Gesamtes Protokol
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Wir setzen die Haushaltsberatungen - Tagesordnungspunkt 1- fort:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1998
- Drucksache 13/8200 -
Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Finanzplan des Bundes 1997 bis 2001
- Drucksache 13/8201 —
Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß
Ich erinnere daran, daß wir gestern für die heutige Aussprache eine Dauer von insgesamt neun Stunden beschlossen haben.
Wir kommen zunächst zum Geschäftsbereich des Bundeskanzleramtes.
Das Wort hat der Fraktionsvorsitzende der SPD, Rudolf Scharping.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! 1994 hat Herr Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl erneut geschworen, den Nutzen des deutschen Volkes zu mehren und Schaden von ihm abzuwenden. Ich frage mich: Welche Nutzen hat er gemehrt, welchen Schaden hat er abgewendet?, angesichts der hohen Arbeitslosigkeit und der hohen Jugendarbeitslosigkeit, der steigenden Steuern, der wachsenden Bürokratie und vieler anderer Mißstände und Belastungen im Lande. Wessen Nutzen, Herr Bundeskanzler, haben Sie gemehrt? Wo haben Sie Schaden abgewendet?
Angesichts großer Herausforderungen erwartet die Mehrheit unserer Landsleute, daß die Regierung kraftvoll handelt. 1996, Herr Bundeskanzler, haben Sie gesagt: Wir müssen entweder durchstarten oder abdanken. Zum Durchstarten fehlen Ihnen Kraft und Konzeption, zum Abdanken der Mut vor dem Urteil der Wähler.
Die große Mehrheit unserer Landsleute erwartet, daß die Regierung Wege in die Zukunft öffnet, anstatt Belastungen zu mehren. Diese Regierung aber taumelt ideenlos und phantasielos vor sich hin. Sie veranstaltet Strategiegipfel, bei denen nur ihr eigenes Überleben, aber nicht die Zukunft unseres Landes eine Rolle spielt.
Die große Mehrheit unserer Landsleute erwartet, daß sich die Regierung den Herausforderungen und den Menschen zuwendet, die diese Herausforderungen bewältigen wollen. Sie erwartet eine Regierung mit Weitblick und Wirklichkeitssinn. Alles das, Herr Bundeskanzler, fehlt Ihnen. Sie sind eine Belastung für das deutsche Volk geworden. Ihre Politik und Ihre Zeit gehen zu Ende.
Es ist ja leider üblich geworden, über die Herausforderungen unseres Landes, über seine Chancen, aber auch über die Belastungen in Zahlen zu reden. Eine solche Zahl wäre, daß in diesen Tagen 152 000 Jugendliche immer noch einen Ausbildungsplatz suchen. Das ist aber mehr als eine statistische Zahl. Das sind 152 000 junge Menschen, denen die Zukunft verbaut wird; es sind rund 300 000 Eltern, die sich Sorgen machen um die Zukunft ihrer Kinder; es sind viele andere darum herum. Alle wissen: Wir haben leider eine Regierung, die die Zukunft der
Rudolf Scharping
Jugend und die Zukunft des Landes nicht mehr ernst nimmt; sie handelt nicht mehr kraftvoll.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
530 000 Jugendliche sind ohne Arbeit. Zum erstenmal seit Jahrzehnten ist die Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen höher als die Gesamtarbeitslosigkeit. 530 000 junge Menschen! Die Mehrheit unseres Volkes erwartet, daß jeder ausgebildet wird, daß der gefährliche Nährboden ausgetrocknet wird, den die Jugendarbeitslosigkeit für die Gewalt von Jugendlichen darstellt.
Sie tun nichts. Wer die erschütternden Briefe, die manchmal ganz verzweifelten Hilferufe, liest, wer sich die vielen Briefe, die man erhält, und die vielen Gespräche, die man führt, ins Gedächtnis zurückruft, dem fällt auch wieder ein, daß Sie, Herr Bundeskanzler, 1996 gesagt haben - das war eine gewaltige Drohung, wie wir wissen -, es sei kein Platz mehr im Jet des Bundeskanzlers für solche, die nicht ausbildeten. 1997 sagt Herr Rüttgers - Sie beschließen es dann -, man wolle jetzt jene bevorzugen - wohlgemerkt: bei wirtschaftlich gleichwertigen Angeboten -, die wenigstens ausbildeten. Das sind nur hilflose Gesten. Das ist keine konzeptionell klare, kraftvolle, zukunftsweisende Politik. Das ist frei von Wirklichkeitssinn und Weitblick. Herr Bundeskanzler, Ihre Politik ist eine schwere Belastung für die Zukunft unseres Landes und die Zukunft seiner Jugend geworden. Das muß geändert werden.
Rhetorisch haben Sie diese Erkenntnis ja alle auch. Aber so, wie Ihre Haushaltslöcher den klaffenden Widerspruch zwischen Traum und Wirklichkeit zeigen, so zeigt eben auch jede dieser hilflosen Gesten, daß Sie nicht wirklich wollen oder mindestens nicht wirklich können.
Wir werden handeln. Wir werden dem, was beispielsweise Frau Süssmuth oder der Vorstandsvorsitzende von BMW oder viele andere in Interviews sagen, die notwendigen gesetzgeberischen Maßnahmen folgen lassen. Wer ausbildet, sorgt für die Zukunft der Jungen und die Zukunft unseres Landes. Wer ausbildet, verdient Hilfe, Ermunterung und finanzielle Entlastung. Das ist die logische Folge aus dieser allgemeinen Erkenntnis.
Wir werden handeln in Übereinstimmung mit der großen Mehrheit unserer Landsleute auch in einem Sofortprogramm gegen Jugendarbeitslosigkeit. Wir werden eigene Ideen und europäische Erfahrungen gleichermaßen nutzen.
Ich füge hinzu: Es gibt ein Recht, und es muß eine Garantie geben für die Ausbildung junger Menschen, für ihren Übergang ins Arbeitsleben. Diesem Recht, dieser Chance steht auch eine Verantwortlichkeit gegenüber, eine Verantwortlichkeit der Allgemeinheit und jedes einzelnen, wirklich Ausbildung zu wollen und wirklich Arbeit anzunehmen.
Das sage ich im Angesicht einer Regierung - Herr Bundeskanzler, Ihrer Regierung -, die wie nie zuvor Rechte und Verantwortlichkeiten, Chancen und Lasten auf eine ungerechte, wirtschaftlich unvernünftige, die Zukunft belastende Weise verteilt hat. Je stärker das Einkommen, je besser die Chancen, desto mehr Aufmerksamkeit widmen Sie den Menschen. Je schlechter die Chancen, je schwieriger die Lebenslage, desto eher klingt es unter dem Druck der Klientelpartei F.D.P. höhnisch durch die Öffentlichkeit: Die sollen sich selbst helfen, die sind selbst schuld, die sind selbst verantwortlich. Das ist eine unfaire, eigentlich auch unanständige Politik, die Sie da betreiben.
Rechte? Chancen? Ich bin sehr dafür, Leistungsträger zu fördern. Aber es müssen Leistungsträger sein. Leistungsträger und Elite, das entscheidet sich nach dem persönlichen Streben nach Glück und Erfolg, und es entscheidet sich danach, ob ein Mensch bereit ist, für den Fortschritt der Allgemeinheit und nicht nur für sich persönlich etwas zu tun. Das sind die Verantwortungs- und Leistungseliten unseres Landes.
Dieses Prinzip haben Sie sträflich vernachlässigt.
Weitblick und Wirklichkeitssinn sagen uns: Jeder soll ausgebildet werden. Die Chance des Übergangs in Arbeit soll angeboten und fair sein. Aber dem steht auch eine Verantwortlichkeit gegenüber, wie es beispielsweise in Dänemark, in Großbritannien, in Frankreich und in anderen europäischen Ländern ja schon verwirklicht wird.
Neben diesen beiden bedrückenden Zahlen zu den fehlenden Ausbildungsmöglichkeiten und der wachsenden Jugendarbeitslosigkeit eine andere Zahl: Heute sind die Zeitungen voll von den rund 4,4 Millionen Menschen, die Arbeit suchen; das sind 470 000 mehr als im August des letzten Jahres. Herr Bundeskanzler, wo haben Sie da Schaden abgewendet?
Wessen Nutzen haben Sie da gemehrt?
Sie haben immer neue Programme aufgelegt: erst ein 10-Punkte-Programm, dann ein 20-Punkte-Programm, dann ein 50-Punkte-Programm. Ich frage mich: Wann kommt das 111-Punkte-Programm? Dies sind Beweise fortdauernder Hilflosigkeit. Sie können
Rudolf Scharping
nicht ordentlich regieren. Es fehlt Ihnen die Kraft, es fehlt Ihnen die Konzeption.
Die Mehrheit unserer Landsleute erwartet kraftvolles Handeln, und sie ist bereit, Verantwortung zu übernehmen. Es ist eine Illusion, zu glauben, die Mehrheit unserer Landsleute wollte das gewissermaßen im Sinne einer staatlichen Wohlfahrt, im Sinne einer Verteilungspolitik allein. Nein, die Mehrheit unseres Volkes ist auch bereit, Verantwortung zu übernehmen, wenn es fair, wenn es gerecht zugeht.
Herr Bundeskanzler, seit 1990, seit dem Glücksfall der deutschen Einheit, haben Sie zu keinem einzigen Zeitpunkt an die Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung angeknüpft. Nein, Sie haben das Gefühl für Anstand, Fairneß und Gerechtigkeit in diesem Land verletzt, wie es nie zuvor eine Regierung getan hat, seit es die Bundesrepublik gibt.
Die Belege für diesen Vorwurf sind Legion. Sie beginnen im Herbst 1990 mit dem ungewöhnlich leichtfertigen Versprechen der blühenden Landschaften im Osten und der Zusage, im Westen müsse niemand mehr zahlen, schon gar nicht gäbe es wegen der deutschen Einheit Steuererhöhungen. Sie enden mit dem leichtfertigen Zerschlagen des Angebotes der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, ihrer Gewerkschaften, für ein Bündnis für Arbeit.
Die Belege sind Legion. Nein, auch hier fehlt Ihrer Politik Weitblick und Wirklichkeitssinn.
Wir stellen drei Leitlinien dagegen.
Erstens: Die Weichen stellen auf ein dauerhaftes Wachstum, ein Wachstum, das, mit Blick auf die Lebensgrundlagen, Probleme löst, anstatt neue zu schaffen, ein Wachstum, an dem alle teilhaben können, nicht nur eine Minderheit, ein Wachstum, das in Deutschland hilft und nicht nur vom Export angetrieben wird.
Die zweite Leitlinie: Recht und Ordnung in der Wirtschaft durchsetzen. Es geht nicht darum, immer schön .zu predigen, sondern darum, wirklich etwas zu tun, wozu Ihre Regierung unfähig geworden ist.
Drittens: Neue Wege öffnen.
Ich sage Ihnen etwas zu den sicheren Rahmenbedingungen; das hat gestern schon eine Rolle gespielt und wird die politische Debatte der nächsten 12 Monate weiter prägen: Deutschland ist von allen Industrieländern das Land, das seine Arbeitsplätze und seine Arbeitseinkommen am stärksten belastet - mit Sozialabgaben, mit Steuern -, und das im Rahmen einer Steuerquote, die historisch so niedrig ist wie selten zuvor.
Es wäre wirtschaftlich vernünftig, ökologisch verantwortungsbewußt und sozial gerecht, in einem ersten Schritt wirklich durchzugreifen und die Lohnnebenkosten zu senken - im Interesse der Arbeit, der Arbeitsplätze, des Handwerks und des Mittelstands.
Und, Herr Bundeskanzler, weil dieses Thema auch in Europa noch eine Rolle spielen wird: Wie eigentlich will diese Regierung mit ihrer hilflosen, phantasielosen und konzeptionslosen Politik einen europäischen Beschäftigungsgipfel bestreiten? Wie soll das im Gespräch mit den Nachbarn, in gemeinsamer Anstrengung, im gegenseitigen Lernen voneinander mit dieser Regierung gehen? Nein, Sie taumeln entschlossen dahin.
Wenn Sie zupacken, ist das immer wie in Watte gegriffen. In diesem Bundestag haben Sie ein Gesetz beschlossen, das die öffentlichen Haushalte um neue Löcher bereichert, um eine Lücke von 45 Milliarden DM. „Bereichert" kann man eigentlich gar nicht sagen.
Jetzt, in diesen Tagen, kommt der Kollege Solms und sagt: Nein, das ist gar nicht so gemeint mit den 45 Milliarden. Es sollen 30 sein, so wie Sie es ja immer für sich reklamiert haben. Das wirft die Frage auf: Wie schließen wir denn die Lücken zwischen diesen 45, die Sie beschlossen haben, und jenen 30, die Sie eigentlich erreichen wollen?
Sie sagen: Das ist gar nicht so gemeint. Dann kommt Herr Repnik und sagt: Nein, es kommt ein ganz neues Angebot. Es könnten auch 10 bis 15 Milliarden sein, also nur die Hälfte vom eigentlich reklamierten Ziel. Schließlich höre ich von Herrn Schäuble, man könne sich auch in einem ersten Schritt, in einer ersten Stufe gewissermaßen Aufkommensneutralität, also null, vorstellen. Jetzt können wir uns alle überlegen, was Sie denn wirklich meinen. Was ist wirklich ernstgemeint?
Können wir uns in dieser Zeit eine solche Regierung leisten? Nein, wir können nicht. Wir brauchen klare, verläßliche Politik; Politik, die mit Weitblick und Wirklichkeitssinn ein realistisches Ziel des wirtschaftlichen Wachstums, der steuerlichen Entlastung und der Gerechtigkeit miteinander verknüpft. Das tun Sie nicht.
Ich sage Ihnen auch hier von diesem Pult: Es wird leider wenig Sinn machen, miteinander um ein Ergebnis zu ringen, wenn einem ein Gesprächspartner gegenübersitzt, der sagt, eigentlich sollten es 45 Milliarden sein, wenn der nächste sagt, es sollten vielleicht 30 sein, der dritte von 10 bis 15 und der vierte von null spricht. Eine Regierung, die selbst nicht weiß was sie will, die herumtaumelt, anstatt einen graden Weg zu gehen, eine solche Regierung ist selbst eine schwere Belastung für die Gegenwart
Rudolf Scharping
und für die Zukunft unseres Landes. Ihre Politik, Ihre
Unehrlichkeit, Ihre Konzeptionslosigkeit ist am Ende.
Es bleibt bei dem Angebot, das wir Ihnen unterbreitet haben. Sorgen Sie dafür, daß Sie vielleicht bis Sonntagabend zu einer gemeinsamen Linie kommen. Dann wäre das erste, nämlich sichere Rahmenbedingungen für Investoren, für die Wirtschaft, für die großen wie für die kleinen Unternehmen, erreicht. Und - im übrigen -: Stabile und, wenn es geht, niedrige Zinsen, eine gemeinsame Verantwortung der Bundesregierung, aller öffentlichen Haushalte, der Bundesbank und der am Wirtschaftsleben Beteiligten.
Von Stabilität, von Klarheit und von Verläßlichkeit in Ihrer Finanzpolitik kann keine Rede sein. Jede Woche, Herr Bundeskanzler, seit Ihrem Amtseid haben Sie im Schnitt 1,5 Milliarden DM neue Schulden gemacht. Das ist ein unverantwortlicher Kurs. Er bedeutet enorme Risiken.
Zu sicheren Rahmenbedingungen gehören im übrigen nicht nur sinkende Lohnnebenkosten, gehört nicht nur ein gerechtes und wirtschaftlich vernünftiges Steuersystem, gehören nicht nur stabile Finanzen und damit auch möglichst niedrige Zinsen, sondern auch eine gemeinsame europäische Währung, der Abbau von Bürokratie und - was häufig vergessen wird - die Teilhabe der Menschen am gemeinsamen wirtschaftlichen Fortschritt.
Sie haben immer etwas verkündet, allerdings nie etwas getan. In Deutschland ist alleine das Vermögen in Geld auf 5 000 Milliarden DM gewachsen, in den letzten Jahren um fast 20 Prozent. 8 Prozent der Bevölkerung besitzen 52 Prozent dieses Vermögens. Das hat etwas zu tun mit wirtschaftlicher Vernunft, mit einer Idee von Fairneß und Gerechtigkeit. Wenn Sie das Reklamieren von Fairneß, Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Vernunft immer erneut als Neidkampagne denunzieren, dann zerstören Sie ein Element, das diese Bundesrepublik Deutschland trägt, nämlich den Willen, jedem Menschen eine anständige Chance und eine gleichberechtigte Teilhabe am Fortschritt zu geben.
Deshalb sagen wir: Teilhabe am Haben und am Sagen und an den Möglichkeiten, Wohlstand zu erwerben und ihn klug und verantwortungsbewußt zu nutzen. Wenn denn dieser Aufschwung kommt - was wir sehr hoffen -, sollte er eine innere Kraft entfalten und für alle Menschen nützlich sein und sollte nicht wieder an den Arbeitsmärkten vorbeigehen wie in der Vergangenheit.
Ich habe Ihnen eine zweite Leitlinie genannt, nämlich Recht und Ordnung in der Wirtschaft durchzusetzen. Steuerhinterziehung wäre zu nennen. Der Bund der Steuerzahler sagt, es handele sich um Milliardenbeträge. Korruption wäre zu nennen, übrigens
auch eine Folge des wachsenden Einflusses illegal erworbenen Geldes, aber nicht nur eine Folge dieses Einflusses. Beispielhaft wäre zu nennen, was jetzt in Nordrhein-Westfalen zur Bekämpfung solcher Mißstände beschlossen worden ist. Illegale Arbeit wäre zu nennen. Herr Bundeskanzler, in Deutschland arbeiten vermutlich 800 000 bis 1 Million Menschen illegal, so die Hinweise aus der Arbeitsverwaltung und aus vielen anderen sachkundigen Stellen. Die Mehrheit unserer Landsleute aber erwartet, daß wir eine Regierung haben, die nicht Mißstände duldet oder über sie hinwegsieht, sondern entschlossen dagegen vorgeht. Sie tun nichts, absolut nichts.
Es ist aber ganz unverantwortlich, wenn in Deutschland mit heute 4,4 Millionen registrierten Arbeitslosen zugleich der Mißstand geduldet wird, daß viele hunderttausend Menschen vermutlich illegal arbeiten.
Genauso schlimm ist die Tatsache, daß Sie auf der einen Seite wieder und wieder nicht nur unter Verweis auf die Niederlande beklagen, in Deutschland gebe es zu wenige Personen, die teilzeit arbeiten wollen, und daß auf der anderen Seite in den Arbeitsverwaltungen über 330 000 Menschen gemeldet sind, die eine Teilzeitarbeit suchen, aber keine finden können. Sie werden auch keine finden können, solange diese Regierung duldet, daß große Handelsketten und viele andere statt Teilzeitarbeit versicherungsfreie Arbeit anbieten. Das ist ein eklatanter Mißstand, der beseitigt werden muß.
Das schlimmste ist: Sie sehen ja nicht nur darüber hinweg; einige in Ihrer Koalition ermuntern sogar zu diesem flächendeckenden Mißbrauch gesetzlicher Möglichkeiten, verteidigen das offensiv, behaupten, das sei wirtschaftlich notwendig. Aber ich sage Ihnen eines: Wer die Stabilität des wirtschaftlichen Fortschrittes dauerhaft mit sozialem Konsens und sozialer Sicherheit verknüpfen will, der muß diesen Mißstand beseitigen, weil er auch selbständige Existenzen kaputtkonkurriert und weil er unfairen Wettbewerb bedeutet.
Ich will Ihnen eines sagen: Vor zwei Tagen rief mich eine Einzelhändlerin an und sagte: Herr Scharping - -
- Daß Sie keinen Kontakt zum Leben der Menschen mehr haben, das ist ja das Elend Ihrer Politik; daß Sie nicht mehr wissen, was in Deutschland los ist, das ist ja das Elend Ihrer Politik.
Rudolf Scharping
Daß Sie Menschen nur noch in Zahlen und Statistiken wahrnehmen, das ist ja das Elend Ihrer Politik.
Diese Frau sagte mir: Früher konnte man einen bestimmten Teil der Arbeit mit der Ausbildung verknüpfen; das ist auch von den Kosten her gegangen. Heute geht das nicht mehr. Sie hat dann weiter gefragt: Was soll ich denn tun? Ich muß mich der Konkurrenz der großen Ketten und anderer erwehren; deshalb setze ich meine Teilzeitkräfte vor die Tür und schließe 610-DM-Verträge ab. - An diesem einen praktischen Beispiel können Sie die Folgen Ihrer Politik in Deutschland sehen. Wenn Sie darüber lachen: Ich kann nicht darüber lachen, daß 6 Millionen Frauen aus der sozialen Sicherheit herausgedrängt werden und daß Sie das noch verteidigen.
Wenn Ihnen jede Empörung darüber abgeht, wie Menschen in Deutschland behandelt werden, wenn Ihnen jede Leidenschaft abgeht, das zu ändern, dann ist das Ihr Problem. Ändern Sie das endlich! Es ist skandalös, was Sie dulden.
Wenn Ihnen angesichts solcher Mißstände nur noch das Lachen kommt, dann kommt mir nun wirklich die Galle hoch vor Wut und Empörung darüber, daß wir eine Regierung haben, die sich christdemokratisch nennt und gleichzeitig Menschlichkeit nur noch als Kostenfaktor wahrnimmt. Es ist wirklich zum Heulen!
Sichere Rahmenbedingungen zu schaffen, Recht und Ordnung in der Wirtschaft durchzusetzen, verknüpfen wir mit neuen Wegen in die Zukunft. In diesem Jahr, meine Damen und Herren, werden pro Einwohner 1 057 DM für Zinsen ausgegeben. Pro Einwohner werden 172 DM für Forschung und Entwicklung ausgegeben. Nichts kennzeichnet den fehlenden Weitblick, den fehlenden Wirklichkeitssinn, die fehlende Zukunftsfähigkeit Ihrer Politik mehr als diese beiden Zahlen: 1 057 DM pro Jahr und Einwohner für Zinsen, 172 DM, weniger als ein Sechstel davon, pro Jahr und Einwohner für Forschung und Entwicklung. Das sind die Zahlen Ihres Bundesfinanzministeriums: 1 057 DM für Zinsen; 172 DM für die Zukunft, nämlich für Forschung, Entwicklung und anderes.
Sie haben uns immer vorgeworfen, wir würden blockieren.
Im Zusammenhang mit den Hochschulen zeigt sich aber, daß jedenfalls ein bescheidener Konsens möglich werden könnte - so wie übrigens auch in anderen Feldern. Es geht nicht darum, daß hier irgend etwas blockiert wird; sondern es geht darum, daß verantwortungsbewußte Wege in die Zukunft geöffnet werden.
1994, Herr Bundeskanzler, haben Sie nach Ihrem Amtseid, nach der selbst eingegangenen Verpflichtung, Schaden abzuwenden und Nutzen zu mehren, hier in diesem Bundestag gesagt: Wir werden die Aufwendungen für Bildung und Wissenschaft, Forschung und Entwicklung überproportional steigern. Das war eine Lüge. Das war nichts anderes als eine Lüge.
Sie haben systematisch sowohl den Anteil der Aufwendungen für Bildung und Wissenschaft, Forschung und Entwicklung am Gesamthaushalt als auch die Höhe der Aufwendungen gesenkt.
Wo Wahrhaftigkeit fehlt, können auch Weitblick und Wirklichkeitssinn nicht greifen. Wettbewerb zwischen Hochschulen, Wettbewerb als ein Suchprozeß für die Besten, die besten Möglichkeiten und die besten Verfahren - das wäre ein Punkt.
Sehen Sie bitte nicht daran vorbei, daß Ihre Politik mittlerweile auch dazu führt, daß jungen Existenzgründern, solchen, die eine Chance suchen und ein Wagnis eingehen, eher britisches, eher amerikanisches als deutsches Kapital zur Verfügung gestellt wird. Das ist ebenfalls ein weit unterschätztes und für die Zukunft außerordentlich bedeutsames Risiko.
Es müßte endlich gelingen - auch das sage ich in Übereinstimmung mit der großen Mehrheit unserer Landsleute -, die Arbeitsmarktpolitik lokal zu verankern, Verantwortung zu bündeln. Über eine Million Arbeitslose sind allein deshalb entstanden, weil Sie die Instrumente einer aktiven Arbeitsmarktpolitik zerschlagen und praktisch auf Null gebracht haben.
Im Osten Deutschlands erfahren die Menschen auf eine ganz erschreckende Weise, daß Sie mißachten, was ihre Zukunftshoffnungen und ihre Bereitschaft zur Verantwortung eigentlich darstellen, welches große Kapital dort ruht. Deshalb sage ich: Ihr fortdauerndes Herunterfahren der Forschungs- und Bildungsausgaben ist exakt dasselbe, was in Agrargesellschaften das Aufessen des Saatgutes wäre, exakt dasselbe.
Daß die Arbeitsmarktpolitik nicht lokal verankert wird, ist Verweigerung von Verantwortung, Blockade über Bürokratie. Es wäre wirklich sinnvoll, die vielen Erfahrungen zu nutzen, die in vielen deutschen Städten schon gemacht werden. Auch durch lokale Arbeitsmarktpolitik, mitverantwortet von den Tarifpartnern, könnten unter Nutzung der Mittel sowohl der
Rudolf Scharping
Arbeitsverwaltung wie der Sozialhilfe Chancen und Verantwortlichkeiten zusammengebracht werden, anstatt Verantwortlichkeiten immer nur hin und her zu schieben.
Meine Damen und Herren, Politik hat die Aufgabe, Sicherheit zu schaffen und Freiheit zu schützen. Sie tun das nicht. Mit der großen Mehrheit unseres Volkes erwarten wir - und wir werden es durchsetzen -, daß soziale Sicherheit wieder zum Partner der wirtschaftlichen Stabilität wird,
daß soziale Sicherheit nicht - wie von Ihnen - ruiniert wird. Wir wehren uns mit der breiten Mehrheit unseres Volkes gegen die Ökonomisierung aller Lebensbereiche, gegen eine Politik, die das Christdemokratische beansprucht und jeden Teil unseres Lebens nur noch in Zahlenstellen, Kostenkolonnen und betriebswirtschaftlichen Kategorien denkt. Das ist verhängnisvoll; denn es mißachtet Menschen.
Es mißachtet das Wort der Kirchen. Es mißachtet das Engagement der Ehrenamtlichen. Es mißachtet die Bereitschaft zur Verantwortung. Bei vielen Menschen, auch bei Behinderten, wächst der Eindruck, am Ende werde sogar Menschlichkeit, werde Zuwendung nur noch zur Kostenstelle. Dabei wäre es die vornehmste Aufgabe einer aktiven, einer kraftvollen, einer zukunftsfähigen Bundesregierung, sozialen Schutz, wirtschaftliche Verantwortung und den Respekt vor Freiheit und Sicherheit des einzelnen Menschen miteinander zu verknüpfen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist viele Jahre her, da hat ein Mann mit Namen Mahatma Gandhi gepredigt gegen gesellschaftliche Sünden. Wer sich hier im Deutschen Bundestag eines buddhahaften Gemütes rühmt, wird nichts dagegen haben, wenn man einen Menschen aus diesem Kulturkreis zitiert.
Diese gesellschaftlichen Sünden seien: Politik ohne Prinzipien, Geschäft ohne Moral, Reichtum ohne Arbeit, Erziehung ohne Charakter,
Wissenschaft ohne, Menschlichkeit und Genuß ohne Gewissen. - Ich will damit nicht sagen, daß Deutschland diesen Zustand erreicht hätte. Aber Sie sind hier 1982 angetreten mit den Sätzen - ich zitiere -:
Es geht darum, unser Land aus der schwersten Wirtschafts- und Finanzkrise seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland herauszuführen.
Zerrüttete Staatsfinanzen, Firmenzusammenbrüche, steigende Massenarbeitslosigkeit und deren harte Folgen für Millionen unserer Mitbürger dürfen und wollen wir nicht hinnehmen. Es muß ein neuer Anfang gemacht werden.
Jawohl, Sie haben recht: Es muß ein neuer Anfang gemacht werden, nachdem Sie Ihren Ansprüchen selbst dauernd ins Gesicht geschlagen haben.
Wir beraten hier das letzte Finanzwerk dieser Koalition.
Es trägt Züge eines Erbes, das die Kinder lieber nicht antreten würden.
Hier werden regierungsamtlich Ausplünderungen vorgenommen. Sie plündern die Gegenwart, und Sie plündern die Zukunft.
Es gibt leider viele Beispiele dafür. Nur, wir sind in einer anderen Rolle: Wir werden und wir wollen dieses Erbe antreten, damit es gewandelt und gebessert werden kann mit der Mehrheit unserer Landsleute, für die Zukunft unserer Kinder, für die Zukunft unseres Landes,
für seine wirtschaftliche Stärke und seine soziale Verantwortung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Politik, die wieder weitblickend und mutig, realistisch und ohne Illusion ist, Kooperation statt Konfrontation, Aufklärung statt Angstmache, Leistungseliten und Verantwortungseliten fördert,
Sicherheit schafft und Gerechtigkeit verwirklicht, neue Wege öffnet - eine solche Politik wird sehen, daß die Globalisierung eine Chance und eine Herausforderung darstellt zur Schaffung einer friedlicheren Welt und daß diese Chance nur von allen gemeinsam verwirklicht werden kann, durch gemeinsame Zusammenarbeit, durch Verständigung auf gemeinsame Regeln und Ziele und durch Ausgleich von Interessen.
Eine neue Politik sieht, daß die Bundesrepublik Deutschland gute Möglichkeiten hat, einen eigenständigen, gemeinsam mit den europäischen Partnern verabredeten Weg zu gehen und den großen Fähigkeiten, der großen Bereitschaft unserer Bürger zur Verantwortung in Wirtschaft und Gesellschaft Rechnung zu tragen.
Rudolf Scharping
Eine neue Politik wird die Motivation der Menschen ernst nehmen und sie an der Demokratie, am wirtschaftlichen Leben umfassend beteiligen. Unterordnung fordert die Menschen nicht, sondern verunsichert sie und läßt sie gleichgültig werden. Ihrer Politk fehlen Richtung und gemeinsames Ziel. Die Union hat die soziale Seite ihrer Geschichte zu den Akten gelegt.
Ludwig Erhards Vorstellungen vom gemeinsamen Fortschritt, von einer Verbindung ökonomischer Kraft und sozialer Verantwortung haben bei Ihnen keinen Platz mehr. Die CSU ist eine Stammtischpartei und die F.D.P. eine Klientelpartei.
Wir wollen mit der Mehrheit unserer Landsleute ein neues gesellschaftliches Bündnis schmieden: die soziale und solidarische Zivilgesellschaft. Wir wollen die Menschen nicht allein fit für den Weltmarkt machen, sondern wir wollen umgekehrt die Kräfte von wirtschaftlichem und technologischem Fortschritt nutzen, um das neue Jahrhundert menschenwürdiger zu gestalten.
Wir wollen einen Weg stoppen: den Weg, den Sie von der sozialen Konsensgesellschaft in eine Konfrontationsgesellschaft gegangen sind, einen Weg der Ausgrenzung, der - jedenfalls unter Jugendlichen und manchmal andernorts - nicht nur Ungerechtigkeit, sondern hier und da sogar Gewaltbereitschaft provoziert. Wir wollen einen neuen Weg gehen, der Zusammenhalt, Chancengerechtigkeit und Solidarität miteinander verknüpft.
Andere Länder in Europa haben das erkannt, verwirklichen diesen Weg, und sie haben verstanden, was in Deutschland noch nicht genug verstanden worden ist und von dieser Regierung komplett ignoriert wird: Es geht hier um mehr als nur um einen ökonomischen Wettbewerb. Es geht darum, eine gemeinsame Vorstellung vom menschenwürdigen Zusammenleben, von der europäischen Zivilisation neu zu begründen und unter neuen Bedingungen neu zu behaupten.
Zu diesem Neuanfang kann die Bundesregierung einen konstruktiven Beitrag leisten. Es ist ja erstaunlich, aber auch ganz offenkundig: Es gibt nur einen einzigen konstruktiven Beitrag, den Sie, Herr Bundeskanzler, dazu leisten können. Machen Sie den Weg zu dieser neuen Politik endlich frei! Das wäre wenigstens ein guter Abschluß Ihrer Arbeit.
In der Debatte spricht jetzt der Kollege Michael Glos.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist selbstverständlich das gute Recht der Opposition, die Aussprache zum Bundeshaushalt zur Kritik an der Regierung zu nutzen. Aber das, was Sie geboten haben, Herr Kollege Scharping, war
etwas wenig, es war sehr naiv, und es ist vor allen Dingen sehr stark an der Wirklichkeit vorbeigegangen.
Ihre Ausführungen zur Steuerreform haben gezeigt, daß Sie genausowenig zwischen 1998 und 1999 unterscheiden können wie zwischen brutto und netto und wie zwischen Mark und Peso.
Wirtschaftskompetenz bekommt man nicht dadurch, daß man medienwirksam zum BDI-Präsidenten aufs Segelboot steigt. Man bekommt sie genausowenig dadurch, daß man sich auf den Sitz eines Cadillacs flegelt und eine Havanna raucht, wie es Ihr Kollege Schröder tut, sondern indem man sich mit den Problemen der Wirtschaft auseinandersetzt und sich informiert, unter welchen Bedingungen Wirtschaft heute in einer globalisierten Welt funktioniert.
Herr Scharping, Sie haben von einem Telefonat mit einer Einzelhändlerin erzählt. Ich kenne keine Broschüre der SPD, die Hilfe in dieser schwierigen Zeit anbietet, zum Beispiel den Einzelhändlern.
Ich kenne lediglich Broschüren, die Ihren Namen tragen, die mit einem Vorwort von Ihnen versehen worden sind, in denen geraten wird, wie man Sozialhilfe besser mißbrauchen kann.
Ich darf hier eine Kostprobe vorlesen, Seite 25: „Muß das Auto verkauft werden?" Es wird davor gewarnt, daß neuerdings die Daten von den Zulassungsämtern an die Sozialämter weitergegeben werden. Es wird den Leuten geraten, das Auto auf den Partner umschreiben zu lassen. Da heißt es:
Das gilt allerdings nur, wenn Sie selbst Halter des Pkws sind. Gehört das Auto nicht Ihnen, sondern einem Verwandten oder Freund, der es Ihnen zum Fahren überläßt, kann das Sozialamt natürlich nicht den Verkauf fordern.
