die Stimmung bei uns im Landund insbesondere in der Wirtschaft danach steigt.Ihr Vorvorvorgänger Willy Brandt wurde einmal WillyWolke genannt, weil er sich immer so unbestimmt ausge-drückt hat. Sie müssten Gerhard Nebel heißen,
weil das, was in Ihrer Regierungserklärung steht, unge-heuer nebulös ist. Wir haben geglaubt, dass sich heute alleWidersprüche aus den Koalitionsvereinbarungen ein Stückauflösen, aber die Nebel sind geblieben.Die Neuauflage der rot-grünen Koalition versprichtnichts Gutes für Deutschland. Ihr Programm ist mutlos.Ihre Mannschaft ist – das erkennt man, wenn man da hi-nüberschaut – kraftlos.
Die Zukunftsperspektiven für Deutschland sind dadurchtrostlos.
Sie treten mit dem Anspruch an, eine Koalition der Er-neuerung zu sein. In Wirklichkeit ist es eine Koalition desWeiterwurstelns. Sie setzen für die Zukunft weiter aufMangelverwaltung. Es ist Flickschusterei. Der Konkurswird verschoben, nicht verhindert. Vor allem spürt man
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das an den Reaktionen der Betroffenen. Die Konsumen-ten und die Investoren sind verunsichert. Der Wirtschafts-standort Deutschland wird leider weiter beschädigt. DasVertrauen in unsere wirtschaftliche Zukunft wird leidernicht geweckt. In der heutigen Zeit des Wandels – es istAufgabe einer Regierung, den Wandel zu gestalten – undder Unsicherheit erwarten die Menschen Stabilität undSicherheit. Sie aber verbreiten – insbesondere dann, wenndas ein Hü und Hott ist, wenn das eine EchternacherSpringprozession ist: zwei Schritte vor, ein Schritt zurück –das Gefühl von Stillstand und Verunsicherung.Herr Riester hat lange vor der Wahl von der größtenRentenreform in der deutschen Geschichte gesprochen.Zwei Jahre später ist alles Makulatur. Die Schwankungs-reserve – das ist vorhin vom Kollegen Westerwelle nocheinmal richtig gesagt worden –, die eiserne Reserve, derNotgroschen der Rentner wird angetastet und ausgegeben.Vor der Wahl ließ sich Herr Eichel als selbst ernannterObersparminister der Nation feiern. Er hat sich als Autoreiner Jahrhundertsteuerreform bezeichnet. Heute meldeter Rekorddefizite im öffentlichen Haushalt und in den So-zialversicherungssystemen.Die konjunkturellen Aussichten, die Lage der Staatsfi-nanzen und die sozialen Sicherungssysteme waren vor derWahl im Lot und sind nach der Wahl im Eimer. Herr Eichelließ verlauten, zusätzliche Konsolidierungsmaßnahmenseien nicht notwendig, das finanziell Erforderliche sei inder Haushalts- und Finanzplanung längst enthalten. Sie,Herr Bundeskanzler, haben gesagt: Keine höheren Steu-ern. Das war eines der bekannten schröderschen Macht-worte, die eine sehr geringe Verfallszeit haben.
Heute wissen wir, was dabei herauskommt, wenn Sieals SPD-Chef und Bundeskanzler die Wahrheit zur Chef-sache machen. Die rot-grüne Koalition handelt nach derDevise: Was juckt mich mein Geschwätz von gestern?Lügen haben bekanntlich kurze Beine. Es wird baldheißen: Noch kürzer sind dem Schröder seine.
Aber vergessen Sie nicht: Lügen haben kurze Beine undWähler haben ein langes Gedächtnis.Wir sind in der Tat in einer schwierigen ökonomischenSituation. Die Bilanzfälschungen in der Wirtschaft – icherinnere insbesondere an diejenigen in der US-Wirtschaft;ich bin aber nicht sicher, ob in Deutschland nicht zum Teildas Gleiche passiert ist – haben die Aktienkurse in denKeller gedrückt. Man hat die Telekom angezeigt, um zuklären, ob die Bilanzen der Telekom richtig waren. DieTelekom ist ein gutes Beispiel dafür, wie man das Ver-trauen der Anleger nachdrücklich schädigen kann. Durchein solches Vorgehen wird vor allen Dingen immer wie-der das Vertrauen der Menschen in die in der Politik Han-delnden geschädigt. Das, was bei der Telekom geschehenist, geht auf Ihr Konto, Herr Bundeskanzler.
Was wir in den Sommermonaten erlebt haben, war dergrößteWählerbetrug in der Geschichte der Bundesrepu-blik Deutschland.
Als ich das zum ersten Mal gesagt habe, hat mich die Talk-masterin Sandra Maischberger – sie kann einen sehr ein-dringlich anschauen; Sie kennen sie, Herr Bundeskanz-ler –, gefragt: Herr Glos, wollen Sie den Vorwurf des Be-truges nicht zurücknehmen? – Daraufhin habe ich einmalnachsehen lassen, wie im Strafgesetzbuch der Tatbestanddes Betrugs definiert wird.
– Herr Tauss passen Sie auf: Erst muss man jemanden täu-schen. Dadurch muss sich der Getäuschte im Irrtum be-finden und daraus muss Schaden entstehen. Wenn das ge-schehen ist, dann ist der Tatbestand des Betruges erfüllt.Dies alles ist geschehen.
Die Menschen sind vor der Wahl über die wirkliche Lagegetäuscht worden. Sie haben aus diesem Irrtum herausdieser Regierung noch einmal das Vertrauen geschenktund ihr zu einer knappen Mehrheit verholfen. Jetzt istDeutschland geschädigt, und zwar nachdrücklich.
Herr Gabriel – er wurde heute schon einmal zitiert – hatgesagt: „Die Wahrheit vor der Wahl, das hätten Sie wohlgerne gehabt.“ Er ist ein würdiger Nachfolger von Ihnen,Herr Bundeskanzler, und er war offensichtlich Ihr Lehr-ling, als Sie in Niedersachsen regiert haben.
Er tritt in Ihre Fußstapfen, genauso wie Herr Münteferingheute in die großen Fußstapfen von Herrn Stiegler getre-ten ist.
Das war an Ihrer Rede zu merken, Herr Müntefering. Rot-Grün bekennt sich zum Prinzip der Nachhaltigkeit. In denTäuschungsmanövern sind Sie allerdings sehr nachhaltigund das beschädigt die politische Kultur im Land.
Es ist schlimm genug, dass die Kultur in unseremLand, dem Land der Dichter und Denker, dem Land vonGoethe und Schiller, schon so beschädigt ist, dassDieter Bohlen der Star der Buchmesse ist. Aber das be-wegt sich auf einer Linie mit dem Verhalten der Deut-schen bei der Kanzlerwahl. Es ist folgerichtig, dass ausdem einen das andere entsteht. Da lobe ich mir den ehe-maligen Bundespräsidenten Roman Herzog, der die De-vise ausgegeben hat: Deutschland braucht Wahrheit undKlarheit. Die Antwort von Rot-Grün war: Machterhaltum jeden Preis. Ich weiß nicht, ob er diesen Preis wirk-lich wert war.
Michael Glos
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Michael GlosHerr Eichel wird in das „Guinnessbuch der Rekorde“eingehen. Eine so gelungene Selbstdemontage als Fi-nanzminister hat es noch nie gegeben. Das ist eine Bla-mage für unser Land. Wir müssten Deutschland eigentlichin Absurdistan umbenennen.
In der Weitsicht war Hans Guck-in-die-Luft dem Eichelweit überlegen.
Die Koalitionsvereinbarungen sind voller Wider-sprüche. Dem deutschen Steuerbürger – also einer Personin diesem Land, die so dumm ist, überhaupt Steuern zuzahlen, da sie nicht alles schwarz macht – misstraut manzutiefst. Man will das Bankgeheimnis aufheben, man willden gläsernen Steuerbürger. Von ihm wird man wahr-scheinlich die biometrischen Daten aufnehmen, die manbei potenziellen Terroristen nicht im Pass haben will.
Ich finde das schon eine ungeheure Widersprüchlichkeit,meine sehr verehrten Damen und Herren.Für alle ökonomischen Fehlhandlungen zahlt die so ge-nannte Neue, aber auch die alte Mitte die Zeche, und zwarganz brutal. Hans Eichel wurde nach kurzer Zeit vom ei-sernen zum blanken Hans. Sein großspuriges Versprecheneines ausgeglichenen Gesamthaushalts für 2006 war soviel wert wie Ihr Versprechen heute, Herr Müntefering,für 2006. Der Herr Bundeskanzler hat es heute in seinerRegierungserklärung ebenfalls versprochen.Was besonders schlimm ist: Die Defizitobergrenzevon Maastricht wurde verfehlt, unser Land ist zum Ge-spött in Europa geworden. Deutschland braucht inzwi-schen nicht nur einen blauen, sondern einen dunkelblauenBrief. Der Stabilitätspakt ist geschaffen worden, weil manden Südländern misstraute. Man meinte, die Italiener undandere würden die Stabilitätskriterien nicht einhalten. In-zwischen sind die Deutschen diejenigen, die den blauenBrief in Empfang nehmen müssen. Ich finde es schlimm,wenn die Regeln für die neue Währung, die man sichselbst gegeben hat, einfach niedergerissen werden. DieMenschen haben dem Euro vertraut, weil wir gesagt ha-ben, er wird so sicher und stabil wie die Mark werden. Ichkann Sie nur davor warnen, über diese Dinge einfach hin-wegzugehen.
3 Prozent bedeuten einen Spielraum von 60 MilliardenEuro, den man in den öffentlichen Gesamthaushalten hat.Das ist kein Pappenstiel, daraus lässt sich allerhand ma-chen. Einfach an die Obergrenze heranzugehen und sie zuüberschreiten halte ich für falsch.
Wir befinden uns dadurch am Rande einer länger an-haltenden Rezession und das sollte Ihnen Sorgen machen.Die „Süddeutsche Zeitung“, die es inzwischen wahr-scheinlich bereut – wenn es die Zeitung nicht bereuenkann, weil sie ja nur ein Stück Papier ist, dann werden esder Verlag, die Herausgeber, die Eigentümer bereuen;denn dort klopft jetzt Bodo Hombach an die Tür –, hatRot-Grün herbeigeschrieben und die ökonomischen Fol-gen müssen jetzt auch ein Stück getragen werden. Jeden-falls ist das, was im Wirtschaftsteil steht, oft richtig. Darinstand unlängst:Offensichtlich ist allenthalben die große Verunsiche-rung und neuerdings der blanke Zorn über eine dieBedürfnisse der Unternehmen missachtende BerlinerWirtschaftspolitik. Dieser Zorn ist real und nichtkonstruiert, er ist keine Erfindung von Oppositionoder Wirtschaftsjournalisten, keine Kampagne. DieWut der Wirtschaft signalisiert eine sinkende Loya-lität. Die Folgen reichen weit: von der sinkenden Be-reitschaft auszubilden über ein nachlassendes ge-sellschaftliches Engagement bis hin zu wildesterSteuergestaltung und womöglich einem regelrechtenInvestitionsstreik.So weit Marc Beise in der „Süddeutschen Zeitung“.Vorhin hat der Herr Minister des Äußersten gesagt
– Entschuldigung, Herr Minister –, die Finanzmärkte be-finden sich in einer Krise. Das ist richtig. Der Einzelhan-del bekommt die nachlassende Kaufkraft zu spüren undauch die Verunsicherung der Verbraucher. Das Handwerkhat allein in den letzten drei Monaten über 300 000 Arbeits-plätze abbauen müssen. Und es fällt keinem Handwerkerleicht, jemanden zu entlassen; ganz bestimmt nicht, da istetwas Herzblut dabei. Die Talfahrt der Bauwirtschaft hältan und wird sich durch das geplante Zusammenstreichender Eigenheimzulage noch beschleunigen.Herr Fischer, übrigens haben Sie in einer Diskussions-runde vor der Wahl noch die Opposition bezichtigt, siewolle die Eigenheimzulage streichen.
Das Gegenteil ist wahr.
Diese Zulage wird von Ihnen jetzt kalt gestrichen, was Sievorher in Ihrer Art der Wählertäuschung und -verunsiche-rung uns unterstellt haben.In der gesamten verarbeitenden Industrie ist die Stim-mung miserabel. Die Ampeln stehen auf Arbeitsplatzab-bau. Wer in dieser Situation auf massive Steuererhöhun-gen, steigende Sozialbeiträge und zusätzliche Schuldensetzt, der verschärft die Krise. Das alles ist Gift für Kon-junktur und Wachstum.
Bei aller Ungewissheit über Prognosen ist eines ge-wiss: Mit einer derart schwachen Wirtschaftsdynamikkann keine grundlegende Wende auf dem Arbeitsmarkterreicht werden, Hartz hin, Hartz her. Das wird sich alseine große Seifenblase erweisen.
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Wenn Sie schon unserem wirtschaftlichen Sachver-stand nicht trauen, dann glauben Sie wenigstens den vonIhnen selbst berufenen Gutachtern aus den Wirtschafts-forschungsinstituten. Das sind inzwischen ja nicht mehrdie, die während der Regierungszeit von Helmut Kohl be-rufen worden sind. Die sagen in ihrem Herbstgutachten:Alle Pläne der Wirtschaftspolitik in den kommendenJahren müssen daran gemessen werden, ob sie dazubeitragen, die Probleme des geringen Wachstumsund der geringen Beschäftigungsdynamik zu lösen ...Die Koalitionsvereinbarungen zur Anhebung vonSteuern und Sozialabgaben sind das Gegenteil des-sen, was wachstumspolitisch geboten ist.Man kann das Ganze auch volkstümlich ausdrücken – ichdenke dabei vor allen Dingen an die Leute draußen, diegerne den Ketchup-Song hören –, denn in der Gerd-Showheißt es dort:Was du heute kannst versprechen,darfst du morgen wieder brechen.Drum hol’ ich mir jetzt jeden einzelnen Geld-schein,euer Pulver, eure Kohle, euer Sparschwein.So sieht es die Bevölkerung draußen. Deswegen wird die-ser Song ein großer Hit werden.
Im Zeitalter der Globalisierung und der Konkurrenzum Finanzströme ist es ganz besonders wichtig, unserenFinanzmarkt in Ordnung zu halten. Nun hat sich JosephFischer, zurzeit, wie wir sehen, gleichzeitig Bundes-außenminister, Fraktionsvorsitzender und amtierenderParteivorsitzender der Grünen,
vorhin auch ein wenig über die Aktienmärkte, auch den inAmerika, verbreitet. Der Zusammenbruch geschah in ers-ter Linie an der deutschen Börse. Der Dow-Jones-Indexist längst nicht so stark gesunken wie der DAX. Auch inEuropa sind die Aktienkurse im Durchschnitt nicht sostark wie in Deutschland gesunken. Das ist die Wahrheit.
– Selbstverständlich nicht. Ich bin dabei sehr gut gefah-ren. Das bisschen, was ich hatte, habe ich blitzartig ver-kauft, als Rot-Grün begonnen hat zu regieren.
Die alten Lehren kenne ich noch. Ich habe auch nochdie Bücher des alten Bankiers Fürstenberg gelesen, der ge-sagt hat – die Geschehnisse unter Rot-Grün haben ihmwieder einmal Recht gegeben –: Aktionäre sind dumm undfrech – dumm, weil sie anderen Leuten ihr Geld geben, undfrech, weil sie dafür auch noch Dividende wollen.
Jetzt sage ich Ihnen etwas, was viel ernster ist: Mankann Vertrauen ungeheuer schnell zerstören. Es ist aberungeheuer schwierig, Vertrauen wieder aufzubauen. Einzerstörter Kölner Dom wäre leichter aufzubauen als zer-störtes Vertrauen. Ihre Vorhaben, nämlich die Gewinneaus der Veräußerung von Wertpapieren und Immobilienunbeschränkt zu versteuern,
der Lebensversicherung in die Kasse zu greifen, die ver-mögenswirksamen Leistungen in Aktien und Wertpapier-fonds zu besteuern, all diese Steuerpläne schaffen keinVertrauen in unseren Kapitalmarkt, sondern werden dieKrise leider noch verstärken.In Ihrer Regierungserklärung, Herr Bundeskanzler, ge-ben Sie auch auf andere Schicksalsfragen der Nation we-nig Antworten. Die Unterfinanzierung der Bundeswehrwird offensichtlich festgeschrieben.
Bundesverteidigungsminister Struck hat den Fehler ge-macht, dass er sich nicht vom ersten Tag an dagegen ge-wehrt hat. Jetzt wird sein Etat weiter gekürzt. Das hat ernun davon. Die Bundeswehr ist unsere Armee. Wir sindstolz auf sie. Aber auch die Frage, wie es weitergehen soll,ob es eine Freiwilligenarmee wird oder ob die Wehrpflichtbleibt, ist noch nicht endgültig entschieden worden, son-dern diese Entscheidung wurde vertagt. Die NATO-Part-ner fragen sich, was eigentlich von uns zu halten ist, wennüberall so viel Beliebigkeit Platz greift.Über den Aufbau Ost haben wir vorhin eine mit-reißende Rede gehört. Herr Präsident, Sie haben sie dan-kenswerterweise vorher halten lassen. Ich freue mich da-rüber, denn so brauche ich nichts dazu zu sagen. Diefrühere Chefsache ist also inzwischen zu einer Rollerückwärts geworden. Bezüglich der inneren Sicherheitfinden sich nur Leerformeln. Von dem, was wir wirklichbräuchten, steht nichts in der Koalitionsvereinbarung,auch nicht die von Bundeskanzler Schröder vollmundigaufgestellte Forderung: Sexualstraftäter, also Kinder-schänder, gehören weggesperrt, und zwar für immer.Dafür hat er sehr viel Beifall bekommen, aber er hat da-von in der Koalitionsvereinbarung nichts durchgesetzt.
Auch bei der Umweltpolitik herrscht Fehlanzeige.Stattdessen wird Erdgas stärker besteuert. Die Bauernkommen nur noch als Kostenfaktor im Zusammenhangmit der EU vor. Es finden sich keine Worte über den länd-lichen Raum und all das, was an der Landwirtschaft hängt.In der Außenpolitik hat man aus dem Schüren vonKriegsangst kurzfristig Kapital zu schlagen versucht. Dasist richtig. Jetzt folgt für den Herrn Bundeskanzler derGang nach Canossa, wobei Canossa in diesem Fall ir-gendwo bei Washington liegt. Morgen macht ja der Bun-desaußenminister bereits einen Probegang.
Ich kann Ihnen sagen: Heinrich IV. hat sich in Canossawohler gefühlt, als Sie sich in den USA fühlen müssen.Michael Glos
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Michael GlosJetzt glauben Sie, Sie könnten die Vereinigten Staatenvon Amerika damit beruhigen, dass Sie für eine möglichstschnelle Aufnahme der Türkei in die Europäische Unionkämpfen. Ich halte von einer Mitgliedschaft der Türkei inder Europäischen Union nichts.
Nicht, dass ich missverstanden werde: Selbstverständlichwollen wir eine gute Partnerschaft mit der Türkei inner-halb der NATO; auch brauchen wir gute Handelsbezie-hungen mit der Türkei. Nur können wir ihre Vollmitglied-schaft in der Europäischen Union nicht gebrauchen. Auchdie damit verbundene Freizügigkeit von Anatolien nachDeutschland hin in beliebigem Maße können wir nicht ge-brauchen.
Wir können auch kein Land als Vollmitglied in der Euro-päischen Union gebrauchen, dessen Wirtschaftsleistungnur ungefähr 20 Prozent des Durchschnitts der Wirt-schaftsleistung der übrigen EU-Staaten beträgt und daseine Inflationsrate von 50 Prozent hat. Wenn man jetztglaubt, dass man mit der Vollmitgliedschaft der Türkei inder Europäischen Union irgendjemandem einen Gefallentun kann – nicht einmal den Türken selbst könnte man da-mit einen Gefallen tun –, dann ist man schief gewickelt.Auch der zweite Anlauf von Rot-Grün erfolgt im Rück-wärtsgang. Mit dem, was in den Koalitionsvereinbarun-gen steht und was wir heute hier gehört haben, lässt sichdie Zukunft nicht gewinnen. Abraham Lincoln hat gesagt,man könne nicht die Schwachen stärken, indem man dieStarken schwäche. Genau das ist aber Ihr Programm.
Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung. Ich weißnicht, ob der Herr Bundeskanzler noch hier im Plenarsaalist.
Wenn er nicht mehr hier ist, dann hat er aber genug Ket-tenhunde hier, um sein Wort zu gebrauchen, die ihm das,was ich jetzt bemerken will, weitersagen können. Ich binschon der Meinung und möchte ihm das gern ins Stamm-buch schreiben: „Hochmut kommt vor dem Fall.“
Der Hochmut, mit dem Sie sich heute gegenüber der Op-position verhalten, wird sich – da bin ich ganz sicher –rächen. Hören Sie damit auf, diejenigen, die Verantwor-tung tragen für Unternehmungen und damit für dieArbeitsplätze von Millionen von Menschen, als Ketten-hunde zu beschimpfen!
Das sind nicht Kettenhunde der Opposition.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn das al-les nur dieser Bundesregierung schadete, dann könnte esuns egal sein; dann könnten wir darüber sogar noch Scha-denfreude empfinden. Aber es schadet unserem Land, derBundesrepublik Deutschland, in schwieriger Zeit. Fürdieses Land werden wir auch aus der Opposition herausarbeiten.Herzlichen Dank.
Als nächster Rednerin erteile ich der Kollegin Sabine
Bätzing von der SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wenn man heute die Redebeiträge der Opposi-tion hört, dann könnte man glauben, dass die Oppositionnoch mitten im Wahlkampf steht. Wie vor dem 22. Sep-tember sind die Vertreter der Opposition auch jetzt nur da-bei, das Land zu zerreden, Innovationen zu behindern,Stillstand zu produzieren und zu demotivieren.
Das alles sind Dinge, die wir nicht brauchen.
Ich möchte lieber noch einmal auf die Koalitionsver-einbarungen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen einge-hen, die eines ganz deutlich zeigen: Deutschland hat einestarke Regierung, die den Mut und die Entschlossenheitbesitzt, die vor uns stehenden Herausforderungen anzu-gehen. Wir können dabei auf den beachtlichen Leistungenin der vorangegangenen Wahlperiode aufbauen. Der Still-stand, der unsere Republik viel zu lange gelähmt hat, istbeendet.
Gerade als Vertreterin der jungen Generation bin ich dafürsehr dankbar.
Rot-Grün hat mit der Erneuerung begonnen und wirwerden sie nun fortsetzen. Im Koalitionsvertrag steht klarund deutlich, was wir in dieser Legislaturperiode umset-zen wollen. Wir werden die notwendigen Reformen – ichmeine Reformen im positiven Sinne – konsequent fortset-zen. Da gibt es viel zu tun. Die Lasten, die damit notwen-digerweise verbunden sind, müssen wir heute tragen,damit unsere Kinder und Enkel in Zukunft Handlungs-spielräume und Perspektiven haben.
Ich danke daher im Namen der jüngeren Generation HansEichel für sein finanzpolitisches Kurshalten auch in ge-fährlichem Fahrwasser.
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– Es ist so. – Es ist uns klar, dass noch manche Klippe zuumschiffen sein wird. Aber auch das werden wir schaffen.Ich möchte nun einige Bereiche nennen, die wir weitervoranbringen werden.Die Förderung von Familien mit Kindernmuss aus-gebaut und auf noch solidere Grundlagen gestellt werdenals bisher.
Wir wollen dafür kämpfen, dass Kinder kein Armutsrisikosind. Fast 30 Prozent der Familien mit drei Kindern fallenleider heute noch unter die Armutsgrenze. Das sind30 Prozent zu viel. Denn wir alle wissen, dass Kinder ausbesonders einkommensschwachen Familien einen schlech-teren Start ins Leben haben. Sie haben keine großen Chan-cen. Genau das wollen wir ändern. Als ehemalige Sach-bearbeiterin im Sozialamt weiß ich, wovon ich rede. Ichweiß auch, wohin ein solcher Fehlstart im Leben führenkann.
Der Koalitionsvertrag enthält darum konkrete Maßnah-men, mit denen Familien mit Kindern und allein erzie-hende Mütter und Väter weiter unterstützt werden sollen.Ich nenne in diesem Zusammenhang die 10 000 zusätz-lichen Ganztagsschulen sowie den Ausbau der Betreuungvon Kindern unter drei Jahren, bei der wir die Kommunenab 2004 jährlich mit 1,5 Milliarden Euro unterstützenwerden.
Sie sehen, die Vereinbarkeit von Familie und Berufwird zunehmend Realität. Wir setzen damit die erfolgrei-che Politik aus der letzten Legislaturperiode fort. Fami-lien mit Kindern bekommen bereits heute jährlich insge-samt 13 Milliarden Euro mehr als vor vier Jahren.
Auch durch die Flexibilisierung der Elternzeit unddurch den Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit sind wir die-sem Ziel ein Stück näher gekommen. Denn wir können esuns nicht leisten – das wollen wir auch nicht –, auf her-vorragend ausgebildete Frauen, die sich an Universitäten,Fachhochschulen und Berufsschulen bewiesen haben, zuverzichten. Es ist der richtige Weg, gerade die Kreativitätder Frauen für unsere wirtschaftliche Entwicklung stärkerzu nutzen.
Aber unsere wichtigste Zukunftsressource ist dieBildung. Wir brauchen keine PISA-Studie, um klar zu er-kennen, dass wir in diesem Bereich noch besser werdenmüssen. Die laufende Diskussion um länderübergreifendeStandards im Bildungsbereich halte ich für den richtigenWeg. Mein Dank geht an Edelgard Bulmahn; denn sie hatsich in beispielhafter Weise um die Reform des Bildungs-wesens verdient gemacht.
Ich sage: Der neue Wind in der Bildungspolitik kann unsnur gut tun.Zusammenarbeit und Vertrauen zwischen den Genera-tionen wollen wir auch in Zukunft fördern. Daher gilt fürKinder und Jugendliche, dass wir gemeinsam mit ihnendie Zukunftschancen unserer Gesellschaft entwickelnwollen. Wir wollen, dass jeder Jugendliche, der will undkann, eine Ausbildung erhält. Die Sicherung des Ausbil-dungsplatzangebots hat eindeutig Priorität. Dabei bauenwir allerdings auch auf die Zusammenarbeit mit der Wirt-schaft. Denn Mitmachen ist Voraussetzung für einen Er-folg in diesem Bereich.An der Verbesserung der sozialen und beruflichen In-tegration von jungen Menschen liegt uns viel. Wir müssendaher die jungen Menschen ernst nehmen und wir müssenihnen vor allen Dingen zuhören. Wir wollen den Jugend-lichen eine Balance aus Schutz und Freiräumen bieten, diesie zur persönlichen Entwicklung brauchen. Ich wünschemir, dass wir, wenn wir dies beachten, wieder mehr jungeMenschen für Politik interessieren.
Meine Damen und Herren, die Akzeptanz unserer Po-litik beruht auf einem einfachen Wort: Solidarität. Soli-darität ist ein Grundwert, eine Richtschnur, an der wir unsmessen lassen wollen. Dass wir sie völlig zu Recht auchvon denjenigen einfordern, die auf der Sonnenseite desLebens stehen, ist doch wohl klar. Denn Solidarität be-weist sich in schwierigen Zeiten. Sie ist keine Einbahn-straße und schon gar keine Schönwetterallee. Die Ab-wanderung junger, gesunder und gut verdienenderBeitragszahler in die private Krankenversicherung hat einAusmaß erreicht, das die Beitragsstabilität der gesetzli-chen Krankenkassen ernsthaft bedroht. Wir aber wollenkeine Zweiklassenmedizin, sondern eine klasse Medizin.
Zu der sollen alle unabhängig von ihrem Einkommen dengleichen Zugang haben.Deshalb sage ich: Aus der Solidarität sollte man sichnicht so leicht verabschieden können. Nur wenn alle Ge-nerationen und alle Einkommensgruppen an einem Strangziehen, können wir die vor uns liegenden Aufgaben auchbewältigen.Dies hat schon sehr früh ein Mensch erkannt, der inmeinem Wahlkreis Neuwied/Altenkirchen lebte – Sie allekennen ihn sicherlich –:
– Friedrich Wilhelm Raiffeisen, Herr Meyer. Von ihmstammt die Maxime: „Einer für alle, alle für einen.“ In un-serer Geschichte gibt es genug Erfahrungen, die beweisen:Sabine Bätzing
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Sabine BätzingSolidarität ist nicht angestaubt. Solidarität ist Zukunfts-fähigkeit.
Noch ein Wort zur Hartz-Kommission. In den nächs-ten Wochen und Monaten werden wir die größte Arbeits-marktreform in der Geschichte dieses Landes umsetzen.Herr Glos, wir versprechen Ihnen: Sie wird keine Seifen-blase sein, die irgendwann platzen wird.
Denn wir können es nicht oft genug sagen: Das Konzeptder Hartz-Kommission ist genau das, was unser Land jetztbraucht. Deshalb handeln wir. Wir werden dieses Konzeptumsetzen.Meine Damen und Herren, dies ist ein Appell an Siealle: Lassen Sie uns in den kommenden Jahren keinenWettstreit im Miesmachen und Nörgeln austragen!
Das Land hat dafür keine Zeit. Lassen Sie uns gemeinsamdie notwendigen Entscheidungen treffen, vor die wir ge-stellt sind – und dies mit Mut und Konsequenz! Lassen Sieuns vor allem den Menschen beweisen, dass wir keineLobbyrepublik sind, sondern uns den Aufgaben stellen, zuderen Bewältigung wir gewählt worden sind.Unser Wählerauftrag ist klar: Die Menschen haben unsdas Vertrauen ausgesprochen, weil wir das bessere Kon-zept für die Zukunft unseres Landes haben. Die Wähle-rinnen und Wähler können sich darauf verlassen: Wirschaffen gemeinsam ein modernes Deutschland.Herzlichen Dank.
Frau Kollegin Bätzing, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer
ersten Rede im Deutschen Bundestag, die Sie als neues
Mitglied dieses Hauses zum denkbar frühesten Zeitpunkt
haben halten können.
Ich bitte schon jetzt die zahlreichen weiteren neuen
Kolleginnen und Kollegen um Verständnis dafür, dass
vermutlich nicht alle in der 21-stündigen Aussprache zur
Regierungserklärung zu Wort kommen können.
Als Nächstes erteile ich dem Kollegen Scholz für die
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir habeneine interessante Rede von Frau Merkel gehört,
in der sie uns manches über längerfristige Linien gesagthat. Sie hat festgestellt, es sei dringend erforderlich, dassman die langen Linien bzw. die Grundsätze der Politik er-kennen könne. Weil sie dann doch an einer Stelle konkretwerden wollte, ist sie auf diese Grundsätze genauer ein-gegangen. Man brauche nämlich Beamte im Bundeskanz-leramt, die für Grundsätze zuständig seien. Das war ihrVorschlag für die zukünftige Grundsatzabteilung, die dielangen Linien angehen soll.
Meine Damen und Herren, es geht doch um etwas We-sentlicheres als diesen Hinweis. Dass dieser so einfachmöglich war, lag daran, dass es in der Tat in der Rede kei-nen einzigen Vorschlag für die Regierung unseres Landesund dazu, wie es weitergehen soll, gegeben hat.
In den letzten Tagen geistert immer wieder ein Themadurch die Medien, das auch hier gern zitiert wird undmissverstanden werden kann: Es wird Mut zu einer lang-fristigen Strategie gefordert. Ich halte das für richtig. Wirbrauchen Mut, nur mit Mut haben wir eine Chance, unserLand zu regieren. Wenn sonntags eine Rede über die rich-tige Politik gehalten wird, wissen auch alle, was Mut ist.Man kann zum Beispiel sagen: Wir müssen dazu beitra-gen, dass die Steuersätze in unserem Land sinken und dassSteuerschlupflöcher gestopft und Subventionen gestri-chen werden. Niemals mit irgendeiner Relevanz für dieCDU/CSU-Fraktion, aber doch immer wieder in Zeitungenveröffentlicht, hat zum Beispiel der Kollege Uldall, derjetzt in Hamburg Senator sein darf, Vorschläge zu gestaf-felten Steuersätzen gemacht. Sämtliche Schlupflöcher undSubventionen, die wir jetzt streichen, waren dabei längstgestrichen.Wenn aber der Mut konkret gefordert wird, dann ist al-les anders. Dann melden sich nämlich all diejenigen, dievorher Vorschläge gemacht haben, zu Wort und fordern:Dieses Steuerschlupfloch, diese Subvention und dieseEinzelregelung sollen aufrecht erhalten bleiben.Dass man sich dabei sehr lächerlich machen kann, hatuns Frau Merkel vorgemacht. Sie hat sich nämlich in derGeschichte der Bundesrepublik jetzt damit hervorgetan,dass sie den halben Mehrwertsteuersatz für Schnittblumenverteidigt hat. Ich glaube, solche Forderungen zeigen letzt-lich, wie die Subventionsbekämpfung bei Ihnen konkretaussieht.
Ich glaube, es ist richtig, dass wir ein Konzept vorgelegthaben, in dem weitere Steuersenkungen enthalten sind. Inden Jahren 2004 und 2005 werden 29 Milliarden Euro andie Bürgerinnen und Bürger zurückgegeben.
Diese Einnahmen fehlen in den Kassen von Bund, Län-dern und Gemeinden und deshalb ist es auch richtig, wei-tere Schlupflöcher zu stopfen.
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Eines dieser Schlupflöcher hat bei Ihnen im Wahl-kampf eine große Rolle gespielt. Zum Beispiel hat HerrMerz gesagt, es kann nicht sein, dass die Kapitalgesell-schaften in Deutschland im Saldo mehr Steuern erstattetbekommen als sie zahlen. Von Herrn Stoiber ist im Wahl-kampf, teilweise mit zitternder Stimme, immer wieder er-wähnt worden, dass es dringend notwendig sei, die Aus-fälle bei der Körperschaftsteuer zu bekämpfen. Dazu hater etwas Ähnliches wie Herr Merz gesagt.Nun gehen wir das an – das ist ein ganz wichtiger Teildes Subventionsabbaus und des Stopfens von Steuer-schlupflöchern –, indem wir sicherstellen, dass Unterneh-men und Körperschaften, die Gewinne machen, auchSteuern zahlen. Das ist gut so, dem sollten auch Sie zu-stimmen.
Tatsächlich sind Sie in dieser Frage aber sehr leise ge-worden. Sie kommen gar nicht mehr darauf zurück, son-dern erwähnen nur noch die Schnittblumen und denMehrwertsteuersatz, der für diese angehoben werden soll.
Das ist gewissermaßen die Kontinuität Ihrer Gedankenvor und nach der Wahl. Deshalb: Es gibt ganz andere, diedie Wähler getäuscht haben; denn wer die CDU gewählthat, könnte gedacht haben, jetzt geht es den großen Kon-zernen endlich an den Kragen. Tatsächlich aber wollenSie das, was wir jetzt vorhaben, gar nicht unterstützen.Meine Damen und Herren, es ist wichtig, sich darüberzu unterhalten, dass es die mutlosen Mutigen gibt. Diemutlosen Mutigen sind diejenigen, die immer sagen, wasman eigentlich tun müsste, aber die Sätze nicht zu Endesprechen. Sätze, die nicht zu Ende gesprochen werden,sind beispielsweise: Man braucht auf dem Arbeitsmarktendlich einen Aufbruch, der Verkrustungen beseitigt; wirmüssen etwas bei der Rente tun, damit die Beiträge nichtweiter steigen; auch bei der Gesundheitspolitik ist das er-forderlich, hier muss etwas getan werden, damit wir mitdem Geld besser auskommen.Die Fragen aber, die weder Frau Merkel noch HerrGlos, noch jemand anders beantwortet, lauten: Was sollman tun? Hier setzen Sie ein bisschen darauf, dass Ihre ei-gentlichen Freunde wissen, was Sie tun wollen, und vielees nicht wissen und glauben, Sie machen etwas Vernünf-tiges. Denn tatsächlich haben Sie ganz konkrete Vorstel-lungen, die Sie auch nennen könnten, aber Sie nennen sienicht. Soll es so sein, dass wir bei medizinischen Leistun-gen Kürzungen durchführen und sagen, diese gibt es nichtmehr? Ist das mutig? Ist das richtig?Wenn Sie das für richtig halten, müssen Sie auch denMut haben, das zu sagen, statt Ihre Sätze unvollendet zulassen und dann, wenn Sie sich mit der Regierung unddem Konzept des Koalitionsvertrags auseinander setzen,den Eindruck zu erwecken, als hätten Sie ein Konzept vor-zuschlagen.Zur Rente könnten Sie sagen, Sie wollen erreichen,dass es nicht zu solchen Beitragssteigerungen kommt, wiesie jetzt anstehen. Dies haben Sie aber nicht getan. Viel-mehr bleiben Sie nach dem halben Satz stecken. Sie sindmutlos, weil Sie keine Alternativen benennen.
Das Gleiche machen Sie bezüglich unseres Arbeits-marktes. Dazu bringen Sie auch immer nur den Vor-schlag, dass die Verkrustungen aufgebrochen werden sol-len. Interessant wäre es, von Ihnen einmal zu hören, wasdies denn ist, ob Sie etwa den seit Anfang der 50er-Jahrein Deutschland bestehenden Kündigungsschutz abschaf-fen, halb abschaffen oder viertel abschaffen wollen. VieleIhrer Freunde glauben, dass Sie genau dies wollen. Vielesollen es aber offenbar nicht hören und deshalb bleibenSie mutlos und sagen es nicht. Ihnen fehlt bei Ihrer Kritikan der Regierungserklärung also wirklich der Mut.
Ich will Ihnen sagen, welches jetzt und in den nächstenvier Jahren bei der Diskussion über die RegierungsarbeitIhr großes Problem sein wird. Ihr Problem wird sein, dassSie keine Alternativen benennen. Dies ist auch der Grunddafür, warum Sie die Wahl nicht gewonnen haben.Tatsächlich befinden wir uns in einer schwierigen wirt-schaftlichen Lage und es ist schwierig für eine Regierung,wiedergewählt zu werden, wenn sich die Arbeitslosigkeitso entwickelt, wie sie das in den letzten Jahren getan hat.Herr Stoiber hat immer wieder gesagt, das Arbeitslo-sigkeitsproblem sei groß – was übrigens so ist –, er hataber immer wieder vergessen, irgendeinen Vorschlag zumachen, von dem irgendjemand hätte annehmen können,er hätte eine Idee, wie dies geändert werden sollte.
Deshalb haben die Menschen gesagt: Der Stoiber kannes auf jeden Fall nicht besser. Den wählen wir nicht.
Wenn Sie so weitermachen, wird man bei den Wahlen,die demnächst anstehen, und auch in vier Jahren sagen:Die CDU/CSU kann nur sagen, das ist aber schlimm, siekann aber nicht sagen, was man tun soll. Sie als Opposi-tion brauchen aber den Mut, sich zu konkreten Konzeptenzu bekennen. Dazu fordere ich Sie auf.
Meine Damen und Herren, in der Familienpolitik ha-ben Sie ein ähnliches Problem. Was Sie dabei falsch ma-chen, grenzt schon ans Dramatische. Ich erinnere michsehr genau daran, dass sich ein früherer GeneralsekretärIhrer Partei darum bemüht hat, aufzuzeigen, dass Sie beider Familienpolitik ein Defizit haben. Das war Ihr HerrGeißler. Er ist daran gehindert worden. Dann haben Sie1998 die Wahl verloren. Ich erinnere mich noch ganz ge-nau an alle Wahlanalysen, die Sie gemacht haben. Eigent-lich haben Sie gesagt: Hätten wir doch zehn Jahre früherauf den Geißler gehört. Wir haben ein Defizit in der Fa-milienpolitik. Niemand glaubt uns da mehr was.Olaf Scholz
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Olaf ScholzKonsequenz gab es keine. Nun war die Bundestags-wahl. Sie haben die Analysen der Meinungsforschungs-institute gelesen. Darin stand schon wieder das Gleiche.Dann durfte sich Frau Reiche kurzfristig profilieren. Jetzthaben Sie die Wahl verloren und haben gemeinsam analy-siert: Wir haben die Wahl verloren, weil wir in der Famili-enpolitik ein nicht mehr zeitgemäßes Profil haben. Undwas ist? – Frau Reiche ist abgemeldet und Sie kritisierendie Politik der Bundesregierung aus dem gleichen Blick-winkel wie seit 1950. Ich glaube, dies ist Ihr Problem.
Ich warne Sie auch: Retten Sie sich nicht mit den For-meln, von denen Sie glauben, dass Sie damit von der ei-nen Tür zur nächsten kommen. Ihre Formel lautet immer,wir wollten den Menschen etwas vorschreiben, wir woll-ten ihnen zum Beispiel vorschreiben, dass sie arbeitenmüssen. Das ist eigentlich das Einzige, was Ihnen zur Fa-milienpolitik einfällt. Dabei ist dies nicht das Problem un-serer Gesellschaft.Wir haben eine Gesellschaft, in der es für Familien, in de-nen beide Partner berufstätig sein wollen, so schwierig istwie in kaum einem anderen Land in Europa, dies zu organi-sieren, weil wir weniger Ganztagsbetreuungsplätze und we-niger Ganztagsschulen als zum Beispiel Frankreich haben.
Deshalb sage ich Ihnen: Sie haben ein großes Problem.Wenn Sie sich politisch nicht bewegen, werden Sie esauch nicht lösen können. Sie haben die Lufthoheit überden Kinderbetten verloren. Solange das der Fall ist, wer-den Sie keine Wahl in Deutschland gewinnen können.
Ich will noch etwas zum Thema Irak sagen, das Sie an-gesprochen haben, und zwar auch, weil Frau Merkel ge-sagt hat, wir würden jetzt etwas anderes sagen als vor derWahl.
Das hat eigentlich niemand verstanden, denn wir machengenau das, was wir vor der Wahl angekündigt haben. DieBundesrepublik Deutschland bleibt bei ihrer Haltung,nämlich dass wir sagen: Es wird keine deutsche Beteili-gung an einem Krieg im Irak geben. Dies ist unsere Aus-sage und bei der bleibt es.
Es empfiehlt sich, dass Sie einen weiteren Punkt dis-kutieren, nämlich das Jahrhundert, in dem wir leben. DasThema Außenpolitik hatte im 19. Jahrhundert sicherlicheine andere Bedeutung als in diesem. Sicherlich wäre esim Jahre 1895 ein interessanter Beitrag gewesen, wenn je-mand gesagt hätte: Es kann nicht sein, dass wir hier überdie Frage, was Deutschland tun soll, diskutieren; dasgehört nicht ins Parlament und ist auch keine Sache desVolkes, sondern das muss der Außenminister heimlich inirgendwelchen Kabinetten beschließen. –
Aber auch heute gingen eigentlich alle Vorwürfe, dieSie der Bundesregierung und dem Bundeskanzler ge-macht haben, in die Richtung, dass die Frage von Kriegund Frieden nicht vom Volk entschieden oder vom Deut-schen Bundestag breit diskutiert werden könne;
sie gehöre in die Kabinette und geheimen diplomatischenZirkel. Das ist nicht richtig!
Ich glaube, Sie müssen lernen, dass Deutschland überdiese Frage diskutieren muss. Es gibt ein Vorbild, dasich Ihnen zur Nachahmung empfehle, nämlich die Verei-nigten Staaten von Amerika;
denn in den Vereinigten Staaten von Amerika wird das,was wir hier nicht bereden dürfen, allerorten öffentlichdiskutiert.
Wenn Sie einen Fernsehsender einschalten, können Sie alldie Fragen, über die wir hier nicht diskutieren sollen, inSenats- und Kongressausschüssen breit diskutiert finden.
So ist es richtig.Der Unterschied zwischen den beiden Staaten ist: DieVereinigten Staaten von Amerika sind seit 200 Jahren eineDemokratie, wir haben erst seit 50 Jahren das Glück.Außerdem hat sich Deutschland 1999 im Kosovo das ersteMal als ein demokratischer Staat an einem Krieg beteiligt.Deshalb haben viele noch keine Argumentationsmusterund nicht die Fähigkeit zur Diskussion über Richtig undFalsch bei diesem Thema. Sie brauchen einen demokrati-schen Impuls in der Debatte über Außenpolitik. Das würdeIhnen nützen und die Sache glaubwürdiger machen.Schönen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Pau, fraktions-
los.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Auf den Pressefassungen von Regierungserklärungenheißt es stets: Es gilt das gesprochene Wort. Das ist imheutigen Falle besonders angebracht; denn was vom ge-schriebenen Wort – ich meine den Koalitionsvertrag –
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demnächst wirklich noch gilt, das wissen wir nicht, leiderauch nicht nach der heutigen Rede des Bundeskanzlers.
Frau Merkel hat sich vorhin beschwert, sie fühle sichge- oder enttäuscht. Dazu kann ich nur sagen, meine Da-men und Herren von der CDU/CSU, für so naiv hätte ichsie nicht gehalten.Wir, das heißt die „PDS im Bundestag“, legen zurBewertung ein übersichtliches Maß an. Unsere Fragenlauten schlicht und nachvollziehbar: Zielt das durch SPDund Bündnis 90/Die Grünen Verabredete auf mehr sozialeGerechtigkeit oder nicht? Zielt es auf eine militärfreieAußenpolitik oder nicht? Zielt es auf eine bürgerrechtli-che Innenpolitik oder nicht? Zielt es auf eine nachhaltigeUmweltpolitik oder nicht? Zielt es auf eine wirksamePolitik für die neuen Bundesländer oder nicht? SolltenSie in diese Richtungen agieren, dann können Sie mit un-serer Zustimmung rechnen. Wenn ich allerdings denKoalitionsvertrag und die heutige Regierungserklärungwäge, dann stelle ich fest, dass Sie überwiegend mit un-serem Nein rechnen müssen.In diesem Zusammenhang möchte ich auch etwas an-deres klarstellen: Der Abstand der rot-grünen Politik zudem, was die CDU/CSU will, ist viel geringer, als dieLautstärke, mit der die Opposition zur Rechten heute Wehund Ach geklagt hat, vermuten lässt.
Am klarsten zeigt sich das wohl, wenn es um dieMinimierung der Massenarbeitslosigkeit geht. Beidegroßen Blöcke des Bundestages verbreiten die Mär vonden bösen Lohnnebenkosten, beide großen Blöcke desBundestages beten den Götzen Wirtschaftswachstum anund beide großen Blöcke des Bundestages stellen letzt-endlich Betroffene an den Pranger. Das ist nicht modern,das ist unterwürfig. Das sind Ergebenheitsadressen ge-genüber globalen Interessen des großen Kapitals; es istalso keine wirkliche Politik.Sie alle wissen, dass es nicht reicht, hier und da einSteuerschlupfloch zu stopfen oder die eine oder andereSubvention infrage zu stellen. Das alles muss sein, reichtaber nicht aus. Die PDS fordert grundsätzlich ein Um-steuern, politisch und finanziell.Nun will ich hier nicht über die Tobinsteuer reden, son-dern nur über die Wiedereinführung der Vermögensteuer.Den besten Beleg, wie es bei Rot-Grün zugeht, liefert ihrneuer Superminister Clement. Als er noch Landesministerwar – das war noch vor wenigen Tagen –, sprach er sichheftig für die Vermögensteuer aus. Nun ist Herr Clementdie Bundes-Treppe hinaufgefallen und prompt spricht erdagegen. Die Nagelprobe wird es für Sie im Bundesrat ge-ben: Rot-Rot in Berlin und in Mecklenburg-Vorpommernwollen die Vermögensteuer.
Ich bin gespannt, wie sich die anderen Bundesländer ver-halten werden, und füge hinzu: Die Abstinenz der Bun-desregierung in dieser Frage ist nicht klug; sie ist einfachabwiegelnd und feige.Gestatten Sie mir noch eine Anmerkung zu den neuenBundesländern. Vor zwei Jahren hat der Bundestagspräsi-dent gemahnt, der Osten stehe auf der Kippe. Seither hatsich nicht wirklich etwas zum Besseren gewendet.
Wir wissen doch alle: Die Vorschläge der viel gepriese-nenHartz-Kommissionwären, wenn sie denn eins zu einsumgesetzt würden, pures Gift für den Osten. Dies wären sieaber nicht nur für den Osten, sondern auch für struktur-schwache Regionen im Westen, zum Beispiel Oberfranken.Ich vermute, dass Herr Minister Stolpe einen ganzgroßen Erwartungsdruck im neuen Amt spüren wird. Bis-lang habe ich von ihm aber nur eine einzige Botschaftgehört und die hieß: Für den Aufbau Ost werden keineMittel gestrichen. Eine solche Aussage ist für einen be-stellten Hoffnungsträger arg wenig bis gar nichts.
Lassen Sie mich zum Schluss noch ein aktuelles Pro-blem ansprechen, und zwar die Zusage des Kanzlers unddes Außenministers, die Bundesrepublik werde sich nichtan einem Irak-Krieg beteiligen. Wenn dieses Nein konse-quent sein soll, dann schließt das auch logistische Hilfenaus. Dann verbietet es sich, hoheitliche Rechte der Bun-desrepublik an die USA abzutreten.
Dann erwarte ich eine klare Ansage, dass für Rot-Gründas Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland mehrgilt als ein konstruierter NATO-Bündnisfall.Der Bundeskanzler ist in seiner Regierungserklärungauch auf den EU-Konvent eingegangen. Die PDS begrüßtes, dass Europa hier aus seinem Schattendasein heraus-kommt. Ich finde, es soll aber nicht nur, wie der Bundes-kanzler heute gesagt hat, ein Europa der Bürger, sondernauch der Bürgerinnen werden. Dazu gehört auch, dass zureuropäischen Verfassung 2004 eine Volksabstimmungstattfindet.Danke schön.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
Wir kommen nun zu den Bereichen Europa, Außen- und
Sicherheitspolitik, Entwicklungspolitik und Menschen-
rechte.
Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen,
Joseph Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn wirhier heute über die Zukunft der Außen- und Sicherheits-politik sprechen, dann handelt es sich, wie ich denke, umeine der ganz großen Herausforderungen, mit denen wirin den kommenden vier Jahren konfrontiert werden. WirPetra Pau
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Bundesminister Joseph Fischerhaben es dabei auf der Grundlage der Kontinuität deut-scher Außen- und Sicherheitspolitik einerseits mit derFortsetzung der großen Linien, auf denen die Außenpoli-tik unseres Landes basiert, zu tun; andererseits müssenwir uns den neuen Herausforderungen, vor allen Dingenaber auch den neuen Bedrohungen stellen.Lassen Sie mich zu Beginn meiner Rede Folgendes un-terstreichen: Für die deutsche Außen- und Sicherheits-politik ist es konstitutiv, dass die großen Grundlinien fort-geführt werden. Das bedeutet die Einbindung unseresLandes in den europäischen Integrationsprozess, der inden vor uns liegenden zwei Jahren in der Tat vor großenHerausforderungen steht, die Einbindung in das Transat-lantische Bündnis sowie die Pflege des Verhältnisseszu den Vereinigten Staaten von Amerika und unser aufder historisch-moralischen Verantwortung für unsereGeschichte gründendes Sonderverhältnis zu Israel. Dassind die drei wesentlichen Grundlinien, die die deutscheAußen- und Sicherheitspolitik, aber auch unsere Interes-senlage bestimmen.Gleichzeitig haben wir es seit dem 11. September letz-ten Jahres mit einer Situation zu tun, in der wir in der Tatvor einer neuen strategischen Bedrohung unserer Sicher-heit stehen, nämlich dem internationalen Terrorismus. Zu-erst und vor allen Dingen möchte ich Ihr Augenmerk da-rauf lenken, dass diese Bedrohung nicht von selbst wiederverschwinden wird. Diese Bedrohung bedarf gewiss einerfesten und, wo es notwendig ist, auch militärischen, poli-zeilichen und geheimdienstlichen Antwort; denn den Ter-rorismus wird man nicht durch Gespräche besiegen kön-nen. Das gilt vor allem für den neuen Totalitarismus,nämlich den islamistischen Terrorismus eines OsamaBin Laden, der den Massenmord, den Tod zum Programmfür sich erhoben hat. Diesen wird man niederkämpfen undbesiegen müssen.Gleichzeitig können wir erkennen, dass bei dieser Ge-fahr vier Elemente verknüpft werden. Wenn diese zusam-mentreffen, bedeutet dies in der Tat eine strategische Be-drohung, die man nicht unterschätzen darf. Ich möchtedies vor allen Dingen am pakistanisch-indischen Konfliktfestmachen, weil wir dort diese neue strategische Bedro-hung sehr klar erkennen können:Der Konflikt um Kaschmir ist exemplarisch für diezukünftige Sicherheitsbedrohung. Bei diesem finden wirdas Element des religiösen Konfliktes; in der europä-ischen Geistesgeschichte und politischen Geschichte gabes dieses im 16. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Reli-gionskriege. Wir finden das Element der nationalistischenKonfrontation zwischen Nachbarn, also ein Element ausdem 19. und frühen 20. Jahrhundert. Wir finden das Ele-ment der Nuklearisierung, der Massenvernichtungsmittel,also ein Element aus der Mitte des 20. Jahrhunderts.Schließlich finden wir ein Element aus dem beginnenden21. Jahrhundert, nämlich den Terrorismus.Das ist die neue Herausforderung, mit der wir es zu tunhaben. Ich habe hier den indisch-pakistanischen Konflikterwähnt. Die Spur führt direkt zu einem Regionalkonflikt,der seit der Gründung von Indien und Pakistan nichtgelöst wurde, nämlich zu dem Konflikt um Kaschmir.Damit komme ich nicht nur zur Frage, wie wir dieserterroristischen Gefahr in unserer großen Nachbarregionzwischen dem Atlantik und dem Pazifik, der arabisch-islamischen Welt, begegnen können, sondern gleichzeitigauch zu einer Antwort. Diese Antwort muss aus drei Ele-menten bestehen:Erstens. Dem Terrorismus muss mit den notwendigenMachtmitteln aktiv entgegengetreten werden. DieseMachtmittel sind aber in den wenigsten Fällen militäri-scher Natur; sie sind im Wesentlichen polizeilicher undgeheimdienstlicher Natur und gründen auf Ermitt-lungstätigkeiten, die gleichzeitig eine internationale Alli-anz notwendig machen.Zweitens müssen Regionalkonflikte gelöst werden.Die Regionalkonflikte bergen in sich die große Gefahr,dass sie eskalieren. Diese politische Lösung von Regio-nalkonflikten ist die entscheidende Voraussetzung, umden Nährboden für Terrorismus trockenzulegen.Drittens. Im Wesentlichen sind es junge Gesellschaf-ten. Diesen müssen wir nicht nur in einem geistigen Dia-log begegnen, sondern wir müssen ihnen auch eine kultu-relle und geistige Antwort sowie eine ökonomische undpolitische Perspektive geben. Auf eine umfassende Si-cherheitsbedrohung müssen wir mit einer umfassendenSicherheitsantwort reagieren. Dialog heißt für mich, dasswir nicht nur freundliche Dinge sagen, sondern dass wirauf den Punkt kommen: Lässt sich etwa die Konventionder Menschenrechte mit der Scharia vereinbaren? DieseFrage führt zum Kern des Problems.
Wenn das alles richtig ist und wenn das die Gefahrensind, wenn es also richtig ist, dass der Status quo am11. September so erschüttert wurde, dass wir nicht mehrmit ihm leben können, wenn es richtig ist, dass die Lösungvon Regionalkonflikten dabei eine essenzielle Vorausset-zung ist, und wenn es richtig ist, dass wir verhindern müs-sen, dass Massenvernichtungsmittel in die Hände vonTerroristen geraten, dann – darin liegt die Differenz zurEinschätzung in den USA– frage ich mich allerdings, umes ganz diplomatisch zu formulieren, ob die Prioritäten-setzung bezüglich des Irak tatsächlich Sinn macht. Ichkomme nämlich zu völlig anderen Konsequenzen.
Das ist meine große Sorge, die ich der amerikanischenSeite im Übrigen nicht erst während des Bundestagswahl-kampfs, sondern bereits während meines ersten Besuchsnach dem 11. September, nämlich am 19. September,mitgeteilt habe. Ich bin nicht der Meinung und glaubenicht daran – unter Partnern muss man das offen aus-sprechen –, dass diese Prioritätensetzung mit Blick aufdas gemeinsam erkannte Bedrohungsszenario richtig ist.Das ist der entscheidende Punkt.
– Doch, das ist die Kernfrage.
– Reden Sie sich nicht mit den UN heraus, so wichtig dasauch ist. Aber wir müssen Acht geben, dass unsere gute
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Absicht am Ende keine falschen Konsequenzen nach sichzieht, die die Terrorismusgefahr vergrößern könnten.
Wir haben es mit einer gefährlichen Region zu tun, beider ich mir, Herr Kollege Gerhardt, nicht sicher bin, ob dieMehrheit im amerikanischen Kongress und die Mehr-heit des amerikanischen Volkes wirklich bereit sind – dieUSA haben die nötigen Mittel, dort einzugreifen –, dortüber Jahre oder vielleicht sogar Jahrzehnte auszuharren,um nach einem Regimewechsel eine neue Nation aufzu-bauen. Die Konsequenzen, die in dieser Region eintretenwürden, wenn die USA nicht dauerhaft vor Ort blieben,möchte ich Ihnen nicht ausmalen. – Das sind unsereGründe. Darüber werden wir morgen zum wiederholtenMale mit unseren amerikanischen Partnern sprechen.Unser Verständnis von Partnerschaft ist, dass mandann, wenn es Differenzen gibt, diese unter frei gewähl-ten, demokratischen Regierungen offen anspricht. Das hatnichts mit einem Gang nach Canossa zu tun. Wir habenein anderes Verständnis von Bündnis.
Die zweite große Herausforderung, vor der wir stehen,ist Europa. Die Erweiterung wird konkret. Bei allem, wasman am letzten Gipfel im Einzelnen kritisieren mag,bleibt es doch eine Tatsache, dass die Tür definitiv geöff-net wurde. Das heißt, wir werden in Kopenhagen darüberentscheiden, zehn neue Mitglieder aufzunehmen. Das istein historischer Schritt, an dem nicht nur diese Bundesre-gierung, sondern gerade auch die Vorgängerregierung ge-arbeitet hat, insbesondere der heute dem Haus nicht mehrangehörende damalige Bundeskanzler Helmut Kohl, denich deshalb, weil er sich hierbei bleibende Verdienste er-worben hat, noch einmal erwähnen möchte. Wir vergebenuns überhaupt nichts, wenn wir an diesen Kontinuitätenfesthalten.Für mich aber ist entscheidend, dass damit ein histori-scher Schritt zum Zusammenführen Europas stattfindet,wie es ihn in der Neuzeit noch nicht gegeben hat. Wennder Gründungskonsens der war, ein Europa zu schaffen,in dem Nationalismus keine Chance mehr hat, dann istdieser Schritt, der jetzt in Kopenhagen gemacht wird, einkonsequenter Schritt.
Dies aber macht notwendig, dass wir die EU der 25 undmehr neu gründen. Diese Neugründung findet im Verfas-sungskonvent statt. Dieser Verfassungskonvent geht aufeine Initiative dieser Bundesregierung zurück. Dazu kannich nur sagen: Der Vorschlag, den gestern Giscard alsRahmen gemacht hat, ist ein Vorschlag, der wirklich alleDiskussionen und eine vorurteilsfreie Prüfung verdient.Seien wir doch ehrlich: Hätten wir vor zwei Jahren ge-dacht, dass wir heute in der Europäischen Union nicht nuram Vorabend der Erweiterung um zehn neue Mitglied-staaten stehen, sondern gleichzeitig auch die erste Grob-struktur einer europäischen Verfassung auf dem Tisch ha-ben? – Keiner von Ihnen. Das meine ich gar nicht partei-politisch, Frau Kollegin Merkel. Es wurde gefordert. Aberwir haben es gemacht.
– Ich habe den Konvent nicht gewollt?
Sie meinen also, ich hätte den Konvent nicht gewollt. Ichdachte, der Privatmann Fischer habe eine Rede an derHumboldt-Universität gehalten, die zum Konvent geführthabe.
