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ID1500402700

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Tagesordnungspunkt 1: Regierungserklärung des Bundeskanz- lers mit anschließender Aussprache . . . . . 51 A Gerhard Schröder, Bundeskanzler . . . . . . . . . 51 B Dr. Angela Merkel CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 61 B Franz Müntefering SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 D Dr. Guido Westerwelle FDP . . . . . . . . . . . . . . 74 B Joseph Fischer, Bundesminister AA . . . . . . . . 77 D Friedrich Merz CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 81 C Joseph Fischer, Bundesminister AA . . . . . . . . 81 D Ernst Bahr (Neuruppin) SPD . . . . . . . . . . . . . 82 B Michael Glos CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 84 C Sabine Bätzing SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 C Olaf Scholz SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 B Petra Pau fraktionslos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 D Joseph Fischer, Bundesminister AA . . . . . . . . 93 D Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU . . . . . . . . 97 A Gernot Erler SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 A Dr. Wolfgang Gerhardt FDP . . . . . . . . . . . . . . 102 A Dr. Angelica Schwall-Düren SPD . . . . . . . . . 104 B Peter Hintze CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 A Rudolf Bindig SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 B Dr. Werner Hoyer FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 A Dr. Peter Struck, Bundesminister BMVg . . . . 111 C Christian Schmidt (Fürth) CDU/CSU . . . . . . 113 C Dr. Peter Struck, Bundesminister BMVg . . . . 115 C Christian Schmidt (Fürth) CDU/CSU . . . . . . 115 D Winfried Nachtwei BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 A Dr. Friedbert Pflüger CDU/CSU . . . . . . . . . . 117 A Reinhold Robbe SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 A Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministe- rin BMZ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 C Dr. Christian Ruck CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 122 C Dr. Uschi Eid, Parl. Staatssekretärin BMZ . . . 123 D Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos . . . . . . . . . . . 124 D Brigitte Zypries, Bundesministerin BMJ . . . . 125 D Dr. Norbert Röttgen CDU/CSU . . . . . . . . . . . 127 D Dr. Dieter Wiefelspütz SPD . . . . . . . . . . . 130 C Hans-Joachim Hacker SPD . . . . . . . . . . . . . . 131 D Rainer Funke FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 D Jerzy Montag BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 136 A Otto Schily, Bundesminister BMI . . . . . . . . . . 137 D Wolfgang Bosbach CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 139 D Otto Schily SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 C Jörg Tauss SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 A Silke Stokar von Neuforn BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 A Dr. Max Stadler FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 C Wolfgang Bosbach CDU/CSU . . . . . . . . . 146 B Hartmut Koschyk CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 147 B Silke Stokar von Neuforn BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 B Dr. Christina Weiss, Staatsministerin BK . . . . 150 C Dr. Norbert Lammert CDU/CSU . . . . . . . . . . 151 B Plenarprotokoll 15/4 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 4. Sitzung Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 I n h a l t : Monika Griefahn SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 D Hans-Joachim Otto (Frankfurt) FDP . . . . . . . 154 C Günter Nooke CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 155 C Jürgen Trittin, Bundesminister BMU . . . . . . . 157 B Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) CDU/CSU 158 C Ulrike Mehl SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 B Birgit Homburger FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 A Michael Müller (Düsseldorf) SPD . . . . . . . . . 164 D Dr. Peter Paziorek CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 166 C Winfried Hermann BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 A Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . . 171 A Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002II (A) (B) (C) (D) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 51 4. Sitzung Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 Beginn: 10.00 Uhr
  • folderAnlagen
    (A) (B) (C) (D) 170 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 29. Oktober 2002 171 (C)(A) entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage zum Stenografischen Bericht Beck (Bremen), BÜNDNIS 90/ 29.10.2002 Marieluise DIE GRÜNEN van Essen, Jörg FDP 29.10.2002 Eymer (Lübeck), Anke CDU/CSU 29.10.2002 Meyer (Tapfheim), CDU/CSU 29.10.2002 Doris Möllemann, Jürgen W. FDP 29.10.2002 Niebel, Dirk FDP 29.10.2002 Nolting, Günther FDP 29.10.2002 Friedrich Pieper, Cornelia FDP 29.10.2002 Thiele, Carl-Ludwig FDP 29.10.2002 Violka, Simone SPD 29.10.2002 Druck: MuK. Medien- und Kommunikations GmbH, Berlin
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Joseph Fischer


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


    Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn wir

    hier heute über die Zukunft der Außen- und Sicherheits-
    politik sprechen, dann handelt es sich, wie ich denke, um
    eine der ganz großen Herausforderungen, mit denen wir
    in den kommenden vier Jahren konfrontiert werden. Wir

    Petra Pau




    Bundesminister Joseph Fischer
    haben es dabei auf der Grundlage der Kontinuität deut-
    scher Außen- und Sicherheitspolitik einerseits mit der
    Fortsetzung der großen Linien, auf denen die Außenpoli-
    tik unseres Landes basiert, zu tun; andererseits müssen
    wir uns den neuen Herausforderungen, vor allen Dingen
    aber auch den neuen Bedrohungen stellen.

    Lassen Sie mich zu Beginn meiner Rede Folgendes un-
    terstreichen: Für die deutsche Außen- und Sicherheits-
    politik ist es konstitutiv, dass die großen Grundlinien fort-
    geführt werden. Das bedeutet die Einbindung unseres
    Landes in den europäischen Integrationsprozess, der in
    den vor uns liegenden zwei Jahren in der Tat vor großen
    Herausforderungen steht, die Einbindung in das Transat-
    lantische Bündnis sowie die Pflege des Verhältnisses
    zu den Vereinigten Staaten von Amerika und unser auf
    der historisch-moralischen Verantwortung für unsere
    Geschichte gründendes Sonderverhältnis zu Israel. Das
    sind die drei wesentlichen Grundlinien, die die deutsche
    Außen- und Sicherheitspolitik, aber auch unsere Interes-
    senlage bestimmen.