Das ist Ihre Beratung, Herr Scharping. Ihre Beratung bezieht sich darauf, wie man unsere öffentlichen Haushalte noch mehr strapazieren, wie man unser Sozialsystem mißbrauchen kann, und nicht darauf, wie wir eine Konsolidierung erreichen.
Michael Glos
Ich habe heute überhaupt nichts von Alternativen gehört. Sie haben keinerlei Alternativen anzubieten. Eine Partei, die sich in dieser schwierigen Zeit unseres Landes versagt, indem sie weder Alternativen anbietet noch machbare Lösungen im Bundesrat mitgestaltet, ist für die Übernahme der Verantwortung nicht reif. Ihr Spiel und Ihre Rechnung werden nicht aufgehen.
Die SPD hat keine Alternative zur Sicherung von Investitionen und damit Arbeitsplätzen. Die SPD hat keine Alternative zum Rentenreformgesetz, keine Alternative zur Gesundheitsreform und keine echte Alternative zur Steuerreform, sonst wären wir ein ganzes Stück weiter.
Wir sind gesprächsbereit. Auch sind wir dazu bereit, die Lohnnebenkosten schon 1998 abzusenken. Natürlich muß das mit einer Rentenreform verbunden werden, die den Namen verdient und die vor allen Dingen dafür Sorge trägt, daß diejenigen, die heute hohe Beiträge zahlen, auch noch morgen wissen, daß sie sichere Renten erhalten. Das wollen wir mit dem demographischen Faktor, den wir einbauen, fördern.
Die SPD ist gegen alles, was die Regierung vorschlägt, auch wenn es zum Nachteil unseres Landes ist. Sie möchten sich machtpolitische Vorteile verschaffen. Man ist um der Macht willen bereit, sich über das Gemeinwohl hinwegzusetzen.
Alles, was in diesem Land an Innovationen möglich war, ist gegen den erbitterten Widerstand der SPD geschehen, oder man hat sehr lange gebraucht, um die SPD ins Boot zu bringen.
Ich erinnere nur an die Privatisierung von Post und Bahn. Ich glaube, daß die Telekom-Privatisierung ein großartiges Stück Arbeit gewesen ist und sie vor allen Dingen dazu beiträgt, daß sich breite Schichten der Bevölkerung am Produktivvermögen beteiligen. Ich begrüße es, wenn sich viele deutsche Mitbürger, insbesondere Arbeitnehmer, an den großen Firmen beteiligen und dabei eigene Erfahrungen über das Wechselspiel von Kapital und Arbeit und darüber sammeln, was man tun muß, damit sich das Kapital rentiert. Wenn sich das Kapital in Deutschland nicht rentiert, dann geht es über die Grenzen und flieht aus Deutschland.
Das verstehen heute auch die Arbeitnehmer. Sie als Arbeitnehmerpartei verstehen diese Zusammenhänge offensichtlich nicht mehr. Das kommt daher, daß Sie die Stammtische zuwenig pflegen und sich statt dessen um irgendwelche akademischen Zirkel in Hinterstuben kümmern. Gehen Sie doch wieder zu den Leuten hinaus, und reden Sie mit ihnen. Dann wissen Sie, was die Leute wollen.
Wir haben eine Bilanz vorzuweisen - dafür bedanke ich mich beim Bundesfinanzminister, der in schwieriger Zeit eine gewaltige Arbeit geleistet hat -,
die sich sehen lassen kann: Seit 1990 haben wir Jahr für Jahr im Bundeshaushalt nachhaltige Einsparungen vorgenommen - gegen Ihren Widerstand. In der Summe hat dies ein Einsparvolumen von insgesamt 125 Milliarden DM jährlich wirksam erbracht. Wir haben Steuervergünstigungen in gewaltiger Höhe abgebaut; das summiert sich auf 50 Milliarden DM.
Ohne Sparen wäre die deutsche Einheit nicht zu finanzieren gewesen. Das ist die große Jahrhundertaufgabe, der wir uns gestellt haben. Teile von Ihnen haben die deutsche Einheit doch überhaupt nicht gewollt. Es ist deswegen auch überhaupt kein Wunder, wenn man die damit verbundenen Schwierigkeiten heute bagatellisiert und so tut, als ob das Sparen aus Jux und Dollerei geschehen würde.
Wenn wir heute Steuermindereinnahmen bei der veranlagten Einkommensteuer und bei der Körperschaftsteuer beklagen, dann kommt darin natürlich auch ein Stück steuerliche Förderung für die neuen Bundesländer zum Ausdruck. Wir müssen auch hier sehr dringend die Schlupflöcher stopfen, weil inzwischen manches Kapital etwas fehlgeleitet worden ist. Aber wir haben diese Chance gebraucht, damit sich etwas tut, damit gebaut wird, damit investiert wird.
Wenn die SPD-Opposition finanzpolitische Fehlentwicklungen beklagt, so muß sie vor allen Dingen vor der eigenen Tür kehren. In den SPD-regierten Bundesländern sieht es überall schlimm aus. Am allerschlimmsten sieht es dort aus, wo die beiden Kanzlerkandidaten der SPD in einem echten Wettbewerb um den Standort mit den höchsten Schulden in Deutschland stehen.
Von welchem deutschen Politiker stammt wohl folgender Satz: Man wird mich messen können an der Bewältigung dreier Probleme: erstens Abbau der enormen Staatsverschuldung im Land, zweitens Schaffung neuer Arbeitsplätze, drittens Bewältigung der Montankrise. - Herr Ministerpräsident Lafontaine, ich habe aus Ihrer Regierungserklärung im Jahr 1985 zitiert.
Wie sieht mittlerweile die Realität bei Ihnen im Land aus? Das Saarland weist nach Bremen die höchste Arbeitslosigkeit der alten Bundesländer mit 12,5 Prozent auf. Eine einsame Spitzenstellung nimmt das Saarland auch bei der öffentlichen Verschuldung ein: pro Einwohner 12 400 DM, mehr als das Doppelte des Bundesdurchschnitts. Wie rechtfertigen Sie, Herr Lafontaine, eigentlich gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern in den neuen Bundesländern, daß das Saarland pro Kopf der Bevölkerung jährlich mehr Finanzhilfen aus dem Bundeshaushalt erhält als jedes der neuen Bundesländer?
Michael Glos
Damit offensichtlich nicht genug. Unlängst war der „FAZ" zu entnehmen, daß man jetzt ein sogenanntes Saar-Memorandum beschlossen hat. Hier will man wieder milliardenschwere Finanztransfers von Theo Waigel. Anderen in die Tasche greifen und gleichzeitig „Haltet den Dieb" rufen, das ist eine miese, schäbige Methode.
In diesem unheiligen Wettbewerb um den Standort mit den höchsten Schulden in Deutschland sind Sie im Wettbewerb mit Gerhard Schröder. Die „Zeit", die vollkommen unverdächtig ist, auf seiten der CDU oder der CSU zu stehen, schreibt:
Das Land Niedersachsen war schon immer arm, aber seit Schröder es 1990 als Regierungschef übernahm, ist es noch ein bißchen ärmer geworden.
Das kann man in jeder Hinsicht sagen; das bezieht sich sicher nicht nur auf die Finanzen.
Seither erlebt das Land Niedersachsen einen rasanten Anstieg der Verschuldung. Der niedersächsische Staatsgerichtshof hat Schröders Regierung eine verfassungswidrige Haushaltspolitik konstatiert.
Herr Scharping, ich war nicht immer mit Ihnen einer Meinung. Auch heute hat man sich sehr schwer getan, mit Ihnen einer Meinung zu sein. Aber ich muß Ihnen noch einmal ein Stück Bewunderung heute hier entgegenbringen: Sie haben nämlich vor genau zwei Jahren - man muß daran erinnern; die Zeit ist sehr schnellebig - Gerhard Schröder als wirtschaftspolitischen Sprecher der SPD abgesetzt. Das war konsequent und richtig.
Ich sehe noch die Fernsehbilder vor mir, wie er diese Schreckensnachricht mit dem Handy auf dem Deich entgegengenommen hat, und als er dann gestützt auf seine Frau Hillu das alles gefaßt ertragen hat. Ich bin der Meinung: Bleiben Sie konsequent dabei; verhindern Sie, daß dieser Herr Schröder Verantwortung für die Wirtschaft und die Finanzen in Deutschland bekommt.
An dieser Stelle muß ich auch dem Präsidenten des BDI, Hans-Olaf Henkel, recht geben, der über Gerhard Schröder gesagt hat: Man muß unterscheiden zwischen dem, was er sagt, und dem Programm, das er in der Tasche hat.
Wie sieht es denn jetzt mit der Haltung des niedersächsischen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder bei der Steuerreform aus? Er hätte sich doch bei seinem Besuch in den USA dahin gehend beraten lassen können, daß die Steuern im globalen Wettbewerb natürlich einen Standortfaktor darstellen.
- Ja, er war zu oft in Kuba. Vielen Dank für den Hinweis. In Kuba wird er ja auch vom Präsidenten herzlich empfangen, während in den USA die Türen der Politiker zu Recht versperrt sind.
Er war bei Bill Gates. Statt auf Bill Gates zu hören, hat er den großen Gatsby gespielt. Bill Gates hätte ihm sagen können, unter welchen Bedingungen die Wirtschaft investiert.
Theo Waigel dagegen hat die größte Steuerreform in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland auf den Weg gebracht. Daß diese Steuerreform stekkengeblieben ist, ist nicht unsere Schuld, sondern es ist Ihre Blockadepolitik, die verhindert hat, daß wir auf diesem Gebiet schon weiter sind.
Ich sage noch einmal: Unser Konzept ist, runter mit den Steuersätzen für alle Einkommensstufen, damit bei uns im Land wieder mehr Leistungsanreize geschaffen werden,
damit Signale für Investoren gegeben werden. Weg mit den Steuerschlupflöchern, damit auch die Millionäre im Steuerparadies Hamburg wieder Steuern zahlen. Vor allen Dingen brauchen wir eine Nettoentlastung der privaten Haushalte und der Unternehmen, um Wachstum und Beschäftigung zu fördern.
Die Geschichte der SPD ist eine Geschichte von Fehlleistungen. Ich frage mich: Wie würden wir heute dastehen, wenn Rot-Grün die Verantwortung für dieses Land gehabt hätte? Sie waren gegen den Aufbau der Bundeswehr. Heute sind wir stolz, daß unsere Bundeswehr an der Oder so wirksam geholfen hat.
Sie waren gegen den Friedenseinsatz deutscher Soldaten in Bosnien. Es ist gar nicht lange her, daß wir hier erbitterte Auseinandersetzungen darüber geführt haben.
Sie waren gegen die neuen Technologien und beklagen heute, daß so wenig in neue Technologien investiert worden ist.
Sie sind nach wie vor gegen die Kernkraft, obwohl wir auf diesem Gebiet gerade bei der Stromerzeu-
Michael Glos
gung einen Vorsprung gegenüber vielen anderen Ländern haben.
Sie haben das neue Asylrecht lange bekämpft und abgelehnt. Zu uns ins Land wären sehr viel weniger Ausländer gekommen, wenn wir die Schlupflöcher eher gestopft hätten. Ein Teil des Arbeitsmarktproblems beruht darauf, daß wir in unserem Land zu viele Ausländer haben.
Ich komme gleich noch zu Herrn Schröder. Ich habe nicht die gleiche radikale Sprache wie Herr Schröder, aber man wird die Dinge noch beim Namen nennen dürfen.
Jahrelang haben CDU und CSU für die wirksame Bekämpfung der organisierten Kriminalität und das Abhören von Verbrecherwohnungen gekämpft. Erst jetzt, nachdem die Bedrohung immer mehr gestiegen ist, hat die SPD endlich zugestimmt. Ich finde das gut und richtig. Das zeigt, daß es nicht überall Stillstand gibt. Aber es war furchtbar teuer und hat lange gedauert, bis Sie es begriffen haben.
Anspruch und Wirklichkeit klaffen bei der SPD besonders dann auseinander, wenn es um die innere Sicherheit in unserem Land geht.
Die Bilanz von Herrn Voscherau ist verheerend. Die Kriminalitätsrate in Hamburg liegt an der Spitze deutscher Großstädte. Dort gibt es die Hälfte mehr an Verbrechen als in München. München ist eine vergleichbare Großstadt. In keiner Stadt Deutschlands werden so viele Menschen ermordet wie in Hamburg. Hamburg ist die Raubmetropole Deutschlands geworden. Die Gewaltkriminalität ist unter Herrn Voscherau um 53 Prozent angestiegen. Bei der Aufklärungsquote liegt Herr Voscherau mit Hamburg dafür am unteren Ende.
Innere Sicherheit ist heute ein Standortfaktor für ein Land und insbesondere für große Städte. New York hat erste Erfolge bei der Verbrechensbekämpfung erzielt, nicht zuletzt durch die massive und unmittelbare Bekämpfung der Kleinkriminalität.
Wir müssen das Übel bei der Wurzel packen. Null Toleranz für Verbrecher - das ist der richtige Weg. Mitleid mit dem Opfer ist eher angebracht als Mitleid mit dem Täter, wie es bei Ihnen immer herausklingt.
Die SPD und auch die grünen Helfershelfer wie Sie, Herr Fischer, haben jahrelang das Rechtsbewußtsein ausgehöhlt. Ich gehe gar nicht zurück bis in die Zeit, als man in Frankfurt den Straßenbelag zweckentfremdet hat,
sondern ich erinnere an Herrn Schröders Justizministerin Frau Alm-Merk, die zum Beispiel alle Diebstahlsdelikte unter 100 DM lediglich als Ordnungswidrigkeit einstufen will. Die Hamburger Hafenstraße ist unter den SPD-Regierungen zum Synonym für den geduldeten Rechtsbruch geworden.
Die SPD-Ministerpräsidentin in Schleswig-Holstein, Frau Simonis, will Haschisch in den Apotheken verkaufen.
Auf Grund des Standortwettbewerbs, in dem Hamburg, das sich ja immer irgendwie wirtschaftlich von seinem Umland bedroht sieht, steht, schlägt Herr Voscherau vor, Fixerstuben zu errichten und dort Spritzen und Rauschgift kostenlos auszugeben.
Völlig versagt hat die SPD in Hamburg bei der Bekämpfung der Jugendkriminalität.
- Jetzt hören Sie doch einmal einen Moment zu. Ich mache ja gerne eine Pause für Ihre Zwischenrufe.
Ich weiß, daß es Ihnen schwerfällt, sich anzuhören, was der renommierte Kriminologe Pfeiffer im Auftrag des Senats zusammengestellt hat: In Hamburg begehen immer mehr Jugendliche Straftaten - immer seltener werden sie dafür bestraft. Die Zahl der eingestellten Verfahren bei 14- bis 20jährigen Mehrfachtätern ist in Hamburg um 237 Prozent gegenüber dem Wert von vor sechs Jahren gestiegen. Selbst bei Körperverletzungen müssen in Hamburg immer weniger Jugendliche vor Gericht. Sanktionen unterhalb der Freiheitsstrafe werden nicht ausgeschöpft.
Diese Mißerfolge der SPD-Politik sind erschrekkend genug. Noch schlimmer aber ist, daß die Hamburger SPD versucht, diese Studie bewußt unter Verschluß zu halten, nach dem Motto: Nichts ist gefährlicher, als dem Bürger vor der Wahl die Wahrheit zu sagen.
Die Koalitionsfraktionen im Bundestag und vor allen Dingen der Freistaat Bayern im Bundesrat haben Vorschläge zur Verbesserung des Sexualstrafrechts gemacht. Ich bin der Meinung, daß es viel zu lange gedauert hat, bis dieses im Bundestag endlich be-
Michael Glos
schlossen wird. Jetzt war endlich eine Anhörung. Wir müssen den Menschen zeigen, daß wir auf solche Herausforderungen schneller reagieren und daß der Staat Kinder mit allen Mitteln vor Unholden schützen muß.
Wenn ich dann höre, welche Bedenken gerade aus Hamburg wieder im Bundesrat geäußert worden sind, daß man zum Beispiel die Sicherheitsverwahrung für Sexualstraftäter ablehnt, kann man als Vergleich für ganz schlimmes Verhalten bei der inneren Sicherheit nur noch Hannover heranziehen. Hannover steht sinnbildlich für die Chaos-Tage, Gerhard Schröder ist ein Chaos-Ministerpräsident, und das Chaos wird für immer mit dem Namen Schröder verbunden sein.
Wer nicht in der Lage ist, Hab und Gut von Besitzern kleiner Läden zu schützen - Herr Scharping hat ja heute seine Sorge um die Besitzer von kleinen Läden geäußert -,
der hat sich ein für allemal disqualifiziert.
Niedersachsen ist unter Herrn Schröder zu einem der attraktivsten Verbrechensstandorte in Deutschland geworden.
- Ja, das müssen Sie sich anhören. - Das Duo Schröder/Trittin hat dazu beigetragen, daß das Polizeigesetz geändert worden ist.
Herr Glos, darf ich Sie einmal unterbrechen? Solche Reaktionen im Parlament schaden uns allen in der Öffentlichkeit.
Wir haben uns Regeln gegeben.
Bitte hören Sie den Redner an. Es ist so nicht zu ertragen.
Frau Präsidentin, das Verhalten von Rot-Grün ist für mich nicht neu. Wenn der Spiegel der Wahrheit vorgehalten wird, dann tut es halt weh, und das äußert sich in Lautstärke. Gott
sei Dank haben wir hier eine Anlage, die mir immer noch ermöglicht, mich durchzusetzen.
Das Duo Schröder/Trittin - ich wiederhole das - hat in Niedersachsen wirksame Möglichkeiten der Verbrechensbekämpfung durch eine Änderung des Polizeigesetzes verboten: Verbot des Einsatzes verdeckter Ermittler, Verbot der Überwachung von Verbrecherwohnungen zur Gefahrenabwehr, Verbot der Rasterfahndung, Verbot von verdachtsunabhängigen Kontrollen auf Autobahnen, Verbot von Polizeieinsätzen gegen Störung der öffentlichen Ordnung. Jetzt findet bei Polizei und Justiz in Niedersachsen unter Verantwortung von Gerhard Schröder ein drastischer Personalabbau statt. 770 Stellen sollen bis zum Jahr 2001 gestrichen werden. Aber die Kriminalität liegt in Niedersachsen 30 Prozent höher als in Bayern. Die Aufklärungsquote dagegen ist um 30 Prozent niedriger.
Die SPD hat im Bundesrat regelmäßig notwendige Reformen des Ausländerrechts und Initiativen zur inneren Sicherheit blockiert. Die SPD in Hamburg und Niedersachsen hat allein neun Anträge im Bundesrat zur Stärkung der inneren Sicherheit abgelehnt. Das reicht von der Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels bis zur Verbesserung des Opferschutzes. Herr Schröder ist nicht einmal mehr in der Lage, gerichtlich durch alle Instanzen genehmigte Transporte zu gewährleisten. Wer Atomkraftgegner hätschelt, trägt Mitverantwortung für gewalttätige Ausschreitungen.
Auch Anspruch und Wirklichkeit in der Ausländerpolitik klaffen bei Herrn Schröder weit auseinander. Einerseits fordert er markig in der „Bild am Sonntag" vom 20. Juli dieses Jahres:
Wer unser Gastrecht mißbraucht, für den gibt es nur eins: Raus, und zwar schnell!
Die Realität: Im gesamten Jahr 1996 sind aus Niedersachsen nur vier verurteilte Ausländer abgeschoben worden. Das ist wieder die gewaltige Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit bei Herrn Schröder.
Überall, wo Rote und Grüne zusammen Politik machen, ist die Bilanz verheerend. Rot-Grün bedeutet Aufschwung der Kriminalität und Niedergang der Wirtschaft.
Der prozentuale Anteil der in Forschung und Entwicklung beschäftigen Personen im rot-grün regierten Hessen ist nur halb so hoch wie zum Beispiel in Bayern und Baden-Württemberg. Das schleswig-holsteinische Nein zum Transrapid ist ein Symbol für die zukunfts- und technologiefeindliche Politik dieses rot-grün regierten Bundeslandes. Wo immer Rot-
Michael Glos
Grün regiert, ist die Bilanz verheerend. Rot-grüne Repräsentanten in den Ländern entpuppen sich nach kurzer Zeit als politische Dilettanten. Wer unfähig ist, ein Bundesland zu regieren, der kann keinen Anspruch darauf erheben, Verantwortung für ganz Deutschland zu übernehmen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, nun ist mir - nachdem der Herr Fischer neuerdings so viel Wirtschaftskompetenz demonstrieren will - heute früh die „Abendzeitung" aus München in die Hände gefallen. Davon stand schon gestern etwas in der „Süddeutschen Zeitung". Ich möchte Ihnen hier einmal sagen, wie es mit der Finanzkompetenz der Grünen in Wirklichkeit aussieht.
Kein Geringerer als der Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bayerischen Landtag hat sich mit Geldanlage befaßt.
Er hat sein Geld zu einem Renditeversprechen von 72 Prozent per annum angelegt.
Das ist eine ganz tolle Geschichte, nicht? Aber er ist eingegangen. Er hat persönlich mein Mitgefühl.
Es ist ganz klar: Leicht verdientes Geld gibt man auch leicht wieder aus.
Offensichtlich ist die Arbeit eines Fraktionsvorsitzenden bei den Grünen nicht so schwierig. - Ich möchte nur vorlesen, was er gesagt hat, wörtlich aus dem Interview:
AZ: Gratulation zu Ihrem Geldgeschäft.
Manfred Fleischer: Da bin i ganz schön pratzelt worden.
Für die Nichtbayern: „Pratzelt" heißt „ausgeschmiert" . Also noch einmal:
Da bin i ganz schön pratzelt worden.
Er sagt weiter:
I bin sicher, daß ich von dem Geld nix mehr seh...
S' Pulver is furt.
Dann sagt er:
Hinterher is ma immer gscheiter.
I hab ma eigentlich gar nix dabei denkt.
Deshalb is so kemma, wies kemma is.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir müssen verhindern, daß dieses in Deutschland passiert und daß hinterher die Deutschen sagen: Wir haben uns damals nichts dabei gedacht. Es ist so gekommen, wie es kommen mußte.
Danke schön für die Aufmerksamkeit.
Es spricht der Fraktionsvorsitzende des Bündnisses 90/Die Grünen, Joschka Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Lage der Koalition muß schon schlimm sein, wenn sie eine solche Rede während der Beratung des Kanzleretats hier vortragen läßt.
Herr Kollege Glos, daß Sie hier den Manfred Fleischer zitieren, ist schon völlig in Ordnung. Nur, wenn Sie das ins Hochdeutsche übersetzen, könnte das in der Tat, wenn man sich die Haushaltsbilanz dieser Bundesregierung anschaut, eine Regierungserklärung des Bundeskanzlers gewesen sein.
In diesem Moment berät er Zukunftsfragen mit einem Minister, der immer dünner und schmaler wird, weil sein Haushalt immer geringer wird,
obwohl er wachsen sollte.
Herr Bundeskanzler, ein Sommer des Mißvergnügens ist für Sie zu Ende gegangen; ein Sommer des Mißvergnügens, den Sie vor allem Ihrem Finanzminister verdanken. Gestatten Sie mir, daß ich auf diese Entwicklung noch etwas eingehe.
Ich hätte es nicht für möglich gehalten, daß das Debakel der konservativ-liberalen Regierung um das Gold der Bundesbank - in Finanzfragen sehen Sie den Kernbereich Ihrer Kompetenz; der Glaube im Volk, Konservative könnten mit Geld umgehen, Konservative seien in Geldfragen solider als Grüne und Sozialdemokraten, ist ein Irrglaube, wie sich herausgestellt hat -, im Zuge dessen Sie mit den primitiv-
Joseph Fischer
sten Konkursverschleppungstricks einer Nachbilanzierung Ihre 3,00 Prozent erreichen wollten, noch steigerungsfähig ist. Aber die Kreativität von Theo Waigel nimmt mit jedem weiteren Haushaltsloch, das er in seinem Haushalt findet, exponentiell zu.
Wer hätte das für möglich gehalten, während der Bundeskanzler ruhig seine Bahnen im Wolfgangsee zog?
Bevor er in den Urlaub fuhr, hat er vor der Bundespressekonferenz eine furchtbare Drohung ausgestoßen, indem er uns mitteilte: Wenn die Opposition in der Steuerreform nicht endlich auf Regierungskurs geht, dann werden wir 14 Monate Wahlkampf machen. Daß der Wahlkampf dann so aussieht, wie das Theo Waigel gemacht hat, haben wir uns nicht vorgestellt.
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Weil ich gerade das versammelte Kabinett sehe, muß ich sagen: Sie schauen alle so lieb, nachdem Ihnen in diesem Sommer Theo Waigel einen Leistungsnachweis nach dem anderen ausgestellt hat. Der Blick von Theo Waigel war in diesem Punkt von Realitätssinn geprägt. Er schaute auf das Kabinett und sagte: Mit der Truppe werden wir die Wahlen nicht gewinnen; wir müssen das Kabinett ändern.
Das hatte ganz offensichtlich auch der Bundeskanzler vor. Also schritt Theo Waigel zur Tat, indem er dem „Spiegel" ein Interview gab. Dort sagte er:
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kamerad, es wäre schön gewesen,
aber jetzt müssen wir die neue Mannschaft bilden.
- Das alles ist nicht zum Lachen; denn ich werde nachher auf die Finanzpolitik zu sprechen kommen, die von mehr Irrsinn geprägt ist als das, was ich jetzt vortrage.
Da geht es direkt um die Interessen unseres Landes und nicht um ein regierungsinternes Affentheater.
Derselbe Minister hat 14 Tage vorher in einem der üblichen Servilitätsinterviews des Bayerischen Rundfunks mit hochmögenden Köpfen, mit Großkopferten der CSU, ein ganz anderes Interview gegeben. Kamerad Waigel sagte dort:
10 Jahre oder 9 Jahre Finanzminister ist genug.
Das ist mehr als jeder von mir erwarten konnte. Ich habe da meine Pflicht getan und tue sie. Aber dann reicht's auch.
Es reicht in der Tat, Herr Finanzminister. Wir sind der Meinung, Sie sollten schleunigst zurücktreten.
Denn Sie müssen sich in der gegenwärtigen Situation, in der es um die Herstellung verläßlicher Investitionsbedingungen geht, einmal folgendes vorstellen: Derselbe Finanzminister stellte sich gestern hier hin - nach neun Jahren Theo Waigel
- gut, nach acht Jahren; das sind acht Jahre zuviel - und verkündete: Wir müssen verläßliche, zukunftsfähige Steuerbedingungen schaffen. - Er hat damit eine schöne Oppositionsrede gegen sich selbst gehalten.
Er stellt sich hier hin und sagt: Wir müssen verläßliche Investitionsbedingungen schaffen. Herr Waigel, wer hat denn seit acht Jahren die Verantwortung für verläßliche Investitions- und Steuerbedingungen? Das sind doch Sie!
Wenn Sie Ihr Amtsverständnis nur ein bißchen ernst nehmen würden, dann müßten Sie die Konsequenzen aus diesen sommerlichen Einsichten ziehen und schleunigst zurücktreten, um Ihren Amtseid zu realisieren, nämlich Schaden von diesem Volke abzuwenden.
Sie haben es geschafft - semantisch durchaus reizvoll -: Sie sind jetzt ein designierter Ex-Finanzminister.
Das muß man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Ihr Bundeskanzler nennt Sie Finanzminister mit Verfallsdatum. Es geht um die Herstellung verläßlicher Investitionsbedingungen durch einen Finanzminister mit Verfallsdatum, der ganz offensicht-
Joseph Fischer
lich keine Lust mehr hat. Das merkt man seiner Amtsführung an.
Es geht um das Schaffen einer zuverlässigen und zukunftsfähigen Steuerbasis. Dieser Finanzminister, der jetzt dauernd durch die Gegend rennt und sagt, die Opposition blockiere, war doch derjenige, der das Bareis-Gutachten in den Papierkorb geworfen hat.
Wir können seitenweise zitieren, was Sie, Herr Finanzminister, gesagt haben, nämlich daß Sie eine große Steuerreform mit dieser Koalition nicht für durchsetzbar halten, daß die Interessenwidersprüche zu groß sind und daß Sie eine große Steuerreform nicht wollen. Das prägt Ihre gesamte Amtsführung. Sie sind unfähig, eine zukunftsfähige Steuerbasis herbeizuführen. Dies ist ein Trauerspiel.
Man muß dann noch wissen, daß dieser Finanzminister in seiner Verantwortung mehr Schulden angesammelt hat als alle anderen Finanzminister zusammen. Das läßt sich nicht nur mit der deutschen Einheit erklären. Im Gegenteil: Was wir Ihnen vorwerfen, ist nicht die Tatsache, daß die deutsche Einheit diese einmaligen Sonderlasten mit sich gebracht hat, sondern die Tatsache, daß Sie daraus keine Konsequenzen für eine konsistente Finanzpolitik, für eine konsistente Haushaltspolitik gezogen haben. Ein Finanzminister ist doch nicht dazu da, immer nur ja zu sagen.
Sie wissen so gut wie wir - die ganze CDU/CSUFraktion weiß es -, daß es angesichts der Lasten für den Aufbau Ost ein haarsträubender Irrsinn, eine Versündigung an den Interessen unseres Landes ist, den Solidaritätszuschlag jetzt zu senken bzw. abzuschaffen.
Sie hätten, wenn Sie ein verantwortungsvoller Finanzminister gewesen wären, der seinen Amtseid ernst nimmt, Ihren Bundeskanzler vor die Alternative stellen müssen: Kamerad Helmut, entweder läßt du diesen Blödsinn mit der F.D.P. sein, oder ich trete zurück. Sie wissen so gut wie wir, daß Sie angesichts der Haushaltslage und der Lasten des Aufbau Ost, die wir schultern müssen - wenn wir das vertagen, wird es sehr viel teurer werden -, den Bundeskanzler vor diese Alternative hätten stellen müssen. Dazu waren Sie nicht willens und nicht in der Lage. Das hat Sie zu einem schwachen, zu einem erbärmlichen Finanzminister gemacht, wie dieser Sommer gezeigt hat. Damit haben Sie jeden Kredit verspielt.
Die Verantwortung dafür trägt der Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl. Es ist seine Politik. Der Finanzminister war in diese Vorgaben eingebunden und eingeklemmt zwischen den Interessen der Klientelpartei F.D.P., der Partei des neuen Egoismus, und den Forderungen des Herrn Stoiber nach 3,00 Prozent, nämlich dem großen Ziel, daß wir die Punktlandung beim Defizitkriterium schaffen. Die werden wir sogar schaffen; denn mit den Mitteln der höheren Statistik geht alles. Mit den Realitäten aber hat das nicht sehr viel zu tun. Das wissen Sie so gut wie ich. Insofern kann man sich diese Debatte schenken. Die Verantwortung dafür trägt der Bundeskanzler.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Erblast. Nun, ich bin mittlerweile alt genug; ich kann mich an diese Debatte noch erinnern. Mit der Erblast sind Sie an die Macht gekommen, von der Erblast haben Sie jahrelang gelebt, und die Erblast, fürchte ich, wird Sie auch die Macht wieder kosten.
Mit 1,8 Millionen Arbeitslosen sind Sie angetreten; heute haben wir 4,3 Millionen Arbeitslose. Auch wenn Sie den Faktor deutsche Einheit - ich möchte hier nicht blind polemisieren - hinzurechnen, bleibt festzuhalten: Auch in Westdeutschland haben wir einen dramatischen Anstieg der Arbeitslosigkeit zu verzeichnen. Wenn man bei Ihnen eine Politik gegen die Arbeitslosigkeit sucht, findet man nichts - trotz Ihres Versprechens, die Arbeitslosigkeit zu halbieren. Konsequenz: Diese Bundesregierung hat durch gesetzliche Maßnahmen in den vergangenen Monaten dazu beigetragen, daß die Arbeitslosigkeit steigt.
Im Mai hat Herr Jagoda - weiß Gott für uns ein unverdächtiger Zeuge -, der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, in seiner Pressekonferenz gesagt: In diesem Jahr ist die Arbeitslosigkeit vor allem auch deswegen angestiegen, weil drei Faktoren eine Rolle gespielt haben: erstens die Unfähigkeit dieser Regierung, die Probleme der Bauwirtschaft zu lösen; zweitens die Verlagerung von AB-Maßnahmen, das Kürzen, das Zerschlagen von ABM-Strukturen, das Kürzen im gesamten Ausbildungsförderungsbereich durch diese Regierung auf Grund der Haushaltsnöte. Die Menschen haben sich nicht in Luft aufgelöst, sondern sie sind natürlich bei der Arbeitslosenhilfe wieder aufgetaucht. Das heißt, es war eine reine Umbuchung - mit der Folge, daß diese Menschen jetzt arbeitslos und ohne Perspektive sind. Das dritte, was Herr Jagoda angeführt hat, war die Gesundheitsreform. Alles drei falsche Entscheidungen dieser Bundesregierung, die nicht zu einer Halbierung der Arbeitslosigkeit geführt, sondern zu einer Aufblähung der Arbeitslosigkeit beigetragen haben. Das ist die Realität!
Wissen Sie, Herr Glos, wir erwarten von der CSU nicht, daß sie unsere ausländerpolitischen Positionen vertritt. Ich teile Ihre Positionen auch nicht. Dieses Land hat in den vergangenen Jahrzehnten von der Zuwanderung kulturell und materiell massiven Gewinn gehabt. Das hat unser Land offener gemacht. Es hat uns sehr viel gebracht. Die Menschen-
Joseph Fischer
sind hierher gekommen, weil Deutsche sie darum gebeten haben.
Ich kann mich an die Anwerbungsbüros in Südeuropa noch sehr gut erinnern. Ich sage ganz klar: Die politischen Flüchtlinge sind auch wenn sie von Ihnen nicht erbeten waren, für dieses Land - ich sage das bewußt - kulturell, moralisch und materiell ein großer Gewinn. Viele CSU wählende bayerische Unternehmer sehen das genauso. Wenn sie einen bosnischen Flüchtling haben, der bei ihnen eine hervorragende Arbeit macht, wollen Sie ihn nicht mehr verlieren, auch wenn Sie ihn ausweisen wollen.
Wir können hier unterschiedlicher Meinung sein, Herr Glos, und wir sind unterschiedlicher Meinung. Aber: Wenn Sie sich als Vertreter der CSU hier hinstellen und sagen, es sind zu viele Ausländer in diesem Lande,
dann hören Ihnen Leute zu, die aus dieser primitiven Polemik nicht die Konsequenz ziehen, CSU zu wählen, sondern die daraus eine ganz andere Konsequenz ziehen.