Diese Initiative haben wir als Bundesregierung gemacht.Ich streite mich gerne mit Ihnen, aber doch nicht überDinge, die selbstverständlich sind.
Wir brauchen diese Neugründung Europas. Ich möchtenicht in die Details gehen. Aber für uns – der Bundes-kanzler hat das heute in seiner Rede gesagt – ist ganz ent-scheidend: Im institutionellen Dreieck müssen Kommis-sion, Europäisches Parlament und Rat, wenn es zuFortentwicklungen kommt – und es muss zu Fortentwick-lungen kommen –, gleichgewichtig sein. Was wir nichtwollen, ist ein Rückfall in die Intergouvernementalisie-rung. Das heißt für uns ganz klar: Wir wollen eine Stär-kung der Kommission und eine Klärung der Verantwort-lichkeiten zwischen nationaler und integrierter Ebene.Auch wollen wir in diesem Rahmen eine Stärkung des Eu-ropäischen Parlaments. Das ist für uns Grundlage unsererArbeit. Daran werden wir die anderen Vorschläge ent-sprechend messen.
Ganz entscheidend wird es aber darauf ankommen,dass wir in diesem Bereich einen deutsch-französischenKonsens erzielen. Wenn er erreicht wird – daran arbeitenwir; das hat das letzte Zusammentreffen des EuropäischenRates gezeigt –, dann wird diese europäische Zukunft inder Tat gestaltet werden können, und zwar nicht unterAusschluss, sondern unter Einbeziehung der anderen Mit-gliedstaaten.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich aus aktuellemAnlass eine Frage kurz im Zusammenhang mit Russlandund Tschetschenien ansprechen. Jeder, der meint, er habedafür eine einfache Antwort, irrt. Ich kann nur davor war-nen, die territoriale Integrität der Russischen Föderationinfrage zu stellen. Ich meine zwar nicht, dass dies jemandtut; aber wir haben es schließlich mit einer separatisti-schen Bewegung zu tun.Bundesminister Joseph Fischer
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Bundesminister Joseph FischerWas ein weiteres Aufbrechen der Russischen Födera-tion hinsichtlich der Entstehung von Gewalt und Instabi-lität hieße, muss ich nicht weiter ausführen. Umgekehrtaber entwickelt sich Russland hin zur Demokratie. DieMenschen in Tschetschenien sind russische Bürgerinnenund Bürger und haben Menschenrechte. Diese Men-schenrechte müssen in einer Demokratie beachtet werden.Das ist für mich der entscheidende Punkt.
Ich warne jedoch vor den tschetschenischen Terroristen– mir liegen entsprechende Informationen vor; ein Teil da-von ist auch dem einen oder anderen Kollegen bekannt –,die ebenfalls grausamste Menschenrechtsverletzungen be-gehen. Wenn aber Russland ein demokratischer Rechtsstaatist, dann muss er die Grundlagen demokratischer Rechts-staatlichkeit auch und gerade gegenüber unbescholtenenBürgerinnen und Bürgern, gegenüber den russischenStaatsbürgern der Russischen Föderation in Tschetschenienzum Tragen bringen. Deswegen befinden wir uns in derschwierigen Situation, einerseits Russland als Partner zuhaben und diese Partnerschaft fortzuentwickeln, anderer-seits aber der russischen Seite zu vermitteln, dass Demo-kratien auch unter schwierigsten Bedingungen an die eige-nen Grundregeln und Rechtsstaatsprinzipien gebundensind. Das macht unseren Umgang mit Tschetschenien bzw.mit der russischen Politik in Tschetschenien aus.Ich kann von dieser Stelle aus nur nochmals an die Ver-antwortlichen in Russland appellieren, endlich eine poli-tische Lösung herbeizuführen.
Wer die Geschichte des Kaukasus und Tschetschenienskennt, weiß, dass dort mit Gewalt letztendlich keine Lö-sung herbeizuführen ist, sondern dass sie nur zu immerweiteren Blutbädern führen würde. Deswegen ist eine po-litische Lösung notwendig.Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch einesansprechen. DieTürkei ist direkter Nachbar dieser Krisen-region. Sie ist auch direkter Nachbar der Region, über dieich vorhin gesprochen habe. Es ist abwegig zu meinen –wer unsere Position kennt, weiß, dass es abwegig ist –, wirwürden als überzeugte Europäer aus Gefälligkeit – deswe-gen spreche ich es an, Herr Kollege Schäuble; nehmen Siejedes Wort so, wie es es sage – zum jetzigen Zeitpunkt dieTür öffnen.Wir haben die in Helsinki gefassten Beschlüssenicht aus Gefälligkeit gegenüber den USA gefasst. Wennich in den USA bin – ich würde mich freuen, wenn anderedies genauso tun würden –, führe ich das immer an, um esden amerikanischen Gesprächspartnern zu verdeutlichen.Im Übrigen ist auch an die Kosten zu denken. Geradeder jüngst gefundene deutsch-französische Kompromissim Zusammenhang mit der Agrarpolitik zeigt, dass das al-les nicht kostenneutral zu bekommen ist. Das mache ichden amerikanischen Gesprächspartnern klar. Das ist sehrwichtig.
– Auf der einen Seite wird gesagt, der deutsch-französi-sche Motor solle laufen – ich frage Sie, was es zum Bei-spiel Helmut Kohl gekostet hat, diesen Motor immer amLaufen zu halten –, und auf der anderen Seite fragen Siejetzt: „Haben Sie das auch schon gemerkt?“ – So ist dasmit der Opposition. Sie müssen sich aber entscheiden.
Ich komme zu einem anderen Punkt. Hinsichtlich derTürkei haben wir möglicherweise eine Kontroverse, nichtaber in der Frage, ob wir eine Gefälligkeitsentscheidungzugunsten der USA treffen. Wir haben keine Gefälligkeitzu erbringen. Wir sind gute Partner in der OperationEnduring Freedom im Kampf gegen den Terror. Wir sinduns einig in der Umsetzung der einschlägigen Resolutio-nen des Sicherheitsrats im Zusammenhang mit dem Irak.Wir sind uns nicht einig in der Bewertung einer Militärak-tion. In dieser Frage sind wir unterschiedlicher Meinungund wir werden uns an einer Militäraktion nicht beteiligen.Aber die EU-Mitgliedschaft der Türkei ist eine völligandere Frage. Ich frage die Union umgekehrt: Sie wissenso gut wie ich, Herr Schäuble, dass Sie, wenn Sie der Tür-kei die Tür zur Mitgliedschaft verschließen, damit für diezivilen Kräfte in der Türkei und für die Modernisierer seitKemal Atatürk die Tür schließen; denn Modernisierung inder Türkei bedeutet Orientierung an Europa. Wir wissen,dass die Türkei ein schwieriger Partner ist und dass sieheute die Kopenhagener Kriterien noch nicht erfüllt. Ichbin mir auch nicht sicher, ob die Türkei dann, wenn sie ei-nes Tages diese Kriterien erfüllt, bereit sein wird, denSouveränitätsverzicht zu leisten, den eine Vollmitglied-schaft in der Europäischen Union bedeutet und der not-wendig ist, um in der Europäischen Union voll integriertzu sein. Aber in einem bin ich mir sicher: Wenn wir das,was Sie wollen, machen würden, dann würden sich dieNationalisten und die Islamisten in der Türkei die Händereiben. Das wäre das Ende der Modernisierung. Darinbin ich mir sicher. Das und nichts anderes macht unserePosition und die des Bundeskanzlers aus.
Ich bestreite überhaupt nicht – niemand tut das –, dasses sich bei der Türkei um einen schwierigen Partner han-delt. Aber die Schwierigkeiten mit der Türkei wird mannicht durch Wegsehen oder durch einfache Antworten be-seitigen können. Denn wenn meine Analyse der strategi-schen Bedrohung Europas und damit auch unseres Landesdurch den islamistischen Terrorismus richtig ist, dannstellt sich die Frage: Gelingt eine laizistische, also weltli-che, Modernisierung der Türkei, eines der größten islami-schen Länder, auf demokratischer und rechtsstaatlicherGrundlage? Diese Frage ist wichtiger als viele Diskussio-nen, die wir gegenwärtig im Zusammenhang mit militäri-schen Optionen bezüglich eines anderen Landes führen;denn wenn es gelänge, die Türkei zu modernisieren, dannhieße das, eine Antwort auf die Frage nach der strategi-schen Sicherheit der gesamten Region zu geben.
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Für diese Politik steht die jetzige Bundesregierung in derAußen- und Sicherheitspolitik.Ich kann Ihnen nur versichern: Gründend auf den Kon-tinuitäten, die wir vorgefunden haben, werden wir uns denneuen Herausforderungen stellen und dafür sorgen, dassDeutschland seinen Beitrag in einem zusammenwachsen-den Europa, aber auch in einem sich verändernden, ge-stärkten atlantischen Bündnis leisten wird.Ich danke Ihnen.
Nächster Redner ist Dr. Wolfgang Schäuble, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Herr Bundesaußenminister, Sie sind geübt, wenn es da-rum geht, von den eigentlichen Problemen abzulenken.
– Darauf komme ich noch zu sprechen. Lassen Sie michwenigstens zwei Sätze im Zusammenhang sagen, bevorSie dazwischenrufen.Das eigentliche Problem ist doch nicht, dass man nichtdarüber reden kann, welches die angemessene Antwortauf die terroristische Bedrohung ist, dass man mit denVereinigten Staaten von Amerika nicht darüber redenkann, welches die richtige Politik ist, und dass es unter-schiedliche Meinungen gibt. Sie entwerfen ja ein Zerrbildvon den Vereinigten Staaten von Amerika. Das eigentlicheProblem der letzten Monate ist doch vielmehr Folgendesgewesen – ich lese Ihnen einmal vor, was Kleine-Brockhoff und Thumann in der Ausgabe der „Zeit“, die inder Woche nach der Bundestagswahl erschienen ist, unterder Überschrift „Das Gift der Gerd-Show“ geschrieben ha-ben; die Autoren sind auch sicherlich keine Kettenhunde –:Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepu-blik hat eine große Volkspartei Wahlkampf mit ker-nig antiamerikanischen Parolen geführt. Zum erstenMal seit 1945 hat ein Bundeskanzler amerikanischePolitiker angegriffen und dafür auf den Marktplätzentosenden Beifall erhalten. Zum ersten Mal hat einedeutsche Ministerin den amerikanischen Präsidenten– wie verklausuliert auch immer – mit Adolf Hitlerverglichen.Das ist das Problem gewesen.
Es geht auch nicht um die Frage, ob der Irak die rich-tige Priorität ist. Darüber kann man diskutieren. Das Pro-blem ist vielmehr, dass wir, wenn wir den Gefahren des21. Jahrhunderts, denen wir durch neue Formen der Be-drohung ausgesetzt sind – asymmetrische Kriegs-führung und Terrorismus klingen in meinen Ohren wieeine halbe Privatveranstaltung; die asymmetrischeKriegsführung ist angesichts der Tatsache, dass sich allesmiteinander vermischt, viel komplizierter geworden –,begegnen wollen, unsere Bemühungen um die interna-tionale Solidarität, und zwar sowohl um die atlantischeals auch um die europäische, verstärken müssen. Daraufsind wir auf Gedeih und Verderb angewiesen. Deswegengeht es nicht um Meinungsfreiheit – die braucht mangegenüber den Amerikanern nicht zu verteidigen –, son-dern um europäische Geschlossenheit, atlantische Soli-darität und die Handlungsfähigkeit der Vereinten Natio-nen. Diese haben Sie schwer geschädigt und das war derFehler.
Daran können Sie nicht vorbeireden.In vielem sind wir ja gar nicht unterschiedlicher Mei-nung. Über die Einzelheiten wird man in den kommen-den Jahren weiter diskutieren. In den Diskussionen wirdes darum gehen, wie wir ein großes und starkes, einhandlungsfähiges, ein effizienteres Europa zustandebringen, wie wir die Rolle Europas in globaler Verant-wortung, in atlantischer Partnerschaft stärken, sodasseuropäisches Engagement keine Alternative zu atlanti-scher Solidarität ist, weil wir die atlantische Partner-schaft nur wirkungskräftig erhalten werden, wenn dasUngleichgewicht zwischen dem amerikanischen Teilund dem europäischen Teil nicht immer größer wird,wenn die Europäer einen stärkeren Beitrag leisten, mehrmit einer Stimme sprechen, mehr Fähigkeiten haben.Das alles ist richtig. Aber in den letzten Monaten habenSie Europa in der entscheidenden Frage handlungsun-fähig gemacht, indem Sie Europa durch Ihren Allein-gang blockiert haben.
Es geht nicht um unterschiedliche Meinungen. Die Christ-lich-Demokratische Union, CDU und CSU haben in die-sem Wahlkampf vom ersten Tag an gesagt: Wir tretendafür ein – das ist nicht die Position aller Amerikaner –,dass wir nur auf der Grundlage von Beschlüssen der Ver-einten Nationen und nur im Rahmen von Beschlüssen derVereinten Nationen handeln. Aber Sie haben gesagt: Wasimmer auch die Vereinten Nationen beschließen, wir je-denfalls werden uns nicht beteiligen.
Das war der Alleingang, die Isolierung Deutschlands, unddas war ein Fehler.
Dafür zahlen wir einen erheblichen Preis.Zunächst einmal haben Sie im Wahlkampf natürlichIhre eigenen Anhänger getäuscht. Wir werden das nochsehen, Fortsetzung folgt in diesem Theater. Das MandatEnduring Freedom wird zum 15. November verlängertwerden müssen. Dann wird Ihr Verharmlosungsmanöver,für das es sehr gute Gründe gibt, aber man muss es so nen-nen, deutlich werden. Es täuscht die Menschen in unse-rem Lande über den Ernst der Lage. Wenn Sie von Af-ghanistan reden, sprechen Sie immer nur von demBeitrag, den die Bundeswehr aufgrund der Beschlüsse,Bundesminister Joseph Fischer
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Dr. Wolfgang Schäubledie auf dem Petersberg gefasst wurden, leistet. Sie redenüberhaupt nicht über den Beitrag, den die Soldaten derBundeswehr – KSK heißt die Einheit – im Rahmen desMandats von Enduring Freedom leisten. Sie tun so, alswären Sicherheitspolitik und Kampf gegen den Terroris-mus nur eine Art von Friedensarbeit und polizeilicherTätigkeit. Nein, es ist ein hochgefährlicher Beitrag, dendie Soldaten der Bundeswehr leisten.
Das muss ausgesprochen werden, sonst wird der Dank un-ehrlich. Wir unterstützen den Dank und haben großenRespekt, aber wir sind dagegen, die Bevölkerung über diewirkliche Bedrohung und die wirklichen Gefahren zu täu-schen.
Mit dem, was Sie zum Problem Tschetschenien gesagthaben, stimmen wir weitgehend überein. Das ist ja über-haupt in vielem so, Herr Bundesaußenminister. Sie habendie lange Linie der Kontinuität deutscher Außen- und Si-cherheitspolitik erwähnt, die von Konrad Adenauer bisHelmut Kohl gut gewesen ist. Wir haben Sie in der ver-gangenen Legislaturperiode in den Grundfragen vonAußen- und Sicherheitspolitik mehr unterstützt als dieRegierungsparteien. Sie konnten sich auf die Oppositioneher verlassen als auf Ihre eigenen Reihen. Das ist dochdie Wahrheit.
Aber Sie haben diese Gemeinsamkeit im Wahlkampf ein-seitig verraten. Auch das ist die Wahrheit. Wenn Sie zudieser Gemeinsamkeit zurückkehren, werden wir unsereVerantwortung weiterhin wahrnehmen. Aber es bleibt da-bei, dass Sie aus reinen Wahlkampfinteressen die Grund-linien, die Verantwortung, die Kontinuität deutscherAußen- und Sicherheitspolitik in diesem Wahlkampf ver-raten haben. Dafür zahlen wir einen hohen Preis.Zum Thema Tschetschenien gehört für mich schon,dass man sagt: Es braucht politische Lösungen und Russ-land muss auf dem Weg zum Westen und zur Demokratiediese Anforderungen für sich gelten lassen. Man mussübrigens hinzufügen: Solch schreckliche Erfahrungen wiedie der letzten Tage machen uns im Westen gelegentlichein bisschen weniger selbstsicher. Wir müssen vielleichterkennen, dass wir Fragen, die wir bei Problemen an an-dere stellen, gelegentlich mit den Augen anderer sehenund auch für uns gelten lassen müssen. Wir brauchen alsoin jedem Fall politische Lösungen und repressive Maß-nahmen zugleich.Das andere muss aber auch klar sein: Was immer diepolitischen Konflikte auf dieser Welt sein mögen, es gehtnicht an, dass unschuldige unbeteiligte Menschen, ob imWorld Trade Center in New York oder im Theater in Mos-kau, von irgendwelchen Irregeleiteten getötet oder alsGeiseln genommen werden. Die Welt muss zusammen-stehen, um so etwas zu unterbinden.
Da darf es keine Alleingänge geben; denn damitschwächen wir die internationale Gemeinschaft, die Ge-meinschaft der zivilisierten Welt. Da lag Ihr Fehler.
– Sie schwächen die Vereinten Nationen, wenn Sie sagen:Was immer auch der Sicherheitsrat der Vereinten Natio-nen beschließt – wir machen jedenfalls nicht mit. Derdeutsche Weg, von dem der Außenminister jetzt nach derWahl sagt „Vergessen Sie es!“ – vor der Wahl hat der Bun-deskanzler den deutschen Weg gepredigt –, ist nichts an-deres als das Wiederaufleben des alten „Ohne mich“-Standpunkts aus der Frühzeit der BundesrepublikDeutschland.
Sie haben gefährliche Ressentiments angesprochen, HerrBundeskanzler. Sie werden dafür einen hohen Preis be-zahlen. Die Geister, die man ruft, wird man oft nicht wie-der los. Das ist nicht nur beim „Zauberlehrling“ so.
– Wir werden sehen. Der Herr stellvertretende Fraktions-vorsitzende Ströbele hat in der vergangenen Woche schonin einer bemerkenswerten Weise zwischen den einzelnenBundeswehreinsätzen unterschieden. All das wird uns be-gleiten.Ich will Ihnen zu dem Thema Türkei Folgendes sagen:Wir haben schon den Verdacht, dass die Veränderung derPosition, was die Mitgliedschaft der Türkei anbetrifft– das klang in den Äußerungen des Bundeskanzlers vorder Wahl ganz anders als in der letzten Woche –, ein Teildes Preises ist, den man bezahlen muss. Ich will Ihnendeshalb sagen, was unsere Meinung in Sachen Türkei warund noch immer ist.Wir haben ein großes Interesse daran, dass die Türkeiuntrennbarer Bestandteil des Westens bleibt.
– Natürlich, Frau Roth; da ist überhaupt kein Unterschied;ich stelle gerade unsere Position dar. Dass die Türkei in ei-ner möglichst engen Beziehung zu Europa bleiben soll, istvöllig unstreitig.Unsere Vorstellung von dem, was die EuropäischeUnion ist und noch werden soll, ist die einer handlungs-fähigen politischen Einheit auf der Grundlage gemeinsa-mer Identität; denn freiheitliche Organisation bekommtman nicht ohne eine hinreichende Grundlage an Identität,Zusammengehörigkeit und gemeinsamen Werten. UnsereVorstellung von der Europäischen Union – dazu gibt esunterschiedliche Meinungen in Deutschland und auch un-ter unseren Partnern in Europa – ist die einer politischenIdentität der Europäischen Union.
Das heißt dann aber auch, dass man genauer prüfenmuss, ob diese Europäische Union nicht auch Grenzenbraucht, ob man für solche Länder, die zum Teil zu Europa
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gehören, zum Teil aber eben auch nicht – Russland ist einsolches Land; Sie haben mich ausgelacht, als ich vor einpaar Jahren die Parallele gezogen habe; heute lacht nie-mand mehr –, in deren Interesse – auch die Türkei brauchtihre eigene Identität für ihre Stabilität und ihre Zukunfts-chancen – nicht besser eigene Formen der Zugehörigkeitzu Europa vereinbart. – Das ist unsere Position. Das istnicht Türzuschlagen, sondern das ist der bessere Weg.
Die Europäische Union und auch schon die Europä-ischen Gemeinschaften haben, wenn ich es richtig weiß,der Türkei seit 1964, also seit 38 Jahren – das waren nichtimmer Sie, Herr Bundeskanzler Schröder, und Ihre Re-gierung; es waren auch schon andere –, die Perspektiveeiner vollen Mitgliedschaft in der Europäischen Unionangeboten.
– Ja, 1964. So lang ist das her. – Deswegen sage ich: DieLösung, von der ich rede, können wir nicht der Türkeioktroyieren. Wir sollten offen und ehrlich und im Hin-blick auf das gemeinsame Ziel mit der Türkei darübersprechen, ob das nicht im gemeinsamen Interesse der bes-sere Weg ist. Das ist ehrlicher, als eine Debatte zu führen,bei der es im Grunde nur nach dem Motto geht: Jetzt istdie Bundesregierung dafür – in der Hoffnung, dass in Ko-penhagen genügend andere dagegen sein werden, damitnichts vorankommt. Die Türkei hat doch längst begriffen,dass ihr immer die Wurst hingehalten und dann wiederweggezogen wird. So darf man mit der Türkei nicht um-gehen.
Herr Bundeskanzler, ich glaube im Übrigen, dass überIhre Regierungserklärung schon deswegen wenig zu sa-gen ist, weil sie wenig enthalten hat. Ich habe mir immerwieder die Frage gestellt: Was machen Sie aus diesemnichts sagenden Koalitionsvertrag in Ihrer heutigenRegierungserklärung? Sie sind mit Ihrer Regierungser-klärung wirklich noch unter dem Niveau des Koalitions-vertrages geblieben.
Es war wirklich nichtssagend.Was überhaupt gefehlt hat – ich glaube, das wird wich-tiger werden –, war, den Menschen in unserem Lande zuerklären, wie wichtig es ist, dass wir außenpolitische Ver-antwortung, außenpolitische Interessen, sicherheitspoliti-sche Interessen und Risiken ernst nehmen. Wenn wir denMenschen einreden: „Wir haben so viele Probleme, dasswir uns nicht auch noch um andere kümmern können;denn wir haben mit uns selbst schon genug zu tun“, dannwerden wir die Reformkräfte in unserer Gesellschaft nichtstärken. Ein Volk, das zu Introvertiertheit neigt, weil esglaubt, es habe so viele eigene Sorgen, dass es sich nichtauch noch um die der anderen kümmern könne, und weiles glaubt, dass die Bedrohung nicht so groß werde, wennes sich in der Nische verstecke, wird eher Besitzständeverteidigen. Wir müssen aber mehr Besitzstände auf denPrüfstand stellen.Ich hätte mir deshalb in Ihrer Regierungserklärung einerealistische Bedrohungsanalyse gewünscht. Ich hätte mirgewünscht, dass Sie darstellen, worin deutsche Interessenund deutsche Verantwortung eigentlich bestehen und wasim Zusammenwirken zwischen Außenpolitik, Entwick-lungspolitik und Sicherheitspolitik notwendig ist, damitwir, unsere Kinder und unsere Enkel in sicherem Friedenleben können. Der jetzige Friede ist nämlich bedroht; derTerrorismus bedroht auch uns. Wir leisten nicht nur Soli-darität mit den Amerikanern – darauf weisen Sie zur Be-gründung von Enduring Freedom gelegentlich hin –, son-dern wir nehmen auch unsere eigenen Interessen, unsereeigene Verantwortung wahr. Das muss gesagt werden.
Sie werden ganz schnell erkennen, dass die Art, wie Siemit der Bundeswehr umgehen, völlig unverantwortlichist.
Auch das will ich Ihnen schon an dieser Stelle sagen. Ver-ehrter Herr Struck, als Sie Verteidigungsminister wurden,haben Sie erst einmal nur Wahlkampf gemacht. Ihre Ver-antwortung als Verteidigungsminister haben Sie erst nachder Wahl entdeckt. Sie werden die Probleme der Bundes-wehr noch nicht einmal im Ansatz lösen können, wennSie den Weg fortsetzen, der Bundeswehr immer mehrAufgaben aufzubürden, auch wenn Sie mittlerweile denWeizsäcker-Bericht, in dem von einer realistischen Be-drohungsanalyse die Rede war, entdeckt haben, was Siezumindest verbal zum Ausdruck bringen.Ein Preis, den wir für Ihre antiamerikanischen Entglei-sungen zahlen müssen, ist, dass Sie das deutsche Engage-ment in der afghanischen Hauptstadt, in Kabul, durchÜbernahme der Führung der internationalen Schutztruppestärken wollen. Das würde uns noch teurer zu stehen kom-men. Es stellt sich übrigens die Frage, worin, was die Si-cherheit anbetrifft, die höchste Priorität besteht.Sie haben kein Wort zum NATO-Gipfel in Prag ge-sagt. Was ist eigentlich mit dem amerikanischen Vor-schlag im Hinblick auf eine schnelle Eingreiftruppe? Wol-len Sie Deutschland – Frau Merkel hat Sie das gefragt –auch auf dem NATO-Gipfel in die Isolierung führen? Wasist eigentlich mit der Umsetzung des richtigen Beschlus-ses von Helsinki? Ich denke an die europäische Sicher-heitskomponente und die 60 000 Mann. Für nichts ist diefinanzielle Grundlage da.
Jetzt wird der Bundeswehr die halbe Milliarde Euro schonwieder entzogen, die ihr aufgrund der Steuererhöhungen,die Sie nach dem 11. September 2001 beschlossen haben,zukommen sollten. So wird die Bundeswehr ihre Aufga-ben nicht erfüllen können. So werden wir unserer Verant-wortung gegenüber den Soldaten und gegenüber der Zu-kunft zu wenig gerecht.
Dr. Wolfgang Schäuble
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Dr. Wolfgang SchäubleSie haben von den Leitlinien der deutschen Außen-politik gesprochen. Wir haben diese Leitlinien in den Jah-ren, in denen wir in der Opposition waren, mitgetragen.Wir werden das auch weiterhin tun. Diese Regierung hatim Zweifel ohne jede Verantwortung und gewissenlos dieInteressen der Bundesrepublik Deutschland den Wahl-kampfgesichtspunkten untergeordnet.
– So war der Wahlkampf. Ich könnte Ihnen stundenlangentsprechende Zitate vorlesen.
Wir werden die Alternative zu einer solchen Regierungsein, eine Alternative der Verlässlichkeit und der Bere-chenbarkeit. Wir haben in der Endphase der RegierungSchmidt gegen die Linke atlantisches Engagement undSolidarität vertreten. Die Menschen in unserem Landeund unsere Partner in der Welt können sich darauf verlas-sen, dass die CDU auch in der Endphase der RegierungSchröder die Alternative bleiben wird, die für Verlässlich-keit und Berechenbarkeit steht.
Das Wort hat der Kollege Gernot Erler, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In-ternationale Politik ist nicht mehr etwas Fernes, von derInnenpolitik Abgetrenntes. Internationale Politik hat Aus-wirkungen auf unser Alltagsleben, sie dringt regelrecht inunsere Lebenswelt ein. Das haben wir mehr als bishernach dem 11. September, bei den Vorgängen auf Djerba,in Bali und jetzt bei der Tragödie in Moskau erfahren.Dies hat uns gelehrt: Globalisierung spielt sich nicht nurauf den Finanzmärkten und in der Ökonomie ab; Globali-sierung heißt auch: Kein Konflikt auf dieser Welt ist mehrso fern, dass er uns unberührt lässt. Jeder Konflikt kommtin irgendeiner Weise bei uns an, kann unsere Sicherheitbeeinträchtigen, kann uns sogar zu einem anderen Lebenzwingen. Die Trennung von Innen- und Außenwelt wirdtendenziell gegenstandslos. Sie hebt sich von allein auf.In den nächsten vier Jahren wird viel davon abhängen,ob wir in unserem Denken und Handeln mit dieser Ent-wicklung Schritt halten. Herr Kollege Schäuble, es tut mirLeid, dies sagen zu müssen: Mit dem Auskippen einesZettelkastens, in dem nur die Schablonen des Wahlkampfsenthalten sind, werden Sie diesem Anspruch von Politikwirklich nicht gerecht.
Wir, die SPD-Bundestagsfraktion und die Koalition,werden uns der Aufgabe stellen, die Innovationsforderungüber die Gesellschaftspolitik hinaus auch für die interna-tionale Politik zu stellen, und zeigen, dass wir dieser He-rausforderung gerecht werden. Hier fangen wir nicht beiNull an. In den letzten Jahren hat es in Europa bereitswichtige Lernprozesse gegeben. So wissen wir, dass Eu-ropa in der Praxis eine Gemeinsame Außen- und Sicher-heitspolitik braucht und auch Instrumente, sowohl zivileals auch militärische, um diese Politik umzusetzen.Mit Trauer und Zorn blicken wir darauf zurück, dassEuropa nicht imstande war, in den der 90er-Jahren vierblutige Kriege auf europäischem Boden zu verhindern.Aber Europa hat die Kraft zu einer umfassenden Integra-tionsstrategie entwickelt: mit dem Instrument des Stabi-litätspakts für Südosteuropa und mit der Stabilisierungs-und Assoziierungsstrategie gegenüber den Ländern, diebisher nicht an dem europäischen Integrationsprozessteilgenommen haben. Im Fall Mazedoniens gelangschließlich erstmals die Verhinderung einer weiteren blu-tigen Katastrophe in unserer Nachbarschaft. Das war derErfolg einer Präventionspolitik, die primär auf Diplo-matie, auf Verhandlungen, aber ohne Ausschluss einer Si-cherheitskomponente, setzte. Wir haben in der letztenWoche darüber gesprochen.Herr Kollege Schäuble, wenn ich Sie noch einmal an-sprechen darf: Ich habe, ehrlich gesagt, nicht begriffen,warum letzte Woche vier Kollegen aus Ihren Reihen mitNein gestimmt und sich sechs der Stimme enthalten ha-ben, als es darum ging, diese wichtige und erfolgreicheMission fortzusetzen.
Mitten in den Erfolg einer regionalen Prävention, wiesie in Mazedonien stattgefunden hat, platzte dann der11. September 2001. Dies war ein Schock nicht nur we-gen der Zahl der Opfer, sondern auch, weil die bisherigenAntworten für diese Herausforderung neuer Dimensionenoffensichtlich ungeeignet waren. So waren die 13 Monatenach dem 11. September ein neuer, schwieriger Lernpro-zess für uns alle. Ich behaupte, dass sich bei der Beant-wortung der Herausforderungen der Nach-September-Welt allmählich so etwas wie ein europäisches Modellfür eine neue internationale Politik herausstellt, durch-aus in Parallele zu jenem europäischen Gesellschaftsmo-dell, von dem heute Vormittag der Bundeskanzler gespro-chen hat.Das Nachdenken über ein solches europäisches Modellermöglicht uns auch eine bessere Einordnung bestimmteraktueller Dissenspunkte in der internationalen Politik. Ichbin sicher, hinter dem internationalen Ringen darüber, obes richtig ist, jetzt mit militärischen Mitteln das RegimeSaddam Hussein zu beseitigen, steckt mehr als eine un-terschiedliche Bewertung in einer Einzelfrage. Hier gehtes letztlich um die Grundausrichtung der internationalenPolitik in der Nach-September-Welt. Dabei gibt es vieletransatlantische Gemeinsamkeiten – ich begrüße das –,aber eben auch einige besondere europäische Ansätze, fürdie wir werben und die es in unseren Augen wert sind, dis-kutiert zu werden. Ich sehe in diesem Zusammenhangfünf wichtige Komponenten des europäischen Modells:Als Erstes ist die Notwendigkeit der weiteren unmittel-barenVerfolgung derMitglieder von Terrornetzwerkenzu nennen. Es hat hier ja Erfolge gegeben, auch militäri-sche. Wir müssen aber feststellen: Die Netzwerke sind im-mer noch handlungsfähig. Wichtige Führer wie Bin Ladenund Mullah Omar sind immer noch nicht gefasst. Deswe-
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gen haben im europäischen Modell die Aufrechterhaltungund Stärkung der großen politischen Koalition gegen denTerrorismus höchste Priorität. Diese ist, Herr Schäuble,eben nicht nur eine transatlantische Veranstaltung, son-dern bezieht ihre Wirksamkeit gerade daraus, dass diegroße Mehrheit der arabischen und moslemisch geprägtenStaaten daran teilnimmt.
Es ist notwendig, die Arbeitsfähigkeit dieser großen Koa-lition zu erhalten. Weiterhin brauchen wir die Zusam-menarbeit der Polizei und der Dienste und auch militäri-sche Zusammenarbeit. Jede Gefährdung dieser Koalition,egal wodurch, gefährdet auch den Erfolg im Kampf gegenden internationalen Terrorismus.Die zweite Komponente, die ich hier nennen möchte,kann man mit dem Stichwort „Testfall Afghanistan“beschreiben. Afghanistan ist ein exemplarischer Fall.Afghanistan entscheidet darüber, ob wir bei den MenschenVertrauen gewinnen, die gegen Taliban und al-Qaida auf-gestanden sind.
Das deutsche Engagement in Form von humanitärerHilfe, beim Post-Taliban-Prozess in Form der Petersberg-Konferenz und jetzt vor Ort beim Wiederaufbau, beimBau von Schulen, bei der Schaffung von Voraussetzungenfür Gleichberechtigung, beim Bau einer Polizeiakademieund bei der dort schon angelaufenen Ausbildung von Po-lizisten, das finanzielle und militärische Engagement beiISAF – all das machen wir nicht planlos, sondern dahin-ter steckt die Überzeugung, dass wir diesen Testfall ge-winnen müssen. Dahinter steht die Einsicht, dass das rich-tig ist, was uns an dieser Stelle hier Kofi Annan, derGeneralsekretär der Vereinten Nationen, über nachhaltigeFriedensstrategien, über „sustainable peace“, gesagt hat.Afghanistan ist der Testfall. Deswegen hat es aus unsererSicht oberste Priorität, diese Mission zum Erfolg zuführen.
Die dritte Komponente besteht in der neuen Einsicht,welche Bedeutung regionalen Konflikten zukommt.Joschka Fischer hat hier schon über den Nahen Osten ge-sprochen. Bin Laden hat sich ja immer auf die Demütigungder Palästinenser bezogen, wenn er irgendeine Legi-timation für sein Handeln anführen wollte. Der Kaschmir-Konflikt ist erwähnt worden. Man könnte hinzufügen, dassuns in den letzten Tagen noch einmal in Erinnerung ge-bracht und deutlich gemacht worden ist, welche Gefahrenvon dem ungelösten Tschetschenien-Konflikt ausgehen.Aber all diese Konflikte sind doch nicht nur auf terroristi-sche Gewalt zurückzuführen, sondern aus ihnen gehenauch zu allem bereite terroristische Potenziale hervor.Deshalb muss es oberste Priorität in der internationalenPolitik sein, diese regionalen Konflikte zu analysieren undzu lösen. Es dürfen nicht neue Schauplätze eröffnet wer-den, sondern dort muss mit dem Kampf gegen den Terro-rismus angefangen werden.
Die vierte Komponente des europäischen Modellsstellt die Einsicht dar, welche bedeutende Rolle derregionalen Stabilität zukommt. In Amerika sind For-scher zu der Erkenntnis gekommen, dass „failing states“,„failed states“ und No-go-Areas – das heißt, das Ver-schwinden von staatlicher Autorität auf großen Teilen un-seres Globusses – die Privatisierung von Gewaltanwen-dung und Rechtlosigkeit zur Folge haben und im Grundegenommen die Voraussetzung für die Entwicklung vonTerrorismus darstellen. Deswegen ist ein solches Ver-schwinden von staatlicher Kontrolle schon aus sicher-heitspolitischen Gründen nicht hinnehmbar. Die Antwortmuss doch sein, dass wir uns mehr bei der Etablierung vonStabilitätsregimen engagieren. Wir haben unsere Erfah-rungen damit auf dem Balkan gemacht; ich habe den Sta-bilitätspakt schon angesprochen. Das Gleiche ist notwen-dig in der Region Afghanistan, in der Region Kaukasus,in Zentralasien und ganz besonders in Afrika. Wir habendoch nicht vergessen, was 1993 in Somalia passiert ist.„Restore Hope“ hieß die Mission dort. Dann, ganz plötz-lich, nach einigen Verlusten, zog sich nicht nur Amerika,sondern die ganze westliche Welt zurück. Heute ist dasgenau eine solche Region eines „failing state“ und wirwissen ganz genau, dass dort die gefährlichsten Entwick-lungen ablaufen. Deswegen wird ja auch darüber disku-tiert, dort militärisch zu intervenieren. Das zeigt, welcheBedeutung regionale Stabilitätsregime im Kampf gegenden Terrorismus haben.Schließlich die fünfte Komponente: Kampf um einegerechtere Weltordnung. Dort wo die Verteilung vonLebenschancen und materiellen Gütern zu Verbitterung,Demütigung und Marginalisierung führt, entstehen Bio-tope für Extremismus und Terrorismus. In der langen Li-nie bekommen Entwicklungspolitik und Entwicklungszu-sammenarbeit dadurch eine ganz andere Bedeutung. Siewerden zu einem zentralen Instrument der internationalenSicherheitspolitik. Das ist die Bedeutung auch der Festle-gung in unserem Regierungsprogramm auf die Fortset-zung der Antiarmutspolitik, der Entschuldungspolitik, derPolitik gegen Seuchen, besonders der Ausbreitung vonAids in Afrika, und der Festlegung auf das Ziel von0,33 Prozent bis zum Jahre 2006, die der Bundeskanzlerheute noch einmal bestätigt hat. Das wird die SPD-Bun-destagsfraktion wegen des genannten Zusammenhangssehr aufmerksam und sehr engagiert begleiten.
Das ist übrigens auch immer mehr europäische Politikund ein wesentliches Element dieses europäischen Mo-dells.Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese fünf Kompo-nenten weisen in der Tat einen Weg über vier Jahre hinaus,einen Weg, der uns von der regionalen Prävention zu derNotwendigkeit des Aufbaus einer globalen, strukturellenPrävention führen wird, und zwar im Sinne einer Ge-samtstrategie in der Nach-September-Welt. Das ist eingroßer Anspruch, ein großes Ziel. Man kann auch sagen:Das ist eine Vision. Aber am Anfang eines neuen vier-jährigen Auftrags ist wohl auch die Gelegenheit, einmalüber so etwas zu reden. Wann denn eigentlich sonst? Überdieses Politikmodell, über diese Gesamtstrategie wollenGernot Erler
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Gernot Erlerwir auch mit denen reden, die andere Modelle, andere Vi-sionen haben.Transatlantische Partnerschaft kann nicht heißen, dassder Schwächere irgendwann doch dem Stärkeren nach-gibt, ohne überzeugt zu sein. Transatlantische Partner-schaft kann nicht heißen, dass alle schon aufatmen, wennerwachsene Menschen mit anderen erwachsenen Men-schen erwachsen umgehen, indem sie sich, wenn sie sichbegegnen, wieder die Hand geben. Transatlantische Part-nerschaft, wenn sie den Anspruch auf Verantwortungs-partnerschaft überzeugend vorbringen will, heißt, dasswir über unterschiedliche Politikmodelle, unterschiedli-che Vorstellungen von einer stabilen und Sicherheit pro-duzierenden Weltordnung ernsthaft diskutieren vor demHintergrund beiderseitig pluralistischer Gesellschaften– das gilt zum Glück für Amerika wie auch für Europa –,und zwar mit dem Ziel, das, was Konsens ist, auszuwei-ten und zur Grundlage gemeinsamen Handelns zu ma-chen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege
Dr. Wolfgang Gerhardt, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! MeineFraktion und auch ich selbst diskutieren gerne über um-fassende Sicherheitsbegriffe und über die Traditionsliniendeutscher Außenpolitik. Wir teilen auch die Auffassung inBezug auf die detaillierte Schilderung der Elemente desKaschmir-Konflikts, die der Außenminister hier genannthat. Ich habe ferner Teilen der Rede des Kollegen Erlermit Vergnügen zugehört. Allerdings frage ich mich, wiesobei dieser Einschätzung und angesichts der Kompliziert-heit der internationalen Lage sowie der Notwendigkeit,die Situation umfassend zu beurteilen, ausgerechnet derdeutsche Bundeskanzler im Wahlkampf vom „deutschenWeg“ gesprochen hat. Das ist unbegreiflich.
Das ist auch intellektuell unbegreiflich. Was ist der„deutsche Weg“ angesichts der internationalen Zusam-menhänge, der Aufgaben der Nation-Bildung, der regio-nalen Sicherheitsstrukturen, die wir herausbilden müssen,sowie des Kommunikationsangebots, das die EuropäischeUnion anderen weltweit unterbreitet? Vom „deutschenWeg“ zu reden ist absurd. Eine Opposition, die ernst ge-nommen werden will, muss darauf zurückkommen. DieRede vom „deutschen Weg“, der vor der Wahl angeboten,auf Marktplätzen allen verkauft und vom Außenministerfünf Minuten nach der Wahl mit dem Hinweis „Forget it“wieder eingesackt wurde, ist der größte außen- undsicherheitspolitische Wahlbetrug, den sich eine Bundesre-gierung in der Geschichte des Landes je erlaubt hat.
Herr Kollege Erler und Herr Außenminister Fischer,wir wollen nicht um folgende Tatsache herumreden – wirwerden uns in den entsprechenden parlamentarischen De-batten ja wiedersehen –: Sie haben bis heute die Irak-Frage nicht abschließend und klar beantwortet.
Wenn Saddam Hussein am Ende Inspektoren nicht insLand lässt, wenn Beweise vorgelegt werden, dass er Mas-senvernichtungswaffen entwickelt, und wenn sich dieWeltgemeinschaft mit Sicherheitsratsbeschluss, also mitZustimmung Frankreichs, Russlands, Chinas und anderer,entschließt, dagegen vorzugehen und vorgehen zu müs-sen, um Menschen zu schützen, werden Sie eines Tagesgezwungen sein – das sage ich Ihnen voraus –, im deut-schen Parlament vorzutragen, dass wir doch nicht umhin-kommen – wenn wir schon nicht Soldaten entsenden –,Logistik und medizinische Hilfsmaßnahmen anzubieten.
Natürlich würden wir die Spürpanzer zum Schutz der ame-rikanischen Soldaten in Kuwait belassen. Sie wissen das.Sie wissen auch – das wussten Sie schon vor der Wahl –,dass Sie eines Tages ein solches Eingeständnis mögli-cherweise würden machen müssen. Mit dem, was Sie ge-tan haben, schädigen Sie die Glaubwürdigkeit der deut-schen Außenpolitik in einem unerträglich hohen Maß.Das muss einfach angesprochen werden.
Ein zweiter Sachverhalt. Herr Außenminister, natürlichfreuen wir uns alle, dass jetzt das Tor zu einem Akt derWiedervereinigung Europas aufgestoßen wird. Wir wis-sen, dass das nicht kostenlos zu haben ist. Ich möchte einkleines Plädoyer für ein Mindestmaß an Handwerkszeugin der Politik halten. Dass das deutsch-französische Ver-hältnis als europapolitischer Motor in den letzten Jahrengeradezu ausgefallen war, konnten Sie vor niemandemverbergen. Unterlassen Sie es daher bitte, die Tatsache alsGroßtat zu feiern, dass sich der Bundeskanzler bei demKompromiss zur Agrarpolitik mit dem französischenPräsidenten bei den realen Ausgaben und Obergrenzen ineiner Höhe von 6 Milliarden Euro – und das mit steigen-der Tendenz – vertan hat. Da hilft auch der Hinweis aufden Dolmetscher nicht. Damit können Sie Ihre Koaliti-onsvereinbarung zur Agrarpolitik vergessen. Die Umstel-lung wird nicht gelingen, weil sie nicht finanzierbar seinwird. Diese Vorgänge lassen schlicht und einfach das not-wendige Handwerkszeug vermissen. Sie gehen in ein Ge-spräch und verwechseln eine Summe von 6 Milliar-den Euro, eine Summe, die ab 2007 eine steigendeTendenz aufweisen wird.
Ich weise deshalb darauf hin, weil wir uns die Verbes-serung des deutsch-französischen Verhältnisses so nichtvorgestellt haben. Das ist ein äußeres Zeichen eines inne-ren Zustandes. Sie bereiten sich nicht mehr anständig aufsolche Gespräche vor. Sie nehmen sich zu wenig Zeit, mitden französischen Nachbarn zu sprechen.
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Wir haben das schon in der außenpolitischen Debatteerlebt, was den Irak betraf. Sie bereiten die Gipfel nichtvernünftig vor. Das ist nicht der erste Vorgang dieser Art.Der Berliner Gipfel sollte sich mit Finanzierungsfragenund der Gipfel von Nizza mit Entscheidungsabläufen undMehrheitsentscheidungen beschäftigen. Der Konventmuss nun die notwendigen Reparaturarbeiten überneh-men. Jetzt passiert es zum dritten Mal, dass europäischeEntscheidungen von Ihnen nicht in ausreichendem Maßevorbereitet wurden. Uns reicht es nicht, dass Sie uns vonweiten Reisen berichten, oder über internationale Zusam-menhänge der Außenpolitik informieren. Sie müssen daskleine Einmaleins auch umsetzen. In der Europapolitikverlangen wir dieses Mindestmaß.
Ein dritter Gesichtspunkt. Kollege Schäuble hat schondanach gefragt, wie man den Aufbau einer eigenen euro-päischen sicherheits- und verteidigungspolitischen Kapa-zität klar finanziert. Ich sage dazu ganz einfach: Das Min-destmaß ist, dass man seine Hausaufgaben macht. Dazumöchte ich Ihnen Ihre Koalitionsvereinbarung zur Bun-deswehr vorlesen:Aufgaben, Struktur, Ausrüstung und Mittel der Bun-deswehr werden wieder in ein ausgewogenes Ver-hältnis gebracht.Das Wort „wieder“ ist gut.
Dann heißt es später – diesen Satz hätten Sie sich spa-ren können –:Die mittelfristige Finanzplanung bleibt die Grund-lage für die Planungen der Bundeswehr.Das können Sie nicht miteinander in Einklang bringen.Ein weiterer Satz:Hierbei werden die Vorschläge ... der Weizsäcker-Kommission die Richtschnur bilden.Die waren es schon bisher nicht; denn es wurde gar nichtabgewartet, bis die Weizsäcker-Kommission einen Vor-schlag gemacht hat. Der damalige Bundesverteidigungs-minister Scharping hat ja eigene Vorschläge gemacht. Diewerden im Folgenden genannt. Sie schreiben:Nach der weitgehenden Umsetzung der im Jahr 2000eingeleiteten Bundeswehrreform ... muss erneutüberprüft werden, ob weitere Strukturanpassungenoder Änderungen bei der Wehrverfassung notwendigsind ...Selten ist ein solches Durcheinander in wenigen Sätzenhintereinander in eine Koalitionsvereinbarung geschrie-ben worden.
Nichts von alldem gilt. Sie machen Ihre Hausaufgabennicht. Sie finanzieren die Bundeswehr nicht, stehen abervor weit größeren Aufgaben als in der Vergangenheit. Siegeben keinen Hinweis auf einen deutschen Beitrag in Be-zug auf die Finanzierung.Wissen Sie, was die deutsche Außenpolitik immer aus-gezeichnet und damit auch stabil und verlässlich gemachthat? – Sie war glaubwürdig. Dies war sie zunächst beiKonrad Adenauer. Sie war in der großen Koalition unterKurt Georg Kiesinger, der als Vorsitzender des Auswärti-gen Ausschusses über viele Jahre Erfahrungen gesammelthatte, glaubwürdig. Auch in unserer Koalition unter WillyBrandt war sie glaubwürdig. Sie hatte klare Ziele. Da gabes auch Rückschläge; aber man wusste, worauf man hi-nauswollte. Auch unter Helmut Kohl war sie glaubwür-dig.Beim jetzigen Bundeskanzler vermisse ich jedesaußenpolitisch klare Prinzip.
Deshalb war die Regierungserklärung, wie sie war: Er istfür alles gut, aber dann geradezu für nichts. Mir ist die Be-liebigkeit der Außenpolitik in Deutschland ein Gräuel.Dagegen wehren wir uns.
Herr Außenminister Fischer, es geht doch nicht um dieFrage, wie wir die Türkei bewerten. Auch wir wissen,dass wir alle Anstrengungen unternehmen müssen, umdieses Land modernisierungsbereit zu halten, um alle eu-ropäischen Verbindungsstränge in die Türkei zu bewahrenund um die türkische Gesellschaft schrittweise in die Mo-derne zu führen – und dies nicht nur auf der Ebene der po-litischen, wirtschaftlichen und kulturellen Elite.Alle Erfahrungen, die wir seit den 60er-Jahren
mit der Türkei gemacht haben, beruhen auf falschen Ver-sprechungen, die in der Türkei immer wieder große Frus-trationen ausgelöst haben. Deshalb täte jede deutscheBundesregierung gut daran, nicht mit weiteren falschenVersprechungen auf den EU-Gipfel nach Kopenhagen amEnde dieses Jahres zu reisen.
Die Wahrheit ist, dass es nicht reicht, wenn die Türkei eineneue Verfassung und neue Gesetze beschließt. Entschei-dend ist die Gesellschaft, die hinter den Gesetzen stehtund die Verfassung lebt. Die geschriebene Verfassung al-lein reicht nicht aus.Es ist einfach wahr, dass die Türkei heute noch nichtfür einen Beitrittsprozess reif ist bzw. dafür, zu Beitritts-verhandlungen eingeladen zu werden. Wenn das so ist,dann muss man das auch sagen. Wenn man anders ver-fährt und meint, wir Deutsche seien aufgefordert, einenbesonderen Beitrag zu leisten, um die strategischen Inte-ressen unserer amerikanischen Verbündeten zu beachten,dann wird sich das für uns sehr nachteilig auswirken, weilwir alle wissen, dass ein Beitritt der Türkei in den nächs-ten Jahren nicht vollzogen werden kann. Die türkischeDr. Wolfgang Gerhardt
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Dr. Wolfgang GerhardtGesellschaft wird, auch durch das Votum Deutschlands,ein weiteres Mal enttäuscht werden. Damit wird der Tür-kei überhaupt nicht geholfen.Deshalb kommen wir an folgenden Kernpunkten nichtvorbei: Welche europäische Sicherheitspolitik machenwir wirklich? Wie finanzieren wir die Elemente der Ost-erweiterung tatsächlich? Welche ehrliche Antwort gebenwir der Türkei? Wie bringen wir das Verhältnis zwischenDeutschland und Amerika wieder in Ordnung? Und zual-lerletzt: Was macht der Bundeskanzler, wenn am Ende ei-nes Prozesses im Sicherheitsrat der Vereinten Nationenalle unsere Verbündeten, Großbritannien bzw. die übrigeEuropäische Union, nicht darum herumkommen, der Völ-kergemeinschaft ein Vorgehen gegenüber SaddamHussein, das auch Zwangsmittel einschließt, zu empfeh-len? Dann erneut zu sagen: „Daran nehmen wir nicht teil“schlägt allem ins Gesicht, was der Bundeskanzler selbst inder Regierungserklärung bezüglich unserer eigenenSicherheit vorgetragen hat. Wir können nicht nur immervon anderen Sicherheit für uns erwarten, wir müssenmanchmal auch unangenehme Konsequenzen ziehen, umSicherheit für alle mit anzubieten.
Wir werden uns in dieser Debatte wiedersehen; ichsage sie Ihnen fast schon voraus. Dann wird die deutscheÖffentlichkeit zur Kenntnis nehmen, dass alles Schall undRauch war, was vom Bundeskanzler im Wahlkampf ge-sagt worden ist. Darauf muss hier hingewiesen werden.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Angelica
Schwall-Düren, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute, zu Be-ginn der 15. Legislaturperiode, befindet sich die Europä-ische Union an einem entscheidenden Wendepunkt ihrerGeschichte. Die Einigung Europas und damit die endgül-tige Überwindung der künstlichen Teilung des Kontinentsals Folge des Zweiten Weltkrieges ist in greifbare Nähegerückt. Gleichzeitig stellt die aktuelle internationaleLage – dazu haben wir heute schon einiges gehört – dieEuropäische Union vor große neue Herausforderungennach innen und außen.Die EU ist heute der entscheidende Handlungsrahmenfür eine aktive und an demokratischen Grundwertenorientierte Gestaltung der Globalisierung. Nur im EU-Kontext kann es gelingen, die Herausforderungen derGlobalisierung für das europäische Gesellschafts- undSozialmodell erfolgreich zu meistern.
Drei große Aufgaben hat die EU in den kommendenJahren zu bewältigen: Sie muss auf dem Weg der europä-ischen Einigung voranschreiten, sie muss ihre Hand-lungsfähigkeit erhalten und erweitern und sie muss einEuropa der Bürger werden.Die Europäische Union ist ein einzigartiges Erfolgs-modell der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Hättenunsere Großeltern und Eltern je davon zu träumen gewagt,dass ein durch Hass, Krieg und Verbrechen gegen dieMenschlichkeit zerrissener Kontinent ein Modell der Ver-ständigung und Zusammenarbeit entwickeln kann, wie esmit der EU und ihren Vorläuferorganisationen gelungenist? Wir haben heute ein Modell der friedlichen und kon-struktiven Lösung von Interessenkonflikten, ein Modell,das zunächst den Gründungsmitgliedern und dann den imLaufe der Jahre hinzugekommenen Ländern Wachstum,Wohlstand und soziale Sicherheit beschert hat, ein Mo-dell, das keineswegs zu einer Nivellierung unserer Ge-sellschaften geführt, sondern den Reichtum der Unter-schiedlichkeit bewahrt hat, insbesondere auch diekulturelle Vielfalt.Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ist nun dieChance gegeben, Europas Wiedervereinigungsprozessweiter voranzubringen. Der Gipfel in Kopenhagen wirddie Entscheidung bringen, dass zehn Länder in die Euro-päische Union aufgenommen werden. Weitere können inder Zukunft dazukommen.Lassen Sie mich deshalb in diesem Zusammenhang aufdie Türkei zu sprechen kommen. Die in diesem Land an-gepackten Reformen, Herr Schäuble und Herr Gerhardt,belegen, dass die Heranführungsstrategie der Union ihreFrüchte trägt.
Deshalb macht es Sinn, dass der Türkei in Kopenhagenein weiteres positives Signal gegeben wird, dergestalt,dass das Land bei Fortführung des Reformprozesses inabsehbarer Zeit damit rechnen kann, ein Datum für denBeginn von Verhandlungen genannt zu bekommen.Meine Damen und Herren, wir alle wissen: Die EU-Osterweiterung stößt bei manchen Bürgerinnen und Bür-gern noch auf Vorbehalte. Was aber viel zu oft vergessenwird, sind die enormen Chancen, die mit der Erweiterungder Europäischen Union verbunden sind. Das ist einer-seits die weitere Ausdehnung des Raums des Rechts, derSicherheit und der Freiheit in Europa und das ist anderer-seits der zu erwartende Wohlstandsmehrwert, bei dem wirletztlich alle durch höhere Wachstumsraten und Einkom-men profitieren. Deutschland profitiert übrigens ganz be-sonders von der EU-Erweiterung. Diesen Prozess zu un-terstützen ist die erklärte Absicht der SPD-Fraktion.
Nicht erst die Aussicht, zehn weitere Länder in dieEuropäische Union aufnehmen zu können, hat deutlichgemacht, dass die Strukturen der EU optimiert werdenmüssen. Nur eine handlungsfähige Gemeinschaft wird inder Lage sein, die großen wirtschaftlichen, politischenund gesellschaftlichen Herausforderungen im Zeitalterder Globalisierung zu meistern.Ich nenne Ihnen nur die Stichworte Kosovo-Konflikt,11. September 2001, Hochwasserkatastrophe dieses Som-
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mers, hohe Arbeitslosigkeit in vielen europäischen Län-dern, Flüchtlingsproblematik und internationale Krimina-lität. Schon daran wird deutlich, dass wir eine gemein-schaftliche Politik in den Bereichen der Außen- undSicherheitspolitik, der Klimaschutzpolitik sowie der So-zial- und Rechtspolitik brauchen.Diese Herausforderungen sind aber mit den herge-brachten Gemeinschaftsmechanismen auf Dauer nicht zubewältigen. Deshalb haben die europäischen Staats- undRegierungschefs am 15. Dezember 2001 mit der Er-klärung von Laeken – nicht zuletzt als Ergebnis der ent-schiedenen Initiative der Bundesregierung – den Grund-stein für den umfassendsten und ambitioniertestenReformprozess seit Gründung der Europäischen Gemein-schaften gelegt.Für uns ist dabei besonders wichtig, dass erstmals inder Geschichte der europäischen Integration Parlamenta-rier aus den nationalen Parlamenten und dem Europä-ischen Parlament im Konvent von Anfang an maßgeblichan dem großen Reformprojekt einer europäischen Ver-fassung beteiligt sind. Wie ernst unser Bundeskanzlerdiese Arbeit nimmt, ergibt sich schon allein aus der Ent-sendung des Außenministers in den Konvent.Gestern nun hat der Präsident des europäischen Ver-fassungskonvents, Valéry Giscard d’Estaing, den erstenVerfassungsentwurf vorgelegt. Nun gilt es, mit diesemEntwurf zu arbeiten. Mit der Bundesregierung will dieFraktion darauf hinarbeiten, dass die Ausübung europä-ischer Macht demokratischer, transparenter und effizien-ter wird. Dabei müssen das Prinzip der Gewaltenteilungbesser durchgesetzt und die demokratische Verantwort-lichkeit auf europäischer Ebene erhöht werden. Diesschließt die Bindung der EU-Organe an die Charta derGrundrechte ein. Darüber gibt es inzwischen eine großeeuropäische Einigkeit.Die Reform der EU muss dazu beitragen, dass Europaeine Gemeinschaft der Bürger wird. Europa muss ein Ge-sicht bekommen. Europa muss mit Namen verbundenwerden. Aber eine entsprechende Konstruktion wie zumBeispiel die Einsetzung eines EU-Präsidenten darf nichtzu einer Schwächung der EU-Kommission oder des Par-laments führen. Vielmehr müssen die demokratische Le-gitimation gestärkt und die Transparenz der Entscheidun-gen erhöht werden.
Dazu ist eine Stärkung des EU-Parlaments unabdingbar.Gerade weil wir eine stärkere Vergemeinschaftung wol-len, muss das Europäische Parlament mehr Befugnissebekommen.Die Musik spielt mehr und mehr in Europa. Immermehr Politikfelder werden auf der europäischen Ebenevorgeprägt oder entschieden werden. Ich kann hier heutenur wenige davon ansprechen. Ich will beispielhaft denAnsatz der EU-Kommission nennen, die zweite Säule derAgrarpolitik für Maßnahmen der ländlichen Entwicklungzu stärken und eine integrierte ländliche Entwicklung vo-ranzubringen. Dies wird von uns ausdrücklich begrüßtund unterstützt.Durch die baldige Erweiterung der EuropäischenUnion werden politische Stabilität und wirtschaftlichesWachstum in weitere Länder Ost- und Mitteleuropas ex-portiert. Das europäische Sozialmodell muss dabei erhal-ten und ausgebaut werden. Die Europäische Union mussweiter an den in Lissabon vereinbarten Zielen zur Er-höhung der Beschäftigungsquote bis hin zur Vollbeschäf-tigung festhalten und Europa zu einer der wachstums-stärksten Regionen der Welt machen. Zur Erreichungdieses Zieles ist aber ein Gleichgewicht zwischen Wirt-schafts- und Sozialpolitik erforderlich.Günter Verheugen hat in Brüssel den Erweiterungspro-zess vorangebracht, Michaele Schreyer steht für die Fi-nanzierbarkeit der europäischen Aufgaben. Denn eine so-lide Haushaltspolitik ist nicht nur im nationalen Rahmennötig. Wenn man in Europa ein Gleichgewicht zwischenstarker Wirtschafts- und Sozialpolitik erreichen will, be-darf es einer soliden Finanzbasis.Mit großer Erleichterung ist deshalb in vielen Länderndie Nachricht aufgenommen worden, dass sich Bundes-kanzler Gerhard Schröder und Staatspräsident JacquesChirac auf eine Grundlage für die Finanzierung der EU-Agrarpolitik über das Jahr 2006 hinaus geeinigt haben.Die Interessenlage konnte dabei nicht unterschiedli-cher sein: Neumitglieder, zu denen das agrarpolitischwichtige Land Polen gehört, möchten die gleichen Leis-tungen bekommen, wie sie die Altmitglieder der EU er-halten. Länder wie Frankreich, die überdurchschnittlichvon den Direktzahlungen profitieren, möchten keine Re-duzierung der Leistungen hinnehmen. Nettozahler wieDeutschland wehren sich gegen eine Steigerung der Bei-tragslast.Deshalb möchte ich Bundeskanzler Schröder aus-drücklich dafür danken, dass er mit dem französischenStaatspräsidenten einen Kompromiss gefunden hat, derdas Beitrittsverfahren weiter voranbringt.