    Gleichzeitig haben wir es seit dem 11. September letz-
    ten Jahres mit einer Situation zu tun, in der wir in der Tat
    vor einer neuen strategischen Bedrohung unserer Sicher-
    heit stehen, nämlich dem internationalen Terrorismus. Zu-
    erst und vor allen Dingen möchte ich Ihr Augenmerk da-
    rauf lenken, dass diese Bedrohung nicht von selbst wieder
    verschwinden wird. Diese Bedrohung bedarf gewiss einer
    festen und, wo es notwendig ist, auch militärischen, poli-
    zeilichen und geheimdienstlichen Antwort; denn den Ter-
    rorismus wird man nicht durch Gespräche besiegen kön-
    nen. Das gilt vor allem für den neuen Totalitarismus,
    nämlich den islamistischen Terrorismus eines Osama
    Bin Laden, der den Massenmord, den Tod zum Programm
    für sich erhoben hat. Diesen wird man niederkämpfen und
    besiegen müssen.

    Gleichzeitig können wir erkennen, dass bei dieser Ge-
    fahr vier Elemente verknüpft werden. Wenn diese zusam-
    mentreffen, bedeutet dies in der Tat eine strategische Be-
    drohung, die man nicht unterschätzen darf. Ich möchte
    dies vor allen Dingen am pakistanisch-indischen Konflikt
    festmachen, weil wir dort diese neue strategische Bedro-
    hung sehr klar erkennen können:

    Der Konflikt um Kaschmir ist exemplarisch für die
    zukünftige Sicherheitsbedrohung. Bei diesem finden wir
    das Element des religiösen Konfliktes; in der europä-
    ischen Geistesgeschichte und politischen Geschichte gab
    es dieses im 16. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Reli-
    gionskriege. Wir finden das Element der nationalistischen
    Konfrontation zwischen Nachbarn, also ein Element aus
    dem 19. und frühen 20. Jahrhundert. Wir finden das Ele-
    ment der Nuklearisierung, der Massenvernichtungsmittel,
    also ein Element aus der Mitte des 20. Jahrhunderts.
    Schließlich finden wir ein Element aus dem beginnenden
    21. Jahrhundert, nämlich den Terrorismus.

    Das ist die neue Herausforderung, mit der wir es zu tun
    haben. Ich habe hier den indisch-pakistanischen Konflikt
    erwähnt. Die Spur führt direkt zu einem Regionalkonflikt,
    der seit der Gründung von Indien und Pakistan nicht
    gelöst wurde, nämlich zu dem Konflikt um Kaschmir.

    Damit komme ich nicht nur zur Frage, wie wir dieser
    terroristischen Gefahr in unserer großen Nachbarregion

    zwischen dem Atlantik und dem Pazifik, der arabisch-
    islamischen Welt, begegnen können, sondern gleichzeitig
    auch zu einer Antwort. Diese Antwort muss aus drei Ele-
    menten bestehen:

    Erstens. Dem Terrorismus muss mit den notwendigen
    Machtmitteln aktiv entgegengetreten werden. Diese
    Machtmittel sind aber in den wenigsten Fällen militäri-
    scher Natur; sie sind im Wesentlichen polizeilicher und
    geheimdienstlicher Natur und gründen auf Ermitt-
    lungstätigkeiten, die gleichzeitig eine internationale Alli-
    anz notwendig machen.

    Zweitens müssen Regionalkonflikte gelöst werden.
    Die Regionalkonflikte bergen in sich die große Gefahr,
    dass sie eskalieren. Diese politische Lösung von Regio-
    nalkonflikten ist die entscheidende Voraussetzung, um
    den Nährboden für Terrorismus trockenzulegen.

    Drittens. Im Wesentlichen sind es junge Gesellschaf-
    ten. Diesen müssen wir nicht nur in einem geistigen Dia-
    log begegnen, sondern wir müssen ihnen auch eine kultu-
    relle und geistige Antwort sowie eine ökonomische und
    politische Perspektive geben. Auf eine umfassende Si-
    cherheitsbedrohung müssen wir mit einer umfassenden
    Sicherheitsantwort reagieren. Dialog heißt für mich, dass
    wir nicht nur freundliche Dinge sagen, sondern dass wir
    auf den Punkt kommen: Lässt sich etwa die Konvention
    der Menschenrechte mit der Scharia vereinbaren? Diese
    Frage führt zum Kern des Problems.


    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


    Wenn das alles richtig ist und wenn das die Gefahren
    sind, wenn es also richtig ist, dass der Status quo am
    11. September so erschüttert wurde, dass wir nicht mehr
    mit ihm leben können, wenn es richtig ist, dass die Lösung
    von Regionalkonflikten dabei eine essenzielle Vorausset-
    zung ist, und wenn es richtig ist, dass wir verhindern müs-
    sen, dass Massenvernichtungsmittel in die Hände von
    Terroristen geraten, dann – darin liegt die Differenz zur
    Einschätzung in den USA– frage ich mich allerdings, um
    es ganz diplomatisch zu formulieren, ob die Prioritäten-
    setzung bezüglich des Irak tatsächlich Sinn macht. Ich
    komme nämlich zu völlig anderen Konsequenzen.


    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


    Das ist meine große Sorge, die ich der amerikanischen
    Seite im Übrigen nicht erst während des Bundestagswahl-
    kampfs, sondern bereits während meines ersten Besuchs
    nach dem 11. September, nämlich am 19. September,
    mitgeteilt habe. Ich bin nicht der Meinung und glaube
    nicht daran – unter Partnern muss man das offen aus-
    sprechen –, dass diese Prioritätensetzung mit Blick auf
    das gemeinsam erkannte Bedrohungsszenario richtig ist.
    Das ist der entscheidende Punkt.


    (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Nein!)

    – Doch, das ist die Kernfrage.


    (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Mit einem UN-Mandat!)