Wenn wir hier über Kriminalität diskutieren, dann müssen wir darüber diskutieren, daß für Teile unserer Bevölkerung in bestimmten Gebieten dieses Landes der Grundrechtsschutz in Teilen faktisch außer Kraft gesetzt ist, daß es blutige Angriffe auf Ausländerinnen und Ausländer gibt, die wir alle verurteilen. Ich unterstelle Ihnen nicht, daß Sie das wollen. Aber Sie müssen wissen, welche Konsequenzen solche Worte haben, wenn Sie das in dieser Form hier sagen.
Deswegen sage ich ganz bewußt: Wir müssen ein weltoffenes Land bleiben, wir müssen ein minderheitenfreundliches Land bleiben. Wir wollen mit Ausländerinnen und Ausländern zusammenleben.
Ich sage Ihnen noch ein Weiteres, Herr Glos: Wenn der Bundesinnenminister jetzt meint, man müsse nichtdeutschen Studenten die Möglichkeiten, in Deutschland zu studieren, einschränken, während hier gleichzeitig verkündet wird, wir leben im Zeitalter der Globalisierung, dann kann ich nur sagen: Ein weiteres Beispiel von Irrsinn in dieser Regierung.
Herr Bundeskanzler, wir haben unter Ihrer Regierung die höchste Steuer- und Abgabenlast. Erinnern Sie sich: Sie wollten die Steuern für den Aufbau Ost nicht erhöhen. Das hat zu einer Explosion der Lohnnebenkosten geführt. Das hat deutsche Arbeitskosten verteuert. Das bestreitet heute niemand mehr. Ich muß nur das „Handelsblatt" oder die „FAZ" aufschlagen; überall findet man dasselbe „Ceterum censeo". Selbst Norbert Blüm verkündet dieses.
Wenn Sie sich die Zahlen anschauen, dann werden Sie feststellen: Wir liegen bei der Steuer- und Abgabenquote überhaupt nicht an der Spitze in Europa, im Gegenteil. Wenn Sie sich ferner die Spitzensteuersätze ansehen - das sollten Sie einmal tun; Ihre eigene Regierung hat sie ja veröffentlicht -,
dann werden Sie feststellen: Wir liegen auch da überhaupt nicht an der Spitze. An der Spitze liegen wir aber bei den Bruttolohnkosten und das vor allen Dingen als Folge der deutschen Einheit. Damals kam es zu einer Explosion. Warum? Sie haben den Sozialversicherungsträgern und damit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und den Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern eine Last aufgebürdet, die Sie dem deutschen Volk als Ganzem in Form von Steuererhöhungen hätten zumuten müssen. Aber das wollten Sie 1990 nicht. Das ist der Fluch der bösen Tat.
Wir haben gegenwärtig 150 000 Jugendliche ohne Lehrstelle. Ich möchte ein besonderes Augenmerk auf die Jugend im Osten richten. Wissen Sie, gegenwärtig wird eine Debatte über die Sicherheitslage in New York geführt. Dabei erbittert mich, daß die Realität nicht mehr gesehen wird. Angesichts einer krisenhaften Zuspitzung der Ökonomie durch eine „fertige" Regierung glaubt man nun, man müsse diese Debatte auf einem solchen Niveau führen, bei dem man die Fakten ausblendet und nur noch auf Ängste setzt. Wir haben zwar das Problem von Gewalttätigkeiten Jugendlicher in Ostdeutschland. Aber ich frage Sie: Wer hat sich denn seit 1990 um die ostdeutsche Jugend tatsächlich gekümmert? Welche Rolle haben sie denn bei Ihrer Einheitspolitik gespielt? Sie haben doch mit Ihrer Einheitspolitik dort eine verlorene Generation produziert, die jetzt in ihrer Verzweiflung zu Gewalt greift, was zwar nicht hinzunehmen ist, was man aber wissen muß, wenn man die Ursachen klären will. Ich sage Ihnen, ursächlich waren Sie.
Jetzt wollen Sie in diesem Bereich weitere Kürzungen vornehmen. Man muß Jugendgewalt dort, wo sie aktuell auftritt, mit allen Mitteln des Staates entgegentreten. Aber noch besser ist es sie vorbeugend zu verhindern. Das läßt sich am besten durch mehr Sozialarbeit und durch mehr Angebote an Juqendliche machen. Aber wenn Sie auf Grund Ihrer völlig verfehlten Haushaltssanierung und Steuerpolitik gleichzeitig die Kassen der Kommunen plündern, dann dürfen Sie sich nicht wundern, wenn Ihnen anschließend die Brocken um die Ohren fliegen, wenn
Joseph Fischer
diese Gesellschaft, anstatt zusammengeführt, auseinandergetrieben wird.
Schauen wir uns die Situation weiter an. Der entscheidende Fehler, Herr Bundeskanzler, den Sie gemacht haben, war ein strategischer Großfehler beim Aufbau Ost. Es zeigt sich jetzt, daß die Weitsicht bei der Frage, was mit der deutschen Einheit, die Sie ja herbeigeführt haben, zu tun ist, wirklich gefehlt hat und immer noch fehlt. Wir sind in der Situation - das muß sich die F.D.P. einmal auf der Zunge zergehen lassen -, daß Sie Teilhaber am größten keynesianischen Programm der Wirtschaftsgeschichte namens deutsche Einheit sind. Wir sagen ausdrücklich ja zu diesem Programm, damit Sie uns nicht mißverstehen. Das Dilemma ist nur: Wir finanzieren dort - nicht vollständig, aber überwiegend - in alte Strukturen, die sich in Westdeutschland bereits als überholt erwiesen haben. Das heißt, die Bundesrepublik Deutschland gibt - zu Recht - pro Jahr über 100 Milliarden DM im Nettotransfer für den Aufbau Ost aus; aber davon ist ein großer Teil Investitionen in alte Strukturen, die sich in Westdeutschland bereits als erneuerungsbedürftig erwiesen haben. Eine absurde Strategie, meine Damen und Herren! Das ist eines der zentralen Probleme dieser Koalition.
Das macht die großen Probleme mit dem Strukturwandel aus, weil Ihnen die finanziellen Möglichkeiten fehlen.
Herr Bundeskanzler, Sie hätten 1990 bis 1993, als der Einheitsboom dieses Land ökonomisch vorangebracht hat, doch die Möglichkeit gehabt, eine Steuerreform zu machen. Warum haben Sie es damals nicht getan? Damals wäre eine Nettoentlastung mit einem gewissen. Selbstfinanzierungseffekt durchaus vertretbar gewesen. Warum wurde es damals nicht gemacht? Ich will es Ihnen sagen. Sie waren damals der Meinung: Wir machen das großartig; die Dinge laufen hervorragend; meine Mehrheiten sind gesichert; ich brauche mich nicht zu bewegen; die Dinge entwickeln sich von selbst; Wirtschaft findet in der Wirtschaft statt, wie die große ökonomische Leuchte, Herr Rexrodt, einmal gesagt hat.
Damit haben Sie den Strukturwandel verschlafen: Sie haben den ökonomischen Strukturwandel verschlafen; Sie haben den finanzpolitischen Strukturwandel verschlafen; Sie haben den ökologischen Strukturwandel verschlafen. Das alles wird jetzt bei den abhängig Beschäftigten und bei den Beziehern unterer Einkommen abgeladen. Das ist das Kennzeichen Ihrer Steuerreform.
Lassen Sie mich jetzt noch einen Augenblick beim Haushalt bleiben; denn wir diskutieren ja über den
Haushalt. Es gab ursprünglich eine Nettoneuverschuldung von 56 Milliarden DM; jetzt, mit dem Nachtrag, sind es 71 Milliarden DM. Allerdings haben selbst die Klausur im Kloster Andechs und inständiges Beten zu allen Heiligen und Märtyrern nichts genützt:
Der Finanzminister kann beim besten Willen nicht sagen, ob es am Ende nicht mehr werden, das heißt, ob seine Planungen nicht wieder Makulatur werden. Jetzt kommt es zu einem Aufstand der Haushälter, die sich weigern, noch irgendeine Vorlage von Waigel zu beschließen. Einen größeren Mißtrauensbeweis gegenüber einem Finanzminister gibt es ja wohl nicht.
Es wurde von einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts geredet; das Grundgesetz mußte bemüht werden. Das alles kam nicht über Nacht. Das wurde Ihnen in Debatten vorhergesagt; das läßt sich nachlesen. Beide Oppositionsfraktionen haben Ihnen penibelst vorgerechnet, wie es kommen wird, und Ihnen gesagt, daß Ihre Zahlen illusionär sind. Aber Sie haben entlang der Linie, die Sie seit der deutschen Einheit vertreten haben, nämlich Täuschen und Verschieben, weitergemacht.
Dann griffen Sie, Herr Waigel - das ist wieder ein Stück aus dem Tollhaus -, zur Privatisierung. Man muß sich das einmal vorstellen: Es sind Notverkäufe und Scheinverkäufe.
Der Bund verkauft an eine 100 prozentige Tochter die Telekom-Aktien und parkt sie da.
- Alles Quatsch? Daß Sie das überfordert, Herr Glos, das weiß ich. Aber Quatsch ist das nun wirklich nicht.
Ich stelle Ihnen einmal die Liste vor - es ist wirklich kabarettreif; es ist traurig, aber wahr, es ist die Politik der Bundesregierung unter Dr. Helmut Kohl -, was in dieser Not an Privatisierung angegangen wird. Telekom: Man sagte, die deutschen Arbeitnehmer sollten sich an der Telekom beteiligen. Warum aber wurde dieses Paket an Telekom-Aktien zurückgehalten? - Zum Zwecke der Alterssicherung für ausscheidende Telekom-Mitarbeiter. Das heißt: Ab dem Jahr 2000 werden Sie die Mittel dafür nicht mehr peu à peu durch den Verkauf von Telekom-Aktien realisieren können, Herr Glos, sondern Sie werden das dann aus dem Bundeshaushalt finanzieren müssen. Das ist eine Verlagerung der Kosten in die Zukunft; das ist alles.
Joseph Fischer
Dann kam die Aktion „Gold der Bundesbank". Das hat auf Grund des internationalen und nationalen Aufschreis nicht funktioniert, und die Not war doppelt groß. Dann entdeckte man eine Bundesrohölreserve, angelegt im kalten Krieg. Die cleveren Jungs der Bundesregierung kamen dann auf die Idee, daß man doch andere Reserven habe. Also wurde die nationale Erbsenreserve entdeckt und entsprechend bewertet. Aber bei der Erbsenreserve bleibt es nicht. Im Urlaub las ich in seriösen, konservativen Blättern, man plane die Privatisierung der Notrufsäulen an den deutschen Bundesautobahnen.
Ich fragte mich allen Ernstes, wann denn diese Bundesregierung zurücktritt; denn so etwas darf doch nicht wahr sein. Jetzt lese ich, man wolle, um die 3,000 zu erreichen, in die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung auch noch die Schwarzarbeit einrechnen.
Meine Damen und Herren, das ist nicht die Münchner Lach- und Schießgesellschaft, sondern das sind Theo Waigel und Helmut Kohl, das ist unsere Bundesregierung in einer der schwersten Krisen, die wir je hatten.
Herr Bundeskanzler, unter Ihrer Ägide ist die Investitionsquote in den letzten Jahren beständig zurückgegangen. Wenn wir weniger investieren, werden die Spielräume für den Strukturwandel immer geringer. Schauen Sie sich doch - Herr Kollege Scharping hat es gesagt - den Bereich Wissenschaft und Bildung an: Als Sie 1982 angetreten sind, war dieses Land bei den Investitionen für Wissenschaft und Bildung auf Platz zwei. Wenn Sie spätestens im nächsten Jahr abtreten werden, werden wir auf Platz sechs sein, und das in einer Situation, in der jeder Sachverständige, auch Ihr zuständiger Fachminister sagt, daß der nächste große Zyklus auf die Ressource Wissen gegründet sein wird. In einer solchen Situation begreifen Sie als zukunftsfähige Politik, daß wir von Platz zwei auf Platz sechs zurückfallen.
Das gleiche gilt für den großen Faktor ökologischer Umbau, der damit eng zusammenhängt; denn eine auf Wissen gegründete Welt wird sich auch in einem hohen Maße den ökologischen Problemen stellen müssen. Ich habe in einer - wiederum sehr konservativen - Zeitung, dem „Handelsblatt", einen hochinteressanten Artikel über den ökologischen Zustand Chinas, den wir immer prophezeit haben, gefunden. Hier geht es aber nicht nur um eine schlimme Last, darum, sie zu bewältigen, sondern auch um Märkte von morgen. Die Märkte von morgen werden wir aber nur bestimmen können, wenn wir den ökologischen Strukturwandel bei uns endlich energisch voranbringen.
Wie sieht es denn da bei Ihnen aus? Wie ist es mit der ökologischen Steuerreform? Damit kämen wir
endlich von den hohen Lohnnebenkosten herunter, was ein wichtiger Punkt im Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit ist. Aber das ist mit Ihnen nicht zu machen, weil Sie vor den Interessen derer, denen Sie auf den Schlips treten müßten, in die Knie gehen. Aber es ist ein historisch notwendiger Schritt, im Zeitalter der Globalisierung zu einer ökologischen Steuerreform zu kommen. Gegenwärtig finden Sie, Herr Bundeskanzler - das haben Gespräche in Frankreich gezeigt -, eine beachtliche Zustimmung zu einer ökologischen Steuerreform auf europäischer Ebene. Ich bin gespannt, ob Sie den Beschäftigungsgipfel, den Sondergipfel der EU im November, nutzen werden. So wie Sie mich gerade angucken, werden Sie ihn nicht nutzen.
Auch hier werden wir wieder eine Fehlanzeige zu vermelden haben, meine Damen und Herren.
Was könnten wir jetzt mit der ökologischen Steuerreform machen? Was könnten wir machen, Ihr Musterliberalen, wenn wir endlich die letzten Monopole in diesem Land aufbrächen, die Strommonopole? Das wäre doch wunderbar. - Wir schieben doch, wo es nur geht.
- Hören Sie doch auf, mein Lieber! Der entscheidende Punkt ist doch ein anderer. Der entscheidende Punkt ist, daß die F.D.P. nicht mehr die Partei des Mittelstands ist, sondern die Partei der großen Wirtschaftsinteressen.
Wie verhindern Sie, Herr Rexrodt, Durchleitungsrechte für staatlich garantierte Monopole, ohne daß es vorher zur Harmonisierung kommt? Diese Debatte führen Sie doch mit Verve bei der Deregulierung der Telekommunikation. Ich würde mir wünschen, Sie verträten dieselben Positionen auch bei der Deregulierung des Stromsektors; dann wären Sie glaubhafter. Was könnten wir da an Arbeitsplätzen schaffen!
Schauen Sie sich doch nur das kleine Beispiel der „Windenergie" an, wozu es mittlerweile eine wirklich parteiübergreifende Konstellation gibt. Dank der Initiative auch der Bundesregierung, die wir lange eingefordert haben, sind wir mit einer verbesserten Einspeisevergütung in eine Zukunftsinvestition eingestiegen. Dies wollen Sie nun unter dem Druck der Stromwirtschaft wieder zurücknehmen. Wir haben durch meine Kollegin Hustedt ein mehrheitsfähiges Konzept vorgelegt. Herr Bundeskanzler, Sie müssen das nur realisieren. Sie finden dafür Zustimmung bis in Ihre Fraktion hinein. Lassen wir also den Blödsinn, der Windenergie die Zukunft zu nehmen! Verhindern wir diesen Rückschritt, den irgendwelche Rückständigen in den Reihen von F.D.P. und CDU/CSU - es sind nur einige wenige - aus Wirtschaftsinteressen
Joseph Fischer
durchsetzen wollen! Dafür finden Sie hier eine breite Mehrheit.
Im Bereich der Verkehrspolitik wollen Sie, meine Damen und Herren, die Bahn entschulden, aber jetzt bürden Sie ihr neue Schulden auf. Gleichzeitig erhöhen Sie den Straßenbautitel. Das muß mir einmal einer erklären. Das ist ein weiteres Stück Irrsinn aus dem Hause Waigel, aus dem Hause Kohl.
Deswegen müssen wir all diese Dinge anpacken. Gleichzeitig müssen wir endlich ernst machen mit einer Reform des öffentlichen Dienstes, die den Namen verdient und nicht nur halbherzig ist. Glauben Sie denn allen Ernstes, daß wir mit unserem bezopften Berufsbeamtentum - das geht nicht gegen den einzelnen Beamten, der teilweise mit hoher Motivation arbeitet, aber in einer völlig falschen Struktur steckt -, mit diesen Instrumenten des fürstlichen Absolutismus des 18. Jahrhunderts, in das Zeitalter der Globalisierung, in eine vernetzte Welt, eintreten können und dabei auch noch Erfolg haben werden? Hier sind die notwendigen Strukturveränderungen vorzunehmen.
In aller Kürze noch zur Rente. Ich gehöre nicht zu denen, die kritisieren, daß Sie endlich anfangen, die Wahrheit zu sagen, die Sie seit weit über einem Jahrzehnt kennen. In Rentenfragen sind die Bremswege sehr, sehr lang. Kohl und Blüm haben immer verkündet: Die Rente ist sicher. Im Jahr 2013 ist sie nicht mehr sicher, sagt der Bundeskanzler. Das habe ich nachgerechnet: Ich bin Jahrgang 1948. Was werde ich im Jahr 2013? 65.
Ich kann Ihnen nur sagen, Herr Glos: Die Rentendebatte ist keine Debatte, die die aktuelle Elterngeneration betrifft, sondern eine Debatte, die meine Generation und die jüngere Generation betrifft, also viele hier im Haus. Ich finde es nicht kritisierenswert, wenn Sie die Debatte zwischen Blüm und Biedenkopf führen. Ich fürchte nur: So, wie es gegenwärtig angelegt ist, wird Biedenkopf in Gestalt von Blüm recht bekommen.
Das heißt: Wenn es so weitergeht, wenn wir nichts tun, dann bekommen wir die beitragsfinanzierte Grundrente. Das wäre die schlechteste Variante, die ich mir vorstellen kann.
Eine Alternative wäre die, Privatisierung à la F.D.P.: Dann geht es dem, der privat für das Alter vorgesorgt hat, gut. Wo aber ist die Krankenschwester, wo ist der normale durchschnittliche Arbeitnehmer, die bzw. der mit seinem Verdienst entsprechend vorsorgen kann? Das muß mir einmal jemand sagen.
Eine andere Alternative wäre, neue Wege zu gehen. „Neue Wege" heißt: neuer Generationenvertrag. Ein neuer Generationenvertrag muß berücksichtigen, daß der Arbeitsplatz, wie wir ihn in den vergangenen 40 Jahren gekannt haben, in einer globalisierten Welt eher die Ausnahme als die Regel ist. Wir müssen neue Arbeitszeitformen schaffen, neue soziale Sicherungssysteme schaffen.
Wir aber behaupten: Wir brauchen strukturelle Veränderungen unseres Rentensystems. An erster Stelle geht es darum, die Lasten gerecht zu verteilen und nicht alles bei der heute aktiven Generation abzuladen.
Das setzt voraus, daß wir in der Tat über das Anwachsen der Rentenbeträge reden und darüber eine Vereinbarung treffen müssen.
- Ich hoffe, Sie klatschen weiter.
Wir sind der Meinung - die Erfahrungen in der Schweiz sind hervorragend -, daß alle, auch Selbständige und Beamte, in das Rentensystem aufgenommen werden sollten.
Die Schweiz ist kein Beispiel, von dem Sie sagen könnten, es wäre eine sozialistische Erfahrung. Wir halten es für eine sehr gute Erfahrung.
Für die schwierigen Jahre 2013 und vor allen Dingen 2020 folgende müssen wir vermutlich sogar einen Tick über die heutige Schwelle der Rentenbeiträge gehen, um einen zusätzlichen Anspareffekt für die Kapitalbildung zu haben und diese Jahre bewältigen zu können.
In einer globalisierten Welt, meine Damen und Herren, sehe ich keine andere Möglichkeit bei einer wachsenden älteren Bevölkerung. Wir werden alle älter - Gott sei Dank. Es ist allen zu wünschen. Auf Grund der höheren Lasten werden wir mehr Vorsorge betreiben müssen. Es führt bei abnehmender Lohnsumme, bei prekärer werdenden Beschäftigungsverhältnissen kein Weg daran vorbei, daß es zu einer wirklich in die Fläche gehenden, breiten Beteiligung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern am Kapitalvermögen kommt.
Wir müssen endlich den Schritt von der Mitbestimmungs- zur Miteigentümergesellschaft machen. Eigentlich müßte das doch für eine konservativ-liberale, für eine christlich-soziale Regierung das Projekt sein, das sie eigentlich schon längst hätten anpacken müssen. Dieser Schritt von der Mitbestimmungs- zur Miteigentümergesellschaft ist eine weitere Voraussetzung für die Rentensicherheit. Wenn wir diesen Schritt auch aus gesellschaftspolitischen Gründen nicht machen, dann werden wir bei der Globalisierung einen Weg gehen, der dieses Land auseinandertreiben wird.
Joseph Fischer
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir sind hier nicht auf der großen Insel Nordamerika mit einer ganz anderen Tradition, mit einem ganz anderen kulturellen Hintergrund. Dieses Land ist von sozialstaatlicher Integration auch unter den Bedingungen der Globalisierung abhängig.
Dieses Land wird auch in Zukunft soziale Gerechtigkeit an die erste Stelle stellen müssen, und zwar vor der Ökonomie. Die Ökonomie muß die Bedingungen für die soziale Gerechtigkeit erwirtschaften.
Wenn wir die soziale Gerechtigkeit in diesem Land, die Integration von Millionen zur Teilhabe an Gesellschaft und am Vermögen dieser Gesellschaft nicht hinbekommen, werden wir mit einem gefährlichen politischen Radikalismus konfrontiert, der in Europa - leider - nun wirklich zu unserer Geschichte gehört. Wenn man das nicht will, muß man den Strukturwandel endlich mutig anpacken. Dazu sind Sie nicht in der Lage, wie die vergangenen Monate gezeigt haben.
Sie haben ja selbst kein Vertrauen in Ihr Steuerreformkonzept. Sie halten es selbst für Makulatur. Sie trauen sich nicht, Neuwahlen auszuschreiben. Sonst würden Sie sagen: Die Opposition blockiert nur; wir sind die Größten. Wir haben ein tolles Konzept. Ich, Helmut Kohl, erbringe meinen Leistungsnachweis, wählt mich! - Aber dann würden Sie das Schicksal von Jacques Chirac erleiden. Weil Sie das wissen, machen Sie den Weg nicht frei. Das heißt, wir haben ein qualvolles Jahr der Stagnation vor uns, aber nach Ihnen werden diese kraftvollen Reformen energisch angepackt werden.
Das Wort hat der Kollege Dr. Wolfgang Gerhardt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Parteien, wie die hier im Parlament vertretenen, haben sicher unterschiedliche Vorstellungen über die Ziele von Politik,. auch über die nächsten Schritte.
Aber ich möchte Ihnen, Herr Scharping, für die F.D.P. einmal sehr persönlich sagen: Es ist unerträglich, es entspricht weder den Leistungen Ihrer Partei und Ihrer Vorgänger noch den Leistungen, die meine Partei für die Bundesrepublik Deutschland erbracht hat, wenn Sie uns mit dem Wort Klientelpartei diffamieren.
Sie hätten keinen Bundeskanzler Willy Brandt gehabt ohne diese F.D.P., die hier sitzt.
Sie hätten keinen rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten ohne diese Partei, die hier sitzt. Sie hätten keinen Bundeskanzler Helmut Schmidt gehabt ohne die F.D.P., die hier sitzt.
Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn Parteien so miteinander umgehen, daß sie meinen, eine andere Partei, die anderer Meinung ist als sie, für entbehrlich halten und in die Ecke stellen zu können, leisten sie keinen Beitrag zur Vielfalt der politischen Strömungen in einer Demokratie.
Wir haben in verschiedenen Abschnitten der Bundesrepublik Deutschland erhebliche Leistungen vollbracht. Meine Partei hat manchmal Sonntag abends vor dem Fernseher gesessen, um zu sehen, ob es sie am Montag noch gibt, während Sie schon bei zehn verlorenen Mandaten große Probleme hatten.
Meine Partei hat in einem entscheidenden Abschnitt der Bundesrepublik Deutschland mit Einsatz ihrer ganzen Existenz dafür gekämpft, daß dieses Land mit Konrad Adenauer gegen Widerstände in die Westbindung eintrat. Meine Partei hat beinahe unter Verlust der Anwesenheit im Bundestag dafür gekämpft, daß wir mit Ihrem und unserem Bundeskanzler Willy Brandt auf die osteuropäischen Nachbarn zugegangen sind.
Wir haben unter Einsatz unserer Existenz 1983 dafür gestritten, daß eine Kurskorrektur durchgeführt werden konnte, weil sie notwendig war. Wenn Sie heute vortragen, eine Kurskorrektur sei notwendig, dann frage ich Sie, wo denn die reformbereite deutsche SPD ist. Nach Tony Blair wird doch in Deutschland gefahndet.
Nein, wenn man die Regierung übernehmen will, muß man deutlicher und präziser sagen, was man machen will. Was Sie nicht gemacht haben, was aber bitter notwendig wäre, will ich Ihnen jetzt nennen. Jeder in Deutschland weiß, daß die bürokratischen Apparate erstarrt sind, daß eine Reform des Dienstrechts notwendig ist, daß wir Privatisierungen brauchen. Ich frage: Wo ist denn Ihre Teilhabe am Privatisierungsprozeß? Wo ist Ihre Mithilfe beim Privatisierungsprozeß?
Herr Kollege Fischer, wenn Sie den Kollegen Rexrodt wegen der Reform des Energierechts kritisieren und auf die großen Unternehmen verweisen, dann sage ich: Sie haben es doch in der Hand, den größten Hauskonzern einer Landesregierung, das RWE, zu verändern. Warum tun Sie es denn nicht? Die Grünen sind doch an der Regierung in NRW beteiligt.
Es verhält sich doch nicht so, daß Sie als Opposition nur so auftreten könnten, als hätten Sie nirgendwo in Deutschland Verantwortung, nach dem Motto: Wir hätten für alles die Verantwortung, Sie wären für
Dr. Wolfgang Gerhardt
nichts verantwortlich. Ihre Glaubwürdigkeit muß auf den Prüfstand.
Nennen Sie mir eine Privatisierungsmaßnahme in Deutschland, die Sie unterstützt haben! Bei fast jeder Privatisierungsmaßnahme haben Sie sich im Prozeß der Umsetzung zur Klientelpartei der Besitzstandswahrer entwickelt und die Privatisierung verhindert.
Ich erinnere an die Postreform, wo Sie, statt die Märkte zu öffnen, nichts Besseres wissen, als ein Monopol eher noch zu verteidigen. Das beginnt bei der 100-Gramm-Briefsendung und reicht über das neue Porto von 1,10 DM bis hin zur Quersubventionierung der Frachtpost. Wo ist denn da, meine Damen und Herren von der Opposition, Ihr Reformeifer?
Herr Fischer, ich nenne die Rentenreform. Das wäre ja wunderbar. Wo sind Sie denn, wenn es um die Strukturreform geht, wenn Sie die Wahrheit sagen müssen?
Sie verhalten sich so, daß die Politik der Landesregierungen, an denen Sie beteiligt sind, bewirkt, daß es automatisch auf immer höhere Beitragszahlungen der jungen Generation im Erwerbsleben hinausläuft, weil Herr Dreßler und die gesamte Sozialdemokratische Partei nicht den Mut haben, der älteren Generation zu sagen, daß ein neuer Generationenvertrag geringere Zuwächse bedeutet.
Sie treten hier auf, als wären Sie die Reformer für die Bundesrepublik Deutschland. Nein, Sie sind in allen Bereichen, die verändert werden müssen, die stockkonservativste Opposition, die dieses Haus je erlebt hat.
Die Sozialdemokratische Partei ist bei der Reform der sozialen Sicherungssysteme selbst in der Sozialistischen Internationale völlig isoliert. Tony Blair trägt Ihnen vor, daß die sozialen Sicherungssysteme reformiert werden müßten, weil sie nach seiner Einsicht eher denen genutzt haben, die nicht einen Job annehmen wollten, und diejenigen benachteiligt haben, die einen Job gesucht haben.
Herr Scharping, was ist denn eigentlich gerecht und solidarisch? Ist eine Gesellschaft auf Dauer gerecht und solidarisch, die ihren Blick ausschließlich auf die Erhöhung von Sozialhilfe, Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe richtet, oder sind eine Gesellschaft und eine Politik nicht auch solidarisch, die diejenigen ermuntern und die Leistung derjenigen honorieren, die sich anstrengen, die mehr Leistung erbringen wollen und die einen Arbeitsplatz auch annehmen.
Ich finde, auch diese Personen müssen Gerechtigkeit erfahren; sie müssen angesprochen werden.
Herr Fischer und Herr Scharping, Sie wissen: Der Arbeitsmarkt in Deutschland ist stranguliert. Es gibt die Tarifautonomie, aber gleichzeitig das Ausscheiden von vielen aus den Verbänden. Einigen Einzelgewerkschaften laufen die Mitglieder davon; in den neuen Ländern sieht man, wie Unternehmen in größerer Zahl aus den Arbeitgeberverbänden ausscheiden. Jeder weiß, daß der Flächentarif nicht mehr trägt. Keiner glaubt mehr, daß der metallverarbeitende Betrieb im Erzgebirge dasselbe zahlen kann wie Daimler-Benz im mittleren Neckarraum. Wann sprechen Sie denn dann einmal mit Ihren Gewerkschaften, die für Sie immer Kundgebungen veranstalten, und ermuntern sie, das etwas zu flexibilisieren? Ich habe erlebt, daß Sie sich immer an die Betonköpfe geklammert haben, wenn es um die Reform des Arbeitsmarktes und ähnliche Reformen geht.
Wo ist denn der große Befreiungsschlag beim Subventionsabbau geblieben? Sie, Herr Fischer, haben innerhalb weniger Stunden die Beschlußfassung der Grünen geändert, um drüben mit den Bergarbeitern auf die Barrikaden zu gehen. Wo war denn da Ihre Glaubwürdigkeit?
Wenn wir hier über die Tarifautonomie reden und sagen, die Flächentarife sollten reformiert werden, dann bezichtigt Herr Dreßler uns doch eines Anschlages auf die Tarifautonomie. Ich akzeptiere es nicht länger, daß bei uns über verschiedene Sachverhalte aus nahezu religiösen Gründen eine Veränderungssperre verhängt wird. Heilige Kühe gibt es genug. Industrienationen, die heilige Kühe beiseite geräumt haben, haben jedenfalls eine bessere Beschäftigungslage als die Bundesrepublik Deutschland.
Da mag diese Koalition ein Sommertheater veranstaltet haben, sie hat auch Fehler gemacht - aber der Wille, hier etwas zu verändern, ist auf der rechten Seite des Hauses größer als auf der linken Seite. Deshalb muß fortgeschritten werden.
Im übrigen gibt es auch aus Ihrem Bereich Kollegen, die das so sehen. Ich will jetzt einmal einen gewaltigen Neoliberalen zitieren: Helmut Schmidt. Er sagt in der „Wirtschaftswoche":
Wer nur die hohen Einkommen und Vermögen treffen will, muß sich fragen, ob er noch mehr Kapital- und Wohnungsverlagerungen nach Luxemburg, Monaco und anderswohin auslösen will.
Er sagt: Das bringt nichts.
Die „Wirtschaftswoche" fragt weiter: Wie hätten Sie es denn lieber?
Dr. Wolfgang Gerhardt
Da sagt dieser neoliberale Helmut Schmidt:
Mir wäre es lieber, wenn das gesamte deutsche
Sozialversicherungssystem generalüberholt würde.
- Jetzt kommt es.
Der Abstand der Sozialleistungen von den regulären unteren Einkommen muß wieder deutlicher werden.
Was haben wir von Ihrer Seite für Kübel von Schmutz ertragen müssen, als wir hier dasselbe vorgetragen haben.
Ich bin noch nicht fertig. Dieser Neoliberale äußert sich auch zu der Frage:
Was halten Sie von einem subventionierten zweiten Arbeitsmarkt, um die Arbeitslosenzahl zu senken?
Darauf sagt der Mann tatsächlich - so weit traute ich mich gar nicht -:
Nichts. Je mehr der Staat eingreift, desto mehr geht schief.
Da frage ich mich, warum Sie uns mit einem solchen Wortschwall so geißeln.
Ich komme zum Spitzensteuersatz und zur Steuerreform, Herr Kollege Scharping, und will jetzt wieder einige aus Ihrer Partei zitieren. Gerhard Schröder sagt:
Es ist vernünftig, wenn dieser für gewerbliche Einkommen unterhalb von 40 Prozent liegt.
Er fügt hinzu:
Ich bezweifle, ob es verfassungsmäßig ist, wenn der Spitzensteuersatz für Privatpersonen dann mehr als acht Punkte darüber liegt.
Darauf könnten wir uns schon morgen im Vermittlungsverfahren verständigen.
Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident, Kurt Beck, erklärt:
Die Regierung ist uns schon ein gutes Stück entgegengekommen. Wenn die jetzt ein akzeptables Angebot machen, müssen wir zustimmen.
Sogar die brandenburgische Finanzministerin erklärt:
Diese Mischung, die jetzt auf dem Tisch liegt, ist nicht in Bausch und Bogen abzulehnen.
Rudolf Scharping erklärt im Deutschlandfunk am 24. Januar dieses Jahres:
Eine Festlegung des Spitzensteuersatzes scheint mir in der gegenwärtigen Situation nicht nötig. Es ist mir übrigens auch gleichgültig, ob der bei 38 oder 40 Prozent liegt.
Nur Ministerpräsident Lafontaine hält die Linie. Er sagt am 4. Februar dieses Jahres:
Der Spitzensteuersatz von 53 Prozent muß in der jetzigen Höhe bleiben, denn in der Verfassung steht, daß jeder nach Leistungsfähigkeit besteuert wird.
Am selben Tag sagt der Hamburger Bürgermeister Voscherau im „Stern":
Die SPD hat sich darauf festgelegt, daß sie die Senkung des Spitzensteuersatzes von jetzt 53 Prozent für möglich - ich füge für mich hinzu: für unausweichlich - hält.