Herr Gerhardt, jeder weiß, dass Kompromisse dieEigenart haben, dass keine Seite ihre Position zu 100 Pro-zent durchsetzen kann.
Deshalb möchte ich die polnische Zeitung „Gazeta Wy-borcza“ zitieren, die das Ergebnis des Gipfeltreffens alseine „Lektion des europäischen Realismus“ charakteri-siert hat.Herr Gerhardt, deutsche und französische Politiker, derfranzösische Staatspräsident und der deutsche Bundes-kanzler treffen sich so häufig wie nie in der Geschichtezuvor.
Deshalb können wir davon ausgehen, dass der deutsch-französische Motor, wie in der Vergangenheit und wie esin diesem Augenblick bewiesen worden ist, auch in Zu-kunft gut funktionieren wird. In Kopenhagen kann jetztDr. Angelica Schwall-Düren
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Dr. Angelica Schwall-Dürender nächste entscheidende Schritt für die Erweiterung derEU vollzogen werden. Der Konvent wird bis Som-mer 2003 die entscheidende Vorarbeit für die Reform derInstitutionen leisten.Europa ist unsere Zukunft. Diese Zukunft ist gestaltbar.Europa hat keine andere Zukunft als die des Dialogs undder Einbindung in die europäische Aufklärung. Alles an-dere führt zur Destabilisierung. Die rot-grüne Koalitionpackt die vor uns liegenden Aufgaben für ein friedliches,soziales und nachhaltiges Europa an.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Peter Hintze, CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Wenn es eine Lehre aus der Geschichte des20. Jahrhunderts gibt, dann ist es die, dass Deutschlandjede Form eines deutschen Sonderweges schadet und dasses der europäische Weg ist, der unseren Interessen dient.
Der Bundesaußenminister ist erfreulicherweise nochunter uns. Wir haben heute auch eine neue Form des grü-nen Sonderweges kennen gelernt. Das ganze Plenum wargespannt auf die zwei klugen Kolleginnen, die die Grünenzu Fraktionssprecherinnen gewählt haben; aber HerrFischer hat beschlossen, alle Debattenbeiträge selber zuleisten. Ich hoffe im Interesse des Hauses, dass das in Zu-kunft nicht so weitergeht.
Für eine erfolgreiche Europapolitik gibt es zweiGrundregeln. Europa kommt voran, wenn Deutschlandund Frankreich zusammenwirken. Ich finde es gut – daswill ich in dieser Debatte zum Ausdruck bringen –, dasses gelungen ist, beim jüngsten Gipfel Deutschland undFrankreich zusammenzuführen, dass 13 Staaten der Euro-päischen Union diesem gemeinsamen Weg gefolgt sindund damit den Weg zur Erweiterung frei gemacht haben.Wir haben unser Versprechen gegenüber den jungen De-mokratien Mittel- und Osteuropas einlösen und damit denRaum wirtschaftlicher Prosperität und politischer Stabi-lität ausweiten können. Herr Außenminister, ich stehenicht an zu sagen, dass es gelungen ist, ein Stück der po-litischen Kontinuität zurückzugewinnen, die in den letz-ten Jahren verloren zu gehen drohte.Der Bundeskanzler ließ sich allerdings für eine Verein-barung feiern, die es so gar nicht gibt.
Der Außenminister hatte empört und nervös auf der Re-gierungsbank reagiert, als FDP-Fraktionsführer Gerhardtdarauf zu Recht hinwies. Es geht mir nicht nur um diese6 Milliarden Euro pro anno – das ergibt mit insgesamtüber 40 Milliarden Euro eine riesige Summe zusätzlichfür die nächste Finanzierungsperiode –, kläglich ist dochvielmehr, eine solche Verhandlungspanne auf die Dol-metscher zu schieben. Das ist die dämlichste Ausrede, dieich je in der europäischen Politik gehört habe.
– Jetzt bleiben Sie aber mal entspannt.
Das wäre aber noch hinnehmbar, wenn der von uns imErgebnis begrüßte Gipfel nicht lediglich die Steine ausdem Weg geräumt hätte, die nicht zuletzt von deutschenVerhandlungsfehlern beim Berliner Gipfel 1999 herrühren.Das, was wir jetzt mühsam repariert haben, ist durch Ver-handlungsfehler entstanden, die sich diese Bundesregie-rung in der Vergangenheit geleistet hat.
Ich bin geneigt, Sie trotz guter Freundschaft zu ihm ge-genüber dem Kollegen Pflüger in einem kleinen Punkt et-was in Schutz zu nehmen.
Es ist richtig, dass Sie bei den Arbeiten zur EuropäischenVerfassung zu denjenigen gehört haben, die unsere Ideenaufgegriffen und gesagt haben, dass hier die nationalenParlamentarier ranmüssten. Das haben wir im Europaaus-schuss immer gefordert. Sie haben das irgendwann zu Ih-rer eigenen Sache gemacht. Aber warum ist es denn zudiesem Konvent überhaupt gekommen? Doch deshalb,weil die Regierungen, auch diese Regierung, gescheitertsind und sich mit Nizza einen grandiosen Fehlschlag ge-leistet haben.
Man kann unter solcher Führung Europa nicht mehr denRegierungen überlassen. Das müssen – ich greife ein Wortvon Gerd Müller auf – wir Parlamentarier mit in die Handnehmen, damit es gut wird.
Die zweite Grundregel für ein Gelingen in Europa, ge-gen die Sie allerdings noch verstoßen, ist der faire Um-gang mit den kleinen Mitgliedstaaten. Es war immer dasdeutsche Erfolgsrezept, dass die Europapolitik nicht vonden Großen monopolisiert wurde, sondern dass dieGroßen und die Kleinen im fairen Miteinander Dinge re-gelten. Hier hat sich die Regierung schwer versündigt.Wenn nun also der Stabilitätspakt unter maßgeblicherBeteiligung Deutschlands zur Auflösung freigegebenwird, dann ist das ein Affront nicht zuletzt gegen die klei-nen Mitgliedstaaten, die unter großen Anstrengungen ihre
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Aufgaben gemacht haben und die die Stabilitätskriterien,die wir gefordert haben, eingehalten haben. Von diesenStabilitätskriterien sagen wir nun, sie seien nicht mehr sowichtig. Das ist ein Fehler dieser Bundesregierung, lieberHerr Fischer.
Es ist wichtig, dass die Staaten, die neu hinzukommenwerden und mit denen wir unser Schicksal teilen wollen,erkennen, dass hier Fairness herrscht. Da Sie etwaslächeln – ich möchte das harte Wort „grinsen“ vermeiden –,möchte ich Folgendes sagen: Es ist auch ein persönlicherFehler von Ihnen, Herr Fischer, dass Ungarn und Tsche-chien im Vertrag von Nizza weniger Sitze im Europä-ischen Parlament zugesprochen bekommen haben, alsihnen nach der Bevölkerungszahl zustehen. Wir von derUnion erwarten, dass diese Ungerechtigkeit bei den Bei-trittsverträgen korrigiert wird. Ungarn und Tschechienmüssen genauso fair behandelt werden wie Portugal, Bel-gien und andere Staaten in Westeuropa. Wir werden un-sere Zukunft nur dann gemeinsam bewältigen, wenn wirfair miteinander starten.
Friedbert Pflüger wird gleich in seinem Beitrag dasThema des Terrorismus genauer beleuchten. Aus euro-päischer Sicht will ich nur einen Punkt dazu sagen. Es istauffällig –, dies geht mir in der öffentlichen Kommentie-rung zu stark unter – dass die Terroristen gerade zu einemZeitpunkt in Moskau zuschlugen, in dem sich die politi-sche Führung in Russland klar an die Seite Europas undAmerikas stellte. Deswegen muss auch hier Klarheit herr-schen: Auf diesem Weg an der Seite Europas und Ameri-kas braucht auch Russland unsere Solidarität.
Uns allen fiel ein Stein vom Herzen, als die Ergebnissedes zweiten irischen Referendums bekannt wurden. Ichmöchte uns alle aber dazu auffordern, diese Reaktion inIrland ernst zu nehmen. Das Projekt Europa wird danngut, wenn es uns gelingt, die Bevölkerungen mitzuneh-men. Es ist nicht nur ein Projekt der politischen Führun-gen und der Regierungen und es ist auch nicht allein einProjekt der Parlamente. Es ist ein Projekt der Bevölke-rungen in Europa; wir wollen sie mitnehmen. Es ist aus-gesprochen wichtig, dass wir mit der Art und Weise, wiewir debattieren und öffentlich dafür eintreten, dokumen-tieren, dass wir auch die Menschen in unseren Ländernmitnehmen.
Dazu, dass die Bevölkerung mitgenommen werdenmuss, gehören auch einige neuralgische Themen. Ichkomme hier noch einmal auf das Thema Türkei zu spre-chen. Nachdem die Regierung ihre Absicht erklärt hat, dieeuropafreundlichen Kräfte in der Türkei zu unterstützen,was ja akzeptabel ist
– Frau Roth, ich möchte das entwickeln –, hat die Regie-rung eine ganze Reihe von Fehlern gemacht. Sie ist, ohnedass die entsprechenden Kriterien erfüllt waren, Schrittegegangen, die es gerade den europaorientierten Kräften inder Türkei schwerer machen, die Dinge, die wir in Europabrauchen, auch tatsächlich einzufordern.
Es ist ein schwerwiegender Fehler, wenn wir von denMenschenrechtskriterien und den politischen Kriterienabsehen. Wir werden den islamischen Fundamentalismusnicht dadurch eindämmen, dass wir die Kriterien herab-setzen. Liebe Freunde, meine Damen und Herren, nur einklares Festhalten an unserer Werteordnung kann unstatsächlich zum Erfolg führen.
Frau Merkel hat es heute Morgen kurz angesprochen;Sie haben mit Unverstand reagiert. Der Bundesaußenmi-nister weiß doch, dass der Oberstaatsanwalt in Ankara mitdem Vorwurf der Spionage und einer Strafandrohung vonacht bis 15 Jahren gegen Vertreter politischer Stiftungenermittelt. Das muss hier doch einmal ausgesprochen wer-den. Zu einem solchen Zeitpunkt, in dem die Erfüllungder klaren Kopenhagener Kriterien – übrigens nicht nurder politischen, sondern auch der wirtschaftlichen – inweiter Ferne liegt, kann man doch keinen Termin verge-ben. Es ist gerade einmal eineinhalb Jahre her, dass dieTürkei eine der größten Währungskrisen in der Ge-schichte Europas und Asiens hinter sich gebracht hat.Auch auf diese Fragen müssen wir achten. WolfgangSchäuble hat heute schon dazu gesprochen.Ich habe allerdings eine Theorie, die sich an die vonWolfgang Schäuble anschließt: Es ist nicht allein derBlick auf Amerika – es gibt außenpolitische Interessen;das ist zu verstehen –, sondern es ist möglicherweise auchder Blick auf die eigene, sich erweiternde Wählerschaft,die das europäische Interesse und die klaren Kriterienzurückstehen lassen.
Das halte ich für kein verantwortliches Handeln vonseitender Regierung. Sie haben das Interesse unseres Landesund das der Europäischen Union wahrzunehmen.
Dazu gehört die klare Einhaltung der Kriterien und derVerträge.
Lassen Sie mich zum Schluss noch kurz auf den Kon-vent und den Verfassungsvertrag kommen.
Die Regierung hat das bisher ja recht lieblos behandelt.Peter Glotz, ein kluger Mann, war selbst erstaunt, dass erPeter Hintze
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Peter Hintzebenannt wurde. Jetzt wurde er durch Herrn Fischer er-setzt. Wir hoffen, dass in das, was die Regierung in diesengroßen und wichtigen Fragen will, jetzt etwas mehr Klar-heit kommt. Der Kanzler ist nicht mehr da. Er hat aber vondiesem Pult aus angekündigt, er werde die Europa-zuständigkeit ins Kanzleramt holen. Allerdings erschöpftsich die ganze Geschichte in der Ernennung eines Grup-penleiters zum Abteilungsleiter. Das ist ein kleiner Teil-erfolg des Herrn Bundesaußenministers, der damals in derDebatte schon freundlich gelächelt hatte; der Kanzlerhätte mal genauer hinschauen sollen.Wichtiger ist jetzt aber, was in der Sache herauskommt.Ich will zwei Punkte nennen. Der Bundeskanzler hat jetztsein großes Interesse – so hat es der Regierungssprecherverkündet – an einem Präsidenten des Europäischen Ra-tes, der für mehrere Jahre gewählt wird, entdeckt. Dazukönnen wir nur sagen: Damit käme es zu einem Gegen-einander der Institutionen, was Europa bremsen und hem-men würde. Wir brauchen nicht mehr Institutionen. Wirbrauchen eine klare Abgrenzung zwischen den Institutio-nen. Das ist der erste Punkt.
Der zweite Punkt. Im Himmel herrscht mehr Freudeüber einen Sünder, der umkehrt, als über 99 Gerechte. DerBundesaußenminister hat gestern bei seinem Vortrag imKonvent Ziele vertreten, die wir lange gefordert haben:klare Kompetenzabgrenzung, klare Gewaltenteilung.Wenn Sie durch Ihre Arbeit und Ihr Tun beweisen, dassSie zu den Grundlinien, die Sie am Anfang Ihrer Rede be-schworen haben, zurückkehren wollen, dann können wirdas nur begrüßen.
Herr Kollege Hintze, Ihre Redezeit ist deutlich über-
schritten.
Meine Redezeit ist zu Ende. Es gäbe noch viel zu sa-
gen, zum Beispiel zur europäischen Sicherheits- und Ver-
teidigungspolitik. Kollege Schmidt und andere werden
das machen. Wir jedenfalls freuen uns auf spannende, kri-
tische und konstruktive Jahre. Dort, wo Sie gute Arbeit
leisten, werden Sie unsere Unterstützung haben. Dort, wo
Sie von dem abweichen, was Sie hier selbst proklamieren,
werden Sie uns kritisch erleben.
Schönen Dank.
Nächster Redner in der Debatte ist Rudolf Bindig,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Der Schutz und die Förderung der Menschenrechte sindauch in der 15. Legislaturperiode politische Leitlinie derKoalition. Dies gilt nach innen und nach außen. DaMenschenrechtspolitik eine Querschnittsaufgabe ist, istes nur konsequent, wenn Menschenrechte in der Koali-tionsvereinbarung in verschiedenen Politikfeldern ange-sprochen werden: in der Sozialpolitik, der Frauenpolitik,der Rechts- und Innenpolitik sowie an zahlreichen Stellenim Bereich der Außenpolitik, vor allem unter dem Stich-wort gerechte Globalisierung.In der letzten Legislaturperiode wurde der Politikbe-reich Menschenrechte mit der Bildung eines eigenständi-gen Ausschusses für Menschenrechte und humanitäreHilfe, der Schaffung der Stelle eines Menschenrechtsbe-auftragten im Auswärtigen Amt und der Einrichtung desDeutschen Instituts für Menschenrechte erheblich ge-stärkt. Die neuen Instrumente haben erfolgreich dazubeigetragen, dass menschenrechtliches Denken und Han-deln in Politik und Gesellschaft gefördert wurden.In dieser Legislaturperiode soll die Menschenrechts-politik weiter gefestigt und größtmögliche Kohärenz zwi-schen den einzelnen Politikbereichen hergestellt werden.Dies soll durch einen intensiven Austausch mit den imForum Menschenrechte zusammengeschlossenen Nicht-regierungsorganisationen geschehen. Die weitere Ver-rechtlichung der menschenrechtlichen Grundlagen der in-ternationalen Beziehungen ist uns ein wichtiges Anliegen.Deshalb wollen wir noch ausstehende Konventionen undZusatzprotokolle im Menschenrechtsbereich ratifizierensowie bestehende Vorbehalte und Einschränkungenzurücknehmen.Wir treten dafür ein, die Kontrollgremien der internatio-nalen Pakte zu stärken, um die völkerrechtlicheVerbindlichkeit und Wirksamkeit dieser Instrumente aus-zubauen. Wie schon in den letzten Jahren wollen wirden Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte inStraßburg stärken. Menschenrechtsverletzungen an Frauenund Kindern gehören leider immer noch zum weltweitenAlltag. Auf ihre Rechte wollen wir deshalb besonderes Au-genmerk legen. Weitere Schwerpunktthemen der Men-schenrechtspolitik der 15. Legislaturperiode werden diestärkere Beachtung wirtschaftlicher, sozialer und kulturel-ler Menschenrechte im Rahmen der Globalisierung sein.Die größte Herausforderung stellt sich für die Men-schenrechtspolitik dort, wo in Krisen-, Konflikt- undKriegssituationen die elementaren Menschenrechte ver-letzt und missachtet werden. Im Rahmen des größeren Eu-ropas ist dies zurzeit der Tschetschenien-Konflikt. Derrussisch-tschetschenische Konflikt war im Bewusstseinder Weltöffentlichkeit in letzter Zeit zurückgedrängt wor-den. Durch die brutale Geiselnahme durch tschetscheni-sche Terroristen und den tragischen Ausgang der Beendi-gung der Geiselnahme mit weit über hundert Opfernhaben sich die Tschetschenen gewissermaßen gewaltsamzurückgemeldet. Die Spirale der Gewalt im Tschetsche-nien-Konflikt hat sich um eine schreckliche Windungweitergedreht. Zu den täglichen Opfern auf allen Seiten inTschetschenien selbst kommen jetzt in Moskau die Opferder Geiselnahme im Rahmen der Beendigung dieses Ter-roraktes hinzu. Wer politische Ansätze finden will, umEinfluss darauf zu nehmen, wie die Spirale der Gewalt inTschetschenien durchbrochen werden kann, muss Be-
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zugsfelder, Ursachen und Hintergründe des Konfliktssorgfältig analysieren.
Einfache Muster einer undifferenzierten Anschuldi-gung entsprechen nicht der Lage. Weder die offizielle rus-sische Sprachregelung, dass es sich beim Tschetschenien-Konflikt allein um eine Ausprägung des internationalenTerrorismus handelt, wie er sich in New York und Baliausgetobt hat, noch die Erklärung auf der anderen Seite,dass es sich hauptsächlich um den Freiheitskampf einesunterdrückten Volkes handele, wird dem Problem auchnur annähernd gerecht. Schon die Auflistung der Akteureauf tschetschenischer Seite belegt dies. Da gibt es die inden Untergrund gedrängten Repräsentanten eines Iksche-ria ebenso wie Clanführer als Kriegsherren, organisierteKriminelle und religiös motivierte Terroristen mit Verbin-dungen zu weltweit operierenden Netzwerken.Wer alle diese Akteure pauschal als internationale Ter-roristen radikalislamistischer Prägung abstempelt, ver-baut sich politische Strategien zur Eindämmung und Lö-sung dieses Konflikts.
Hierbei muss man genau sein. Man kann nicht zwi-schen einem fürchterlichen Terrorismus, der völlig inak-zeptabel ist, und einem weniger fürchterlichen Terroris-mus, der vielleicht begründet sein kann, unterscheiden.Terrorismus ist und bleibt Terrorismus.
Wer ihn bekämpfen will, muss aber die verschiedenenHintergründe und Nährböden kennen, um wirksamagieren zu können.Der Tschetschenien-Konflikt reicht in seinen UrsachenJahrhunderte zurück und ist nach dem Zerfall der Sowjet-union und dem Entstehen der Russischen Föderationdurch das Streben der Tschechenen nach Unabhängigkeitin eine neue Dimension eingetreten. Es ist in erster Linieein lokaler bzw. regionaler Konflikt, den es schon langevor dem Entstehen des internationalen Terrorismus isla-misch-fundamentalistischer Ausprägung gab. Wenn ei-nige tschetschenische Akteure auch Verbindungslinien zuinternational operierenden terroristischen Netzwerken ha-ben, so rechtfertigt dies nicht, den Tschetschenien-Kon-flikt nur unter diesem Aspekt zu sehen.Radikaler islamischer Fanatismus ist nicht das allei-nige Motiv. Triebkraft vieler Tschetschenen, die nie strenggläubige Muslime waren und es auch heute nicht sind, istder Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben in ihrereigenständigen Kultur und Tradition.Fakt in Tschetschenien ist – dies muss die internatio-nale Gemeinschaft auf den Plan rufen –, dass der Tschet-schenien-Konflikt in Kürze in seinen vierten Winter gehtund weiterhin zahlreiche Opfer sowohl in der Zivilbevöl-kerung als auch bei russischen Sicherheitskräften fordert.Die Ereignisse der letzten Monate haben gezeigt, dasssich der Konflikt nicht mit Gewalt austreten lässt.
Deshalb müssen neue Initiativen ergriffen werden, um dierussische Regierung davon zu überzeugen, ohne Vorbe-dingungen Verhandlungen mit dem Ziel aufzunehmen,die Gewalt zu beenden und eine politische Lösung her-beizuführen.
Dabei müssen auf tschetschenischer Seite jene Perso-nen einbezogen werden, die von den Tschetschenen als le-gitime Sachwalter ihrer Anliegen angesehen werden. Ausmeiner Erfahrung im Rahmen des Europarates und ausvielen Gesprächen komme ich zu dem Schluss, dass dergewählte Präsident Tschetscheniens, Aslan Maschadow,eine so einflussreiche Person in der Region ist, dass esohne Verhandlungen keine politische Lösung geben wird.
Wenn es die Zielsetzung des Europarates ist, imgroßeuropäischen Rahmen ein Gebiet der Demokratie,der Geltung des Rechts und der Menschenrechte zu schaf-fen, so kann Europa nicht weiter akzeptieren, dass imTschetschenien-Konflikt täglich von allen Seiten dieMenschenrechte massiv verletzt werden. Nach dem Gei-seldrama scheint sich die russische Haltung sogar verhär-tet zu haben. Im Rahmen der Gemeinsamen Außen-und Sicherheitspolitik der EU, im Rahmen der OSZEund/oder im Rahmen des Europarates müssen die Regie-rungen – und zwar in der Tat die Regierungen und nichtnur die Parlamente dieser Institutionen – ihre Anstren-gungen intensivieren, Russland davon zu überzeugen,dass dieser Konflikt einer politischen Lösung bedarf.Auch Russland sollte aus seiner Interessenlage herausinternationale Mitwirkung bzw. Bemühungen – wie sollich es nennen? – akzeptieren. Je mehr die russische Staats-führung darauf beharrt, dass sie hauptsächlich bzw. aus-schließlich mit einer Form des internationalen Terroris-mus konfrontiert ist, desto mehr müsste sie eigentlichbereit sein, im Rahmen internationaler Zusammenarbeitdagegen vorzugehen. Umgekehrt gilt: Je mehr Russlanddarauf besteht, dass es sich weitgehend um eine innereAngelegenheit handelt, desto deutlicher bringt es damitzum Ausdruck, dass der Einfluss des internationalen Ter-rorismus eben doch geringer ist als behauptet. Faktischwird damit eingestanden, dass der Konflikt und das Ge-schehen in Tschetschenien in erheblichem Umfang auchregionale, nationalistische und historische Ursachen hat.Ein letzter Blick auf einen innenpolitischen Aspektdieses Problemkreises: Auch in Deutschland leben Tschet-schenen. Angesichts der Berichterstattung und der Ereig-nisse in der letzten Zeit ist die Gefahr groß, dass sie alle indie terroristische Ecke gestellt werden. Ich warne davor.
Viele von ihnen sind hier, weil sie vor den Übergriffenrussischer Sicherheitskräfte oder lokaler Banden geflüch-tet sind oder weil sie in Filtrationslagern gefoltert wordensind. Andere haben sich der russischen Armee entzogen,weil sie nicht auf die eigenen Leute schießen wollten.Rudolf Bindig
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Rudolf BindigDiese Menschen sind Opfer und keine Täter. In dieser an-gespannten Lage darf es keine ausländerrechtliche Rück-führung von Tschetschenen nach Russland geben. Aucheine inländische Fluchtalternative in Russland ist derzeitnicht gegeben.
Wir müssen uns immer wieder aufs Neue daran erin-nern, dass wir über dem Kampf gegen den Terrorismusnicht den Schutz der Menschenrechte sowie unsere huma-nitären Aufgaben in Deutschland vergessen.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Werner Hoyer,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Der Kollege Erler hat zu Beginn seiner Ausführungen ge-sagt, dass die internationale Politik nichts Fernes mehrsei, dass die klassische Trennung von Innen- und Außen-politik in unserem heutigen politischen Leben gar nichtmehr so aufrechtzuerhalten sei, wie es einmal gewesensei. Wir haben allerdings bisher in diesem Hohen Hause– das gilt für die gesamte Bundesrepublik Deutschland –eines vermieden, nämlich die internationale Politik, ins-besondere die Außenpolitik, nur noch zum Markt derInnenpolitik oder zur Funktionsgröße innenpolitischenTaktierens zu machen. Das hat sich durch die Bundes-tagswahl 2002 geändert. Das bedauere ich sehr.
Es gibt ein paar Konstanten deutscher Außenpolitikder letzten 50 Jahre, mit denen wir sehr gut gefahren sindund die bisher noch keine Bundesregierung infrage ge-stellt hatte, und zwar weder vorsätzlich noch fahrlässig.Die jetzige Bundesregierung hat es getan. Sie hat Kern-elemente des außenpolitischen Konsenses auf dem Wahl-kampfaltar geopfert. Dazu gehört unter anderem ein star-kes Engagement für den Multilateralismus, und zwarsowohl im Hinblick auf Systeme kooperativer Sicherheitwie die UNO und die OSZE als auch im Hinblick auf Sys-teme kollektiver Verteidigung wie die NATO. Das gilt erstrecht für die europäische Integration, die in den letztenJahrzehnten eine so große Blüte erreicht hat.Zu diesen Kernelementen gehören des Weiteren diekonsequente Entnationalisierung der Sicherheits- undVerteidigungspolitik durch tiefe Integration, das beson-dere Bemühen um das Vertrauen der kleineren Partner inden Verbünden, ein enges und vertrauensvolles Verhältniszu Frankreich als notwendige Bedingung für jeglichenFortschritt in der Europäischen Union und – last, but notleast – eine auf Vertrauen und gemeinsame Werte gegrün-dete Freundschaft mit den Vereinigten Staaten von Ame-rika. Manchmal sind diese Elemente gewiss nicht leichtauszubalancieren. Das erfordert im besten Sinne des Wor-tes Staatskunst. Genau daran hat es in den letzten Jahrenund vor allen Dingen in den letzten Monaten in dramati-scher Weise gefehlt.
Sonst stünde nicht die Glaubwürdigkeit unseresUN-Engagements in Zweifel. Sie steht aber in Zweifel,wenn der deutsche Bundeskanzler von vornherein mögli-che Sicherheitsratsresolutionen als für die deutschen Ent-scheidungen auf nationaler Ebene irrelevant erklärt. Sonstwürden unsere Partner nicht die Frage stellen, ob sich hin-ter dem Begriff des deutschen Weges nicht doch eine Re-nationalisierung der deutschen Sicherheits- und Verteidi-gungspolitik verbirgt. Sonst würden wir nicht mitVerblüffung und Empörung vor der Tatsache stehen, dassdas deutsch-französische wie das deutsch-amerikani-sche Verhältnis gleichermaßen einen historischen Tief-punkt erleben.Meine Damen und Herren, es gehört zum Imperativdeutscher Außenpolitik, dass sich eine Bundesregierungnie in eine Situation manövrieren darf, wo sie zwischenEuropa und den USA, zwischen transatlantischer Bin-dung und europäischer Integration, zwischen Washingtonund Paris wählen muss. Die Kollegen im britischen Un-terhaus und in der französischen Nationalversammlungwerden in der Frage, ob ihnen die NATO oder die EU, obdie transatlantische Bindung oder europäische Integrationwichtiger ist, zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen,aber sie werden klare Prioritäten ausdrücken. Wir Deut-schen dürfen es uns niemals leisten, uns überhaupt in eineSituation zu bringen, diese Frage beantworten zu müssen.Aber der Trick kann ja nicht darin bestehen bzw. dasProblem nicht dadurch als gelöst gelten, dass am Ende dasVerhältnis mit beiden Partnern gleichermaßen schlechtist. Genau das haben wir hier aber festzustellen. Deswe-gen ist der Befund der aktuellen Europa- und Außenpoli-tik fatal:
Die Verletzungen sind tief. Die Verletzungen, die insbe-sondere in den Vereinigten Staaten entstanden sind, nichtnur bei der Regierung, sondern auch bei den Menschen,werden in Deutschland nicht überschätzt, sondern nochgewaltig unterschätzt. Es wird unterschätzt, dass dasdeutsch-amerikanische Verhältnis immer auch eine ganzstarke emotionale Komponente gehabt hat, und das hatinsbesondere etwas mit dieser Stadt, mit Berlin, zu tun.Man macht einen Riesenfehler, wenn man das übersieht.Am schlimmsten war wahrscheinlich bei all diesenverbalen Entgleisungen, dass man unsere amerikanischenPartner in die Ecke von Abenteurern gerückt und diesenBegriff auch benutzt hat. Meine Damen und Herren, dasübersieht die ausgesprochen ernste und kontroverse De-batte, die in den Vereinigten Staaten zum Beispiel zurIrak-Frage geführt wird. Ich wünsche mir manchmal,auch in der Medienwelt in Deutschland würden wir einesolche kontroverse tief gehende Debatte führen, wie dasin den Vereinigten Staaten der Fall ist. Das hat tiefe Ver-wundung hinterlassen und das persönliche Verhältnisweitgehend zerstört. Ich fürchte, selbst wenn der Bundes-
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kanzler jetzt auf die Idee käme, wieder einmal dort anzu-rufen, er würde schon bei der Telefonzentrale scheitern.
Meine Damen und Herren, wir fangen an, Preise zuzahlen; das ist bereits gesagt worden. Selbst wenn es dieseominöse Liste im formalen Sinne nicht gibt, ist gleich-wohl klar: Die Bundesrepublik Deutschland wird auf an-deren Gebieten als auf denen, die jetzt im Wahlkampf dis-kutiert worden sind, Preise zahlen müssen. Das beginntmit der Irak-Frage – insbesondere in der Zeit nach einermöglichen Intervention –, setzt sich fort in der Frage derLead-Funktion in Afghanistan, die uns dort sehr, sehrlange binden kann, und gilt auch für die Türkei-Frage, aufdie verschiedene Kolleginnen und Kollegen hier einge-gangen sind.Meine Damen und Herren, in dieser Situation außenpo-litischer Irritationen schlimmster Art stehen wir vor demNATO-Gipfel in Prag. Dieser NATO-Gipfel in Prag isteben keineswegs in allererster Linie ein Erweiterungsgip-fel – die Entscheidungen sind im Wesentlichen abgefrüh-stückt –, sondern in Prag werden die Vereinigten Staatenversuchen, ihre militärstrategischen Neuorientierungen ei-nes Präventivschlages
und einer Abkehr vom unbedingten Gewaltmonopol derVereinten Nationen auch in der NATO durchzusetzen. DieAmerikaner stellen in dem Zusammenhang manche wohlberechtigte Frage, aber wir als Europäer und speziell alsDeutsche müssen uns fragen, ob wir uns eigentlich schonintellektuell in die Lage versetzt haben, auf diese Fragentatsächlich auch Antworten zu geben, und ob wir bereitsind, mit den Amerikanern über gemeinsame Antwortenzu debattieren. In Prag werden möglicherweise schonrecht weit gehende Festlegungen geschaffen. Die Bundes-regierung hat noch nicht einmal angefangen, das über-haupt intern zu durchdenken,
geschweige denn gemeinsam mit unseren Partnern inEuropa. Sie, Herr Kollege Struck, drohen die erforder-liche Strategiediskussion vollkommen zu verschlafen undlaufen Gefahr, unser Engagement mit KSK in Afghanistanvor unserer deutschen Bevölkerung verheimlichen zuwollen.
Meine Damen und Herren, mir graut jedenfalls vor derVorstellung, dass wir Europäer und vor allem wir Deut-schen in Prag den USA nur deshalb hinterherlaufen müs-sen, weil wir es uns nicht leisten können, unsere eigenenVorstellungen gegenüber Washington vorzubringen.Das Irritationspotenzial zwischen Europäern und Ame-rikanern ist gewaltig. Das beginnt bei der Zukunft derWTO und anderen Handelsfragen und reicht über den In-ternationalen Strafgerichtshof und die Raketenabwehr biszur Rolle der Vereinten Nationen. Vergleichbar schwierigwar nach meiner Einschätzung nur die Situation Ende der80er-Jahre, als wir über amerikanische Kurzstreckenatom-raketen in Europa und in Deutschland diskutiert haben.Bei allen, zum Teil riesigen Differenzen ist der Gesprächs-faden damals aber niemals abgerissen. Das wäre Hans-Dietrich Genscher oder Helmut Kohl niemals passiert.Heute ist das der Fall. Da nützt dann auch der Besuch desAußenministers nicht viel. Die Telefonleitung zwischendem Kanzleramt und dem Weißen Haus muss wieder her-gestellt werden.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Bundesminister der Verteidigung,
Dr. Peter Struck.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Erlauben Sie, dass ich zunächst auf den Beitragdes Kollegen Schäuble eingehe. Dieser Beitrag, Herr Kol-lege Schäuble, zeichnete sich durch eine Mischung vonHalbwahrheiten und Verdrehungen aus.
Das bin ich von Ihnen nicht anders gewohnt. Ich will dasauch belegen.Herr Kollege Schäuble, wenn Sie behaupten, die Dis-kussion über die Lead-Funktion bei ISAF, die wir begon-nen haben – wir werden das Parlament darum bitten, demRegierungsbeschluss zu folgen –, habe etwas mit demIrak zu tun, dann sagen Sie bewusst die Unwahrheit.Ich bin im Juli in einer Sondersitzung des DeutschenBundestages vereidigt worden.
– Hören Sie doch einmal zu, Herr Schäuble!
Am nächsten Tag bin ich in Kabul gewesen und habe dortmit den türkischen und den anderen Kollegen die Debattedarüber begonnen, wer denn wohl Nachfolgenation fürdie Türkei werden würde. Da war vom Irak überhauptnoch nicht die Rede. Es ist schon brutal, wie Sie hier ver-suchen, das in Zusammenhang mit einer militärischen In-tervention im Irak zu setzen. Das ist aber typisch für Sie.
Sie behaupten auch, wir würden nicht über die Arbeitder Kommandospezialkräfte informieren. Fragen Siedoch bitte einmal Ihre Kollegen, die im Verteidigungs-ausschuss Verantwortung getragen haben!
– Schütteln Sie nicht den Kopf!
Dr. Werner Hoyer
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Bundesminister Dr. Peter Struck– Ich ärgere mich darüber. Herr Schäuble sagt bewusst dieUnwahrheit oder er weiß nicht, wovon er redet.
Im Verteidigungsausschuss sitzen Kollegen, Herr Kol-lege Schäuble, denen ich genau berichtet habe, was diecirca 100 Soldaten der Kommandospezialkräfte in Afgha-nistan, in Kabul tun. Ich habe die Sprecherinnen und Spre-cher der Fraktionen darüber informiert und ich werde dasauch weiter tun. Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht,dass diese Soldaten eine höchst gefährliche Mission aus-üben. Aber ich stehe zu dieser Mission. Wir werden imZusammenhang mit der Entscheidung über die OperationEnduring Freedom auch wieder über den Einsatz dieserSoldaten zur Bekämpfung des internationalen Terroris-mus beschließen.Dann haben Sie gesagt, Herr Kollege Schäuble, ichmüsse mir 500 Millionen wegnehmen lassen und solle Ih-nen einmal darlegen, wie ich die Verteidigungsausgabenbestreiten wolle. Diese Zahl von 500 Millionen, HerrSchäuble, ist falsch. Sie unterstellen einfach etwas underklären: Damit kommen Sie nicht zurecht. – Wir werden– das garantiere ich Ihnen – die Haushaltsprobleme lösen.
Herr Kollege Schäuble, ich werde dem Parlament im Zu-sammenhang mit dem Haushalt 2003 und der mittelfristi-gen Finanzplanung genau das vorschlagen, was zur Um-setzung der Koalitionsvereinbarung notwendig ist, nämlicheine solide mittelfristige Finanzplanung. Natürlich werdeich manche Großprojekte auf den Prüfstand stellen. Es istüberhaupt gar keine Frage, dass wir uns überlegen müssen,ob die Situation, in der solche Großprojekte – zum Teil vorJahren, noch in der Verantwortung der Vorgängerregie-rung – beschlossen worden sind, heute noch so gegeben istund ob wir bestimmte Waffensysteme in diesem Umfangbrauchen. Das ist eine höchst vernünftige Entscheidung.Wir müssen uns doch an den neuen Aufgaben der Bundes-wehr und dürfen uns nicht an den Aufgaben der Bundes-wehr von vor zehn oder 20 Jahren ausrichten.
Nun noch ein Wort zu Ihnen, Herr Schäuble, und dannsoll es auch gut sein. Was Herr Stoiber im Wahlkampfzum Thema Irak gesagt hat, ging weit über das hinaus,was Sie uns gerade vorgeworfen haben.
Er hat über Überflugrechte und dergleichen geredet. Da-von wollen wir heute überhaupt nicht sprechen; sonstwürde es ganz bitter für Sie.Nun zum Kollegen Schmidt. Ich gratuliere Ihnen, HerrSchmidt, herzlich zu Ihrer neuen Funktion, die Sie in Ih-rer Arbeitsgruppe als Nachfolger von Paul Breuer wahr-nehmen,
und wünsche mir eine gute Zusammenarbeit mit Ihnen ge-nauso wie mit dem Kollegen Nachtwei, dem KollegenRainer Arnold und natürlich auch dem neuen Vorsitzen-den des Verteidigungsausschusses, Reinhold Robbe.
Das bedeutet übrigens auch, dass ich nicht nur die Mit-glieder des Verteidigungsausschusses, sondern sämtlicheAbgeordneten des Parlaments, die daran interessiert sind,zu erfahren, was unsere Soldatinnen und Soldaten beiihren schwierigen Auslandseinsätzen tun – über dieseEinsätze werden wir neu entscheiden müssen; im Kabinettwird in der nächsten Woche erneut über Enduring Free-dom entschieden; Mitte November wird im Parlament da-rüber abgestimmt; danach müssen wir im Zusammenhangmit Afghanistan über ISAF einen Beschluss fassen –,herzlich dazu einlade, sich mithilfe des Verteidigungsmi-nisteriums, mithilfe der Parlamentarischen Staatssekre-täre und mit meiner Hilfe vor Ort ein Bild von deren Ar-beit zu machen. Wenn das geschähe, dann würde vielesvon dem, was man nicht ganz genau weiß und was manmit bestimmten Verdächtigungen belegt, wirklich aus derWelt sein und würde jeder anerkennen: Das, was die deut-schen Soldaten dort tun, verdient höchsten Respekt undhöchste Anerkennung.
Herr Kollege Schmidt, in der „Windsheimer Zeitung“vom 25. Oktober 2002 haben Sie erklärt, Sie wären jetztSchattenminister der Verteidigung, wenn es in Deutsch-land so wie in England ein Schattenministerium gäbe.Wollen wir einmal sehen, ob mehr „Schatten“ oder mehr„Minister“ herauskommt. Wie gesagt, versuchen wir ein-mal, gut zusammenzuarbeiten.
Ich will angesichts der Kürze der Zeit, die für die heu-tige Diskussion über Verteidigung vereinbart worden ist,nur noch einige Anmerkungen machen. Herr KollegeHoyer, Sie haben sich zu Prag geäußert. Ich möchte wis-sen, wie Sie dazu kommen, die Behauptung aufzustellen,die Bundesregierung bereite sich auf Prag nicht vor.
Woher wissen Sie das eigentlich? Wir müssen unsere Vor-arbeiten zunächst einmal in der Regierung leisten. HerrKollege Hoyer, ich muss Sie nicht fragen, was ich da zurErweiterung der NATO vorschlagen werde. Dass es inPrag vor allen Dingen um die NATO-Erweiterung geht,das wissen Sie. Dass wir diesbezüglich, bis auf zwei Län-der, keine Probleme haben werden, das versteht sich vonselbst.Aber wir reden auch über die neuen Initiativen desNATO-Generalsekretärs und wir reden über eine Initia-tive meines Kollegen Rumsfeld, nämlich über die so ge-nannte NATO-Response-Force. Sie haben danach ge-fragt und ich will Ihnen Ihre Frage beantworten. DieInitiative von Donald Rumsfeld, eingebracht auf einerVerteidigungsministertagung in Warschau, an der, wieman allenthalben erfahren konnte, auch ich teilgenommenhabe, war überraschend. Donald Rumsfeld hat uns vorge-schlagen, eine NATO-Response-Force mit 21 000 Mann
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und einer Bereitschaftszeit von sieben Tagen zu installie-ren. Dieser Vorschlag von Rumsfeld ist aber noch nichtkonkretisiert worden. Die Konkretisierung erfolgt jetztpeu à peu.Herr Schäuble, darüber wird in Prag nicht entschiedenwerden. Das wäre auch nicht möglich, weil wir in der eu-ropäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik – Siehaben es selbst angesprochen – die so genannten Hel-sinki-Headline-Goals beschlossen haben, das heißt – daswissen auch Sie –: Wir wollen eine eigene europäischeEingreiftruppe installieren. Deutschland soll sich an einersolchen Truppe mit maximal 32 000 Soldaten beteiligen.Ich will Ihnen dazu nur Folgendes sagen: Ich halte es fürsehr vernünftig, dass man, bevor man auf eine Initiativeder Amerikaner eingeht, zunächst einmal prüft, ob das,was wir in der europäischen Sicherheitspolitik verabredethaben, kompatibel mit dem ist, was Donald Rumsfeld undandere wollen.
Herr Schäuble, da wägen wir noch ab. Vielleicht kön-nen wir uns in einem Punkte treffen: Es macht keinenSinn, zwei parallele Eingreiftruppen für nahezu den glei-chen Zweck mit jeweils einem deutschen Kontingent zuinstallieren. Das ist nicht machbar.Ich will noch etwas zu den internationalen Einsätzen,gerade zum ISAF-Mandat, dessen Verlängerung dem-nächst ansteht, sagen. Ich habe mich mit meinem nieder-ländischen Amtskollegen darauf geeinigt, dass wir dieLead-Funktion übernehmen. Ich will dem Parlament Fol-gendes nicht vorenthalten: Das wird bedeuten, dass dieAnzahl der deutschen Soldaten, die jetzt für ISAF in Ka-bul tätig sind, erhöht werden muss. Das hängt insbeson-dere damit zusammen, dass wir von der Türkei, der jetzi-gen Lead Nation, den Betrieb und die Bewachung desFlughafens in Kabul übernehmen müssen, was höchstpersonalintensiv ist. Die Übernahme der Lead-Funktionist sehr vernünftig: Deutschland ist das Land, das, wasAuslandseinsätze angeht, nach den Amerikanern weltweitdas größte Kontingent stellt.Zum Thema Deutschland/Amerika will ich Ihnennoch Folgendes sagen: Natürlich gibt es auf der anderenSeite Irritationen. Wir müssen uns nicht vorwerfen lassen,im Kampf gegen den internationalen Terrorismus oderbeim Aufbau Afghanistans nicht das Nötige getan zu ha-ben – ganz im Gegenteil, meine Damen und Herren.
Das wissen die Amerikaner auch.Es wird sich alles normalisieren, auch meine Begeg-nungen mit meinem amerikanischen Amtskollegen.
Das alles wird so laufen, dass Sie nachher sagen: Na wun-derbar, die Verhältnisse haben sich entwickelt.Ich möchte zum Schluss auf Folgendes hinweisen: Esgibt verteidigungspolitische Richtlinien, die aus demJahre 1992 stammen, vom Kollegen Rühe damals festge-legt. Das ist jetzt zehn Jahre her und in diesen zehn Jah-ren hat sich viel verändert. Wir haben fast 10 000 Solda-ten im Einsatz. Wir geben für den Auslandseinsatz derdeutschen Soldaten 1,7 Milliarden Euro aus. Vor vier Jah-ren waren es nur 170 Millionen. Natürlich gibt es aucheine andere Bedrohungsanalyse. Davon ist heute in dieserDebatte schon die Rede gewesen. Deshalb werde ich demParlament gegebenenfalls im März oder April nach Ab-schluss der Diskussion mit dem Generalinspekteur undden Inspekteuren der Teilstreitkräfte neue verteidigungs-politische Richtlinien vorlegen, die ich für das Haus erar-beiten will, weil ich glaube, dass sich die Bundeswehr aufeine andere Situation einstellen muss, als wir sie noch vorzehn Jahren hatten.Ich setze nicht nur auf eine freundliche Zusammenar-beit mit meiner eigenen Fraktion – davon gehe ich aus;das ist eine Selbstverständlichkeit – oder dem grünenPartner, sondern auch auf eine konstruktive Zusammenar-beit mit Ihnen von der CDU/CSU und der FDP.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian Schmidt.
Herr Verteidigungsminister, das Angebot der guten, derfairen Zusammenarbeit wiederhole ich gerne auch vonunserer Seite. Wir alle wissen, dass die Bundeswehr einOrganismus ist, der aus Menschen besteht, die zwar, wieman dem Löchel-Bericht und anderen Berichten entneh-men kann, langsam, aber nachhaltig das Vertrauen in ihrepolitische Führung verloren haben, dass sie aber unter derBereitschaft, ihr Leben einzusetzen, politische und mi-litärische Aufträge für uns erfüllen, bei denen sie nicht denEindruck haben sollten, hier werde über ihren Kopf hin-weg entschieden und eigentlich würden ihre Interessenüberhaupt nicht berücksichtigt.Heute Vormittag war bereits die Rede davon, dass in derRegierungserklärung darüber überhaupt kein Wort verlo-ren worden ist. Das finde ich bedauerlich. Es reicht ebennicht – um einen kleinen Nachtrag zu machen, HerrStruck –, zu Bier und großer Party etwa 50 000 Soldateneinzuladen und ihnen einen Dank abstatten zu wollen, dereigentlich nur camoufliert, dass man mit ihnen Wahlkampfmachen will. Die Soldaten haben nicht vergessen und wirhaben auch nicht vergessen, dass Sie versucht haben, dieBundeswehr parteipolitisch zu instrumentalisieren. Dasdarf nicht durchgehen und darüber werden wir noch redenmüssen. Halbwahrheiten und Verdrehungen, die Sie ge-nannt haben, sind in keiner Weise geäußert worden.Natürlich ist das Thema: Die Not ist groß; wie kommenwir um die notwendigen Canossa-Gänge herum? HerrFischer ist jetzt gerade auf einem unterwegs. Wie kom-men wir wieder ins Gespräch mit den Amerikanern, diewir im eigenen Interesse brauchen? Was können wir ihnenBundesminister Dr. Peter Struck
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Christian Schmidt
anbieten, das so verpackt ist, dass die rot-grüne Koalitionund die ihr anhängenden Bürgerinnen und Bürger garnicht merken, dass wir etwas tun müssen, was wir eigent-lich nach eigenem Reden nicht tun wollen? Das ist übri-gens auch der Punkt, der heute früh angesprochen wordenist.Natürlich werden Sie zum Thema Irak mehr tun müs-sen und Sie wissen, dass Sie mehr tun müssen als das, waswährend des Wahlkampfes auf den Plätzen vom Bundes-kanzler dargelegt und von vielen anderen nachgesprochenworden ist. Machen Sie sich keine Sorgen: Wir werden beider Frage der Stationierung, vom Kanzlerkandidaten an-gefangen bis zu jedem einzelnen Mitglied der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, wenn es zur Entscheidung über dieFrage kommt, welche alliierten Streitkräfte unserenGrund und Boden benutzen dürfen, treu zum Bündnis ste-hen und verlässlich sein, so wie dies immer gewesen ist.
Ob das bei Ihnen der Fall sein wird, das weiß ich nicht.Irgendwie habe ich bei Ihrem Beitrag, Herr Struck, denEindruck gewonnen – darüber müssen wir wohl in einereigenen Debatte, die vor Prag stattfinden sollte, noch ein-mal reden –, dass Sie die Ernsthaftigkeit des Problems,dass es nämlich um die Zukunft der NATO geht – daswird nicht nur in Washington so gesehen –, nicht spüren.Sie haben übrigens die DCI-Initiative von 1999 etwas mitder nun von Rumsfeld vorgeschlagenen Response Forcevermischt. Dabei handelt es sich um ganz verschiedeneDinge. Sie können nicht die Headline Goals der ESVP inForm von 60 000 Soldaten, die 2003 einsatzbereit seinsollen, aber faktisch nur auf dem Papier stehen – GeneralSchubert wartet noch immer auf die Einsatzbereitschaftdieser Truppe –, realisieren und dann diese Einheiten denAmerikanern anbieten. Nein, Rumsfeld will doch dieProbe aufs Exempel machen.Hinter den 21 000 Soldaten, die Rumsfeld für die Res-ponse Force will, steckt doch – das wissen Sie genausogut wie ich – im Kern die politische Frage, ob die NATOals Bündnis noch in der Lage ist, militärisch an vordererFront im Antiterroreinsatz zu reagieren oder nicht. WennSie darauf mit der Antwort reagieren: „Sehr geehrter HerrRumsfeld, wir diskutieren gerade darüber, Herr Solanabastelt mit den Türken und den Griechen am Zustande-kommen einer europäischen Eingreiftruppe und schaut,ob das Berlin plus-Abkommen umgesetzt werden kann“,dann wird uns die NATO mittelfristig um die Ohren flie-gen.
Sie wird kaputtgehen, und zwar entgegen unserem eige-nen Interesse. Die Axiome der Außen- und Sicherheitspo-litik, dass das Bündnis des freien Westens ein Stabilitäts-anker ist und jetzt auch Verpflichtungen über die früherenBegrenzungen hinaus bestehen, gelten nämlich nach wievor. Das hat auch Senator Lugar 1993, wie ich glaube, beiseiner Rede im Budapester Parlament gesagt: NATO willgo out of area or out of business – die NATO muss sichengagieren oder sie wird aus dem Geschäft herausfallen.Es darf nicht dazu kommen – die Gefahr sehe ich –,dass die Sicherheitspolitik nachlässig auf der Basis einesLaisser-faire-Denkens behandelt wird. Aus diesem Desin-teresse könnte die Gefahr entstehen, dass wir so alleinedastehen, dass der Begriff vom deutschen Weg, mit demHerr Schröder gezündelt hat, auf einmal zur Realität wird,weil keiner mehr da ist, der mit uns Bündnisse schließenwill. Diese Frage steht auf der Tagesordnung, nichts an-deres.
Kommen wir noch einmal auf die Situation in Afgha-nistan zurück. Wir alle hier im Hause wissen – aber nichtjeder draußen unterscheidet genau –, dass es zum einendie Mission Enduring Freedom zur Terrorbekämpfunggibt, an der das KSK, das Kommando Spezialkräfte, mitcirca 100 Mann teilnimmt. Ich bedanke mich ausdrück-lich auch im Namen des Kollegen Breuer, dass Sie hierzuInformationen gegeben haben. In diesem Punkt unter-scheiden Sie sich sehr lobenswert von Ihrem Vorgänger.Von dem hätten wir nämlich überhaupt nichts erfahren. Inder nächsten Zeit ist aber nicht nur eine offene Informati-onspolitik über Enduring Freedom, sondern auch über dieProbleme, die sich bei der anderen Mission in Afghanis-tan, bei ISAF, deren Führung Sie der Bundeswehr anver-trauen wollen, ergeben, erforderlich.Wenn man in solch eine Sache mit mehr Engagementhineingeht, muss man auch wissen, wie man wieder he-rauskommt. Bisher war das gerade einmal einigermaßendarzustellen. Wenn aber die Amerikaner ihr Engagement,dessen Schwerpunkt bei der Operation Enduring Freedomliegt, in andere Wetterecken dieser Welt verlagern, danndarf es nicht dazu kommen – darüber müssen wir schonsehr intensiv reden –, dass Soldaten der deutschen Bun-deswehr und von Alliierten, die in und um Kabul stehen,im Falle einer Zunahme der Spannungen auf sich alleinegestellt sind.
Sie wissen sehr genau, warum ich das so sehr betone.Der letzten schriftlichen Unterrichtung des Parlamentsentnehme ich, dass es erst vor kurzem wieder eine ge-fährliche Situation gegeben hat, von der auch unsere Sol-daten hätten betroffen sein können. Gott sei Dank istnichts passiert und es wird sicherlich viel getan, um sol-che Gefahren zu verhindern. Sie sind aber nicht auszu-schließen und es ist zu befürchten, dass mit einer Expo-nierung der Bundeswehr die Gefahren auch für siesteigen. Das wird in Zusammenhang mit der Verlänge-rung von Enduring Freedom und von ISAF zu behandelnsein.Damit komme ich zu einem weiteren Punkt grundsätz-licher Art, den wir heute schon ansprechen sollten. DerKollege Schäuble hat das bereits dargelegt. In diesemPunkt herrscht bei uns die tiefste Enttäuschung über IhrenKoalitionsvertrag. Über die vielen Prosateile des Koali-tionsvertrages kann man hinweglesen, aber wir stellenauch fest, dass etwas nicht darin steht. Meiner Meinungnach hätten wir bei diesem Punkt im Rahmen eines kon-
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struktiven Dialogs feststellen können, was da getan wer-den muss. Bei dem Punkt handelt es sich um die innereund äußere Sicherheit als Ganzes. Ich habe noch in Er-innerung, wie Alterspräsident Schily zur Eröffnung der15. Wahlperiode des Deutschen Bundestages auf die in-soweit bestehenden Gefährdungen hingewiesen hat, undHerr Fischer hat gerade auch noch einmal Djerba und al-les andere heruntergebetet. Die Frage lautet, wie sich Ge-fährdungen, die vermeintlich die innere Sicherheit betref-fen, aber faktisch Angriffe von außen sind – Stichwort:asymmetrische Konflikte –, in einer Strukturreform derBundeswehr niederschlagen können. Davon haben wirnichts gehört bzw. gelesen.Wir sind gerne bereit, über diese Frage im Zusammen-hang mit den verteidigungspolitischen Leitlinien, die Sievorlegen wollen, zu sprechen, weil wir sie für sehr wich-tig halten. Wir wissen, dass hierbei viele Hindernisse zuüberwinden sind. Das geht bis hin zu der Frage, was an-gesichts der deutschen Tradition und der Geschichte derBundesrepublik Deutschland an Fragezeichen dahintersteht. Jedenfalls bin ich fest davon überzeugt, dass eineStrukturreform, wenn Sie sie jetzt wieder ansetzen, weildie erste nicht finanziert war und weil auch die zweitedrangegeben worden ist, nur eine Camouflage für nichtvorhandenes Geld und für Kürzungen ist, wenn Sie solcheFragen nicht anpacken. Ich sage hier ausdrücklich: Beidiesen Fragen, bei denen Sie natürlich in ganz entschei-dendem Maße auch die Länder brauchen, werden Sie aufeine kritische, konstruktive Arbeit und auf Initiativen vonuns rechnen können.
Wir werden Sie daran messen, wie Sie diese Initiativendann auch finanziell umzusetzen in der Lage sind.In der Koalitionsvereinbarung haben Sie sehr intensivauch Herrn von Weizsäcker genannt. Mit Genehmigungder Frau Präsidentin möchte ich aus der Koalitionsverein-barung kurz zitieren.
Ich muss Sie auf die abgelaufene Redezeit hinweisen.
Wenn es ein ganz kurzes Zitat ist, dann erlaube ich das.
Nur einen Satz aus der Nr. 256 – Ich zitiere –:
Für den Übergang
– der Reform, welcher Reform auch immer –
gangen werden.
Das wird das Dilemma Ihrer nächsten Jahre sein.
Ich hoffe, dass es nicht das Dilemma der Sicherheit
Deutschlands wird.
Für eine Kurzintervention erhält jetzt der Abgeordnete
Dr. Peter Struck das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu dieser
Kurzintervention hat mich der Beitrag des Kollegen
Schmidt veranlasst. Herr Schäuble hat das auch schon an-
gesprochen. Beide haben mir vorgeworfen, im Zusam-
menhang mit der Flutkatastrophe Wahlkampf gemacht
zu haben.
Ich möchte darauf hinweisen – das müsste eigentlich
auch Ihnen bekannt sein –, dass dieser Einsatz bei der
Flutkatastrophe an der Elbe der größte war, den die Bun-
deswehr je durchgeführt hat, und zwar höchst erfolgreich,
meine Damen und Herren. Das weiß man ja wohl.
Dass in einer solchen Situation der zuständige Minis-
ter bei den Soldaten sein muss, gehört sich auch.
Herr Kollege, was hätten Sie wohl gesagt, wenn ich nicht
dorthin gefahren wäre, sondern am Schreibtisch sitzen ge-
blieben wäre? Sie hätten gesagt, dass ich es noch nicht
einmal für nötig halte, meine Soldaten zu besuchen.
Nehmen Sie endlich diesen Unsinn aus der Welt!
Herr Kollege und Namensvetter Schmidt, Sie habenmal wieder nicht Recht. Ich habe es nicht nur akzeptiert,sondern eindeutig bejaht, dass der Einsatz der Bundes-wehr bei dieser Flutkatastrophe – wie auch bei anderenNaturkatastrophen – eine äußerst wichtige, lobenswerteund erfolgreiche Aktion war. Das ist überhaupt keineFrage. Wir brauchen nicht darüber zu streiten, dass derVerteidigungsminister vor Ort sein muss. Aber diesenPunkt habe ich nicht gemeint.
– Nein.Es stellt sich allerdings die Frage, was man aus demEinsatz der Bundeswehr macht. Dabei geht es zum einenum die Frage, wie die Feier für die Soldaten gestaltet wirdund wo sie stattfindet. Zum anderen geht es – da gibt eseinen mittelbaren Zusammenhang mit der Flutkatastro-phe; diesen Punkt habe ich gemeint – um die InitiativeChristian Schmidt
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Christian Schmidt
„Soldaten für Schröder“. Das war der eigentliche Sün-denfall.
Es geht um die Frage, wie man vor einer Wahl mit derBundeswehr umgeht. Sie haben kurz vor der Wahl denVersuch der SPD zugelassen – Herr Müntefering hat Siedarin unterstützt –, die Bundeswehrsoldaten vor denWahlkampfkarren zu spannen. Das muss schärfstens kri-tisiert werden; das darf es nicht geben. In diesem Punkthaben Sie die Fürsorgepflicht für Ihre Soldaten nicht rich-tig wahrgenommen. Bei dieser Einschätzung bleibe ich.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Winfried
Nachtwei.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Am Anfang dieser Legislaturperiode stehen wieder Ent-
scheidungen über Auslandseinsätze der Bundeswehr
an, genauso wie zu Beginn der vorherigen Legislaturperi-
ode, als es nämlich um die Androhung von Luftangriffen
gegen die Bundesrepublik Jugoslawien ging. Damals
– das wissen wir alle – war diese Entscheidung in diesem
Haus und in der Gesellschaft heiß umstritten. Damals war
die Befürchtung verbreitet, dass damit ein Präzedenzfall
im Hinblick auf das Verhältnis zu den Vereinten Nationen
geschaffen werde.