    – Reden Sie sich nicht mit den UN heraus, so wichtig das
    auch ist. Aber wir müssen Acht geben, dass unsere gute


    (A)



    (B)



    (C)



    (D)


    94


    (A)



    (B)



    (C)



    (D)






    Absicht am Ende keine falschen Konsequenzen nach sich
    zieht, die die Terrorismusgefahr vergrößern könnten.


    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


    Wir haben es mit einer gefährlichen Region zu tun, bei
    der ich mir, Herr Kollege Gerhardt, nicht sicher bin, ob die
    Mehrheit im amerikanischen Kongress und die Mehr-
    heit des amerikanischen Volkes wirklich bereit sind – die
    USA haben die nötigen Mittel, dort einzugreifen –, dort
    über Jahre oder vielleicht sogar Jahrzehnte auszuharren,
    um nach einem Regimewechsel eine neue Nation aufzu-
    bauen. Die Konsequenzen, die in dieser Region eintreten
    würden, wenn die USA nicht dauerhaft vor Ort blieben,
    möchte ich Ihnen nicht ausmalen. – Das sind unsere
    Gründe. Darüber werden wir morgen zum wiederholten
    Male mit unseren amerikanischen Partnern sprechen.

    Unser Verständnis von Partnerschaft ist, dass man
    dann, wenn es Differenzen gibt, diese unter frei gewähl-
    ten, demokratischen Regierungen offen anspricht. Das hat
    nichts mit einem Gang nach Canossa zu tun. Wir haben
    ein anderes Verständnis von Bündnis.


    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


    Die zweite große Herausforderung, vor der wir stehen,
    ist Europa. Die Erweiterung wird konkret. Bei allem, was
    man am letzten Gipfel im Einzelnen kritisieren mag,
    bleibt es doch eine Tatsache, dass die Tür definitiv geöff-
    net wurde. Das heißt, wir werden in Kopenhagen darüber
    entscheiden, zehn neue Mitglieder aufzunehmen. Das ist
    ein historischer Schritt, an dem nicht nur diese Bundesre-
    gierung, sondern gerade auch die Vorgängerregierung ge-
    arbeitet hat, insbesondere der heute dem Haus nicht mehr
    angehörende damalige Bundeskanzler Helmut Kohl, den
    ich deshalb, weil er sich hierbei bleibende Verdienste er-
    worben hat, noch einmal erwähnen möchte. Wir vergeben
    uns überhaupt nichts, wenn wir an diesen Kontinuitäten
    festhalten.

    Für mich aber ist entscheidend, dass damit ein histori-
    scher Schritt zum Zusammenführen Europas stattfindet,
    wie es ihn in der Neuzeit noch nicht gegeben hat. Wenn
    der Gründungskonsens der war, ein Europa zu schaffen,
    in dem Nationalismus keine Chance mehr hat, dann ist
    dieser Schritt, der jetzt in Kopenhagen gemacht wird, ein
    konsequenter Schritt.


    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Dr. Angela Merkel [CDU/CSU])


    Dies aber macht notwendig, dass wir die EU der 25 und
    mehr neu gründen. Diese Neugründung findet im Verfas-
    sungskonvent statt. Dieser Verfassungskonvent geht auf
    eine Initiative dieser Bundesregierung zurück. Dazu kann
    ich nur sagen: Der Vorschlag, den gestern Giscard als
    Rahmen gemacht hat, ist ein Vorschlag, der wirklich alle
    Diskussionen und eine vorurteilsfreie Prüfung verdient.
    Seien wir doch ehrlich: Hätten wir vor zwei Jahren ge-
    dacht, dass wir heute in der Europäischen Union nicht nur
    am Vorabend der Erweiterung um zehn neue Mitglied-
    staaten stehen, sondern gleichzeitig auch die erste Grob-
    struktur einer europäischen Verfassung auf dem Tisch ha-

    ben? – Keiner von Ihnen. Das meine ich gar nicht partei-
    politisch, Frau Kollegin Merkel. Es wurde gefordert. Aber
    wir haben es gemacht.


    (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Sie haben den Konvent doch gar nicht gewollt!)


    – Ich habe den Konvent nicht gewollt?

    (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Nein, den Konvent hat Ihnen das Parlament abgerungen!)


    Sie meinen also, ich hätte den Konvent nicht gewollt. Ich
    dachte, der Privatmann Fischer habe eine Rede an der
    Humboldt-Universität gehalten, die zum Konvent geführt
    habe.


    (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Später ja!)

    Diese Initiative haben wir als Bundesregierung gemacht.
    Ich streite mich gerne mit Ihnen, aber doch nicht über
    Dinge, die selbstverständlich sind.


    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


    Wir brauchen diese Neugründung Europas. Ich möchte
    nicht in die Details gehen. Aber für uns – der Bundes-
    kanzler hat das heute in seiner Rede gesagt – ist ganz ent-
    scheidend: Im institutionellen Dreieck müssen Kommis-
    sion, Europäisches Parlament und Rat, wenn es zu
    Fortentwicklungen kommt – und es muss zu Fortentwick-
    lungen kommen –, gleichgewichtig sein. Was wir nicht
    wollen, ist ein Rückfall in die Intergouvernementalisie-
    rung. Das heißt für uns ganz klar: Wir wollen eine Stär-
    kung der Kommission und eine Klärung der Verantwort-
    lichkeiten zwischen nationaler und integrierter Ebene.
    Auch wollen wir in diesem Rahmen eine Stärkung des Eu-
    ropäischen Parlaments. Das ist für uns Grundlage unserer
    Arbeit. Daran werden wir die anderen Vorschläge ent-
    sprechend messen.


    (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


    Ganz entscheidend wird es aber darauf ankommen,
    dass wir in diesem Bereich einen deutsch-französischen
    Konsens erzielen. Wenn er erreicht wird – daran arbeiten
    wir; das hat das letzte Zusammentreffen des Europäischen
    Rates gezeigt –, dann wird diese europäische Zukunft in
    der Tat gestaltet werden können, und zwar nicht unter
    Ausschluss, sondern unter Einbeziehung der anderen Mit-
    gliedstaaten.