Meine Damen und Herren, es mag sein, daß sich der Spitzensteuersatz toll eignet, um das alte gesellschaftliche Lied auf unten und oben, auf die unverdient Reichen, die unverdient Armen, zu singen. Da läßt sich viel mobilisieren. Wir wissen, daß in vielen politischen Konzepten der schlechte Charakterzug des Neides und der Mißgunst eine gewaltige Rolle spielt.
- Nein, ich schäme mich nicht. Er spielt eine Rolle. Sie spielen auf diesem Klavier, füge ich hinzu, und zwar sehr bewußt.
Deshalb reden wir jetzt einmal über Leistung. Wir werden keine Gesellschaft schaffen - jedenfalls ist jede Politik, die den Versuch gemacht hat, in Diktatur und Unterdrückung geendet -, die sich so organisiert, daß jeder, der mehr im Portemonnaie hat als ein anderer, das automatisch nur unter den besten Bedingungen, mit größtem Verdienst selbst erreicht hat. Genausowenig können Sie eine Gesellschaft mit staatlichen Befehlen und Unterdrückung organisieren, um Menschen vor Armut zu bewahren. Gerechtigkeit kann Politik nicht absolut organisieren.
Immer noch gibt es eigene Verantwortung in persönlicher Lebensführung von Menschen. Nicht immer ist die Gesellschaft schuld, wenn jemand in Schwierigkeiten kommt, und nicht jedermann hat unverdientermaßen etwas mehr als ein anderer. Ein Erfolg in persönlicher Lebensführung kann auch in Leistung, Verantwortungsbereitschaft und persönlichen Ausbildungsanstrengungen - begünstigt von Glück - begründet sein.
Dr. Wolfgang Gerhardt
Wer eine solche Gesellschaft nicht will, der muß das hier sagen. Ich jedenfalls möchte auf weiteres in einer Gesellschaft leben, die diese Chancen bietet. Ich möchte sie auch Menschen erhalten. Ich möchte Menschen von einer verdienten D-Mark nicht mehr als 50 Pfennig abnehmen, weil ich einen Staat nicht als gerecht empfinden kann, der den Lohn der Leistungsfähigkeit der Menschen so besteuert.
Dafür gibt es keine Begründung.
Leistung ist nichts Unanständiges. Leistung ist nicht etwas, für das man die Leute bestrafen müßte. Leistung ist kein Begriff der Ellbogengesellschaft. Leistung ist eine zutiefst persönliche menschliche Anstrengung, die bei einem gerecht besteuernden Staat die Voraussetzungen dafür schafft, daß man Menschen in Not helfen kann. Aber niemand sollte glauben, daß man, wie Lincoln gesagt hat, Armen helfen kann, wenn man die Reichen ausmerzt. Diese Erkenntnis sollten Sie beherzigen.
Verlassen Sie also politische Konzeptionen, die nicht tragen.
In dieser Legislaturperiode haben wir gelernt, daß der Untergang des Abendlandes nahe bevorsteht. Können Sie sich an die große Reformfreude von SPD und Grünen erinnern, als wir die Ladenöffnungszeiten nur um 90 Minuten verlängern wollten?
Da wurde der Zusammenbruch der Gesellschaft beschworen. Können Sie sich erinnern, wie Sie blokkiert haben, als wir darüber gestritten haben, die Kohlesubventionen in zehn Jahren auf 5 Milliarden DM zurückzuführen? Können Sie sich an die Auseinandersetzungen erinnern, als diese Bundesregierung und die hier sitzende Mehrheit sich darangemacht hat, das Meister-BAföG einzuführen und das Kindergeld in Schritten zu erhöhen, die noch nie gegangen wurden?
Was waren das alles für Auseinandersetzungen! Nein, meine Damen und Herren, Sie vertreten in Ihren politischen Konzepten rückwärtsgewandte Strukturen.
Sie sind bei jenen, denen der Wandel Schwierigkeiten macht. Sie ermuntern sie aber auch nicht zum Wandel. Sie helfen ihnen nicht dabei. Sie leiten nicht über in neue Strukturen, sondern sitzen fest in Ihren
Traditionsverbänden, die keine Bewegung ausstrahlen.
Das ist die Situation der Opposition.
Das unterscheidet die jetzige Situation von allen anderen in der Bundesrepublik Deutschland, in denen sich eine Opposition darangemacht hat, Regierungsverantwortung zu übernehmen. Als sich die Union damals, 1982/83, anschickte, Regierungsverantwortung zu übernehmen, vertrat die Union in den zentralen Fragen, die anstanden und die in der Fraktion der SPD von Helmut Schmidt nicht mehr gelöst werden konnten,
nämlich zum Beispiel bezüglich der Haushaltskonsolidierung, eine Position, mit der wir arbeiten konnten.
Welches Konzept hat denn diese vereinte Opposition, wenn sie ankündigt, sie wolle Verantwortung übernehmen? Das würde die rückwärtsgewandteste Regierungsveranstaltung, die die Bundesrepublik Deutschland je erlebt hat,
verbunden mit Politik für Besitzstandswahrer, für Unbewegliche, für Strukturerhalt, für alte Industriestrukturen, gegen die, die einen neuen Aufbruch wagen wollen. Das einzige, was Sie hier tun, ist, Veränderungstheater ohne jeglichen wirklichen Reform-und Modernisierungswillen vorzuspielen.
Wenn Sie ernsthaft, ohne kabarettistische Einlagen mit Rückblick auf die Sommerpause,
die Fragen beantworten wollen, die die Bundesrepublik Deutschland heute entscheiden muß,
dann müssen Sie die Fragen beantworten, die andere führende Industrienationen beantwortet haben. Diese haben die Steuern gesenkt, die Staatsquote reduziert, den Arbeitsmarkt flexibilisiert, um mehr Beschäftigung zu ermöglichen. Alles das, was nicht neue Dynamik in die Wirtschaft bringt, ist für die Konsolidierung der Haushalte nichts nütze. Die Haushalte werden sklerotisch bleiben, wenn sich die Beschäftigungslage nicht ändert.
Dr. Wolfgang Gerhardt
Beschäftigung schafft man bekanntlich aber nicht, indem man den Betrieben noch eine Umlage zumutet, lediglich einen Verschiebebahnhof bei den Lohnnebenkosten vorsieht und eine ökologische Steuerreform, die auf jeden Fall eine höhere Steuerbelastung darstellt, einführen will. Beschäftigung und Dynamik schaffen wir nur, wenn wir couragierte Steuersenkungspolitik betreiben und die sozialen Systeme reformieren.
Deutschland hat eine geringe Attraktivität, Herr Kollege Fischer, für ausländische Studierende, weil sich das deutsche Hochschulsystem, das alle Chancen hatte, diese freiwillig einzuführen, erst jetzt unter der gesetzgeberischen Voraussetzung entschließt, angelsächsische Abschlüsse anzubieten. Diese hätten die Universitäten längst einführen können.
Das deutsche Hochschulsystem hätte längst die Studienzeiten verkürzen können. Niemand hat die Professoren eines Fachbereichs daran gehindert, die Studierenden in zwölf Semestern zum Abschluß zu führen. Das wäre auch im Interesse der Studenten.
Was macht denn die Regierung unter Ihrer Beteiligung in Sachsen-Anhalt? Sie verlängert jetzt die Schulzeit auf 13 Jahre, obwohl man in zwölf Jahren zum Abitur hätte führen können. Sie führt flächendeckend Orientierungsstufen ein. Wo ist die Vielfalt im Schulsystem in den Ländern, in denen Sie die Verantwortung tragen? Sie sind doch die Vertreter der Einheitsschulformen. Bei uns sitzen die Vertreter der Vielfalt, der Elternentscheidung, des Wettbewerbs und der Systeme.
Wer ist denn eigentlich Anwalt der jungen Generation? Ist es derjenige, der sie erst nach 13 Jahren Schulzeit zum Abitur führen will? Ist es derjenige, der glaubt, es müßten noch mehr und noch längere Studiengänge absolviert werden, weil er annimmt, daß man um so reifer sei, je länger man ausgebildet wurde? Oder ist der der bessere Vertreter der jungen Generation, der hier offen sagt: Es ist besser, wenn die jungen Menschen früher in den Wettbewerb, den Beruf kommen, es ist besser, wenn es für die Kinder pädagogisch verantwortbare Leistungsfeststellungen in der Schule gibt, anstatt ihnen dauernd auszuweichen? Wer hilft denn der jungen Generation besser?
Ich habe heute aus Nordrhein-Westfalen gehört, man sollte auf Notengebungen in der Grundschule verzichten. Wes Geistes Kind sind denn Leute, die glauben, man könne Kinder ohne jede Leistungsbewertung in eine Gesellschaft entlassen? Das kann doch keine Grundlage einer Politik für die junge Generation sein.
Meine Damen und Herren, wir müssen die Globalisierung annehmen, ob sie Herrn Lafontaine gefällt oder nicht. Wir werden nicht nach dem Motto handeln können: Bitte, Tony Blair, erhöhe in Großbritannien die Steuern, damit wir Deutschen wettbewerbsfähiger für Investitionen sind. - Wir müssen schon bei uns selbst aufräumen.
Ich sage für alle, die anderer Meinung als ich oder die F.D.P.-Fraktion sind: Es ist ein Gebot politischer Führung, den Menschen in Deutschland, deren Ängste wir kennen, zu sagen, daß der Termin der Europäischen Währungsunion eingehalten werden muß, daß die Konvergenzfortschritte in Europa noch nie so eng beieinanderlagen, daß wir die Chance der Währungsunion nicht verpassen sollten.
Wir müssen ihnen sagen, daß der Euro eine wichtige Antwort für die Märkte ist, die vom Yen und dem nordamerikanischen Dollar dominiert werden, und für Deutschland als exportorientiertes Land eine wichtige Grundlage für die Beschäftigung ist.
Wir wissen, daß die Menschen in Deutschland zwei Hyperinflationen erlebt haben, und wir verstehen ihre Ängste. Wir müssen ihnen aber sagen, daß verantwortliche deutsche Politik nicht irritieren sollte. Wir müssen den Kurs beibehalten und den Vertrag einhalten, weil wir nach unserer tiefsten Überzeugung auf einer Stabilitätsinsel Deutschland nicht überleben, sondern nur mit unseren Nachbarn in einer Europäischen Währungsunion die Chance haben, den weltweiten Strukturwandel zu bestehen.
Es gibt immer Versuchungen, das zu vergessen, vor allem dann, wenn Wahlen unmittelbar vor der Tür stehen. Es wäre ein unermeßlicher Fehler deutscher Politik, wenn wir eine neue Eurodiskussion beginnen würden, nur weil in Bayern und in Hamburg gewählt wird. Herr Voscherau äußert sich übrigens auf einmal ganz anders, als das früher wahrnehmbar war.
Ich sage das deshalb, weil wir beginnen, unsere Nachbarn zu irritieren. Sie verstehen uns nicht und fragen, was mit den Deutschen los ist. Sie erwarten von der politischen Führungsklasse in Deutschland Standing, Vertragstreue und Berechenbarkeit. Das erkläre ich für die Freie Demokratische Partei.
Wer in Deutschland andere Gruppen wählen will, der soll das tun. Es muß in Deutschland aber klare, berechenbare Konturen auf diesem Kurs geben. Das betrifft nicht nur die Frage der Währungsunion. Ich sage das mit Dank an die Adresse des Bundesaußenministers.
Vielleicht haben viele geglaubt, nachdem der Warschauer Pakt und die NATO in einer veränderten Situation sind - jener hat sich aufgelöst, dieser steht vor Erweiterungen -, werde die Friedensdividende ausgezahlt, und die Welt sei am Ende der Geschichte angekommen. Daß die Welt nicht am Ende der Geschichte angekommen ist, wissen wir.
Wir haben auf dieser Welt Regime, in denen Familienclans herrschen, in denen nicht im entferntesten die Prinzipien einer aufgeklärten Gesellschaft das
Dr. Wolfgang Gerhardt
politische Gerüst tragen. Wir haben einige hundert Kilometer von unserer Grenze entfernt, in Rußland, immer noch eine Gesellschaft, bei der wir schauen: Wann hört der freie Fall auf? Wann konsolidiert sie sich? Wann kommt dieses Land wirklich nach Europa, auch in seinen inneren Strukturen?
Solange das so ist, empfiehlt sich jedenfalls die Kontinuität in einer Außenpolitik, die nicht einfach alles vergißt, was uns 50 Jahre Frieden gebracht hat, die die internationale Einbettung sieht - ich sage auch das -, inklusive der Bundeswehr. Die Bundeswehr ist eine Armee in einer Demokratie. Wir danken den Soldaten.
Bei dieser Gelegenheit weise ich darauf hin, daß die PDS in Hamburg ein Plakat aufgehängt hat, auf dem steht: „Soldaten" - das ist ganz groß und in Schwarz gedruckt - „benutzen bisweilen Schaufeln statt Gewehre und sind" - „sind" wieder groß gedruckt - „im militärischen Ernstfall staatlich ausgebildete Mörder".
Das ist aus „Der bewachte Kriegsschauplatz" von Kurt Tucholsky.
Dieses Zitat ist feige, weil man es selbst nicht zitiert. Es ist infam, und es ist unmenschlich gegenüber den Soldaten, die im Oderbruch den Menschen geholfen haben und die großen Respekt verdienen.
Wir sollten dieses Plakat den Menschen im Oderbruch zeigen,
damit diese begreifen, daß sie es nicht nur mit einer Partei zu tun haben, die den Alten freundlichst die Rentenanträge ausfüllt, sondern mit einer Partei, die niemals wieder in diesem Land Verantwortung haben sollte. Das muß klargemacht werden.
Es gibt an entscheidenden Abschnitten der deutschen Politik immer politische Kontroversen. Es gibt immer den Glauben: Die nächste Wahl gewinnen wir ganz bestimmt. Ich weiß es noch nicht.
- Herr Kollege Fischer, wenn Sie sich die Geschichte der Wahlen anschauen, dann sehen Sie, daß 1982 gesagt worden ist: Bei der März-Wahl 1983 ist Helmut Kohl ganz bestimmt weg und die F.D.P. sowieso. Es
ist dann anders ausgegangen. Dann gab es eine Wahl - -
- Da war er wieder weg. Ich glaube auch, die Sozialdemokraten hatten mehr das Gefühl, daß Helmut Kohl mit Saft und Kraft im Publikum steht, während Herr Vogel mehr mit Saft und Kraft in der Aktenlage beheimatet ist.
Dann kam eine Wahl, da habe ich gedacht: Jetzt wird es aber kritisch; denn da steht der Umverteiler Helmut Kohl als kalter Vertreter einer kapitalistischen Koalition gegen „versöhnen statt spalten" von Johannes Rau. Erinneren Sie sich, welchen Vorsprung Johannes Rau in Umfragen hatte? Kaum einholbar. Merkwürdigerweise ist die Wahl wieder anders ausgegangen.
Dann kam die Vereinigung. Da habe ich gelesen, jetzt liege es gar nicht mehr an Personen, sondern die Sozialstruktur der neuen Länder wie Sachsen - alte Industriegesellschaft - sei klar sozialdemokratisch dominiert. Willy Brandt brach nach Eisenach auf. Tausende waren auf dem Marktplatz. Das könne diese rheinische Koalition und Konstellation, die nur in der alten westdeutschen Bundesrepublik begünstigt sei, nie gewinnen. Komischerweise hat sie die Wahl gewonnen.
Hinterher sind wir alle schlauer. Jetzt kommen viele Ratschläge von denen, die sagen, was man damals alles hätte machen müssen. Herr Fischer, ich lasse mir ungerne Ratschläge geben, was man damals alles hätte tun müssen, und zwar von Ihrer Fraktion, die damals bedenkliche Schwierigkeiten mit der deutschen Einheit hatte.
Nun will ich noch einmal auf die letzte Bundestagswahl kommen. Da kamen sie dann zu dritt: die Troika. Nicht mehr einer kam, sondern sie kamen zu dritt. Da dachte ich: Jetzt wird Helmut Kohl überwältigt. Drei ist wirklich zuviel. - Er hat gewonnen.
Wir wissen nicht, wer das nächste Mal gewinnt. Zuversicht allein ist kein guter Ratgeber. Aber wir sind entschlossen, die Wahl zu bestreiten, weil wir davon überzeugt sind: Die besseren Konzepte für die Zukunft dieses Landes liegen hier. Dies müssen wir sagen.
Wir müssen die Konzepte beständig wiederholen. Wir dürfen in der Koalition keine Angst davor haben. Wir dürfen nicht zurückschrecken, wenn wir Gegnerschaft spüren. Eine Politik, die verändern will, hat es immer mit strukturell privilegierten Interessengruppen zu tun, die dagegen sind.
Die Opposition ist Anwalt strukturell privilegierter
Interessengruppen in festen Beschäftigungsverhält-
Dr. Wolfgang Gerhardt
nissen. Wir wollen Anwalt der Leute sein, die durch Veränderung 4,3 Millionen Arbeitslosen neue Chancen geben. Dafür lohnt es sich zu streiten.
Das Wort hat der Kollege Dr. Gregor Gysi, PDS.
Herr Gerhardt, Sie haben ein Plakat der PDS in Hamburg angesprochen. Ich will dazu etwas sagen.
- Noch sind wir nicht soweit, daß Sie mir vorschreiben, was ich sage. Sie müssen sich schon anhören, was ich Ihnen dazu zu sagen habe.
Erstens hoffe ich, daß wir uns zumindest mit der F.D.P. in der Frage einig sind, daß es richtig ist, daß das Bundesverfassungsgericht entschieden hat, daß das Tucholsky-Zitat benutzt werden darf, und zwar straffrei.
Zweitens füge ich hinzu, daß das Plakat in Hamburg politisch falsch und töricht ist und daß das überhaupt nicht die Politik der PDS ist.
Wir würden das normalerweise auf einem Plakat weder zitieren noch - und das schon gar nicht - mit dem Einsatz der Bundeswehr im Oderbruch in Zusammenhang bringen.
Ich glaube, so deutlich hat sich hier noch nie jemand von einem Plakat seiner eigenen Partei distanziert, wie ich das in diesem Augenblick getan habe. Das könnten Sie, nebenbei gesagt, durchaus einmal würdigen.
Aber wir haben das auch praktisch bewiesen, und zwar dadurch, daß gerade die Mitglieder der PDS, eine Vielzahl von Sozialistinnen und Sozialisten, im Oderbruch aktiv bei der Hilfe waren, als es darum ging, die Schäden zu beseitigen.
Das ist die einzige Gruppe, die in der Sondersitzung sowohl den Einsatz der Soldaten als auch den Einsatz anderer Bürgerinnen und Bürger diesbezüglich gewürdigt und zugleich von ihren Einkommen 30 000 DM gespendet hat, um dort Schäden zu beseitigen. Unser Aufruf an die anderen Fraktionen, sich daran zu beteiligen, ist verhallt. Wenn es um schöne Worte geht, dann stehen Sie vorne. Aber wenn es ans
eigene Portemonnaie geht, dann weichen Sie zurück. Das ist unsere Erfahrung aus diesem Aufruf.
- Nein, das war ja nicht „vorschreiben", das war eine Bitte. Das war eine Bitte, Frau Matthäus-Maier. Sie hätten sich an der Aktion beteiligen können. Daß Sie das nicht müssen, das weiß ich.
Jetzt geht es hier aber eigentlich um den Haushalt. Deshalb sage ich Ihnen dazu folgendes: Herr Gerhardt, Ihre ganze Rede wäre sehr viel glaubwürdiger gewesen, wenn Sie in den vergangenen Monaten einen Schritt gegangen wären, den Sie nicht gegangen sind. Der Kanzler bittet Sie seit ewigen Zeiten, Mitglied des Bundeskabinetts zu werden. Auch Herrn Sohns bittet er seit ewigen Zeiten, in das Kabinett einzutreten. Wenn die Regierung so großartig wäre, wie Sie sie hier dargestellt haben, dann wären Sie diesen Schritt längst gegangen. Sie gehen ihn nicht, weil sie wissen, daß Ihr Ruf Schaden nimmt, wenn Sie in diese Regierung eintreten. Das ist Ihr Motiv, und das zeigt, was Sie in Wirklichkeit von dieser Bundesregierung halten.
In einer Haushaltspolitik zeigen sich die unterschiedlichen sozialen und natürlich auch politischen Ziele einer Koalition bzw. einer Partei im Vergleich zur Opposition. Aber was man von jeder Regierung verlangen kann - ganz egal, ob sie eine gerechte oder ungerechte Politik macht, ob sie unseren Vorstellungen entspricht oder nicht -, ist, daß sie wenigstens das Handwerkszeug beherrscht. Tatsache ist doch eines: Sie haben sich bei den Ausgaben - das wissen wir heute - um mindestens 20 Milliarden DM verschätzt. Sie haben sich bei der Neuverschuldung um mindestens 20 Milliarden DM verschätzt. Das heißt, Sie sind ja nicht einmal mehr in der Lage, Ihre Politik handwerklich sauber rüberzubringen. Sie können keinen Haushalt mehr aufstellen, der auch nur einigermaßen seriös ist. Das ist der Zeitpunkt, in dem Sie ehrlicherweise bekennen müßten, daß Sie in jeder Hinsicht überfordert seien, was Sie aber nicht tun.
Ich nenne nur ein Beispiel für den Haushalt 1997. Ich nehme an, daß sich die SPD noch gut daran erinnern wird, daß die Bundesregierung im Entwurf zunächst ernsthaft vorgesehen hatte, überhaupt keine Zuschüsse an die Bundesanstalt für Arbeit zu zahlen. Nur durch Druck der Opposition gelang es, in den Haushalt wenigstens 4,5 Milliarden DM aufzunehmen. Tatsächlich wurden es 15 Milliarden DM.
Eine Regierung, die ernsthaft glaubt, keine Mark für die Bundesanstalt für Arbeit zu benötigen, um dann 15 Milliarden DM zu bezahlen, beweist, daß sie nicht einmal mehr ihr Handwerkszeug beherrscht.
Dr. Gregor Gysi
Sie ist einfach am Ende. Sie ist nicht mehr in der Lage, eine solide Finanzpolitik zu machen.
Jetzt planen Sie im Ernst für 1998 lediglich eine Neuverschuldung von 57,8 Milliarden DM. Sie wissen doch schon heute, daß diese Zahl nicht stimmen wird. Wann legen Sie denn wenigstens einmal einen ehrlichen Haushalt vor, statt sich ein Jahr lang mit Tricks über Bundesbank-Goldreserven, Erbsen, Erdöl und ähnliches hinüberretten zu wollen? Das ist das mindeste, was eine Regierung leisten muß, wozu Sie aber nicht in der Lage sind.
Wahr ist allerdings nicht, daß es keine Nutznießerinnen und Nutznießer Ihrer Politik gäbe. Die gibt es. Das sind die großen Konzerne, das sind die Banken. Deren Gewinne schnellen in die Höhe. Das sind auch die Großaktionäre, denn bei jeder Meldung über weitere Entlassungen in Konzernen steigt der Wert der Aktien. Das ist die Realität.
Sie haben einmal gesagt: Wenn es der Wirtschaft gutgeht, werden Arbeitsplätze geschaffen. Das Gegenteil ist der Fall. Je mehr Arbeitsplätze abgebaut werden, desto besser geht es zumindest bestimmten Teilen der Wirtschaft. Das ist das eigentliche Problem, mit dem wir es hier zu tun haben.
Jetzt werde ich Ihnen einmal etwas zur Steuerbelastung sagen: Es gibt eine hochinteressante Untersuchung der Universität Mannheim zur Entwicklung der Steuerbelastung von 1989 bis 1994. Dies sollten Sie sich wirklich anhören: In dieser Zeit sank bei 30 untersuchten DAX-Unternehmen die Steuerbelastung von 54,5 auf 31,4 Prozent, ohne daß Arbeitsplätze geschaffen wurden. Ganz im Gegenteil.
Dabei muß man wissen, daß in dieser Zeit, von 1989 bis 1994, Daimler-Benz gar keine Steuern gezahlt hat, Mannesmann gar keine Steuern gezahlt hat und die Metallgesellschaft keine Steuern gezahlt hat, und zwar auf Grund von erheblichen Spekulationsverlusten. Die Allianz-Versicherung hat 1,4 Prozent Steuern gezahlt, Continental 0,2 Prozent, Degussa 6,0 Prozent, Lufthansa 8,0 Prozent und Siemens 6,9 Prozent.
Rechtlich lag die Steuerbelastung in dieser Zeit bei 71 Prozent. Aber real wurde das gezahlt, was ich hier gesagt habe. Deshalb hören Sie auf, mit theoretisch denkbaren Steuern zu operieren. Sagen Sie der Bevölkerung endlich, welche Steuern tatsächlich gezahlt werden. Die liegen auf der Ebene, die ich Ihnen genannt habe.
Von den rechtlich zulässigen Steuern wurden von den Unternehmen in den letzten Jahren höchstens 50 Prozent gezahlt. Alles andere fiel unter den Tisch. Aber es muß jemand zahlen. Es zahlen die kleinen und mittelständischen Unternehmen, die ehrlich Steuern zahlen müssen. Es zahlen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, aber nicht die großen Konzerne, nicht die großen Versicherungen und nicht die
Banken. Das ist das Problem, mit dem wir es hier zu tun haben.
Deshalb sage ich Ihnen: Das Schlimme an Ihrer Steuerreform ist, daß Sie genau diese Politik fortsetzen wollen, weiter dort Entlastungen wollen, wo schon heute kaum Steuern gezahlt werden. Wer soll das bezahlen? - Wieder dieselben Gruppen: Die kleinen und mittelständischen Unternehmer, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und diejenigen, die auf Sozialhilfe, Arbeitslosenhilfe oder Arbeitslosenunterstützung angewiesen sind. Diesen Weg können wir einfach nicht mitgehen. Hier ist die eigentliche Kurskorrektur erforderlich.
Das sage ich Ihnen, Herr Glos, auch in aller Deutlichkeit: Wenn Sie in diesem Zusammenhang sagen, wir hätten weniger Probleme auf dem Arbeitsmarkt, wenn wir weniger Ausländerinnen und Ausländer hätten, dann schüren Sie hier ganz gefährliche Ängste. Das wird Auswirkungen haben, die höchstgefährlicher Natur sind. Auch wissen Sie, daß es nicht stimmt. Wir brauchen keine Entsolidarisierung unten in der Gesellschaft, sondern wir müssen Reichtum begrenzen, wenn wir Armut wirksam bekämpfen wollen. Einen anderen Weg wird es nicht geben.
Das Operieren mit Zahlen halte ich überhaupt für inhuman und gefährlich. Wo soll denn das enden? Wir haben sehr viele prekäre Arbeitsverhältnisse, in denen Frauen beschäftigt sind. Wann kommt der Tag, an dem Sie sagen, wir haben zu viele Frauen? Wir haben Rentenprobleme. Wann kommt der Tag, an dem Sie sagen, wir haben zu viele ältere Menschen? Das ist eine Einstellung, die sich dieser Bundestag gerade bei der Geschichte Deutschlands wirklich nicht leisten kann. Hier wünsche ich mir entschiedenen Protest.
Dann kommt in dieser Situation die Bundesregierung und sagt, wir müssen jetzt die Spitzensteuersätze senken. Wer zahlt denn hier überhaupt noch die Spitzensätze bei der Einkommensteuer? Wem wollen Sie denn da zusätzliche Geschenke machen? Hören Sie doch auf mit der längst widerlegten These, daß, wenn diese Steuern gesenkt werden, Arbeitsplätze geschaffen würden. Die Gewinne liegen doch schon auf Spitzenhöhen. Die Aktienkurse haben Spitzenhöhen erreicht. Es gibt immer mehr Einkommensmillionäre. Wir haben auch eine wachsende Zahl von Vermögensmilliardären in der Bundesrepublik Deutschland. Auf dem Arbeitsmarkt hat uns das nichts genützt. Sie haben nur Reichtum befördert und dadurch Armut ausgeweitet. Das kann unmöglich die Politik von Sozialistinnen und Sozialisten sein. Deshalb werden wir diesen Weg nicht mitgehen.
Ich sage Ihnen auch etwas, das für mich auch ein Problem bei der SPD darstellt: Wann reformieren wir endlich die Lohnnebenkosten, um eine neue Bemessungsgrundlage zu finden, nämlich die Wertschöpfung der Unternehmen? Das wäre viel flexibler. Es gäbe weniger Entlassungen. Die Abgaben würden
Dr. Gregor Gysi
flexibler auf veränderte Bedingungen des Unternehmens reagieren. Der andere, von Ihnen vorgeschlagene Weg, die Erhöhung der indirekten Steuern, um Beiträge zu senken, heißt doch immer, daß Millionen Menschen, die gar nichts mit den Beiträgen zu tun haben, die auch nichts mit den Lohnnebenkosten zu tun haben, das alles mitbezahlen. Es beträfe die Kinder, die Schülerinnen und Schüler, die Studentinnen und Studenten, die Frauen in den prekären Arbeitsverhältnissen, die Wehrpflichtigen, die Rentnerinnen und Rentner; sie alle müßten die erhöhte Mehrwertsteuer auch bezahlen. Deshalb glaube ich, daß das der falsche Weg zur Senkung von Kosten in der Wirtschaft wäre.
Dann wird immer mit großem Stolz darauf verwiesen, daß die Exportwirtschaft boomt. Das stimmt; daran hat auch der Herr Bundeskanzler durchaus seinen persönlichen Anteil; ich denke da zum Beispiel an China und andere Länder. Das Problem ist nur eines, Herr Bundeskanzler: Nur 20 Prozent unserer Arbeitsplätze hängen an der Exportwirtschaft, 80 Prozent hängen an der Binnenwirtschaft. Da frage ich Sie: Was tun Sie für die Binnenwirtschaft? Nichts! Die Kaufkraft ist ständig rückläufig. So kann sich eine Binnenwirtschaft nicht entwickeln. Das ist doch völlig eindeutig. Wenn Sie dann noch unter falschen Bedingungen den Euro einführen, dann bedeutet das das Aus für viele kleine und mittelständische Unternehmen, die auf den Binnenmarkt angewiesen sind. Das ist die Realität, mit der wir es zu tun haben.
Natürlich brauchen wir Projekte, die auch finanzierbar sein müßten. Die Arbeitslosigkeit ist das Hauptproblem. Gestern haben wir gehört, daß sie in den alten Bundesländern 10 Prozent, in den neuen Bundesländern aber 18 Prozent beträgt, Herr Bundeskanzler. Sie haben den Menschen dort einmal blühende Landschaften versprochen. Sie haben den Aufschwung Ost versprochen. Diese Plakate sieht man in den neuen Bundesländern nirgendwo mehr. Sie haben sie schamvoll zurückgezogen. Sie beschneiden dort Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Das ist nicht das Gelbe vom Ei. Mir ist der erste Arbeitsmarkt auch lieber als der zweite. Aber er hilft doch wenigstens. Man kann doch nicht den zweiten beseitigen, wenn man am ersten nichts oder höchstens Rückläufiges bewegt. Das ist nicht nur, aber vor allem die Situation in den neuen Bundesländern.
Wie sieht es überhaupt mit Ihrer Politik bei der deutschen Einheit aus? Wo sind wir da angelangt? Die wirtschaftliche Entwicklung verlangsamt sich dort. Der Abstand zu den alten Bundesländern wird ja nicht etwa langsam geringer, sondern er wird größer. Die Löhne bleiben zurück. Die Preise steigen. Erklären Sie doch einmal den Menschen, die zum Beispiel Grundbesitz in den neuen Bundesländern haben, wie sie die Wasser- und Abwasseranschlußkosten, die Straßenbaugebühren noch bezahlen sollen, die sämtlich höher als in den alten Bundesländern liegen. Sie können das einfach nicht finanzieren. Aber es wird so weitergemacht und auf diesem Weg
nach „Rückgabe vor Entschädigung" die zweite kalte Enteignung organisiert.
Die Zahl der prekären Arbeitsverhältnisse steigt an. Darin liegt auch noch ein kleiner Akt der Demütigung; das muß ich Ihnen einfach einmal sagen. Ich habe ja überhaupt etwas gegen diese prekären Arbeitsverhältnisse, weil ich der Meinung bin, daß wir eine soziale Absicherung, eine Rentenabsicherung und vieles andere mehr brauchen. In diesem Bereich arbeiten überwiegend Frauen, in Deutschland insgesamt 6 Millionen. Aber jetzt passiert folgendes: Im Westen bekommt die Frau in einer solchen Situation für die gleiche Arbeit in der gleichen Zeit 610 DM. Alle kennen das auch nur als 610-DM-Job. Im Osten bekommt sie aber nur 520 DM, 90 DM weniger, bei gleichen Preisen. Erklären Sie doch einmal einer Verkäuferin in den neuen Bundesländern, weshalb sie bei einem so niedrigen Lohnniveau, wo es nur noch um die Größenordnung von Armut geht, noch einmal um 90 DM gedemütigt werden muß und ihr gesagt werden muß, daß sie 90 DM weniger wert ist. Das ist unerträglich, und das hat mit Einheitspolitik nichts, aber auch überhaupt nichts zu tun.
Dann komme ich zum Problem der Ausbildungsplätze. 150 000 fehlen in diesem Jahr. Jetzt machen sich alle Sorgen. Jetzt sagt das Kabinett: Wir vergeben öffentliche Aufträge nur noch an Unternehmen, die ausbilden - zumindest wenn das Angebot mit dem eines anderen Unternehmens, das nicht ausbildet, gleichwertig ist; das ist natürlich schon eine kleine Komplikation. Es ruft dann dazu auf, die Länder mögen das genauso machen. Nun frage ich Sie: Warum erst jetzt? Warum diese eine kleine Maßnahme nicht schon vor Monaten, als das alles absehbar war? Jetzt nützt das den 150 000 gar nichts mehr.
Aber das eigentliche Problem ist doch ein anderes. 150 000 Ausbildungsplätze fehlen - in einem Land, das über 5 Billionen DM Geldvermögen verfügt, in einem Land, in dem Reichtum permanent zunimmt. Es fehlt nicht an Geld, wir müssen es anders einnehmen und anders verteilen.
Dazu würde gehören, über die Bundesanstalt für Arbeit diese 150 000 Ausbildungsplätze sofort zur Verfügung zu stellen. Wer das nicht leistet, eine Regierung, die das nicht macht, trotz dieses Geldvermögens nicht macht, versündigt sich an der nächsten Generation. Das werden Schäden sein, die kaum noch reparabel sein werden.