Diese Befürchtung hat sich nicht bewahrheitet. Wir ha-
ben uns bemüht, aus dem Kosovo-Konflikt und aus dem
Kosovo-Krieg die angemessenen friedens- und sicher-
heitspolitischen Lehren zu ziehen. Dies zeigt sich deutlich
zu Beginn dieser Legislaturperiode. Die Verlängerung des
Mazedonien-Mandats in der vorigen Woche stand – da-
rauf wurde ausdrücklich hingewiesen – im Kontext um-
fassender Politik einer wirksamen Krisenvorbeugung.
Die bevorstehenden Entscheidungen zur weiteren Betei-
ligung an Enduring Freedom und an der ISAF-Schutz-
truppe in Kabul sollen der Gewalteindämmung und Ge-
fahrenabwehr dienen.
In der Koalitionsvereinbarung stellen wir eindeutig
klar: Zweck von Kriseneinsätzen der Bundeswehr ist
nicht eine militärische Konfliktlösung; denn das wäre il-
lusionär. Ihr Zweck ist, zur Gewaltverhütung beizutragen
und Stabilisierungs- und Friedensprozesse dort zu unter-
stützen, wo zivile Beobachter und Vermittler, wo Poli-
zisten nicht mehr ausreichen. Der Rahmen von Kri-
seneinsätzen ist die Charta der Vereinten Nationen, ist das
Völkerrecht und eine Politik gemeinsamer und koopera-
tiver Sicherheit. Diese Grundhaltung kontrastiert mit Be-
strebungen, über eine „präventive Selbstverteidigung“
das allgemeine Gewaltverbot der UN-Charta zu unterlau-
fen. Die Absage der Bundesregierung an einen Krieg zum
Sturz des irakischen Regimes ist die logische Konsequenz
aus dieser Grundhaltung.
Die Bundeswehr soll wirksam und verantwortlich zur
internationalen Sicherheit beitragen können. Dafür ist zu-
mindest Folgendes unabdingbar: Friedenseinsätze und
Kriegsverhütung brauchen einen ausgewogenen Mix an
zivilen, polizeilichen, politischen und militärischen Fä-
higkeiten. Die rot-grüne Bundesregierung baut nun – so
steht es im Koalitionsvertrag – das in diesem Jahr ge-
gründete Zentrum für Internationale Friedenseinsätze
zu einer vollwertigen Entsendeorganisation aus. Das
heißt, wir bemühen uns, die zivilen Säulen von Friedens-
missionen der Vereinten Nationen, der OSZE usw. ent-
sprechend zu stärken.
Wir haben uns zum anderen vorgenommen, einen res-
sortübergreifenden Aktionsplan im Hinblick auf Krisen-
prävention auszuarbeiten, was bedeutet, dass wir die ver-
schiedenen notwendigen Fähigkeiten in diesem Bereich
systematisch aufbauen und entwickeln wollen.
Was hat das mit der Bundeswehr zu tun? Nur wenn wir
diese Fähigkeiten vernünftig entwickelt haben, kommen
wir aus Kriseneinsätzen wieder heraus. Das ist schlicht-
weg die Konsequenz.
DieBundeswehrreform, das heißt die Befähigung der
Bundeswehr zur Bewältigung neuer Aufgaben, ist nicht
nur fortzusetzen, sondern ausdrücklich auch weiterzuent-
wickeln; so haben wir es in der Koalitionsvereinbarung
formuliert. An die Lösung dieser Aufgaben geht Rot-Grün
mit Klarheit über die Zielsetzung der Bundeswehrreform
und mit – so formuliere ich diplomatisch – gewachsenem
Realismus. Dabei sind für uns die Vorschläge der
Weizsäcker-Kommission die Richtschnur. Eine notwen-
dige Modernisierung ist nur mit einer deutlichen Senkung
des Personalumfangs zu realisieren. Das ist die
offensichtliche Konsequenz.
Sehr geehrter Herr Minister, lieber Kollege Struck, am
25. Juli dieses Jahres wurden Sie zum Minister vereidigt.
Manche Gratulanten der Oppositionsfraktionen dachten
damals an eine Befristung Ihrer Amtszeit. Wir sind aus-
drücklich froh, dass Sie Minister geblieben sind. Ich bin
mir sicher, dass Sie Ihre Verantwortung mit sicherheits-
politischer Klarheit und mit Realismus wahrnehmen. Da-
bei wünschen wir Ihnen eine glückliche Hand und hoffen
auf eine gute Zusammenarbeit.
Danke.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. FriedbertPflüger.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Herr Minister Struck, noch ein Wort zu IhrerKurzintervention soeben. Wahlkampf haben Sie wirklichgemacht.
Soweit ich mich erinnern kann, hat es noch nie einen Ver-teidigungsminister gegeben, der selbst – und das in derkurzen Zeit vor der Wahl, in der er das Amt innehatte –eine solche Initiative wie „Soldaten für die SPD“ vorge-stellt hat. Es ist falsch, Parteipolitik in die Bundeswehr, zuunseren Soldaten zu tragen. Das haben wir kritisiert, HerrBundesverteidigungsminister.
Wir beschäftigen uns heute in der Tat nicht mehr mitdem Wahlkampf,
sondern mit den großen Bedrohungen, denen wir gegen-überstehen. Eine Bedrohungsanalyse habe ich wedervom Bundeskanzler heute Morgen in der Regierungs-erklärung vernommen noch in der Koalitionsvereinbarunggefunden. Wenn man die Koalitionsvereinbarung liest,dann stellt man fest, dass Sie fast so tun, als müsse man nurein bisschen Konfliktprävention machen und Friedensmis-sionen unterstützen. Aber dass wir in einer sehr gefähr-lichen Welt leben, nehmen Sie nicht zur Kenntnis.Kofi Annan hat die Weltgemeinschaft zur Einheit imKampf gegen den internationalen Terrorismus aufgeru-fen. Kofi Annan sagt: Alles, woran wir glauben, ist heutebedroht, Respekt vor menschlichem Leben, Gerechtig-keit, Toleranz, Pluralismus und Demokratie.Meine Damen und Herren, der Generalsekretär derVereinten Nationen hat mehr von den Bedrohungen ver-standen, als es der Bundeskanzler heute bei sich hat er-kennen lassen. Das ist ein großes Problem, vor dem wirstehen.
New York und Washington am 11. September, Djerba,Bali, Moskau, der Anschlag auf den französischen TankerLimburg und viele Anschläge, die gerade noch verhindertwerden konnten, sind eine weltweite Herausforderung.Die internationale Antiterrorallianz kämpft in Afghanis-tan und am Horn von Afrika. Überall auf der Welt gibt esdiese neue Form der Bedrohung, ja man kann sagen, dasGanze ist eine neuartige Form von weltweitem Krieg, indem wir uns befinden. Davon lesen wir bei Ihnen nichts.Sicher, die Art der Anschläge weist natürlich Unter-schiede auf. Es gibt regional völlig unterschiedlichePunkte, an denen islamistische Extremisten ansetzen. Sowerden Lebensumstände wie Armut, Unterdrückung undUnabhängigkeitsbestrebungen, beispielsweise in Tschet-schenien, ausgenutzt, ausgebeutet und aufgeblasen. Vorallem junge Menschen, die aufgrund der Globalisierungnach Orientierung und Würde suchen, die in Not undArmut leben, werden aufgeheizt, missbraucht und zuSelbstmordattentätern ausgebildet. Das ist die Lage, diewir zurzeit überall auf der Welt erleben.Das ist kein Angriff gegen Amerika, das ist ein Angriffgegen uns alle, gegen unsere Form des Zusammenlebens,gegen unsere Kultur und gegen die Art von Demokratie,die wir seit einigen Jahrhunderten erleben. Das ist dasProblem, dem wir gegenüberstehen. Dazu hätten wir gernheute etwas von Ihnen gehört.
Niemand kann diesem Konflikt dadurch ausweichen,dass man nicht darüber redet oder ihn verharmlost. Wirleben nicht auf einer Insel der Glückseligen. Hier inDeutschland hat es bereits Tote gegeben. Ein 16-jährigerJunge aus Lübeck ist mit seiner Familie nach Tunesien ge-fahren. Als er nach Hause kam, waren sein Bruder, seineMutter und seine Großmutter tot. Er selbst lebt schwerverletzt weiter. Meine Damen und Herren, der Terroris-mus ist hier bei uns, er ist nicht etwas für ferne Länder.Wir Deutsche sind bereits betroffen und deswegen ist ereine fundamentale Herausforderung für uns alle.Das BKA, so berichtet der „Spiegel“ in seiner jetzigenAusgabe, hält Deutschland inzwischen annähernd für sogefährdet wie die USA. Unser Land, bisher nur Vorberei-tungsraum für Terroranschläge, sei inzwischen auch einmögliches Ziel von Anschlägen. Deutschland, so dasBKA, werde direkt von al-Qaida bedroht. Wir hätten gernAuskunft von der Bundesregierung darüber, ob sie mit derEinschätzung des BKA übereinstimmt, ob wir wirklichunmittelbar bedroht werden. Denn das ist eine völlig an-dere Dimension als die, die uns in den schönfärberischenBerichten untergejubelt wird.Geradezu apokalyptisch würde diese Gefahr des Terro-rismus werden, wenn er in den Besitz von Massenver-nichtungswaffen käme. Wer die barbarischen Terroraktevom 11. September zu verantworten hat, dem ist jedesMittel recht, auch der Einsatz von Massenvernichtungs-waffen.Schauen wir einmal nach Russland: In den vergange-nen zehn Jahren wurden in Russland nach offiziellen An-gaben 29 Diebstähle von Kernmaterial aufgedeckt. ImDezember 1995 verschwanden in Tscheljabinsk 18,5 Ki-logramm und im März 2001 in Krasnojarsk 3,6 Kilo-gramm hoch angereichertes Uran. Der russische Duma-Abgeordnete Mitrochim erklärt dazu:In Russland und in anderen GUS-Staaten gibt es ei-nen schwarzen Markt, auf dem sie Kernsprengstoffüberall kaufen können. Auch die al-Qaida ist dazu inder Lage, über gut bezahlte Agenten in russischenAtomanlagen an waffenfähiges Uran oder Plutoniumzu kommen.Die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffenund nuklearem Know-how ist unsere Realität. Wir wis-sen, dass sich Saddam Hussein das zum Ziel erklärt hat.Das ist keine Vermutung, nichts, was konservative Ket-tenhunde sagen. Es ist das Wissen unserer Dienste, dass erA-, B- und C-Waffen haben will. Können wir aus-schließen, dass er sie in Kürze hat und auch benutzt?Vielleicht war es doch ein Fehler, dass der Herr Bun-desaußenminister vorhin gesagt hat: Na ja, ob Irak dierichtige Priorität sei? Doch, meine Damen und Herren!Hier sitzt ein Diktator, ein Tyrann, den Enzensberger be-reits 1991 als den Nachfolger Hitlers bezeichnet hat, der
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Dr. Friedbert Pflügersich diese Waffen besorgt, der bereit ist, sie anzuwendenund sie bereits gegen sein eigenes Volk angewendet hat.Dann erklärt Herr Fischer, diesem Bereich müsse nichtdie Priorität unserer Außenpolitik eingeräumt werden.Welcher Bereich unserer Außenpolitik besitzt dennhöhere Priorität, als diesen Wahnsinnigen bei dem Ver-such zu stoppen, in den Besitz von Massenvernichtungs-waffen zu kommen?
Alexander Kwasniewski, der polnische Präsident, hat– wie ich glaube – Recht, wenn er sagt:Die Bedrohung durch Saddam Husseins Massenver-nichtungswaffen ist real. Wir wollen eine neue,scharfe UN-Resolution, die nicht nur Inspektionen,sondern die Vernichtung dieser Waffen erzwingt undMilitärschläge erlaubt, wenn Saddam trickst.Dies ist die Meinung der Polen, der Franzosen und sogarder Saudis. Sie alle sagen: Wenn es eine UN-Resolutiongibt, unterstützen wir die Amerikaner und die Weltge-meinschaft bei dem Versuch, Saddam zu entwaffnen. Diessagen selbst die Saudis, nur die deutsche Bundesregierungnicht. Nur Rot-Grün sagt: Wir auf gar keinen Fall.DieAmerikaner hat nicht verletzt – das habe ich in denGesprächen immer wieder gemerkt, Herr Müntefering –,dass wir eine andere Meinung haben. Der KollegeSchäuble hat darauf hingewiesen. Dies haben sie auch inihrem eigenen Kongress erlebt, wo sie sehr ernsthaft ge-stritten haben. Die Amerikaner hat nicht verletzt, dass wirgesagt haben: Wir wollen keine Soldaten schicken. Sie ha-ben uns auch gar nicht danach gefragt. Sie haben auch garnicht nach Geld gefragt. Verletzt hat sie, dass wir ihnennicht einmal ein Minimum an politischer Solidarität undmoralischer Unterstützung geben. Dies ist und bleibt einSkandal. Sie werden es schwer haben, den dadurch ange-richteten Schaden in den nächsten Wochen und Monatenzu reparieren.
Es bleibt die große Aufgabe der deutschen Politik, überdie selbst gewählte Isolation, den Vertrauensverlust undden Gewichtsverlust hinwegzukommen.
– Dies sind keine Wahnvorstellungen, Frau Sager. RedenSie doch einmal mit den Amerikanern.
Die Nagelprobe dafür ist der nächste NATO-Gipfel.Wir werden sehen, wie sich die Bundesregierung dort ver-hält. Neben der Erweiterung der NATO, die wir sehr be-grüßen, kommt es auf diesem NATO-Gipfel darauf an,dass wir zwei Dinge miteinander vereinbaren: Die Bereit-schaft, gegen die eben beschriebene terroristische Bedro-hung, gegen die Hersteller von Massenvernichtungswaffenmit allen polizeilichen, geheimdienstlichen und militäri-schen Mitteln vorzugehen und uns dabei nicht auszuklin-ken und abzukoppeln, sondern Teil der Weltgemeinschaftzu sein, ist die eine Säule unserer Sicherheitspolitik. Dieandere Säule unserer Sicherheitspolitik, die aber nur einevon zwei Säulen ist, ist die Lösung von regionalen Kon-flikten. Dies beinhaltet den kulturellen Dialog mit denMoslems überall auf der Welt, die durch ihre Weltreligionnatürlich große Leistungen für die Welt vollbracht haben,die aber extremistische Ränder haben, die im Momentstärker werden. Ich glaube aber zutiefst, dass die Religionals solche zum Dialog bereit ist.Wir müssen unsere Märkte öffnen. Wir müssen Ent-wicklungsprojekte durchführen sowie die Demokratiefördern. Auch eines ist wahr: Nicht jeder, der gegen Ter-rorismus ist, ist auch unser Freund. Es gibt Länder, die ge-gen den Terrorismus sind, aber trotzdem wenig für die De-mokratie in ihrem Land tun. Auch hier müssen wir zuunseren Werten und Überzeugungen stehen. Beides istnotwendig: Demokratieförderung und Kulturdialog zu-sammen mit einer Öffnung der Märkte, mit Hilfe, um Ar-mut und Würdelosigkeit zu überwinden.Dies alles geht umso besser, je mehr wir bereit sind, zu-sammen mit anderen – nie alleine – militärische, polizei-liche und geheimdienstliche Verantwortung zu tragen.
Mein letzter Gedanke: Jimmy Carter hat den Frie-densnobelpreis bekommen. Ich glaube, in diesem Fallkann ich für das ganze Haus sprechen und dem früherenamerikanischen Präsidenten zu diesem Friedensnobel-preis herzlich gratulieren.
Jimmy Carter hat diesen Preis durch seinen lebenslan-gen Einsatz für den Frieden wirklich verdient.
Aber Jimmy Carter war nie jemand, der gesagt hat: Frie-den um jeden Preis. Für ihn bestand der Kern der Frie-densbotschaft aus einem würdigen Leben und der Einhal-tung der Menschenrechte. Der Friede macht nur Sinn,wenn die Menschen auch Freiheit haben.
Herr Kollege Pflüger, jetzt haben Sie weit überzogen.
Ich bitte Sie, zum Ende zu kommen.
Uns für die Freiheit und für den Frieden einzusetzen,darauf kommt es an. Dem fühlen wir uns als Union ver-pflichtet.
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Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Reinhold Robbe.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Ich will nicht auf all die Stichworteeingehen, die unmittelbar mit dem im Zusammenhangstanden, was sich im Wahlkampf abgespielt hat. Aber eineBemerkung, sehr verehrter Herr Kollege Pflüger, sei mirdoch erlaubt. Ich glaube, bei all dem, was, auch hier indiesem Hohen Hause und in dieser Debatte, an Über-treibungen hingenommen werden kann, darf eines nichthingenommen werden: dass – Sie haben das mehr oderweniger direkt zum Ausdruck gebracht – diesem Verteidi-gungsminister und dieser Bundesregierung ein unsolida-risches Verhalten gegenüber unserem wichtigsten Bünd-nispartner, den Vereinigten Staaten von Amerika,unterstellt wird.
Deswegen erscheint es mir, bei allem Verständnis auch fürAufgeregtheiten, angemessen und erforderlich, das andieser Stelle zurückzuweisen.Erst vor wenigen Wochen konnten wir alle zusammenhier in Berlin den zwölften Jahrestag der Wiedervereini-gung feiern. Der 3. Oktober steht aber nicht nur als sym-bolisches Datum für den Fall der Mauer und für die fried-liche Revolution in der damaligen DDR. Der 3. Oktobersteht auch für den Zusammenbruch des kommunistischenOstblocks und für eine vollkommen veränderte sicher-heitspolitische Lage in der Welt. Vor zwölf Jahren hatniemand in diesem Hohen Hause und in unserem Landauch nur andeutungsweise ahnen können, mit welchenKrisenherden wir es heute zu tun haben. Weder die Bür-gerkriege im ehemaligen Jugoslawien noch der schlimms-te Terroranschlag in der Nachkriegsgeschichte am11. September vergangenen Jahres mit all den Folgen wa-ren vor zwölf Jahren absehbar. Wenn man sich einmal vorAugen führt, welche Konsequenzen in der Sicherheitspo-litik die Krisenherde bei uns und unseren Bündnispart-nern hatten, stellt man fest, dass wir es heute nicht nur mitganz neuen politischen und militärischen Sichtweisen zutun haben. Nein, ich wage zu behaupten, dass im öffentli-chen Bewusstsein noch gar nicht richtig realisiert wurde,dass wir in Deutschland aufgrund der neuen Verantwor-tung einen regelrechten Quantensprung in der Sicher-heitspolitik vollzogen haben.
Nichts ist mehr so, wie es war. Deutschland hat sichvon der reinen Landesverteidigung verabschiedet undinternationale Verantwortung übernommen. Die Weltist enger zusammengewachsen. Die internationalen Er-wartungshaltungen gegenüber Deutschland sind gewach-sen. Heute befinden wir uns auf einem Weg, von dem zur-zeit noch niemand genau weiß, wie er mittelfristig undlangfristig exakt verlaufen wird.Aber eines steht trotz unvermeidlicher Differenzen imDetail und trotz gewisser tagespolitischer Aufgeregthei-ten unumstößlich fest: Wir sind ein verlässlicher und so-lidarischer Partner in Europa und in der Welt. UnsereAußen- und Sicherheitspolitik ist aktive Friedenspolitik.
Wir stehen zu unseren Bündnisverpflichtungen und imZweifelsfalle immer auf der Seite derer, die von Vertrei-bung, Verfolgung oder Schlimmerem bedroht werden.Hierbei verkennen wir nicht die Grenzen unserer Mög-lichkeiten, die sich naturgemäß auch an unseren verfas-sungsrechtlichen Auflagen und an den militärischenFähigkeiten unserer Bundeswehr festmachen. Dazu hatsich der Verteidigungsminister heute und auch in der Ver-gangenheit umfassend geäußert, ein Verteidigungsminis-ter im Übrigen – dieser Hinweis sei mir an dieser Stelleerlaubt –, der seinen Job ausgesprochen gut macht, kom-petent, führungsstark, umsichtig und sensibel.
Die konsequente Fortsetzung des eingeschlagenen Re-formweges für die Bundeswehr ist Grundvoraussetzungfür die außen- und sicherheitspolitische Handlungsfähig-keit Deutschlands. Die außerordentlich komplizierte undschwierige internationale Lage lässt auf absehbare Zeitkeine Entlastung für das deutsche Engagement und dieEinsätze der Bundeswehr erwarten. Die Anforderungenan Deutschland und seine Streitkräfte sind und bleibenhoch. Wir haben eine Pflicht zur Solidarität, zur Wahr-nehmung von Verantwortung und zur Unterstützung de-rer, die auf uns bauen.Mit jedem Fortschritt bei der Umsetzung der Reformder Bundeswehr werden wir besser in der Lage sein, daszu leisten, was von ihr in Deutschland, in der NATO, inder Europäischen Union, in den Vereinten Nationen undseitens unserer Partner und Freunde in aller Welt zu Rechterwartet wird, nämlich deutsche Politik für Frieden undSicherheit wirksam und mit allen zur Verfügung stehen-den Mitteln zu unterstützen.
Die aktuelle sicherheitspolitische Agenda steht weiter-hin stark im Zeichen des Kampfes gegen den internatio-nalen Terrorismus; verschiedene Redner sind in dieserDebatte schon ausführlich darauf eingegangen. Derschreckliche Anschlag in Moskau hat uns dies erneutmehr als deutlich vor Augen geführt. Auch die Lage imNahen Osten und in anderen Krisenherden dieser Welt istalles andere als hoffnungsvoll. Der Prozess der Anpas-sung der Außen- und Sicherheitspolitik an diese neue Ge-fährdungslage ist noch lange nicht abgeschlossen. Für dieBundeswehr bedeutet die vielfältige Beteiligung an En-during Freedom und ihre Schlüsselrolle bei dem ISAF-Auftrag – zusammen sind hier übrigens über 2 700 Sol-daten im Einsatz – eine große Herausforderung und bringtganz neue Belastungen mit sich.Die Stabilisierung Südosteuropas bleibt ein Schwer-punkt der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Deshalbist die Bundeswehr in Bosnien-Herzegowina, im Kosovo
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002
Reinhold Robbeund in Mazedonien auch weiterhin gefordert, und zwarwahrscheinlich noch über viele Jahre hinweg. Meine Da-men und Herren, hinzuweisen ist aber auch auf die Tatsa-che, dass die Bundeswehr bei ihren Einsätzen im Auslandan die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit und Belast-barkeit gestoßen ist. Deutschland stellt weltweit nach denUSA das größte Truppenkontingent für internationaleEinsätze, noch weit vor England und Frankreich. DerBundeskanzler hat heute Morgen übrigens sehr deutlichdarauf hingewiesen. Noch 1998 haben wir 178 MillionenEuro hierfür aufgewendet, jetzt im Jahre 2002 sind es be-reits mehr als 1,7 Milliarden Euro. All dies muss in der ak-tuellen innenpolitischen Diskussion und bei der Konsulta-tion mit unseren Partnern eine Rolle spielen. Wenn dieBeziehungen zwischen der NATO und der EuropäischenUnion auch institutionell endgültig ausgestaltet sind, wirddies die europäische Handlungsfähigkeit erheblich stärken.Auch bei uns in Deutschland hat der 11. September2001 die Anpassung unserer Sicherheits- und Friedenspo-litik an die veränderten Bedingungen beschleunigt. Alsdiese Regierung im September 1998 Verantwortung über-nahm, war die Bundeswehr mit rund 2 800 Soldaten inBosnien und in Georgien engagiert, um den Frieden zu si-chern. Inzwischen sind es rund 10 000 Soldaten, die dieBundeswehr für multinationale Einsätze stellt. So sinddeutsche Soldaten als Teil von ISAF in Afghanistan unddarüber hinaus in vielfältiger Weise innerhalb und außer-halb Europas militärisch im Kampf gegen den Terror en-gagiert. Die Bundeswehr ist hierdurch mehr denn je zu ei-ner Armee im Einsatz geworden. Sie steht dabei im Diensteiner deutschen Politik für Frieden und Sicherheit, dieumfassend angelegt und konsequent auf Interessenaus-gleich und Zusammenarbeit im europäischen, transatlan-tischen und globalen Rahmen ausgerichtet ist.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir müssenuns, wie dies Bundeskanzler Gerhard Schröder am11. Oktober vergangenen Jahres im Bundestag erklärt hat,in neuer Weise der internationalen Verantwortung stellen.Der deutsche Beitrag muss hierbei aber an unseren politi-schen und militärischen Möglichkeiten gemessen werden.Die Einsätze der Bundeswehr haben trotz der hohen Pro-fessionalität unserer Soldaten und Soldatinnen und trotzder großen Anerkennung bestätigt: Die Bundeswehr ver-fügt noch nicht über alle erforderlichen und angemesse-nen Fähigkeiten für das gesamte neue Aufgabenspektrum.Der Wandel zu einer Armee im Einsatz muss in dennächsten vier Jahren weiter mit Nachdruck vorangetrie-ben werden. Die laufende Reform ist der Schlüssel dazu.Die Reform ist deshalb auf gutem Wege, weil sich dieMenschen in der Bundeswehr ihre Ziele und Inhalte zu Ei-gen gemacht haben.Ich glaube, meine sehr verehrten Damen und Herren,es ist heute auch ein geeigneter Anlass, um gerade denSoldatinnen und Soldaten ganz herzlich zu danken.
Vor diesem Hintergrund – ich komme sofort zum Schluss,Frau Präsidentin – muss uns, wie ich glaube, um die Si-cherheit unserer Grenzen, um die internationalen Ver-pflichtungen Deutschlands gegenüber unseren Partnernund auch um die Zukunftsfähigkeit der deutschen Bun-deswehr nicht bange sein.In diesem Sinne bedanke ich mich. Ich freue mich aufmeine neue Aufgabe als Vorsitzender des Fachausschusses.Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt die Frau BundesministerinHeidemarie Wieczorek-Zeul.Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin fürwirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Indieser Legislaturperiode wollen wir die Entwicklungspo-litik, wie wir dies in der letzten Legislaturperiode begon-nen haben, zu einem zentralen Baustein für globale Zu-kunfts- und Friedenssicherung weiterentwickeln.Wir stehen unter dem Leitbild der gerechten Globali-sierung und wir steigern die Mittel für die Entwicklungs-finanzierung; das hat der Bundeskanzler in seiner Redeheute noch einmal deutlich gemacht. Als Zwischenzielzur Verwirklichung des 0,7-Prozent-Ziels wollen wir biszum Jahr 2006 die 0,33-Prozent-Quote für die Entwick-lungszusammenarbeit umsetzen und im Übrigen in deninternationalen Finanzinstitutionen andere Finanzie-rungsinstrumente, wie Nutzungsentgelte oder auch Devi-sentransaktionssteuern, prüfen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist schade, dasssich manche der Debatte hier entziehen.
In dieser Diskussion ist immer wieder deutlich geworden,wie wichtig eine verantwortliche Regierungsführungauch mit Blick auf die Länder der so genannten DrittenWelt, also auf die Entwicklungsländer, ist. Wir verlangenvon ihnen eine Beteiligung der Bevölkerung an Entschei-dungen und wir verlangen von ihnen Rechtsstaatlichkeit.Wir müssen aber auch dazu beitragen, dass die Kriterien,die an die Entwicklungsländer angelegt werden, auch andie internationalen Entscheidungsmechanismen ange-legt werden. Hier gibt es noch viel zu tun.Ich möchte Ihnen das sagen, was ich immer schon ge-sagt habe: Der UN-Sicherheitsrat spiegelt keineswegs dieVerhältnisse wider, wie sie sich Ende des letzten Jahrhun-derts und auch jetzt in der Welt entwickelt haben. Es gibtnoch viel zu reformieren und viele Notwendigkeiten füreine bessere Repräsentanz.
In der heutigen Diskussion – das möchte ich an dieserStelle auch ansprechen – ist viel von Amerika die Redegewesen. Ich möchte aber daran erinnern, dass Amerika
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nicht nur aus dem Norden, sondern auch aus dem Südenbesteht. In den letzten Tagen gab es eine wichtige Ent-scheidung. In Brasilien, dem zentralen Land in Latein-amerika, ist ein neuer Präsident, Luiz Inácio da Silva, ge-wählt worden. An dieser Stelle möchte ich ihm zu seinerWahl gratulieren
und ihm zusagen, dass wir die wirtschaftliche Zusam-menarbeit und die Unterstützung seiner Politik fortsetzenwerden, so wie wir das gegenüber Brasilien bisher auchgetan haben.Er hat besonders darauf hingewiesen, dass er die Ar-mutsbekämpfung im eigenen Land in den Mittelpunktstellen wird. Der Erfolg des neuen brasilianischen Präsi-denten kann von zentraler Bedeutung für ganz Latein-amerika sein; denn in fast allen Ländern Lateinamerikasgab es immer die Hoffnung und Erwartung, dass die Ver-ankerung der Demokratie mit deutlichen wirtschaftlichenund sozialen Fortschritten für die breite Masse der Bevöl-kerung einhergehen werde. Gerade das ist für die Stabili-sierung von Demokratie und auch für die Situation derArmen wichtig. Deshalb ist es eine sehr wichtige Ent-wicklung, die wir entsprechend fördern wollen.Es ist schade, dass ich den Kollegen Pflüger jetzt nichtentdecken kann. Er hat ja über die Frage gesprochen, woUrsachen für Terrorismus zu finden sind. An dieserStelle will ich sagen: Kofi Annan hat betont, wie wichtiges ist – wir betonen es ebenfalls; es ist ein Schwerpunkt –,dazu beizutragen, dass die Ziele der internationalen Ge-meinschaft, die weltweite Armut bis zum Jahr 2015 dras-tisch zu reduzieren und dafür zu sorgen, dass alle Kinderdie Chance haben, bis zum 14. Lebensjahr in die Schulezu gehen, erreicht werden.
Das ist eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür, denKoran-Schulen entgegenzuwirken und dazu beizutragen,dass die Mädchen eine Chance haben. Dafür investierenwir Finanzmittel. Ein besonderer Schwerpunkt wird daherdie Eröffnung des Zugangs von Kindern zu Bildung undAusbildung sein.Ich möchte an dieser Stelle den Punkt aufgreifen, dereine große Rolle gespielt hat. Es gibt weiterhin gewalt-tätige Gruppierungen und terroristische Banden, die ab-scheuliche Verbrechen verüben. Ich zitiere aber den ame-rikanischen Politikwissenschaftler Benjamin Barber, derin der sicherlich nicht des Linksradikalismus zu bezichti-genden Zeitung „Welt am Sonntag“ kürzlich erklärt hat:„Armut und Hoffnungslosigkeit schaffen eine Umgebungfür Terror.“ Seine Folgerung lautet:„Wir müssen die Weltverändern und verbessern.“Diese Aufgabe dürfen wir in der Diskussion über dieFrage, wo und wann Militär eingesetzt werden soll, nichtvergessen. Ich bin erstaunt, dass diese Perspektive, über diewir uns doch immer einig waren, in dieser Debatte fehlt.
Ich habe während des Bundestagswahlkampfes vieleDiskussionen zur Irak-Frage geführt. Erstens. Ich ver-bitte mir die Unterstellung, dabei sei Antiamerikanismuspraktiziert worden.
Zweitens. Die Leute, die da auf den Plätzen standen,hatten keine antiamerikanischen Ressentiments, sondernsie wollten dort stehen und sich engagieren, weil sie einSignal für Frieden und Prävention und gegen Krieg setzenwollten. Das ist doch eine wunderbare Motivation, aus derheraus sich Menschen engagieren. Das sollte hier nichtdiffamiert werden.
Wir brauchen Investition in Prävention, nicht inKrieg. Und ich habe die ganze Debatte über zugehört. Ichbin doch erstaunt: Es wird wirklich mit doppelter Elle ge-messen. Nordkorea hat eingestanden, Massenvernich-tungswaffen entwickelt zu haben. Dieses schlimme, wi-derwärtige Regime aus Altstalinisten hat mehrfach gegeninternationale Verträge und Verpflichtungen verstoßen.Aber die USA wie auch die internationale Gemeinschaftsind insgesamt der Auffassung, dass massiver politischerund wirtschaftlicher Druck gegenüber Nordkorea not-wendig ist, und engagieren sich für politische Lösungen.Warum soll das mit Blick auf den Nahen Osten und denIrak nicht möglich sein, um zu erreichen, dass die Waffen-inspekteure ins Land gelassen werden und damit einKrieg verhindert werden kann? Diese Frage stellt sichdoch jeder. Wir müssen uns dafür engagieren, dass einKrieg verhindert wird. Hier wird immer nach Visionen ge-fragt. Statt hoch gefährlicher Konzeptionen von „preem-tive strike“,wie sie die US-Regierung ersinnt, sollte end-lich die atomare Abrüstung auch von den Ländernbegonnen werden, die selber über Atomwaffen verfügen.Das ist die richtige Konsequenz und Schlussfolgerung.
Entwicklungszusammenarbeit in ihren vielen Berei-chen ist eben Friedenspolitik. Sie legt eine erweiterte Si-cherheitspolitik zugrunde. Ich nenne nur stichwortartigden Versuch, den Transfer von Kleinwaffen zu verhin-dern, die Reform der Sicherheitssektoren von Entwick-lungsländern, den Aufbau des Zivilen Friedensdienstes,den wir deutlich aufstocken und ausweiten wollen. Dasmacht deutlich, mit welcher Perspektive wir Entwick-lungszusammenarbeit praktizieren.Lassen Sie mich zum Schluss zwei Schritte in Richtungauf eine gerechte Weltwirtschaftsordnung und für eine ge-rechte Globalisierung nennen. Der eine Schritt ist dieFortsetzung der Entschuldung. Mittlerweile gibt es imRahmen der Entschuldung der ärmsten Entwicklungslän-der 26 Entwicklungsländer, die ihre Entscheidungen zurEntschuldung erhalten und Entschuldungsentlastung er-fahren haben. Aber von den Betroffenen haben bisherganze sechs Entwicklungsländer ihren endgültigenSchlusspunkt zur vollen Entschuldung erhalten. Der GrundBundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul
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Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeulliegt darin, dass sie durch die weltwirtschaftliche Ent-wicklung doppelt bestraft werden: zum einen deshalb,weil sie schon jetzt unter der weltwirtschaftlichen Ent-wicklung leiden, und zum anderen, weil sie nicht im-stande sind, den Programmen und Forderungen des IWFzur Erreichung der makroökonomischen Stabilität nach-zukommen. Damit diese Entwicklungsländer den Com-pletion Point, den Schlusspunkt der Entschuldung wirk-lich erreichen, treten wir dafür ein – das ist die Positionder Bundesregierung –, dass diesen Ländern gegenüberflexibel reagiert wird und dass notfalls auch weitere fi-nanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden, damit dievolle Entschuldung dieser Länder beschlossen und er-reicht werden kann.
Zweitens. Das konkrete Ziel, das wir mit anderen Part-nern in dieser Legislaturperiode erreichen wollen, ist dasInsolvenzverfahren für hoch verschuldete Staaten, zu-mal Entwicklungsländer. Das ist ein Vorschlag, der vonAnne Krueger vom Internationalen Währungsfonds undübrigens auch von vielen Nichtregierungsorganisationenstammt.Ich möchte an dieser Stelle begründen, warum es sich da-bei um eine wichtige Entscheidung im Interesse der Ent-wicklungsländer handelt. Zum einen kann durch die diszi-plinierende Wirkung eines solchen Insolvenzverfahrensdazu beigetragen werden, dass kein Schuldenüberhang ent-steht. Zum anderen würde die Mehrheitsentscheidung derGläubiger im Rahmen eines Insolvenzverfahrens verhin-dern, dass einzelne Gläubiger ein Umschuldungsverfahrenblockieren können. Das klingt zwar einfach, aber das Sich-Hinziehen von Umschuldungsverhandlungen mit Ent-wicklungsländern bedeutet in vielen Fällen die Agonie derwirtschaftlichen Entwicklung zulasten der armen Bevölke-rungsschichten. Deshalb ist ein Insolvenzverfahren auch einSchritt, um zu verhindern, dass sich die enormen sozialenKosten von Finanzkrisen in den Entwicklungsländern aufdiese Art und Weise auswirken. Es ist ein Schritt zur Ver-besserung der Situation der betreffenden Länder.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zumSchluss. Der Bundeskanzler hat es heute Morgen bereitsangesprochen: Angesichts all der Aufgaben sind wir, jen-seits von einzelnen Problemen und einzelnen unter-schiedlichen Auffassungen, sicherlich einer Meinung,dass ein Engagement in diese Richtung notwendig ist,wenn wir in Zukunft eine gerechte und friedliche Weltverwirklichen wollen. Ich bitte alle um Zusammenarbeitund biete ausdrücklich – wie wir es schon immer getan ha-ben – die weitere Zusammenarbeit im Rahmen der Ent-wicklungspartnerschaft mit der Wirtschaft an. Derzeitgibt es bereits 800 solcher Initiativen; diese Zahl wollenwir noch erhöhen. Ich biete aber auch die Zusammenar-beit mit den Kirchen, den Nichtregierungsorganisationen,den Gewerkschaften und selbstverständlich mit allenFraktionen dieses Hohen Hauses an.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian Ruck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ichmöchte mit dem beginnen, mit dem die Ministerin aufge-hört hat, nämlich damit, worin wir uns einig sind. Auchfür die Union ist die Entwicklungspolitik ein zentralesElement zur Bewältigung weltweiter Zukunftsaufgaben.Sie ist ein entscheidendes Medium, um eine internationaleOrdnungspolitik, die wirklich nachhaltig und zukunfts-fähig ist, und weltweit menschenwürdige Lebensbedin-gungen durchzusetzen und um den weltweiten Schutzund die Wahrung der natürlichen Lebensgrundlagen zusichern.Es trifft in der Tat zu, dass die Globalisierung auch fürdie Entwicklungsländer sowohl Chancen als auch Risikenmit sich bringt. Es ist nicht zu übersehen, dass viele Län-der in diesem Zusammenhang große Schwierigkeiten ha-ben, ihre wirtschaftlichen, sozialen und ökologischenHerausforderungen adäquat anzunehmen.Wir müssen auch erkennen, dass diese Probleme inder Tat auf uns durchschlagen. Spätestens die Terroran-schläge vom 11. September und die anschließende Aus-einandersetzung mit dem internationalen Terrorismus ha-ben gezeigt, dass Sicherheit, Wachstum und Wohlstandauch bei uns letztlich davon abhängen, welche Perspek-tiven die Menschen in ärmeren Ländern des Ostens unddes Südens für sich und ihre Zukunft sehen.Deshalb wird das, was wir vor Jahrzehnten in Deutsch-land als Entwicklungshilfe karitativ und bescheiden be-gonnen haben, zu einer immer wichtiger werdenden Zu-kunftsaufgabe für unser eigenes Land sowie für unsereKinder und Enkel: eine Politik der wirtschaftlichen Zu-sammenarbeit und Entwicklung zur Abwehr von Gefah-ren, zur Eindämmung sozialer Zeitbomben und zur welt-weiten Gestaltung von Strukturen, die Stabilität, Friedenund Prosperität weltweit sichern können. Wir brauchendeshalb auf nationaler wie auf internationaler Ebene – ichmöchte jetzt gar nicht so sehr von der Rolle sprechen, diedie Vereinigten Staaten hier und da spielen, sondern vonden Hausaufgaben, die Sie hätten machen müssen – einekoordinierte, effiziente und kohärente Entwicklungspoli-tik. Davon sind wir leider nach vier Jahren Rot-Grün wei-ter denn je entfernt.
Frau Ministerin, Ihr Optimismus in allen Ehren, aber inWahrheit ist aus dem Aufwärtstrend zum Beispiel imHaushalt des BMZ nichts geworden. Im Gegenteil: ImJahr 2002 steht Ihr Haushalt wesentlich ärmer da als 1998.Daran wird sich auch im nächsten Jahr nichts ändern;denn im Vergleich zu 2002 wurde Ihr Haushalt für 2003erneut um 51 Millionen Euro abgespeckt. Die Durch-führungsorganisationen der Entwicklungspolitik bekla-
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gen ja inzwischen ganz unverhohlen, dass ihnen dieHandlungsunfähigkeit drohe. Die finanzielle Misere wirdnoch durch den von Ihnen verschuldeten Trend verschärft,mehr Geld aus dem nationalen in den internationalen Ver-fügungsbereich und hin zu den multilateralen Entwick-lungsorganisationen zu verlagern. Das sind oft Institutio-nen, die nicht gerade durch Koordinationsbereitschaft undEffizienz glänzen. Um es auf den Punkt zu bringen:Deutschland ist zwar finanziell nach wie vor ein Riese,wird aber im Einflussbereich immer mehr zu einemZwerg. Das ist leider auch für die EU und die Weltbankeine traurige Entwicklung.
Wir kritisieren auch, dass Sie trotz zurückgehenderHaushaltsmittel praktisch auf jede neue Initiative auf-springen und jeden neuen Sondertopf im internationalenBereich unterstützen. Wir kritisieren dabei nicht, dass Siedafür sorgen, dass sich Deutschland an Programmen zurBekämpfung der Armut, an Kaukasus- und Afrika-Initia-tiven oder an Programmen zur Bekämpfung von Aids be-teiligt. Wir kritisieren vielmehr, dass Sie zur Verzettelungder deutschen Entwicklungspolitik beitragen, dassSie ihr damit die Schlagkraft nehmen, dass Sie dem eige-nen Ministerium die Koordinations- und Führungsrolleimmer schwerer machen und dass Sie Etikettenschwindelbetreiben; denn alle groß angekündigten Aktionen sindentweder wie die Schuldeninitiative in Wirklichkeitstecken geblieben oder wie die Kaukasus-Initiative völligunterfinanziert, oder stehen nur auf dem Papier.Vor eineinhalb Jahren haben Sie zum Beispiel einenPlan zur Umsetzung des Armutsbekämpfungsprogrammsangekündigt. Auf den warten wir bis heute. Die negativeFolge ist, dass Sie für die Entwicklungspolitik unerfüll-bare Erwartungen wecken, dass Sie Enttäuschungen pro-vozieren und dass Sie die tatsächlich möglichen Erfolgeim Sand verlaufen lassen. Es wundert daher niemanden,dass die jüngste Überprüfung der deutschen Entwick-lungspolitik durch die OECD zu einem ernüchterndenErgebnis kommt: verkrustet, veraltet und unflexibel.Erfolge in der Entwicklungspolitik erreicht man ebennicht nur durch Show und Medienwirksamkeit, sondernvor allem durch eine klare und langfristig angelegte Linie,eine klare Kompetenzverteilung und eine konsequenteArbeit inklusive der Bündelung der Kräfte.Einer der größten Schwachpunkte der Entwicklungs-politik der rot-grünen Bundesregierung war das Desinte-resse des deutschen Außenministers an entwicklungspoli-tischen Fragen wie auch an denen der internationalenUmweltpolitik. Wenn die Entwicklungspolitik nicht dieRückendeckung der Außenpolitik hat, dann ist sie zumScheitern verurteilt,
wenn man zum Beispiel nur an die Forderung des ganzenHauses denkt, die Verantwortung der Entwicklungsländerfür ihre eigene Entwicklung einzufordern. Die Union bie-tet der Regierungskoalition auch auf diesem Gebiet einekritische, aber konstruktive Begleitung an, vor allemwenn es darum geht, die Effizienz zu steigern und erfolg-reich Schwerpunkte zu setzen.Das gilt für den Bereich der Gefahrenabwehr genausowie für die zentrale Aufgabe einer langfristig angelegtenweltweiten Politik der Zukunftssicherung. Das heißt vorallem, die Globalisierung in vernünftige Bahnen zu len-ken, sodass sie auch zum Positiven für Entwicklungs- undSchwellenländer ausfällt. Es bedeutet für uns gerade auchden Einsatz für die internationale soziale Marktwirt-schaft.Dieses Eintreten muss man wirklich mit Leben er-füllen, zum Beispiel mit sozialen und ökologischen Min-deststandards in den WTO-Runden, durch die Stärkungvon Bildung und Ausbildung und durch das Eintreten unddie Unterstützung beim Aufbau handlungsfähiger staat-licher Strukturen, aber auch – das wirkt beim wirklichenAngehen von tief greifenden Reformen – in der interna-tionalen Szene.
Herr Kollege Ruck, achten Sie bitte auf die Zeit.
Jawohl. Es bedeutet außerdem eine wesentlich stärkere
Unterstützung der Entwicklungspolitik durch die Außen-
politik und den Bundeskanzler.
Wir werden die Grundzüge unserer Politik für wirt-
schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in den
Debatten des Hauses einbringen und dabei auch die bis-
herigen Positionen rot-grüner Politik auf den Prüfstand
stellen, –
Herr Kollege Ruck, Sie sind jetzt zwei Minuten über
die Zeit. Jetzt können Sie nicht mehr allzu viel sagen.
– aber nicht nur wohlfeile Erklärungen im Koalitions-
papier, sondern das, was Sie wirklich umsetzen.
Das Wort hat jetzt die Frau Staatssekretärin Uschi Eid.
Dr
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Der Koalitionsvertrag schreibt das, was wir vor vier Jah-ren in der Entwicklungspolitik begonnen haben, konse-quent fort. Wir machen im Zeitalter der GlobalisierungPolitik auf gleicher Augenhöhe mit den Entwicklungs-ländern für mehr Gerechtigkeit in der Welt. Wir macheneine Politik, die die Chancen zur Teilhabe am wirtschaft-lichen, technischen, gesellschaftlichen und kulturellenFortschritt für alle Staaten verwirklichen will. Wenn ichvon Fortschritt spreche, meine ich immer auch den Fort-Dr. Christian Ruck
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Parl. Staatssekretärin Dr. Uschi Eidschritt der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit; denn De-mokratie erst garantiert die Teilhabe der Menschen undRechtsstaatlichkeit erst fördert den Schutz der Menschen-rechte.
Wir haben diese Politik auf den großen internationalenKonferenzen der vergangenen Jahre erfolgreich vertreten.Die Ziele Bekämpfung der Armut, gerechte Verteilung derSüßwasserreserven, nachhaltige Entwicklung und Schutzder Umwelt, gemeinschaftliche Finanzierung der großenEntwicklungsaufgaben und gerechte Gestaltung des Welt-handels sind gemeinsam mit den Entwicklungsländern er-arbeitet und verhandelt worden. Sie wurden nicht erkauftund nicht aufgezwungen. Deshalb sind sie so bedeutsam.Sie spiegeln den Kompromiss unserer unterschiedlichen,häufig sehr gegensätzlichen Interessen wider und sinddeshalb für alle Seiten bindend.Ich muss in aller Klarheit auch sagen: Unsere Interes-sen sind nicht immer identisch mit den Interessen derEntwicklungsländer. Ich möchte hier nur an die Weige-rung vieler Entwicklungsländer in Johannesburg erinnern,eine Energiewende mit dem Ziel der Ausweitung erneu-erbarer Energien global einzuläuten. Auch die Interessender Entwicklungsländer untereinander sind nicht immergleich und deswegen liegt es in der Natur der Sache, dasswir nicht grundsätzlich die Interessenvertreter der Ent-wicklungsländer sind.Das heißt aber: Wir wollen sie in die Lage versetzen,ihre Interessen selbst formulieren und auch umsetzen zukönnen. Denn nur wenn diese Staaten selbst Verantwor-tung übernehmen, werden wir gemeinsame, nachhaltigwirksame Entwicklungsziele auch erreichen. Deshalb in-vestieren wir in der Entwicklungskooperation in ihreFähigkeiten, bei internationalen Verhandlungen ihrewichtige Rolle zu spielen. Deshalb investieren wir in ihreFähigkeiten, ihre inneren wie zwischenstaatlichen oderregionalen Konflikte mit friedlichen Mitteln beizulegen.Deshalb unterstützen wir ihre Bestrebungen zur regiona-len Integration und deshalb fördern wir ihre Potenzialezur Integration in den Weltmarkt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gemeinsame Zielehaben und Politik auf gleicher Augenhöhe machen, dasheißt auch, anzuerkennen, dass unsere Beziehungen bis-lang nicht auf Chancengleichheit beruhen, dass Ent-wicklungsländer auf der einen Seite große nationale Pro-bleme mit schwachen Institutionen, geringem Vertrauenin die eigene Wirtschaft, fehlender Rechtsstaatlichkeit,Klientelismus und Korruption haben, andererseits aberstrukturell in den internationalen Beziehungen benachtei-ligt sind und dass ihre Bestrebungen, Fortschritte zu er-zielen, häufig durch Entscheidungen bei uns konterkariertwerden. Stichworte dazu sind zum Beispiel Agrarsubven-tionen und Markthindernisse.Unsere bisherige Regierungsarbeit und der neue Koali-tionsvertrag beweisen: Wir sind uns dieser Ungleichheitbewusst und wir werden weiter daran arbeiten, geradediese strukturellen Ungleichheiten abzubauen. Deshalbwerden wir Doha zu einer Entwicklungsrunde machen.Den Marktzugang werden wir erleichtern. Wir werden dieEntschuldungspolitik vorantreiben.
Ich sehe drei zentrale politische Herausforderungen fürdie Zukunft. Wir werden diese zusammen mit den Ent-wicklungsländern lösen, und zwar partnerschaftlich undin vollem Respekt füreinander, um zu verhindern, dass esin der Globalisierung zu einer gefährlichen Spaltung zwi-schen Nord und Süd kommt. Ich kann diese Herausforde-rungen aus Zeitgründen jetzt nur benennen – ich hätte siegern etwas ausgeführt und hätte auch gern dargelegt, waswir zu tun gedenken –: erstens der fortschreitende Funda-mentalismus, zweitens die Frage der Ressourcengerech-tigkeit, also die Frage der gleichberechtigten Nutzung vonRessourcen, und drittens die fortschreitende Umweltzer-störung. Um diese Aufgaben in Angriff zu nehmen, istdiese rot-grüne Regierung bestens gerüstet. Herr Ruck,das wurde uns durch das DAC, den Entwicklungsaus-schuss der OECD, auch international bescheinigt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, machen wir uns aberkeine Illusionen. Viele Entwicklungsländer haben anderePrioritäten. Wir werden viel Überzeugungsarbeit leistenund auch Nachteilsausgleiche schaffen müssen, um diegerade skizzierten Ziele zu erreichen. Gelingen wird unsdas aber, wie ich bereits gesagt habe, nur mit einer Politikauf gleicher Augenhöhe, also in echter Partnerschaft. Da-bei haben wir uns in den vergangenen vier Jahren viel Ver-trauen bei den Entwicklungspartnern erworben. Das istunser Kapital für die kommenden vier Jahre und diesesKapital werden wir nutzen, damit mehr Menschen in denEntwicklungsländern in Afrika, Asien und Lateinamerikabessere Chancen bekommen und in Würde leben können.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Dr. Gesine Lötzsch.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! StellenSie sich vor, das Dubrowka-Theater stünde nicht inMoskau, sondern in Bagdad. Stellen Sie sich vor, Kurdenhätten 700 Geiseln genommen und mit dem Tod der Gei-seln gedroht, wenn nicht endlich die Verfolgung von Kur-den beendet werden würde. Stellen Sie sich vor, SaddamHussein hätte Nervengas in das Theater geleitet, um dieGeiselnehmer unschädlich zu machen. Wie lange hätte esIhrer Meinung nach gedauert, bis der amerikanische Prä-sident seinen Krieg begonnen hätte? Tage? Stunden?Warum dürfen bestimmte Staaten Nervengas produzie-ren und andere nicht? Die Antwort ist einfach. Man ist derMeinung, dass in den so genannten zivilisierten Staatender Einsatz von Massenvernichtungswaffen faktischnicht möglich ist – einmal weil die demokratischen Gre-
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mien eine solche Entscheidung nicht mittragen würdenund zum anderen weil die Hemmschwelle in den so ge-nannten zivilisierten Staaten für einen Einsatz von Gasviel zu hoch wäre. Den Einsatz von Nervengas traut mannur unberechenbaren Diktatoren wie Saddam Hussein zu,der ja bekanntlich mit Gas unschuldige Kinder undFrauen getötet hat.Doch nun haben wir eine neue Situation. Es gibt Men-schen, die nur noch Terroristen genannt werden. Sie lebenauf der ganzen Welt und haben angeblich ein gigantischesNetzwerk gebildet. Doch die Tschetschenen brauchenkein internationales Netzwerk, um zu sehen, dass ihr Landin Trümmer gelegt wird, und die Palästinenser brauchenkein internationales Netzwerk, um zu sehen, dass ihrRecht auf einen eigenen Staat mit Füßen getreten wird.Offensichtlich hat die Allmacht einiger weniger Staa-ten zur Ohnmacht bei vielen Menschen in der ganzen Weltgeführt. Die Zahl derjenigen, die sich gegen die Allmachtgewaltsam zur Wehr setzen, nimmt zu und das ist einereale Gefahr für uns alle. Die betroffenen Staaten reagie-ren mit Stärke und jeder Staat hat jetzt offensichtlich dasRecht, Menschen zu Terroristen zu erklären und damitVölkerrecht sowie nationales Recht außer Kraft zu setzen.Aber offensichtlich haben auch einige wenige Staaten dasRecht, andere Staaten als terroristisch zu bezeichnen unddamit einen Krieg zu rechtfertigen.Der Bundeskanzler hat vor der Wahl versprochen, dassDeutschland an einem Krieg gegen den Irak nicht teil-nehmen wird. Er hat es heute in der Regierungserklärungbekräftigt. Das wurde von vielen Menschen als mutig undaufrichtig empfunden und dafür wurde der Bundeskanz-ler auch im Osten gewählt. Aus dem Wahlversprechen istein Wählerauftrag geworden.Letzten Sonnabend demonstrierten viele Menschen aufder ganzen Welt gegen einen drohenden Irak-Krieg. Al-lein in Washington waren es 200 000 Menschen. Auch inBerlin wurde demonstriert; allerdings waren es hier be-deutend weniger Menschen. Die „Frankfurter Rund-schau“ kommentierte das begrenzte Engagement in Ber-lin mit dem Gefühl vieler Menschen, dass sie mit derFriedensforderung bei der Bundesregierung offene Türeneinrennten.Doch ist das wirklich so? Tut diese Bundesregierungalles, um einen Krieg gegen den Irak zu verhindern?
Vor der Wahl, am 29. August, erklärte Verteidigungsminis-ter Struck noch, dass er die Spürpanzer der Bundeswehraus Kuwait abziehen wolle. Letzte Woche war zu hören,dass die deutschen Spürpanzer in Kuwait bleiben sollen.Fängt die Bundesregierung etwa an, in dieser Frage zuwackeln?
Die Bundesregierung soll aus der Sicht der PDS nichtnur nicht am Irak-Krieg teilnehmen, sondern sie soll auchdazu beitragen, dass dieser Krieg erst gar nicht stattfindet.
Einige Instrumente – das ist von meiner Kollegin Petra Pauheute schon angesprochen worden – hat die Bundes-regierung in der Hand. Offensichtlich wird das deutscheHoheitsgebiet von US-Streitkräften als Militärbasis ge-nutzt, um die logistischen Vorbereitungen für einen Irak-Krieg zu treffen. Doch dafür gibt es keine Rechtsgrundlage.Ich bin der Auffassung, dass die Bundesregierung vonder US-Regierung Auskunft über ihre Aktivitäten vomdeutschen Territorium aus verlangen muss.
Wenn sich herausstellen sollte, dass Deutschland alsRollfeld für den Irak-Krieg dienen soll, dann muss dieBundesregierung der US-Regierung die Nutzung dieserBasen sowie die Überflugrechte verweigern, so wie esübrigens der damalige Kanzlerkandidat Stoiber an einemTag im Wahlkampf gefordert hat, um es am nächsten Tagsofort zu dementieren. Es ist notwendig, dass dieseRegierung beweist, dass deutsche Außenpolitik Friedens-politik ist und dass sie alle Mittel dafür einsetzt, diesenBeweis anzutreten.Herzlichen Dank.
Weitere Wortmeldungen liegen zu diesem Themen-
bereich nicht vor.
Wir kommen jetzt zu den Bereichen Innen, Recht und
Kultur. Das Wort zur Eröffnung der Debatte hat die Frau
Bundesministerin Zypries.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! In diesen Tagen jährt sich zum 40. Mal eine der großenBewährungsproben unserer Demokratie, die „Spiegel“-Affäre. Es war, wie wir wissen, eine bestandene Probe, diezu unserem demokratischen Selbstverständnis viel beige-tragen hat. Damals, 1962, konnte ein Bundesministernoch beschönigend sagen, die Verhaftung des „Spiegel“-Redakteurs Conrad Ahlers sei halt „etwas außerhalb derLegalität“ erfolgt. Heute nehmen wir – und gerade auchdiese Regierungskoalition – die Bindung der vollziehen-den Gewalt an Gesetz und Recht und die Bindung der Ge-setzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung sehr ernst.Denn das Grundgesetz ist eine gute Verfassung, die sichbewährt hat.Zu den maßgeblichen Prinzipien dieser Verfassungund zu den Fundamenten der lebendigen Demokratiezählen die in der Menschenwürde wurzelnde Gleichheitaller, die Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Freiheitder Meinung und der Kunst, die Freiheit, sich zu versam-meln und Vereinigungen zu bilden. Das Grundgesetz istdabei nicht wertneutral. Es ist auf den Wert der Men-schenwürde und die daraus folgenden Grundsätze indivi-dueller Selbstbestimmung und gleicher Freiheit gegrün-det. Vermittelt dadurch schützt es auch die Autonomie derverschiedenen Teile unserer Gesellschaft wie der Politik,der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Kunst.Dr. Gesine Lötzsch
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Bundesministerin Brigitte ZypriesHier geht es nicht nur um den rein technischen Bauplaneiner komplexen Gesellschaft, sondern vielmehr um einzukunftsfähiges Erfogsrezept: Durch diese Struktureninsbesondere ermöglicht die Verfassung ein friedlichesZusammenleben in Deutschland. Mir ist dieser Gedankeganz besonders wichtig, denn in Zukunft werden wir im-mer mehr und immer verschiedenere Lebensstile, Über-zeugungen, Religionen und Traditionen auf deutschemBoden haben, die miteinander leben.Dass dies friedlich geschieht, setzt eines voraus: dieBereitschaft, andere so leben zu lassen, wie sie es für rich-tig halten oder gewohnt sind, soweit sie dabei im Rahmender gesetzlichen Grenzen bleiben, versteht sich. Diese Be-reitschaft muss allerdings nicht nur da sein, wenn einemder Lebensstil des anderen egal ist; das ist keine Leistung.Eine Leistung ist es erst dann, wenn einem die Verschie-denheit nicht egal ist, wenn wir also Toleranz üben unddie Unterschiedlichkeit quasi ertragen müssen.
Toleranz ist eine Frage der inneren Einstellung. DieRechtsordnung kann niemanden zur Toleranz zwingen,sie kann aber den Boden dafür bereiten. Ein Beispiel: Dasvom Bundesverfassungsgericht als verfassungskonformbestätigte Gesetz über die Einführung der eingetragenenLebenspartnerschaften ermöglicht den Partnern, rechts-verbindlich füreinander einzustehen. Gleichzeitig stärktes aber auch die Toleranz in unserer Gesellschaft gegen-über anderen Lebensformen.
Diese Politik steht in der Tradition unseres Grundge-setzes; denn das lässt die Gegensätze und die Vielfalt zuund schützt sie grundrechtlich. Wer von Mehrheitsauffas-sungen abweicht, muss keine Unterdrückung befürchten.Es ist also auch nicht nötig, Gewalt zu ergreifen, um sei-nen Vorstellungen entsprechend leben zu können. DasGrundgesetz lehnt Gewalt deshalb ab. Unsere Verfassungist – in der Sprache unserer Zeit – ein echtes Antigewalt-projekt. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes wusstennach den bitteren Erfahrungen mit der Gewaltherrschaftdes Dritten Reiches: Freiheit im Leben miteinander ist diebeste Gewaltvorbeugung. Eine unserer wesentlichen Auf-gaben wird es deshalb auch künftig sein, die Grundrechteso wenig wie möglich zu beschneiden.