    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


    Meine Damen und Herren, lassen Sie mich aus aktuellem
    Anlass eine Frage kurz im Zusammenhang mit Russland
    und Tschetschenien ansprechen. Jeder, der meint, er habe
    dafür eine einfache Antwort, irrt. Ich kann nur davor war-
    nen, die territoriale Integrität der Russischen Föderation
    infrage zu stellen. Ich meine zwar nicht, dass dies jemand
    tut; aber wir haben es schließlich mit einer separatisti-
    schen Bewegung zu tun.

    Bundesminister Joseph Fischer




    Bundesminister Joseph Fischer

    Was ein weiteres Aufbrechen der Russischen Födera-
    tion hinsichtlich der Entstehung von Gewalt und Instabi-
    lität hieße, muss ich nicht weiter ausführen. Umgekehrt
    aber entwickelt sich Russland hin zur Demokratie. Die
    Menschen in Tschetschenien sind russische Bürgerinnen
    und Bürger und haben Menschenrechte. Diese Men-
    schenrechte müssen in einer Demokratie beachtet werden.
    Das ist für mich der entscheidende Punkt.


    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


    Ich warne jedoch vor den tschetschenischen Terroristen
    – mir liegen entsprechende Informationen vor; ein Teil da-
    von ist auch dem einen oder anderen Kollegen bekannt –,
    die ebenfalls grausamste Menschenrechtsverletzungen be-
    gehen. Wenn aber Russland ein demokratischer Rechtsstaat
    ist, dann muss er die Grundlagen demokratischer Rechts-
    staatlichkeit auch und gerade gegenüber unbescholtenen
    Bürgerinnen und Bürgern, gegenüber den russischen
    Staatsbürgern der Russischen Föderation in Tschetschenien
    zum Tragen bringen. Deswegen befinden wir uns in der
    schwierigen Situation, einerseits Russland als Partner zu
    haben und diese Partnerschaft fortzuentwickeln, anderer-
    seits aber der russischen Seite zu vermitteln, dass Demo-
    kratien auch unter schwierigsten Bedingungen an die eige-
    nen Grundregeln und Rechtsstaatsprinzipien gebunden
    sind. Das macht unseren Umgang mit Tschetschenien bzw.
    mit der russischen Politik in Tschetschenien aus.

    Ich kann von dieser Stelle aus nur nochmals an die Ver-
    antwortlichen in Russland appellieren, endlich eine poli-
    tische Lösung herbeizuführen.


    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Dr. Angela Merkel [CDU/CSU])


    Wer die Geschichte des Kaukasus und Tschetscheniens
    kennt, weiß, dass dort mit Gewalt letztendlich keine Lö-
    sung herbeizuführen ist, sondern dass sie nur zu immer
    weiteren Blutbädern führen würde. Deswegen ist eine po-
    litische Lösung notwendig.

    Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch eines
    ansprechen. DieTürkei ist direkter Nachbar dieser Krisen-
    region. Sie ist auch direkter Nachbar der Region, über die
    ich vorhin gesprochen habe. Es ist abwegig zu meinen –
    wer unsere Position kennt, weiß, dass es abwegig ist –, wir
    würden als überzeugte Europäer aus Gefälligkeit – deswe-
    gen spreche ich es an, Herr Kollege Schäuble; nehmen Sie
    jedes Wort so, wie es es sage – zum jetzigen Zeitpunkt die
    Tür öffnen.Wir haben die in Helsinki gefassten Beschlüsse
    nicht aus Gefälligkeit gegenüber den USA gefasst. Wenn
    ich in den USA bin – ich würde mich freuen, wenn andere
    dies genauso tun würden –, führe ich das immer an, um es
    den amerikanischen Gesprächspartnern zu verdeutlichen.

    Im Übrigen ist auch an die Kosten zu denken. Gerade
    der jüngst gefundene deutsch-französische Kompromiss
    im Zusammenhang mit der Agrarpolitik zeigt, dass das al-
    les nicht kostenneutral zu bekommen ist. Das mache ich
    den amerikanischen Gesprächspartnern klar. Das ist sehr
    wichtig.


    (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Haben Sie das auch schon gemerkt?)


    – Auf der einen Seite wird gesagt, der deutsch-französi-
    sche Motor solle laufen – ich frage Sie, was es zum Bei-
    spiel Helmut Kohl gekostet hat, diesen Motor immer am
    Laufen zu halten –, und auf der anderen Seite fragen Sie
    jetzt: „Haben Sie das auch schon gemerkt?“ – So ist das
    mit der Opposition. Sie müssen sich aber entscheiden.


    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Michael Glos [CDU/CSU]: Hören Sie jetzt auf damit! Sie führen sich auf da oben!)


    Ich komme zu einem anderen Punkt. Hinsichtlich der
    Türkei haben wir möglicherweise eine Kontroverse, nicht
    aber in der Frage, ob wir eine Gefälligkeitsentscheidung
    zugunsten der USA treffen. Wir haben keine Gefälligkeit
    zu erbringen. Wir sind gute Partner in der Operation
    Enduring Freedom im Kampf gegen den Terror. Wir sind
    uns einig in der Umsetzung der einschlägigen Resolutio-
    nen des Sicherheitsrats im Zusammenhang mit dem Irak.
    Wir sind uns nicht einig in der Bewertung einer Militärak-
    tion. In dieser Frage sind wir unterschiedlicher Meinung
    und wir werden uns an einer Militäraktion nicht beteiligen.