Sie reden hier immer so gerne und so viel von Kriminalität. Aber ich sage Ihnen: Wer Ausbildungsplatzmangel, wer Massenarbeitslosigkeit, wer soziale Ungerechtigkeit organisiert, der organisiert in Wirklichkeit Kriminalität. Da hilft es uns gar nichts, wenn wir, wenn man schon organisierte Kriminalität bekämpfen will, über den großen Lauschangriff in Ihren Wohnungen mithören dürfen; denn da werden Sie auch nichts Intelligenteres sagen als hier.
Dr. Gregor Gysi
Aber ich sage Ihnen auch: Es ist immer der falsche Weg, Kriminalität zu benutzen, um Grundrechte einzuschränken. Man bekämpft Kriminalität, um Grundrechte zu bewahren. Deshalb können wir diesen Weg nicht mitgehen, der hier vorgeschlagen worden ist.
Lassen Sie mich zum Schluß in diesem Zusammenhang etwas zur Europäischen Währungsunion sagen. Sehen Sie, das Problem ist, daß wieder ein Verzicht auf Politik vorliegt. Wie müßte eine europäische Integration aussehen? Sie müßte in einem politischen Prozeß die Harmonisierung der Steuern erreichen, in einem politischen Prozeß die Angleichung der Löhne, die Angleichung ökologischer und sozialer Standards und auch juristischer Standards. Das schafft diese Regierung nicht. Das ist schwer; das gebe ich zu. Aber statt dessen wollen Sie eine einheitliche Währung einführen und über den Markt ohne Politik die Angleichung erzwingen, und zwar nach unten, das heißt mit mehr Massenarbeitslosigkeit, mit Abbau von sozialen Standards, mit immer mehr Pleiten von kleinen und mittelständischen Unternehmen. Dazu können wir doch nicht auch noch ja sagen.
Herr Fischer, das ist kein Internationalismus. Das ist das Gegenteil davon, weil Nationalisten diese negativen Ergebnisse nutzen werden, um den Nationalismus zu schüren. Genau das wollen wir verhindern.
Wissen Sie, wenn Herr Gerhardt sagt, wir sollten hier nie wieder Verantwortung haben, dann muß ich ihm sagen: Wir haben sie längst. Erstens liegt das an dem Mißverständnis, daß Sie immer denken: Opposition hat keine Verantwortung. Zweitens stellen wir eine Vielzahl von Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern, und nirgendwo, wo wir sie stellen, sind Katastrophen die Folge gewesen. Ich glaube, mit solchen Argumenten sollten Sie etwas vorsichtiger umgehen. Im Gegenteil: Wir machen da eine ziemlich bürgernahe Politik, die sich bewährt und die auch zunehmend Akzeptanz findet.
Herr Glos, Ihnen will ich noch eines sagen: Wenn wir hier um Glaubwürdigkeit im Parlament ringen, dann können wir nicht gemeinsam verurteilen, wie Paparazzi vorgehen, wenn Sie hier Eheprobleme von Politikern im Wahlkampf zum Gegenstand von Bundestagsdebatten machen. Das ist unerhört. Das ist nicht unsere Aufgabe.
Lassen Sie die Probleme dort, wo sie hingehören, und führen Sie sie nicht in den Bundestag ein. Das sage ich bei allen Differenzen, die ich mit Herrn Schröder habe. Aber das geht nicht; das will ich so deutlich hier verkünden.
Diese Bundesregierung ist angetreten mit dem Ziel, die deutsche Einheit zu vollenden. Davon sind wir heute weiter entfernt als 1990. Sie ist angetreten, die europäische Integration zu vollenden. In diesem Bereich gibt es heute mehr Ängste und mehr Mißverständnisse als noch vor vielen Jahren. Sie ist angetreten, Arbeitslosigkeit abzubauen. Der Bundeskanzler hat gesagt, er wolle die Arbeitslosigkeit bis zur Jahrhundertwende halbieren. Davon kann heute überhaupt keine Rede mehr sein. Sie führen immer noch das Wort von der sozialen Gerechtigkeit im Munde. Davon kann schon überhaupt keine Rede mehr sein.
Nein, es geht nicht allein um einen Regierungswechsel. Wir brauchen wirklich einen sehr grundlegenden Politikwechsel mit völlig neuen Ansätzen in der Steuerpolitik, in der ökologischen Politik und in der Sozialpolitik. Das geht mit diesem Kabinett nicht mehr. Ein Kanzler, der nicht einmal mehr die Kraft hat, Minister auszuwechseln, hat schon gar nicht mehr die Kraft, die Politik zu wechseln, was dringend erforderlich wäre. Deshalb sage ich noch einmal: Hören Sie lieber freiwillig auf, bevor Sie sich die Niederlage im nächsten September organisieren! Es wäre der leichtere Weg für uns alle.
Sie sind verpflichtet, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden. Sie haben schon viel Schaden angerichtet. Aber Sie könnten ihn minimieren, wenn Sie wenigstens schnell aufhören und den Weg für wirkliche gesellschaftliche Veränderungen und für eine wirklich andere Politik frei machen. Dafür wäre es dringend erforderlich, daß wir wählen.
Wenn Sie bis zum nächsten Jahr warten, dann heißt das, daß wir uns weiter durchwursteln, daß der Haushalt nicht stimmt, daß wir wieder einen Nachtragshaushalt bekommen, daß wir neue Tricks erleben, daß die Arbeitslosigkeit und die soziale Ungerechtigkeit wachsen werden. Diese verlorene Zeit wird so schnell nicht aufzuholen sein. Wenn Sie einen Rest von Gewissen verspüren, müßten Sie dies akzeptieren und sagen: Es ist höchste Zeit für einen Neuanfang in dieser Gesellschaft.
Herr Kollege Gysi, einen Augenblick bitte! Sie haben jetzt die gesamte Redezeit der Gruppe der PDS verbraucht. Ich habe das zugelassen, obwohl es so nicht vereinbart war.
Deshalb müssen Sie jetzt schnell zum Schluß kommen.
Gut. Ich akzeptiere das und bin für Ihren Hinweis sehr dankbar.
Ich komme jetzt schnell zum Schluß, weil über diese Regierung schon alles gesagt wurde. Man kann außer dem Wunsch, daß sie geht, eigentlich nichts mehr hinzufügen.
Das Wort für eine Kurzintervention hat der Kollege Dr. Schubert.
Herr Kollege Gysi, Sie haben am Anfang Ihrer Rede darauf hingewiesen, daß die Kolleginnen und Kollegen des Bundestages Ihrem Aufruf zu einer gemeinsamen Spende für die Hochwasseropfer an der Oder nicht gefolgt sind.
Dr. Mathias Schubert
Sehr viele Kolleginnen und Kollegen dieses Hauses haben gespendet. Sie dürfen hier nicht den Eindruck erwecken, als hätten sie nicht gespendet, nur weil sie sich Ihrem Spendenaufruf nicht angeschlossen haben.
Viele dieser Spenden sind eben über die gemeinnützigen Hilfsorganisationen oder auch über Konten -vor Ort in den Landkreisen und im Land eingegangen. Das heißt, diese Spenden sollten Hilfe sein und nicht, was Sie hier ziemlich skrupellos getan haben, auf dem Marktplatz der Parteienpolitik wie Monstranzen vorgezeigt werden.
Ich möchte zum Abschluß sagen: Bei allen Konflikten und Differenzen in den politischen Anschauungen zwischen Opposition und Koalition unterscheidet diese Haltung die Fraktionen von Ihrer Gruppe.
Bitte, Herr Kollege Gysi.
Unser Anliegen bestand genau nicht in dem Erreichen eines Vorteils für eine Gruppe. Deshalb war es ja unser Wunsch, daß sich alle Mitglieder des Hauses beteiligen. Dann hätte keine Partei mehr die Spenden sozusagen für parteipolitische Zwecke nutzen können.
Wir hätten es der Landesregierung in Brandenburg überlassen, wie die Mittel für ein gemeinsames Projekt des Bundestages ohne parteipolitische Konkurrenz eingesetzt worden wären.
Das haben Sie verhindert.
Es mag sein, daß einzelne gespendet haben. Aber das ist auf diese Art und Weise nicht kontrollierbar. Auf die andere Art wäre es kontrollierbar gewesen. Das wäre der große Vorteil gewesen. In dieser Auffassung mögen wir uns wirklich unterscheiden.
Das Wort hat der Bundeskanzler.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bevor ich mich meinem eigentlichen Thema zuwende, möchte ich im Nachklang zu dem, was Kollege Schubert soeben in seiner Kurzintervention gesagt hat, eine Bemerkung machen. Ich finde es skandalös und unerhört, wie Sie, Herr Gysi, hier mit den Sorgen der Menschen im Oderbruch umgehen. Ich finde es skandalös - Ihre Wortwahl war interessant -, daß Sie vor dem frei gewählten Deutschen Bundestag sagen: Wenn die Leute bei Ihnen gespendet hätten, hätte man kontrollieren können, was gespendet worden ist.
Das ist genau das, was Sie gerne hätten. Sie mögen noch so beredt hier am Rednerpult sprechen - es ist unbestreitbar, daß Sie das können -, aber das schimmert immer wieder durch. Es ist gut, daß dies so ist.
Ich habe dies noch einmal aufgegriffen, damit Millionen Fernsehzuschauer zur Kenntnis nehmen können, wer die Gruppe der PDS im Deutschen Bundestag führt und daß sich nichts, aber auch gar nichts in deren Denken geändert hat. Das ist das, was wesentlich ist.
Da wir dieses Thema aber kurz angesprochen haben: Es liegt im Interesse dieses Hauses, daß wir den Spendern in Deutschland noch einmal unseren gemeinsamen Dank aussprechen.
Es sind weit über 100 Milllionen DM in diesen wenigen Wochen gespendet worden. Das ist eine großartige Leistung. Das zeigt, daß die Herzen der Menschen nicht versteinert sind, wie immer wieder behauptet wurde. Es zeigt ein Zweites: daß sich das, was die Deutschen aus ihrer Überzeugung und mit ihrem Herzen bereit sind zu tun, sehr gut in vergleichbare Beispiele anderer Länder einreihen läßt. Dies ist eine Erfahrung, auf die wir in Deutschland stolz sein können.
Meine Damen und Herren, der Etat des Bundeskanzlers ist aus der Sicht der Opposition die Gelegenheit zur Generalabrechnung, aus der Sicht der Bundesregierung, des Regierungschefs und der Regierungskoalition geht es darum, Rechenschaft abzulegen und darüber zu sprechen, was wir getan haben, und auch über das, was nicht so gut gelungen ist. Ich habe da gar keine Probleme.
Wir haben heute schon starke Worte gehört. Kollege Scharping war schon so sehr in Erregung, daß ich ihn kaum mehr habe verstehen können. Der Vertreter der Grünen, Herr Fischer, hat das geboten, was er immer bietet, wenn er zur Sache nichts zu sagen hat und wenn er von einem wichtigen Tatbestand ablenken will, nämlich davon, daß er hier Reformen fordert, aber immer kneift, wenn es um die Verwirklichung von Reformen geht. Ich kenne wenige Mitglie-
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
der des Deutschen Bundestages, die dies so virtuos handhaben, nämlich hier so zu reden, aber draußen ganz anders zu sprechen.
Herr Abgeordneter Fischer, wenn Sie hier so über Energiepolitik sprechen, nachdem Sie wie ein Hetzer aufgetreten sind, als die Bergarbeiter in Bonn waren
- ich kann das noch viel schärfer formulieren -, dann ist darin die ganze Erbärmlichkeit Ihrer Politik zu sehen.
Wir werden in der vor uns liegenden Zeit genug Gelegenheit haben, dies den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland zu sagen.
Herr Abgeordneter Scharping, Sie haben gewaltig zugeschlagen. Wir alle sind fast zusammengebrochen. Um in Ihrer Sprache zu bleiben: Ich habe mich nur mühsam hierhergeschleppt; aber ich bin da.
Was Sie hier Jahr für Jahr vortragen, ist vor allem in einem Punkt bemerkenswert. Sie sprechen viel von der Gemeinschaft und von den moralischen Notwendigkeiten. Aber in jeder vierten Passage Ihrer Rede haben Sie schlicht und einfach den alten Sozialneid geschürt. Das ist das, was Sie tun, nicht mehr und nicht weniger.
Daß Sie uns bekämpfen, ist Ihr Job. Dagegen habe ich nichts zu sagen. Aber die Art und Weise, in der Sie beispielsweise mit den Kollegen der F.D.P. umgehen, ist schon sehr erstaunlich.
Sie sind doch heilfroh, Herr Scharping, daß diese „Klientelpartei" bereit war, Ihren Nachfolger in Mainz ins Amt zu hieven. Das ist ein praktisches Beispiel. Wenn Sie die Möglichkeit hätten - was die Zahlenverhältnisse nicht hergeben -, mit der F.D.P. an die Regierung zu kommen, dann wären die Freien Demokraten für Sie die Allergrößten.
Lassen Sie doch dieses Spiel! Ich habe noch in Erinnerung, wie es 1982, 1983 war, als Sie vom Verrat der Freien Demokraten sprachen. In Wirklichkeit haben doch Sie selbst Helmut Schmidt gestürzt und niemand sonst.
Im Mittelpunkt Ihrer Kritik steht in diesen Tagen vor allem der Kollege Waigel. Ich lasse jetzt die Kommentierung Ihrer herabsetzenden Bemerkungen weg, von denen Sie genau wissen, daß sie blanker Unsinn sind. Sie machen das nur, um Stimmung in Ihren eigenen Reihen zu erzeugen.
- Sie brauchen doch diese Stimmung; denn Sie wollen noch eine Menge Wahlen gewinnen. Aber Sie werden sie nicht gewinnen. Das wissen auch Sie.
Theo Waigel hat als Bundesfinanzminister in dieser Zeit eines der schwierigsten Ämter - das liegt in der Natur der Sache -, das wir in der Bundesrepublik Deutschland zu vergeben haben. Das Amt des Bundesfinanzministers ist schwierig. Das weiß heutzutage auch jeder Landesfinanzminister, und jeder Kämmerer in jeder deutschen Stadt wird Ihnen das bestätigen. Theo Waigel hat in diesen Jahren eine exzellente Arbeit gemacht.
Er hat diese Aufgabe mit großem persönlichen Mut und großem Sachverstand gemeistert. Dafür bin ich ihm besonders dankbar.
Wenn ich mich an die Stationen in diesen Jahren seit 1989 erinnere, dann denke ich daran, daß Theo Waigel zusammen mit Wolfgang Schäuble die entscheidende Last beim Aushandeln der Verträge über die deutsche Einheit getragen hat - als viele von Ihnen weggetaucht waren, weil sie zudecken mußten, daß sie die deutsche Einheit in Wahrheit überhaupt nicht wollten. Theo Waigel hat seine Pflicht getan, und zwar in einer guten Weise.
Darüber hinaus hat er einen ganz wesentlichen Beitrag zur europäischen Einigung geleistet. Auch das ist für einen deutschen Finanzminister keine einfache Sache. Schließlich geht es nicht zuletzt um die Frage, wie wir uns als die größte Industrienation in Europa gerecht an den Kosten für Europa beteiligen; eine Frage, die verständlicherweise hierzulande bei vielen anders beantwortet wird als innerhalb der Europäischen Union. Auch das hat er mit Bravour gemacht.
Sein Name steht für den Stabilitätspakt.
Das ist eine ganz entscheidende Voraussetzung für die Schaffung des Euro. Auch das muß gewürdigt werden.
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
Sie wissen doch so gut wie ich, daß er nicht nur bei den Fachkollegen, sondern auch in der breiten internationalen Öffentlichkeit in hohem Ansehen steht.
- Sicher, im Vergleich zu einer Demonstration auf der Startbahn West ist das keine Größenordnung. Da sitzen Sie doch im Grunde immer noch. Das ist noch immer Ihr Stil, den Sie als Arbeit ausgeben.
Theo Waigel ist in der EU, beim EWS und überall sonst
hoch geachtet. In diesen Tagen hat einer, den Sie doch verstehen müßten, nämlich der Finanz- und Wirtschaftsminister der Französischen Republik, Strauss-Kahn, gesagt:
Theo Waigel hat - gerade weil er so lange dabei ist - hat bestimmt mit am meisten getan für die europäische Integration in Währungsfragen.
Er verdient es, der deutsche Finanzminister zu sein, der bei der Einführung des Euro in führender Position dabei war.
Das ist ein guter Wunsch. Ich denke, die deutschen Wähler werden mithelfen, daß das so kommt; daran habe ich gar keinen Zweifel.
Weil ich gerade bei der legendären Internationalität der deutschen Sozialdemokratie bin - Sie sind ja der Vorsitzende der europäischen Sozialdemokraten, Herr Abgeordneter Scharping -, möchte ich Ihnen - es hat mich sehr verwundert, daß so etwas denkbar ist - doch einmal vortragen, was in diesen Tagen in einer großen französischen Zeitung, im ,,L'Express", zu lesen war.
- Ich trage hier keine Lügen vor; ich zitiere den „L'Express".
Da wird zitiert
- Herr Lafontaine, Sie können das ja nachher berichtigen -, daß Herr Lafontaine seinem französischen Kollegen, dem Ersten Sekretär der PS, François Hollande, anvertraut hat:
Ihr französischen Sozialisten habt unter den Flitterwochen von Giscard mit unserem Parteiführer Helmut Schmidt gelitten. Wir deutschen Sozialisten haben unter der Freundschaft zwischen Mitterrand und dem Christdemokraten Kohl gelitten. Sorgt dafür, daß Jospin und Kohl sich nicht zu gut verstehen. Sonst werden wir bei den Bundestagswahlen im September '98 Schwierigkeiten haben.
Herr Ministerpräsident Lafontaine, so wie ich Sie kenne, werden Sie das gleich bestreiten. Aber ich kann Ihnen, auch wenn Sie es bestreiten, versichern: Es gibt keinen einzigen sozialdemokratischen Regierungschef in der Europäischen Union, der Ihren Wahlsieg wünscht.
Im Moment sind Sie ja unterwegs, um politische Leitfiguren, die Sie selbst ja nicht haben, in unser Land zu holen. Glauben Sie im Ernst, daß beispielsweise der britische Premierminister Freude an einer Koalition hätte, die Sie oder ein anderer mit Herrn Fischer und den Grünen bilden würde?
Eine Politik, wie sie rot-grüne Pseudoreformer vertreten, wird nirgendwo in Europa von Sozialdemokraten verstanden. Das ist doch die Realität.
Meine Damen und Herren, Sie werden in den nächsten Monaten viel Gelegenheit haben, das alles zu sagen. Sie haben hier wieder die Forderung nach Neuwahlen erhoben. Natürlich wissen Sie genauso gut wie ich, daß es jetzt keine Neuwahlen gibt. Denn wenn Sie sie bekämen, wären Sie doch in einer Verlegenheit. Sie brauchen doch noch die paar Monate, um einen Kanzlerkandidaten zu finden.
Herr Schröder muß doch noch die Bewährungsprobe der Landtagswahl bestehen. Jetzt nehmen Sie doch dem guten Mann nicht die Chance, sich zu bewähren.
Im übrigen haben Sie noch viel Gelegenheit Wahlkampf zu führen, wenn Ihnen danach ist; zunächst in diesen Tagen in Hamburg. Im nächsten Jahr haben wir die Wahlen in Niedersachsen und dann in Sachsen-Anhalt. Dort werden Sie den Wählern erläutern müssen, wie es mit Ihrem Probelauf mit dem Modell SPD-Grüne-PDS ist, jener PDS, deren wahrer Geist sich auf dem Hamburger Plakat ganz offen zeigt. Auch das muß noch einmal in Erinnerung gerufen werden. Ferner werden wir im nächsten Jahr in Bayern, dann die Bundestagswahl und die Wahlen in Mecklenburg-Vorpommern haben.
Wenn Sie also wollen, können Sie zwölf Monate Wahlkampf machen. Ich halte das aber für unsinnig, weil wir bei den großen notwendigen Reformen eine
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
Menge zu tun haben. Deswegen bin ich der Meinung, daß wir jetzt unsere Arbeit machen sollten. In einigen Punkten gibt es vielleicht eine Chance zu mehr Gemeinsamkeit. Dann soll mir das recht sein.
Gestern hat die verehrte Frau Kollegin, die für Sie gesprochen hat - und heute Herr Scharping wieder -, den alten Hut mit dem „Aussitzen" gebracht. Wissen Sie, allmählich könnte doch auch Ihnen etwas Neues einfallen. Wirklich! Wenn Sie von nichts anderem als vom „Aussitzen" reden können, na gut.
Herr Scharping, Sie und auch andere lassen heute die gesamte Amtszeit der jetzigen Bundesregierung und der regierenden Koalition Revue passieren. Das kann man machen; ich habe nichts dagegen. Nur muß ich Ihnen dann sagen, daß diese Koalition in diesen Jahren eine Menge in ausgesprochen positiver Weise „ausgesessen" hat. Sie war entscheidend an den Veränderungen in Deutschland und in Europa sowie auch an den weltweiten Veränderungen beteiligt.
Mit der Durchführung des NATO-Doppelbeschlusses 1983 ist die Voraussetzung für den Zusammenbruch des kommunistischen Imperiums geschaffen worden.
Wir hätten keine Chance auf die deutsche Einheit, auf die Freiheit der Tschechen, der Slowaken, der Polen, der Ungarn, der Rumänen oder etwa der Ukrainer und auch nicht auf die Veränderungen in Rußland gehabt, wenn damals die Entscheidung nicht so getroffen worden wäre, wie sie durch unser Handeln gegen Ihren erbitterten Widerstand durchgesetzt wurde.
Es kommt mir schon eigenartig vor, wenn Männer, die in entscheidenden Stunden der Geschichte unseres Volkes in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts so total fehlgeleitet waren wie Sie, Herr Lafontaine - Sie haben doch damals gesagt, ein vereintes Deutschland in der NATO sei ein „historischer Schwachsinn", um nur eines Ihrer Glanzzitate zu bringen - uns heute Ratschläge geben wollen, was wir in dieser veränderten Welt besser machen können. Mit Ihnen in der Verantwortung hätte es diese Veränderungen überhaupt nicht gegeben.
Dann ging es in den vergangenen Jahren um die Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft - dazu werde ich gleich etwas sagen -, um die europäische Einigung und die Modernisierung des Standortes Deutschland. Es ist nicht meine Sache, jetzt diese gesamte Periode unserer Geschichte hier darzustellen. Nur, Sie haben nicht mitgemacht. Sie haben auch nicht bei der entscheidenden Aufgabe mitgemacht, bei der es jetzt erneut um Entscheidungen geht: bei der europäischen Einigung.
Als wir 1982 mit dieser Koalition die Bundesregierung übernommen haben, war das meistgebrauchte
Wort in Europa Eurosklerose. Wir haben in wenigen Jahren die Einheitliche Europäische Akte, den Durchbruch zum Gemeinsamen Binnenmarkt und 1992 den Vertrag von Maastricht möglich gemacht. Lesen Sie doch einmal nach, was Sie in der Debatte um Maastricht gesagt haben. Es war nichts anderes, als die Sache schlechtzumachen,
und das ist auch heute noch Ihre Politik.
Meine Damen und Herren, dies alles ist keine Voraussetzung dafür, daß Sie heute sagen könnten, Sie würden, wenn Sie die Regierung übernähmen, beispielsweise in der internationalen Politik erfolgreich sein.
Am heutigen Tag kann ich als Bundeskanzler etwas sagen, was niemand vor mir sagen konnte - ich bin dankbar dafür, und es ist wahrlich nicht mein Verdienst allein -: Wir haben noch nie in unserer Geschichte so exzellente Beziehungen zu London, zu Washington, zu Paris und zu Moskau gehabt. Das ist das Ergebnis unserer Friedens- und Außenpolitik.
Dann war heute viel die Rede davon, welche Entwicklungen unser Land vor der deutschen Einheit genommen hat. Dabei wird von Ihnen, vor allem von der SPD, verschwiegen, daß in den Jahren vom 1. Oktober 1982 an, vor allem ab 1983 bis zum Tag der deutschen Einheit, überhaupt erst die ökonomischen Voraussetzungen geschaffen wurden, um die deutsche Einheit finanziell einigermaßen bewältigen zu können.
Wir haben in diesen wenigen Jahren die Staatsquote von über 50 Prozent auf 46 Prozent zurückgeführt. Das war der niedrigste Stand seit 1974.
- Hochgefahren haben Sie sie doch. Sie waren doch bis 1982 an der Regierung.
Die Steuer- und Abgabenquote ist von 43 Prozent bis 1990 auf gut 40 Prozent zurückgeführt worden.
- Dazu sage ich gleich etwas. - Die Steuerzahler - dagegen waren Sie ja auch, so wie Sie heute dagegen sind - sind in den 80er Jahren um 60 Milliarden DM entlastet worden. Ferner haben wir in diesen Jahren 3 Millionen neue Arbeitsplätze in der alten Bundesrepublik Deutschland geschaffen.
Weil Sie dauernd falsch zitieren, will ich auch das noch einmal sagen: Es gibt eine Erklärung der Vertreter der Wirtschaft, der Gewerkschaften und der Bundesregierung - durch mich in jener Sitzung vertreten -, daß es unser gemeinsames Ziel ist, die Arbeitslosigkeit bis zum Jahr 2000 zu halbieren. Hören
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
Sie also auf, zu sagen, dies sei allein eine Sache der Bundesregierung!
Alle in diesem Bereich Verantwortlichen haben sich dieses Ziel gesetzt. Ich denke auch, daß es durchaus klug ist, sich in einer für unser ganzes Land so dramatisch wichtigen Frage ein Ziel zu setzen.
Bei all dem, was Sie jetzt an Anmerkungen machen und an Vorwürfen erheben, verschweigen Sie, daß uns das Geschenk der deutschen Einheit - Gott sei Dank - in eine neue Situation gebracht hat. Das gilt für viele Bereiche: Die Finanzlage der Bundesrepublik mußte im wiedervereinten Deutschland notwendigerweise eine andere sein, und wir mußten vorübergehend höhere. finanzielle Belastungen we- gen des Strukturwandels und vieler anderer Dinge auf uns nehmen.
Wir haben von 1991 bis Ende 1997 netto 900 Milliarden DM an öffentlichen Transfers in die neuen Länder geleistet. Das ist richtig; ich stehe dazu. Die Priorität für den Aufbau Ost muß bleiben. Das war, ist und bleibt Ziel unserer Politik.
Daß das Auswirkungen auf den Haushalt hat, ergibt sich doch ganz von selbst.
Was Sie regelmäßig verschweigen, auch in der heutigen Debatte, ist, daß wir nicht nur für Deutschland die notwendigen Opfer in Sachen Einheit bringen mußten, sondern daß wir auch den Ländern in Mittel-, Ost- und Südosteuropa erhebliche Unterstützung haben zukommen lassen, und zwar aus gelebter Solidarität. In alle diese Länder sind insgesamt gut 180 Milliarden DM geflossen. Das ist mehr, als jedes andere Land der Welt für diese Länder aufgebracht hat. Das ist unsere Leistung, und darauf sind wir stolz.
Wer gerne vom Frieden redet, muß anerkennen, daß diese Hilfe eine wahre Investition in den Frieden ist.
In der Debatte ist indirekt noch ein anderes Thema angeklungen: Wenn wir über die Probleme des Arbeitsmarktes reden, dann ist es nur fair - das Wort „fair" ist ebenfalls in dieser Debatte gefallen -, auch einmal die Veränderung der Bevölkerung in Deutschland in diesen Jahren zu betrachten. Wir hatten in den vergangenen Jahren eine Zuwanderung nach Deutschland, die höher war als in das klassische Einwanderungsland USA. Im Jahr 1995 zum Beispiel wanderten 720000 Personen in die USA ein, nach Deutschland kamen 1,1 Millionen Menschen. Natürlich waren es nicht 1,1 Millionen, die sofort einen Arbeitsplatz suchten; unter ihnen waren Kinder, Alte, ganz verschiedene Gruppen.
Daß dies angesichts unserer gesamtgesellschaftlichen Lage für den Arbeitsmarkt aktuell eine ganz erhebliche zusätzliche Belastung ist - ich sehe es übrigens auf lange Sicht mehr als eine Chance denn als eine Belastung -, das erklärt sich von selbst. Wenn Sie also über Arbeitslose reden, dann sagen Sie bitte die Wahrheit. Wir haben uns in den vergangenen Jahren um mehr Probleme anderer Menschen gekümmert als alle anderen Länder in Europa. Darauf sind wir stolz. Das ist gelebte Solidarität - im Gegensatz zum Schüren von Neid, wie es hier geschehen ist.
Herr Abgeordneter Scharping, Sie haben die Zahl der jugendlichen Arbeitslosen angesprochen. Wir haben zu viele; darüber brauchen wir nicht zu diskutieren. Hören Sie aber bitte auf, in einer solchen Weise darüber zu reden, wie Sie es getan haben. Wenn Sie die Zahlen in den Ländern Europas vergleichen, dann werden Sie feststellen, daß die Bundesrepublik Deutschland mit knapp 10 Prozent jugendlichen Arbeitslosen - Gott sei Dank - an viertletzter Stelle steht. Die Liste wird von Spanien mit 41 Prozent angeführt; sogar die Niederlande liegen mit 11 Prozent noch vor uns, Großbritannien sogar mit 15 Prozent. Das heißt doch, daß es nicht stimmt, daß in diesem Lande für junge Leute nichts getan wird. Wir haben zu viele jugendliche Arbeitslose. Aber der Vergleich mit dem Ausland, den Sie angeführt haben, ist völlig inakzeptabel und entspricht in gar keiner Weise der Wahrheit.
Dann lassen Sie mich ein Wort zum Thema Lehrstellen sagen. So einfach, wie das hier dargestellt wurde, ist es natürlich nicht. Wieso reden Sie eigentlich, wenn Sie von Lehrstellen sprechen, immer über die Bundesregierung und nicht über die Landesregierungen?
Als ich gestern die Statistik las, habe ich mir schon die Frage gestellt: Woher kommt es eigentlich, daß Nordrhein-Westfalen, vor allem im Kernbereich des Ruhrgebietes, so miserabel abschneidet? Was haben Sie eigentlich getan? Ich war lang genug selbst Ministerpräsident. Ich weiß, was ich selbst auf diesem Gebiet als rheinland-pfälzischer Ministerpräsident getan habe. Ich komme gleich auf einen Punkt zu sprechen, den Sie mit bedenken müssen.
Wir machen jetzt die bittere Erfahrung - das ist ganz unstreitig, alle sagen es, die etwas damit zu tun haben, und ich halte das für eine schlimme Sache -, daß rund 10 Prozent der Abgänger unserer Hauptschulen nicht ausbildungsfähig - wie dieses schreckliche Wort heißt - sind. Das hören Sie von den Kammern, das hören Sie von den Handwerksmeistern, das hören Sie überall.
Meine Damen und Herren, das ist doch eine Anklage gegen das deutsche Bildungssystem, die uns
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
eigentlich von den Stühlen reißen müßte: 10 Prozent der 15jährigen Jugendlichen sind nicht ausbildungsfähig! Da reden Sie immer von den Lohnzusatzkosten und dem, was die Bundesanstalt in Nürnberg machen soll. In deren Etat sind 850 Millionen DM zur Verbesserung der Ausbildungschancen dieser jungen Leute vorgesehen! Dabei ist das doch eine Sache der Schulen in Deutschland. Es ist eine Sache der Mehrheit im Bundesrat - ich schließe die anderen nicht aus -, daß sich die Ministerpräsidenten darum kümmern, diesen absolut unmöglichen Zustand zu beenden.
Was ist jetzt konkret im Lehrstellenbereich geschehen, oder was geschieht noch? Zunächst einmal können wir eine höchst erfreuliche Entwicklung feststellen - ich kann nicht verstehen, wie manche in der Wirtschaft so tun, als sei das eine Heimsuchung -: Wir haben noch für sechs oder sieben Jahre geburtenstarke Jahrgänge. Das bedeutet in diesen Jahren im Blick auf die Ausbildung eine besondere Herausforderung, wenn die Jugendlichen in die Welt der Erwachsenen kommen.
- Ich würde an Ihrer Stelle einen solchen Zwischenruf nicht machen. Er ist ziemlich entlarvend.
Das heißt, wir haben bis zum Jahr 2005 noch geburtenstarke Jahrgänge. Dann wird es steil abbrechen, und wir werden dann mit Wehmut feststellen, daß wir weniger junge Leute als Stellen haben.
Meine Damen und Herren, wir haben ein Zweites zu beobachten. Nach dem ersten Zahlenbild zeichnet sich ab - ich muß sagen, ich bin darüber nicht böse -, daß ganz offensichtlich auch bei denen, die Abitur machen, mehr und mehr die Überlegung angestellt wird, statt eines akademischen Studiums einen Beruf anzustreben, der eine Lehre voraussetzt. Viele wählen sogar die Reihenfolge: erst Lehre und dann akademisches Studium. Diese Überlegungen haben zugenommen. Das ist doch eigentlich eine Entwicklung, die wir die ganzen Jahre über befürwortet haben. Es kann doch nicht falsch sein, daß neben dem akademischen Ausbildungsweg jetzt auch der nichtakademische Weg im Denken junger Leute in Deutschland an Prestige gewinnt. Das ist doch im höchsten Maße erwünscht.
Dann haben wir die unbestreitbare Schwierigkeit - ob wir das wollen oder nicht; kein Mensch kann das ändern, es sei denn, wir führen ein Meldewesen ein, das ebenso unmenschlich wie bürokratisch ist -, daß sich viele junge Leute - leider ohne von ihren eigenen Eltern anders angehalten zu werden - für drei oder vier Ausbildungsplätze bewerben, dann einen Platz annehmen und über Wochen hinaus die anderen Plätze nicht freigeben. Wir wissen sehr genau, daß die Zahl dieser Fälle beachtlich ist. Deswegen wissen wir auch, daß heute niemand, der fair und ehrlich ist, sagen kann: Wir brauchen jetzt noch genauso soundso viele Stellen.
Nach allem, was ich sehe - und ich habe Zutrauen zu den Zahlen -, scheint es so zu sein, daß wir im Augenblick noch 35 000 bis 40 000 Stellen brauchen. Aber auch wenn wir das erreichen, ist das kein Grund, die Anstrengungen einzustellen. Selbst wenn wir nämlich 100 Prozent der Bewerberstellen nachweisen, ist das Problem noch nicht für alle jungen Leute gelöst; denn wir sprechen hier über bundesweite Zahlen, und regional haben wir völlig unterschiedliche Verhältnisse.