Freilich: Es kann sich nicht auf seine Freiheit berufen,wer anderen nicht ihre Freiheit gönnt. Gewaltanwendungzur Durchsetzung der eigenen Vorstellungen oder Über-zeugungen ist unter keinen Umständen rechtfertigungs-fähig. Gewalt muss vom Staat – notfalls mit all seinenMachtmitteln – unterbunden werden, zum Beispiel mitder Umsetzung des Gewaltschutzgesetzes. Dieses Gesetzstärkt die Rechte und die Stellung Schwächerer und ihrenSchutz vor Gewalt im familiären Nahbereich. Und eswirkt: In Nordrhein-Westfalen hat die Polizei in knappfünf Monaten in mehr als 1 000 Fällen prügelnde Ehe-männer der Wohnung verwiesen und ihnen die Rückkehrverboten.Meine Damen und Herren, wir müssen konstatieren,dass auch in unserer Gesellschaft die Gewaltbereitschaftwächst. Das ist eine große Bedrohung des von der Verfas-sung angestrebten friedlichen Zusammenlebens. DieserBedrohung müssen wir uns entschlossen stellen, und zwarnicht erst, wenn der Gewaltausbruch bereits passiert ist,sondern bereits deutlich vorher.
Dies allerdings kann der Staat allein nicht leisten. Wirbrauchen im Elternhaus, in der Schule, in Vereinen und Ver-bänden eine Erziehung zurToleranz. Junge Leute müssenlernen, die Meinung anderer zu respektieren und sich imRahmen der demokratisch vorgesehenen Spielregeln mitei-nander auseinander zu setzen. Sie müssen lernen, tolerantzu sein und die Verschiedenheit zu akzeptieren.
Nicht zuletzt deshalb hat die Bundesregierung das Bünd-nis für Demokratie und Toleranz ins Leben gerufen unddeshalb werden wir das Deutsche Forum für Kriminal-prävention noch stärker in seiner Arbeit unterstützen.Was wir damit erreichen wollen, darf aber auch nichtan anderer Stelle konterkariert werden. Deshalb wird dieBundesregierung hart gegen Gewaltverherrlichungen, ge-gen die Propagierung von Gewalt oder die Anleitung zuGewaltanwendungen vorgehen.
Das schließt Initiativen zur Änderung des Strafrechts ein.Denn das Strafrecht als klares Zeichen für die Grenzen derGewalt ist auch und gerade dort wichtig, wo in der Ge-sellschaft elementare Wertebindungen ihre Bindungskraftverlieren. Wir müssen insbesondere auch die Strafvor-schriften gegen sexuellen Missbrauch von Kindern, Ju-gendlichen und widerstandsunfähigen Personen fortent-wickeln. Auch durch die Strafandrohung in diesen Fällenmuss deutlich werden, dass solche Taten an den Men-schen, die sich am wenigsten wehren können, zu den ab-scheulichsten Verbrechen überhaupt gehören.
Wir werden deshalb unter anderem schon den Straf-rahmen für die Grundtatbestände des sexuellen Miss-brauchs von Kindern von Vergehen zu Verbrechen her-aufstufen. Auch die psychische sexuelle Gewalt wirdnicht länger straflos bleiben. In Zukunft macht sich auchderjenige in einem früheren Stadium als bisher strafbar,der auf Kinder einwirkt, damit ein Kind sexuelle Hand-lungen vornimmt. Auch die Wegseher und die Profiteuresollen künftig nicht mehr ungeschoren davonkommen.
Wer diese Taten nicht anzeigt, wer sie belohnt oder billigt,wird sich in Zukunft vor dem Strafrichter wiederfinden.
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Wir werden auch gegen jede Form der Verbreitung vonKinderpornographie mit dem gesamten Arsenal der straf-prozessualen Möglichkeiten vorgehen.
Insoweit steht auch der Katalog des § 100 a StPO auf demPrüfstand.Gleich der erste Untertitel der Koalitionsvereinbarunglautet nicht von ungefähr: Für ein wirtschaftlich starkes,soziales und ökologisches Deutschland. Die Wirtschaft istim Justizministerium insoweit betroffen, als die dringendgebotene Reform des Aktienrechtes dort angesiedelt ist.Dabei geht es nicht etwa um technische Details, für diesich dann nur die Buchprüfer begeistern können. Die Ver-hinderung von falschen Bilanzen und der Anlegerschutzallgemein bewahrt viele tausend Menschen vor dem Ver-lust ihrer Ersparnisse und erhält Arbeitsplätze.
Deshalb liegt dieses Problem gerade uns Sozialdemokra-ten besonders am Herzen.Ganz klar gesagt: Bei allen Fragen, wie etwa der per-sönlichen Haftung von Vorständen und Aufsichtsräten, gehtes darum, den guten Ruf der unzähligen redlichen Akteureunserer Wirtschaft vor den schwarzen Schafen zu schützen.
Gerade die spektakulären Bilanzskandale auf dem US-amerikanischen Markt haben es uns drastisch vor Augengeführt: Bereits einer oder wenige Chefmanager mit kri-mineller Energie können das Vertrauen ganzer Märktezerstören.Meine Vorgängerin im Amt, Frau Professor Dr. HertaDäubler-Gmelin, hat die Lösung der Probleme auf derGrundlage der Arbeiten einer hochkarätig besetztenKommission in Angriff genommen. Nicht nur bei diesemThema hat sie Zeichen gesetzt und wichtige rechtspoliti-sche Vorhaben vorangebracht. Dafür möchte ich michauch an dieser Stelle bedanken.
Ich werde den Anlegerschutz weiter forcieren. UnserMotto dabei wird sein: so schnell wie möglich, aber auchso solide wie nötig. Viele wichtige Diskussionen werdenwir dabei zu berücksichtigen haben. Unter anderem hatsich der Deutsche Juristentag im September in Berlin mitdiesen Fragen auseinander gesetzt und dazu einen um-fangreichen Bericht veröffentlicht.Wir werden in dieser Legislaturperiode auch das Zehn-punkteprogramm zur Stärkung der Unternehmensinte-grität und des Anlegerschutzes, das die letzte Bundesre-gierung bereits beschlossen hat, umsetzen.Ganz wichtig ist des Weiteren die Reform des Ver-sicherungsvertragsgesetzes, das inzwischen bereits130 Jahre alt ist. Dabei geht es unter anderem um die Be-handlung von Gentests, um Überschussbeteiligungen inder Lebensversicherung und um Altersrückstellungen inder privaten Krankenversicherung.Wir werden das Urheberrecht in der Informationsge-sellschaft anpassen. Dabei muss die Vielfalt unserer Kul-tur und der faire Umgang zwischen Urhebern und Ver-wertern gewährleistet bleiben bzw. werden. Ich meine,auch im Reich des Internet dürfen Autoren und andereKünstler nicht dem Raubrittertum ausgeliefert werden.Natürlich werden wir die Reform des Gesetzes gegenden unlauteren Wettbewerb anfassen. Auch hier drängtdie Zeit. Wir wollen ein vollständig neues, schlankes undfaires Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb vorlegen,das den redlichen Wettbewerber genauso schützt wie denVerbraucher.Meine Damen und Herren, ich bin zuversichtlich, dasswir uns über die skizzierten allgemeinen Grundlagen re-lativ schnell werden verständigen können. Über die kon-kreten Konsequenzen, die sich in den nächsten vier Jah-ren daraus ergeben, werden wir sicherlich nicht immereiner Meinung sein. Insoweit freue ich mich auf eine sach-liche und konstruktive Diskussion.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Norbert
Röttgen.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Sehr geehrte Frau Zypries, als rechtspolitischerSprecher der CDU/CSU-Fraktion möchte ich Ihnenzunächst zu Ihrem neuen Amt gratulieren. Wir wünschenIhnen persönlich Glück in und Freude an diesem Amt.Das möchte ich auch übertragen auf unseren Kollegen mitdem neuen Amt, Herrn Alfred Hartenbach. Wir haben– das muss ich gleich einschränkend hinzufügen – nichtdie Absicht, diese Freude wirklich aktiv zu fördern,
aber persönlich wollen wir Ihnen das gern gönnen.Wir bieten Ihnen statt Freude eine faire Auseinander-setzung an. Wir sind bereit zur Zusammenarbeit, zur Ge-meinsamkeit dort, wo wir der Auffassung sind, dass dieLösung von Problemen, die wir gemeinsam erkennen, derGemeinsamkeit bedarf.
Auch das möchte ich gleich zu Beginn hier betonen.Wir appellieren gleichzeitig an Sie – anderenfallswürde eine schlechte Tradition der letzten vier Jahre fort-gesetzt –, in der Rechtspolitik nicht nur Ihre Mehrheit zuexekutieren, auf Mehrheit zu setzen, sondern geradeauf dem Gebiet der Rechtspolitik der Auseinandersetzungum das bessere Argument auch dann, wenn es von derBundesministerin Brigitte Zypries
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Dr. Norbert RöttgenMinderheit im Parlament kommt, nicht auszuweichen,sich dieser Auseinandersetzung zu stellen.Die rot-grüne Rechtspolitik der vergangenen Legisla-turperiode hat mit der Proklamierung großer Projekte be-gonnen und in Kraftlosigkeit geendet,
gemessen an Ihren eigenen Maßstäben, weil Sie Ihre ei-genen Projekte nicht realisiert haben.
– Ich komme gleich noch darauf. – Diese Kraftlosigkeithat sich in dem Koalitionsvertrag fortgesetzt. Auch in Ih-rer heutigen Antrittsrede habe ich keine Idee von Rechts-politik gehört.
Es war eine Aufzählung einzelner Baustellen und dieRede war in ihrer Allgemeinheit für mich enttäuschend.Aber das Entscheidende ist, dass kein roter Faden, keinrot-grüner Faden, keine Idee, keine Konzeption da war.
Jetzt sind Sie an der Macht, haben die Posten und ich frageSie, wozu Sie sie gebrauchen wollen, meine Damen undHerren.
Wir hätten erwartet, dass eine neue Ministerin mit einerEröffnungsbilanz startet. Das wäre auch Ihre Chance ge-wesen, dass Sie all die Projekte, die liegen geblieben sind,Ihre eigenen Projekte, bilanzieren.
In der letzten Sitzungswoche der vergangenen Legislatur-periode ist die Beratung des Rechtsanwaltsvergütungsge-setzes vertagt worden. Die 120 000 Anwälte in diesemLande warten seit acht Jahren darauf.
Auch im Koalitionsvertrag jetzt findet sich dazu keineAussage. Es ist liegen geblieben, und auch jetzt hören wirvon Ihnen dazu keine Aussage.
– Lassen Sie mich bitte ausreden. Es gehört zur Diskus-sion, dass man auch zuhört.Sie hätten heute die Chance gehabt, die Diskussion inIhrem Arbeitskreis „Kommunalfinanzen“ über den Vor-schlag, alle Freiberufler – damit auch die selbstständigenAnwälte – der Gewerbesteuer zu unterziehen, zu beenden.Ich fordere Sie auf, klarzustellen, dass die rot-grüne Ko-alition das nicht will. Wir lehnen die konkreten Vor-schläge, die Freiberufler unter die Gewerbesteuer fallenzu lassen, ab.
Liegen geblieben ist die Biopatent-Richtlinie. Die Um-setzungsfrist ist abgelaufen. Die Bundesrepublik Deutsch-land kommt der Pflicht, gesetzgeberisch tätig zu werden,in einem wichtigen Bereich nicht nach, nämlich im Be-reich des Schutzes biotechnologischer Erfindungen, alsoder Patentierbarkeit menschlicher Gene und menschlicherGensequenzen. Das ist eine Grundsatzfrage, weil es da-rum geht, die ethischen Grenzen von freier Forschungs-tätigkeit rechtlich festzulegen. Sie haben dieses Themanicht einmal erwähnt.Sie haben auch nicht den Reparaturbedarf Ihrer eige-nen Politik erwähnt. Wie ist denn die Wirkung der Zivil-prozessreform, bei der wir das Schlimmste haben verhin-dern können? Es gibt Überlastung und mehrBürokratisierung. Im Bereich des Schuldrechts gibt es al-lemal Reparaturbedarf rot-grüner Rechtspolitik.
Wir möchten diese Debatte nutzen – damit komme ichzum entscheidenden Punkt –, um unsere Leitlinien vonRechtspolitik darzustellen. Rechtspolitik darf sich nichtverstehen als das Schräubchendrehen an irgendwelchenStellen. Sie muss vielmehr aus einem Guss sein.Wir haben im Wesentlichen zwei Leitlinien, an denenwir die Rechtspolitik messen, eine für den Bereich der Ge-sellschaft und eine für den Bereich des Staates. In dem Be-reich der Gesellschaft drückt sich unsere Leitlinie in derAuffassung aus, dass das Recht Freiheit sichern soll. Dasist die Aufgabe des Rechts in der Gesellschaft. Ich werdegleich etwas dazu sagen, wie es um diesen Maßstab be-stellt ist.Im staatlichen Bereich geht es nach unserer Auffassungum die Wiederherstellung staatlicher Entscheidungs-fähigkeit, die die einzelnen Ebenen von der Gemeinde biszur Europäischen Union in unterschiedlicher Weise ver-loren haben.Was ist damit gemeint, dass das Recht die Freiheit si-chern soll? Nach unserer Auffassung liegt das Problemdarin, dass der Anspruch des Rechts, Freiheit zu sichern,unter einer doppelten Störung leidet. Einerseits haben wirin vielen Lebensbereichen eine freiheitsbeschränkendeÜberregulierung. Der Staat tut zu viel; er beschränkt dieEigeninitiative und den Gemeinsinn der Bürger. Er er-drosselt sozusagen die Freiheit. Andererseits gibt es eineInaktivität des Staates gerade in den Bereichen, wo dieBürger überfordert sind und wo sie des staatlichenSchutzes bedürfen. Dort handelt der Staat nicht.
– Ich komme dieser Aufforderung, Beispiele zu nennen,sehr gerne nach.Ich will zunächst ein Beispiel für die Überregulierungnennen. Natürlich ist die Therapie Deregulierung. Das istnicht sehr originell, sondern die mangelhafte Deregulie-rung ist die Beschreibung des Problems. Wir haben er-wartet, dass Sie Vorschläge liefern. Wie wollen Sie despermanenten und unbegrenzten Wachstums staatlicherRegulierung Herr werden?
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Wir schlagen vor – ich will dazu sagen, dass wir es nurgemeinsam schaffen können –, dass es eine institutiona-lisierte Gesetzesfolgenabschätzung im Gesetzgebungs-verfahren gibt. Die Rubrik „Folgekosten“, unter der meist„keine“ steht, reicht nicht aus. Wir plädieren ferner füreine Befristung von Gesetzen. Warum soll ein Gesetzimmer für alle Ewigkeit wirksam sein?
Warum soll man nicht nach beispielsweise drei Jahren einGesetz unter dem Gesichtspunkt bewerten, ob es sich be-währt hat?
– Hören Sie einfach zu! Sie können nachher Ihre Vor-schläge machen. Das ist doch viel sinnvoller.Wir brauchen weiterhin eine Veränderung im Selbst-verständnis des Bundesjustizministeriums und der Bun-desjustizministerin. Wenn Sie sich als eine Justizministe-rin verstehen sollten, die nur für die Justizpolitik imengeren Sinne zuständig ist, dann werden wir dieses Pro-blem der mangelhaften Deregulierung nicht in den Begriffbekommen. Wenn Sie der Auffassung sind, dass Sie alleinfür die Justizpolitik zuständig sind und dass Arbeitsrechtim Arbeitsministerium, Familienrecht im Familienminis-terium und Umweltrecht im Umweltministerium gemachtwird, wenn Sie nicht verstehen, dass es die Aufgabe derRechtspolitik ist, sich um die Rechtsordnung alsGanzes, um die Konsistenz der Regelungen und um dieBeschränkung der Rechtsmasse zu sorgen, dann werdenSie an Ihrer Aufgabe scheitern.
Wir fordern Sie daher auf, Ihr Amt als eine Koordinie-rungsstelle für die Gesetzgebung in den Ministerien undnicht als eine periphere Tätigkeit zu verstehen. DieseRolle muss es geben!Wenn Sie nach vier Jahren nicht nur auf die neuen Ge-setze, die durch Rot-Grün verabschiedet worden sind,stolz sind, sondern auch bilanzierend auflisten, welcheGesetze Sie verhindert haben, dann werden Sie wahr-scheinlich mit unserem Beifall rechnen können. Wir ha-ben keinen Mangel an Gesetzen, sondern brauchen dieBeschränkung der gesetzgeberischen Tätigkeit.
In anderen Bereichen haben wir das glatte Gegenteil:gesetzgeberische Inaktivität. Es hat im Bundesjustizminis-terium in den letzten vier Jahren einen Ausnahmebereichim Hinblick auf gesetzgeberische Tätigkeit gegeben: Daswar die innere Sicherheit.
Dort ist kategorisch nichts passiert. Dies betrifft die Mas-senalltagskriminalität, etwa Graffiti – Eigentumsverlet-zungen,
und beispielsweise die Jugendkriminalität. Über 30 Pro-zent der Tatverdächtigen sind unter 21 Jahre alt.
Gleichzeitig haben wir ein mangelhaftes Jugendstraf-recht, von dem einige Experten sagen, es sei verfas-sungswidrig, wie wenig gemacht worden sei. Wir müssenden Jugendlichen klar machen: Es gibt eine Grenze, wennsie kriminell werden. Darum halten wir es für falsch, inder Praxis auf junge Erwachsene, auf 18- bis 21-Jährige,regelmäßig das Jugendstrafrecht anzuwenden und nichtdas Erwachsenenstrafrecht.
Wir müssen die jungen Erwachsenen, auch wenn sie kri-minell werden, ernst nehmen und ihnen sagen, wo dieGrenzen sind. Dies muss deutlich werden.
Wir brauchen eine Umkehrung dieses Verhältnisses.Aber dann müssen wir uns um die Jugendlichen auchkümmern. Therapieangebote werden benötigt. Es ist Auf-gabe des Staates, sich darum zu kümmern. Auch dortkommen Sie Ihrer Aufgabe nicht nach. Es reicht nicht, all-gemein zu reden. Hier ist konkrete Arbeit zu tun.Ich komme zu den Bereichen Kronzeugenregelung undnachträgliche Sicherungsverwahrung. Hier ist ein ekla-tantes Versagen, eine Inaktivität der rot-grünen Bundesre-gierung zu verzeichnen.
Diese beiden Bereiche sind keine, von denen man sagenkann, dass sie toll sind. Es sind keine Hurra-Themen, son-dern Kompromissthemen.Kronzeugenregelung heißt: Der individuelle Täter er-hält nicht die volle Strafe, die ihm für sein Verbrechen ei-gentlich gebührt. Es ist ein rechtsstaatlicher Kompromiss,dass er ohne Strafe oder mit Strafmilderung ausgeht, weil erandere Verbrechen verhindert oder zur Aufklärung andererTaten beiträgt. Auch Sie von der SPD wollen dies. Sie sindaber eine politische Geisel Ihres grünen Koalitionspartners.
Emanzipieren Sie sich! Machen Sie von der großen Mehr-heit in diesem Haus Gebrauch! Wir bzw. 90 Prozent desHauses wollen die Kronzeugenregelung. Wegen IhresPartners kommt es nicht dazu.Auch die von Ihnen benannten Experten im Rechtsaus-schuss haben ausgeführt, dass wir die Kronzeugenregelungbrauchen, um in die Strukturen der organisierten Krimi-nalität eindringen zu können. Reden Sie nicht nur allge-mein von der Bekämpfung der organisierten Kriminalität!Handeln Sie! Sie haben es vier Jahre lang nicht getan.
Die gleiche Situation besteht beim Thema nachträg-liche Sicherungsverwahrung. Ich sage es ganz ruhig,Dr. Norbert Röttgen
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Dr. Norbert Röttgenobwohl hier meiner Meinung nach eine unerträglicheLücke im Schutzsystem des Staates besteht.
Wir reden über den Fall, dass ein Sexualstraftäter zwar we-gen eines Verbrechens verurteilt worden ist, bei der Verur-teilung aber nicht erkannt wurde, dass dieser Straftäterkrank ist, und sich die krankhafte Veranlagung dieses Tä-ters erst während der Haft herausstellt. Während der Haftsagen die Therapeuten also: Der Täter ist krank und auf-grund seiner Krankheit gefährlich. – In diesem Fall bestehtbis auf den heutigen Tag keine strafrechtliche Möglichkeit,
diesen Verbrecher in eine psychiatrische Klinik einzuwei-sen. Die brutale Wahrheit in unserem Land ist, dass dieserTäter erst noch einmal ein Verbrechen begehen muss, be-vor es nach jetzigem Recht die Möglichkeit gibt, ihn ab-zuurteilen und einzuweisen.
Sie leisten sich in diesem Bereich eine unerträglicheLücke. Sie muss geschlossen werden.
Es ist unverantwortlich, dies nicht zu tun.
Am unverantwortlichsten ist der Bundeskanzler. JedesMal, wenn ein schlimmes Verbrechen geschieht, kommenmarkige, martialische Worte: Wegschließen, und zwar fürimmer! – Das ist die Terminologie Ihres Bundeskanzlers.Das ist aus drei Gründen unverantwortlich: Erstens täuschter die Bevölkerung, indem er so tut, als ob der Staat etwasunternimmt. In Wahrheit tut der Staat nichts. Zweitens istdies Stimmungsmache und kein rationales Verhalten. Drit-tens gibt es auch eine Verantwortung gegenüber den Tätern.
Auch Täter sind Menschen. Auch bei Tätern kann mannicht von Wegschließen sprechen und ihnen keine Le-bensperspektive geben. Wer Stimmung macht und gleich-zeitig nichts tut, handelt unverantwortlich. An dieserStelle müssen Sie handeln!
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Abgeordneten Dr. Wiefelspütz?
Sehr gern.
Herr Wiefelspütz, Ihnen gratulieren wir auf diesem
Wege herzlich.
Herr Kollege, Sie sprachen gerade von Stimmungsma-
che, was ich bemerkenswert finde. Haben Sie eigentlich
zur Kenntnis genommen, dass Sie für Ihre Position hier
im Parlament nicht einmal ansatzweise in die Nähe einer
Mehrheit gekommen sind, dass Sie eine Minderheitsposi-
tion vertreten, und zwar nicht nur hier im Parlament, son-
dern auch im rechtswissenschaftlichen Bereich? Nehmen
Sie zur Kenntnis, dass die Kernthese vieler, die darüber
debattieren – die Literatur ist voll davon –, lautet: Die
äußerste Grenze dessen, was wir rechtsstaatlich machen
dürfen – darüber ist auch im Parlament sehr intensiv dis-
kutiert worden –, ist die vorbehaltene Sicherungsver-
wahrung, die wir, Rot-Grün, am Ende der letzten Wahl-
periode auf Initiative des Bundeskanzlers, der uns, wenn
Sie so wollen, einen Arbeitsauftrag erteilt hat, durchge-
setzt haben.
Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass es in der
Tat nicht um Stimmungsmache, sondern um eine sorgfäl-
tige Abwägung der widerstreitenden Interessen – und das
immer im Rahmen strikter Rechtsstaatlichkeit – geht?
Ich bin bereit, die Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen.Tatsache ist, dass wir für unsere Position in diesem Hausekeine Mehrheit haben. Das wird uns aber nicht davon ab-bringen, dafür zu streiten und uns dafür einzusetzen, dassdiese Lücke zum Schutz von Kindern und Frauen ge-schlossen wird.
Wir streiten für unsere Position in der Erwartung, eineMehrheit zu bekommen.Ich nehme zur Kenntnis, dass diese Frage rechtswis-senschaftlich – wie im Grunde fast alle Fragen – eine um-strittene Frage ist. Hier gibt es keine Mehr- oder Minder-heit. – Herr Kollege Wiefelspütz, ich beantworte nochIhre Frage; bitte bleiben Sie stehen. Die betroffenenRichter – reden Sie einmal mit dem Richterbund – befür-worten diese Maßnahme aus der tagtäglichen Erfahrungin ganz großer Mehrheit.
Die Praktiker befürworten sie in großer Mehrheit; viel-leicht nehmen Sie sie nicht zur Kenntnis.
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Nun eine letzte Bemerkung zu Ihrer Vorbehaltslösung.Die Vorbehaltslösung, zu der Sie sich in letzter Sekundein der letzten Legislaturperiode bereit erklärt haben,
ist Ausdruck dafür, dass Sie es nicht mehr durchgehaltenhaben, gar nichts zu tun und jede Aktivität zu verweigern.Deshalb sind wir ganz guter Dinge, dass wir noch zu ei-ner Lösung kommen werden. Die Vorbehaltslösung ist dieschlechteste Lösung von allen.
Sie bietet erstens natürlich nicht die Möglichkeit derRückwirkung. Für Täter, die bereits einsitzen, wirkt dieseLösung nicht. Hier gilt weiterhin das Gefährdungspoten-zial, das Sie bestätigt haben, indem Sie etwas getan haben.Sie sagen doch: Es muss diese Möglichkeit geben. Mit Ih-rer Lösung schließen Sie diejenigen aus, die bereits ver-urteilt worden sind. Dieses Risiko gehen Sie ganz offen-sichtlich ein.Ich halte es zweitens rechtsstaatlich – ich habe schondie Grundrechte von Tätern angesprochen – und verfas-sungsrechtlich für hoch problematisch, wenn der Staat ei-nem Bürger sagt, du bist vielleicht krank, du bist vielleichtgefährlich, du wirst vielleicht in eine psychiatrische Ein-richtung eingewiesen, aber wir wissen es noch nicht. Re-den Sie einmal mit den Praktikern in den Gerichten. Wiesoll der Richter den Vorbehalt handhaben? Er sagt, ichhabe keine Gewissheit darüber, dass er gefährlich ist, wiesoll ich denn eine Prognose machen? Das führt dann viel-leicht zur Zurückhaltung und es kommt nicht zum Vorbe-halt. Damit ist auch die Möglichkeit ausgeschlossen, dieSicherungsverwahrung anzuordnen.
Ich glaube, die Frage ist jetzt ausreichend beantwortet.
Herr Wiefelspütz, Sie können sich gern setzen.
Herr Röttgen, Sie haben mit der Beantwortung Ihre Re-
dezeit reichlich strecken können.
Nein, es gibt nur ein Instrument: Geben Sie Ihren poli-
tischen, auch koalitionspolitisch bedingten und dort zum
Teil ideologischen Widerstand auf! Tun Sie etwas für den
Schutz der Bevölkerung vor gefährlichen, krankhaften
Sexualstraftätern!
Ich komme zu einer weiteren Leitlinie: die Wieder-
herstellung staatlicher Entscheidungsfähigkeit in un-
serem Land. Wir haben sie weitgehend eingebüßt. Ich
fange bei den Gemeinden an, die – egal ob rot, rot-grün-
oder CDU-geführt – finanziell ausgezehrt sind. Die Ge-
meinden in Deutschland haben nicht mehr die finanzielle
Basis, um ihre Aufgaben der gemeindlichen Selbstver-
waltung ausüben zu können. Darum brauchen wir eine
Gemeindefinanzreform, die aber nicht darin bestehen
kann, dass wir die Steuerlast erhöhen. Vielmehr müssen
wir über eine andere Verteilung des Rechts, Steuern zu er-
heben, reden. Dafür setzen wir uns ein.
Wir setzen uns für eine Reform des Föderalismus ein,
also der Kompetenzabgrenzung zwischen Bund und Län-
dern, die wir brauchen. Unser Föderalismus ist in schlechter
Verfassung. Nach unseren Vorstellungen sollen die Bundes-
länder Gestaltungsmacht zurückerhalten und Blockade-
macht abgeben. Wir brauchen neue Zuständigkeiten.
Die Erfahrungen mit dem Blockadeexzess, den Sie nach
dem Motto „zuerst das Parteiwohl, dann die Staatsräson“
betrieben haben,
sprechen sicherlich auch für diese Reform.
Auf Ihrer Seite hat es bewiesenermaßen die Bereitschaft
gegeben, den Föderalismus zu parteipolitischen Zwecken
zu missbrauchen.
Weil mir die Zeit wegläuft, komme ich zu einem letz-
ten Thema, der Europapolitik.
Aber nur eine letzte Bemerkung!
Letzte Bemerkung: Die europäische Dimension des
Rechts ist in Ihrer Rede auch nicht vorgekommen. Des-
halb muss ich leider zu der Schlussfolgerung kommen,
dass diese Antrittsrede in ihrer Allgemeinheit enttäu-
schend war und die konkreten Probleme nicht angespro-
chen hat. Gott sei Dank gibt es aber eine christdemokrati-
sche und christsoziale Alternative. Die werden wir Ihnen
immer wieder vorhalten.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Joachim
Hacker.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Herr Röttgen, Sie haben Ihre Rede mit schönenFreundlichkeiten begonnen. Dies hat jedoch nicht langeangehalten, sondern Sie glitten ab in eine platte Agitation.Ich finde, das lässt für die nächsten vier Jahre, die vor unsliegen, nichts Gutes ahnen. Ich hätte schon gedacht, dasswir – auch im Rechtsausschuss – jetzt einen neuen Startsuchen, um dort in einer konstruktiven Art und Weise anden Problemen zu arbeiten, die vor uns liegen,
Dr. Norbert Röttgen
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Hans-Joachim Hackerstatt in dieser populistischen Art und Weise miteinanderzu streiten.
Ich glaube, Herr Röttgen, Sie haben den 22. Septembernoch nicht richtig verarbeitet. Daran können Sie noch einwenig arbeiten.
Dann können wir vielleicht auch hier im Plenum und imRechtsausschuss auf einer anderen Ebene arbeiten, sodassam Ende auch etwas herauskommt.
Ich lade Sie dazu ein, Herr Röttgen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, hinter unsliegt eine Legislaturperiode, für die Rot-Grün eine erfolg-reiche Reformpolitik im Bereich der Innen- und Rechts-politik vorweisen kann. Die SPD-Bundestagsfraktion willdiesen Weg gemeinsam mit Bündnis 90/Die Grünen wei-tergehen und das werden wir auch tun.Schreckliche Ereignisse und die Ausbreitung des in-ternationalen Terrorismus, für den die Anschläge des11. September 2001 stehen, haben auch auf die deutschePolitik Auswirkungen gehabt. Die Bundesregierung unddie Koalitionsfraktionen haben gehandelt. Wir haben unsden Herausforderungen gestellt und wir haben überlegtgehandelt. Wir haben den Gruppierungen, von denenTerror und Gewalt ausgehen, den Kampf angesagt undgleichzeitig erklärt, dass – soweit es geht – die politi-schen und ökonomischen Wurzeln, aus denen sichGewalt, Hass und Terror in diese Welt ergießen, beseitigtwerden müssen. Hierfür und für den Wiederaufbau ehe-maliger Krisengebiete wendet die BundesrepublikDeutschland enorme finanzielle und materielle Mittelauf. Die Koalition wird ihre erfolgreiche Politik zurWahrung der inneren Sicherheit fortsetzen. Dies giltfür die Bekämpfung von Terrorismus und organisierterKriminalität ebenso wie für die Bekämpfung der Alltags-kriminalität.Der europäische Raum der Sicherheit, der Freiheitund des Rechts muss entsprechend den Beschlüssen vonTampere ausgebaut werden. Das umfasst auch die weitereHarmonisierung der europäischen Flüchtlings- und Ein-wanderungspolitik. Die Zuwanderung in die EuropäischeUnion muss sinnvoll gesteuert werden und die europä-ische Polizeibehörde Europol soll zu einer mit Ermitt-lungsbefugnissen ausgestatteten Gemeinschaftseinrich-tung ausgebaut werden. Die bilaterale und multilateraleZusammenarbeit bei der Bekämpfung von Terrorismusund organisierter Kriminalität wird verstärkt werden.Wir meinen, dass Sicherheit und der Schutz vor Über-griffen, vor Verbrechen und Terror, ein Grundrecht füralle Bürgerinnen und Bürger ist. Dafür, dies zu garantie-ren, ist die Politik verantwortlich.Die Förderung von Toleranz, die Achtung von Minder-heiten und ihrer Rechte sowie die Ermöglichung vonSelbstbestimmung der Menschen sind Leitziele unsererPolitik. Wir handeln danach. Wir gestalten Einwande-rung, schützen Flüchtlinge und fördern Integration. Wirwerden das Zuwanderungsgesetz im Sinne seiner Ziel-stellung zügig umsetzen.
Dabei sind wir uns der breiten Zustimmung und Unter-stützung aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Berei-chen wie den Gewerkschaften, den Arbeitgeberverbändenund den Kirchen sicher.
Sie, meine Damen und Herren von der Union, sollten end-lich – das sage ich hier mit Nachdruck – Ihre Blockade-haltung gegenüber einer modernen Zuwanderungspolitikaufgeben.
Was haben wir mit dem Zuwanderungsgesetz beab-sichtigt und verwirklicht? Entscheidende Elemente sindeinerseits die Steuerung und Begrenzung der Zuwande-rung, andererseits der humanitäre Schutz, die Integration,die Beschleunigung von Asylverfahren und – auch dasgehört dazu – die verbesserte Durchsetzung von Ausrei-sepflichten.Darüber hinaus ist für uns die nachholende Integra-tion von in Deutschland lebenden Migrantinnen und Mi-granten eine wichtige Frage. Unsere Integrationspolitikist Querschnittspolitik. Dazu gehört auch ein modernesStaatsangehörigkeitsrecht. Wir werden die Anstrengun-gen fortsetzen, mit einer umfassenden Integrationspolitikdie Fehler und Versäumnisse der so genannten Gastarbei-terära zu korrigieren. Die Instrumentalisierung des The-mas durch die CDU im hessischen Wahlkampf warbeispiellos und unerträglich. Sie haben mit dumpfen Ge-fühlen gespielt und bewusst Unwahrheiten verbreitet. Dasdarf sich nicht wiederholen.
Ich fordere die Opposition an dieser Stelle auf: Unterstüt-zen Sie unsere Politik, eine Politik des inneren Friedens inDeutschland.Zur Abwehr von Rechtsextremismus, Ausländerfeind-lichkeit und Antisemitismus werden wir Handlungs- undVorbeugungsstrategien für Toleranz und gegen Gewaltweiter ausbauen. Wir werden die Korruption verstärktbekämpfen. Die Zielsetzung, die wir mit der Gesetzes-initiative zur Einrichtung eines Korruptionsregisters ver-binden, verfolgen wir weiter und prüfen im Übrigenweitere konkrete Maßnahmen, die sich aus der Korrup-tionsrichtlinie der Bundesregierung ergeben.Wir wollen auch die demokratische Teilhabe der Be-völkerung an unserem demokratischen Gemeinwesen för-dern. Wir werden unser Ziel weiterverfolgen, Volksinitia-tive, Volksbegehren und Volksentscheid auf Bundesebene
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auf der Basis des Gesetzentwurfes aus der 14. Legislatur-periode einzuführen.
Wir werden prüfen, wie der gesetzliche Rahmen fürdie Freiwilligenarbeit weiterentwickelt und verbessertwerden kann und wie Initiativen zur Verbesserung desfreiwilligen Engagements in der Gesellschaft auf einebreitere Grundlage gestellt werden können. Bürger-schaftliches Engagement ist für den Zusammenhalt inunserer Gesellschaft unverzichtbar. Wir wollen deshalbauch in Zukunft die Vielfalt dieses Engagements unter-stützen. Dazu wollen wir die Ergebnisse aus der Arbeit derEnquete-Kommission „Bürgerschaftliches Engagement“aufgreifen und damit die Erwartung der Bürgerinnen undBürger in Deutschland sowie der Verbände und Vereineerfüllen, dass der Analyse konkrete Taten folgen. Das sollin den nächsten vier Jahren geschehen.
Ich spreche hier ein weiteres Thema an, das nicht nuruns, sondern auch die breite Bevölkerung interessiert,nämlich den Sport.Dieses Thema spielt nicht nur am Wo-chenende eine Rolle. Wir können hier im Hohen Hausdazu einiges vorweisen. Wir wollen in diesem Bereichganz konkrete Punkte nennen, an deren Umsetzung wirnach vier Jahren gemessen werden können.Die Regierungskoalition wird den Leistungssport wei-terhin auf hohem Niveau fördern. Das schließt die Förde-rung des Spitzensports durch die Bundeswehr und denBundesgrenzschutz – oder wie immer der Bundesgrenz-schutz später einmal benannt werden wird, Herr Minis-ter – ein. Ebenso stärken wir den Behindertensport. Fürmich ist auch wichtig, dass der Goldene Plan Ost verlän-gert wird. Damit wird sich die Sportstättensituation fürden Breitensport in den neuen Ländern weiter verbessern.Darüber hinaus sind natürlich auch die neuen Länderaufgefordert, mit Finanzmitteln des Solidarpaktes II ver-stärkt Sportstätten zu modernisieren. Ich spreche das hierauch mit Blick auf die Länderbank ganz bewusst an; dennso können wir auch in diesem Bereich, der für uns eben-falls wichtig ist, einen aktiven Beitrag zur Angleichungder Lebensverhältnisse in Deutschland leisten.
Die Dopingbekämpfung werden wir auf hohem Ni-veau fortführen. Die Zahl der Dopingkontrollen soll er-höht werden. Die Nationale Doping-Agentur wird ihreArbeit in Kürze aufnehmen.Meine Damen und Herren, ich spreche nun zu einemThemenbereich, den Herr Röttgen hier sehr kritisch be-leuchtet hat. Ich komme – das wird Sie nicht wundern –zu einem ganz anderen Ergebnis. Die Bundesregierungund die beiden Fraktionen können im Bereich der Rechts-politik für die 14. Legislaturperiode nämlich eine gute Bi-lanz vorlegen.
Wir können Reformergebnisse vorweisen, die sich wirk-lich sehen lassen können. Diese will ich, Herr Röttgen,meine Damen und Herren von der Union, mit Blick aufdie Uhr ganz kurz zusammenfassen: Wir haben die Hilfefür Schwächere in der Gesellschaft, insbesondere für Op-fer von Gewalt, Kriminalität und Rechtsextremismusdurch das Gewaltschutzgesetz verstärkt.Wir haben die Toleranz gegenüber anderen Lebensfor-men gestärkt und Diskriminierungen abgebaut. Ich ver-weise insbesondere auf die Einführung der eingetragenenLebenspartnerschaft für gleichgeschlechtliche Partner.Das war eine wichtige Gesetzgebung. Ich bitte Sie, aufdiesem Weg mitzugehen.Wir haben die Modernisierung von zentralen Rechts-gebieten, wie des Zivilprozesses, des Schuld- und des Ak-tienrechts, im Auge gehabt. Durch die Modernisierungen,die wir vorgenommen haben, haben wir erreicht, dass dieRegelungen transparenter und für die Beteiligten ver-ständlicher gestaltet wurden. Wir haben die europäischeZusammenarbeit im Rechtsbereich weiterentwickelt, einewichtige Aufgabe, die in Zukunft an Bedeutung gewinnenwird.Herr Röttgen, Sie haben Recht.
– Was Recht ist, muss Recht bleiben. – In der letzten Le-gislaturperiode ist es nicht gelungen, die BRAGO zu no-vellieren.
Das besondere Problem der unterschiedlichen Gebüh-rensätze ist uns allen bekannt. Ich spreche hier insbeson-dere für die Kollegen im Rechtsbereich. Wir alle wissenaber auch – das haben Sie an dieser Stelle allerdings nichtangesprochen –, dass da ein inhaltlicher Zusammenhangzum Justizkostengesetz besteht.Ich will, ohne das Ganze auszuweiten, zwei Punkte an-sprechen, die aus meiner Sicht sehr wichtig sind und ge-klärt werden müssen, wenn wir zu einer Novellierungkommen wollen. Herr Funke, ich schaue dabei auch inIhre Richtung.Zum einen müssen wir zu einem Konsens mit den Län-dern kommen. Wir alle wissen, dass dieses Gesetz durchden Bundesrat muss. Wenn wir eine Regelung vorlegen,die im Bundesrat nicht die Chance auf Annahme hat– Herr Funke, ich schaue noch einmal in Ihre Richtung –,dann ist unsere Mühe umsonst. Die Länder müssen also indie Konsensfindung eingebunden werden. Wir müsseneine Regelung vorlegen, die die Chance hat, im Bundes-rat akzeptiert zu werden.Zum anderen müssen die Vorschläge solide sein unddürfen nicht von vornherein darauf angelegt sein, dass sieins Leere laufen. Mein Vorwurf geht in die Richtung derFDP, Herr Funke. Sie hatten Vorschläge unterbreitet, dieim Bundesrat keine Chance gehabt hätten. Wir wären mitdieser Initiative gescheitert.
Hans-Joachim Hacker
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002
Hans-Joachim HackerZiehen wir aber nun einen Strich darunter, die 14. Le-gislaturperiode ist schließlich zu Ende; wird sind jetzt inder 15.
– Wir haben einen Teil der Gebührenangleichung schondurchgeführt. Das scheinen Sie nicht zu wissen. – Ichhalte fest: Die Gebührenangleichung in der BRAGO spe-ziell für die neuen Länder bleibt ein zu lösendes Problem.Die SPD-Bundestagsfraktion signalisiert Gesprächs- undLösungsbereitschaft. Dazu werden wir stehen. Wir bittenaber, fundierte Gespräche zu führen und Vorschläge zuunterbreiten, die am Ende die Chance haben, im Gesetz-blatt abgedruckt zu werden.Für den Bereich der Justizpolitik gilt: Rot-Grün bleibtdem Ziel treu, Deutschland weiter zu modernisieren undfit für den internationalen Wettbewerb zu machen. DerSchutz der Bürgerrechte ist und bleibt zentrales Themaunserer Justizpolitik.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich kommeam Ende meiner Rede auf zwei Punkte zu sprechen, dieinsbesondere aus der Sicht der neuen Länder eine Rollespielen, die uns im Rechtsausschuss schon seit vielenJahren beschäftigen und die hier aus historischer Verant-wortung heraus noch einmal angesprochen werden soll-ten.Der eine Punkt betrifft die Frage, wie wir mit den Op-fern der SED-Diktatur umgehen. Wir haben festgestellt,dass das, was die damalige Regierung vorgelegt hatte,fehlerhafte Gesetze zur Beseitigung von SED-Unrechtund zur Rehabilitierung waren. In der letzten Legislatur-periode haben wir die Zusagen eingelöst, die wir denOpferverbänden gegeben haben. Wir haben eine Novel-lierung in Kraft gesetzt, durch die die Opfer des SED-Regimes deutlich besser gestellt worden sind. Dafür habenwir einen Betrag von mehreren Millionen zur Verfügunggestellt. Das betrifft sowohl die Opfer des SED-Regimesals auch die Lösung von offenen Problemen auf dem Ge-biet des Kriegsfolgenrechts.
– Herr Büttner, zu Ihnen sage ich: Die Vorschläge, die Siejetzt, zwölf Jahre nach der deutschen Einheit, bringen,hätten Sie zwei Jahre nach der deutschen Einheit bringenkönnen.
Ich frage Sie: Warum haben Sie die 1994 nicht gebracht?Warum haben Sie die auch 1996 nicht gebracht? Sie brin-gen hier wieder – das ist eine unerträgliche Kombination –das AAÜG-Problem mit den Entschädigungsleistungenfür die SED-Opfer in Verbindung. Das ist rechtsstaatlichnicht haltbar. Lassen Sie es; das gehört nicht zusammen.Sie hätten das längst – 1994 oder auch 1996 – regeln kön-nen.Sie wissen genau, dass die Systematik der Entschädi-gung der Opfer von staatlicher Gewalt und auch der Ent-schädigung der Opfer des Dritten Reiches in eine schwereSchieflage gekommen wäre, wenn wir Ihre Vorschlägeaufgegriffen hätten. Allein deswegen konnten wir sienicht aufgreifen. Ich bitte Sie: Kommen Sie von dem Po-pulismus ab, den Betroffenen wenige Wochen vor derBundestagswahl Vorschläge zu unterbreiten, die Sie jah-relang – fast ein Jahrzehnt lang – nicht verfolgt haben.
Dieses Problem stellt sich in umgedrehter Weise aller-dings auch bei der Novellierung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes. Ich muss an dieser Stelle noch einmal daranerinnern, dass es eine Koalition der Vernunft und Verant-wortung gab. Herr Büttner, diese haben Sie aufgegeben.
Herr Kollege Hacker, ich bitte Sie, zum Schluss zu
kommen.
Ich komme zum Schluss, Herr Vorsitzender. – Sie ha-
ben einen Eiertanz vollführt. Ich bin froh, dass wir am
Ende – auch unter Mitwirkung der FDP – noch eine No-
vellierung erreicht haben. An die Adresse der Union sage
ich: So kann es nicht weitergehen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, seit der deut-
schen Einheit haben wir viel erreicht. Der Wähler hat Rot-
Grün erneut die Mehrheit im Deutschen Bundestag ver-
schafft. Wir stellen uns dieser Verantwortung. Ich lade
insbesondere Sie von der Union, aber auch Sie von der
FDPein, im Rechts- und im Innenausschuss in dem Sinne,
wie es die Bundesministerin angeboten hat, Lösungen
sachgerecht und problemorientiert zu diskutieren. Schla-
gen Sie die ausgestreckte Hand bitte nicht aus.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Rainer Funke von der FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Mi-nisterin, als rechtspolitischer Sprecher der FDP beglück-wünsche ich Sie zunächst herzlich. Dieser Glückwunschgeht natürlich auch an die Adresse des Kollegen AlfredHartenbach. Wir freuen uns, mit Ihnen gemeinsam an derdeutschen Rechtsordnung arbeiten zu können. Ich sichereIhnen zu, dass wir gemeinsam versuchen werden, die vor
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uns liegenden Probleme im rechtspolitischen Bereichkonstruktiv zu lösen.
Wenn man die Koalitionsvereinbarung liest oder heutedie Regierungserklärung gehört hat, könnte man zunächstglauben, dass nach Auffassung der KoalitionsfraktionenRechtspolitik in dieser Legislaturperiode gar nicht statt-zufinden braucht. Sie, Frau Ministerin, haben das eben et-was dezidierter ausgeführt. Allerdings haben auch Siesich sehr im Allgemeinen gehalten. Das war auch gut so;denn man kann heute nicht alle Probleme lösen. Es warauch angenehm, dass die Debatte nicht in einem verlet-zenden, wie es sonst üblich war, sondern in einem ange-messenen Ton geführt wurde.
Meine Damen und Herren, wir müssen natürlich eineganze Reihe von Gesetzesinitiativen aufgreifen, die zumTeil – zum Beispiel von Ihrer Kollegin Frau von Renesse –in einem interfraktionellen Arbeitskreis aufgenommenworden sind. Ich spreche jetzt vom Betreuungsrecht. Ichmeine, wir sind es der Kollegin von Renesse schuldig,dass wir an diesem Betreuungsrecht weiter arbeiten. Wirbenötigen nämlich auch im Interesse der Länder ein prak-tikables Betreuungsrecht.
Das ist eine Sache, die bislang noch nicht erwähnt wordenist. Deswegen versuche ich, es in die Debatte einzuführen.Dasselbe gilt für die Neuordnung des Strafsanktio-nensystems. Sie wissen, dass auch diese Frage liegen ge-blieben ist. Wir hatten schon in der 13. Legislaturperiodeeine Kommission eingesetzt, die in der letzten Legislatur-periode gearbeitet hat. Die Beschlüsse dieser Kommis-sion müssen wir jetzt umsetzen.
– Sicherlich nicht alle. Aber wir müssen sie miteinanderdiskutieren. Dasselbe gilt für viele Fragen des Jugend-strafrechts.Auch Fragen des Wirtschafts- und Zivilrechts werdenim Koalitionsabkommen überhaupt nicht behandelt, ob-wohl sie aufgrund europäischer Vorgaben und auslaufen-der Gesetze – ich erinnere zum Beispiel an das Bilanz-recht des HGB – unbedingt angegangen werden müssen.Dazu zählt im Übrigen auch das Urheberrecht.Dazu gibtes eine Reihe von europäischen Richtlinien, die unter an-derem wegen der Digitalisierung umgesetzt werden müs-sen. Ich habe das Bilanzrecht erwähnt, das nicht nur, wieSie es ausgedrückt haben, die Bilanzbuchhalter erfreuensoll, sondern das Fragen der internationalen Wettbewerbs-ordnung enthält. Diese Fragen müssen wir aufnehmen,weil die entsprechenden Gesetze am 31. Dezember 2004auslaufen. Wir brauchen eine gewisse Vorlaufzeit. Des-wegen eilt es etwas.Dasselbe gilt für die Novellierung des Versicherungs-vertragsgesetzes. Daran hat eine Kommission unter Pro-fessor Niederleithinger gearbeitet. Ich glaube, dass davonvieles übernommen werden kann. Gleiches lässt sich überdie Kommissionsarbeit zum Corporate Governance, alsozur Novellierung des Aktienrechtes, sagen, die weit ge-diehen ist. Dies sollten wir genauso wie die Vorschlägezum Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb und zumMarkenrecht alsbald umsetzen. All das ist bislang im Ko-alitionsabkommen nicht enthalten und kam in der Regie-rungserklärung nicht vor. Da muss kräftig nachgebessertwerden.Im Übrigen ist weiterhin das Thema der Anwalts-gebühren aktuell. Wir können den Anwälten nach achtJahren Stillstand, also keinerlei Gebührenerhöhung, nichtimmer versprechen, etwas zu machen, wie es die voran-gegangene Ministerin getan hat, und sie dann auflaufenlassen.
Die Anwälte fühlen sich im wahrsten Sinne verraten undverkauft. Das darf man nicht machen.
– Ich kenne das Gesetz. Danach rechne ich genau wie Sie,Kollege Ströbele, ab. Aber dass es nicht ausreichend ist,das wissen Sie ganz genau. Es müssen strukturelle undauch lineare Verbesserungen vorgenommen werden.
Dasselbe gilt im Übrigen natürlich auch für dasRechtsberatungsgesetz. Wir können das Rechtsbera-tungsgesetz, das ja ein Verbraucherschutzgesetz ist – es istkein Schutzgesetz für die Rechtsanwälte –, nicht so ohneweiteres verändern, wie Sie sich das offensichtlich in Ih-rer Koalitionsvereinbarung vorgestellt haben. Das istwohl auf Wunsch der Grünen aufgenommen worden. Dieshalte ich für falsch. Wir müssen an die Verbraucher den-ken. Die Verbraucher dürfen nicht von Leuten rechtlichberaten werden, die davon nichts verstehen.
In der Rechtspolitik haben wir also reichlich zu tun.Die Regierung sollte bald erkennen lassen, in welcheRichtung sie denkt und was konkret geschehen soll. Wirsind bereit, konstruktiv mitzuarbeiten und den Dialog zusuchen. Wir hoffen sehr, dass in die Rechtspolitik und inden Rechtsausschuss im Interesse unserer Rechtsord-nung, die insgesamt wirklich verteidigungswert ist, wie-der Kollegialität, Herr Kollege Hartenbach, und Sach-lichkeit zurückkehren.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Kollege Jerzy Montag vomBündnis 90/Die Grünen.Rainer Funke
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erlauben Sie mirzu Beginn kurz einige persönliche Worte. Dies ist meineerste Rede im Deutschen Bundestag und ich verhehlenicht, dass mich dieser für mich einmalige und erstmaligeVorgang tief berührt.Es war mir wahrlich nicht in die Wiege gelegt worden,einmal als frei gewählter Abgeordneter für ein demokra-tisches Deutschland zu stehen. Meine Eltern und nur we-nige meiner Familie haben durch Zufall und Glück dasschlimmste Unrechtsregime, das je von Deutschland aus-gegangen ist, überlebt. Deshalb gilt in diesem Momentmein erster Gedanke ihnen.Für mich und sicherlich für uns alle gilt es, die bestenLehren, die Deutschland aus seiner dunklen Vergangen-heit ziehen konnte, nämlich die unbedingte Achtung derMenschenrechte und die Errichtung eines Rechtsstaats, zuverteidigen, zu festigen und auszubauen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir diskutieren nachder Regierungserklärung des Bundeskanzlers jetzt die In-nen-, Rechts- und Kulturpolitik. Ich halte es für richtig,auch von der Kultur des Rechts zu sprechen. In einemRechtsstaat hat niemand das Recht, sich über das Recht zustellen. Das gilt auch für Prominente, welcher Sparte auchimmer, und auch für die so genannten besser Betuchten.Weder Ruhm noch Geld entbinden von der Bindung andas Recht. Dies gilt aber auch und, wie ich meine, vor al-lem für uns, die Politikerinnen und Politiker auf allenEbenen der Politik. Es gilt selbstverständlich für gemeineRechtsbrecher und auch für selbst ernannte Erlöser undBefreier. Es gilt aber auch für die Staatsdiener in den Be-reichen der Exekutive, die das Recht zu schützen haben.Vor Recht und Gesetz müssen alle gleich sein.
Aber auch die Gesetzgebung selbst – und damit wir, diesie gestalten – darf sich nicht über das Recht stellen. DieGrundrechte und die Menschenrechte bestimmen, welcheGesetze und Verordnungen in diesem guten Sinne Rechtoder eben Unrecht sind.Wir Grüne wollen in der 15. Legislaturperiode desBundestags einer solchen Kultur des Rechts Gestalt undKraft geben. War die Rechtspolitik in den vergangenenvier Jahren noch da und dort von der Abwehr von Be-schädigungen einer solchen Kultur des Rechts bestimmt,so wollen wir Grüne in den nächsten vier Jahren dieRechte der Bürgerinnen und Bürger und die Menschen-rechte aller in Deutschland lebenden Menschen festigenund ausbauen.
Wir werden damit einen Beitrag zu einer Kultur desRechts in Deutschland leisten.Herr Röttgen, Sie haben in Ihrem Beitrag ausgeführt,dass Sie in Zukunft zum Beispiel gern die Gesetzesfolgen-abschätzung und auch die Befristung von Gesetzen dis-kutieren würden. Ich persönlich meine dazu, das ist ein guterGedanke, der aber der CDU/CSU bzw. der Opposition invielen Jahrzehnten der Gesetzgebung nie eingefallen ist.
Sie haben es sich von uns abgeschaut. Es ist auch ein gutesVorhaben. Wir werden in Zukunft noch über die Befris-tung von Gesetzen und die Gesetzesfolgenabschätzungdiskutieren können.
Meine Damen und Herren, das Gesetz über die Ein-getragene Lebenspartnerschaft für homosexuelle Paarestellt die konkrete Bekämpfung von Diskriminierung dar.Das Bundesverfassungsgericht hat uns mit seiner Ent-scheidung in dieser Richtung in vollem Umfang Recht ge-geben. Jetzt wollen wir dieses Gesetz weiterentwickelnund auch den Schutz von Menschen in nicht ehelichen Le-bensgemeinschaften verbessern;
denn wir Grünen wollen die Menschen schützen und stär-ken,
die Verantwortung füreinander und für Kinder überneh-men. Wir wollen den Menschen nicht vorschreiben, wiesie dies zu machen haben. Aber wir wollen sie fördern,wenn sie es machen.Wir wollen außerdem ein Gentestgesetz schaffen, dasdie Autonomie der Menschen über ihre Gendaten, die einintegraler Bestandteil ihrer Persönlichkeit sind, wahrt,Diskriminierungen aufgrund genetischer Dispositionenunterbindet, ein Recht auf Nichtwissen anerkennt und Zu-griffe von Dritten auf Gendaten ausschließt.Wir werden des Weiteren den gesetzlichen Schutz vorDiskriminierungen im Alltag weiter ausbauen; denn nie-mand soll wegen seines Geschlechts, seiner Herkunft, sei-ner Religion und Weltanschauung im öffentlichen Raumbenachteiligt werden.
DieKorruption – Herr Kollege Hacker hat dies schonangesprochen – wollen wir verstärkt bekämpfen. Unionund FDP haben in der letzten Wahlperiode im Bundesratdie Schaffung eines Korruptionsregisters blockiert. Wirwollen es in einem zweiten Anlauf einbringen.
Unternehmen, die wegen Korruption von der Vergabe öf-fentlicher Aufträge ausgeschlossen werden, dürfen zu-mindest auf längere Zeit keine zweite Chance erhalten;denn auch Korruption, Bestechung und Untreue sindkeine Kavaliersdelikte.
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– Aber, Herr Kollege, sie müssen nachgewiesen sein. Voneinem Verdacht habe ich nicht gesprochen. Ich hoffe, dassSie das so gehört haben.
Herr Kollege Röttgen hat in seiner Rede beklagt, dass dasSchuldrecht und die Reform der Zivilprozessordnung schonwieder nachzubessern seien. Ich erkenne durchaus an, dasses sinnvoll ist, eine Überprüfung nach einiger Zeit vorzu-nehmen. Ich schlage aber vor, dass auch Sie von der Oppo-sition dem großen Reformwerk des Schuldrechts und derZivilprozessordnung eine Zeit der Bewährung einräumen.
Wir können nach vier oder acht Jahren immer nochdarüber diskutieren, ob das eine oder andere nicht nocheinmal verbessert werden kann.Wir wollen nach dem Zivilverfahren auch den Straf-prozess modernisieren. Er soll bürgernäher, schneller undeffektiver werden. Aber wir werden dabei die verfas-sungsmäßigen Rechte der Beschuldigten,
ihrer Verteidiger sowie auch die der Nebenkläger, der Op-fer und ihrer Vertreter nicht zur Disposition stellen.
Bereits in der letzten Legislaturperiode wurden in der Ko-alition Eckpunkte einer Reform der Strafprozessord-nung verabredet. Ich finde, diese stellen eine gute Grund-lage dar. Wir Grünen werden weitergehende Vorschläge indie Diskussion über die Reform der Strafprozessordnungeinbringen.Ich wollte eigentlich zur Kronzeugenregelung nichtssagen; denn sie ist nicht verabredet. Aber nachdem schonVorredner darauf eingegangen sind, will ich es doch tun.Wenn hinter dem Rücken des Gerichts für bestimmte Aus-sagen, die nicht überprüft sind und die manchmal nichtüberprüft werden können, Zusagen auf Straferlass ge-macht werden, dann ist dies ein schlechter Deal und hat ineinem rechtsstaatlichen Verfahren nichts zu suchen.
Wenn dies unter Kronzeugenregelung verstanden wird,
dann können wir uns sicherlich darauf einigen, dass wirdas nicht wollen.
Was wir wollen, steht in der Koalitionsvereinbarung. Wirwollen die Strafmilderungsgründe in § 46 StGB in denje-nigen Fällen erweitern, in denen Täter für das Gerichtnachweisbar zur Aufklärung beigetragen haben.
– Das ist heutige Praxis. Sie haben völlig Recht. Des-wegen haben wir festgelegt, dass wir die Möglichkeitender Strafminderung erweitern wollen.Dies ist für uns keine Kronzeugenregelung.
Das, was wir von Rot-Grün gemeinsam festgelegt haben,können wir ja alle gemeinsam angehen.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, die Koalitionsvereinbarung zwischen SPD undBündnis 90/Die Grünen ermöglicht eine moderne, denGrundrechten verpflichtete Rechtspolitik. Wir Grünenwerden die darin liegenden Chancen nutzen. Durch unsund unsere Politik ist die Gesellschaft offener und tole-ranter geworden. Rechtsstaatlichkeit und Selbstbestim-mung in Verantwortung – dies ist unser Weg und diesenWeg werden wir fortsetzen.Ich danke Ihnen.
Herr Kollege Montag, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ers-
ten Rede in diesem Hause.
Das Wort hat jetzt Bundesminister Otto Schily für die
Bundesregierung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Ineiner solchen Debatte steht uns allen nur eine begrenzteRedezeit zur Verfügung. Deshalb ist es nicht möglich, hieralle Aspekte der Innenpolitik zu beleuchten und alle Auf-gabenbereiche zu erörtern. Ich werde mich daher auf ei-nige wenige wesentliche Elemente beschränken müssen.Innenpolitik als Bestandteil der allgemeinen Sicher-heitspolitik muss sich – das muss man mit Sorge und mitgroßem Ernst sagen – auf sehr schwierige und gefahrvolleJahre einstellen. Die Bedrohung durch den internatio-nalen islamistisch-fundamentalistischen Terrorismus– das ist eine realistische Einschätzung – hat zugenom-men. Das entspricht der Lagebeurteilung unserer Sicher-heitsinstitutionen ebenso wie der unserer engsten Verbün-deten. Wir sehen die breite Blutspur des Terrors, demzahllose Menschen, darunter viele Kinder und Jugendli-che, zum Opfer gefallen sind, und wir müssen leider vo-raussehen, dass sich der Terror fortsetzen wird.Wir sind mit einem weltweiten Terrorismus konfron-tiert, dessen Todesbesessenheit, dessen Menschenverach-tung und dessen Brutalität uns mit Entsetzen und mit Ab-scheu erfüllen. Dieser Terrorismus verkörpert die zumÄußersten getriebene Menschenfeindschaft und Lebens-verachtung, die Verachtung fremden und des eigenenJerzy Montag
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Bundesminister Otto SchilyLebens. Dieser Terrorismus entspringt einem in gottesläs-terlichen Wahnsinn abgeirrten Weltbild. Dieser Terroris-mus ist der Feind aller menschlichen Grundwerte.