    Aber die EU-Mitgliedschaft der Türkei ist eine völlig
    andere Frage. Ich frage die Union umgekehrt: Sie wissen
    so gut wie ich, Herr Schäuble, dass Sie, wenn Sie der Tür-
    kei die Tür zur Mitgliedschaft verschließen, damit für die
    zivilen Kräfte in der Türkei und für die Modernisierer seit
    Kemal Atatürk die Tür schließen; denn Modernisierung in
    der Türkei bedeutet Orientierung an Europa. Wir wissen,
    dass die Türkei ein schwieriger Partner ist und dass sie
    heute die Kopenhagener Kriterien noch nicht erfüllt. Ich
    bin mir auch nicht sicher, ob die Türkei dann, wenn sie ei-
    nes Tages diese Kriterien erfüllt, bereit sein wird, den
    Souveränitätsverzicht zu leisten, den eine Vollmitglied-
    schaft in der Europäischen Union bedeutet und der not-
    wendig ist, um in der Europäischen Union voll integriert
    zu sein. Aber in einem bin ich mir sicher: Wenn wir das,
    was Sie wollen, machen würden, dann würden sich die
    Nationalisten und die Islamisten in der Türkei die Hände
    reiben. Das wäre das Ende der Modernisierung. Darin
    bin ich mir sicher. Das und nichts anderes macht unsere
    Position und die des Bundeskanzlers aus.


    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist nicht wahr!)


    Ich bestreite überhaupt nicht – niemand tut das –, dass
    es sich bei der Türkei um einen schwierigen Partner han-
    delt. Aber die Schwierigkeiten mit der Türkei wird man
    nicht durch Wegsehen oder durch einfache Antworten be-
    seitigen können. Denn wenn meine Analyse der strategi-
    schen Bedrohung Europas und damit auch unseres Landes
    durch den islamistischen Terrorismus richtig ist, dann
    stellt sich die Frage: Gelingt eine laizistische, also weltli-
    che, Modernisierung der Türkei, eines der größten islami-
    schen Länder, auf demokratischer und rechtsstaatlicher
    Grundlage? Diese Frage ist wichtiger als viele Diskussio-
    nen, die wir gegenwärtig im Zusammenhang mit militäri-
    schen Optionen bezüglich eines anderen Landes führen;
    denn wenn es gelänge, die Türkei zu modernisieren, dann
    hieße das, eine Antwort auf die Frage nach der strategi-
    schen Sicherheit der gesamten Region zu geben.


    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



    (A)



    (B)



    (C)



    (D)


    96


    (A)



    (B)



    (C)



    (D)






    Für diese Politik steht die jetzige Bundesregierung in der
    Außen- und Sicherheitspolitik.

    Ich kann Ihnen nur versichern: Gründend auf den Kon-
    tinuitäten, die wir vorgefunden haben, werden wir uns den
    neuen Herausforderungen stellen und dafür sorgen, dass
    Deutschland seinen Beitrag in einem zusammenwachsen-
    den Europa, aber auch in einem sich verändernden, ge-
    stärkten atlantischen Bündnis leisten wird.

    Ich danke Ihnen.

    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)




Rede von Dr. h.c. Susanne Kastner
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

Nächster Redner ist Dr. Wolfgang Schäuble, CDU/

CSU-Fraktion.


  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Wolfgang Schäuble


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)


    Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

    Herr Bundesaußenminister, Sie sind geübt, wenn es da-
    rum geht, von den eigentlichen Problemen abzulenken.


    (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Und sonst haben Sie keine Antwort?)


    – Darauf komme ich noch zu sprechen. Lassen Sie mich
    wenigstens zwei Sätze im Zusammenhang sagen, bevor
    Sie dazwischenrufen.

    Das eigentliche Problem ist doch nicht, dass man nicht
    darüber reden kann, welches die angemessene Antwort
    auf die terroristische Bedrohung ist, dass man mit den
    Vereinigten Staaten von Amerika nicht darüber reden
    kann, welches die richtige Politik ist, und dass es unter-
    schiedliche Meinungen gibt. Sie entwerfen ja ein Zerrbild
    von den Vereinigten Staaten von Amerika. Das eigentliche
    Problem der letzten Monate ist doch vielmehr Folgendes
    gewesen – ich lese Ihnen einmal vor, was Kleine-
    Brockhoff und Thumann in der Ausgabe der „Zeit“, die in
    der Woche nach der Bundestagswahl erschienen ist, unter
    der Überschrift „Das Gift der Gerd-Show“ geschrieben ha-
    ben; die Autoren sind auch sicherlich keine Kettenhunde –:

    Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepu-
    blik hat eine große Volkspartei Wahlkampf mit ker-
    nig antiamerikanischen Parolen geführt. Zum ersten
    Mal seit 1945 hat ein Bundeskanzler amerikanische
    Politiker angegriffen und dafür auf den Marktplätzen
    tosenden Beifall erhalten. Zum ersten Mal hat eine
    deutsche Ministerin den amerikanischen Präsidenten
    – wie verklausuliert auch immer – mit Adolf Hitler
    verglichen.

    Das ist das Problem gewesen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


    Es geht auch nicht um die Frage, ob der Irak die rich-
    tige Priorität ist. Darüber kann man diskutieren. Das Pro-
    blem ist vielmehr, dass wir, wenn wir den Gefahren des
    21. Jahrhunderts, denen wir durch neue Formen der Be-
    drohung ausgesetzt sind – asymmetrische Kriegs-
    führung und Terrorismus klingen in meinen Ohren wie
    eine halbe Privatveranstaltung; die asymmetrische

    Kriegsführung ist angesichts der Tatsache, dass sich alles
    miteinander vermischt, viel komplizierter geworden –,
    begegnen wollen, unsere Bemühungen um die interna-
    tionale Solidarität, und zwar sowohl um die atlantische
    als auch um die europäische, verstärken müssen. Darauf
    sind wir auf Gedeih und Verderb angewiesen. Deswegen
    geht es nicht um Meinungsfreiheit – die braucht man
    gegenüber den Amerikanern nicht zu verteidigen –, son-
    dern um europäische Geschlossenheit, atlantische Soli-
    darität und die Handlungsfähigkeit der Vereinten Natio-
    nen. Diese haben Sie schwer geschädigt und das war der
    Fehler.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Daran können Sie nicht vorbeireden.