Es nützt uns also nichts, wenn wir nur eine auf den Bund bezogene Zahl haben, die befriedigend ist. Vielmehr müssen wir darüber nachdenken, was wir tun können, um dort, wo Stellen vorhanden sind, junge Leute auch hinzubringen. Ferner müssen wir die Akzeptanz dieser Stellen entsprechend verbessern.
Wenn in wichtigen deutschen Großbetrieben der Chemie viele Stellen für Chemikanten - das ist einer der höchstbezahlten Ausbildungsberufe - bereits im zweiten Jahr nicht besetzt werden können, dann muß man den jungen Leuten sagen: Es ist nicht gut, wenn ihr euch nur noch für sieben, acht Berufe interessiert und für andere nicht.
Es gibt viele Bereiche, in denen noch eine Nachfrage nach Bewerbern besteht. Dies ist eine Aufgabe, bei der wir gemeinsam etwas tun müssen, der Bund, die Länder, die Gemeinden und natürlich die Wirtschaft. Wer ja sagt zum dualen System, der muß auch im Bereich der Wirtschaft alles tun, um den Erfordernissen eines dualen Systems Rechnung zu tragen.
Man kann nicht das duale System haben wollen und gleichzeitig die Lehrlingsfrage dem Staat überlassen. Das ist auch - aber nicht nur - die Sache des Staates, und insofern sind wir alle gemeinsam gefragt.
Ich sage Ihnen allerdings auch: Was Sie im Hinblick auf eine Abgabe planen - ich habe das der Zeitung entnommen; ich kenne den Entwurf nicht -, wird nichts werden. Wenn Sie genau hinschauen, werden Sie kaum jemanden in der SPD, der vor Ort mit den Problemen zu tun hat, finden, der sich dafür ausspricht, diesen Weg zu gehen. Ich zitiere jetzt nicht Ihren Konkurrenten, Herr Ministerpräsident Lafontaine. Er macht es vielleicht nur, um Ihnen jetzt Konkurrenz zu machen. Ihn zu zitieren wäre mir zu einfach. Ich finde, daß die sachliche Begründung, die angeführt wird, in gar keiner Weise ausreichend ist.
Eine letzte Bemerkung zum Thema Lehrstellen, die uns nachdenklich machen sollte. Wir reden heute und in den kommenden Tagen mit Recht über die unerträgliche Höhe der Arbeitslosigkeit. Wenn Sie sich die Zahl, über 4 Millionen, einmal genau anschauen und feststellen, wie viele Langzeitarbeitslose darunter sind - -
- Wenn Sie hier immer dazwischenschreien, kommen Sie einer Lösung des Problems wirklich nicht näher. Ich kann Sie nur bewundern, wie oft Sie solche Töne von sich geben.
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
Wenn wir bei über 4 Millionen Arbeitslosen davon ausgehen müssen, daß darunter rund 1,4 Millionen sogenannte Langzeitarbeitslose sind, und wenn wir aus allen Unterlagen wissen, daß die Hälfte dieser Langzeitarbeitslosen, rund 700000, keine qualifizierte Berufsausbildung hat, dann ist es unsere eigentliche soziale Aufgabe, möglichst alle, die es können und die es wollen - beides ist wichtig -, in eine Ausbildungsstelle zu bringen.
Wir müssen ganz offen den Betrieben sagen - auch das gehört dazu -: Wir erwarten von euch, daß ihr junge Leute ausbildet, aber wir können in dieser Lage nicht erwarten, daß ihr automatisch eine Arbeitsplatzgarantie gebt. Das zu sagen gehört auch zur Ehrlichkeit. Ich glaube, wenn wir uns wirklich gemeinsam dieser Aufgabe widmen, dann haben wir die große Chance, vielleicht nicht für alle, aber doch für die allermeisten jungen Leute eine Ausbildungsstelle zu bekommen.
Wir müssen noch über ein weiteres Problem nachdenken, nämlich darüber, wie wir die Mobilität junger Leute, die einen Ausbildungsplatz suchen, fördern können. Es ist nicht zu verstehen, daß wir einer Studentin oder einem Studenten, die 18 oder 19 Jahre alt sind, sagen, daß sie nicht nur zu der nächstgelegenen Universität gehen sollten, sondern daß sie sich in ganz Deutschland umsehen müssen, während es auf der anderen Seite bisher nicht gelungen ist - ich sage das jetzt gar nicht als Vorwurf; ich sage das auch an meine eigene Adresse; ich sage das an unser aller Adresse -, bei Ausbildungsplatzsuchenden im Bereich des Handwerks eine ähnliche Einstellung hervorzurufen. Es geht darum, daß auch diese jungen Leute sagen: Wenn ich in meiner Stadt keinen Ausbildungsplatz finden kann, dann suche ich mir einen in einer anderen Stadt. Das war übrigens in den 50er Jahren in Deutschland völlig selbstverständlich.
Wir brauchen eine erstklassige Ausbildung, um die neuen Herausforderungen zu bestehen.
- Das stimmt doch gar nicht, was Sie da sagen. Der Innenminister und mit ihm die gesamte Bundesregierung haben die Zahl der Ausbildungsstellen im öffentlichen Dienst sehr drastisch erhöht.
Meine Damen und Herren, die Globalisierung mit all ihren Konsequenzen für den internationalen Wettbewerb ist das eigentliche Thema, wenn wir darüber reden, wie wir mehr Arbeitsplätze schaffen können. Es hat keinen Sinn, darum herumzureden: Die Zahlen haben sich dramatisch verändert. Wir hatten im Jahre 1980 ein Welthandelsvolumen von knapp 2000 Milliarden US-Dollar. Das ist bis zum Jahre 1996 auf 5300 Milliarden US-Dollar gestiegen.
Das für uns Alarmierende ist, daß sich der Anteil der asiatischen Wachstumsmärkte am Welthandel verdoppelt hat, während der deutsche Anteil in den letzten Jahren zurückgefallen ist. Wir brauchen nicht
über Arbeitsplätze zu sprechen, wenn wir nicht entsprechende Veränderungen vornehmen, wenn wir uns nicht im klaren darüber sind, daß wir nicht nur, aber auch über den Export einen neuen Aufbruch brauchen.
Dafür muß man in der Gesellschaft die entsprechenden Regelungen treffen. Wir haben das getan. Das Reformprogramm der Bundesregierung kann sich auf diesem Weg zur Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit sehr gut sehen lassen.
Hier ist die Privatisierung kritisiert worden. Meine Damen und Herren, die ganze Welt unternimmt solche Schritte der Privatisierung. Was hier bei der Telekom kritisiert wurde, verstehe ich überhaupt nicht. Diese Privatisierung wird weltweit als ein großer Erfolg gefeiert.
Diejenigen, die dazu gesprochen haben, wissen auch ganz genau, daß das, was an Aktienwerten im Portefeuille der Bundesregierung bleibt, den Gegenwert für die zukünftige Versorgung der Angestellten und Beamten der Post darstellt. Sie wissen das ganz genau. Trotzdem sagen Sie hier das Gegenteil, um Stimmung im Land zu machen.
Wir haben mit der Privatisierung der Bahn einen entscheidenden Schritt getan. Sie haben mitgeholfen.
Wir haben die Privatisierung der Lufthansa so vorgenommen, daß in diesen Tagen jeder erkennen kann: Das ist ein großer Erfolg.
Ich weiß gar nicht, warum Sie dies alles kritisieren. Hier ist doch moderne Reformpolitik auf den Weg gebracht worden. Sie brauchen uns dafür nicht zu loben; das erwarte ich von Ihnen nicht. Aber Sie können wenigstens die Wahrheit sagen und zugeben: Das ist gelungen. Wenn Sie das nicht sagen wollen, sagen Sie besser gar nichts; denn was hier gesagt wird, ist ziemlich absurd, und zwar auf allen Gebieten.
Ich spreche die Novelle der Gentechnik an. Meine Damen und Herren, was hat es für eine Aufregung darüber gegeben. Wie haben Sie im ganzen Land gegen das Gentechnikgesetz gehetzt! Es ist durchgesetzt worden. Sie können der neuesten Entwicklung entnehmen, daß wir in deutschen Betrieben in relativ kurzer Zeit die Rückkehr der Gentechniklabors in großer Zahl, in größerer Zahl, als wir erwartet haben, zu verzeichnen haben.
Ich nenne ein anderes Beispiel, was Sie gleich zum Aufschrei bringen wird. Was haben Sie hier im Zusammenhang mit der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall alles aufgeführt! Ich habe immer gesagt: Mir wäre lieber gewesen, die Tarifpartner hätten das von sich aus gemacht. Sie haben es jedoch nicht gemacht.
Tatsache ist aber - Sie reden doch immer von der Entlastung der Unternehmen -, daß diese Entscheidung mit den Folgewirkungen in den Tarifen - auch dort, wo das Gesetz gar nicht auf die Tarife überzu-
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greifen braucht - eine Entlastung von insgesamt über 10 Milliarden DM gebracht hat. Zum Bild der Bundesrepublik gehört doch auch, daß wir gegenwärtig die niedrigsten Krankenfehlzeiten der letzten 20 Jahre haben.
Das alles ist doch die Wahrheit. Sie reden aber überhaupt nicht über all diese Entwicklungen, die notwendige Fortschritte gebracht haben.
Jetzt geht es um die Steuerreform. Meine Damen und Herren, es ist jedem klar: Wir haben zwei unterschiedliche Mehrheiten im Bundestag und im Bundesrat. Das gehört zur Normalität einer Demokratie. Das ist in unserem Grundgesetz geregelt. Also müssen wir miteinander reden. Sie haben dieses Gespräch bisher verweigert. Ich stelle jetzt fest, daß zumindest eine gewisse Hoffnung - von mehr will ich nicht sprechen - besteht, daß es wenigstens zu einem Gespräch kommt.
Sie werden doch nicht bestreiten können, daß das, was hier jetzt in Sachen Steuerreform ansteht - wie immer man die Details beurteilen mag -, für das Flottmachen der deutschen Wirtschaft, für den Stopp der Arbeitslosigkeit, für die Schaffung neuer Arbeitsplätze existentiell ist.
Ich kann Sie nur einladen, diesen Versuch zu machen.
Als wir hier zu einer Sondersitzung zusammengekommen sind, habe ich gehört: Diese Sitzung ist gänzlich unnötig. Nach wenigen Tagen hat sich gezeigt, wie richtig sie war. In Wahrheit haben Sie ja gestern aus gutem Grund - auch wenn Sie das nachher zurückgenommen haben - zugestimmt. Es war ja nur klug, daß Sie Bereitschaft gezeigt haben, mit uns zu reden. Wie will Herr Voscherau im Wahlkampf in Hamburg den Leuten jetzt glaubhaft machen, daß Sie bei den Steuern etwas verändern wollen, wenn Sie noch nicht einmal bereit sind, das Gespräch zu suchen? Das ist doch einfachste, tumbe Parteitaktik. Sie haben ja nur dagegenstimmen wollen, weil Sie sicher waren, daß wir dafürstimmen.
In einer ähnlichen Situation sind wir bei der Rentenreform. Es geht gar nicht um die Frage, ob die hier sitzenden Parteien die Rentenreform wollen oder nicht. Vielmehr geht es um die objektiven Gegebenheiten. Angesichts der heutigen Entwicklung - neben Italien ist Deutschland in der EU das Land mit der niedrigsten Geburtenrate; zudem zieht, höchst erfreulich, das Lebensalter deutlich an - müssen wir Konsequenzen ziehen.
Es kann im übrigen nicht sein, daß man dies alles bei den Reformen im Gesundheitssystem nicht gelten läßt. Wir wollen nicht - ich schon überhaupt nicht -, daß in Deutschland, wie zum Teil in anderen Ländern Europas, Gesetze verabschiedet werden, nach denen jemand, der mehr als 70 Jahre alt ist, keinen Anspruch darauf hat, von der Allgemeinen Ortskrankenkasse zum Beispiel einen Bypass bezahlt zu bekommen. Das kann nicht das Ziel unserer Sozial- und Gesundheitspolitik sein.
Angesichts der demographischen Veränderungen muß man doch Anpassungen vornehmen. Das ist eben richtig angemerkt worden: Wir müssen die ältere Generation und die junge Generation gleichermaßen im Blick haben, damit letztere später nicht unter der Last dessen, was sie zu tragen hat, zusammenbricht.
Daß eine solche Sichtweise klug ist, ergibt sich ja aus einer anderen Erfahrung - auch darüber ist bisher kein Wort verloren worden -: In diesen Tagen ist die erste Bilanz der Pflegeversicherung vorgelegt worden. Meine Damen und Herren, das ist eine Erfolgsstory. Dadurch konnten die Kommunen rund 10 Milliarden DM einsparen. Vor allem hat sich die Pflegeversicherung nicht nur als ökonomisch sinnvoll erwiesen, sondern sie ist in menschlicher Hinsicht richtig und notwendig.
Mein japanischer Kollege Hashimoto hat mich gebeten, Experten aus unserem Land nach Japan zu schicken - dieses Land ist in einer ähnlichen Situation; durch die Altersstruktur ist es noch stärker belastet als wir -, um dort zu erläutern, wie die Deutschen vorgegangen sind. Das ist doch ein Zeichen dafür, daß diese Reform großartig gelungen ist. Auch das gehört zum Bild der Bundesrepublik Deutschland.
Dieses törichte Gerede vom sozialen Kahlschlag ist schon deswegen absurd, weil es durch die Zahlen widerlegt werden kann. Mehr als jede dritte Mark unseres Sozialprodukts - das sind mehr als 1 Billion DM - wird jährlich für Sozialleistungen ausgegeben. Das entspricht 14 000 DM je Einwohner. Von einer Abschaffung des Sozialstaates kann also gar keine Rede sein. Wir sprechen vom Umbau des Sozialstaats, damit wir ihn auf Dauer bezahlen können.
Da wir nun darüber reden, spreche ich erneut eine Einladung an Sie aus. Wieso müssen alle Strukturen so bleiben, wie sie gewachsen sind? Ich habe eben mit Erstaunen gehört, daß Sie überlegen, was man an deutschen Universitäten alles verbessern könnte. Machen Sie es doch! Sie brauchen doch den Bund überhaupt nicht dazu. Herr Scharping, der Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz kann den Universitäten durch ein eigenes Haushaltsrecht mehr Autorität und mehr Souveränität geben.
- Das hat er so natürlich nicht getan.
Es kann doch nicht richtig sein, daß wir es uns angesichts unserer Altersgruppierung leisten, daß der junge Akademiker durchschnittlich mit 29 oder 30 Jahren in das Berufsleben einsteigt und
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
mit 60 oder 62 Jahren in Pension geht, wobei seine Lebenserwartung bei 76 oder 77 Jahren liegt.
Das sind eigentlich ganz einfache Rechnungen.
Es muß uns doch zu denken geben, daß alle EULänder - niemand wird ja behaupten wollen, sie bildeten schlechter aus als wir - ihre jungen Leute im Durchschnitt mit 25 Jahren aus der Universität entlassen, also vier bis fünf Jahre früher. Ich lade Sie von der SPD ein, einmal in Ihrer eigenen Partei darüber nachzudenken, was es bedeutet, daß in diesem Bereich Änderungen vorgenommen werden müssen. Das ist Sache der Bundesländer. Dazu braucht man den Bund überhaupt nicht.
Wenn die Hilfe des Bundes notwendig ist, biete ich Ihnen für die Bundesregierung an: Wir werden alles tun, um auf diesem Weg hilfreich zu sein.
Es ist offenkundig, daß sich die Früchte unserer Reformpolitik zeigen. Die Wirtschaftsperspektive für das Jahr 1997 ist spürbar besser geworden. Die deutsche Wirtschaft geht wieder auf Wachstumskurs, das Bruttosozialprodukt wird mit großer Wahrscheinlichkeit die Wachstumsrate von 2,5 Prozent erreichen.
Im nächsten Jahr wird es eine weitere Verbesserung geben. Die Auftragsbücher der Unternehmen zeigen das ebenso wie die Auslastung der Kapazitäten. Nach meiner festen Überzeugung wird das noch in diesem Jahr erste Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt haben. Das gilt natürlich in besonderer Weise für den Export.
In der heutigen Debatte sind zum Teil schon seltsame Dinge behauptet worden. Daß die Frage des Exports negativ bewertet wird, kann ich nicht verstehen. Jeder fünfte Arbeitsplatz in Deutschland hängt vom Export ab, und wir werden die über 4 Millionen Arbeitsplätze, die wir zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit brauchen, nicht bekommen, wenn wir nicht in der Lage sind, die notwendigen Impulse sowohl aus dem Export als auch aus der Binnenkonjunktur zu nutzen.
Ich stelle mit Befriedigung fest - ich hätte mir gewünscht, das wäre schon früher möglich gewesen -, daß eine ganze Reihe von Tarifverträgen dieser Entwicklung Rechnung trägt. Der Vertrag in der chemischen Industrie ist ein Beispiel, das für viele andere steht. Deswegen kann ich nur sagen: Hoffentlich macht dieses Beispiel Schule.
Morgen wird die Automobilausstellung in Frankfurt eröffnet. Wenn Sie die heutigen Berichte dazu lesen, werden Sie feststellen, daß in einem enormen Umfang Aufträge eingehen, daß auch neue Arbeitsplätze entstehen. Ich fand besonders bemerkenswert, daß der größte Konzern der Welt, General Motors angekündigt hat, in den nächsten Jahren 17 Milliarden DM in Deutschland zu investieren. Die Begründung
ist, daß Deutschland ein erstklassiger Standort in der Welt ist.
- Der Chef von General Motors - mit ihm habe ich dieses Thema besprochen - ist allerdings davon ausgegangen, daß wir die zwei überfälligen Reformen im Bereich des Steuersystems und der Alterssicherung vornehmen. Er hat recht, und wir werden sie vornehmen.
Der Mann hat recht, wenn er sich darauf verläßt; denn er weiß eines: Wenn Sie jetzt blockieren, egal, ob bei der Steuer, was ich mir wirklich nicht wünsche, oder bei der Altersversorgung, dann werden wir über diese Frage im nächsten Jahr eine Wahlentscheidung bekommen, und diese verlieren Sie. Deshalb sind seine Investitionen sicher. Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.
Sie haben null Chancen bei dieser Bundestagswahl - das gebe ich heute im Bundestag zu Protokoll -, wenn Sie in der Frage der Steuerpolitik Ihre Verweigerung fortsetzen; denn immer mehr Menschen begreifen, daß es einen Zusammenhang zwischen dem Abbau der Arbeitslosigkeit, vernünftigen Investitionen und den Steuern gibt. Deswegen werden wir die Steuerreform durchsetzen.
Wir haben noch einen weiteren wichtigen Punkt in den nächsten anderthalb Jahren zu erledigen, der sehr viel für das Investitionsklima und die Beschäftigung ausmacht. Das ist der pünktliche Start des Euro am 1. Januar 1999. Über 50 wichtige Repräsentanten der deutschen Wirtschaftswissenschaft haben den einfachen Satz geprägt: Der Euro stärkt Wachstum und sichert Arbeitsplätze.
Damit das ganz klar ist: Die Bundesregierung wird alles tun, was sie tun kann, daß der Euro zum vereinbarten Zeitpunkt eingeführt und eine dauerhaft stabile Währung sein wird.
Die Stabilitätskriterien des Maastricht-Vertrags stehen dabei überhaupt nicht zur Disposition. Wir werden uns nicht auf die Diskussion einlassen, wir würden die Stabilität der Währung wegen Europa opfern. Wir wollen beides: eine stabile Währung und den Euro zum richtigen Zeitpunkt. Wir haben eine gute Chance, das zu erreichen.
Dabei kann ich sehr wohl verstehen - das geht quer durch alle politischen Lager -, daß diese dramatische Veränderung, nach 50 Jahren D-Mark eine neue Währung einzuführen, vielen im Land schwerfällt. Wir werden die Entscheidung über die Teilnehmer der Währungsunion zu einem Zeitpunkt treffen, an dem wir im nächsten Jahr den 50. Jahrestag, den Geburtstag der D-Mark feiern.
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
Es ist doch ganz natürlich, daß im Blick auf die Entwicklung der letzten 50 Jahre darüber diskutiert wird. Diese 50 Jahre haben den Deutschen im freien Teil unseres Vaterlandes Frieden, Freiheit und beachtlichen Wohlstand gebracht. Die Deutschen in der damaligen DDR haben 1990 zum Beispiel in Leipzig auf ihre Transparente geschrieben: Wenn die D-Mark nicht nach Leipzig kommt, dann gehen die Leipziger zur D-Mark. Dafür, daß unter diesen Umständen über die Einführung des Euro diskutiert wird, bitte ich auch außerhalb der deutschen Staatsgrenzen um Verständnis. Mancher, der darüber redet, kennt nicht die psychologische Situation in unserem Land.
Dennoch: Es gibt zu dieser Politik keine Alternative. Ich kann nur warnend sagen: Diejenigen, die sich gegen diese Politik wenden und dieses Thema bei Wahlkämpfen ausnutzen wollen, werden erleben, daß es einen dramatischen Einbruch für ihre Position geben wird. Die große Mehrheit der Deutschen hat längst begriffen, daß der Wohlstand und die friedliche Zukunft unseres Landes mit der Europäischen Währungsunion und überhaupt mit der Europäischen Union zusammenhängen. Dies ist der Kurs der Koalition und der Bundesregierung.
Es ist heute schon darüber gesprochen worden - ich möchte wenigstens einen kurzen Satz zu diesem Thema ausführen -, daß auch das Thema Innere Sicherheit etwas mit dem Standort Deutschland zu tun hat. Ich will von mir aus nur sagen: Ich würde es begrüßen, wenn die Ankündigungen aus dem Bundesrat jetzt Wirklichkeit würden und wenn es nicht nur wegen der Hamburger Wahl solche Äußerungen gäbe. Diese Ankündigungen sollten schnell in die Tat umgesetzt werden.
Beispielsweise möchte ich gerne den Ministerpräsidenten von Niedersachsen auffordern, sein von jedem Fachmann als übel und miserabel bezeichnetes Polizeigesetz noch vor der Wahl zu ändern. Wir schreiben jetzt September.
Wer Bundeskanzler werden will, wird wohl noch in der Lage sein, ein Landesgesetz binnen vier Wochen auszuarbeiten und im Oktober im Landtag einzubringen.
Dann können wir ermessen, ob das Sprüche wegen des Wahltages waren oder ob das wirklich so gemeint ist. Es ist an der Zeit, daß sich all jene innerhalb der SPD - es sind nicht wenige; es gab immer auch andere Stimmen; das muß man fairerweise hinzufügen -, die endlich entdeckt haben, wie wichtig der innere Frieden für das Land ist, jetzt auf den Weg machen und dieses Thema nun wirklich in Angriff nehmen, und zwar in der Form, daß die Bürger damit zufrieden sein können.
Wir haben noch knapp über 12 Monate bis zur Bundestagswahl. Sie wollen heute diese Gelegenheit nutzen, um uns zu testen. Das Ergebnis des Tests ist
ziemlich einfach. Sie reden, und wir handeln. Das ist die Antwort.
Sie können auch durchs Land ziehen und dies verkünden. Vor vier Jahren um die gleiche Zeit haben Sie mir zugerufen: Sie werden es nicht mehr wagen, sich in den neuen Ländern zu zeigen. Ich gebe Ihnen jetzt das gleiche Versprechen wie damals: Ich werde auf all den Straßen und Plätzen wieder sein, wo ich 1990 und später war.
Wir werden dabei alles tun, daß gerade auch die Menschen in den neuen Ländern begreifen - sie begreifen es, wie aus jeder Umfrage erkennbar ist -, daß diese freiheitliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland ihr Glück und ihre Zukunft bedeutet. Das Gemeinsame der Deutschen, das sich in den kritischen Tagen im Oderbruch gezeigt hat, ist ein Symbol dafür, daß dieses Land nicht so ist, wie manche es gerne beschreiben oder für ihre Propaganda gerne verzerrt darstellen möchten. Die Mehrheit der Deutschen macht sich auf den Weg ins nächste Jahrhundert; denn sie ist bereit, sich durch notwendige Reformen eine gute Zukunft zu sichern.
Wir, die Koalition, F.D.P., CSU und CDU, und die Bundesregierung machen uns natürlich mit besonderer Freude auf diesen Weg. Wir sind guter Dinge.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, auf der Ehrentribüne haben der Präsident der Republik Jemen, Herr Generalleutnant Ali Abdallah Saleh, und seine Delegation Platz genommen.
Herr Präsident, ich begrüße Sie, die begleitenden Herren Minister und insbesondere unsere Kollegen Parlamentarier im Namen des Deutschen Bundestages sehr herzlich.
Mit großer Aufmerksamkeit haben wir die Entwicklung Ihres Landes in den letzten Jahren verfolgt. Unsere Anerkennung gilt den ermutigenden Fortschritten des Reform- und Demokratisierungsprozesses. Herr Präsident, wir wünschen Ihnen und Ihrem Land, daß Sie auch für die noch offenen Fragen und Problembereiche angemessene Lösungen zum Wohle aller Menschen im Jemen finden werden.
Für Ihren Besuch in Deutschland wünsche ich Ihnen alles Gute. Möge er dazu beitragen, die engen und freundschaftlichen Beziehungen zwischen unseren Ländern zu vertiefen.
Das Wort hat jetzt Herr Ministerpräsident Lafontaine.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Herren! Der Bundeskanzler hat soeben noch einmal den Finanzminister verteidigt und in Schutz genommen sowie seine Leistungen für die deutsche Finanzpolitik zu würdigen versucht. Ebenso hat er in seiner Ansprache dargelegt, was er seit 1982 auf den Weg gebracht hat. Über beidem lag so etwas wie ein Hauch von Abschied.
Als der Bundeskanzler den Finanzminister und seine Leistungen gewürdigt hat, stellte ich mir die Frage, was eigentlich vorausgegangen sein muß, damit es immer wieder zu diesem demonstrativen Schulterschluß kommt, der unverkennbar etwas von einem schlechten Gewissen an sich hat.
Um dies zu belegen und da wir heute so zitierfreudig sind, zitiere ich die „Welt am Sonntag", die sich zu diesem Sachverhalt durch den Mund des Bundesfinanzministers äußert. Waigel zu Kohl hinsichtlich der Neubewertung der Goldreserven:
Das blieb an mir hängen, und wie war es wirklich? Ich wollte die Aktion im März abbrechen, und du warst für die Fortsetzung, wolltest die Sache zu Ende bringen.
Und dann - Waigel wörtlich - war Freund Helmut ) „in den Büschen", als es darum ging, die Sache durchzustehen.
Dieses Zitat aus der „Welt am Sonntag", die in der Regel beste Kontakte zu Ihnen hat, ist bis zum heutigen Tag nicht dementiert. Wer von seinem Finanzminister verlangt, daß er eine solch zweifelhafte Aktion durchzieht, und nachher in den Büschen zu finden ist, der hat es im Grunde genommen verwirkt, noch Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland zu sein.
Nun haben Sie dargelegt, was Sie in den zurückliegenden Jahren alles getan haben. Nur, Sie kommen an der Bilanz nicht vorbei. Wir sagen nicht, daß Sie in den zurückliegenden Jahren nichts getan hätten. Aber es ist eine Tatsache, daß Sie die höchste Arbeitslosigkeit, die höchsten Schulden und die höchste Steuer- und Abgabenlast nach dem Krieg zu verantworten haben.
Das ist Ihre Bilanz und nicht das, was Sie hier an beschönigenden Reden vorgetragen haben.
Nun ist es bekannt, daß Angriffe aus der Opposition in der Regel von Ihnen abgewiesen werden. Es ist ebenso bekannt - das gilt für alle Parteien —, daß Angriffe aus den eigenen Reihen eher zum Nachdenken veranlassen.
Nun hat sich kürzlich ein prominenter Christdemokrat, der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker, zu Ihrer Regierungszeit geäußert. Dieser ehemalige Bundespräsident hat ein hohes Ansehen, wie Sie wissen. Sie sollten sich mit seinen Anmerkungen zumindest selbstkritisch auseinandersetzen und hier nicht so viel Selbstgefälligkeit verbreiten. Wenn Sie sich im übrigen hier hinstellen und so tun, als ob Sie die Wahl schon gewonnen hätten, wenn Sie sich dessen ganz sicher sind, sage ich den Wählerinnen und Wählern: Es ist gut, daß einer so selbstgefällig ist und glaubt, er habe den Sieg schon in der Tasche. Dies paßt uns in den Kram. Aber Hochmut kommt vor dem Fall, Herr Bundeskanzler.
Richard von Weizsäcker sagt:
Jedenfalls haben wir nun schon sehr lange ein politisches System in der Regierungsverantwortung,
- das ist, wie Sie richtig erkannt haben, eine vornehme Umschreibung Ihres Namens -
das die von der Demokratie angebotenen Mittel zur Erringung und Bewahrung der Macht auf eine bisher nie gekannte Höhe der Perfektion getrieben hat. Die Konzentration der Kräfte zur Machterhaltung übersteigt bei weitem die offene konzeptionelle Pionierarbeit, von geistiger Führung ganz zu schweigen.
Es war kein Wunder, daß Sie hier wieder versucht haben, Wahlkampf zu machen und Siegeszuversicht zu verbreiten statt Konzepte vorzustellen, wie jetzt die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen sei, wie jetzt die Steuerreform durchzuführen sei, wie jetzt die Rentenreform durchzuführen sei, wie jetzt die ökologische Steuerreform durchzuführen sei und wie jetzt die Lehrstellenmisere zu bekämpfen sei.
Nein, kein Wort davon. Sie beschäftigen sich immer nur mit dem Machterhalt. Hier ist die Analyse Richard von Weizsäckers absolut treffend: Ihnen geht die Macht vor der Lösung der Probleme und vor den Sachfragen. Das ist der Fehler Ihrer Regierungsarbeit in all den Jahren.
Richard von Weizsäcker fährt fort:
Auch leidet die Glaubwürdigkeit der politischen
Führung darunter, wenn nicht offen über die ungelösten Probleme gesprochen wird. Und die
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Mehrzahl der Probleme sind ungelöst und werden durch Gesundbeten
- hier hätte er sagen können: durch Ihr Gesundbeten - nicht besser.
Die Mehrzahl der Probleme ist ungelöst, aber das eigentliche Problem ist, daß Sie so mit der Wahrheit und der Wahrhaftigkeit umgehen, daß kein offener, ehrlicher, demokratischer Dialog mehr möglich ist. Das ist eine Fehlentwicklung der letzten Jahre, die dringend korrigiert werden muß.
Daß Sie überhaupt noch im Zusammenhang mit der Steuerpolitik glauben, an irgend jemanden kritische Aufforderungen richten zu können, ist im Grunde genommen unfaßbar. Keine Regierung auf der ganzen Welt hat sich in der Steuerpolitik ein solches Desaster, ein solches Rein und Raus, eine solche Serie von Lügen gegenüber der Bevölkerung erlaubt wie Ihre Regierung. Und dann stellen Sie sich hier hin und appellieren an andere, seriöse Steuerpolitik zu machen!
Es ist unglaublich, wie wenig Sie in der Lage sind, Ihre eigenen Fehler kritisch aufzuarbeiten.
Sie sagen immer, Sie hätten als einziger die deutsche Einheit gewollt.
Wenn man Ihnen zuhört, sind Sie der einzige, der die Entwicklung in Gang gesetzt hat, die zur deutschen Einheit geführt hat. Übernehmen Sie sich doch nicht so! Daß der Kommunismus zusammengebrochen ist, hat viele Gründe, aber zuallerletzt den Grund Helmut Kohl. Übernehmen Sie sich nicht so.
Sie haben diejenigen, denen es um die innere Einheit ging, um das konkrete Schicksal der Menschen, um die Frage, wie es mit der Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern sein wird, diffamiert und haben statt dessen Ihren harten Kurs durchgesetzt, der im Grunde genommen auf Grund ökonomischer Fehlentscheidungen Massenarbeitslosigkeit in den neuen Ländern zur Folge hatte; und das wußten Sie. Sie haben trotzdem diese Entscheidungen durchgesetzt, weil Ihr Ziel nur Machterhalt und Machtgewinn war und nicht die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen.
Sie haben doch bei der Steuerpolitik ungezählte Male von hier aus gesagt: Wegen der Einheit brauchen wir keine Steuern zu erhöhen.
Da begann eine Serie von politischen Unwahrheiten. 17mal haben Sie seitdem die Steuern erhöht. Wo gibt es ein ähnliches Beispiel in der ganzen Welt, daß eine Regierung einer Bevölkerung sagt, es muß keine Steuer erhöht werden, aber seitdem 17mal die Steuern erhöht wurden?
- Mit der F.D.P. selbstverständlich. Sie war immer dabei, wie sie immer gern dabeisein will. Diesmal wird sie auch bei der Niederlage dabeisein. Insofern rundet sich das Bild dann ab. Sie ist immer dabei.
Als Sie dann die ersten Steuererhöhungen durchführen mußten, haben Sie wiederum die Unwahrheit gesagt. Sie sagten: Es ist wegen des Golfkrieges.
Diese Lüge erhielten Sie noch aufrecht, als mittlerweile jeder wußte, daß es eine völlig unzureichende Begründung war. Als der Golfkrieg dann als Begründung nicht mehr ausreichte, kam die dritte Unwahrheit: Sie sagten, Sie müßten die Mehrwertsteuer wegen Europa erhöhen. Diese Nummer steht uns ja noch bevor, daß Sie die Mehrwertsteuer wieder wegen Europa erhöhen müssen. Nein, Sie brauchten diese Serie von Steuererhöhungen wegen Ihrer Fehleinschätzungen, Ihrer falschen Wirtschafts- und Finanzpolitik. Sie schoben es immer auf unredliche und unehrliche Weise auf andere Gründe. Das ist zunächst einmal die Ursache dafür, daß Sie sich hoffnungslos verheddert haben.
Dann kam die traurige Geschichte um den Solidaritätszuschlag.
Da steht das Wort „Solidarität" am Anfang. Zunächst wurde also der Solidaritätszuschlag erhoben, dann abgeschafft, dann wieder erhoben. Danach gab es eine Serie von Versprechungen, daß er jetzt doch wegfallen solle. Ich mache mir ausdrücklich die Kritik derer zu eigen, die sagen: Muß man, wenn man bei Steuersenkungen anfängt, unbedingt diese Steuer zunächst ins Visier nehmen? Denn daß die Menschen in den neuen Ländern wissen, daß wir noch jahrelang erhebliche Hilfen geben müssen, um dort den Aufbau zu unterstützen, das ist unstreitig.