Das entbindet uns sicherlich nicht von der Verpflich-tung, uns auch mit der Frage auseinander zu setzen, wieMenschen in den Sog von Hass und Menschenverachtunggeraten sind. Präventive Politik muss immer auch daraufgerichtet sein, Menschen gegen Anwandlungen von Hassund Extremismus, der schlimmstenfalls in Terrorismusumschlägt, zu immunisieren.Meine Damen und Herren, New York, Daressalam,Bali, Djerba und Moskau – es waren stets so genannteweiche Ziele, die sich die Terroristen für ihre Mordtatenausgesucht haben. Das Ausmaß der Bedrohung hat damiteine Größenordnung angenommen, die uns vor bisher niegekannte Probleme stellt. Das Ausmaß der Bedrohung be-schreibt aber zugleich die Größenordnung unserer ge-meinsamen Verantwortung. Wir müssen auf der einenSeite alles Menschenmögliche tun, um uns gegen eine sol-che Bedrohung zu schützen, dürfen uns aber auf der an-deren Seite nicht in Panik treiben lassen und erst recht nie-manden in Panik treiben.
Unbestreitbar haben wir durchaus Erfolge in derBekämpfung des internationalen Terrorismus erzielt. DerPolizei in Bund und Ländern, den Anklagebehörden, denVerfassungsschutzämtern in Bund und Ländern und demAuslandsnachrichtendienst verdanken wir beachtlicheFortschritte bei der Ermittlung und Ahndung terroristi-scher Straftaten ebenso wie die Aufdeckung terroristischerStrukturen. Allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dergenannten Sicherheitsinstitutionen spreche ich dafür mei-nen herzlichen Dank und meine Anerkennung aus.
Wir wissen, dass die Bekämpfung des internationalenTerrorismus nicht im nationalen Rahmen, sondern nur inenger und vertrauensvoller internationaler Zusammenar-beit erfolgreich sein kann. Deshalb hat die Bundesregie-rung in den zurückliegenden Jahren stets auf die interna-tionale Zusammenarbeit, insbesondere mit den engstenVerbündeten, mit den Vereinigten Staaten von Amerikaund mit den EU-Mitgliedstaaten, besonderen Wert gelegt.Besonders bewährt hat sich die freundschaftliche und ver-trauensvolle Zusammenarbeit mit den Sicherheitsinstitu-tionen der USA, sowohl bei den Ermittlungsaufgaben alsauch in der Abstimmung und Kooperation bei umfassen-den präventiven Maßnahmen.Diese Zusammenarbeit wird von beiden Seiten über-einstimmend als ausgezeichnet bewertet. Meine Ge-spräche, die ich vor wenigen Tagen in Washington und zu-vor in Kopenhagen mit dem Attorney General, meinemFreund John Ashcroft, geführt habe, haben dies noch ein-mal bestätigt. Wir werden diese Zusammenarbeit weiterintensivieren. Aus diesem Grunde werde ich in Kürzenoch einmal nach Washington reisen, um mich zusammenmit meiner Kollegin Zypries um die Lösung bestimmterDetailprobleme zu kümmern.Die Erfolge, die wir bei der Aufklärung und im Rah-men von Ermittlungen erzielt haben, stehen im Übrigen ineinem engen Zusammenhang mit den erweiterten Befug-nissen, die wir den Sicherheitsbehörden in der vergange-nen Legislaturperiode verschafft haben. Wir werden imLaufe dieser Legislaturperiode aber unvoreingenommenzu prüfen haben, ob es an der einen oder anderen StelleKorrektur- und Justierungsbedarf gibt. Übrigens, HerrKollege Röttgen: Wir haben einige Gesetze schon als be-fristet geltende Gesetze ausgestaltet. Der Ratschlagkommt also ein bisschen zu spät.
Darüber wird hier im Parlament ebenso wie im Kreisder Länderinnen- und -justizminister zu reden sein. Werimmer konstruktive Vorschläge entwickelt, wird uns will-kommen sein. Wir werden sie vorurteilsfrei prüfen. Ichbitte Sie, die Diskussion so zu führen, dass wir den Streitnicht um des Streites willen inszenieren. Gerade in denFragen der inneren Sicherheit gibt es eine gemeinsameVerantwortung. Das war in der Vergangenheit so und dassollte auch in der Zukunft so sein. Dass wir in der Innen-ministerkonferenz nur im Konsens entscheiden, ist Aus-druck einer solchen vernünftigen Politik. Wenn Sie, HerrKollege Röttgen, für sich in Anspruch nehmen, das bes-sere Argument zu haben, sollten wir es vorurteilsfrei prü-fen, wenn Sie es denn haben, aber Sie sollten genauso aufdas Argument auf der Seite der Regierungskoalitionhören, wenn das das bessere ist.
Wenn wir in dieser Weise miteinander umgehen, dannwäre es zum Besten unseres Volkes.Ungeachtet der Erfolge der Sicherheitsinstitutionen istes ferner geboten, deren Strukturen und Arbeitszusam-menhänge darauf zu überprüfen, ob und auf welche WeiseEffizienzsteigerungen möglich sind. Das gilt insbeson-dere für die Voraufklärung in manchen Bereichen, in de-nen wir aufgrund bestimmter Schwierigkeiten, die denExperten durchaus geläufig sind, noch nicht das haben zu-stande bringen können, was wir erreichen wollten.Damit eine solche Arbeit erfolgreich sein kann, werdeich auch in Zukunft strikt darauf achten, dass unsere Si-cherheitsinstitutionen mit angemessenen finanziellenRessourcen ausgestattet sind und dass bestimmte Anpas-sungen, beispielsweise die Stellenstruktur im Bundes-grenzschutz und hoffentlich in der künftigen Bundespoli-zei, vorgenommen werden, damit sie ihren Aufgabengerecht werden können.Effizienzsteigerungen gilt es auch im Allgemeinen zuerreichen. Wir haben in der vergangenen Legislaturperi-ode mit der Modernisierung der Verwaltung begonnen.Auf diesem Gebiet haben wir durchaus Erfolge erzielt;aber wir sind sicherlich noch nicht am Ende angelangt.Das gilt sowohl für das Projekt „Bund-Online 2005“ undfür den Bürokratieabbau. Die eingeleitete Politik mussentschlossen fortgesetzt werden. Auch dazu sage ich Ih-nen: Wenn Sie, die Abgeordneten der Oppositionsfraktio-nen, vernünftige Vorschläge haben, dann werden wir siegerne zur Kenntnis nehmen und prüfen.
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Aber wenn – „wenn“ muss betont werden – der Vor-schlag nur darin besteht, wieder eine große Kommissionins Leben zu rufen, wie wir es schon in früheren Jahren er-lebt haben – ich habe den Vorschlag von Herrn Minister-präsident Stoiber gelesen –, dann wird sich das Vorhabendes Bürokratieabbaus wieder in einer Kommission verir-ren und der Bürokratieabbau wird nicht vorankommen.
Es kann an dieser Stelle mit einer Kommission also nichtsein Bewenden haben. Gegen Kommissionen ist im Prin-zip nichts einzuwenden.
– Natürlich nicht. Sie können die Einrichtung einer Kom-mission doch nicht immer dann für richtig halten, wennSie es vorschlagen, während Sie deren Einrichtung fürfalsch halten, wenn wir es wollen.
In dieser Weise kann man mit diesen Fragen nicht umge-hen.Wir werden – auch das hat übrigens einen Bezug zur Si-cherheitspolitik – unsere Integrationspolitik entschlossenvoranbringen. Wir haben mit dem Zuwanderungsgesetzdafür eine gute Grundlage geschaffen.
Ich bin dafür dankbar, dass sich mittlerweile, seitdem derWahltag vorüber ist, auch die Länder an den Maßnah-men, die zur Anwendung dieses Gesetzes erforderlichsind – Rechtsverordnungen, Durchführungsverordnun-gen –, konstruktiv beteiligen. Ich hoffe, dass auch die Op-position im Deutschen Bundestag die gleiche konstruk-tive Haltung einnehmen wird.
Innen- und Sicherheitspolitik sind heute insbesonderein die europäischen Zusammenhänge eingebettet. Ich bindarüber froh, dass die Bundesregierung immer an derSpitze der europäischen Entwicklung mitarbeitet. Das giltsowohl für die Konferenz der Innen- und Justizministerder Europäischen Union wie auch für die Arbeit an dereuropäischen Verfassung. Gerade wir, die beiden Verfas-sungsminister, Frau Kollegin Zypries und ich, werden unsin die Arbeit des EU-Konvents sehr aktiv einbringen.
Von Europa als einem Raum der Freiheit und desRechts war heute schon die Rede; davon sollte man auchweiterhin sprechen. Europa ist eine Wertegemeinschaft,die auch den Begriff, den der Kollege Montag eben ange-sprochen hat, umfasst. Ich bin ihm sehr dankbar dafür,dass er diesen Begriff verwendet hat.Mein Freund Leoluca Orlando, der frühere Bürger-meister von Palermo, der Erfahrungen mit der Bekämp-fung der Mafia gemacht hat, hat gesagt: Die Mafia habenwir zurückgedrängt auf der Grundlage einer Kultur desRechtes. Auch wir werden den Kampf gegen die organi-sierte Kriminalität, gegen den Terrorismus auf der Basisder Kultur des Rechts gewinnen. Deshalb müssen wirauch daran arbeiten, dass sich diese Kultur des Rechts,aber auch die allgemeine Wertegemeinschaft so darstellt,dass sie eine wehrhafte Wertegesellschaft gegenüber denAnfechtungen des internationalen Terrorismus ist. Ob daswirklich von Erfolg gekrönt ist, hängt auch davon ab, wiewir uns zueinander verhalten: ob dies einmündet in eineKultur des Respekts, der Achtung vor unseren Institutio-nen, vor unseren Werten und vor dem jeweils anderen,dem man gegenübersteht.Frau Kollegin Merkel, verstehen Sie es als eine Bittedes Kirchenministers: Ich glaube, die Achtung vor demEvangelium sollte so weit gehen, dass wir das Johannes-Evangelium nicht für parteipolitische Polemik miss-brauchen.
– Entschuldigen Sie, dass ich das sage. Ich habe es ganzfreundlich als eine Bitte formuliert. Überlegen Sie sicheinen Moment lang, ob das ein guter Einstieg in Ihreheutige Rede war, Frau Merkel!
Ich bin nicht dagegen, dass Polemik stattfindet. Ich selberkann, wie Sie wissen, auch damit umgehen, wenn es Nottut. Ich glaube allerdings, dass wir gut daran tun, sowohlwas die religiösen Überzeugungen als auch was diestaatlichen und die gesellschaftlichen Institutionenangeht, damit so umzugehen, dass sie keinen Schadennehmen. Wenn uns das nicht gelingt – das alles mögen Sieja lächerlich finden –, wird dort eine Einbruchstelle für fa-natische Extremisten und Terroristen entstehen.
Ich sagen Ihnen das in allem Ernst. Das ist auch eine Fragedes Umgangs im Parlament. Niemals, meine Damen undHerren, darf die politische Gegnerschaft in Feindseligkeitumschlagen. Das ist jedenfalls meine Überzeugung. Ichhoffe, dass wir uns auf dieser Basis auseinander setzenkönnen.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Bosbach für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Mi-nister Schily, weite Teile Ihrer Rede waren gut, und SieBundesminister Otto Schily
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Wolfgang Bosbachhaben auch Applaus von unserer Fraktion bekommen.Aber die letzten zwei Minuten waren in jeder Form in-akzeptabel.
Ihre Kritik an unserer Fraktionsvorsitzenden ist völligneben der Sache, und wer im Glashaus sitzt, der solltenicht mit Steinen werfen. Es gibt nämlich auch das Gebot:Du sollst kein falsches Zeugnis geben wider deinen Näch-sten. Wenn Sie noch einmal ein Flugblatt zum Thema„Zuwanderung“ herausbringen, sollten Sie sich wenigs-tens in der Nähe der Wahrheit befinden und nichtVolksverdummung betreiben, dazu noch auf Kosten desSteuerzahlers.
Vermutlich hat es in der Geschichte der Bundesrepubliknoch keine einzige Koalitionsvereinbarung gegeben, dieso massiv kritisiert worden ist wie die rot-grüne Koali-tionsvereinbarung in dieser Wahlperiode. Die öffentlicheKritik hat sich im Wesentlichen auf Wirtschafts-, Finanz-und Arbeitsmarktpolitik konzentriert, aber der Bereich In-nen- und Rechtspolitik ist genauso enttäuschend, ja de-primierend wie der Rest der Koalitionsvereinbarung.
Frau Zypris, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer Berufung zurBundesministerin der Justiz.
Wir alle hoffen, dass Sie stets kluge, vernünftige undrichtige Entscheidungen treffen. Im Klartext: Wir allehoffen, dass Sie die Politik Ihrer Vorgängerin nicht fort-setzen. Wenn das so ist, haben Sie unsere Unterstützung.Dann bieten wir Ihnen eine faire Zusammenarbeit an.
Herr Kollege Schily, bei Ihnen fällt mir das schon einbisschen schwerer; das werden Sie sicherlich verstehen.
Aber ich gratuliere Ihnen ebenso zu Ihrer Wiederernen-nung zum Bundesminister des Innern. Sie wissen aus dervergangenen Legislaturperiode, dass wir Sie immer dannunterstützen, wenn Sie Entscheidungen treffen, die denInteressen des Landes wirklich dienen. Aber wir habenaus der Erfahrung begründete Zweifel daran, dass Sie denWillen und die Kraft haben, in der Koalition diejenigenEntscheidungen durchzusetzen, die notwendig sind,beispielsweise wenn es darum geht, die Bevölkerungwirksamer vor Kriminalität und Terrorismus zu schützen.
Vieles von dem, was Sie nach dem 11. September 2001gesagt haben, und auch vieles von dem, was Sie geradevon dieser Stelle aus gesagt haben, haben wir schon im-mer für richtig gehalten und sind dafür heftigst kritisiertworden, nicht nur, aber auch von Ihren sozialdemokrati-schen Kolleginnen und Kollegen. Entscheidend ist abernicht, Herr Schily, was Sie sagen, sondern entscheidendist, was Sie machen, was Sie politisch durchsetzen undnicht durchsetzen in Ihrer Koalition.
Unübersehbar ist, dass sich Rot-Grün in vielen Punk-ten nicht hat einigen können. Nach den Erfahrungen derletzten Jahre ist davon auszugehen, dass sich das in dieserWahlperiode nicht ändern wird. Die Politik der ruhigenHand war in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik un-verantwortlich. Beim Thema der inneren Sicherheit ist siees nicht minder.
Nicht nur, dass die Koalition nicht das tut, was drin-gend getan werden müsste; zumindest in einigen Berei-chen geschieht genau das Gegenteil dessen, was notwen-dig ist. Beispiel Bürokratieabbau: Wir haben inDeutschland eine Regelungsdichte, die weltweit einzigar-tig ist, etwa im Steuerrecht. 70 Prozent der steuerrechtli-chen Literatur, die in der Welt erscheint, ist in deutscherSprache. Die zehn Gebote bestehen aus 283 Wörtern.
§ 19 a des Einkommensteuergesetzes besteht aus 437 Wör-tern und gewährt einen Steuervorteil pro Jahr von maxi-mal 80 Euro.Blicken wir zurück auf die rot-grüne Koalitionsverein-barung des Jahres 1998. Ich zitiere wörtlich:Wir wollen einen effizienten und bürgerfreundlichenStaat. Deswegen werden wir die Bürokratie abbauen ...
– Wir kommen gleich zur Praxis, Herr Tauss. Dann wer-den Sie viel leiser sein, als Sie sonst hier immer dröhnendin Liegestuhlhaltung das Parlament bereichern.Weiter heißt es:Die neue Bundesregierung wird die Bundesverwal-tung modernisieren; dazu wird eine besondere Stabs-stelle unter Leitung des BMI eingerichtet, die diedafür geltenden Verfahrensabläufe und Rechtsvor-schriften überprüfen und vereinfachen sowie die Re-gelungsdichte verringern soll.Das waren die Verheißungen des Jahres 1998. Jetztkommen wir zur Praxis. Ergebnis nach vierjährigem rot-grünen „Bürokratieabbau“: Im Jahr 2002 haben wir 391Gesetze und sage und schreibe 973 Rechtsverordnungenmehr als vor vier Jahren.
Das dürfte der weltweit einzigartige Versuch sein, durch1 364 neue Gesetze eine Verringerung der Regelungs-dichte herbeizuführen.
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Herr Schily, jetzt versprechen Sie schon wieder einenAbbau von Bürokratie. Das können wir vor dem Hinter-grund der Erfahrungen in den letzten vier gemeinsamenJahren mit allen Bürgern in diesem Lande nur als Dro-hung verstehen. Vieles in der rot-grünen Koalitionsver-einbarung ist ja auch nebulös und völlig inhaltsleer. Daheißt es unter anderem: Die Alltagskriminalität werdenwir konsequent bekämpfen. – Das ist prima. Wir wollenaber gern wissen, wie.
Wenn Sie den Worten Taten folgen lassen, dann haben Sieuns an Ihrer Seite.
Wir wollen aber wissen, wie die Bekämpfung ganz kon-kret aussieht. Sind Sie dafür, dass wir die Graffiti-Schmie-rereien,
eine Landplage zwischen Flensburg und Mittenwald mitvielen 100 Millionen Euro Schaden jedes Jahr an Gebäu-den und öffentlichen Verkehrsmitteln, endlich konsequentals Sachbeschädigung strafrechtlich ahnden oder wollenSie das nicht?
Sie haben in der vergangenen Wahlperiode alle entspre-chenden Initiativen der Union abgelehnt. Sie haben dieAlltagskriminalität nicht konsequent bekämpft, sondernSie haben sie konsequent bagatellisiert. Dabei werden wirnicht mitmachen. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
An anderer Stelle gibt uns die Koalition echte Rätselauf. Beispiel: Einführung biometrischer Daten in Aus-weisen. In der Vereinbarung sprechen Sie von einer Wei-terentwicklung moderner Methoden der Biometrie zurIdentitätssicherung, ohne dass dem gesamten Text auchnur andeutungsweise zu entnehmen ist, was das heißensoll. Werden jetzt fälschungssichere Pässe mit biometri-schen Daten eingeführt, ja oder nein? Wird es fälschungs-sichere Personalausweise mit biometrischen Daten geben,ja oder nein?Ist irgendjemand hier der Auffassung, dass durch dieEinführung biometrischer Daten in Ausweispapieren ir-gendein Bürgerrecht tangiert wird? Ist jemand ernsthaftder Auffassung, dass es ein Bürgerrecht auf leicht fälsch-bare Ausweispapiere gibt? Das kann doch niemand ernst-haft meinen.
Tatsache ist: Sie nehmen dieses Thema auf, weil der In-nenminister zutreffenderweise der Auffassung ist, dassdie Fälschungssicherheit erhöht werden müsste. Tatsacheist aber auch, dass sich die Koalition darauf nicht einigenkann. – Herr Kollege Schily, Sie können gerne eine Zwi-schenfrage stellen.
Herr Kollege Bosbach, das Wort zu einer Zwi-
schenfrage erteilt aber immer noch der amtierende Präsi-
dent.
Herr Kollege Schily, bitte schön.
Herr Kollege Bosbach, Sie sprechen die Fälschungssi-
cherheit an. Ich glaube, Sie machen einen Fehler, indem
Sie zwei Dinge vermischen. Identifizierung und Fäl-
schungssicherheit sind zwei Paar Schuhe.
Ist Ihnen bekannt, dass heutzutage in Deutschland Pässe
hergestellt werden, die praktisch fälschungssicher sind?
Ist das die Frage?
Ja, ich frage, ob Ihnen das bekannt ist.
Herr Kollege Schily, ist Ihnen bekannt, dass Sie sichvor wenigen Monaten mit Ihrem eigenen Personalausweisund Ihrem eigenen Fingerabdruck darin in der Öffentlich-keit so lange haben fotografieren lassen, bis die Bevölke-rung geglaubt hat, das habe der Bundestag wirklich be-schlossen?
Sie sind in allen deutschen Medien mit zwei Bildern prä-sent, nämlich mit dem Bild von Ihrem eigenen Personal-ausweis mit falschem Geburtsdatum
und mit dem Bild, für das Sie sich einen riesigen Helmaufgesetzt und einen Schlagstock in die Hand genommenhaben, um damit zu demonstrieren, dass das Ihr Beitragzu mehr innerer Sicherheit in Deutschland sei.Ihnen, Herr Schily, nehme ich es sogar ab, dass Sie derAuffassung sind, was ja auch richtig ist, dass die Aus-weispapiere so fälschungssicher wie möglich gemachtwerden sollten. Welches biometrische Merkmal in dieAusweispapiere aufgenommen wird, ist dann eine zweiteFrage. Wir wissen aber auch, dass Sie weder den Willennoch die Kraft haben, das, was notwendig ist, mit dieserWolfgang Bosbach
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Wolfgang BosbachTruppe hier im Deutschen Bundestag durchzusetzen. Dasist die Wahrheit.
Herr Kollege Bosbach, erlauben Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Tauss?
Ja.
Bitte schön, Herr Tauss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Bosbach, ist Ihnen bekannt, dass der
Deutsche Bundestag über sein Büro für Technikfolgen-
abschätzung ein Gutachten zum Thema Biometrie in Auf-
trag gegeben hat, das zum Inhalt hat, dass es zu bio-
metrischen Systemen noch erhebliche technische
Fragestellungen gibt, dass es noch kein biometrisches
System gibt, das, zumindest über viele Jahre hinweg, be-
reits als sicher angesehen werden kann? Halten nicht auch
Sie es für sinnvoll, dass man vor der Realisierung Ihrer
Forderungen zumindest über die technischen Grundlagen
nachdenken sollte, über die man reden will? Ich meine,
das sollte man auch von jemandem verlangen, der nicht
Forschungspolitiker ist. – Stimmen Sie mir darin zu?
Herr Kollege Tauss, ich betrachte Ihre Fragestellungals heftige Kritik an dem Innenminister,
der sich Ihrer Meinung nach – –
– Entschuldigung, Herr Kollege Tauss. Sie fragen, ich ant-worte und jetzt müssen Sie die Antwort tapfer hinnehmen.
Ich entnehme Ihrer Fragestellung, dass sich der Bun-desinnenminister nach Ihrer Auffassung voreilig mit sei-nen biometrischen Daten
in seinem eigenen Personalausweis hat fotografieren lassen.
Herr Tauss, ich will es ganz kurz machen. Sie habennach dem 11. September gesagt: Das werden wir einführen.
Sie haben hier zwar gesetzliche Änderungen beschlossen.Diese haben aber nichts anderes zum Inhalt als die Aus-sage, dass es demnächst durch ein neues Gesetz einge-führt werden könnte, weil Sie sich auf die Einführung sel-ber in der Koalition nicht haben einigen können. – Endeder Durchsage zu diesem Thema.
Es gibt eine weitere Kuriosität, über die ebenfalls ge-rade gesprochen worden ist: die Kronzeugenregelung.Am gleichen Tag, als Sie, Herr Schily, der staunenden Öf-fentlichkeit erklärt haben, dass Sie in der Koalition eineKronzeugenregelung beschlossen haben, hat der Außen-minister Fischer für die Grünen gesagt, dass Sie keineKronzeugenregelung beschlossen haben. Es gibt folgendeMöglichkeiten: Schily hat Recht; dann kann Fischer nichtRecht haben. Oder Fischer hat Recht; dann kann Schilynicht Recht haben. Ausgeschlossen ist, dass beide gleich-zeitig Recht haben. Wir haben keine Kronzeugenrege-lung, sondern bestenfalls die Wiederholung einer Selbst-verständlichkeit in Bezug auf die Strafzumessung, HerrKollege Montag, nämlich dass das Verhalten des Tätersnach der Tat bei der Strafzumessung zu berücksichtigenist.
Wir sind leider – das ist ein ernstes Thema – insbeson-dere bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalitätund des internationalen Terrorismus auch auf Aussagenvon Täterzeugen angewiesen.
Wenn wir es mit ethnisch geschlossenen Tätergruppen zutun haben, dann können wir dort nicht mit verdeckten Er-mittlern operieren.
In diesem Fall gibt es leider Verbrechen, die wir nicht auf-klären und bei denen wir die Täter nicht überführen kön-nen, wenn wir nicht Angaben von Täterzeugen haben,
die zum Teil ihr Leben riskieren, wenn sie aus der Szeneaussteigen und gegen ihre ehemaligen Mittäter aussagen.Wenn sich jemand beim Bundeskriminalamt, beim Ver-fassungsschutz oder wo auch immer meldet, um unter Le-bensgefahr auszupacken, dann braucht er eine neue Iden-tität. Außerdem fragt er sich, was er davon hat.
– Jetzt fehlt nur noch die Aussage „Don’t leave yourbaggage unattended!“.
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Dann sagen Sie zu diesem Täterzeugen, Herr Montag:Wenn Sie gegen Ihre ehemaligen Mittäter aussagen, dannkann es sein, dass die Strafzumessung möglicherweisemilder ausfällt. – Glauben Sie ernsthaft, dass bei dieserRegelung ein Schwerverbrecher aussteigt?
– Ich sage zu ihm das, was wir in der Vergangenheit schonoftmals gesagt haben. Wenn er auspackt und wenn seineAussage dazu beiträgt, Verbrechen aufzuklären, Verbre-cher zu überführen und vor allen Dingen neue schwereund schwerste Straftaten zu verhindern, dann muss er wis-sen, dass ihm keine langjährige Haftstrafe droht und dasswir ihn schützen.
Ich sagen Ihnen, auch wenn Sie es nicht verstehen: Das istkein schmutziger Deal mit Mördern, sondern dieses Vor-gehen hilft, Menschenleben zu retten.
Immerhin gibt es in der Koalitionsvereinbarung eineKehrtwende zu etwas mehr Ehrlichkeit. Über dem Gesetzzur Zuwanderung steht „Steuerung und Begrenzung“.Dieses Begriffspaar haben Sie aufgegeben. In der Koali-tionsvereinbarung heißt es jetzt „Gestaltung der Einwan-derung“. Das ist offensichtlich etwas anderes. Gemeint istdie Ausweitung der ohnehin schon großen Zuwanderungnach Deutschland.
Am 1. Januar wird vorbehaltlich der Entscheidung desBundesverfassungsgerichts in Karlsruhe das neue Zu-wanderungsgesetz in Kraft treten, soweit es nicht schon ineinigen Teilen in Kraft getreten ist. Am 1. Januar wird derAnwerbestopp für ausländische Arbeitnehmer ausNicht-EU-Staaten aufgehoben, und zwar generell undnicht nur für hoch qualifizierte Arbeitnehmer.Eingeführt wurde der Anwerbestopp von Willy Brandtbei einer Arbeitslosenquote von 1,2 Prozent und bei einerAusländerarbeitslosenquote von 0,8 Prozent. Sie hebenheute bei einer Arbeitslosenquote von knapp 10 Prozentund einer Ausländerarbeitslosenquote von knapp 20 Pro-zent diesen Anwerbestopp auf. Wir haben eine dramati-sche Situation auf dem Arbeitsmarkt: Es gibt 4 MillionenArbeitslose und 1,5 Millionen in der stillen Reserve– Tendenz steigend –, nicht nur aus saisonalen Gründen,sondern auch wegen der völlig verfehlten Wirtschaftspo-litik. Lieber Herr Minister Schily, wir begehen mit dergenerellen Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes für Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus Nicht-EU-Staa-ten einen kapitalen Fehler.
Solange wir eine derart dramatische Situation auf demdeutschen Arbeitsmarkt haben, muss die Weiterqualifizie-rung, Umschulung und Vermittlung von inländischen Ar-beitslosen Vorrang haben vor einer weiteren Zuwande-rung auf den deutschen Arbeitsmarkt.
Das hat mit Ausländerfeindlichkeit überhaupt nichts zutun.
Zu meinem letzten Punkt, der für uns im Moment an-gesichts der fürchterlichen Verbrechen in den letzten Mo-naten ein ganz wichtiger, entscheidender Punkt ist: demzum besseren Schutz der Bevölkerung, insbesondere un-serer Kinder, vor Sexualstraftaten und Sexualstraftätern.
– Dies genügt nicht. Jeder einzelne Fall, Frau Griefahn, istein Fall zu viel. Wenn Sie hier angesichts der polizeilichenKriminalstatistik in Deutschland, in der von 14 000 bis15 000 sexuell missbrauchten Kindern ausgegangen wird,sagen, diese Zahl habe abgenommen, so ist Ihre Feststel-lung eine glatte Unverschämtheit für alle Opfer.
– Nein, nein.Wir wollen, dass der sexuelle Missbrauch von Kindernstrafrechtlich endlich als das behandelt und bezeichnetwird, was er ist: als ein Verbrechen und nicht nur als einVergehen.
Wir wollen die DNA-Analyse konsequent anwenden,
und zwar bei jedem Delikt mit sexuellem Bezug, weil wirden Tätern sagen wollen: Wenn ihr noch einmal eineStraftat begeht, dann bekommen wir euch. – Denn die Ge-fahr, dass der Täter entdeckt und überführt wird, ist das,was den Täter abschreckt – und nicht die abstrakte Straf-androhung.
Herr Präsident, ich komme gleich zum Schluss. – Ob-wohl Sie hier die vorbehaltene Sicherungsverwahrung,die Sie in der letzten Wahlperiode fünf vor zwölf einge-führt haben, preisen, wissen Sie genau: Kein einzigerStraftäter, der jetzt in Haft sitzt, wird von dieser Regelungtangiert. Diese Regelung gilt nur für die Zukunft. ObwohlSie das wissen, täuschen Sie in der Bevölkerung vor, dasgetan zu haben, was in Deutschland zum besseren Schutzinsbesondere von Kindern getan werden müsste.Diese Koalition hat nicht die Kraft, die Bevölkerungwirksamer vor Kriminalität zu schützen.
Wolfgang Bosbach
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Als nächste Rednerin hat die Kollegin Silke Stokar vonNeuforn vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ichhalte heute als neue Abgeordnete meine erste Rede imBundestag.
Ich muss feststellen: Ich bedauere es, dass ich nur eineRedezeit von zehn Minuten habe. Es ist mir gar nichtmöglich, die vielen Verdrehungen und Verfälschungen,die in den Reden aus den Reihen der CDU/CSU, vor al-lem im letzten Redebeitrag, vorkamen, richtig zu stellen.Dafür braucht man nicht zehn Minuten, sondern zehnStunden.
Lassen Sie mich zu Beginn auf zwei Dinge eingehen,die wiederholt in sehr unterschiedlichen Nuancen ange-sprochen worden sind. Beide Dinge halte ich persönlichfür nicht akzeptabel. Sie haben den Grünen in der Ausei-nandersetzung um die Rechtspolitik vorgeworfen – dassage ich vor dem Hintergrund des Geiseldramas in Mos-kau, das mich sehr betroffen gemacht hat; ich denke, Siegenauso –, wir hätten die SPD bei der Innen- und Rechts-politik als Geisel genommen. Ich halte es für einenfalschen Sprachgebrauch bzw. für eine politische Entglei-sung, so zu argumentieren.
Ich möchte noch eines klarstellen: Ich halte es nicht fürangemessen, hier die zweite, die kleinere Regierungspar-tei als Truppe zu bezeichnen.
Meine Damen und Herren, wenn Sie diesen Stil ein-führen wollen, werden wir darauf antworten, denn auchwir beherrschen dieses Spiel. Ich möchte heute zu Beginnder Auseinandersetzung den Appell an Sie richten: LassenSie uns doch die Auseinandersetzung über fachliche Kon-zepte suchen und lassen Sie uns in fachlicher und sachli-cher Art argumentieren.Ich will überhaupt nicht verhehlen – Sie haben Unter-schiede zwischen SPD und Grünen angesprochen –, dasses nicht immer leicht ist, in Koalitionsvereinbarungen zuErgebnissen zu kommen. Ich denke, den kritischen Beo-bachtern ist nicht verborgen geblieben, dass es diese Un-terschiede auch zwischen SPD und Grünen gibt. Natürlichwerden in den Auseinandersetzungen manchmal kultu-relle Werte unterschiedlich gewichtet. Es ist aber geradeder Erfolg dieser rot-grünen Bundesregierung, dass es unsin der vergangenen Legislaturperiode und jetzt zum zwei-ten Mal gelungen ist, den Sicherheitsaspekt, den wir alsGrüne genauso ernst nehmen wie jede andere demokrati-sche Partei hier im Raum, und den Aspekt der Bürger-rechte, der immer ein Minderheitenaspekt ist, zu einer ge-meinsamen Politik zusammenzufassen.
Das ist der Erfolg der rot-grünen Bundesregierung undwir sind fest entschlossen, diese Politik, die keinen Ge-gensatz mehr zwischen Sicherheit und Bürgerrechtensieht, in den nächsten vier Jahren fortzusetzen.Das große Projekt dieser Legislaturperiode – daswurde bereits angesprochen – ist die Umsetzung desZuwanderungsgesetzes. Ich hege die große Hoffnung,dass das Bundesverfassungsgericht in seiner Entschei-dung berücksichtigt, welch wichtiges gesellschaftspoliti-sches Vorhaben das ist.Wir verhandeln im Moment über die Verordnung zumZuwanderungsgesetz. Wir als Grüne legen auf zweiPunkte einen besonderen Wert. Zum einen wollen wir– ich denke, das ist vernünftig – angesichts der ange-spannten finanziellen Situation nicht nur des Bundes, son-dern auch der Länder und Kommunen vernünftige Rege-lungen in der Frage des Zugangs zum Arbeitsmarkt.In diesem Punkt verstehe ich Ihre Argumentation über-haupt nicht. Gehen Sie doch zu Herrn Koch nach Hessenund fragen Sie ihn, warum gerade er – er war nicht der Erste,er war nach seinem Kollegen aus Bayern der Zweite – beimBundesinnenminister beantragt hat, in bestimmten FällenAusnahmeregelungen vom Anwerbestopp zu veranlas-sen. Das gehört zur Ehrlichkeit in dieser Debatte dazu.Der Anwerbestopp existiert seit vielen Jahren nichtmehr. Wir haben mittlerweile mehr Ausnahmen vom An-werbestopp, als Rot-Grün an Zugängen zum Arbeitsmarktim Zuwanderungsgesetz zulassen will.
Angesprochen wurde auch die Auseinandersetzung mitdem internationalen Terrorismus.Auch in dieser Fragewird es Ihnen einfach nicht gelingen, eine Trennung zwi-schen Rot-Grün herbeizureden. Ich denke, dass alle Frak-tionen hier in diesem Hause die Sicherheit der Bevölke-rung vor terroristischen Angriffen sehr ernst nehmen.Ich habe mir Ihr 100-Tage-Programm sehr genau an-gesehen. Ich glaube nicht, dass es ein Beitrag zu mehr Si-cherheit ist, wenn Sie nach wie vor den Vorschlag ma-chen, die Bundeswehr im Innern einzusetzen. Ich habeden Eindruck, dass unsere Polizei und unsere Sicherheits-behörden sehr wohl in der Lage sind, eine gute Arbeit zuleisten, und im internationalen Vergleich gut dastehen.Wir brauchen im Innern die Bundeswehr nicht. DieseAuseinandersetzung – ich erinnere mich noch daran, ichwar damals noch sehr jung – haben wir bereits bei denNotstandsgesetzen geführt. Zum Glück hat die 68er-Be-wegung schon damals gewonnen. Ich denke, dass wir hierkeine Neuauflage dieser Debatte brauchen.
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Die Trennung von Polizei und Armee ist im Grundgesetzverankert. Dies soll auch in Zukunft so bleiben. Ich denke,dies ist gut so.Wir haben in der Koalitionsvereinbarung festgelegt,dass wir die Sicherheitsgesetze evaluieren wollen. Eva-luieren heißt für uns nicht, den Wettlauf fortzuführen, derdarin besteht: Die CDU fordert mehr Befugnisse für diePolizei; der Innenminister fühlt sich unter Druck gesetzt,vielleicht vom Kanzler, vielleicht von wahltaktischen Fra-gen in der Innenpolitik, und will keine Flanke eröffnen.
Ich möchte bei der Evaluierung der Sicherheitsgesetze,dass wir den Bürgerinnen und Bürgern zwei Fragen öf-fentlich beantworten. Wir treffen hier die Entscheidung,dass wir in individuelle Freiheitsrechte eingreifen, weilwir der Auffassung sind, dass dies erforderlich ist, um dieSicherheit in unserem Land zu gewährleisten. Ich möchtein jedem einzelnen Punkt, und zwar in einer fachlichenDebatte, nicht in einer polemischen Debatte, wie sie hiergeführt worden ist, nachgewiesen bekommen,
ob diese Eingriffe tatsächlich zum Ziel führen, ob sie er-forderlich, geeignet und verhältnismäßig sind.
Dies werden die Prüfkriterien sein.Darüber hinaus werden wir Ansätze einbringen – wirhaben dies in den Koalitionsvereinbarungen festgelegt –,um in dieser Auseinandersetzung nicht nur die Polizei,sondern auch die Demokratie zu stärken. Wir setzen ebennicht nur wie Sie von der Opposition auf einen starkenStaat. Wir setzen auf eine starke Zivilgesellschaft. Des-wegen haben wir ein Informationsfreiheitsgesetz, mehrTransparenz in der Gesellschaft, mehr Zugang für dieBürgerinnen und Bürger zu Informationen vereinbart, da-mit sie als selbstbewusste und eigenständige Bürgerinnenund Bürger ihren Beitrag zu mehr Sicherheit und Demo-kratie leisten.Ich sehe an der Uhr, dass meine Zeit so gut wie abge-laufen ist.
Lassen Sie mich noch ganz kurz einen Punkt, der mirebenso wichtig ist, ansprechen: Wir übernehmen auchVerantwortung für die Vergangenheit. Es ist uns eingroßes Anliegen, die Arbeit der Birthler-Behörde fortzu-setzen. Ich möchte Sie hier bitten – wie dies zuvor schonjemand von der SPD gemacht hat –: Lassen Sie uns hierzu einem parteiübergreifenden Konsens zurückkommen.Lassen Sie uns eine große Koalition aus allen Fraktionenbilden, damit die Aufarbeitung der Stasivergangenheitwieder aufleben kann
und damit dieses Gerede über den Schlussstrich beendetwerden kann.Meine Damen und Herren, ich sehe jetzt: Hier leuchtetder Präsident.
Ich muss meine Rede beenden.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und freuemich auf einen konstruktiven Streit im Innenausschussund hier im Hause.Danke schön.
Frau Kollegin Stokar von Neuforn, ich gratuliere Ihnen
zu Ihrer ersten Rede hier in diesem Hause.
Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Max Stadler
von der FDP-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Ich möchte in der Debatte kurz auf den Beitrag desKollegen Hacker von der SPD zurückblenden. Ich willnicht Wortklauberei betreiben; aber Herrn Hacker ist eineFormulierung unterlaufen, bei der ich hellhörig gewordenbin, weil sie in ähnlicher Weise immer wieder gebrauchtwird. Er hat, wenn ich es richtig mitbekommen habe, da-von gesprochen, dass das Sicherheitsgefühl der Bürgerin-nen und Bürger ein Grundrecht sei. Das heißt, das Grund-recht auf Sicherheit, von dem Minister Schily so oftspricht, ist hier noch ausgedehnt worden auf ein Grund-recht auf Sicherheitsgefühl.Ich greife das aus einem Grund auf: um deutlich zu ma-chen, dass wir als Liberale hier einen ganz konservativenAnsatz haben. Es gibt kein Grundrecht auf Sicherheit,aber es gibt die Pflicht des Staates, die innere Sicherheitzu gewährleisten. Dazu brauchen seine Institutionen,dazu brauchen Polizei, Justiz und auch die Geheimdiens-te Eingriffsbefugnisse. Bei diesen Eingriffen sind sie aberan die Grundrechte gebunden und stoßen an die durch dieGrundrechte gezogenen Grenzen. Da, wo die Grundrechteausnahmsweise eine Einschränkung erfahren müssen, giltaber immer noch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.Das ist unser Grundprinzip, mit dem wir die Politik vonInnenminister Schily in den vergangenen vier Jahren kri-tisch und konstruktiv begleitet haben.
Das hat dazu geführt, dass wir, auch wegen des für dasParlament unwürdigen Verfahrens, zum Beispiel das sogenannte Sicherheitspaket Schily II abgelehnt haben, weilwir uns bei den dafür notwendigen Abwägungen hier imHause oft sehr alleine gelassen fühlten. Ich nenne nur einBeispiel, das jetzt in Hamburg wieder aktuell gewordenist. Wenn es darum geht, in die Berufsgeheimnisse vonRechtsanwälten, Steuerberatern, Geistlichen oder auchSilke Stokar von Neuforn
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Dr. Max StadlerJournalisten einzugreifen, dann sind diese Abwägungensehr sorgsam vorzunehmen. Da haben wir oft weder, wieman es bei unserem konservativen Ansatz erwartenwürde, von der Union noch von den Grünen oder der SPDhinreichend Unterstützung erhalten.Deswegen sage ich, Herr Minister Schily: Wir habenSie kritisch, aber auch konstruktiv begleitet. Es gabäußerst wichtige Gesetzesvorhaben in der letzten Legisla-turperiode. Ich nenne noch einmal die Zwangsarbei-terentschädigung, bei der wir sehr wohl unseren Anteil ander Gesetzgebung hatten, sowie das Staatsangehörigkeits-recht und das Zuwanderungsgesetz, zu deren Umsetzungwir über Rheinland-Pfalz unseren Beitrag geleistet haben.
Ich sage es bewusst, Herr Kollege Bosbach, weil Sieder deutschen Öffentlichkeit in Ihrer ansonsten brillantformulierten Rede hier leider eines verschwiegen haben:Das Zuwanderungsgesetz sieht nach wie vor den Vorrangder inländischen Arbeitnehmer vor.
Das bedeutet, es wird niemand von seinem Arbeitsplatzverdrängt. Die FDPhätte über Rheinland-Pfalz doch nichteinem Gesetz zugestimmt, das in unvernünftiger Weisezusätzliche Zuwanderung zugelassen hätte, die der deut-sche Arbeitsmarkt nicht vertragen würde. Hier gibt es dieVorrangprüfung als entscheidendes Instrumentarium.
Herr Kollege Stadler, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Bosbach?
Ja, obwohl ich in der Erwartung derselben schon jetzt
20 Sekunden wertvoller Redezeit verloren habe.
Die werden Ihnen aber nicht abgezogen.
Bitte schön, Herr Bosbach.
Lieber Max, bist du bereit, zur Kenntnis zu nehmen,
dass ich erstens nicht gesagt habe, dass mit dem Gesetz
beabsichtigt sei bzw. dass das Gesetz die unbeabsichtigte
Nebenfolge habe, Arbeitsplatzbesitzer von ihrem Arbeits-
platz zu verdrängen, sondern dass ich gesagt habe, dass
ich angesichts der dramatischen Situation auf dem Ar-
beitsmarkt keinerlei Begründung dafür kenne, warum wir
den deutschen Arbeitsmarkt ab dem 1. Januar unter Auf-
hebung des Anwerbestopps für ausländische Arbeitneh-
mer aus Nicht-EU-Staaten generell öffnen sollten, und
dass die Weiterqualifizierung und Umschulung Vorrang
haben sollen?
Zweitens. Bist du mit mir der Auffassung, dass fol-
gende Rechnung nicht aufgehen kann: „Mehr Zuwande-
rung auf den deutschen Arbeitsmarkt beim weltweiten
Wettbewerb um die klügsten Köpfe und zusätzliche Maß-
nahmen aus humanitären Gründen haben im Ergebnis
eine Reduzierung der Zuwanderung nach Deutschland zur
Folge“?
Lieber Wolfgang Bosbach, in der öffentlichen Diskus-sion geht es doch um folgende entscheidende Frage: Ist esbei einem angespannten Arbeitsmarkt mit 4 Millionen Ar-beitslosen überhaupt noch sinnvoll, über Zuwanderungnach Deutschland zu reden? Wir wissen ganz genau, dassdies zwar auf den ersten Blick perplex erscheint, dass aberder Arbeitsmarkt in Deutschland gespalten ist, dass es ge-rade dem Mittelstand trotz aller Bemühungen nicht gelingt,Facharbeiterstellen zu besetzen.Wir alle sind uns darüber einig, dass die Qualifizierungder eigenen Arbeitskräfte, eine Bildungspolitik für die ei-gene Jugend und die bessere Vereinbarkeit von Familieund Arbeitsleben Vorrang haben müssen. Das steht außerStreit.
Der Streit geht doch nur darum, ob es nicht ein Instru-mentarium geben muss, damit das, was sowieso prakti-ziert wird, wie zum Beispiel auch von unionsregiertenLändern wie etwa Bayern, nun gesetzlich geregelt wird.Es bestehen nämlich schon jetzt Ausnahmeverordnun-gen für bestimmte berufliche Bereiche und für bestimmteRegionen, in denen nachgewiesenermaßen Bedarf be-steht, der nicht befriedigt werden kann – nur darum gehtes –, in denen Wachstumschancen für die deutsche Wirt-schaft verloren gehen und in denen wir dadurch, dass wirnicht tätig werden, Arbeitsplätze vernichten.
Wir müssen uns mit der Frage beschäftigen, ob wir in die-sen Segmenten weiterhin mit Ausnahmeverordnungen ar-beiten wollen, so wie das Bayern mit der Anwerbung vonKrankenschwestern aus Kroatien und Pflegekräften ausder Slowakei macht, oder ob wir endlich zu einem ganz-heitlichen System mit einer gesetzlichen Regelung kom-men wollen, die das Problem insgesamt angeht. Deswe-gen hat die FDP über Rheinland-Pfalz dieser gesetzlichenSteuerungsmöglichkeit zugestimmt.
Ich darf nun an die sehr bemerkenswerten Ausführun-gen des Kollegen Montag in seiner ersten Rede anknüp-
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fen und möchte ohne Besserwisserei einen Punkt ergän-zen. Gesetzesfolgenabschätzung und Befristung vonGesetzen sind nicht so neu, wie man das nach Ihrem Bei-trag denken möchte. Sie werden damit vielleicht nochVerdruss haben; denn die alte Koalition von CDU/CSUund FDP hat 1998 zum Beispiel die umstrittene Regelungüber verdachtsunabhängige Kontrollen eingeführt. Diesewar aber befristet. Es wird jetzt Ihre Aufgabe sein, sich da-rüber zu einigen, ob diese Regelung weiterhin so bestehenbleiben soll oder ob Sie sie auslaufen lassen wollen. Dabin ich neugierig.Aus der Koalitionsvereinbarung kann man leider nichterkennen, ob wir in der gewohnten Weise kritisch, aberkonstruktiv mit Ihnen zusammenarbeiten können, HerrMinister Schily, oder ob der kritische Faktor überwiegenmuss. Denn die Koalitionsvereinbarung enthält so vieleUnverbindlichkeiten und Prüfaufträge, so genannte Eva-luationen, dass man heute überhaupt noch nicht sagenkann, was Sie wirklich in der Innenpolitik machen wer-den. Deswegen muss ich diesen Vorbehalt formulieren.Am Ende, Herr Minister Schily, gestatten Sie mir einekleine Bezugnahme auf die jüngste Zeit, obwohl die The-men ansonsten äußerst ernst sind. Für mich gab es zweigroße Überraschungen. Die erste Überraschung war derWahlsieg von Rot-Grün, nicht wegen Ihrer Politik, HerrMinister, sondern vor allem wegen der Finanz- und Ar-beitsmarktpolitik. Zum Zweiten habe ich mich gefragt– bitte verzeihen Sie mir diese kleine Abschweifung vomeigentlichen Thema –, wie Sie es geschafft haben, HerrMinister Schily, dass Gianna Nannini Sie als Schlagzeu-ger in einer Rockband verpflichten will. Wenn wir diesauch noch erfahren, dann könnte es sein, dass die weitereZusammenarbeit doch wieder konstruktiv wird und nichtso kritisch, wie es nach der Koalitionsvereinbarung jetztden Anschein hat.
Das Wort hat jetzt der Kollege Hartmut Koschyk von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Stadler, wir sind darüber nicht so gut informiertwie Sie, aber vielleicht kann uns bei einer der ersten Sit-zungen im Innenausschuss der Minister Antwort daraufgeben, wie es sich mit dieser möglichen neuen Berufskar-riere als Schlagzeuger verhält.Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Kon-trastreicher hätte der Zwiespalt in der Innenpolitik zwi-schen Rot und Grün heute nicht ausfallen können: Wir ha-ben uns zuerst die in weiten Teilen von großem Ernstgetragene und aus unserer Sicht zustimmungsfähige Rededes Innenministers angehört und sind dann sehr aufmerk-sam der ersten Rede der Frau Kollegin Stokar vonNeuforn gefolgt.Auch der Blick in die Koalitionsvereinbarung machtdiese Ambivalenz deutlich. Da ist für jeden etwas dabei.Die Grünen kommen auf ihre Kosten, indem in der In-nenpolitik die gesellschaftspolitischen Themen nachvorne geschoben werden. Ich nenne nur Ausgestaltungder Zuwanderung, Drogenpolitik, Antidiskriminierungs-gesetz und
Informationsfreiheitsgesetz.
– Herr Ströbele ruft schon „Gut so!“.Von all diesen Dingen hat man in der Rede des Bun-desinnenministers aber nichts gehört.
Er hat zu Recht davon gesprochen, dass wir uns in derInnenpolitik als Bestandteil der allgemeinen Sicher-heitspolitik auf schwere Jahre einstellen müssen. HerrBundesinnenminister, da bei den Grünen Zuwanderungs-begrenzung, Terrorismusbekämpfung und innere Si-cherheit allenfalls Fußnoten der Innenpolitik sind, mussman sich fragen, ob Sie für all das, was Sie mit großemErnst zur Terrorismusbekämpfung und zur Verstärkungder Anstrengungen für die innere Sicherheit hier gesagthaben, wirklich die Unterstützung Ihres grünen Koali-tionspartners haben.
Nach Ihrer Rede und nach der Rede von Frau Stokarvon Neuforn, auf die ich im Einzelnen noch zurückkom-men will, müssen wir uns schon fragen, wer die Musik inder Innenpolitik in Deutschland macht:
Sie, Herr Minister, oder Herr Ströbele und seine neue Kol-legin, die beim Thema Evaluierung der Terrorismus-gesetze schon angedeutet hat, dass sie hier scheinbar ganzanderer Auffassung ist als Sie.Herr Minister, wir sehen sehr wohl einen Widerspruch.Es ist zwar richtig, dass Sie am 15. Oktober auf derEU-Innenministerkonferenz gefordert haben, dass dasThema Terrorismusbekämpfung auf die Tagesordnungder EU kommt. Es ist aber doch unverkennbar, dass Sie inIhren Ausführungen von der EU Dinge gefordert haben,die Sie in den beiden Antiterrorgesetzen in Deutschland– also innerstaatlich – nicht verwirklicht haben. Wir glau-ben, dass die Koalitionsvereinbarung vor allem im Bereichder elementaren Themen der Innenpolitik – Zuwande-rungsbegrenzung, Zuwanderungssteuerung, Terrorismus-bekämpfung und mehr innere Sicherheit – nicht die richti-gen Antworten auf die wirklichen Herausforderungen gibt.
Herr Minister Schily, Sie haben die Gefahr, die vomTerrorismus auch für die Bürgerinnen und Bürger inDr. Max Stadler
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Hartmut Koschykunserem Land ausgeht, sehr drastisch beschrieben. DerTerrorismus ist grausame Realität unseres Lebens gewor-den. Er hat weltweite Ziele und trifft, wie Djerba, Mos-kau, Bali und auch der 11. September gezeigt haben, auchdeutsche Mitbürgerinnen und Mitbürger.Der stellvertretende Vorsitzende des Bundes DeutscherKriminalbeamter Klaus Jansen, ein Experte aus dem Bun-deskriminalamt, hat zur Bedrohungslage in Deutschlandvor kurzem in der „FAZ“ gesagt, dass es in Deutschlandnicht nur eine abstrakte Gefahr von Terroranschlägengebe. Jansen sagte in der „FAZ“ wörtlich:Ich glaube nicht, dass die deutsche Öffentlichkeitderzeit vollständig von der politischen Führung überdie bevorstehenden Gefahren unterrichtet wird.Solche in der Öffentlichkeit von sicherheitspolitischenPraktikern gemachten Aussagen müssen uns doch zu den-ken geben.Welche Brisanz die Bekämpfung des internationalenTerrorismus vor allem auch in Deutschland besitzt, habenvor kurzem die Verhaftungen des Marokkaners Mzoudi,der zu der Hamburger Zelle um Mohammed Atta engeBeziehungen unterhalten und sie logistisch unterstützthaben soll, und des Jemeniten Ramzi Binalshibh gezeigt.Wir müssen doch zur Kenntnis nehmen, dass geradeDeutschland im Zentrum der Ermittlungen im Zuge derAnschläge des 11. September steht. Drei der vier in denUSA entführten Flugzeuge wurden von Selbstmordpilo-ten gesteuert, die lange Zeit in Deutschland gelebt haben.Samuel Huntington hat erst vor kurzem in der „Zeit“festgestellt:Im 21. Jahrhundert hat die Ära der muslimischenKriege begonnen.Mancher mag das für überzogen halten. Sicherlich gibt esverschiedene Ursachen für die Gefahr, die auch unseremLand und der internationalen Gemeinschaft durch den is-lamischen Fundamentalismus droht.Auch wenn wir immer wieder die Notwendigkeit ei-nes Dialogs mit dem Islam beschwören und wir dieseAufgabe auch leisten müssen, so müssen wir doch zurKenntnis nehmen, dass es auch im islamischen Funda-mentalismus ausgesprochene Feindseligkeit gegenüberspezifisch westlichen Ideen gibt – wie Individualismus,Liberalismus, Konstitutionalismus, Demokratie, Men-schenrechten sowie Gleichheit von Gruppen und Ge-schlechtern. Feindseligkeit gibt es auch – das haben michviele, mich bestürzende Aussagen gelehrt – gegenüberdem christlich-jüdischen Wertekanon. Wir müssen zurKenntnis nehmen, dass aus dieser Aggression der Nähr-boden für Gewalt und Terror entsteht.Die Praxis in den letzten Monaten hat deutlich ge-macht, dass Ihre Antiterrorpakete I und II gravierendeSicherheitslücken haben. Ihre Antiterrorpakete sind mehrvon der Hoffnung geprägt, die latente Gefahr möge nie-mals Wirklichkeit werden. Sie verkennt, dass Deutschlandnicht nur Ruheraum, sondern Operationsraum ist und imVisier des internationalen Terrorismus steht.
Herr Minister, Sie haben vorhin zu Recht gesagt, dassdas Ausmaß der Größenordnung der terroristischen Ge-fahr in Deutschland das Maß unserer gemeinsamen Ver-antwortung beschreibt. Deshalb bieten wir Ihnen an undwir appellieren an Sie: Lassen Sie uns noch einmal da-rüber sprechen, ob nicht die aus unserer Sicht bestehen-den Sicherheitslücken in den beiden Antiterrorpaketendurch die Vorschläge, die die Union unterbreitet hat, ge-schlossen werden können.Es gibt durchaus einen Unterschied zwischen dem, wasSie zu der Evaluierung des Antiterrorpakets II meinen undwas die Kollegin von den Grünen dazu gesagt hat. Sie ha-ben von Korrektur- und Justierungsbedarf im Sinne vonmöglichen Verbesserungen gesprochen, während die Kol-legin von den Grünen gesagt hat: Wir wollen nicht länger,dass der Innenminister den Wettlauf gegen die Oppositiongewinnen muss, die ihn in dieser Frage unter Druck setzt.
Herr Minister, warten Sie mit dieser Evaluierung nichtzwei Jahre! Überlegen Sie jetzt, was getan werden muss!Setzen Sie sich mit unseren Vorschlägen konstruktiv aus-einander! Die Politik, die die Kollegin von den Grünenangedeutet hat und die klar erkennen lässt, dass es eherum Aufweichung und die Wiederabschaffung einiger die-ser Teile des aus unserer Sicht unzureichenden Antiterror-paketes II geht, wird auf unseren entschiedenen Wider-stand stoßen.Für uns ist ein zentraler Punkt der Verbesserung, dass dieEinreise gewaltbereiter Extremisten nach Deutschlandverhindert wird bzw., sofern sie bereits in unserem Landsind, die Voraussetzungen geschaffen werden, um diesePersonen leichter auszuweisen und abzuschieben.
Ich kann weitere Punkte nennen. Wenn der Innenaus-schuss seine Arbeit wieder aufgenommen hat, können wirunsere Vorschläge Punkt für Punkt diskutieren. Dabeikönnen Sie, Herr Minister, deutlich machen, wo Sie un-sere Vorschläge für nicht praktikabel halten. Aber dassseinerzeit viele unserer Vorschläge bei der Behandlung imBundestagsinnenausschuss einfach abgelehnt wordensind,
können wir bis heute nicht verstehen.Wir meinen, wir brauchen eine Erweiterung der Ver-botsmöglichkeiten für islamistisch-extremistische Ver-eine.Wir brauchen die Strafbarkeit der Unterstützung sol-cher Vereine.
– Herr Tauss, darüber lacht man nicht.
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– Ich komme gleich auf das Thema Verbotsverfahren,al-Aksa und Kalifatsstaat. Aber wenn wir über solchernste Themen reden, sollten Sie dies nicht lächerlichmachen, Herr Tauss.
Ich darf weitere Punkte nennen. Wir brauchen – ichsage es noch einmal – die Strafbarkeit der Unterstützungund der Werbung für ausländische terroristische Vereini-gungen. Über das Thema biometrische Daten hat der Kol-lege Bosbach bereits gesprochen. Wir brauchen auch Ver-sagungsgründe für Visa und Aufenthaltsgenehmigungenbei Terrorismus- und Extremismusverdacht. Wir brau-chen die Erfassung und Speicherung der Daten hin-sichtlich ethnischer und religiöser Zugehörigkeit auch imAusländerzentralregister. Wir brauchen im Einbürgerungs-verfahren und bei der Erteilung von Aufenthaltsrechteneine Regelanfrage beim Verfassungsschutz.Sowohl der Kollege Röttgen als auch der KollegeBosbach haben schon über eine sinnvolle Ausgestaltungder Kronzeugenregelung gesprochen. Wir sehen sehrwohl – auch durchaus selbstkritisch –, an welchen Stellendie seinerzeit von uns eingeführte Kronzeugenregelungnicht dem entsprach, was aus rechtsstaatlichen Gründenwünschenswert gewesen wäre. Ich meine aber, dass manauch und gerade unter der terroristischen Bedrohung übereine vernünftig auszugestaltende Kronzeugenregelung re-den müsste.Wir meinen, dass es auch im operativen Bereich not-wendig ist, die Maßnahmen von Polizei und Verfas-sungsschutz zu verbessern. In diesem Zusammenhangsind Rasterfahndungen und Beobachtungen islamisti-scher Bestrebungen durch den Verfassungsschutz desBundes und der Länder zu nennen.Herr Minister, Sie haben im Zusammenhang mit denSicherheitsbehörden unseres Landes den Diensten ge-dankt. Auch darin stimmen wir Ihnen zu. Aber uns istdoch die grundsätzliche Skepsis und Ablehnung Ihresgrünen Koalitionspartners gegenüber den Geheimdiens-ten bekannt. Angesichts dessen, was Herr Ströbele immerwieder lauthals zu diesem Thema von sich gegeben hat,befürchten wir, dass bei der im Koalitionsvertrag an-gekündigten Überprüfung von Aufgaben, Struktur, Effek-tivität, Befugnissen und Kontrolle der Geheimdiensteeine Schwächung der Dienste erfolgt. Das hielten wir fürunverantwortlich und das würde auf unseren entschiede-nen Widerstand stoßen.