    In vielem sind wir ja gar nicht unterschiedlicher Mei-
    nung. Über die Einzelheiten wird man in den kommen-
    den Jahren weiter diskutieren. In den Diskussionen wird
    es darum gehen, wie wir ein großes und starkes, ein
    handlungsfähiges, ein effizienteres Europa zustande
    bringen, wie wir die Rolle Europas in globaler Verant-
    wortung, in atlantischer Partnerschaft stärken, sodass
    europäisches Engagement keine Alternative zu atlanti-
    scher Solidarität ist, weil wir die atlantische Partner-
    schaft nur wirkungskräftig erhalten werden, wenn das
    Ungleichgewicht zwischen dem amerikanischen Teil
    und dem europäischen Teil nicht immer größer wird,
    wenn die Europäer einen stärkeren Beitrag leisten, mehr
    mit einer Stimme sprechen, mehr Fähigkeiten haben.
    Das alles ist richtig. Aber in den letzten Monaten haben
    Sie Europa in der entscheidenden Frage handlungsun-
    fähig gemacht, indem Sie Europa durch Ihren Allein-
    gang blockiert haben.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Es geht nicht um unterschiedliche Meinungen. Die Christ-
    lich-Demokratische Union, CDU und CSU haben in die-
    sem Wahlkampf vom ersten Tag an gesagt: Wir treten
    dafür ein – das ist nicht die Position aller Amerikaner –,
    dass wir nur auf der Grundlage von Beschlüssen der Ver-
    einten Nationen und nur im Rahmen von Beschlüssen der
    Vereinten Nationen handeln. Aber Sie haben gesagt: Was
    immer auch die Vereinten Nationen beschließen, wir je-
    denfalls werden uns nicht beteiligen.


    (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Da liegt der Kern!)


    Das war der Alleingang, die Isolierung Deutschlands, und
    das war ein Fehler.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Dafür zahlen wir einen erheblichen Preis.

    Zunächst einmal haben Sie im Wahlkampf natürlich
    Ihre eigenen Anhänger getäuscht. Wir werden das noch
    sehen, Fortsetzung folgt in diesem Theater. Das Mandat
    Enduring Freedom wird zum 15. November verlängert
    werden müssen. Dann wird Ihr Verharmlosungsmanöver,
    für das es sehr gute Gründe gibt, aber man muss es so nen-
    nen, deutlich werden. Es täuscht die Menschen in unse-
    rem Lande über den Ernst der Lage. Wenn Sie von Af-
    ghanistan reden, sprechen Sie immer nur von dem
    Beitrag, den die Bundeswehr aufgrund der Beschlüsse,

    Bundesminister Joseph Fischer




    Dr. Wolfgang Schäuble
    die auf dem Petersberg gefasst wurden, leistet. Sie reden
    überhaupt nicht über den Beitrag, den die Soldaten der
    Bundeswehr – KSK heißt die Einheit – im Rahmen des
    Mandats von Enduring Freedom leisten. Sie tun so, als
    wären Sicherheitspolitik und Kampf gegen den Terroris-
    mus nur eine Art von Friedensarbeit und polizeilicher
    Tätigkeit. Nein, es ist ein hochgefährlicher Beitrag, den
    die Soldaten der Bundeswehr leisten.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Das muss ausgesprochen werden, sonst wird der Dank un-
    ehrlich. Wir unterstützen den Dank und haben großen
    Respekt, aber wir sind dagegen, die Bevölkerung über die
    wirkliche Bedrohung und die wirklichen Gefahren zu täu-
    schen.


    (Joseph Fischer, Bundesminister: Wer macht denn das?)


    Mit dem, was Sie zum Problem Tschetschenien gesagt
    haben, stimmen wir weitgehend überein. Das ist ja über-
    haupt in vielem so, Herr Bundesaußenminister. Sie haben
    die lange Linie der Kontinuität deutscher Außen- und Si-
    cherheitspolitik erwähnt, die von Konrad Adenauer bis
    Helmut Kohl gut gewesen ist. Wir haben Sie in der ver-
    gangenen Legislaturperiode in den Grundfragen von
    Außen- und Sicherheitspolitik mehr unterstützt als die
    Regierungsparteien. Sie konnten sich auf die Opposition
    eher verlassen als auf Ihre eigenen Reihen. Das ist doch
    die Wahrheit.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Aber Sie haben diese Gemeinsamkeit im Wahlkampf ein-
    seitig verraten. Auch das ist die Wahrheit. Wenn Sie zu
    dieser Gemeinsamkeit zurückkehren, werden wir unsere
    Verantwortung weiterhin wahrnehmen. Aber es bleibt da-
    bei, dass Sie aus reinen Wahlkampfinteressen die Grund-
    linien, die Verantwortung, die Kontinuität deutscher
    Außen- und Sicherheitspolitik in diesem Wahlkampf ver-
    raten haben. Dafür zahlen wir einen hohen Preis.

    Zum Thema Tschetschenien gehört für mich schon,
    dass man sagt: Es braucht politische Lösungen und Russ-
    land muss auf dem Weg zum Westen und zur Demokratie
    diese Anforderungen für sich gelten lassen. Man muss
    übrigens hinzufügen: Solch schreckliche Erfahrungen wie
    die der letzten Tage machen uns im Westen gelegentlich
    ein bisschen weniger selbstsicher. Wir müssen vielleicht
    erkennen, dass wir Fragen, die wir bei Problemen an an-
    dere stellen, gelegentlich mit den Augen anderer sehen
    und auch für uns gelten lassen müssen. Wir brauchen also
    in jedem Fall politische Lösungen und repressive Maß-
    nahmen zugleich.