- Jetzt hat er es begriffen, sagen Sie Schnösel da? Ich
habe hier gesagt, Steuererhöhungen sind unver-
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
meidlich, um die deutsche Einheit zu finanzieren, während Sie das Volk belogen haben.
Wenn man beim Solidaritätszuschlag beginnt, dann sind selbstverständlich Fragen notwendig. Sicherlich gibt es ökonomische Gründe, die dafür sprechen, die Steuern weiter zu senken. Dazu ist ja bereits einiges gesagt worden. Wenn Sie aber, meine Damen und Herren, Steuersenkungen wollen, muß klar sein - hier liegt der weitere Fehler -, daß Sie nicht das Mandat haben, für Länder und Gemeinden einfach Steuersenkungen zu beschließen.
Das ist der Irrtum Ihrer Steuerpolitik. Sie haben dazu gar nicht das Mandat. Sie tun immer so, als hätten Sie dazu' ein Mandat und könnten über Länder- und Gemeindehaushalte verfügen. Sie haben dazu überhaupt nicht das Mandat. Die Vertretung der Interessen der Länder- und Gemeindehaushalte erfolgt im deutschen Bundesrat. Wenn der eine irrsinnige Steuerpolitik nicht mitmacht, stellt das die Wahrung der berechtigten Interessen der Länder und der Gemeinden dar.
Warum Ihre Steuerpolitik so total unglaubwürdig ist, will ich Ihnen hier kurz darlegen. Als Sie das Petersberger Konzept vorstellten, bekamen Sie zunächst einige gute Kritiken. Wer hört nicht gerne, daß die Steuern um 30 Milliarden DM gesenkt werden sollen? Aber dann kam eine neue Steuerschätzung. Wir hatten geraten, sie abzuwarten, das wäre vernünftig gewesen, dann wären Sie nicht so in Widersprüche verstrickt worden und hätten nicht Gesetze vorgelegt, die keiner mehr ernst nimmt. Wir baten darum, die Steuerschätzung abzuwarten, um dann auf seriöser Grundlage argumentieren zu können. Diese Steuerschätzung ergab ein Minus von rund 20 Milliarden DM. Daraufhin hätte man doch erwarten können, daß vernünftige Menschen ihre Steuerpläne revidieren und sagen, wenn jetzt plötzlich 20 Milliarden DM fehlen, müssen wir es uns noch einmal überlegen, ob wir Steuersenkungen von 30 Milliarden DM aufrechterhalten können.
Jetzt steht die nächste Steuerschätzung ins Haus. Darin sind weitere 10 Milliarden DM Steuerausfall avisiert, also genau das Volumen des Ausfalls, das Sie für die nächsten Jahre versprochen haben. Man hätte doch erwarten können, daß Sie darauf reagieren und sagen: Unsere Kalkulationen waren falsch; wir überarbeiten diese Kalkulationen und legen ein neues Konzept vor. Aber weil Sie untereinander zutiefst zerstritten sind und sowieso an keine einzige Zahl mehr glauben, ist das auch egal. Sie tragen hier Versprechungen vor, die völlig unhaltbar sind. Das weiß mittlerweile die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung.
Wenn Sie Steuern senken wollen - hier sieht man die Unehrlichkeit, die ich Ihnen vorwerfe, Herr Bundeskanzler, die Unwahrhaftigkeit, die in den letzten Jahren schlimm war, insbesondere in der Steuerpolitik, und die den demokratischen Dialog erschwert -, dann können Sie den Solidaritätszuschlag senken, ohne daß Sie die SPD brauchen und ohne daß irgend jemand Sie blockiert. Sie haben doch gesagt, Sie würden handeln, wir würden nur reden. Nun handeln Sie doch! Aber belügen Sie nicht ständig das Volk und verstecken Sie sich nicht ständig hinter dem Bundesrat. Es ist unglaublich, was hier in den letzten Monaten vorexerziert worden ist.
Die Soli-Absenkung können Sie ohne die SPD und ohne den Bundesrat machen.
Sie können sie aber nicht machen, weil Sie in etwa eine Ahnung haben, wie die Bundesfinanzen sich entwickeln. Das wird wirklich ein hervorragendes Erbe, das da angetreten werden muß.
Wenn die nächste Steuerschätzung da ist, wird es ganz verheerend.
Sie verschleiern die wirkliche Situation des Bundeshaushaltes, indem Sie das Tafelsilber verkloppen. Die Wahrheit über den Bundeshaushalt ist gar nicht bekannt - durch Nebenhaushalte, durch künstliche Buchungen. In Wirklichkeit ist der Bundeshaushalt in viel, viel schlechterem Zustand, als die Zahlen das oberflächlich ausweisen.
Ich hätte gerne einmal erleben wollen, was geschehen wäre, wenn ein sozialdemokratischer Finanzminister ein solches Zahlenwerk vorgelegt hätte.
Sie von der F.D.P. stehen wiederum als die betrogenen Betrüger da. Denn Sie kriegen die Solidaritätszuschlagsabsenkung nicht hin.
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Sehen Sie, alle außer der F.D.P. - sie sagt: 5 Prozent wollen Steuersenkungen hören; der Rest interessiert uns nicht - haben gesagt: Das ist nicht machbar.
- Selbstverständlich, Sie kommen gleich dran.
Von der Koalition hören Sie immer wieder: Das geht aber nur, wenn gegenfinanziert wird. Dann ist eine sinnvolle Frage: Wo erhöht man Steuern, um das Lieblingskind der F.D.P. zu finanzieren? Ist es wirklich sinnvoll, beispielsweise Unternehmenssteuersubventionen zu streichen, um den Solidaritätszuschlag zu senken? Das ist eine sachliche Frage.
Meine Damen und Herren, genau an dieser Stelle sind Sie einfach der Unwahrheit überführt. Sie können den Soli senken. Weil Sie sich nicht einigen können, schimpfen Sie unwahrhaftig auf den Bundesrat und lenken damit von Ihrem eigenen Versagen und Ihrer eigenen Verantwortung ab.
Herr Ministerpräsident, Sie gestatten die Zwischenfrage? - Bitte.
Herr Ministerpräsident, Sie haben die Auffassung vertreten, daß die Reduzierung der Steuer- und Abgabenlast ein 5-Prozent-Thema sei. Deswegen möchte ich Ihnen die Frage stellen, ob Ihnen die Umfrage des Leipziger Instituts für Marktforschung im Auftrag der Chemnitzer „Freien Presse" bekannt ist,
die heute wie folgt veröffentlicht: „Während von allen Befragten 44 Prozent dafür sind, den Solizuschlag 1998 zu senken, möchten ihn immerhin 39 Prozent beibehalten. 17 Prozent konnten sich für keine der beiden Varianten entscheiden." Bei den unter 30 jährigen will es sogar mehr als die Hälfte, nämlich 55 Prozent.
Wohlgemerkt, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, diese Umfrage wurde von 1200 Ostdeutschen - -
Herr Kollege Westerwelle, die Frage bitte!
1200 Ostdeutsche wurden befragt. Sind Sie bereit, diese Umfrage zur Kenntnis zu nehmen?
Sind Sie deswegen bereit, dann auch klarzumachen,
daß das eben kein 5-Prozent-Thema ist? Im übrigen:
Sind Sie auch bereit, dem Plenum einmal mitzuteilen,
ob Sie persönlich als Ministerpräsident des Saarlandes für die Senkung des Soli-Zuschlages sind oder dagegen?
Herr Kollege Westerwelle, ich danke Ihnen für diese Information. Sie läßt Befürchtungen in mir aufkeimen. Wenn Sie so viel Zustimmung für Ihre Steuerpolitik in den neuen Bundesländern haben, könnten Sie ja dort über die 5-Prozent-Hürde kommen.
Verstecken Sie sich hier nicht wieder hinter dem Bundesrat. Ich habe mehrfach öffentlich gesagt: Falls Sie hier den Soli aus eigener Kraft absenken können, entscheiden die sechs Ministerpräsidenten der CDU/ CSU darüber, ob es eine Einspruchsmehrheit im Bundesrat gibt. Wenn Sie nicht mehr in der Lage sind, Ihre eigene Partei unter Kontrolle zu halten, dann setzen Sie sich hin und machen Sie Ihre Hausaufgaben! So platt ist das.
Wenn Sie Steuern senken wollen, können Sie nicht einfach über Länder und Gemeinden verfügen. Die Strukturen der Länderhaushalte und der Gemeindehaushalte sind ganz anders. Die Höhe der Personalkosten, die ein fester Block sind, ist in den Länder-
und Gemeindehaushalten ganz anders, so daß Ihr ganzes Steuerstrukturreformkonzept völlig falsch konstruiert ist. Es ignoriert auf der einen Seite die Tatsache, daß die Steuerschätzungen schon einen Ausfall in der Höhe ergeben haben, die Sie zurückgeben wollten. Es ignoriert auf der anderen Seite, daß die Gemeindehaushalte und die Länderhaushalte bei weitem nicht so elastisch sind, wie Sie vorgeben, daß der Bundeshaushalt sei.
Ich sage noch einmal: Sie können doch die zweite Stufe beschließen. Schaffen Sie doch den Soli ganz ab, wenn Sie Geld zuviel haben! Aber in Wirklichkeit wissen Sie ganz genau, daß Sie keine Mark übrig haben. Statt dessen heucheln Sie hier und spielen der Öffentlichkeit ein Theater vor, Herr Bundeskanzler, das zutiefst unwahrhaftig ist.
Vielleicht haben Sie vergessen - nachdem Sie bezüglich der Mehrwertsteuer an uns appelliert haben -, daß Sie mehrfach versprochen haben, die Mehrwertsteuer werde in dieser Legislaturperiode nicht erhöht. Sie sind doch der Mann, der von gebrochenem Versprechen zu gebrochenem Versprechen taumelt. Man weiß bei dem, was Sie hier vortragen, doch gar nicht mehr, was man ernst nehmen soll.
Nun glauben Sie immer, Sie müßten uns und die Länder und Gemeinden überzeugen, daß wir eine Steuerreform brauchen. Verfolgen Sie denn nicht, was in den Ländern und Gemeinden los ist und was dort diskutiert wird? Weil Sie ununterbrochen Steuergesetze gemacht haben, deren Folgen Sie nicht kal-
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kulieren konnten oder die Sie immer fehlkalkuliert haben, ist das deutsche Steuerrecht praktisch zerstört. Es ist nicht mehr handhabbar. Es ist niemand mehr in der Lage, Einnahmen und Ausfälle, was die Steuern angeht, zuverlässig zu kalkulieren.
Ich nenne nur ein Beispiel: das Standortsicherungsgesetz. Das Finanzministerium schätzte bei der Körperschaftsteuer einen Ausfall von 4 Milliarden DM. Nordrhein-Westfalen sagte: Das ist viel zu niedrig gegriffen; es sind 9 Milliarden DM. Das Ergebnis waren 13 Milliarden DM. Das ist nur ein Beispiel von vielen. Wenn unser Steuersystem so zerzaust wird, daß keine Einnahmen mehr kalkuliert werden können, dann erodiert die Basis der Staatsfinanzen. Das liegt in Ihrer Verantwortung.
In jedem Erstsemester des Studiums der Finanzwissenschaft lernt man, daß die Grundvoraussetzungen der Steuerpolitik Stetigkeit, Verläßlichkeit und längerfristige Rahmenbedingungen sind.
Ich sage einmal kritisch an unsere Adresse: Wir haben in den letzten Jahren allzuoft auch Kompromisse mitgetragen, die zweifelhaft waren. Ich will Ihnen den letzten und den vorletzten nennen: Zunächst den Kompromiß bei der Abschaffung der Vermögensteuer. Wenn man in einer lahmenden Baukonjunktur zur Kompensation die Grunderwerbsteuer drastisch erhöht, ist das ökonomischer Unfug. Wir haben das mitgetragen, um im Steuerrecht überhaupt weiterzukommen. Aber das ist ökonomischer Unfug.
Wenn man zweitens beispielsweise bei der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer dem Finanzministerium die Ausführung überläßt und dann rückwirkend datiert wird, so daß die Kalkulation ganzer Betriebe ins Wanken kommt, dann ist das ebenfalls eine handwerklich unsolide Arbeit. Ihre Steuerpolitik hat weder Stetigkeit noch Verläßlichkeit, noch ist sie eine handwerklich solide Arbeit. Deshalb sind Sie so sehr in Verschiß bei den Wählerinnen und Wählern und auch bei der Wirtschaft.
Nun werben Sie immer für die große Steuerreform bei den Ländern und bei den Gemeinden. Da brauchen Sie nicht zu werben. Die veranlagte Einkommensteuer lag im Jahre 1992 noch bei 40 Milliarden DM. Sie ist jetzt faktisch bei Null. Das ist ein Ergebnis Ihrer fehlerhaften Steuerpolitik, einer überhaupt nicht mehr kalkulierbaren Steuerpolitik. Jedes Jahr gab es drei Gesetze, von denen Sie nicht wußten, was überhaupt die Folgen sein würden. Das ist Ihre Steuerpolitik. Wie soll da ein Mensch noch verläßlich kalkulieren können?
Es ist ein sozialpolitischer Skandal, daß die veranlagte Einkommensteuer von 40 Milliarden DM auf Null zurückgegangen ist. Das heißt: Sie haben aus dem Steuerrecht, das nach Leistungsfähigkeit besteuern soll, ein Bereicherungsrecht für die Wohlhabenden gemacht. Wir sehen darin einen sozialpolitischen Skandal ersten Ranges.
Der Fall aus Baden-Württemberg, der die Presse beschäftigt hat, daß jemand bei Einnahmen von 3 Millionen DM nicht nur seine Steuerlast im lauf enden Jahr auf Null drücken konnte, sondern auch noch durch den Erwerb einer Immobilie im Wert von 12 Millionen DM Rückerstattungen in Millionenhöhe zugesprochen bekam - das alles auf der Grundlage des Steuerrechts -, zeigt doch die Fehlentwicklung des Steuerrechts in den letzten Jahren.
Da stellen Sie sich hier hin und sagen, wir würden, wenn wir solche Dinge ansprechen, Neid schüren. Das reicht nun wirklich.
Die Gewinn- und Vermögenseinkommen haben sich in Ihrer Amtszeit verdreifacht. Die Einkommen der Selbständigen, die in erster Linie die veranlagte Einkommensteuer zahlen, haben sich in Ihrer Amtszeit verdreifacht, und die Lohneinkommen haben sich knapp verdoppelt. Wenn wir dann leichte Korrekturen für Arbeitnehmer und Familien fordern, werfen Sie uns pure Umverteilungsideologie vor. Sie haben in einem Maße schamlos umverteilt, wie das in den Jahren davor unvorstellbar war, und haben deshalb schwere ökonomische Verwerfungen zu verantworten.
Sprechen Sie also nicht von Sozialneid in einer Situation, in der die Kirchen zu Recht feststellen, daß die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Manchmal wünsche ich mir, daß jemand aus den christlichen Sozialausschüssen das etwas deutlicher artikulierte. Es kann so nicht weitergehen. Das ist auch mit den Stichworten „Standortpolitik" und „Globalisierung" nicht begründbar. Auf diese beiden Herausforderungen müßten wir, so heißt es dann, mit Sozialkürzungen, Senkung der Steuern für Wohlhabende und immer stärkerer Belastung der Arbeitnehmer antworten.
Ich will Ihnen sagen, welche seit über 40 Jahren aufgeschobene Reform zu bewältigen ist: Wenn die Globalisierung dazu geführt hat, daß sich die Relation zwischen Lohneinkommen und Gewinn- und Vermögenseinkommen immer weiter zugunsten der letzteren verschoben hat, dann ist es eine große Reformaufgabe, die Sie seit Jahren verschleppt haben, nämlich Arbeitnehmer am Vermögens- und Gewinneinkommen zu beteiligen. Das wäre eine Reform, die
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wieder mehr Gerechtigkeit in dieser Republik herstellen würde.
Merkwürdig ist folgendes: Selbst die F.D.P. - es ist nicht ungewöhnlich, daß Sie alle Monate Ihre Meinung ändern; das scheint offensichtlich moderne Flexibilität zu sein - hatte ein paar Ansätze zur Einführung ökologischer Komponenten in das Steuersystem. Die sind dann alle wieder in der Versenkung verschwunden.
Auch in der CDU gibt es immer wieder nette Diskussionen, wie man im Steuersystem ökologische Reformen durchführen kann. Wenn es dann ernst wird oder zum Schwur kommt, sind Sie alle dort, wo der Kanzler war, als er Waigel beistehen sollte, nämlich in den Büschen. So kann man keine Steuerpolitik betreiben. So verschleppt man Reformen, und so baut sich der Reformstau in Deutschland weiter auf.
Ich habe Ihnen bei der Steuerpolitik vorgeworfen, daß Sie in höchstem Maße die Unwahrheit sagen. Dasselbe werfe ich Ihnen auch bei der Rentenpolitik vor. Dies ist mittlerweile das Urteil auch der Presse.
Sie gehen zunächst einmal hin und sagen: Wir wollen doch Gemeinsamkeit. Das sagt immer insbesondere der Bundesarbeitsminister. Als Sie aber aus eigener Kraft im Bereich der Renten die Altersgrenze der Frauen nach oben geschoben und die Anerkennung der Ausbildungszeiten drastisch zusammengestrichen haben, da haben Sie diese Gemeinsamkeit nicht gesucht.
Es geht nicht, daß Sie zum einen auf die Tränendrüse drücken, also an die Gemeinsamkeit appellieren, und zum anderen, wenn es Ihnen gerade in den Kram paßt, Dinge allein durchziehen. So kann man mit dem Bundesrat und der Opposition nicht umspringen.
Sie haben nun wiederum den Versuch unternommen, die Kulisse aufzubauen, daß der Bundesrat schuld sei, wenn Sie die Rentenreform nicht durchsetzten - wo doch General Motors, wie der Bundeskanzler selbst gehört hat, in Deutschland nur dann investiert, wenn er die Rentenreform durchzieht. Herr Bundeskanzler, nun machen Sie es doch! Es wäre ja wirklich schrecklich, wenn Sie die Rentenreform nicht durchzögen; dann kommt General Motors nicht mit den Investitionen. Sie haben doch hier die Mehrheiten. Machen Sie es doch! Oder haben Sie Angst vor der eigenen Courage?
Da zeigt sich wieder Ihre Verlogenheit, nämlich Ihr Streben nach Machterhalt. Es ist natürlich unpopulär, eine Rentenkürzung im Jahre 1998 zu verantworten. Aber Sie sind nicht in der Regierung, um unpopulären Entscheidungen auszuweichen und um permanent immer wieder die Unwahrheit zu sagen. Sie können die Rentenreform aus eigener Kraft durchführen.
Es kommt dabei auf die Gegenfinanzierung an. Schäuble schleudert jeden Tag mit irgendeiner Argumentation, um aus der Ecke herauszukommen. Da hören wir auf einmal, nur die Erhöhung der Mehrwertsteuer könne zur Gegenfinanzierung herangezogen werden. Warum geht das nicht mit der Mineralölsteuer? Was ist die sachliche Begründung?
Die sachliche Begründung ist, daß Sie in den eigenen Reihen überhaupt nichts mehr zustande bringen, weil Sie ja schon vor Stoiber in die Knie gehen, bevor er überhaupt den Mund aufgemacht hat. Das ist doch nicht mehr zu fassen.
Wenn man das einmal sachlich betrachtet, müssen wir uns die Frage stellen: Kann der Einzelhandel jetzt eine Mehrwertsteuererhöhung gebrauchen? Das Handwerk, das ab und zu lauter und ab und zu weniger laut ist - wir wissen auch immer einzuordnen, wer wann wo wen unterstützen will -, weist darauf hin, daß ein Prozentpunkt Mehrwertsteuererhöhung zum Wegfall von 60 000 Arbeitsplätzen führt. Auch die Mineralölsteuer ist unter dem Gesichtspunkt der Wirtschaft nicht unbedingt wertfrei und hat auch Struktureffekte. Nur, ich habe der Presse nicht entnommen, daß die Automobilwirtschaft in einer tiefen Krise ist
und daß beispielsweise der Einzelhandel blüht.
Wenn Sie schon Reformen angehen, dann versuchen Sie doch, zumindest ein bißchen ökonomisch zu argumentieren, und versuchen Sie dann, wenn es darum geht, eigene Entscheidungen durchzusetzen, sich nicht hinter anderen zu verstecken. Das ist schäbig und zeigt, wie kraftlos diese Koalition geworden ist.
Auch bei der Rentendebatte - es ist nicht mehr zu fassen - wird jeder Ansatz eines weitergehenden Reformschrittes nicht aufgegriffen, weil Sie wie das Kaninchen auf die Schlange nur noch auf den Wahltermin fixiert sind und hoffen, daß Sie noch einmal davonkommen, Herr Bundeskanzler, und darüber alle notwendige Sacharbeit vergessen.
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Nun komme ich auch zur Jugendarbeitslosigkeit. Es ist nicht so, daß irgend jemand hier behaupten würde, er hätte ein durchgreifendes Patentrezept, um die Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen. Was hier zunächst einmal gesagt wird, ist: Wir können nicht tatenlos zusehen, daß 500 000 Jugendliche arbeitslos sind und daß etwa 100 000 Jugendliche immer noch nicht wissen, ob sie eine Lehrstelle bekommen. Das ist unsere Position.
Dann haben Sie, Herr Bundeskanzler, wiederum die Frage zurückgewiesen, ob man nicht ausbildende Betriebe zur Ausbildung heranzieht, und gesagt, das sei nicht in Ordnung und das könne man nicht vertreten. Ich will Ihnen einmal ein Zitat vorlesen:
Wir gehen davon aus, daß eine Reform der beruflichen Bildung ein neues Finanzierungssystem für die betriebliche Ausbildung verlangt. Dabei wird es notwendig sein, auch jene Betriebe stärker zur Finanzierung der beruflichen Bildung heranzuziehen, die sich nicht unmittelbar an der für die gesamte Wirtschaft erforderlichen Ausbildung des Nachwuchses beteiligen.
So Ministerpräsident Helmut Kohl am 20. Juni 1973 vor dem Rheinland-Pfälzischen Landtag.
Ich gebe Ihnen gerne die Quelle. Sie haben schon so viele Reden gehalten, Herr Bundeskanzler, daß Sie natürlich nicht mehr wissen, was Sie alles erzählt haben. Aber das hier ist aus dem Protokoll; das ist autorisiert. Das war also einmal Ihre Meinung. Nun darf jeder die Meinung ändern und ordnungspolitische Einwendungen haben, natürlich. Aber wenn Sie ordnungspolitische Einwendungen gegen diese Abgabe haben, dann ist Ihr Ansatz, jetzt bei der Auftragsvergabe auf einmal zwischen Betrieben, die ausbilden, und solchen, die nicht ausbilden, zu unterscheiden, ordnungspolitisch zumindest ebenso bedenklich. So astrein ist das nicht.
Da sage ich noch einmal: Es geht nicht um die Frage, ob man eingreifen muß. Sie wollen nur ein bißchen eingreifen, und Sie wollen dabei nicht erwischt werden. Nein, es geht um die Frage, ob wir uns dieser Herausforderung stellen. Wir sagen: Wenn Tony Blair in England ein steuerfinanziertes Ausgabenprogramm aufgelegt hat, um Jugendlichen einen Arbeitsplatz zu geben - 200 000 Jugendliche sollen in Arbeit kommen -, und wenn Lionel Jospin in Frankreich ein ebensolches Programm aufgelegt hat mit dem Ziel, 300 000 Jugendliche in Arbeit zu bringen, dann können wir hier in der Bundesrepublik nicht tatenlos zusehen, daß 500 000 junge Menschen arbeitslos sind und 100 000 nicht wissen, ob sie eine Lehrstelle bekommen.
Ich möchte hinsichtlich Ihrer Regierungsarbeit aber noch einen anderen Aspekt beleuchten. Es war interessant, daß Sie vorhin hier zu dem Ergebnis
kamen, der Standort Deutschland sei hervorragend. Wir hatten das auch schon anders gehört.
Aber immerhin, wenn die kritische Debatte der letzten Zeit etwas genutzt haben sollte und wenn Sie gemerkt haben, daß die Exportwirtschaft wieder boomt und daß im Grunde genommen die ganze Diskussion unter falschen Voraussetzungen geführt wird, wäre das schon ein Fortschritt.
Aber die Standortdebatte ist nur ein Synonym für eine andere geistige Fehlorientierung, die während Ihrer Amtszeit zu beklagen ist, nämlich die Fehlorientierung, alles in ökonomische, in betriebswirtschaftliche Kategorien zu fassen. In der geistigen Diskussion unseres Landes wird dies schon thematisiert. In der unverdächtigen „Frankfurter Allgemeinen " stand ein Aufsatz unter dem Titel „Die Welt als Betrieb", in dem diese Fehlentwicklung des Denkens gegeißelt wurde. Sie findet vielfach Ausdruck. Wenn beispielsweise - auch noch unter Beifall von konservativer Seite - eine Diskussion um den Shareholder Value geführt wird, mit der Aussage, daß es das Ziel eines Unternehmens sei, den Aktienwert zu steigern und immer wieder auf die Kurssteigerung des nächsten Tages zu schauen, dann ist das Ausdruck einer geistigen Fehlorientierung der Gesamtgesellschaft.
Es kann nicht das Ziel eines Unternehmens sein, in erster Linie auf den Aktienkurs zu starren, denn ein Unternehmen hat gesamtgesellschaftliche Verantwortung; es ist auch seinen Arbeitnehmern verpflichtet. Daher spricht es unserem Konsens nach dem Kriege Hohn, daß die Aktienkurse nach oben schnellen, wenn Massenentlassungen angekündigt werden. Das versteht langsam keiner mehr in unserem Lande, und das ist auch richtig so.
Mit dieser geistigen Fehlorientierung hat natürlich auch die Misere auf dem Lehrstellenmarkt zu tun. Eine solche Entwicklung wäre nach dem Kriege nicht vorstellbar gewesen. Damals war der innere Zusammenhalt unserer Gesellschaft noch stärker. Damals wußten viele Unternehmen, daß es, Standortdiskussionen hin, Standortdiskussionen her, Globalisierung hin, Globalisierung her, eine Investition in die Zukunft, in den Standort Deutschland, in die Herausforderung der Globalisierung ist, wenn wir die jungen Menschen gut ausbilden, damit sie die Zukunft bestehen können.
Genau hier ist auch die Trennlinie zwischen der Politik der Opposition und Ihrer Politik sowie dem, was Sie in den letzten Jahren vertreten haben. Sie glauben, die Reduzierung des Kündigungsschutzes sei sinnvoll gewesen. Sie haben die Kürzung der Lohnfortzahlung wieder angesprochen. Sie sind
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
gegen staatliche Maßnahmen etwa zur Verbesserung auf dem Lehrstellenmarkt. Jetzt sind Sie ein bißchen auf diese Linie gekommen. Sie haben in den letzten Jahren soziale Leistungen in großem Umfang gekürzt.
Wo ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns? Der Unterschied liegt darin, daß wir sagen, man kann diese Entscheidungen nicht nur nach ökonomischen Kategorien treffen. Herr Bundeskanzler, wer beispielsweise die Lohnfortzahlung kürzen will, der darf nicht nur die Entlastung der Betriebe sehen, sondern der muß berücksichtigen, was die Kürzung für einzelne Kranke im Betrieb bedeutet. Hier zeigt sich die unterschiedliche Herangehensweise an diese Thematik.
Wer noch stolz darauf ist, daß er den Kündigungsschutz bei kleineren Betrieben abgebaut hat, der weiß nicht, was die daraus entstehende Unsicherheit für einzelne Menschen bedeutet, die von der Gefahr bedroht sind, daß ihnen plötzlich gekündigt wird, wenn die Geschäfte einmal etwas schlechter gehen. Es kommt nicht nur auf die ökonomischen Kategorien an. Nein, es kommt darauf an, daß man immer die Situation des einzelnen Menschen in der Gesellschaft sieht.
Das Interessante ist ja, daß die Forderung nach Abbau des Kündigungsschutzes oder der Lohnfortzahlung immer von denjenigen erhoben werden, die entweder als Professoren Lebenszeitbeamte sind oder als Unternehmer natürlich überhaupt nicht daran denken, wenn sie einmal krank sind, eine Minderung ihrer gewaltigen Bezüge in Kauf zu nehmen. Das ist doch die geistige Fehlentwicklung in Deutschland: daß man den anderen, den Kleinsten, zumuten will, was man für sich selbst nicht gelten lassen will.
Herr Bundeskanzler, Sie haben dann noch etwas zum Euro und zur europäischen Politik gesagt. Ich möchte zunächst deutlich machen, daß es, wenn wir hier Ihren Rücktritt verlangen, Herr Bundesfinanzminister, nicht um eine persönliche Auseinandersetzung geht
und daß ich das Urteil unterstütze, daß Sie auf europäischer Ebene, was die Einführung des Euro und der Europäischen Währungsunion angeht, Fahne zeigen und daß Sie populistischen Strömungen auch
in Ihrer eigenen Partei widerstehen. Das ist aus meiner Sicht anerkennenswert.
Daß wir Ihren Rücktritt verlangen, ist in der Haushaltspolitik begründet, die nicht mehr überschaubar und nicht mehr verläßlich ist, und in der Steuerpolitik, die zu einem Ergebnis geführt hat, das unter keinem Gesichtspunkt akzeptabel ist.
Sie haben das vielleicht in guter Absicht getan. Aber das Ergebnis ist eindeutig; das wollte ich noch einmal klarstellen.
Jetzt stellt sich der Bundeskanzler hier hin und tut so, als müsse er uns Nachhilfe in Sachen Europa geben. Da Sie sich an dieser Stelle schon häufiger als jemand zu profilieren versucht haben, der sowohl die deutsche Einheit als auch die europäische Einheit stets im Auge gehabt hat, betone ich: Wir haben, als Sie noch jede Rede mit der Formel „Gott segne unser Vaterland" abschlossen, schon immer wieder gesagt: Die deutsche Einheit muß eingebunden werden in die europäische Einigung. Versuchen Sie nicht, einer Partei, für die ich hier spreche und die schon seit zig Jahren die europäische Einigung im Programm hat, irgendwie die europäische Verläßlichkeit abzusprechen, sehr verehrter Herr Bundeskanzler!
Dann sagten Sie hier, kein europäischer Regierungschef wünsche Ihre Ablösung oder einen Wahlsieg der Opposition. Mit wem reden Sie eigentlich
und in welcher Sprache?
Vielleicht liegt es an der Sprache, Herr Bundeskanzler; auf jeden Fall erzählen sie mir etwas ganz anderes.
Stellen Sie sich nur einmal vor, daß ich einige schon gekannt habe, als Sie sie noch gar nicht kannten. Sie verfügen also nicht über ein Monopol des Wissens.
Ich sage Ihnen vor dem Beschäftigungsgipfel: Der von Ihnen und von Theo Waigel stets wiederholte Satz, Beschäftigung machten wir zu Hause, stößt in der ganzen Europäischen Union nur auf Kopfschütteln.
Sie machen im zusammenwachsenden Europa Beschäftigungspolitik nicht nur zu Hause, Herr Bundeskanzler. Auch wenn ökonomische Dinge nicht so
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sehr Ihr Interesse finden, möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, daß dies schlicht und einfach ein gewaltiges Fehlurteil und mit Veranlassung dafür ist, daß in Europa die Arbeitslosenzahlen immer weiter nach oben gehen. Wenn diese Politik, die teilweise auch von Major und anderen befürwortet worden ist, Grundlage der europäischen Wirtschafts- und Finanzpolitik war, dann darf man sich nicht wundern. Wenn dies dann auch noch durch Wechselkursschwankungen überlagert wurde, die realwirtschaftlich nicht begründet waren, dann darf man sich erst recht nicht wundern. Wenn die Märkte in Europa immer mehr zusammenwachsen, dann müssen auch Sie endlich begreifen, daß Beschäftigungspolitik auch auf europäischer Ebene gemacht werden muß. Wir hoffen, daß auf dem Europäischen Gipfel in Luxemburg ein Durchbruch im Interesse der Arbeitslosen erreicht wird.
Dann haben Sie den Stabilitätspakt angesprochen. Natürlich ist das Geld wichtig. Aber, meine Damen und Herren, wäre es nicht längst an der Zeit gewesen, ebenso, wie man Kriterien für die Stabilität einführt, auch einmal Kriterien für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit einzuführen? Wir fordern dies am heutigen Tage ausdrücklich.
Ein Beschäftigungspakt, der genauso Kriterien für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit festsetzt, wie Sie es für die Geldwertstabilität getan haben, ist dringender als jede andere Maßnahme in Europa.
Da ist es auch zulässig, meinetwegen über die Europäische Investitionsbank oder andere Möglichkeiten Infrastrukturmaßnahmen zu finanzieren, die das zusammenwachsende Europa braucht. Auch die Schienenwege, auch die Telekommunikationswege, auch die Energieversorgung können wir national nicht mehr organisieren. Wir müssen sie europäisch organisieren. Deshalb war Ihr Widerstand gegen den Ausbau der transeuropäischen Netze ein Fehler, den Sie schleunigst korrigieren sollten.
Die Kernauseinandersetzung aber bleibt: Wir müssen die Wirtschafts- und Finanzpolitik ändern, weil die jetzige widerlegt ist. Wir können Ihnen ja noch unterstellen, daß Sie immer in guter Absicht gehandelt haben, als Sie jedes Jahr mit neuen Standortsicherungsgesetzen und anderen Gesetzen kamen und versprachen, jetzt würde die Arbeitslosigkeit aber zurückgehen. Das Ergebnis war immer das glatte Gegenteil; die Arbeitslosigkeit und die Staatsschulden sind immer weiter angestiegen.
Die Steuer- und Abgabenlast bekommen Sie nicht herunter, sondern sie geht weiter nach oben. Das ist doch die Wahrheit.