Jetzt komme ich dazu, was Sie in der Koalitionsverein-barung zu dem Thema „Weitere Erleichterungen im Staats-angehörigkeitsrecht“ angekündigt haben, Herr Minister.
Wir meinen, dass aufgrund der bisherigen Erkenntnisse beider Terrorismusbekämpfung über weitere Erleichterun-gen im Staatsangehörigkeitsrecht noch einmal nachge-dacht werden müsste. Ich will an dieser Stelle nicht darübersprechen, dass hinsichtlich des Anstiegs der Zahl der Ein-bürgerungen im Jahr 1999 um 30 Prozent davon auszuge-hen ist, dass fast die Hälfte der neu eingebürgerten Auslän-der noch ihren alten Pass besitzt und somit entgegen der of-fiziellen Darstellung der Bundesregierung quasi eine dop-pelte Staatsangehörigkeit hat. Ich will auch nicht darübersprechen, dass man manchmal vermuten könnte, dass Siesich durch weitere Erleichterungen im Staatsangehörig-keitsrecht neue Wählerschichten erschließen möchten.
Ich meine aber, Herr Minister, dass Ihnen das, was ich ge-rade ausgeführt habe, sicherlich bei den verschiedenenVerfahren zu denken gegeben hat, wenn Sie ehrlich sind.Denn Sie haben schon bei den Verbotsverfahren die Fol-gen der Reformen im Staatsangehörigkeitsrecht zu spürenbekommen.Im Zusammenhang mit dem Verbot des Spendensam-melvereins al-Aksa hat die „taz“ Anfang Oktober berich-tet, dass dieser Verein für sich nicht mehr gelten lassenwollte, dass er in Deutschland ein von Ausländern getra-gener Verein ist, weil viele der Aktionisten inzwischeneingebürgert sind.
– Deshalb lassen Sie uns doch gemeinsam darüber nach-denken, Herr Minister, dass es nicht das richtige Signalist, über weitere Erleichterungen bei der Einbürgerungohne Regelanfrage nachzudenken. Schließlich musstenSie sowohl beim al-Aksa-Verfahren als auch beim Ver-botsverfahren im Zusammenhang mit dem Kalifatsstaatzur Kenntnis nehmen, dass eine Reihe der Aktivisten ebenkeine Ausländer, sondern eingebürgert sind.Ich meine, wir müssen auch eine Diskussion über diegesellschaftspolitische Dimension des Terrorismus füh-ren. Wir müssen uns schon fragen, wie viel Unterschied-lichkeit ein Land verträgt, wie viel Gemeinsamkeit einLand braucht, um seine innere Bindungskraft und seineWiderstandsfähigkeit gegenüber extremistischen Strö-mungen nicht zu verlieren, und ob wir nicht von Neuemdamit beginnen könnten, ohne ideologische Verbrämung
die Gefährdungen für die innere Sicherheit unseres Lan-des auch im Zusammenhang mit einer ungesteuerten Zu-wanderung zu sehen.
– Ich sage das so deutlich: auch nach den bisherigen Er-fahrungen einer ungesteuerten Zuwanderung.Herr Minister, Ihnen ist doch sicherlich auch die Ent-scheidung des Vorsitzenden des zuständigen Gerichtsbekannt, der den Kalifen von Köln verurteilt hat. DerRichter hat sich in der Urteilsbegründung zutiefst er-schüttert gezeigt über das Ausmaß der in DeutschlandHartmut Koschyk
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Hartmut Koschykentstandenen, gegen unsere Verfassung, gegen die Demo-kratie und gegen unseren Wertekanon gerichtete Parallel-gesellschaft, die sich hinter dem Kalifen von Köln unddem Kalifatsstaat verborgen hat.
Darum, dass wir, wenn wir solche Gefahren erkennen,entschiedener handeln, dass noch einmal über eine Nach-besserung der Antiterrorpakete nachgedacht wird unddass mit der Evaluierung nicht zwei Jahre gewartet wird,möchte ich Sie, Herr Minister, namens meiner Fraktion imSinne einer konstruktiven Zusammenarbeit, wie Sie sieangeboten haben, bitten.Herr Minister, das Thema ist zwar zu ernst. Dennochmöchte ich wie der Kollege Stadler mit einer etwasscherzhaft gemeinten Bemerkung enden.
Nein, Herr Kollege Koschyk, Sie haben Ihre Redezeit
bereits überschritten.
Wir helfen Ihnen gegenüber allen Größeren.
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der Kol-
legin Silke Stokar von Neuforn.
Herr Kollege Koschyk, im Zusammenhang mit der
Evaluierung der Sicherheitsgesetze haben Sie mich unter
Nennung meines Namens – ich vermute: bewusst – falsch
zitiert und wiedergegeben. Ich möchte das richtig stellen.
Ich habe vorhin deutlich gesagt, welches Ziel wir mit
der Evaluierung verfolgen: Wir werden untersuchen, ob
die verabschiedeten Gesetze und die damit verbundenen
Befugnisse in jedem Einzelfall geeignet sind, das Ziel der
Terrorismusbekämpfung – auch dieses habe ich vorhin
genannt; das ist ein gemeinsames Ziel von Rot-Grün; ich
sage das, damit hier keine Unklarheiten entstehen – zu er-
reichen. Wir werden uns das von den Diensten und vom
Bundesinnenministerium an der Praxis erläutern lassen.
Selbstverständlich werden wir auch klären, ob die Ge-
setze verhältnismäßig sind. Dies ist ein ganz normaler
Vorgang. Ihre Darstellung dessen, was ich gesagt haben
soll, weicht weit von dem ab, was ich in meiner ersten
Rede in diesem Hohen Hause tatsächlich gesagt habe.
Herr Kollege Koschyk, wollen Sie erwidern?
Für die Bundesregierung hat jetzt das Wort die Frau
Staatsministerin Dr. Christina Weiss.
D
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Ich begreife Kultur als ein Regelwerk des Füreinan-ders und des Miteinanders. Sie umgrenzt das Feld derAuseinandersetzung einer Gesellschaft mit ihren Tradi-tionen und Wurzeln, ihren Werten, ihren Zielen, ihrenKonflikten und natürlich ihren Visionen, den zukünftigenPfaden der Entwicklung. Kultur prägt die Lebensent-würfe der Individuen und bildet zugleich den Nährbodenihrer Realisierung. Sie umfasst außerdem das Selbstbe-wusstsein einer Gesellschaft und eines Staates. Sie defi-niert die Verhältnisse des Umgangs miteinander sowie dievon Gerechtigkeit und Verantwortung.
Wenn der Staat die Kultur vernachlässigt, dann vergehter sich an seiner eigenen Zukunft; denn er nimmt sich diekreative Kraft der Visionen, der Utopien. Ich zögere nicht,diese großen Begriffe hier einzuführen. Verstehen Siemich bitte nicht falsch: Es geht mir nicht primär – jeden-falls nicht heute – um die Frage des Geldbetrages, den dieöffentliche Hand für die Kultur aufbringt, auch wenn ichgleich zu Beginn meiner Amtszeit durchaus mit fiskali-schen Dingen konfrontiert war. Es geht mir heute viel-mehr um die Haltung gegenüber den Künsten, um dieWertschätzung dessen, was Künstlerinnen und Künstlerzum Gemeinwohl beitragen.
Die Künste sind ein Spezialfall der Kultur, das Kraft-feld der Kreativität in einer Kultur. In der Begegnung mitden Künsten lernen wir, unsere Subjektivität, das heißtunsere innere Vielfalt, unsere geistige Unabhängigkeit aufder Basis der Gewissheit kultureller Identität, auszuprä-gen. Die Künste erschließen Grundlegendes, aber nichtSelbstverständliches. Sie trainieren die Wahrnehmungs-fähigkeit, sie schulen die emotionale Intelligenz ebensowie das Vermögen, über plurale Weltsichten nachzuden-ken. Künstler erkunden Grenzbereiche, sie zeigen Gren-zen auf und überschreiten sie zugleich. Die Ergebnissedieser Grundlagenforschung präsentieren sie als ein An-gebot an die Sinne, ein Angebot, das im Übrigen bei je-dem Wahrnehmungsakt neu und anders ergriffen werdenkann.Kunst stellt immer wieder neue Beziehungen her zwi-schen Optionen der Wahrnehmung und Formen der Reak-tion. Die Künste ermöglichen und erfordern auf dieseWeise eine Art von Kommunikation, wie sie für unsereGesellschaft einmalig ist. Diese Art von Kommunikationeröffnet uns neue Denkräume, neue Erfahrungsmöglich-keiten. Kunst ist das Labor für die Energien der Fantasie,des freien, sich selbst reflektierenden Denkens. Das Re-gelwerk des Miteinanders, meine Damen und Herren,gründet sich nicht zuletzt auf dieses Denken.
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Nun bin ich nicht nur die Beauftragte der Bundesre-gierung für Kultur, sondern auch für Medien. Hier solleine Anmerkung genügen: Die Medien nehmen innerhalbdes eben skizzierten Kontextes eine Doppelstellung ein.Sie sind einerseits Teil der Kultur, auch in dem Sinne, dasssie wesentlich zur Ausbildung von Subjektivität beitra-gen, andererseits vermitteln sie Ausprägungen von Kul-tur. Damit ist eines der Spannungsfelder benannt, inner-halb dessen wir uns mit den Medien und damit natürlichmit uns selbst auseinander setzen müssen.Was folgt aus diesen Überlegungen für mein Amtsver-ständnis? Ich möchte es so beschreiben: Regelwerke,nicht nur juristische, sind auf Anwältinnen und Anwälteangewiesen, damit sie ausgelegt werden und in Kraft blei-ben können. In diesem Sinne sehe ich mich als Anwältinfür die Kultur. Zum Spektrum meiner „Anwaltspraxis“gehört in erster Linie dreierlei: das Moderieren, das Reprä-sentieren – auch verstanden als Vertretung von Interessen –und ebenso „Missionieren“, das heißt das Werben, ver-standen als Vermitteln von Kunst und Kultur und dem,was sie uns als Möglichkeitssinn eröffnen. Dass mich beider Verfolgung dieser Mission der Wirklichkeitssinn nichtverlässt und verlassen wird, dessen bin ich mir sicher,auch dank der Bindung meines Amtes an dieses Haus.Ich sprach von einem Regelwerk des Miteinanders.Beziehen möchte ich diese Leitideen auch ganz praktischauf die Kooperation mit anderen Ressorts. Kulturpoli-tik muss ressortübergreifend gedacht werden – ich könnteauch sagen: grenzübergreifend.
Beziehen möchte ich die genannten Ideen vor allem auchauf die Arbeit mit Ihnen hier im Parlament, im Ausschussfür Kultur und Medien und in den anderen Ausschüssendes Deutschen Bundestages. Es geht mir um eine Kulturdes miteinander Debattierens, aber auch des miteinanderEntwickelns.Ich bin gespannt darauf, mich mit Ihnen auseinander zusetzen und – davon gehe ich einfach aus – zu verstän-digen. Verständigung suchen wir über Grundsätzliches,aber auch über sehr konkrete kultur- und medienpolitischeFragen. Lassen Sie uns aber in jedem Fall gemeinsam derKultur, der geistigen Orientierung unserer Gesellschaft,etwas mehr Gewicht verleihen!Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Norbert Lammert
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! SeitBeginn des rot-grünen Projekts ist die Kulturpolitik einebesonders auffällige, aber keine besonders starke Seitedieser Bundesregierung.
Dem ersten Beauftragten der Bundesregierung war dasAmt nicht wichtig genug, um der Versuchung zu wider-stehen, bei der erstbesten Gelegenheit in einen scheinbarnoch interessanteren Spitzenjob in der Medienwirtschaftzu wechseln.
Sein Nachfolger war dem Bundeskanzler nicht wichtiggenug, um in dem Bundesland, aus dem er selbst kommt,in Niedersachsen, eine Regelung mit der staatlichenHochschule, von der jener beurlaubt war, zur Sicherungeiner späteren Laufbahn als Hochschullehrer sicherzu-stellen.Nun Christina Weiss. Ich begrüße Sie herzlich, FrauWeiss. Ich wünsche Ihnen eine glückliche Hand, insbe-sondere aber die Hartnäckigkeit und das Durchsetzungs-vermögen, die Sie in einer Koalition brauchen werden, diesich seit Jahren mit Ankündigungen sehr viel leichter tutals mit der tatsächlichen Stärkung des Stellenwerts vonKunst und Kultur.
Bei der sprichwörtlichen kulturpolitischen Feinfühligkeitdes Bundesfinanzministers werden Sie genug Schwierig-keiten haben, den höchst bescheidenen Anteil IhresTeilressorts am Bundeshaushalt aufrechtzuerhalten, derin der Zeit Ihrer Amtsvorgänger übrigens von überschau-baren 0,4 Prozent auf ganze 0,3 Prozent des Bundeshaus-halts gesunken ist – bei gleichzeitiger Ankündigung einesdramatischen Anstiegs des Stellenwerts von Kunst undKultur.Der Blick in die Koalitionsvereinbarung ist ebensoernüchternd wie die heutige Regierungserklärung. Dasgilt sowohl mit Blick auf die nationale Kulturpolitik alsauch – vielleicht in noch stärkerem Maß – mit Blick aufdie auswärtige Kulturpolitik. Heute Morgen haben wirdazu zwei, vielleicht drei Sätze gehört – einer so belang-los wie der andere. Gerhard Schröder hat hier heute Mor-gen vorgetragen, die Kulturpolitik sei für diese Bundesre-gierung nicht einfach eine angenehme Nebensache.
Nach dem, was er nicht vorgetragen hat, und nach dem,was auch in der Koalitionsvereinbarung dazu nicht zu fin-den ist, muss man befürchten: nicht einmal das.Wer in der Koalitionsvereinbarung unter dem Stich-wort „Kunst und Kultur“ nachschaut, findet eine An-sammlung von deprimierend einfallslosen und lustlosenFormulierungen zu diesem Gegenstand.
Was in dieser Koalitionsvereinbarung neu ist, ist nichtrichtig, und was richtig ist, ist nicht neu. Leider, FrauWeiss, haben wir auch von Ihnen außer einigen völligStaatsministerin Dr. Christina Weiss
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Dr. Norbert Lammertunstreitigen Allgemeinplätzen über den Stellenwert vonKunst und Kultur heute nichts dazu gehört, was Sie dennan konkreten Vorhaben für diese Legislaturperiode in IhrAmt übernehmen wollen.
Nun gibt es eine auf den ersten Blick aufregende, je-denfalls elektrisierende Vokabel, die man in den wenigenSätzen zur Kunst- und Kulturförderung in der Koalitions-vereinbarung nur schwerlich übersehen kann, und das istdie Prüfung auf die künftige Kulturverträglichkeit dereigenen Politik, die Klausel zur Kulturverträglichkeit, mitderen Überwachung offenkundig die Beauftragte derBundesregierung ausdrücklich ausgestattet werden soll.
Was von dieser Kulturverträglichkeitsklausel zu haltenist, haben wir mit einer nun wirklich erstaunlichen Ge-schwindigkeit in den wenigen Tagen zwischen dem Ab-schluss der Koalitionsvereinbarung und den ersten An-kündigungen des Bundesfinanzministers erlebt. Währendes in der Vereinbarung der Koalition noch lautet – ich zi-tiere – „Wir werden auch in Zukunft die Vielfalt des En-gagements von Bürgerinnen und Bürgern in Vereinen ...nach Kräften unterstützen“, hat der Finanzminister einenTag nach dem Abschluss dieser Koalitionsvereinbarungerklärt,
was er sich unter einer tatkräftigen Unterstützung des En-gagements von Bürgerinnen und Bürgern in Vereinen vor-stellt: Er beabsichtigt die Streichung der Abzugsfähigkeitvon Spenden von Unternehmen für gemeinnützige Orga-nisationen und Verbände. Dies war ein Anschlag auf dasbürgerschaftliche Engagement in unserem Land.
Die Umsetzung Ihres Vorhabens wäre die mutwillige Zer-störung der finanziellen Grundlagen ehrenamtlichen En-gagements in Hunderttausenden von gemeinnützigen Ver-einen, Verbänden und Organisationen gewesen. Ihr Planwar ein ganz unglaublicher steuerrechtlicher Salto mor-tale nach unserer gemeinsamen Kraftanstrengung zur No-vellierung des Stiftungsrechts und nach der Ermutigungehrenamtlichen Engagements durch eine famose, gran-diose Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages,die mindestens in dieser Zielsetzung völlig einig war.
Im Übrigen war es auch eine schwer verständlichehaushaltspolitische Dummheit; denn die auf diesem Wegebestenfalls zu erreichenden zusätzlichen Steuereinnah-men stehen in überhaupt keinem Verhältnis zu den sicherentgangenen Einnahmen der Vereine und Verbände, diediese Mittel dringend benötigen.
Was es im Übrigen mit der Ermutigung bürgerschaft-lichen Engagements zu tun haben soll, dass eigennützigeSponsorentätigkeiten steuerlich berücksichtigt werdenkönnen, gemeinnützige Aktivitäten dagegen nicht, dasbliebe das große Geheimnis einer rot-grünen Koalition.
– Verehrter Herr Kollege Tauss, es würde uns etwas feh-len, wenn nicht auch diese Rede hauptsächlich durch IhreZwischenrufe bei gelegentlichen Interventionen des ge-meldeten Redners gekennzeichnet würde.
Aber ich will mindestens zu Ihrer vorübergehendenBeruhigung gerne Folgendes einräumen: Ich gehe aus-drücklich davon aus, dass kein Kulturpolitiker sowohl derroten wie der grünen Fraktion an den Formulierungen derKoalitionsvereinbarung und schon gar nicht an den Ab-sichten des Finanzministers beteiligt war. Das strahlendeLächeln des Kollegen Barthel bestätigt diese freundlicheVermutung. Dies entlastet in der Tat die Kulturpolitiker;aber es zeigt den tatsächlichen Stellenwert von Kulturund Medien in dieser rot-grünen Koalition.
Verehrte Frau Weiss, Sie treten ein Amt an, das mitt-lerweile, nach anfänglichem Streit, insbesondere zwi-schen Bund und Ländern, mehr als zwischen den Parteien,als Ausdruck der Verantwortung des Bundes für die För-derung von Kunst und Kultur – neben der Verantwortungder Länder und Kommunen – als allgemein anerkannt gel-ten kann.
Sie werden im Deutschen Bundestag auf einen Ausschussfür Kultur und Medien treffen, in dem das gemeinsameBemühen um die Förderung von Kunst und Kultur nochausgeprägter als die Wahrnehmung der jeweiligen Rollevon Regierung und Opposition ist. Das soll, soweit es anuns liegt, so bleiben.Sie werden eine breite Unterstützung im Übrigen drin-gend brauchen. Ich sage Ihnen heute für die CDU/CSU-Fraktion gerne zu: Sie werden sie auch bekommen,jedenfalls dann – allerdings auch nur dann –, wenn esnicht nur um Allgemeinplätze, sondern auch um konkreteMaßnahmen, um die Förderung von Kunst und nicht umdie Selbstinszenierung von Politik geht. Es muss sich al-lerdings vieles ändern, damit manches besser werdenkann.
Ich erteile das Wort der Kollegin Monika Griefahn,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr verehrte Frau Staatsministerin,herzlich willkommen!Lieber Herr Lammert, Sie haben die Kulturverträg-lichkeitsprüfung besonders erwähnt. Ich kann nur sagen:
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An diesem Begriff und an der Tatsache, dass Sie dieHälfte Ihrer Redezeit dazu benutzt haben, darzustellen,was hätte sein können, zeigt sich, dass unsere Kulturver-träglichkeitsprüfung funktioniert.
Denn wir haben Einspruch erhoben. Ich kenne die gutePraxis der Umweltverträglichkeitsprüfung: Wenn dieUmweltpolitiker gesagt haben: „So geht das aber nicht;das ist nicht verträglich“, und gegen eine Sache angegan-gen sind, um sie zu korrigieren, dann war das ein gutesZeichen, dann war das Ausdruck der Bewältigung einerQuerschnittsaufgabe, wie sie nun auch die Ministerin undwir, die Ausschussmitglieder, zu erfüllen haben.
– Wir können das Problem gemeinsam in bewährter Ma-nier lösen.Die letzten vier Jahre haben gezeigt, Herr Dr. Lammert,wie erfolgreich Kulturpolitik des Bundes sein kann. DieRegierungskoalition hat 1998 einen mutigen und innova-tiven Schritt getan, indem sie das Amt des Staatsminis-ters für Kultur und Medien eingerichtet hat. Die erstenbeiden Amtsinhaber – Michael Naumann und JulianNida-Rümelin – haben, jeder auf seine Art, gemeinsammit uns, dem Parlament, in vier Jahren sehr viel geschafftund angestoßen. Wir haben nämlich fast die gesamte Ko-alitionsvereinbarung vom letzten Mal abgearbeitet – daswissen Sie auch –: das Stiftungsrecht, ein neues Gedenk-stättenkonzept, viele Dinge wie zum Beispiel der Haupt-stadtkulturvertrag, die Förderung der Buchpreisbindungusw. Ich meine, wir brauchen uns nicht sagen zu lassen,dass wir nichts gemacht hätten.
Die Kulturpolitik des Bundes hat Impulse gegebenund auch Debatten auf Länderebene und kommunalerEbene belebt. Das ist ein wichtiger Punkt; denn dort wardie Kultur sozusagen noch mehr weggebrochen. Sie hatferner die Stärke Deutschlands sichtbar gemacht: kultu-relle Vielfalt in vielen Orten, von der Oper bis zur Sozio-kultur, von München über die Lüneburger Heide bis nachBerlin. Um diese Vielfalt und diese vielen Orte beneidenuns andere Länder sehr. Deutschland ist noch immer – beiallen Sparmaßnahmen – eines der in diesem Bereich best-ausgestatteten Länder. Dafür werden wir weiter und, wieich meine, auch gemeinsam kämpfen. Das heißt, dass wirdie Prozesse in den Kommunen besonders begleiten wer-den, natürlich auch in Berlin. Das wird eine unserer Auf-gaben jetzt im Ausschuss sein.
Unser Ziel am Anfang dieser neuen Legislaturperi-ode ist es, die erfolgreiche Politik für Künstler und Kunstfortzusetzen sowie den Dialog der Kulturen nach innenund außen weiterzuführen. Kultur ist essenzieller Aus-druck der Gesellschaft, in der sie entsteht, in der sie wirktund sich weiterentwickelt. Kultur ist, wie es im Koaliti-onsvertrag steht, „Voraussetzung einer offenen, gerechtenund zukunftsfähigen Gesellschaft“.
Kulturpolitik ist damit auch Gesellschaftspolitik par ex-cellence, und Kulturpolitik hat damit viel größere und tie-fere Wirkungen, als ordnungspolitische Initiativen alleinsie erzielen könnten. Deshalb ist Kulturpolitik untrennbarmit gesellschaftlichem, mit zivilem Engagement verbun-den und ohne sie überhaupt nicht denkbar. Deshalb wol-len wir sie weiter fördern. Deshalb ist die Steuerabzugs-fähigkeit von Spenden ein wichtiger, zentraler Punktgenauso wie das Stiftungsrecht, zu dessen Zustandekom-men wir gemeinsam beigetragen haben.Dialogfähigkeit der Kulturen nach innen und außen istauch Grundlage von Demokratie. Dabei helfen geradeKünste: Musik, Literatur, Theater, Film und zunehmendneue Medien und die Vermengung der verschiedenenEbenen in neuen Medien.
Deswegen werden wir besonders alle diese Verschrän-kungen unterstützen und darauf schauen, dass das in derWelt präsent ist.Wenn wir diese offene und gerechte Gesellschaft habenwollen, sind unsere internationalen Kulturbeziehungenund die auswärtige Kulturpolitik ein zentraler Bestand-teil davon. Deshalb ist der viel zitierte Dialog der Kultu-ren ein Teil von Krisenprävention und wird immer wich-tiger in den internationalen Beziehungen, auch in derAußen- und Sicherheitspolitik. Das sehen wir immer wie-der; wir müssen auch immer wieder dafür kämpfen. So er-leben wir es gerade in Afghanistan, wo unsere aktivenBemühungen, zum Beispiel Mädchenschulen einzurich-ten oder Goethe-Institute wieder einzurichten, von vie-len Seiten stark torpediert werden; denn dort gibt esKräfte, die Mädchenschulen wieder schließen wollen. Esist ein ganz wichtiger Punkt unserer Außen-, Bildungs-und Kulturpolitik, dies voranzutreiben und damit auchMenschenrechte und die Fähigkeit, gleichberechtigt mit-einander zu leben, zu vermitteln.
Aber es gibt nicht nur die Goethe-Institute und diedeutschen Schulen, auf die ich noch komme, sondernauch die Deutsche Welle, die einen wichtigen Beitrag zurDemokratisierung, zum zivilgesellschaftlichen Wieder-aufbau in Afghanistan leistet. Das betrifft zum Beispieldie Unterstützung beim Aufbau des Fernsehens mit Pro-grammen in Dari und Paschtu. Auch das sind ganz prak-tische Möglichkeiten, den Dialog der Kulturen zu fördern,Demokratisierung und Menschenrechte voranzubringen.Auch das wird eine wichtige Aufgabe sein, für die wir unsaktiv einsetzen müssen, für die wir immer wieder werbenmüssen. Denn das sind die Dinge, die tatsächlich nach-haltig da wirken, wo wir als Deutsche vor Ort vertretensind und Beziehungen zu den Menschen in anderen Län-dern knüpfen.
Monika Griefahn
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Monika GriefahnDeshalb ist die Neuformulierung des Deutsche-Welle-Ge-setzes ein wichtiger Punkt in dieser Legislaturperiode, umden Programmauftrag neu zu formulieren.Neben der Präsentation von Deutschland im Auslandstellen sich auch die Fragen des Kriseninterventions-radius, aber eben auch der Dialogstruktur, die ganz wich-tig ist. Ganz nebenbei, Herr Koschyk hat sich immer sehrfür die deutsche Sprache eingesetzt. Auch das ist ein wich-tiger Punkt, der dabei mitvermittelt wird.Wichtig sind auch die deutschen Auslandsschulen.Sie sind Orte, an denen der Bezug zu Deutschland und sei-ner Kultur früh hergestellt wird. Hier entsteht Bindung anunser Land und die Schüler und Schülerinnen in den deut-schen Schulen – ob sie nun aus Deutschland kommen oderaus dem jeweiligen Gastland – sind Botschafter fürDeutschland. Sie sind Botschafter für die Werte und fürdie Normen, über die wir gerade hinsichtlich der Innen-politik diskutiert haben: Menschenrechte, Demokratisie-rung und Gleichberechtigung. Dies alles sind Ziele, diewir versuchen zu erreichen.Dafür haben wir in diesem und im nächsten Jahr zu-sätzliche Gelder vorgesehen, die wir einsetzen wollen.Wir müssen mit den Ländern – auch dabei ist wieder dieKooperation der Länder notwendig – darüber diskutieren,wie wir vor Ort die Standards organisieren. Das ist natür-lich ein wichtiger Punkt, damit nicht auf einmal die Län-der die Anerkennung von Abschlüssen infrage stellen,
sondern damit wir weiterhin die Möglichkeit haben, auchbei größerem Anteil von örtlichen Schülern und orts-ansässigen Kräften, die Abschlüsse zu gewährleisten.Die Wahrnehmung Deutschlands als Kultur- und Wirt-schaftsnation – ganz klar beides – ist das Entscheidendeund der Punkt, von dem aus wir agieren müssen. Dazugehört zum Beispiel – auch das werden wir in dieser Le-gislaturperiode vorlegen – ein novelliertes Filmförde-rungsgesetz. Hier geht es darum, den europäischen Filmund damit auch den deutschen Film als Kulturgut zu be-wahren, ihn zu exportieren und als Teil von Europa zu prä-sentieren. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, den wir auchmit der Buchpreisbindung deutlich gemacht haben. Lite-ratur, Bücher und eben auch Filme sind nicht nur Wirt-schafts-, sondern auch Kulturgüter. Das ist ein Punkt, denwir deutlich machen müssen.
Kollegin Griefahn, Sie haben Ihre Redezeit überzogen.
Kommen Sie bitte zum Ende.
Ja gut, ich komme zum Schluss. – Das heißt, wir haben
eine Menge zu tun.
Wir haben schon viel gemacht. Aber wir existieren erst
seit vier Jahren, Sie haben das vorher nicht gemacht.
Ich wünsche mir, dass Sie auch weiterhin im Ausschuss
so aktiv und kooperativ mit uns zusammenarbeiten und
mit der Ministerin all diese Dinge auf den Weg bringen.
Ich wünsche uns eine wirklich konstruktive Zeit.
Der Herr Kollege Otto ist schon da und hat das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident. Liebe Frau Weiss, auchdie Liberalen gratulieren Ihnen herzlich zur Übernahmedes Amtes und bieten Ihnen unsere konstruktive Zusam-menarbeit an. Der Kollege Funke aus Hamburg hat unsvon Ihrem segensreichen Wirken in Hamburg erzählt. Wirhoffen, dass es Ihnen hier in Berlin genauso gelingen wird.Offen gesagt haben wir das Gefühl, dass Sie den Rück-halt und die Unterstützung des Parlaments als Parteilose,die über kein Parlamentsmandat verfügt, brauchen. Je-denfalls fällt es auf, dass von Ihren Wünschen, die Sie inIhren Berufungsverhandlungen mit dem Bundeskanzlergeäußert haben, kein einziger erfüllt worden ist. Insbe-sondere haben Sie keine Zuständigkeit für die Goethe-Institute und die auswärtige Kulturpolitik erhalten. Sie ha-ben nicht die Zuständigkeit für den Denkmalschutzerhalten und zu meinem großen Bedauern auch keine ein-heitliche Zuständigkeit für die Medienpolitik bekommen.Viel schlimmer noch, die aktuellen Koalitionsbe-schlüsse im Koalitionsvertrag fördern nicht die Kultur, son-dern sie schwächen sie. Da gab es den, wie Sie, Frau Weiss,sagten, unglücklichen Plan, die Spendenabzugsmöglich-keiten nach § 9 Körperschaftsteuergesetz zu streichen.
Der Plan ist jetzt erst einmal zurückgestellt. Warten wirden 2. Februar 2003 ab. Aber ich frage mich: WelcherGeist steckt hinter einer solchen Überlegung? Es ist je-denfalls kein Beitrag zu einer Zivilgesellschaft, wennSpenden an gemeinnützige Organisationen bestraft wer-den, während – Kollege Lammert hat schon darauf hinge-wiesen – die eigennützigen Sponsoringbeiträge weiterhinsteuerlich abgesetzt werden können.
Glaubt denn irgendjemand, dass man Spender und Mä-zene mit solch abenteuerlichen Plänen motivieren kann,mehr als bisher für Kunst und Kultur zu leisten? Was wirbrauchen, sind bessere steuerliche Rahmenbedingungen,nicht schlechtere und schon gar keine Verunsicherung derpotenziellen Spender.Ich möchte mich aber hauptsächlich einem anderenThema zuwenden. Ich empfinde es geradezu als Kata-strophe für Kunst und Kultur, insbesondere für den Kunst-handel, dass es einen weiteren Plan unseres PinocchioEichel gibt, der nicht zurückgezogen, sondern beschlos-sen worden ist. Auf Seite 71 des Koalitionsvertragesfindet sich folgender salbungsvolle Satz:
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Der Mehrwertsteuersatz im Kulturbereich muss erhal-ten bleiben.Die linke Hand, die Kulturhand, weiß offensichtlich nicht,was die rechte Hand, die Steuerhand, tut; denn aufSeite 19 desselben Papiers steht scheinheilig Folgendes:Wir werden den Abbau ungerechtfertigter ... Steuer-vergünstigungen konsequent fortführen.Was bedeutet das, meine Damen und Herren? Inzwi-schen wissen wir es. Der ermäßigte Umsatzsteuersatz fürKunst- und Sammlungsgegenstände soll von bisher 7 Pro-zent auf 16 Prozent angehoben werden.
– Ja, vorbehaltlich der Kulturverträglichkeit. – Meine Da-men und Herren, das ist die Logik des Koalitionsvertra-ges. Ich möchte einmal sehen, was dabei herauskommt.Das eine, Frau Kollegin Griefahn, konnten Sie heraus-schießen, das andere offensichtlich noch nicht. DemKunsthandel wird an der einen Stelle versprochen, dassder ermäßigte Steuersatz erhalten bleibt – daraufhin sinddie meisten der Händler beruhigt –, und einige Seiten vor-her wird in demselben Papier das Gegenteil festgelegt.
Das Finanzministerium, unser Freund Eichel, beziffertdie Steuermehreinnahmen aus der genannten Mehrwert-steuererhöhung bis zum Jahre 2006 locker auf 200 Milli-onen Euro. Mehr, meine Damen und Herren, können Siedem Kunsthandel und den Künstlern in Deutschlandwirklich nicht schaden.Frau Weiss, Sie sagten, entscheidend sei die Haltungund Wertschätzung gegenüber Künstlern. Ich frage michin der Tat, welche Haltung und Wertschätzung gegenüberKünstlern dadurch zum Ausdruck kommt.
Frau Weiss, die liberale Opposition möchte Sie gern un-terstützen. Wenn Sie gegen diese kultur- und kunstfeind-lichen Pläne vorgehen, dann werden Sie uns an Ihrer Seitefinden.Gestatten Sie mir abschließend noch eine kurze Anre-gung. Frau Weiss, Sie tragen den Titel einer Staatsminis-terin für Kultur und Medien. Ihr Hauptinteresse liegt an-gesichts Ihrer bisherigen Tätigkeit sicherlich im Bereichder Kultur. Bedenken Sie aber bitte, dass der weit größereReformbedarf in der Medienpolitik liegt. Wir brauchendringend eine umfassende Reform der Medien- und Kom-munikationsordnung. Das bisherige Regelungs- und Zu-ständigkeitsdickicht ist antiquiert und muss geliftet wer-den.
Nehmen Sie sich auch dieses überfälligen Reformprojektsan.Auf eine gute Zusammenarbeit mit Ihnen! Wir freuenuns darauf.Danke schön.
Ich erteile dem Kollegen Günter Nooke von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Jörg Tauss [SPD]: Das ist der neue Kulturmi-
nister!)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Zunächst, Frau Staatsministerin, auch von mir alsSprecher für Kultur und Medien herzlichen Glückwunschzum Amtsantritt. Sie treten ein Amt an, das mit einergroßen Hypothek belastet ist. Die Erwartungen der ein-schlägigen Szene sind umso größer.Leider wurde das Amt von den bisherigen Inhabern einbisschen als Durchlauferhitzer verstanden oder – bessergesagt – missverstanden. Das hat dem Amt nicht gutgetan.Ich kann nur hoffen, dass Sie das besser machen und dieKultur im Rahmen Ihrer Amtsausführung mit größererVerlässlichkeit fördern.Das Wichtigste ist doch, dass wir hier für dieses Landarbeiten und dass das, im Gegensatz zu Ihren Vorgängern,als ehrenvolle Aufgabe angesehen wird. Bei HerrnNaumann und Herrn Nida-Rümelin kritisiere ich nichtden Mangel an Engagement, aber was Ihren Vorgängerndoch nachgesagt werden muss, ist etwas, was auch mitKultur zu tun hat, nämlich ein Mangel an Patriotismus,
für den man sich gerade als für Kultur Verantwortlicher inDeutschland wohl nicht schämen sollte.Das Angebot der konstruktiven Mitarbeit vonseitender Opposition will auch ich Ihnen hier machen. Ich tuedas umso lieber, wenn Sie sich die Anträge und Vor-schläge der Union zu Eigen machen, in denen wir unsbemühen werden, die überzeugenderen Lösungen anzu-bieten, wie wir das schon in den vergangenen vier Jahrengemacht haben.Unter den vielen nicht ganz zu Ende gedachten, wenigüberzeugenden und von vornherein korrekturbedürftigenPapieren zur Kulturpolitik der Koalitionsfraktionen, mitdenen Sie sich in den vergangenen Jahren auch im Aus-schuss für Kultur und Medien beschäftigten, gehört derKoalitionsvertrag nun wirklich zu den schwächsten Tex-ten.Mein Eindruck, dass diese Worte zur Kultur eineSammlung von Selbstverständlichkeiten, Wünschen undkostenlosen Versprechungen an die Klientel sind, wurdedurch das, was Sie hier gesagt haben und was der Bun-deskanzler heute Vormittag gesagt hat, leider bestätigt.Das wäre nach den vielen Enttäuschungen dieser Art miteinem eben noch vertretbaren Maß an Gleichmut hin-nehmbar. Wenn sich aber schon knapp 24 Stunden nachder Unterzeichnung herausstellt, dass Ihre Ministerkolle-gen – vor allem der Finanzminister – den Text ohnehin nurals unverbindliche Empfehlung ansehen und sich ihn ebennicht zu Eigen machen, dann muss schon die Ernsthaftig-keit der Aussagen, die Sie hier treffen und die Sie zu Pa-pier gebracht haben, infrage gestellt werden.Hans-Joachim Otto
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Günter NookeIch will einmal eine Aussage, die den Mehrwertsteu-ersatz im Kulturbereich betrifft, zitieren:Der Mehrwertsteuersatz ... muss erhalten bleiben.Was heißt denn das? An wen richtet sich eigentlich dasWort „muss“? Diese Forderung klingt wie eine Selbstver-pflichtung. Dass sie aber wie ein frommer Wunsch be-handelt wird, dürften die Kulturpolitiker leidvoll bemerkthaben, und zwar schneller, als sie es selbst wahrhabenwollten.Über die Spendenabzugsfähigkeit haben wir geradegesprochen.Die Erfindung der Kulturverträglichkeitsklausel istübrigens auch nur solch ein kostenloses Versprechen, unddazu noch eines, das die Kulturszene selber einlösenmuss. Nicht einmal die Prüfung wird bezahlt; Sie lassensie durch den Protest der Öffentlichkeit auch noch die Öf-fentlichkeit und die Klientel selber machen.
Schöner hätte der operative Nutzen dieser Klausel kaumdemonstriert werden können.Weder das Papier noch der bisherige Umgang der Ko-alitionäre damit geben ein Zeichen an die Kultur, das sievielleicht am nötigsten braucht, nämlich ein Zeichen derVerlässlichkeit. Wenn es der Politik schon nicht möglichist, „Probleme mit Geld zuzukleistern“, wie Sie gesagthaben, dann sollten Sie vor allem eines vermeiden, näm-lich neue Probleme durch Unzuverlässigkeit zu verursa-chen. Kultur braucht vor allem Verlässlichkeit.Im Koalitionsvertrag wird festgestellt, dass Kultur im-mer wichtiger werde. Das ist schön gesagt und leicht ge-schrieben, und man hat den Eindruck, dass hinter der For-mulierung der naive Glaube steckt, dass sich bei so großerWichtigkeit bei allen die Einsicht einstellt, an der finan-ziellen Ausstattung nicht mehr weiter zu kürzen. Aberauch dazu gibt es kein Wort von Ihnen. Sie haben nichteinmal die Themen aufgezählt – Frau Griefahn hat das im-merhin getan –, geschweige denn gesagt, wie viel Sie wotun wollen. Anspruch und Wirklichkeit klaffen aber wei-ter und in wachsendem Maße auseinander; denn es stehenauch im Haushalt 2003 weniger Mittel für Kultur zur Ver-fügung, und das bei nun angekündigtem größeren En-gagement, zum Beispiel bei den Stätten des Weltkulturer-bes und in Berlin.Über das Engagement des Bundes in der Hauptstadtheißt es, es werde erhalten und ausgebaut. So mutig dasReden vom Ausbau auch erscheinen mag: Wir hätten es– das ist hier schon mehrfach gesagt worden – gern etwasgenauer gewusst. Zum anderen übersieht die Formulie-rung, dass es in erster Linie an der Gestaltung des Ver-hältnisses zwischen Bund und Land mangelt; denn derHauptstadtkulturvertrag genügt aus einer ganzen Reihevon Gründen nicht den Ansprüchen, die Berlin – als Bun-deshauptstadt wie als Land – und der Bund zu Recht stel-len. Wir werden im kommenden Jahr über die Neufassungdieses Hauptstadtkulturvertrages reden müssen.Weitere Beunruhigung entsteht auch, wenn der Koali-tionsvertrag vorsieht, dass sich der Bund aus der kulturel-len Filmförderung verabschieden will, indem er dieKompetenzen an die Filmförderungsanstalt abgibt. Dasist eine Idee, wie sie unnötiger und unsinniger kaum seinkönnte. Sie gehört in die Kategorie „Probleme, die dieWelt nicht braucht“, könnte man sagen. Besonders bizarrwirkt es, dass die bedachte Filmförderungsanstalt das Ge-schenk überhaupt nicht haben will.All die anderen Dinge will ich gar nicht aufzählen. Derschwache Punkt dieser Koalitionsvereinbarung – das willich hier nur noch einmal zusammenfassend sagen – ist: Esfehlt an belastbaren, konkreten Aussagen zur Kulturför-derung für die nächsten Jahre.Einen anderen Punkt möchte ich auch noch anspre-chen. Sie haben hier fernab der Wirklichkeit auch philo-sophische Dinge besprochen und uns gebeten, die Anbin-dung an die Realität zu organisieren. Doch Kultur – dasind wir uns einig – hat nicht nur mit Geld zu tun. Inso-fern will ich diesen Faden gerne aufnehmen. Es ist näm-lich auch über eine Aufgabe zu reden, die im Koalitions-vertrag nicht erwähnt wird, die aber uns als Kultur- undMedienpolitiker beschäftigen muss und künftig auch stär-ker beschäftigen wird. Die Medien – die alten wie dieneuen – sind nicht nur ein wachsender Wirtschaftsfaktor.Vielmehr haben sie auch einen großen Anteil an der kul-turellen Entwicklung und an der gesellschaftlichen undauch nationalen Identität. Ob bewusst oder unbewusst,beabsichtigt oder unbeabsichtigt tragen sie dazu bei, daszu erzeugen, was jeder Einzelne als sein Bild von der Weltbezeichnet. Presse und elektronische Medien vermittelndas, was die Gesellschaft als Realität annimmt.Mit diesem Phänomen haben wir uns viel stärker alsbisher auseinander zu setzen. Denn die Wirklichkeit wirdüber Medien wahrgenommen, ohne dass diese uns Instru-mente überlassen, mit denen ein Wahrheitsgehalt festge-stellt werden könnte. Wir können also nur annehmen, dassdas, was uns vermittelt wird, die Realität ist. Sicherer kön-nen wir nur werden, wenn wir Kompetenz haben, wennwir gelernt haben, mit Fiktion und Realität gleichermaßenkritisch umzugehen.Mir geht es in diesem Zusammenhang deshalb umzweierlei:Erstens muss auch die Kultur- und Medienpolitik deut-licher als bisher die Bedeutung der Medienkompetenz inden Vordergrund stellen und zum selbstverständlichenBestandteil der kulturellen Bildung machen.Zweitens müssen wir uns mit der Frage beschäftigen,was es für unser Bewusstsein bedeutet, dass Fiktion zurRealität wird, wie zum Beispiel beim Terroranschlag aufdas World Trade Center geschehen, das als Science-Fic-tion vorformuliert existierte.Dabei geht es nicht nur um das Bewusstsein des Einzel-nen, sondern auch darum, das Bewusstsein einer Nation zubilden, wie der Film „Baader“ von Christopher Roth imSommer dieses Jahres exemplarisch gezeigt hat. Fiktionund Wirklichkeit, Imitation und Tatsachen werden hier ineiner unschlüssigen Halbdistanz ununterscheidbar. Je bes-ser die Erfindungen in das linke Klischee passen, destoleichter ist Glaubwürdigkeit herzustellen. Das Tragen einesT-Shirts mit RAF-Symbolen ist nicht länger politisch, Herr
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Umweltminister. Es ist nur noch in oder out. Politik wirdzum Zitat, Klassenkampf zum Kult: „Prada Meinhof“. Ichglaube, auch darüber lohnt es sich zu sprechen.Die RAF war davon überzeugt, Geschichte machen zukönnen, ein Geschäft, das die Medien mittlerweile sou-verän und gut beherrschen.
Herr Kollege Nooke, Sie müssen bitte zum Ende kom-
men.
Ja. – Der Weg von den wirklichen Ereignissen zur his-
torischen Kolportage ist kürzer geworden. Bei der Kol-
portage geht es nicht mehr um historisch-kritische Refle-
xion oder gar um die politische Wahrheit. Die jüngste
Zeitgeschichte wird aus dem historischen Kontext gelöst.
In diesem Zusammenhang wird es besonders wichtig
sein, darüber zu diskutieren, wie wir im Rahmen der Er-
innerungs- und Gedenkstättenkultur mit der Interpre-
tation der NS- und der SED-Diktatur umgehen. Ich würde
mir wünschen, dass sich der Bund engagiert, wenn es zum
Beispiel am 9. November darum geht, hier in Berlin den
Weg zu einer Mauergedenkstätte einzuschlagen und die-
sen Tag als einen zu entdecken, der nicht nur das Land
Berlin, sondern auch uns auf Bundesebene betrifft.
Herr Kollege, Sie müssen wirklich zum Ende kommen.
Jawohl, Herr Präsident, ich komme zum Schluss und
sage: Es wäre gut, wenn wir uns gemeinsam darüber ver-
ständigten, dass es in der Kulturpolitik richtig ist zu sagen
– dieser Satz hat ja im Vorfeld dieser Debatte eine gewisse
Rolle gespielt –: Es ist Zeit für Taten und nicht nur für
schöne Worte.
Danke schön.
Weitere Wortmeldungen zu diesen Themenbereichen
liegen nicht vor.
Wir kommen damit zum Themenbereich Umwelt.
Das Wort hat Bundesminister Jürgen Trittin.
Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir
zum Auftakt der 15. Wahlperiode über die Umweltpolitik
in den nächsten vier Jahren sprechen, dann wird Ihnen ei-
niges bekannt vorkommen.
Selbstverständlich wollen wir den Weg, den wir beispiels-
weise mit dem Ausstieg aus der Atomenergie
eingeschlagen haben, fortsetzen.
Wir werden in diesen vier Jahren das Ende der Transporte
in die Wiederaufarbeitung organisieren. Die Kraftwerke
in Stade und Obrigheim werden vom Netz gehen. Dies
alles dürfte uns weiter in unseren Debatten begleiten.
Wenn Sie den Koalitionsvertrag und das dort festge-
legte Programm anschauen, dann werden Sie etwas Neues
finden. In Kap. V der Koalitionsvereinbarung finden Sie
im Hinblick auf die Umwelt-, Verkehrs- und Energiepoli-
tik erstmalig im Kern zusammengefasst, was wir unter ei-
ner nachhaltigen Politik verstehen: Wir wollen Umwelt-
politik nicht auf technischen Umweltschutz beschränken,
sondern ganz bewusst auch die Aspekte der Verkehrs-
und Energiepolitik einordnen.
– Ja, es ist die Agrarpolitik. Nein, Entschuldigung, Uli, ich
nehme es zurück.
Der junge Kollege ist noch etwas heftig.Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit:Er ist aber nicht der Erste, dem das passiert ist.Meine Damen und Herren, ich möchte zu drei Dingenetwas sagen. Erstmalig sind wir im Bereich der ökologi-schen Finanzreform nicht nur darangegangen, stärkerfür Gerechtigkeit beim Abbau von Subventionen zu sor-gen, sondern wir haben darüber hinaus auch ökologischeSignale gesetzt.Ist es wirklich sinnvoll, dass beispielsweise bei der Be-steuerung mit Umsatzsteuer das Fliegen besser gestelltwird als der Erwerb von Nahrungsmitteln? Während fürden Erwerb von Nahrungsmitteln nur der halbe Mehr-wertsteuersatz galt, musste beim Fliegen bisher gar keineMehrwertsteuer gezahlt werden. Dies war insbesondereim Vergleich zu einem anderen Verkehrsträger, nämlichder Bahn, unvernünftig, weil das ökologisch vorteilhafteVerkehrsmittel höher besteuert wurde als das ökologischunzweifelhaft nachteiligere. Das korrigieren wir mit un-serem Ansatz.
Ich frage die Kommunalpolitiker, ob es in Zeiten knap-per Kassen wirklich sinnvoll gewesen ist, diejenigen, dieWohneigentum aus dem Bestand erworben haben – dasist verkehrs-, kommunal- und auch steuerpolitisch ver-nünftig gewesen –, für dieses vernünftige Verhalten zuGünter Nooke
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Bundesminister Jürgen Trittinbestrafen, indem sie nur die halbe Eigenheimzulage erhiel-ten, während diejenigen, die auf der grünen Wiese neu ge-baut haben, die volle Eigenheimzulage bekamen. Auch hierhaben wir in der Koalitionsvereinbarung gezeigt, wie manauch in der Steuerpolitik umweltpolitisch umsteuern kann.
Ich will ein drittes Beispiel nennen. Wir wollen dasfortsetzen, was wir mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz auf den Weg gebracht haben. Wir wollen für dieOffshore-Windanlagen in den nächsten Jahren ein gro-ßes Ausbauprogramm auflegen und den Weg zur ökologi-schen Modernisierung der Energiepolitik fortsetzen.Wir wollen das aber nicht nur in Deutschland machen– deswegen haben wir das Marktanreizprogramm fürdie erneuerbaren Energien vor die Klammern gezogen –,sondern wir wollen das auch international unterstützen.Das ist der Grund, warum wir uns dazu verpflichtet haben,nicht nur eine große Konferenz zu erneuerbaren Energienin den nächsten Jahren durchzuführen, sondern auch einehalbe Milliarde Euro allein dafür in die Hand zu nehmen,dass erneuerbare Energien in den Entwicklungsländerneine Zukunftschance erhalten. So packen wir drei Dingezusammen: Armutsbekämpfung, Klimaschutz und einStück Standortpolitik für eine wachsende Branche inDeutschland.
Eine letzte Bemerkung: Ich wünsche mir für dienächste Klimakonferenz vom gesamten Haus die Unter-stützung, die wir beim Kioto-Protokoll erfahren haben.Wir stehen am Vorabend der Konferenz in Neu-Delhi vorder Situation, dass wir darüber neu verhandeln müssen,wie es weitergehen wird, wenn die erste Verpflichtungs-periode 2012 endet. Schon jetzt beginnen die Ansagen fürdie Zeit danach.Wir haben mit der Koalitionsvereinbarung ein interna-tional klares Signal gesetzt: Deutschland will weiter sei-ner Rolle als Vorreiter beim Klimaschutz gerecht wer-den. Wir sind bereit, wenn andere diesen Weg mitgehen– Vorreiter heißt nämlich nicht Stellvertreter –, bis zumJahr 2020 um 40 Prozent zu reduzieren. Das heißt, wirwerden das, was wir bisher erbracht haben, faktisch nocheinmal verdoppeln.Unser Angebot zur Klimaschutzpolitik ist: Wir wolleninternational gemeinsam mit den Europäern, mit den In-dustrieländern und – ich füge hinzu – auch mit bestimm-ten Schwellenländern ein entsprechendes Signal setzen.Ich würde mich freuen, wenn wir dieses Haus jenseits al-len Streites, den wir immer wieder in dieser Frage habenwerden, lieber Kollege Lippold, auf dem Weg des Klima-schutzes und der gemeinsamen Zielsetzung für die Bundes-republik Deutschland auch weiterhin so gemeinsam vertre-ten können, wie wir das zum Beispiel beim Kioto-Protokollgemacht haben. Ich glaube, an dieser Stelle können wir aufdas, was wir gemeinsam erreicht haben, stolz sein.Vielen Dank.
Ich erteile dem Kollegen Klaus Lippold, CDU/CSU-
Fraktion, das Wort.
Es hätte euch etwas gefehlt, oder?Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bundesmi-nister, Sie haben Kioto zu Recht angesprochen. Ichkomme gleich im Detail darauf zu sprechen, aber einlei-tend muss etwas gesagt werden: Ich kann Ihnen nicht an-kreiden, dass Sie hier wenig gesagt haben, weil Ihre Re-dezeit hier offensichtlich begrenzt war. Es wäre unfair,dies zu tun.
Wir werden eine Reihe von anderen Positionen spätermiteinander ausmachen müssen.Ihr Bundeskanzler hatte heute eigentlich hinreichendZeit,
etwas zur Umwelt zu sagen. Aber außer einer beiläufigen– ich würde fast sagen: abfälligen – Bemerkung zumUmweltschutz hat er überhaupt nichts dazu gesagt.
Diese Thema ist von ihm systematisch nicht beachtetworden, was dafür spricht, Herr Bundesminister, dass Siebei diesem Bundeskanzler nicht die Unterstützung haben,die Sie brauchen, um international wirklich durchstoßenzu können. Darauf kommt es aber letztendlich an.
Sie können sicher sein, Herr Minister, dass wir Ihnenfür das, was auf der Konferenz in Delhi anzustreben ist,genauso Rückendeckung zusagen, wie wir dies seinerzeitfür Kioto gemacht haben, weil wir konstruktive Kritik undkeine negative Kritik üben.Der Sachverhalt ist aber der, dass man sich hier mit derKlimaschutzpolitik der Bundesregierung auseinanderset-zen muss. Wie sieht diese aus? Sachverhalt ist doch – ichkomme auf Versäumnisse in Ihrer Koalitionsvereinbarungspäter noch detailliert zu sprechen –, dass Sie bei den ver-gangenen Konferenzen immer mit dem Minderungszielvon minus 25 Prozent bis 2005 durch die Gegend gezogensind, welches wir aufgestellt haben, dass Sie gleichzeitigmit der Minderungsrate, die wir bei Kohlendioxidemis-sionen für Sie erreicht hatten, überall Eindruck geschun-den haben und jetzt unter Ihrer Regentschaft, wo Ihre Po-litik zu wirken anfängt, die Kohlendioxidemissionensteigen, Herr Minister.
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Dies müsste Sie eigentlich nachdenklich machen, abernicht nur nachdenklich, sondern dies müsste Sie auchwesentlich selbstkritischer machen. Wenn Ihre Politikwirklich so erfolgreich wäre, wie Sie tun und Sie dies inNebensätzen immer wieder sagen, würden die Kohlen-dioxidemissionen doch nicht wieder steigen. Ich könntedies ja noch verstehen, wenn wir eine boomende Wirt-schaft hätten, die aus allen Nähten kracht, weil die Pro-duktion läuft, die Leute sich des Lebens freuen, das Lebengenießen und dabei die Emissionen steigen.Sie aber sind doch gar nicht in der Lage, die Wirtschaftboomen zu lassen. Die katastrophale Lage der Wirtschaftund am Arbeitsmarkt, die Abnahme von Beschäftigung unddie Zunahme von Arbeitslosigkeit sind doch alles Faktoren,die eigentlich dazu beitragen, dass die Emissionen sinkenund nicht steigen. Trotz dieses Trends schaffen Sie es nicht,die Emissionen weiter sinken zu lassen, das, was wir auf denWeg gebracht haben, deutlich weiter nach vorn zu schieben.Deshalb verstehe ich auch, Herr Trittin, dass sich eineexplizite Formulierung des 25-Prozent-Ziels, das Sie biszum Jahre 2005 erreichen wollen, nicht in Ihrer Koaliti-onsvereinbarung findet. Dies haben Sie ganz schamhaftunter den Tisch fallen lassen.
Da hilft auch nicht das Ablenkungsmanöver, dass Siein fernen 20 Jahren um 40 Prozent reduziert haben wol-len. In 20 Jahren, Herr Minister, sind die Dinge alle ge-gessen.
Den vernünftigen Einstieg brauchen wir jetzt.Mit Blick auf Delhi muss man aber sagen, dass das,was wir bis zum Jahre 2005 erreichen wollen, die Basisist. Wenn ich den ersten Teil des Gebäudes nicht ordent-lich baue, brauche ich mir über die erste Etage keine Ge-danken mehr zu machen. Das Fundament und das Erdge-schoss müssen richtig gebaut sein. Dies verpassen Sie imMoment aber. Sie schlampen in der Grundfrage der Re-duktion der Kohlendioxidemissionen. Auch bei den ande-ren Klimagasen haben Sie nicht zugelegt. Dies heißt also:Fehlanzeige auf der ganzen Linie.Dies finde ich bedauerlich, denn wer draußen wirkenwill – und das wollen Sie in Delhi –, der muss zu HauseErfolge vorzeigen, wie Sie früher immer richtig gesagt ha-ben. Dies können Sie aber vor dem Hintergrund, wie ichihn gerade skizziert habe, nicht.
Ich sage ganz offen, Herr Minister, dass es vor diesemHintergrund schwer ist, andere zu überzeugen. Es ist not-wendig, dass in Delhi jetzt weitere möglichst konkreteVorentscheidungen fallen, wie es über das Jahr 2012hinaus weitergehen soll. Es wäre ausgesprochen wichtig,dass wir in dieser Richtung jetzt klar von Ihnen hören, woin Zukunft die Minderung liegen soll, wie Sie sich insbe-sondere die Zusammenarbeit mit den Entwicklungs-ländern und den Schwellenländern vorstellen. Wir müs-sen den Entwicklungsländern einen Zuwachs an Ener-gieverbrauch gönnen; ich glaube, das ist unstrittig. Beidem Verbrauch, den wir haben, können wir andere nichtvon der Verbesserung ihres Lebensstandards abhalten.Auf der anderen Seite ist unbestreitbar notwendig – ichbitte Sie, sich dafür einzusetzen –, dass wir die Schwel-lenländer in Delhi mit ins Boot bekommen; denn ohne dieSchwellenländer werden wir das Klimaproblem, das ichfür das gravierendste Umweltproblem überhaupt halte,nicht lösen können. Da ist jetzt Ihr Geschick gefragt. Ichhabe manchmal das Gefühl, dass Sie jenseits der Kern-energiediskussion zu Hause nicht den nötigen Nachdruckauf internationale Verhandlungen legen und dieses Themanicht entsprechend vertreten. Deshalb appelliere ich anSie, Ihre Strategie und Ihre Vorgehensweise zu ändern.Genauso erwarte ich von Ihnen, dass Sie in Zukunft imeuropäischen Umweltschutz mehr Engagement zeigen,statt bei den gelegentlichen Umweltschutzvorstößen ausEuropa bundesrepublikanisch noch draufzulegen und un-sere Wettbewerbsfähigkeit zu verschlechtern.
Eine der Grundlinien, die wir vertreten, ist, den Um-weltschutz mit einer vernünftigen Wirtschaftspolitikund einer Politik, die arbeitsmarkt- und arbeitsplatzorien-tiert ist, zu verbinden.
Herr Trittin, was Sie gerade in Sachen Eigenheimzulagegesagt haben, ist in dieser Frage völlig kontraproduktiv.Ich sage es einmal so: Auch Ihre Baupolitiker schwelgenja immer in der Vorstellung, dass man jungen Familienmehr Wohnraum zu vernünftigen Preisen usw. anbietenmuss. Aber jetzt an der Eigenheimzulage so herumzu-basteln, wie Sie es tun, ist falsch, vor allem wegen der ne-gativen Folgen.Unsere Vorstellungen im Klimaschutzbereich warenganz klar. Ich bedaure, dass wir sie jetzt nicht umsetzenkönnen. Der Punkt ist, dass im Altbaubestand,wo in Be-zug auf die Klimapolitik das erheblichste Potenzial für dieReduktion von Kohlendioxidemissionen liegt, mit steu-erlichen Anreizen gearbeitet werden muss. Wir haben daganz klare Vorstellungen entwickelt.Ich habe diese Passage mit den steuerlichen Zuschüs-sen oder steuerlichen Anreizen jetzt bei Ihnen wiederent-deckt, Herr Trittin. Ich sage Ihnen zu: Wenn Sie zu demThema steuerliche Anreize dynamisch etwas wirklichProfundes mit entsprechender Stoßkraft vorlegen, werdenwir Sie unterstützen. Das ist gar keine Frage; denn daswäre produktiv in dem Sinne, dass mit einer Maßnahmesowohl Arbeitsplätze gesichert und geschaffen werdenkönnten und gleichzeitig etwas für den Umweltschutz ge-tan würde. Das ist eine Politik, wie ich sie mir vorstelle.