    Das andere muss aber auch klar sein: Was immer die
    politischen Konflikte auf dieser Welt sein mögen, es geht
    nicht an, dass unschuldige unbeteiligte Menschen, ob im
    World Trade Center in New York oder im Theater in Mos-
    kau, von irgendwelchen Irregeleiteten getötet oder als
    Geiseln genommen werden. Die Welt muss zusammen-
    stehen, um so etwas zu unterbinden.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Da darf es keine Alleingänge geben; denn damit
    schwächen wir die internationale Gemeinschaft, die Ge-
    meinschaft der zivilisierten Welt. Da lag Ihr Fehler.


    (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Wo denn?)

    – Sie schwächen die Vereinten Nationen, wenn Sie sagen:
    Was immer auch der Sicherheitsrat der Vereinten Natio-
    nen beschließt – wir machen jedenfalls nicht mit. Der
    deutsche Weg, von dem der Außenminister jetzt nach der
    Wahl sagt „Vergessen Sie es!“ – vor der Wahl hat der Bun-
    deskanzler den deutschen Weg gepredigt –, ist nichts an-
    deres als das Wiederaufleben des alten „Ohne mich“-
    Standpunkts aus der Frühzeit der Bundesrepublik
    Deutschland.


    (Uta Zapf [SPD]: Wenn man das für falsch hält, ist es auch vernünftig, „ohne mich“ zu sagen!)


    Sie haben gefährliche Ressentiments angesprochen, Herr
    Bundeskanzler. Sie werden dafür einen hohen Preis be-
    zahlen. Die Geister, die man ruft, wird man oft nicht wie-
    der los. Das ist nicht nur beim „Zauberlehrling“ so.


    (Zuruf von der SPD)

    – Wir werden sehen. Der Herr stellvertretende Fraktions-
    vorsitzende Ströbele hat in der vergangenen Woche schon
    in einer bemerkenswerten Weise zwischen den einzelnen
    Bundeswehreinsätzen unterschieden. All das wird uns be-
    gleiten.

    Ich will Ihnen zu dem Thema Türkei Folgendes sagen:
    Wir haben schon den Verdacht, dass die Veränderung der
    Position, was die Mitgliedschaft der Türkei anbetrifft
    – das klang in den Äußerungen des Bundeskanzlers vor
    der Wahl ganz anders als in der letzten Woche –, ein Teil
    des Preises ist, den man bezahlen muss. Ich will Ihnen
    deshalb sagen, was unsere Meinung in Sachen Türkei war
    und noch immer ist.

    Wir haben ein großes Interesse daran, dass die Türkei
    untrennbarer Bestandteil des Westens bleibt.


    (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist klar!)


    – Natürlich, Frau Roth; da ist überhaupt kein Unterschied;
    ich stelle gerade unsere Position dar. Dass die Türkei in ei-
    ner möglichst engen Beziehung zu Europa bleiben soll, ist
    völlig unstreitig.

    Unsere Vorstellung von dem, was die Europäische
    Union ist und noch werden soll, ist die einer handlungs-
    fähigen politischen Einheit auf der Grundlage gemeinsa-
    mer Identität; denn freiheitliche Organisation bekommt
    man nicht ohne eine hinreichende Grundlage an Identität,
    Zusammengehörigkeit und gemeinsamen Werten. Unsere
    Vorstellung von der Europäischen Union – dazu gibt es
    unterschiedliche Meinungen in Deutschland und auch un-
    ter unseren Partnern in Europa – ist die einer politischen
    Identität der Europäischen Union.


    (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Meine auch!)


    Das heißt dann aber auch, dass man genauer prüfen
    muss, ob diese Europäische Union nicht auch Grenzen
    braucht, ob man für solche Länder, die zum Teil zu Europa


    (A)



    (B)



    (C)



    (D)


    98


    (A)



    (B)



    (C)



    (D)






    gehören, zum Teil aber eben auch nicht – Russland ist ein
    solches Land; Sie haben mich ausgelacht, als ich vor ein
    paar Jahren die Parallele gezogen habe; heute lacht nie-
    mand mehr –, in deren Interesse – auch die Türkei braucht
    ihre eigene Identität für ihre Stabilität und ihre Zukunfts-
    chancen – nicht besser eigene Formen der Zugehörigkeit
    zu Europa vereinbart. – Das ist unsere Position. Das ist
    nicht Türzuschlagen, sondern das ist der bessere Weg.


    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


    Die Europäische Union und auch schon die Europä-
    ischen Gemeinschaften haben, wenn ich es richtig weiß,
    der Türkei seit 1964, also seit 38 Jahren – das waren nicht
    immer Sie, Herr Bundeskanzler Schröder, und Ihre Re-
    gierung; es waren auch schon andere –, die Perspektive
    einer vollen Mitgliedschaft in der Europäischen Union
    angeboten.


    (Zuruf von der SPD: Ludwig Erhard!)

    – Ja, 1964. So lang ist das her. – Deswegen sage ich: Die
    Lösung, von der ich rede, können wir nicht der Türkei
    oktroyieren. Wir sollten offen und ehrlich und im Hin-
    blick auf das gemeinsame Ziel mit der Türkei darüber
    sprechen, ob das nicht im gemeinsamen Interesse der bes-
    sere Weg ist. Das ist ehrlicher, als eine Debatte zu führen,
    bei der es im Grunde nur nach dem Motto geht: Jetzt ist
    die Bundesregierung dafür – in der Hoffnung, dass in Ko-
    penhagen genügend andere dagegen sein werden, damit
    nichts vorankommt. Die Türkei hat doch längst begriffen,
    dass ihr immer die Wurst hingehalten und dann wieder
    weggezogen wird. So darf man mit der Türkei nicht um-
    gehen.


    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


    Herr Bundeskanzler, ich glaube im Übrigen, dass über
    Ihre Regierungserklärung schon deswegen wenig zu sa-
    gen ist, weil sie wenig enthalten hat. Ich habe mir immer
    wieder die Frage gestellt: Was machen Sie aus diesem
    nichts sagenden Koalitionsvertrag in Ihrer heutigen
    Regierungserklärung? Sie sind mit Ihrer Regierungser-
    klärung wirklich noch unter dem Niveau des Koalitions-
    vertrages geblieben.


    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


    Es war wirklich nichtssagend.
    Was überhaupt gefehlt hat – ich glaube, das wird wich-

    tiger werden –, war, den Menschen in unserem Lande zu
    erklären, wie wichtig es ist, dass wir außenpolitische Ver-
    antwortung, außenpolitische Interessen, sicherheitspoliti-
    sche Interessen und Risiken ernst nehmen. Wenn wir den
    Menschen einreden: „Wir haben so viele Probleme, dass
    wir uns nicht auch noch um andere kümmern können;
    denn wir haben mit uns selbst schon genug zu tun“, dann
    werden wir die Reformkräfte in unserer Gesellschaft nicht
    stärken. Ein Volk, das zu Introvertiertheit neigt, weil es
    glaubt, es habe so viele eigene Sorgen, dass es sich nicht
    auch noch um die der anderen kümmern könne, und weil
    es glaubt, dass die Bedrohung nicht so groß werde, wenn
    es sich in der Nische verstecke, wird eher Besitzstände

    verteidigen. Wir müssen aber mehr Besitzstände auf den
    Prüfstand stellen.

    Ich hätte mir deshalb in Ihrer Regierungserklärung eine
    realistische Bedrohungsanalyse gewünscht. Ich hätte mir
    gewünscht, dass Sie darstellen, worin deutsche Interessen
    und deutsche Verantwortung eigentlich bestehen und was
    im Zusammenwirken zwischen Außenpolitik, Entwick-
    lungspolitik und Sicherheitspolitik notwendig ist, damit
    wir, unsere Kinder und unsere Enkel in sicherem Frieden
    leben können. Der jetzige Friede ist nämlich bedroht; der
    Terrorismus bedroht auch uns. Wir leisten nicht nur Soli-
    darität mit den Amerikanern – darauf weisen Sie zur Be-
    gründung von Enduring Freedom gelegentlich hin –, son-
    dern wir nehmen auch unsere eigenen Interessen, unsere
    eigene Verantwortung wahr. Das muss gesagt werden.


    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


    Sie werden ganz schnell erkennen, dass die Art, wie Sie
    mit der Bundeswehr umgehen, völlig unverantwortlich
    ist.


    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Auch das will ich Ihnen schon an dieser Stelle sagen. Ver-
    ehrter Herr Struck, als Sie Verteidigungsminister wurden,
    haben Sie erst einmal nur Wahlkampf gemacht. Ihre Ver-
    antwortung als Verteidigungsminister haben Sie erst nach
    der Wahl entdeckt. Sie werden die Probleme der Bundes-
    wehr noch nicht einmal im Ansatz lösen können, wenn
    Sie den Weg fortsetzen, der Bundeswehr immer mehr
    Aufgaben aufzubürden, auch wenn Sie mittlerweile den
    Weizsäcker-Bericht, in dem von einer realistischen Be-
    drohungsanalyse die Rede war, entdeckt haben, was Sie
    zumindest verbal zum Ausdruck bringen.

    Ein Preis, den wir für Ihre antiamerikanischen Entglei-
    sungen zahlen müssen, ist, dass Sie das deutsche Engage-
    ment in der afghanischen Hauptstadt, in Kabul, durch
    Übernahme der Führung der internationalen Schutztruppe
    stärken wollen. Das würde uns noch teurer zu stehen kom-
    men. Es stellt sich übrigens die Frage, worin, was die Si-
    cherheit anbetrifft, die höchste Priorität besteht.

    Sie haben kein Wort zum NATO-Gipfel in Prag ge-
    sagt. Was ist eigentlich mit dem amerikanischen Vor-
    schlag im Hinblick auf eine schnelle Eingreiftruppe? Wol-
    len Sie Deutschland – Frau Merkel hat Sie das gefragt –
    auch auf dem NATO-Gipfel in die Isolierung führen? Was
    ist eigentlich mit der Umsetzung des richtigen Beschlus-
    ses von Helsinki? Ich denke an die europäische Sicher-
    heitskomponente und die 60 000 Mann. Für nichts ist die
    finanzielle Grundlage da.


    (Joseph Fischer, Bundesminister: Ist doch nicht wahr!)


    Jetzt wird der Bundeswehr die halbe Milliarde Euro schon
    wieder entzogen, die ihr aufgrund der Steuererhöhungen,
    die Sie nach dem 11. September 2001 beschlossen haben,
    zukommen sollten. So wird die Bundeswehr ihre Aufga-
    ben nicht erfüllen können. So werden wir unserer Verant-
    wortung gegenüber den Soldaten und gegenüber der Zu-
    kunft zu wenig gerecht.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


    Dr. Wolfgang Schäuble




    Dr. Wolfgang Schäuble

    Sie haben von den Leitlinien der deutschen Außen-
    politik gesprochen. Wir haben diese Leitlinien in den Jah-
    ren, in denen wir in der Opposition waren, mitgetragen.
    Wir werden das auch weiterhin tun. Diese Regierung hat
    im Zweifel ohne jede Verantwortung und gewissenlos die
    Interessen der Bundesrepublik Deutschland den Wahl-
    kampfgesichtspunkten untergeordnet.


    (Zuruf von der SPD)

    – So war der Wahlkampf. Ich könnte Ihnen stundenlang
    entsprechende Zitate vorlesen.


    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Wir werden die Alternative zu einer solchen Regierung

    sein, eine Alternative der Verlässlichkeit und der Bere-
    chenbarkeit. Wir haben in der Endphase der Regierung
    Schmidt gegen die Linke atlantisches Engagement und
    Solidarität vertreten. Die Menschen in unserem Lande
    und unsere Partner in der Welt können sich darauf verlas-
    sen, dass die CDU auch in der Endphase der Regierung
    Schröder die Alternative bleiben wird, die für Verlässlich-
    keit und Berechenbarkeit steht.


    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)