Aber das haben Sie nur schwach angedeutet.
Dr. Klaus W. Lippold
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Dr. Klaus W. Lippold
Diese Positionen müssten bei Ihnen besser dargestellt sein,sonst ergeht es Ihnen in dieser Frage so wie bei den natio-nalen Nachhaltigkeitsstrategien. Die entsprechenden Ziel-setzungen haben Sie schon in die letzte Koalitionsverein-barung hineingeschrieben, aber nichts ist passiert. Siewollten – auch das steht in der Koalitionsvereinbarung von1998 – ein Umweltgesetzbuch, aber nichts ist passiert.
Sie wollten die Novelle der Sommersmogverordnung,Sie wollten die Novelle der Verpackungsverordnung,aber nichts ist passiert. Alles steht de facto wieder in derVereinbarung; manches haben Sie zwischenzeitlich auchwieder vergessen.
Das ist ein Punkt, den wir Ihnen nicht durchgehen las-sen: dass Sie von Mal zu Mal die gleichen Positionen brin-gen, die Sie schon in grauer Vorzeit realisieren wollten,und die Eiszeittiger, die Sie ausgraben, als völlig neue, le-bende Objekte verkaufen wollen. So geht das nicht. Damuss wirklich etwas Neues kommen.
Wir werden uns, Herr Trittin, wie ich das sehe, in Zu-kunft auch kritisch über die Instrumente auseinander set-zen. Wir meinen, dass wir marktwirtschaftliche Powernutzen müssen, um den Umweltschutz voranzubringen,national wie international. Die Selbstverpflichtung, dieSie langsam anfingen mitzutragen, findet sich in derneuen Koalitionsvereinbarung jetzt nur noch sehr ober-flächlich. Sie haben die Verhandlungen in Brüssel überdie handelbaren CO2-Emissionen mit solcher Nachläs-sigkeit geführt, dass das Instrument der Selbstverpflich-tung gefährdet ist. Das ist falsch, Herr Minister, so kön-nen wir das nicht angehen.
So können wir nichts umsetzen. Dann haben Sie die salva-torische Klausel aufgenommen, dass die EU das Ganze soabschließen soll, dass Selbstverpflichtung möglich blei-ben könnte – Konjunktiv! –, nicht möglich bleiben muss.Diese Positionen lassen wir Ihnen so nicht durchgehen,Herr Minister, denn sie sind in Brüssel nicht mit demNachdruck verhandelt worden, wie sie hätten verhandeltwerden müssen.Hier komme ich wieder auf die Querbeziehung zurück.Wenn ein Emissions Trading eingeführt wird, das dieArbeitsplätze in großen Teilen der Chemie und anderer In-dustrie nachhaltig gefährdet, dann werden wir Ihnen dieVerantwortung dafür nicht abnehmen, sondern ganz klarsagen: Die Arbeitsplatzvernichter sitzen auf der Regie-rungsbank und auf der linken Seite des Parlaments.
Die Nachlässigkeit, mit der Sie diese Dinge gestrickt ha-ben, werden Sie noch aufzuarbeiten haben. Andere Länderwie die Niederlande oder England haben hier ganz andersvorgebaut, als Sie das getan haben. Ich meine, das mussdeutlich angesprochen werden. Das geht nicht anders. Hiergibt es noch Punkte, über die diskutiert werden muss.Sie haben über die Energiewende gesprochen. Ich sagedazu nur so viel, da Kollege Paziorek noch näher auf dieFrage der regenerativen Energien eingehen wird: Wirbrauchen regenerative Energien. Sie unterstellen uns im-mer zu Unrecht, dass wir diese nicht wollten. Wir brau-chen aber wettbewerbsfähige regenerative Energien undnicht regenerative Energien um jeden Preis. Wir brauchenangepasste regenerative Energien und nicht Windkraft-werke an Standorten, an denen die Windgeschwindigkeit0,1 Meter pro Sekunde beträgt und dadurch die Subventi-onsdauer verlängert wird. Das kann es doch wohl nichtsein. In dieser Frage werden wir uns auseinander setzenmüssen.
Wenn Sie das Ganze so angehen wollen, dann zitiereich Altminister Müller, den ehemaligen Wirtschaftsminis-ter, den schon jetzt keiner mehr kennt. Ich habe ihm da-mals gesagt, Schröder würde ihn nicht wieder berufen.Das ist auch so gekommen und ich verstehe auch, warum.Aber ob derjenige, der neu gekommen ist, besser ist, da-rüber werden wir noch nachdenken müssen. Er ist näm-lich aus Nordrhein-Westfalen weggegangen, bevor manerkennen konnte, was er dort alles nicht geleistet hat. DerBundeskanzler ist aus Niedersachsen weggegangen, be-vor ihn das Übel, das er dort angerichtet hat, eingeholt hat.Zurück zur Thematik. In diesem Punkt werden wir,wenn Sie das so angehen, das gewünschte Ziel nicht er-reichen. Eine Energieversorgung ohne Kernenergie nurmit regenerativen Energien schafft Zusatzkosten in derGrößenordnung von 250Milliarden Euro für die nächstenJahre. Angesichts des Etats, den Ihr Finanzminister hiervorlegt und angesichts der Perspektiven, die er hier ent-wickelt hat, können wir das vergessen. Ich sage ganz deut-lich: So wird das nicht funktionieren, wenn wir eine ver-nünftige Finanzpolitik auf der einen Seite und einevernünftige Klimaschutzpolitik auf der anderen Seite ma-chen wollen. Also: Der Ausstieg aus der Kernenergie wird– das können Sie nicht ändern – teuer im Klimaschutz be-zahlt werden.Dabei wird natürlich auch deutlich, dass Ihr Instrumentder Ökosteuer schlussendlich über die ganzen Jahre hin-weg nichts bewirkt hat.
Sie haben abkassiert, aber sie selbst hat kein ökologischesZiel erreicht und hat zum Erreichen eines ökologischenZieles nichts beigetragen.
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– Darüber könnten wir gerne im Detail diskutieren.Horst Kubatschka [SPD]: Da gehen Sie ganzschön ein!)Ich sage Ihnen aber, dass wir – unterfüttert bis hin zumSachverständigenrat – deutlich machen können, dass diesso nicht läuft.
Unsere Strategie wird eine andere sein. Wir setzen aufmarktwirtschaftliche Instrumente.
Wir setzen auf Selbstverpflichtungen. Wir setzen aufsteuerliche Anreize, nicht auf ein Abkassieren durch dieÖkosteuer. Wir wollen sicherstellen, dass europäisch imGleichklang marschiert wird, dass wir nicht alles alleinetragen, sondern dass die anderen die ökologische Verant-wortung wesentlich stärker mit tragen. Das Gleiche wol-len wir auch auf internationaler Ebene. Auch in dieserFrage sind wir wesentlich flexibler. Hier gibt es noch In-strumente, die wir gemeinschaftlich diskutieren müssen.Ihnen, Herr Minister, wünsche ich trotzdem guten Er-folg in Delhi. Wir werden kritisch betrachten, was Sie dorterreicht haben. Ich wünsche Ihnen einen guten Flug.
Ich erteile das Wort der Kollegin Ulrike Mehl, SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wenn ich Sie, Herr Lippold, hier höre, kriege ich gleichHeimatgefühle. Wir sind wieder mittendrin, Ihre Redewar wie immer laut, dafür aber weitgehend substanzlos.
Sie haben hier lange geredet und haben uns erzählt, wasSie alles zu kritisieren haben. Aber Aussagen darüber, wasIhre Ziele sind und wie Sie die erreichen wollen, fehlten.Aber Sie haben ja noch vier Jahre Zeit.
In dieser Zeit können Sie noch viele Reden halten. Ichkann es in einem Satz zusammenfassen: Die rot-grüneKoalition hat in den letzten vier Jahren eine erfolgreicheUmweltpolitik gemacht. Genau das werden wir fortset-zen. Das können Sie sich gerne ansehen.
Wir haben in unserer Politik die Menschen und dieUmwelt in das Zentrum der Arbeit gestellt. Deswegenfreue ich mich sehr, dass ein wichtiger Grundstein gelegtworden ist. Durch die Politik der Bundesregierung habenwir nämlich eine Nachhaltigkeitsstrategie, die wir in dennächsten Jahren umsetzen werden. Sie enthält sehr vieleeinzelne Punkte, an denen Sie sich gerne noch aufreibenkönnen.Natürlich bleiben wichtige Fragen offen. Sie selber ha-ben es ja 16 Jahre nicht geschafft, wichtige Probleme zulösen. Dann können Sie nicht erwarten, dass wir dieseProbleme in vier Jahren lösen.Es werden noch viele Fragen zu beantworten sein, umeine dauerhafte Generationengerechtigkeit und die Erhal-tung von Lebensqualität zu erreichen.Ich will fünf Punkte nennen – es wären viel mehr zunennen, aber Sie können das im Koalitionsvertrag ja auchselbst nachlesen –:Erstens. In Johannesburg ist wieder deutlich geworden,dass eine nachhaltige Entwicklung überhaupt kein Selbst-läufer ist. Wir müssen vielmehr alle Vertragsstaaten undletztendlich auch die Entwicklungsländer dazu bringen,dass sie die selbst eingegangenen Verpflichtungen auchtatsächlich erfüllen. Es besteht Einigkeit darüber, dassdiese Verpflichtungen notwendig sind. Allerdings werdendiese eben nur bruchstückhaft umgesetzt. Dies ist in demAktionsplan von Johannesburg – darin geht es um den Zu-gang zu Wasser, um eine angemessene Abwasserentsor-gung, um eine weltweite Energiewende usw. – klar gesagtworden.Die Bundesregierung hat sehr schnell gehandelt undbereits entsprechende Mittel, die in den nächsten fünf Jah-ren für diese Themenbereiche zur Verfügung gestellt wer-den sollen, zugesagt. Wir werden die uns angehendenPunkte in der nationalen Umweltpolitik natürlich eben-falls schnellstmöglich umsetzen. Wir haben eine Vorrei-terrolle im Klimaschutz und werden selbstverständlichmit Druck daran arbeiten, dass das auch zukünftig sobleibt.Die aktuelle Situation fordert zum Handeln. Das heißt,dass das Kioto-Protokoll endlich in Kraft gesetzt werdenmuss. Wir haben das Unsere dazu beigetragen. Das heißtaber, dass auch auf internationaler Ebene weiterhin einekräftige Überzeugungsarbeit geleistet werden muss; dennletztendlich kann man mittel- und langfristig nicht daraufverzichten, dass die USAund auch Australien, Länder, diesehr zögerlich mit dem Thema umgehen, mit ins Bootkommen. So ärgerlich es ist, wie die amerikanische Re-gierung bisher mit dem Thema umgegangen ist: Mankann es nichts links liegen lassen, sondern es muss Über-zeugungsarbeit geleistet werden.
Bei genauerem Hinsehen stellen sich auch in Europadie erreichten Fortschritte als sehr unterschiedlich dar.Das Wissen darum, dass ein Klimawandel eingesetzt hat,ist vorhanden. In den letzten Tagen konnten wir in denZeitungen wieder lesen, was die letzten Stürme – so wieandere vorhergehende auch – alleine die Allianz-Versi-cherung gekostet haben, nämlich 18 Millionen Euro.Dass also auch ökonomische Folgen daraus entstehen,ist jedem klar; es ist augenscheinlich geworden. Deswe-gen muss bei uns im Lande das Ziel lauten, das Begon-nene ohne Abstriche weiterzuführen und die europäischenDr. Klaus W. Lippold
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Ulrike MehlPartnerländer aufzufordern, ihre Beiträge dazu zu leisten.Wir sind nicht der Stellvertreter für andere europäischeLänder. Alle müssen ihre Verpflichtungen erfüllen. Es istsicherlich richtig, dies auch von unserer Seite aus anzu-mahnen.Zweitens. In der Energiepolitik – diese wurde ebenschon mehrfach angesprochen – bleibt der Ausbau dererneuerbaren Energien natürlich unser zentrales politi-sches Vorhaben; denn langfristig ist nur eine Energiever-sorgung auf der Grundlage erneuerbarer Energien auchzukunftsfähig.
Deswegen werden wir die Politik der letzten vier Jahrefortsetzen. Sie können natürlich viel darüber reden, dassdieses oder jenes nicht funktioniert hat. Eines ist aber klar:Wir haben erreicht, dass der Anteil der erneuerbarenEnergien an unserer Stromversorgung bereits über 50 Pro-zent zugenommen hat. Allein die Windkraft hat sich ver-dreifacht; die Photovoltaik boomt. Es sind Zigtausendevon Arbeitsplätzen entstanden. Sie können noch so vieldrumherumreden: In diesem Zukunftsbereich werdenArbeitsplätze geschaffen und Innovationen in den neuenTechnologien gefördert. Durch ihn verschaffen wir unseine Vorreiterstellung in dieser Technologie. Darüber hi-naus wird in diesem Bereich der Umwelt- und Klima-schutz gefördert. Deswegen werden wir an diesem Themamit Macht weiterarbeiten.
Ich komme zu den Subventionen. Herr Lippold, Siehaben eben angedeutet, dass das alles zu teuer sei. Dazuwill ich nur einen kleinen Zahlenvergleich bringen: Durchdas Erneuerbare-Energien-Gesetz wurden letztes JahrZahlungen in Höhe von 1,5 Milliarden Euro fällig. Dasbedeutete eine monatliche Belastung pro Haushalt von3,25 Euro und entsprach etwa den Kosten eines Weizen-bieres oder eines vergleichbaren Getränks. Bei aller Lustam Streit denke ich, dass uns der Aufbau einer nachhalti-gen Energieversorgung diesen Betrag wert sein sollte.
Drittens. Wir werden uns in dieser Legislaturperiodenatürlich auch mit der Kehrseite unserer Produkte befas-sen müssen, nämlich mit dem gesamten Komplex Abfall-wirtschaft. Dabei ist es wichtig, dass in einer modernenAbfallwirtschaft nicht nur Feuer gespeist werden, sonderndass ganz am Anfang der Diskussion die Produktverant-wortung steht.Vor uns liegt unter anderem die Umsetzung der euro-päischen Elektronikschrottverordnung, für die wir eineökologisch und ökonomisch tragfähige Umsetzung brau-chen, die sowohl für die private als auch die öffentlich-rechtliche Entsorgungswirtschaft akzeptabel ist. Danebengibt es als wesentlichen Punkt das Setzen von Standards,die für alle vergleichbar sind, für die Verbrennung vonAbfällen, egal wo sie verbrannt werden, und für die Ver-wertung. Das heißt unter anderem, dass Brennstoffe ausMüll dringend standardisiert werden müssen.Über all dem steht natürlich die Abfallvermeidung anvorderster Stelle. Nicht zu vergessen: Das ist der ersteSchritt der Abfalldiskussion. Das werden wir fortsetzen.Das Thema Dosenpfand bzw. das Einwegver-packungspfand bei Getränkeverpackungen haben wirhinreichend diskutiert. Ich glaube nicht, dass wir darüberweiter diskutieren müssen. Am 1. Januar 2003 tritt dieseVerordnung in Kraft.Die Produktverantwortung ist für die Abfallpolitik Leit-motiv. Das gilt unter anderem für das Thema Klär-schlamm in der Landwirtschaft, das wir in Kürze angehenwerden. Dazu gibt es sicherlich einiges zu diskutieren. Ichfinde, dass der Sachverständigenrat für Umweltfragendazu bemerkenswerte Vorschläge gemacht hat, Vor-schläge, wie die Umwelt geschont und die Klärschlamm-problematik einer Lösung zugeführt werden kann.Viertens. In diesem Sommer gab es – das ist schon vielerwähnt worden – die so genannte Jahrhundertflut, wobeiich meine Probleme mit dem Begriff Jahrhundertfluthabe. Ich glaube, dass die Flut in diesem Jahrhundert nichtdie letzte gewesen sein wird. Damit ist aber wohl jedemvor Augen geführt worden, dass in der Flusspolitik ins-gesamt dringend neue Konzepte angepackt werden müs-sen. Damit haben wir bereits begonnen. Im Koalitions-vertrag ist deutlich festgehalten worden, dass sich dieTechnik den Flüssen anzupassen hat und nicht umgekehrt.Ich glaube, das ist der richtige Weg.
Im Übrigen hat auch die Wasserrahmenrichtliniemitihren Ansätzen, die wir bereits umgesetzt haben, gezeigt,dass Flüsse als Gesamtsystem betrachtet werden müssenund nicht nur partiell darüber nachgedacht werden darf,was wo ausgebaut werden kann. Wir haben aufgrund derHochwasserkatastrophe, aber auch im Sinne des Natur-schutzes ganz klar gesagt, dass zum Beispiel ein Ausbauder Elbe und der Donau nicht infrage kommt. Dazu würdeich gerne einmal Ihre Konzepte sehen; denn Sie habeninsbesondere bei der Donau, als wir den Antrag in derletzten Legislaturperiode durchgesetzt haben, aus allenRohren mächtig dagegen geschossen. Deswegen ist IhreGlaubwürdigkeit auf diesem Gebiet mit einem dickenFragezeichen zu versehen.
Zum Thema Naturschutz – fünftens – kann ich nochanfügen, dass dazu in der letzten Legislaturperiode vonuns sehr viel umgesetzt worden ist. Damit ist aber nochnicht alles erledigt. Wir werden den Naturschutz weiterstärken. Wir werden dafür sorgen, dass die Umsetzung derÜbertragung der 100 000 Hektar ökologisch wertvollerFlächen in den neuen Bundesländern zügig vorankommt.Wir werden dabei einen besonderen Schwerpunkt auf dieSicherung des so genannten grünen Bandes legen.
Kollegin Mehl, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
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Ich bin bereits am Ende angekommen.
Wie schön.
Wir haben uns in dieser Legislaturperiode durchaus
nicht weniger vorgenommen als in der letzten. Ich glaube,
dass Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen in der
Opposition, sehr viel mit uns zu tun haben werden. Wir
werden in vier Jahren ein weiteres positives Ergebnis der
Umweltpolitik verkünden und abschließen können.
Schönen Dank.
Ich erteile Kollegin Birgit Homburger, FDP-Fraktion,
das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirdiskutieren heute über die Vereinbarungen im Koalitions-vertrag zur Umweltpolitik. Herr Minister Trittin, derSachverständigenrat hat Ihnen nach der letzten Legisla-turperiode ins Stammbuch geschrieben, dass er über dieUmweltpolitik enttäuscht ist, weil es eine einseitige Kon-zentration auf Themen gab. Er hat Ihnen eine inhaltlicheDürftigkeit bescheinigt. Die erste Reaktion der Umwelt-verbände auf diese Vereinbarung zeigt die gleiche Enttäu-schung.Ich habe mit Spannung erwartet, ob Ihre Ausführungenheute über das hinausgehen würden, was in blumigen For-mulierungen im Koalitionsvertrag steht. Ich meine, dasssie keine Perspektive und kein Konzept enthalten. Des-wegen wird das Gewurstel in diesem Bereich sicherlich inden nächsten vier Jahren so weitergehen.
Sie haben die Konferenz zu den regenerativen Ener-gien sehr stark herausgestellt, Herr Minister. Wir könnenIhnen versichern, dass wir das Vorhaben sehr unterstützenund dass wir ebenfalls erkennen, welche Möglichkeitengerade auch auf internationaler Ebene in der Förderungvon regenerativen Energien liegen. Ich möchte aber gernevon Ihnen die Frage beantwortet bekommen, warum Siedie Chancen, die das Kioto-Protokoll mit den so genann-ten Clean Development Mechanism in diesem Bereichlängst bietet, für Deutschland bisher nicht genutzt haben.Wir haben das mehrfach gefordert. Warum haben Sie dasverhindert? Sie haben alle unsere Anträge abgelehnt. Siebekommen zwar unsere Unterstützung, aber wir erwartenvon Ihnen, dass Sie endlich auch über das, was Sie schrift-lich formuliert haben, hinausgehen.
Zum Erneuerbare-Energien-Gesetz hat der KollegeLippold von der CDU/CSU schon einiges gesagt. Ichmöchte an dieser Stelle nur darauf hinweisen, dass wirvonseiten der FDP-Fraktion ein eigenes Fördermodellvorgelegt haben. Wir sind gerne bereit, in diese Ausei-nandersetzung einzusteigen. Wir wollen die Förderung re-generativer Energien, aber wir wollen, dass sie auf einewirtschaftlich sinnvolle Weise organisiert wird. Und da-bei gibt es Spielraum.
Es ist schon bezeichnend, dass der Bundeskanzler inseiner einstündigen Regierungserklärung heute Vormittagkein Wort über die Umweltpolitik verloren hat. Damit hatHerr Schröder programmatisch das bestätigt, was wirschon die ganze Zeit vermutet haben: Rot-Grün hat dieUmweltpolitik abgeschrieben.Die Bankrotterklärung Ihrer Regierung in der Umwelt-politik ist symptomatisch in der Klimapolitik zu sehen. Indiesem Bereich ist fraktionsübergreifend ein Ziel be-schlossen worden, für das wir uns immer eingesetzt ha-ben, nämlich die CO2-Emissionen bis 2005 um 25 Pro-zent zu verringern. Im Wahlkampf haben Sie plötzlich nurnoch vom europäischen Ziel geredet. Inzwischen redenSie von keinem der beiden Ziele mehr. Sie reden wedervom nationalen noch vom europäischen Ziel. Jetzt redenSie blumig darüber, dass Sie bis 2020 eine Verringerungum 40 Prozent erreichen wollen, und knüpfen das an völ-lig utopische Bedingungen, die andere nicht erfüllen wer-den. Sie sind völlig unglaubwürdig, weil Sie sich von demKlimaschutzziel, das wir alle gemeinsam mit getragen ha-ben, verabschiedet haben.
Die EU wird in den nächsten Wochen den Emissions-handel beschließen. In diesem Zusammenhang muss mansich auch fragen, was Sie eigentlich getan haben, umDeutschland darauf vorzubereiten. – Sie haben nichts ge-tan. Herr Schröder meint, wir brauchten das nicht. Ihrfrüherer Wirtschaftsminister meint auch, wir brauchtendas nicht. Und Ihr neuer Superminister Clement hat aus-geführt, es sei wichtig, dass die Wirtschaftlichkeit der hei-mischen Stromerzeugung nicht durch unkalkulierbare Be-lastungen aus dem Emissionshandel gefährdet werde.Insofern muss ich Ihnen entgegenhalten: Warum habenSie sich eigentlich nicht um die europäische Vereinbarunggekümmert? Nachdem inzwischen in Europa sozusagender Käse gegessen ist, schreiben Sie in Ihre Koalitions-vereinbarung, welche Bedingungen notwendig sind, umden Emissionshandel in einer vernünftigen Weise inDeutschland einzuführen. Das zeigt einmal mehr, dass imVergleich mit dieser Bundesregierung die Schnecke einTorpedo ist, Herr Minister.
Wenn ich Ihnen zugute halte, dass Sie den Emissions-handel nie wollten, dann lassen Sie uns einen Blick aufden Atomausstieg werfen, den Sie schließlich immerzum Ziel hatten. Was steht dazu in Ihrer glorreichen Ver-einbarung? – Nichts anderes als das, was ohnehin bereitsgesetzlich geregelt ist. Hinzu kommt, dass Sie in einer
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Birgit HomburgerSituation, in der es zum ersten Mal darauf ankommt, Ihrgrünes Prestigeprojekt durchzuziehen, umfallen. Ichnenne nur das Stichwort zwei Jahre Laufzeitverlängerungfür das Kernkraftwerk Obrigheim, Herr Minister. Das istIhre Art von Glaubwürdigkeit in der Umweltpolitik.
Es wird systematisch abkassiert. Dabei bleibt es auchin dieser Legislaturperiode. Entgegen allen Beteuerungensteigt die Ökosteuer zum 1. Januar. Hinzu kommt, dass IhrVersprechen, dass mit der Ökosteuer eine Stabilisierungoder sogar die Senkung der Rentenbeiträge verbunden sei,nicht stimmt. Auch das mussten Sie zwischenzeitlich zu-geben.Sie liegen in allen Punkten völlig daneben. Das setzenSie in dieser Legislaturperiode genauso fort. Sie habenaus der letzten Legislaturperiode nichts gelernt.
ZumHochwasserschutz: Es gab in der Wahlkampfzeit– die Kollegin Mehl hat das bereits angesprochen – eineFlusskonferenz, die ich mit großem Interesse verfolgt habe.Das Bundesverkehrsministerium sagt, dass diese Konfe-renz nicht ordentlich vorbereitet gewesen sei. Was muss ichfeststellen? Genau auf diese Konferenz wird in der Koaliti-onsvereinbarung Bezug genommen. Wir brauchen imHochwasserbereich eine internationale Zusammenarbeit.
Die Anrainerstaaten müssen aufgerufen werden, sich aneinen Tisch zu setzen. Nur so können wir gemeinsameKonzepte über die großen Flussläufe hinaus entwerfen.Das ist das, was wir von Ihnen erwarten, Herr MinisterTrittin.
Ich möchte eine letzte Bemerkung zur Abfallpolitikmachen. Es kann ja wohl nicht wahr sein, was ich dazu inder Koalitionsvereinbarung gelesen habe. Dort wird dasZwangspfand ausdrücklich bekräftigt, während die vielwichtigere und eigentlich unumgängliche Novelle zurVerpackungsverordnung erst gar nicht erwähnt wird.
In der letzten Legislaturperiode haben Sie wenigstens nochin Ihre Koalitionsvereinbarung geschrieben, dass Sie dasKreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz novellieren wollen.Auf eine solche Novelle wartet die Wirtschaft in diesemBereich dringend, weil sie weiß, dass sie notwendig ist.
Kollegin Homburger, Sie müssen bitte zum Ende kom-
men. Erwägen Sie das zumindest.
Herr Präsident, ich erwäge das zu Ihren Gunsten.
Ich möchte nur noch Folgendes sagen: Die Branche er-
wartet diese Novelle. Tatsächlich wird diese Novelle noch
nicht einmal mehr angesprochen. Sie wollen das bisherige
Chaos über den Verordnungsweg fortsetzen.
Das ist der deutschen Umweltpolitik nicht angemessen.
Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen.
Nun kommen Sie aber zum Schluss.
Jetzt kommt mein letzter Satz, Herr Präsident.
Wir haben in der letzten Legislaturperiode feststellen
müssen – wie es auch der Sachverständigenrat getan hat –,
dass auf dem Papier mehr steht, als tatsächlich geschehen
ist. Sie haben daraus Konsequenzen gezogen. Ich stelle
fest, dass die jetzige Koalitionsvereinbarung dazu nichts
mehr enthält.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Michael Müller,
SPD-Fraktion.
Meine Damen und Herren! Die Hochwasserkatastro-phe vor einiger Zeit hat schlagartig deutlich gemacht, wiewichtig die ökologische Modernisierung ist. Interessan-terweise hat die Öffentlichkeit so reagiert, wie sie reagie-ren musste. Sie standen auf einmal als eine Partei ohneKompetenzen in den Umweltfragen da. Sie haben aufeinmal ein schwarzes Loch gehabt. Das war die Wirklich-keit. Jetzt tun Sie so, als ob Sie Vorreiter der Umweltpoli-tik wären. Das glaubt Ihnen niemand, und zwar vor allenDingen deshalb, weil Sie – um ein Beispiel zu nennen –bei den 18 klimaschutzrelevanten Maßnahmen der letztenLegislaturperiode nicht einmal Ja gesagt haben.
– Sie haben im Bundestag nicht einmal Ja gesagt. DieUnion hat zwar im Bundesrat zweimal zugestimmt. Aberhier haben Sie 18-mal Nein gesagt. Das ist die Wirklich-keit.Im Übrigen muss ich Ihnen, Frau Homburger, sagen,dass das, was Sie gesagt haben, überhaupt nicht zusam-menpasst. Sie haben gesagt, dass alles, was Herr Trittin inder Atompolitik mache – diese Politik betreibt nicht HerrTrittin allein, sondern die Koalition –, völlig unproblema-tisch sei. Warum haben Sie dann diese Politik bekämpft?
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– Sie haben doch vorhin behauptet, dass es sich bei demGanzen nur um ein Auslaufen handle. Demnach sei das al-les nicht problematisch.
Warum haben Sie dann aber unsere Atompolitik be-kämpft? Ich sage Ihnen, warum Sie sie bekämpft haben:Sie haben in der Umweltpolitik und insbesondere bei derökologischen Modernisierung nichts zu bieten, weil Sieimmer dann, wenn es darauf ankommt, umfallen und weilSie zusammen mit den anderen Umweltpolitikern in IhrerFraktion in Wahrheit isoliert sind. Das ist die Wirklichkeit.
– Das ist keine Fehleinschätzung, sondern leider die Wirk-lichkeit. Interessanterweise hat das Ergebnis der Bundes-tagswahl gezeigt – das war einer der wesentlichen Punkte –,dass die Bevölkerung genau das begriffen hat.Wir müssen trotzdem über das, was im Sommer ge-schehen ist, weiter diskutieren; denn die letzte Flutkata-strophe hat wie kaum ein anderes Ereignis gezeigt, dassUmweltpolitik kein Schönwetterereignis sein darf. Wirwissen, dass sich der Energiehaushalt in den letzten Jah-ren weiter dramatisch verschlechtert hat. Wir wissenauch, dass im Wasserkreislauf dramatische Verschiebun-gen stattfinden. Deshalb können wir bei dem Hochwassernicht von einem singulären Ereignis ausgehen. Im Ge-genteil, alle zentralen Faktoren im Wasserkreislauf – seies die Gletscherbildung, sei es die Verdunstung, seien esdie Veränderung der ozeanischen Prozesse und auch dasAbflussregime von Flüssen – verändern sich in einerWeise, die es erforderlich macht, dass wir noch sehr vielmehr handeln müssen, als wir das bisher schon tun. Wirkommen an diesem Punkt nicht vorbei und deshalb mussund wird die ökologische Modernisierung Markenzeichendieser Regierung bleiben.
Aber ich will hinzufügen: Wir werden die ökologischeModernisierung erweitern. Im Kern – auch da besteht einUnterschied zur Opposition – geht es für mich nicht mehrum traditionelle Umweltpolitik im klassischen Sinne.Vielmehr ist das, was wir machen müssen, Mitweltpolitik.Wenn ich den Bundeskanzler richtig verstanden habe, vorallem in seinen Ausführungen zur Zivilisierung der Welt-gesellschaft, war das für mich im klassischen Sinne Mit-weltpolitik.
– Doch, das hat er heute gesagt. Ich habe eben übrigenssowieso den Eindruck gehabt, dass die PISA-Schwächebei Ihnen ziemlich durchschlägt;
denn die Koalitionsvereinbarung haben Sie nicht richtiggelesen. Sonst hätten Sie beispielsweise zum Thema Ab-fall genauso wie zu anderen Punkten andere Schlussfol-gerungen ziehen müssen.Meine Damen und Herren, ich glaube, der eigentlichePunkt ist: Wir müssen die ökologische Modernisierungkonzeptionell erweitern. Ich will hier einen zentralenPunkt herausstellen, der für uns ganz wichtig sein wird,nämlich die Frage der Verbindung von Arbeit und Um-welt.Wenn es so ist, dass sich die Bundesrepublik als Ex-portland vor allem durch eine ungeheuer hohe Arbeits-produktivität auszeichnet, dann kommen wir an derTatsache nicht vorbei, dass Arbeit immer häufiger durchTechnik ersetzt wird und es deshalb immer schwierigerwird, das Beschäftigungsproblem auf diesem Weg zu lö-sen. Wir kommen aus dieser Produktivitätsfalle nur heraus,wenn wir die Produktivität sehr viel stärker auf den ebensowichtigen – kostenmäßig sogar sehr viel größeren – Fak-tor der Energie- und Ressourcenproduktivität lenken. Eswird dazu keine Alternative geben.
Ich würde das in einem historischen Bild so sehen: Das19. Jahrhundert war vor allem das Jahrhundert der Aus-beutung des Faktors Arbeit. Im 20. Jahrhundert haben wirdas Beschäftigungsproblem zum Teil durch die Ausbeu-tung der Natur entschärft. Im 21. Jahrhundert erleben wir,dass sowohl die Umweltzerstörung fortgesetzt als auchder Faktor Arbeit durch die technologische Entwicklungverdrängt wird.Wir kommen nicht daran vorbei, die Energie- und Res-sourcenproduktivität als die Strategie zur Verbindung vonArbeit und Umwelt im 21. Jahrhundert zu begreifen. Dasist das Markenzeichen, das wir wollen. Es ist auch eineVision, um beispielsweise durch hohe Energie- und Res-sourcenproduktivität dazu beizutragen, dass die Ressour-cen der Erde nicht mehr so ausgeplündert werden, dass dieKosten für die Umweltbelastungen geringer werden, dasswir die natürlichen Lebensgrundlagen schonen und dasswir vor allem mehr Arbeitsintensität schaffen; denn öko-logische Lösungen sind in der Regel arbeitsintensive Lö-sungen. Sie verlangen nämlich sehr viel mehr mensch-liche Kreativität und Dienstleistung. Und das ist derrichtige Ansatz.
Wir wollen ein Zukunftsmodell entwickeln. Es geht da-bei nicht mehr nur um einen verengten Umweltschutzan-satz. Der neue Ansatz ist aus meiner Sicht ganz wichtig fürdie von mir angesprochene Zivilisierung der Weltgesell-schaft. Wie Sie wissen, hat Francis Fukuyama, der Wis-senschaftsjournalist und Professor der John-Hopkins-Uni-versität, mit seiner These vom Ende der Geschichte einenStreit ausgelöst. Seine zentrale These ist, dass die Mensch-heit nach dem Zusammenbruch der bipolaren Welt sozu-sagen in der Mischung aus liberaler Gesellschaft und libe-ralem Kapitalismus das Ende der Geschichte gefunden hat.Meines Erachtens hat er in einer völligen Fehlinterpreta-tion von Hegel die Alternativlosigkeit mit der Konflikt-losigkeit verwechselt und liegt deshalb schief.Aber bei allem, was wir im letzten Jahr erlebt haben,beispielsweise mit der Entfaltung neuer Gewalt amMichael Müller
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Michael Müller
11. September, beispielsweise mit den wachsenden Protes-ten gegen die Form der Globalisierung, beispielsweise mitdem völlig unzureichenden Vorankommen einer globalenUmweltpolitik – was leider ja auch in Johannesburg deut-lich wurde –, kann man nicht von der Alternativlosigkeiteiner unilateralen ökonomischen Welt reden. Das wäre so-zusagen die Selbstaufgabe der Politik.Der ökologische Ansatz ist unter dem Gesichtspunktder Nachhaltigkeit gerade deshalb so interessant, weil erim Kern auf eine Welt der Vielfalt und der Demokratienhinausläuft.
Nachhaltigkeit – das ist der interessante Punkt – funktio-niert nur mit mehr Demokratie und Vielfalt. Nachhaltig-keit schafft einen Ansatz, um sehr viel stärker wiederspezifische Lösungen, die kulturellen Potenziale einerGesellschaft und die technologischen Fähigkeiten für un-terschiedliche Lösungen zu entfalten. Nachhaltigkeit istdie richtige Antwort auf die Herausforderungen der Glo-balisierung. Die Alternative, eine globale Weltregierung,will ich nicht. Aus meiner Sicht ist sie bürgerfern, tech-nokratisch und letztlich nicht in der Lage, die Fähigkeiten,die wir vor allem für dezentrale Lösungen, also für sehreffiziente Lösungen vor Ort, brauchen, zu entfalten. Esgibt, glaube ich, eine Riesenchance für das europäischeModell, wenn Nachhaltigkeit zum Maßstab unserer Re-formpolitik wird. Das ist eine Vision, die wir übrigensauch in unsere Koalitionsvereinbarung hineingeschriebenhaben.Ich will das wie folgt zusammenfassen: Aus meinerSicht geht es heute eben nicht um ein paar Detailkorrek-turen. Wir sind am Beginn eines ganz neuen, sehr schwie-rigen und auch sehr unsicheren Weges. Deshalb plädiereich sehr dafür – ich sage das in alle Richtungen –, damitaufzuhören, über die Herausforderungen zum Teil sokleinkariert zu reden, wie wir das oft tun. Die Herausfor-derungen, vor denen wir stehen, sind so gewaltig, dass wiraus meiner Sicht eine offene, kreative und vor allem auchintellektuell redliche Auseinandersetzung über Lösungs-strategien brauchen.
Wir diskutieren hier zum Teil nur rückwärts gewandtund rechthaberisch. Das darf man bei diesen Themennicht. Ich glaube, dass die Nachhaltigkeit im Kern derVersuch war – angestoßen insbesondere durch die Ar-beiten von Olof Palme, von Willy Brandt und von GroHarlem Brundtland –, auf der einen Seite die eigenstän-digen Kulturen, die eigenständigen Inhalte von Gesell-schaftsmodellen zu bewahren, sie aber auf der anderenSeite gleichzeitig mit dem zu verbinden, was heute not-wendig ist, nämlich dem Berücksichtigen globaler Anfor-derungen.Ich sage Ihnen: Diese Chance ist eine große Chance fürunser Land. Wir werden die großen Herausforderungennur bewältigen, wenn wir eine Vision haben, wenn wireine große Idee davon haben, wo es hingeht, damit dieMenschen wissen: Es ist das bessere, das gute Leben imSinne von Adorno, das wir anstreben.Deshalb, meine Damen und Herren: Wir wollen einePolitik der Nachhaltigkeit betreiben. Wir können über ein-zelne Instrumente streiten, Sie können uns auch kritisie-ren, wenn wir in der einen oder anderen Frage vielleichteinmal falsch liegen, aber an dieser Grundlinie lassen wirnicht rütteln. Ich bin sicher: Wir werden diese Aufgabebesser erfüllen, als Sie das je können.
Ich erteile dem Kollegen Peter Paziorek, CDU/CSU-
Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! HerrMüller, es war sehr interessant, was Sie zum Schluss an-gesprochen haben.
Aber ich hatte auch den Eindruck, dass Sie den untaugli-chen Versuch unternommen haben, von all den Schwä-chen in Ihrer Umweltpolitik in den letzten vier Jahren ab-zulenken und vor allem von einer konkreten Diskussiondarüber, was Sie in der Koalitionsvereinbarung nebulösund oberflächlich formuliert haben.
– Herr Müller, zunächst zur Klimaschutzpolitik. Da ha-ben Sie in den letzten vier Jahren
– zu dem Vorwärtsgewandten komme ich noch – einenAbbau um zusätzlich 3 Prozent gegenüber 15 Prozent ausder Zeit der CDU/CSU-FDP-Regierung erreicht.In der letzten Koalitionsvereinbarung haben Sie fest-gelegt, dass Sie ein neues Gesetz zur Kreislaufwirtschaftund zur Abfallwirtschaft in Deutschland vorlegen wollen.
Das Gesetz haben Sie in der letzten Legislaturperiodenicht vorgelegt. Sie haben gekniffen, obwohl Sie das ver-einbart hatten.Sie haben in der Koalitionsvereinbarung vor vier Jahrenfestgelegt, ein Fluglärmschutzgesetz vorzulegen. Dies-bezüglich hat sich Herr Trittin mit Herrn Bodewig gestrit-ten. Herr Trittin hat sich nicht durchgesetzt. Das Fluglärm-schutzgesetz ist in der Versenkung verschwunden.Sie haben in der letzten Koalitionsvereinbarung fest-gelegt, ein Konzept zur so genannten Entsiegelung desBodens vorzulegen. Wir warten bis heute auf dieses Kon-zept.
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Herr Müller, ich wollte all das gar nicht schildern. Ichhatte es schon gestrichen.
Nur, als Sie gerade anfingen, großartig zu philosophieren– ich bin gern bereit, mit Ihnen bei Stiftungen über dieseThemen zu diskutieren –, habe ich das wieder hervorge-kramt. Philosophisch hört sich das alles großartig an, inder konkreten Formulierung der Aufgaben in der Um-weltpolitik aber haben Sie in den letzten vier Jahren ver-sagt.
Sie werden auch bei der Umsetzung der neuen Koali-tionsvereinbarung versagen. Sie hatten zum Beispiel an-gekündigt, ein Umweltgesetzbuch vorzulegen. Sie sindgescheitert,
weil Sie angeblich die wasserrechtlichen Kompetenzennicht haben. Sie haben das Vorhaben jetzt wieder einge-baut. Ich will nur sagen: groß angekündigt, nichts erreicht.Ich kann durchaus verstehen, dass die „Berliner Zei-tung“ heute getitelt hat: „Koalition sucht klaren Kurs“.Das bezog sich auf die Wirtschafts- und auf die Sozialpo-litik. Nach der Koalitionsvereinbarung und nach dem,was Sie, Herr Müller, gerade gesagt haben, kann ich nurfeststellen: Es ist klar, dass das nicht nur für die Wirt-schafts- und für die Sozialpolitik gilt, sondern leider auchfür die Umweltpolitik in Deutschland. Das liegt an derschlechten Koalitionsvereinbarung, die Sie getroffen ha-ben.
Es ist offenkundig: Nachdem aus Ihrer Sicht das großeThema Atomausstieg – eigentlich ist es kein Atomaus-stieg; aber ich übernehme einmal Ihr Vokabular – erledigtist, kommt nun die große umweltpolitische Leere; deshalbwerden Sie nebulös.Sie sprechen in der Koalitionsvereinbarung davon,dass die Ökoeffizienz die Jobmaschine von morgen ist.
Ich habe mir gedacht: Großartig! Jetzt bin ich einmal ge-spannt, wie ihr für Ökoeffizienz sorgen wollt. In einemzentralen Satz der Koalitionsvereinbarung steht, dass SieNetzwerke fördern wollen, um Ihr Ziel zu erreichen. Istdas denn alles, was Ihnen zu diesem Thema einfällt?
Was dort steht, ist doch nur Romanformuliererei. Ihreganze Umweltpolitik enthält nichts Konkretes.Des Weiteren sprechen Sie – das haben Sie, HerrMüller, und auch Minister Trittin heute Abend getan – vonder ökologischen Modernisierung. Wer einmal konkretüberprüft, was Sie darunter verstehen, der wundert sich,wie wenig konkret Ihre Politik ist. Es ist auch darauf hin-gewiesen worden – ich glaube, es waren Frau Mehl undder Minister –, in der Koalitionsvereinbarung sei das Zielder Energieeinsparung festgelegt. In der Koalitionsver-einbarung steht:Zur Fortentwicklung der Energieeinsparung im Ge-bäudebereich werden ein Förderprogramm zur Er-richtung von Passivhäusern mit– jetzt kommt eine sensationelle Zahl –30 000 Wohneinheiten
und ein Anschlussprogramm zur energetischen Mo-dernisierung des Gebäudebestandes aufgelegt, dasanstelle von zinsvergünstigten Krediten Zuschüsseoder Sonderabschreibungen beinhaltet.Das hatten wir doch schon einmal. Das ist beim letztenMal doch schon einmal gescheitert.
Dieses Programm ist doch gar nicht erfolgreich gewesen.Es war verdammt kompliziert.Mittlerweile haben Sie daraus natürlich gelernt undwollen es verbessern. Warum haben Sie denn nicht in dieKoalitionsvereinbarung geschrieben, wie Sie das machenwollen? Ich kann Ihnen sagen: Ihnen ist dazu bis heuteAbend nichts Neues eingefallen. Sie argumentieren ne-bulös, nur um von den tatsächlich vorhandenen schwarzenLöchern Ihrer Umweltpolitik abzulenken.Aus diesem Grunde wird es natürlich notwendig sein,in den nächsten vier Jahren ganz konkrete Fragen zu stel-len, zum Beispiel: Wie soll es in der Klimaschutz- undEnergiepolitik weitergehen? Wie sehen Ihre Konzepte füreine nachhaltige Energiepolitik wirklich aus?Sie sprechen die erneuerbaren Energien an. Ich sagenoch einmal ganz deutlich – ich will das fortsetzen, wasder Kollege Lippold hier angesprochen hat –: Sie werdendie Union immer an Ihrer Seite finden, wenn es darumgeht, die erneuerbaren Energien sinnvoll zu fördern. Beiall den Problemen, die wir in der Klimaschutzpolitik ha-ben, sind auch wir der Ansicht, dass es darauf ankommenwird, die erneuerbaren Energien als eine wesentlicheSäule unserer Energie- und Klimaschutzpolitik auszu-bauen. Deshalb sind auch wir dafür, darüber nachzuden-ken, im Rahmen des EEG die Offshoreförderung zeitlichzu verlängern. Darüber werden wir uns höchstwahr-scheinlich einigen.Wir sind nicht prinzipiell gegen die Anwendung derWindkraft; allerdings fragen wir uns, ob es richtig war– Sie haben das in den letzten vier Jahren gemacht –, mit– aus unserer Sicht – überzogenen Fördersätzen zu versu-chen, an ungeeigneten Standorten im Binnenland Wind-kraftanlagen anzusiedeln. Sie haben dabei die Proteste derBevölkerung ignoriert. Am schlimmsten war, dass Sieüberhaupt keine Rücksicht darauf genommen haben, dasses an vielen Stellen zu großen Konflikten mit dem Natur-schutz und dem Landschaftsschutz gekommen ist.
Dr. Peter Paziorek
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002
Dr. Peter PaziorekSie als Umweltpolitiker haben diese Sichtweise einfachvernachlässigt. Das ist keine gute und sinnvolle Art undWeise, die Nutzung erneuerbarer Energien zu fördern.Es gibt im Rahmen erneuerbarer Energien Alternati-ven: Biomasse und Biogas. Man kann Biomasse- undBiogasanlagen landschaftsgerecht bauen. Man kann da-durch der Landwirtschaft helfen, wie Sie es im Zuge derFörderung der Nutzung der Windkraft wollten. Man mussfeststellen, dass Sie die Anreizförderung im letzten Jahrgestrichen haben. Seitdem Sie diese Streichung im letztenJahr durchgeführt haben, ist das Wirtschaften mit Bio-masse- und Biogasanlagen nicht mehr rentabel. Jetzt lie-gen Förderanträge und Baugenehmigungsanträge aufHalde, weil die Antragsteller sagen: Wir können das, waswir vorhatten, nur deswegen nicht mehr realisieren, weilRot-Grün die Förderung gestrichen hat.Vor diesem Hintergrund müssen Sie doch unsere Skep-sis verstehen, die sich darin ausdrückt, dass wir sagen: Sieformulieren immer alles nebulös; aber wenn es darumgeht, Biomasse- und Biogasanlagen ganz konkret zu för-dern, dann tauchen Sie ab. Ihre Politik war sogar gegendiese Anlagen gerichtet. Das war unverantwortlich, weilSie damit nicht dafür gesorgt haben, dass zum Beispielauch in interessanten Naturräumen erneuerbare Energiengefördert werden. Sie waren bei der Förderung erneuer-barer Energien ideologisch einseitig ausgerichtet. Einesolche Haltung lehnen wir ab.
Sie reden immer so groß von Nachhaltigkeit. HerrMüller, Ihre Rede enthielt einen interessanten Ansatz. Siewissen, dass ich mit Ihnen über prinzipielle Fragen derNachhaltigkeit immer sehr gerne diskutiere. Jetzt tun Sieso, als ob wir im Bundestag wirklich darüber diskutierenmüssen. Schauen Sie sich doch einmal den Gang der Be-ratung des Berichts des Rats für Nachhaltigkeitsfragen inder letzten Legislaturperiode an. Die Beratung ist dochvollständig am Parlament und an seinem Umwelt-ausschuss vorbeigegangen. Uns wurde vom zuständigenStaatsminister gesagt, es müsse erst einmal auf der Staats-sekretärebene ein Papier zusammengebastelt werden,dann könne man darüber diskutieren.
Wo war denn Ihr Versuch, Nachhaltigkeit ins Plenumzu bringen und die große öffentliche Diskussion zu die-sem Thema zu führen? Sie sind dieser Diskussion ausge-wichen und wundern sich danach, dass Ihre Politik nichtdazu geführt hat, dass der Begriff der Nachhaltigkeit einwesentlicher Begriff auch unserer Umwelt- und Sozialpo-litik geworden ist. Sie haben in dieser Frage versagt undwir können nur sagen: Man sollte nicht die großen Redenschwingen, sondern dafür sorgen, dass wir hier im Ple-num über diese wesentlichen Fragen diskutieren. Daswäre ein wichtiger Ansatz zur Nachhaltigkeit.
Wenn Sie davon sprechen, dass wir im Naturschutzweitermachen müssen, stimmen wir zu. Nur sage ich wiebei der Nachhaltigkeit: Über die Zielvorstellungen sindwir uns gar nicht so uneins. Aber eines ist doch klar: Siemeinen, Naturschutzpolitik könne im heutigen Zeitalternur hoheitlich, von oben gemacht werden. Sie meinen,Naturschutzpolitik solle nicht mehr auf Instrumentezurückgreifen, die sich in vielen Regionen unseres Lan-des bewährt haben, etwa das Kooperationsprinzip: mitden Nutzern tatsächlich reden, freiwillige Vereinbarungenschließen.In den letzten Tagen sind Pressemeldungen von meh-reren interessierten Verbänden erschienen – nicht aus derLandwirtschaft, sondern zum Beispiel von der Wasser-wirtschaft. Es wird dafür geworben, eine Allianz zwi-schen Wasserwirtschaft, Umweltschutz und Landwirt-schaft zustande zu bringen. Wenn ich sehe, wie es beiIhnen, Herr Göppel, in Bayern läuft und wie es bei mir inWestfalen läuft, dass wir vor Ort diese Allianzen haben,frage ich mich: Wo ist denn dieser wesentliche Grundsatzbei Ihnen in der Koalitionsvereinbarung? Warum sagenSie nicht, wir wollen das Kooperationsprinzip im Natur-schutzbereich stärken, wir wollen die Allianzen stärken,wir wollen die Menschen mitnehmen? Nein, Ihre Koali-tionsvereinbarung ist immer noch geprägt von einem ho-heitlichen, obrigkeitsstaatlichen Ansatz. Und dann wun-dern Sie sich, wenn die Leute vor Ort sagen, wir fühlenuns überfahren. Sie schaden den Prinzipien, und deshalbsage ich: Schon vom Ansatz her ist Ihre Koalitionsverein-barung falsch, meine Damen und Herren.
Zur Frage der verantwortungsbewussten Politik: Es istsehr schade, dass Sie wieder nicht den Mut hatten, zumBereich Endlager und Entsorgung eine klare Aussagezu treffen, unabhängig davon, wer nun die friedliche Nut-zung der Kernenergie in Deutschland eingeführt hat, ob esSozialdemokraten oder Christdemokraten waren. Wir allewaren in den 60er-Jahren begeistert davon. Wir habeneine gemeinsame Verantwortung.
– Die Grünen gab es damals als politische Kraft nochnicht, Frau Hustedt. – Wir müssen uns jetzt darum küm-mern, wohin mit dem so genannten Atommüll.
Wenn ich mir vor Augen führe, wie Sie sich in den letztenvier Jahren um eine klare Standortaussage gedrückt habenund jetzt wieder nebulös formulieren, kann ich nur sagen:Bei Ihnen scheint wiederum die Verantwortungslosigkeitum sich zu greifen. Auch das werden wir Ihnen nichtdurchgehen lassen.
Deshalb zum Schluss: Meine Damen und Herren, Siehaben in den letzten Jahren Ihre Koalitionsvereinbarungnicht sauber abgearbeitet. Warum sollen wir davon aus-gehen, dass Sie es jetzt besser machen? Es spricht, da Siejetzt wieder vieles nebulös formuliert haben, alles dafür,dass Sie wieder wegtauchen werden. Die Bundesregie-rung hat mit der Koalitionsvereinbarung der sie tragendenParteien zur Umweltpolitik die Chance vertan, die Wei-
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chen für eine wirklich nachhaltige Umweltpolitik inDeutschland zu stellen. Das, was Sie sich in der Koali-tionsvereinbarung umweltpolitisch vorgenommen haben,lässt leider keine klare Handschrift erkennen, hat leidergroße Textlücken und wird den Umweltschutz inDeutschland leider nicht voranbringen.Vielen Dank.
Ich erteile dem Kollegen Winfried Hermann, Bünd-
nis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist mirleider nicht vergönnt, all das abzuräumen, was uns in lan-gen Redezeiten aufgetischt wurde, vor allem das, was Sie,Herr Paziorek, gesagt haben. Ich kann also nur das eineoder andere aufgreifen.
Ich hatte mir für heute vorgenommen, zu Beginn einerneuen Legislaturperiode mir selber, der Regierung, denKoalitionsfraktionen, aber auch der Opposition einigegrundsätzliche und auch kritische Fragen zur Orientie-rung in der Politik zu stellen. Für mich stellen sich fol-gende Fragen: Erstens. Haben wir auf die wirklich großenHerausforderungen, auf die globalen Herausforderungenmit unseren Politikansätzen die richtige Antwort?Zweitens. Wie schaffen wir es, das allgemeine Konzeptder Nachhaltigkeit und des integrierten ökologischen An-satzes konkret zu machen?Drittens. Schaffen wir es, eine mehr bürgerfreundlicheund bürgerbeteiligungsorientierte Umweltpolitik zu ma-chen?Viertens. Ist unser Ansatz strategisch geradlinig oderwidersprüchlich?Ich sage dies bewusst nicht nur als Herausforderung andie Regierung, sondern diese Fragen muss sich auch dieOpposition stellen. Man kann hier nicht nur von der Re-gierung einen klaren Kurs fordern. Man muss diese Maß-stäbe dann auch bei sich selber anlegen und seinen Stand-punkt einhalten. Einerseits wirft man uns vor, wir wärennicht radikal genug, und andererseits sagt man zu unserenVorschlägen zur Reduktion des CO2-Verbrauchs, sie seienviel zu radikal und würden die Wirtschaft und bestimmteGruppen schädigen Diese Widersprüchlichkeit haltenSie konsequent durch. Ich finde, diese paradoxe Logik istnur schwer erträglich.
Sie haben – jetzt werde ich konkret – die große He-rausforderung Klimaschutz genannt. Das haben Sie zuRecht als wichtiges Thema angesprochen. Wir haben esim Koalitionsvertrag ganz vornean gestellt. In diesem Be-reich haben wir sehr konkrete Vorschläge gemacht. Siehaben Recht, nicht in allen Punkten ist der Koalitionsver-trag konkret. Aber in manchen Punkten ist er sehr konkret:Im Hinblick auf Energiepolitik und Klimaschutz habenwir klare Ziele und Vorschläge. Das ist weit konkreter alsdas, was Sie von der Opposition in den letzten vier Jahrenproduziert haben.
Sie müssen einmal zur Kenntnis nehmen – auch die großeVolkspartei FDP muss dies tun –: Sie sind immer sehrgroßzügig mit Kritik. Aber wenn man Sie nach Ihren kon-kreten Plänen und Gegenkonzepten fragt, dann werdenSie sehr allgemein.
Sie jammern zum Beispiel, indem Sie sagen, wir würdenjetzt von dem CO2-Minderungsziel von minus 25 ProzentAbstriche machen. Aber bitte schön, wo sind denn IhreVorschläge? Warum sagen Sie nicht, dass Sie ein konkre-tes Konzept haben? Fehlanzeige! Wo sind Ihre langfristi-gen Orientierungen? Wir haben uns zu dem ambitionier-ten Ziel von minus 40 Prozent und auf EU-Niveau vonminus 30 Prozent durchgerungen. Das ist ein wirklich am-bitioniertes Ziel angesichts der EU-Erweiterung.
Sie sind jetzt aufgefordert, einmal zu sagen, wie man da-hinkommt.
Sie dürfen nicht nur jammern, wir hätten keine präzisenZiele. Sie selber haben nämlich keine.
Im Übrigen haben Sie den Vertrag nicht genau gelesen. Eswird ausdrücklich das Klimaschutzprogramm aus demJahre 2000 betont, in dem das 25-Prozent-Ziel steht.Frau Homburger und Herr Lippold haben davon ge-sprochen, der Kanzler habe nicht viel zur Ökologie undzur Nachhaltigkeit gesagt.
Das stimmt übrigens nicht. Haben Sie einmal registriert,wie viel Frau Merkel zu dem Thema gesagt hat? EinenSatz. Da würde ich an Ihrer Stelle den Mund nicht so vollnehmen.
Kommen wir zum Thema Hochwasser. Sie haben esauch angesprochen. Wir setzen dieses Regierungspro-gramm mit den Ländern und mit den Kommunen um. Daswird uns viel Arbeit kosten. Dazu müssen wir harte Zieleformulieren und schwierige Wege gehen, etwa wenn manGewerbegebiete in Talauen nicht mehr realisieren möchte.Da werden wir auf allen Ebenen gemeinsam kämpfenmüssen. Das ist ein Feld, auf dem wir uns klar zu einemkonkreten Konzept bekannt haben und nicht nur allge-mein herumschwadroniert haben.Sie haben zu Recht den Bodenschutz angesprochen.Die Senkung des Boden- und Flächenverbrauchs ist einDr. Peter Paziorek
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Winfried Hermannwichtiges Ziel. Das stand schon im letzten Koalitionsver-trag. Das ist übrigens ein schwieriges Ziel. Wer ist derErste, der sagt, es gehe nicht? Stichwort Eigenheimzu-lage. Das waren Sie! Unser Vorschlag ist ökologisch be-gründet, weil es nicht klug ist, dass man Eigenheime aufder grünen Wiese mehr fördert als die Sanierung von Ei-genheimen in der Stadt. Wir setzen das gleich. Schonkommt wieder das Argument: Aber das schadet demHäuslebau. Wenn man ökologisch argumentiert und wennman in diesem Bereich wirklich etwas erreichen möchte,dann muss man diesen Weg auch beschreiten.
Sie haben uns vorgeworfen, wir hätten im BereichLärmschutz nichts getan. Sie haben Recht, wir sind mitdiesem Versuch gescheitert. Wir haben dieses Thema aberwieder auf die Tagesordnung gesetzt. Aber seien Sie ein-mal ehrlich: Das Fluglärmgesetz wird alle Länder betref-fen. Da wird man nur erfolgreich sein, wenn auch Sie undIhre Länderregierungen mitmachen. Da können Sie nichteinfach sagen: Nichts erreicht. Da muss man Sie schonfragen: Was haben Sie unternommen und was werden Sieunternehmen, um ein Fluglärmgesetz hinzubekommen?Auch das ist eine große Herausforderung, der wir uns stel-len.Der Präsident zeigt mir an, dass ich zum Schluss kom-men muss. Ich kann leider viele Punkte nicht mehr abar-beiten.
Sie sind der letzte Redner und Sie haben noch so viele
Zettel.
Ich überblättere daher viele Seiten und fasse zusam-
men. Man kann von einem Koalitionsvertrag nicht erwar-
ten, dass er ganz detailliert alles abarbeitet. Er kann nur ei-
nen Rahmen abstecken. Das leistet er. Das Ziel ist
nachhaltige Entwicklung und Gerechtigkeit. Ökologische
Prinzipien haben sich im ganzen Koalitionsvertrag durch-
gesetzt. Der Koalitionsvertrag enthält ein Leitbild für die
Umweltpolitik und für die Politik insgesamt. Insofern
könnte man auch sagen: Das Konzept ist zukunftsorien-
tiert.
Wenn Sie, Herr Präsident, gestatten, zum Schluss noch
ein nettes Zitat aus der hohen Literatur, nämlich von Victor
Hugo:
Die Zukunft hat viele Namen. Für die Schwachen ist
sie das Unerreichbare. Für die Furchtsamen ist sie
das Unbekannte. Für die Tapferen ist sie die Chance.
Lassen Sie uns die Chance nutzen!
Das war doch ein schönes Wort zur Nacht.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Wir sind da-
mit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tags auf morgen, Mittwoch, den 30. Oktober, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.