Bei einer solchen Bilanz, meine Damen und Herren, braucht unser Land einen politischen Neuanfang. Wir brauchen eine neue Wirtschafts- und Finanzpolitik. Wir brauchen vor allen Dingen aber eine Politik, die begreift, daß sich die Welt nicht nur in betriebswirtschaftlichen Größen erfassen läßt, sondern daß Politik auch stets darauf zielen muß, die konkrete Situation des einzelnen Menschen zu verbessern. Wir sind bereit, dafür Verantwortung zu übernehmen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wie Sie wissen, hat der amtierende Präsident keine Ordnungsbefugnis gegenüber Mitgliedern der Bundesregierung und des Bundesrates. Das entspricht unserem Verständnis vom Verhältnis der Verfassungsorgane zueinander. Das kann aber in einer solchen Sitzung nur funktionieren, wenn man sich gleichwohl an die parlamentarischen Regeln hält. Falls es in Vergessenheit geraten sollte: Die Anrede „Sie Schnösel" liegt jenseits der parlamentarischen Regeln.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Schäuble, CDU/ CSU.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Ministerpräsident Lafontaine, als ich die ruhige - so habe ich es jedenfalls empfunden -, den Problemen angemessene und für Zusammenarbeit werbende Rede des Bundeskanzlers
und anschließend die Art Ihrer Reaktion gehört habe, fiel mir ein, was mir meine Eltern gelegentlich gesagt haben: Wer schreit, hat unrecht.
Weil ich nicht weiß, ob Sie dem Präsidenten zugehört haben
- Sie hören ja noch immer nicht zu -, will ich es Ihnen
noch einmal sagen: Wir möchten es nicht, daß je-
Dr. Wolfgang Schäuble
mand, wer auch immer es sein mag, in diesem Hause Kollegen als Schnösel bezeichnet.
- Sie dürfen im übrigen auch nicht von der Bundesratsbank Zwischenrufe machen.
- Herr Struck, bevor man zur Sache kommt, muß man immer einige Bemerkungen machen.
Herr Kollege Scharping, Sie haben eine Rede gehalten, die zu hören für uns nicht nur angenehm war. Das ist ja in Ordnung; das gehört zu solchen Debatten. Wir haben Sie aber ungestört reden lassen.
Ich finde es ziemlich skandalös, daß Ihre Parlamentarischen Geschäftsführer während der Rede des Bundeskanzlers durch Ihre Reihen gegangen sind, um Unruhe zu organisieren. Das ist dieses Hauses unwürdig.
- Wir alle haben es beobachtet.
Ich bin ja gewohnt, daß Sie versuchen, uns am Reden zu hindern,
und zwar durch Lärm, den Sie organisieren. Sie haben es auch beim Kollegen Michael Glos so gemacht.
Aber ich finde, Ihr Anliegen wirkt durch die Art, wie Sie sich verhalten, nicht sehr glaubwürdig.
Herr Ministerpräsident Lafontaine, ich will Ihnen noch etwas sagen: Sie haben von der deutschen Einheit gesprochen und gesagt, der Bundeskanzler habe damit relativ wenig zu tun.
Darüber kann man unterschiedlicher Meinung sein.
- Doch.
- Er hat es ziemlich genau so gesagt. Lesen Sie es im Protokoll nach!
Ich weiß jedenfalls eines: Wenn es jemanden in diesem Hause gibt, der davon nicht reden sollte, dann sind Sie es, Herr Lafontaine.
Sie wollten die Einheit nun wirklich nicht. Ihnen habe ich schon im Jahre 1990 in der Debatte zum Einigungsvertrag sagen müssen: Sie haben vergessen, ein einziges Mal ja zur deutschen Einheit zu sagen.
Sie haben doch damals in Bundesrat und Bundestag ein gespaltenes Votum herbeiführen wollen und ähnliches mehr. Reden Sie doch jetzt nicht davon! Es wäre besser, Sie schwiegen darüber.
Herr Gysi, auch Sie haben gezeigt, wes Geistes Kind Sie sind, so nach dem Motto: Kontrolle ist besser, und dann noch möglichst totalitär. Das haben Sie gut gelernt. Das sind wir ja schon gewöhnt; der Bundeskanzler hat das Notwendige dazu gesagt.
Was mich stört, ist die Erfurter Erklärung von Politikern der SPD, der PDS und den Grünen, in der zur neuen Volksfront aufgerufen wird. Das ist ein unglaubliches Dokument.
- Ich habe sie da; ich lese sie Ihnen vor.
Ich will Ihnen sagen, wie ich darauf gestoßen bin: Wir begehen den Tag der deutschen Einheit nach einer gemeinsamen Absprache zwischen Bund und Ländern seit dem Jahre 1990 - ich habe als Innenminister viel damit zu tun gehabt - jedes Jahr in einer anderen Landeshauptstadt, und zwar immer in der Hauptstadt des Landes, das den Vorsitz im Bundesrat hat, also an diesem 3. Oktober in Stuttgart, BadenWürttemberg hat gerade den Vorsitz im Bundesrat.
Welcher Narr reitet Sie eigentlich, zum 3. und 4. Oktober 1997 zu einer Versammlung zur Erfurter Erklärung in Erfurt einzuladen, also zu einer Gegenveranstaltung der offiziellen Veranstaltung zum Tag der deutschen Einheit?
- Herr Thierse, der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD. Ziehen Sie ihn zurück. Sie sind doch daran beteiligt.
Der Kollege Richter der SPD-Fraktion moderiert. Sie
sind alle mit dabei. Auf der einen Seite reden Sie von
Gemeinsamkeit und Demokraten, und auf der ande-
Dr. Wolfgang Schäuble
ren Seite organisierten Sie die nächste Volksfront. Das paßt nicht zusammen.
Entweder oder - mit dieser Art von Doppelstrategie
entlarven Sie sich und die Glaubwürdigkeit Ihrer Handschrift.
- Ich finde das überhaupt nicht lächerlich. Es ist todtraurig, daß wenige Jahre nach der deutschen Einheit durch eine Zusammenarbeit von SPD, Grünen - die sind genauso dabei - und PDS in Sachsen-Anhalt regiert wird gegen die stärkste Partei und gegen die Gemeinsamkeit der Demokraten. Das, was wir mit Herrn Gysi heute erlebt haben, ist Anlaß, daran zu erinnern.
- Verzeihen Sie, beim Einzelplan des Bundeskanzlers wird über die Lage der Nation und über die Verhältnisse in Deutschland insgesamt geredet. Das gehört mit dazu, auch wenn Sie es nicht gerne hören wollen. Ich finde Sie in Ihrem Engagement für die Überwindung der Folgen der deutschen Teilung unglaubwürdig, solange Sie mit der PDS gemeinsame Sache machen.
Weil Sie davon geredet haben, daß man vor den Wahlen den Wählern die Wahrheit sagen soll - dazu fordern wir uns ja immer gegenseitig auf -: Dazu gehört auch, daß Sie vor den Wahlen so tun, als würden Sie mit der PDS keine gemeinsame Sache machen, wie Sie es in Sachsen-Anhalt gemacht haben. 24 Stunden nach der Wahl bilden Sie entgegen allen Ankündigungen mit der PDS faktisch eine Koalition. Das ist die Wahrheit, und das dürfen wir für das nächste Jahr auch erwarten.
Herr Ministerpräsident Lafontaine,
Sie haben davon gesprochen, es ginge dem Bundeskanzler und der Koalition Ihrer Meinung nach mehr damm, die Macht zu bewahren und sie in den nächsten Wahlen wieder zu gewinnen, als die Probleme des Landes zu lösen.
- Er hat uns doch den Vorwurf gemacht.
- Ist doch in Ordnung.
Ich wollte gerade sagen: Wir sind vielleicht alle nicht ganz vor der Versuchung gefeit, nicht nur an das Wohl des Landes zu denken, sondern auch daran, daß wir überzeugt sind, selber den besseren Weg für die Zukunft des Landes zu haben, und deswegen für eine Mehrheit und für unsere Politik kämpfen.
Nur, wenn Sie in einem Zusammenhang davon reden, daß man über die Probleme des Landes wahrheitsgemäß und problemorientiert diskutieren muß, Herr Lafontaine, dann können Sie nicht so tun, wenn Sie ernstgenommen werden wollen, als seien die schweren Sorgen, die wir mit der Arbeitslosigkeit haben - das ist doch völlig unbestreitbar - nur die Folgen der Politik der Bundesregierung und der Koalition. Sie gehen völlig an der Wirklichkeit vorbei. Da können Sie doch gar nicht ernstgenommen werden.
Der Bundesfinanzminister Theo Waigel hat gestern - Frau Matthäus-Maier, es war ein bißchen schade um Ihre Nichtantwort -, in einer ungewöhnlich klugen und die Probleme in den Gesamtzusammenhang stellenden Einbringungsrede für den Bundeshaushalt darauf hingewiesen,
daß wir eine sehr gespaltene Situation haben. Wir haben am heutigen Tag die Meldung, daß wir im zweiten Quartal dieses Jahres im Schnitt 2,9 Prozent reales Wirtschaftswachstum haben.
Das ist doch nicht schlecht. Aber wir haben am selben Tag die Meldung, daß es im August 4,4 Millionen Arbeitslose gibt. Das ist verheerend. Beides gehört zusammen. Deswegen wäre es gescheiter, wenn wir in der Debatte an das angeknüpft hätten, was Theo Waigel schon gestern in seiner Einbringungsrede gesagt hat.
Die Tatsache, daß es gute Nachrichten gibt - wir haben doch eine Menge Erfolg gehabt - und daß es schlechte Nachrichten gibt, hat doch entscheidend damit zu tun, daß sich die Welt in einem ungeheuren Tempo verändert. „Globalisierung" kann man es nennen. Ich nenne weiter: Veränderungen in der industriellen Arbeitswelt durch technologische Revolution, Veränderungen in der sozialen Wirklichkeit unseres Landes - ich möchte als Beispiel die demographische Entwicklung, die Tatsache, daß die Menschen länger leben, und den Sachverhalt, daß wir in Großstädten 50 Prozent Ein-Personen-Haushalte haben, anführen - und dergleichen mehr. Dann kommt Herr Lafontaine so plump daher. Die 3 Millionen Arbeitsplätze, die in den 80er Jahren in diesem Land entstanden sind, sind nicht allem von der Regierung geschaffen worden. Das war das Ergebnis des Engagements von Arbeitgebern und Gewerkschaften in unserem Lande, einer gesamtgesellschaftlichen und wirtschaftlichen Anstrengung, und auch das Ergeb-
Dr. Wolfgang Schäuble
nis einer richtigen Politik. Daran müssen wir anknüpfen.
- Ja, es gibt auch eine Reihe von Problemen, an deren Lösung wir weiter arbeiten müssen.
Ich sage: Wir müssen das Tempo der Innovation beschleunigen.
Frau Matthäus-Maier, ich habe aus den letzten Jahren die Erinnerung behalten, daß immer, wenn es darum ging, konkrete innovatorische Prozesse in unserem Land voranzubringen - damit wir, wie der Bundesfinanzminister gefordert hat, in der Lage sind, auf weltweite Entwicklungen angemessen zu reagieren -, Sie im Bremserhäuschen waren. Heute haben Sie das wieder gemacht.
Die Art, wie Sie teilweise - Sie, Herr Fischer, in diesem Fall besonders - über die Privatisierung gesprochen haben, verkennt doch völlig, daß, wenn es eine Antwort auf die Entwicklungen unserer Zeit und der Welt von heute und morgen gibt, sie ganz sicher lautet, daß die großen bürokratischen Strukturen nicht in der Lage sind, angemessen schnell zu reagieren.
Deswegen ist Privatisierung der richtige Weg,
und deswegen ist die Privatisierung der Telekom der richtige Weg. Das bekämpfen Sie.
Welchen Widerstand haben Sie geleistet, bevor wir die Postreform und die Bahnreform zustande bringen konnten!
Wenn Sie jetzt bessere Einsichten gewonnen haben, ist das ja zu begrüßen.
Es interessiert mich überhaupt nicht, daß in 12 Monaten Wahl ist. Wir haben in dieser Legislaturperiode noch 12 Monate vor uns, in denen wir gemeinsam noch eine Menge voranbringen können, um die Arbeitslosigkeit in unserem Lande zu bekämpfen. Das ist das vorrangige Thema.
Sie haben die auch nicht erfreuliche Situation auf dem Lehrstellenmarkt angesprochen und haben gesagt, sie stelle sich so dar, wie sie in diesen Tagen beschrieben worden ist. Die Wirklichkeit ist differenzierter und komplizierter - das hat der Bundeskanzler zu Recht angesprochen -, als es an Hand der Zahlen, etwa der Zahl 150 000, den Anschein hat. Aber niemand kann zufrieden sein, wenn wir so große Probleme haben, für alle jungen Menschen, die ausbildungsfähig und ausbildungswillig sind, die gewünschten oder die notwendigen Ausbildungsplätze zu finden.
Es hat sich übrigens kaum jemand persönlich stärker dafür engagiert, daß das Problem gelöst wird, als der Bundeskanzler Helmut Kohl, dem dafür auch einmal gedankt werden soll.
Ich habe übrigens früher als andere von dieser Stelle aus immer wieder darauf hingewiesen, auch die Verantwortlichen in der Wirtschaft und zwar auch die in der Großindustrie - das Handwerk ist ja nach wie vor vorbildlich in seiner Ausbildungsbereitschaft -, daß die Glaubwürdigkeit und Legitimität der Reformansätze, die wir alle miteinander, Politik, Wirtschaft, Gewerkschaften - alle, denen das Schicksal unseres Landes nicht gleichgültig ist -, betreiben müssen, nicht zuletzt dadurch eine Bestätigung erfahren, daß es gelingt, rechtzeitig und genügend Ausbildungsplätze im Jahre 1996, im Jahre 1997 und darüber hinaus zu schaffen.
Nun sagen Sie wieder: Wir machen eine Ausbildungsumlage, wenn es nicht funktioniert.
Sie machen da wieder den Fehler, daß Sie aus der Unzufriedenheit mit einer Situation heraus - sie teilen wir; niemand ist mit der Lage auf dem Ausbildungsmarkt, wie sie im Augenblick erscheint, zufrieden - zur Lösung des Problems nach den großen bürokratischen Strukturen greifen, die zur Lösung der Probleme ungeeignet sind. Das ist der falsche Weg. Deswegen lehnen alle diejenigen, die in Ihrer Partei konkret Verantwortung für die wirtschaftliche Entwicklung tragen, das ab. Der Wirtschaftsminister von Schleswig-Holstein - der Kollege Dietrich Austermann hat ja gestern den Artikel aus der FAZ zitiert; ich habe ihn ebenfalls mitgebracht, wenn Sie ihn noch einmal hören wollen -, der Wirtschaftsminister von Nordrhein-Westfalen - ich weiß nicht, wer alles noch -, also alle diejenigen, die sich konkret für die wirtschaftliche Entwicklung verantwortlich fühlen, haben ja inzwischen verstanden, daß die großen bürokratischen Strukturen zur Lösung der Probleme ungeeignet sind.
Dr. Wolfgang Schäuble
Wenn wir auf diesen enormen Wandel, der sich mit den Stichworten „Globalisierung", „technologische Revolution" und dergleichen mehr verbindet, angemessen reagieren wollen, brauchen wir mehr Flexibilität, brauchen wir mehr Subsidiarität, brauchen wir mehr Eigenverantwortung und Engagement in allen Bereichen.
Deswegen ist es übrigens falsch, wenn Sie immer wieder diese Neiddebatte führen. Wir brauchen in allen Bereichen Veränderungen. Es darf nicht der eine gegen den anderen ausgespielt werden. Es gab sogar Ansätze für eine kommunale Arbeitsmarktpolitik. Liebe Kolleginnen und Kollegen, darüber können wir uns schnell verständigen. Meine Fraktion arbeitet seit langem an der Frage: Wie können wir Sozialhilfe, arbeitsmarktpolitisches Instrumentarium und subsidiäre Eigenverantwortung der Gemeinden stärker zusammenbringen? Dazu gehört aber auch die Frage: Wie können wir die Schwelle zwischen Transfereinkommen, die richtigerweise ohne eigene Leistung bezahlt werden, und geringer bezahlter Arbeit auf dem Arbeitsmarkt so erhöhen, daß es für die Menschen nicht attraktiver erscheint, gar nicht zu arbeiten, als eine geringer bezahlte Arbeit anzunehmen?
- Nein, allein mit dem Grundfreibetrag lösen Sie das Problem nicht.
Ich glaube, daß wir intelligentere Lösungen haben. Die Arbeitgebervereinigung hat den Kombilohn genannt.
Wir haben seit langem gesagt: In der Sozialhilfe müssen wir die Verrechnung von geringeren Arbeitseinkommen und einem Rest Sozialhilfe ändern. Der Bundesgesundheitsminister, Horst Seehofer, hat in diesen Wochen einen sehr klugen Vorschlag in die Tat umgesetzt, die Anrechnung zu verringern. Wenn wir auf diese Weise vorangehen, haben wir bessere Chancen, die Arbeitsmarktprobleme zu lösen.
Wenn Sie diese Sozialneiddebatte, Herr Lafontaine, aber so führen, wie Sie es heute wieder getan haben, dann schaden Sie genau dem Anliegen, dieses Ziel zu verwirklichen. Denn wenn den Menschen eingeredet wird, es seien nur die sogenannten Besserverdienenden und der Staat schuld an ihrem Schicksal, dann ermutigen Sie sie nicht, ihre eigenen Möglichkeiten im Rahmen dessen, was ihnen gegeben ist, zu nutzen.
Deswegen brauchen wir mehr Bereitschaft zur Selbständigkeit.
- Ach, Pleitewelle. Herr Fischer, Ihre Zwischenrufe werden immer schwächer.
Sie waren schon früher nicht so toll, und sie werden immer schwächer.
Sie zeichnen sich inzwischen - das fiel mir auch bei Ihrer Rede auf, wenn ich Ihnen das sagen darf - nur noch durch ein beachtliches komödiantisches Talent aus.
Aber Sie tragen nichts mehr zur Substanz der Politik bei.
Sie haben einen großen Rivalen. Was komödiantisches Talent anbetrifft, Herr Kollege Fischer, haben Sie natürlich einen ernsthaften Wettbewerber, und zwar in Gestalt des Hamburger Bürgermeisters. Auf eine Kanzel zu gehen und zu sagen „Ich würde niemals wegen Geld aus der Kirche austreten; ich bin auch nie aus der Kirche ausgetreten" und dann vergessen zu sagen, daß man nie in der Kirche gewesen ist, das ist schon eine beachtliche schauspielerische Leistung.
- Ich habe Ihr komödiantisches Talent gelobt und beklagt, daß Sie ansonsten keinen Beitrag zur Substanz der Politik leisten.
Wenn Sie auf die Forderung nach mehr Selbständigkeit „Pleitewelle" rufen, dann sage ich Ihnen: Es wird vielleicht gescheiter sein, wir machen uns auch an die Novellierung unseres Konkursrechtes in dem Sinne heran, daß wir die Bereitschaft zur Existenzgründung nicht durch die lebenslange Haftung für den Fall, daß die Existenzgründung scheitert - -
Dr. Wolfgang Schäuble
- Wir sind ja dran. Wir machen das ja.
- Ich mache das Schnitt für Schnitt.
Sie haben Selbständigkeit, Unternehmertum in diesem Lande durch Ihre Neiddebatten immer diffamiert.
So schafft man doch nicht das Klima, das man braucht, um die Menschen zu ermutigen, den Schritt ins Risiko, in die Selbständigkeit zu tun, um Arbeitsplätze zu schaffen.
Wir brauchen ein Klima der Ermutigung.
Deswegen brauchen wir auch eine Steuerreform. Je schneller wir sie zustande bringen, um so besser.
Herr Ministerpräsident Lafontaine, lassen Sie uns das noch einmal in aller Ruhe gegeneinanderstellen, so daß es vielleicht auch für jemanden außerhalb dieses Saales verständlich ist: Wir haben in Bundestag und Bundesrat unterschiedliche Mehrheiten; beide sind gleich legitim, denn sie beruhen auf Wählerentscheidungen. Sie freut die Mehrheit im Bundestag nicht, uns freut die Mehrheit im Bundesrat nicht. Das ist in Ordnung. Wir sind gleichwohl bei Gesetzen, die nach dem Grundgesetz der Zustimmung des Bundesrats bedürfen - das sind ja nicht alle -, darauf angewiesen, zu gemeinsamen Lösungen zu kommen.
Wir sind immer noch davon überzeugt, daß die Konzeption unserer Steuerreform, die wir unter der Federführung von Theo Waigel vorgelegt - Peters-berger Beschlüsse - und im Bundestag verabschiedet haben, richtig und angemessen ist. Und wir werden Woche für Woche durch alle tatsächlichen Entwicklungen und durch alle Sachverständigen in Wirtschaft und Bundesbank bestätigt.
Die Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden sind gleichermaßen von dem Problem betroffen, daß die Einnahmen aus der veranlagten Körperschaft-
und Einkommensteuer bei hohen Steuersätzen und einer wachsenden Wirtschaft immer stärker zurückgehen. Das ist leider so, und das betrifft alle.
- Herr Kollege Zwischenrufer, dann könnte man doch gemeinsam zu der Erkenntnis kommen, daß eine Steuerreform, die das Prinzip verwirklicht, Ausnahmen von der Besteuerung zu beseitigen und die Steuersätze insgesamt zu senken, nicht dazu führt - wie Herr Lafontaine gesagt hat -, neue Löcher in die
Haushalte zu reißen, sondern geeignet ist, die Löcher zu schließen, weil die Steuereinnahmen wieder steigen.
- Langsam! Kollege Michael Glos hat Herrn Scharping schon vorgehalten, man müsse zwischen unseren Vorschlägen für 1998 und denen für 1999 unterscheiden. Es macht auch gar keinen Spaß, wenn Sie unser Bemühen, festzustellen, wo Möglichkeiten einer Einigung sind, nicht differenziert betrachten. Wir nehmen ja Ihre Erklärungen ernst und versuchen dennoch, auszuloten, wo man sich einigen kann.
Herr Lafontaine, Sie haben von diesem Pult aus des öfteren erklärt, die Mehrheit im Bundesrat sei nur bereit, über eine Steuerreform zu verhandeln, wenn sie zum 1. Januar 1998 in Kraft tritt. Über alles nach der Wahl wollten Sie nicht verhandeln. Das haben Sie oft genug gesagt. Dies halten wir für falsch, weil wir glauben, daß eine Steuerreform die Spielräume für Nettoentlastungen längerfristig ausloten muß, wie wir dies übrigens in den 80er Jahren in drei Stufen sehr erfolgreich durchgeführt haben.
Deswegen schlagen wir vor: Laßt uns ein mittelfristiges Konzept vereinbaren. Unser Petersberger Konzept ist ja nicht auf 1998 bezogen. 1998 können die Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden Steuermindereinnahmen in Höhe von 30 Milliarden DM nicht verkraften. Das haben wir nie vorgeschlagen, haben wir auch nicht beschlossen. Vielmehr haben wir im Bundestag ein Gesetz beschlossen, das für 1998 die Auswirkungen für die Haushalte der öffentlichen Gebietskörperschaften insgesamt
auf 1 Milliarde DM begrenzt. Das ist zumutbar und verkraftbar.
Wenn Sie also bereit sind, über eine Steuerreform zu reden, die über 1998 hinausgeht, müssen wir mit einer Nettoentlastung in der Größenordnung der Summe rechnen, die in den Petersberger Beschlüssen entwickelt und vorgeschlagen worden ist.
Wenn Sie darauf bestehen, nur über 1998 zu verhandeln - was wir für falsch halten -, dann sind wir auch zu diesem Schritt bereit. Den nächsten können wir dann halt erst nach der Wahl gehen. Dann bleiben wir in dem Rahmen, den wir festgelegt haben. Die Begrenzung der Einnahmeverkürzungen für den Haushalt 1998 muß dann in der Größenordnung dessen sein, was im Steuerreformgesetz 1998 beschlossen wurde. Auch diesbezüglich sind wir nicht nur gesprächs-, sondern einigungsbereit.
Wenn es allerdings bei der Entlastungsstufe 1998 bleibt, schlagen wir gemeinsam vor - da gibt es überhaupt keinen Unterschied zwischen F.D.P., CDU und CSU; wir alle sind derselben Meinung -, 1998 wenigstens den Teil der Beseitigung von Ausnahmetatbe-
Dr. Wolfgang Schäuble
ständen, dem auch Sie zustimmen, zu verabschieden. Sie haben dazu ja gelegentlich schon Presseerklärungen abgegeben. Von unserer Seite hat Hans-Peter Repnik das immer wieder vorgetragen. Vielleicht können wir uns auf die Beseitigung einiger Schlupflöcher verständigen, um damit die Steuersätze - aber alle, vom Eingangssteuersatz bis zum Spitzensteuersatz - zu senken.
Nur das macht Sinn.
Sie wissen ganz genau: Wenn wir die Spitzensteuersätze nicht senken, können wir das Problem nicht lösen, daß ein immer größer werdender Teil derjenigen, die höhere Steuersätze zu bezahlen hätten, sie nicht bezahlen, weil sie entweder ihre Einkünfte ins Ausland verlagern oder weil sie legale, zum Teil auch illegale Schlupflöcher nutzen, um sich der Besteuerung zu entziehen.
Wenn es dabei einen Zweifel gegeben hätte, daß Sie das verstanden haben, dann, Herr Lafontaine, haben Sie ihn selber beseitigt, indem Sie einen Vorschlag gemacht haben, über den ich einen Moment lang gedacht habe: Mein lieber Mann, ob er sich das genau überlegt hat?
Sie haben vorgeschlagen, einen Mindeststeuersatz von 20 Prozent einzuführen.
- In den Vereinigten Staaten nennt man das flat tax. Da zahlen alle oberhalb eines Freibetrags für ihr Einkommen denselben Prozentsatz.
Sie führen eine Sozialneidkampagne gegen uns, weil wir unseren Spitzensteuersatz von 53 Prozent auf 40 Prozent absenken wollen. Gleichzeitig schlagen Sie vor, einen Mindeststeuersatz von 20 Prozent, der im Ergebnis der Spitzensteuersatz ist, einzuführen. Haben Sie denn noch alle Tassen im Schrank?
Wenn Sie diesen Vorschlag verwirklichen, dann führt er dazu, daß ein Steuerpflichtiger, der die entsprechenden steuerlichen Möglichkeiten nutzt, für jede zusätzliche Mark auch dann, wenn er über 1 Million DM oder 1,1 Million DM Einkommen verfügt, nicht 40 Prozent oder wie heute 53 Prozent Einkommensteuer bezahlt, sondern 20 Prozent. Das ist für uns keine Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit.
Deswegen glauben wir, daß unser Reformansatz der richtige ist.
- Es ist so, Herr Scharping. Sie wissen das selber. Der Mindeststeuersatz, den Lafontaine vorgeschlagen hat, hat genau diese Wirkung.
Ich will gar nicht daran festhalten. Ich bin nie ein Anhänger der flat tax gewesen. Ich sage Ihnen: Richtig ist, daß wir die Ausnahmen von der Besteuerung soweit irgend möglich beseitigen und das gleichzeitig dazu nutzen - Herr Bundesfinanzminister, wir haben das gemeinsam erarbeitet -, alle Steuersätze, den Eingangssteuersatz, die Steuersätze für mittlere Einkommen und die Steuersätze für höhere Einkommen, gleichmäßig und gleichgewichtig zu senken. Das ist der Inhalt unserer Steuerreformkonzeption.
Das können wir in einer ersten Stufe notfalls auch mit geringen Auswirkungen für den Haushalt 1998 verwirklichen. Darüber sollten wir in den nächsten Stunden und Tagen vernünftig reden und rasch zu einem Ergebnis kommen. Es würde die Chancen für weniger Arbeitslosigkeit in unserem Land verbessern.
Eine zweite Bemerkung: Herr Kollege Scharping, Sie haben heute morgen in Ihrer Rede - ich habe es mir aufgeschrieben - sinngemäß gesagt: Laßt uns doch jetzt wenigstens mit einem ersten Schritt zur Senkung der Lohnnebenkosten beginnen.
Sie, Herr Lafontaine, haben etwas Bemerkenswertes gemacht. Sie haben eine Erhöhung der Mehrwertsteuer ganz schlechtgeredet. Sie haben gesagt, der Einzelhandel könnte keine Erhöhung der Mehrwertsteuer verkraften.
- Doch, das haben Sie hier gesagt. Unmittelbar vor mir haben Sie gesagt, eine Mehrwertsteuererhöhung wäre ganz schlecht. Das Handwerk und den Einzelhandel haben Sie angesprochen. Sie müssen das Protokoll schon ziemlich umschreiben, wenn das nachher nicht mehr drinstehen soll.
Sie sollten bei dem, was Sie hier sagen, nicht vergessen, daß Sie gerade mit Ihrer Mehrheit im Vermittlungsausschuß eine Erhöhung der Mehrwertsteuer vorgeschlagen haben. So schlecht kann sie also nach Ihrer Auffassung auch nicht sein.
Ich sage Ihnen jetzt, worüber wir uns einigen könnten. Ich stimme Ihnen zu, daß die Rentenreform nach dem Grundgesetz nicht der Zustimmung des Bundesrats bedarf. Sie ist eine Gesetzgebungsmaterie, die nicht der Zustimmung des Bundesrats bedarf.
Es spricht gleichwohl viel dafür - deshalb unterstütze ich Norbert Blüm, ich habe ihn immer unterstützt -, in der Rentenpolitik zusammenzuarbeiten, weil die Reform eine sehr langfristige ist. Wenn es aber nicht geht, weil Sie sagen: Das machen wir nicht, dann machen wir es auch alleine.
Aber eine Erhöhung von Verbrauchsteuern - jedenfalls der Mehrwertsteuer - bedarf, außer der Mineralölsteuer, der Zustimmung des Bundesrates. Herr Kollege Lafontaine, selbst Sie und die SPD haben gesagt, eine Erhöhung der Mineralölsteuer um
Dr. Wolfgang Schäuble
15 Pfennig in einem Schritt ist aus wirtschaftspolitischen Gründen nicht zu verantworten. Sie haben darin recht. Verursachen wir doch keine Differenzen in Punkten, in denen wir uns bisher einig waren. Das ist auch die Position der SPD: Die Mineralölsteuer ist ein Kostenfaktor, und schockartige Veränderungen sind immer schwierig.
In der Koalition gibt es in der Frage, ob man die Mineralölsteuer nicht behutsam Schritt für Schritt erhöhen kann, unterschiedliche Positionen. Lieber Himmel, das ist so aufregend nun nicht. Das habe ich oft gesagt. Meine Meinung dazu kennen Sie.
Aber Sie können das Problem einer Senkung des Rentenversicherungsbeitrags um einen Prozentpunkt - das kostet nämlich 15 Milliarden DM - nach Ihrer eigenen Auffassung nicht allein über die Mineralölsteuer lösen. Deswegen brauchen wir dafür die Mehrwertsteuererhöhung. Ihre Forderung, dies bis zum 1. Oktober 1997 zu verwirklichen, geht technisch nun wirklich nicht. Es ist auch sehr schwierig, die Mehrwertsteuer jetzt noch zum 1. Januar 1998 zu erhöhen; denn natürlich haben zum Teil die Versandhäuser ihre Kataloge schon gedruckt. Eine solche Erhöhung ginge natürlich auch in die Preiskalkulation ein.
Trotzdem hat die Koalition, haben CDU, CSU und F.D.P. in einer Entschließung in der Sitzung des Bundestags Anfang August vorgeschlagen: Laßt uns zum 1. Januar 1998 den Rentenversicherungsbeitrag um einen Prozentpunkt senken und dieses durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um einen Prozentpunkt finanzieren.
Wenn Sie sagen, jetzt müsse schnell ein Schritt gemacht werden, dann erklären Sie doch jetzt hier und heute, im übrigen unbeschadet unterschiedlicher Meinungen zur Rentenreform: Sind wir uns in der Frage, Rentenversicherungsbeitrag und Arbeitskosten zu senken und dafür einen maßvollen Schritt zu tun, die Mehrwertsteuer um einen Prozentpunkt zum 1. Januar zu erhöhen, einig? Dann können wir es gemeinsam machen. Im übrigen streiten wir über die richtige Rentenpolitik und ob es dort Gemeinsamkeiten gibt.
Wenn Sie es heute oder morgen erklären - das kann man dann im Vermittlungsausschuß schnell zu Ende bringen, schon nächste Woche können wir dem mit Sondersitzungen von Bundestag und Bundesrat zustimmen -, dann haben wir, Herr Scharping, den, Schritt, den Sie hier konkret gefordert haben. Wenn Sie es aber damit verknüpfen, daß Sie sagen: Nur wenn ihr die an sich nicht zustimmungsbedürftige Rentenreform so macht, wie wir es uns vorstellen, weil Sie im letzten Vermittlungsverfahren vor Herrn Dreßler eingeknickt sind - so war doch der Ablauf -, dann blockieren Sie auch wieder in dieser Frage, obwohl wir uns an sich in der Sache einig sind. Das sollten Sie nicht tun.
Jetzt will ich Ihnen dazu noch etwas sagen. Ihre Position in der Rentenversicherung ist aus meiner Sicht in zwei Punkten wirklich falsch. Erstens: Angesichts der demographischen Entwicklung - es ist erfreulich, daß die Menschen länger leben; weniger erfreulich ist, daß wir weniger Kinder haben - kommt doch niemand, der auf längere Sicht - Herr Fischer, es geht also um Ihre Generation und die nächsten Generationen - die Renten sichern will, darum herum, diese demographische Entwicklung in der Rentenformel zu berücksichtigen.
Warum wird denn das Reformwerk von Norbert Blüm und der Koalition von der SPD so diffamiert, wenn es unausweichlich notwendig und richtig ist, die demographische Entwicklung in der Rentenformel zu berücksichtigen?
Ihre Position ist reines Umfinanzieren: Steuern herauf, Beitrag herunter, ansonsten nichts einsparen. So senken wir die Staatsquote nicht. Aber die Staatsquote ist zu hoch. Deswegen brauchen wir beides: Strukturreform und Umfinanzierung; aber eben nicht nur Umfinanzierung, sondern auch Strukturreform.
Der zweite Punkt ist genauso falsch; dabei geht es umdie versicherungsfremden Leistungen, mit denen Sie argumentieren. Das macht sich zwar gut. Man kann die Leute leicht aufhetzen; das tun Sie gelegentlich gerne. Sie haben mit den versicherungsfremden Leistungen viel vor und erzählen, wie Sie diese bei den Aussiedlern berücksichtigen wollen oder gegen wen es Ihnen paßt, die Propagandamühlen zu drehen.
Wenn Sie alle versicherungsfremden Leistungen konsequent aus der Rentenversicherung herausnehmen, haben Sie keine solidarische Rentenversicherung mehr, sondern ein System, bei dem jeder mit Hilfe der Versicherungsmathematik und der Lebenserwartung ausrechnet, was er in die Versicherung einbezahlt hat und wieviel er zurückbekommen kann. Das ist dann eine private Lebensversicherung; dazu brauchen Sie keine solidarische Rente.
Unsere solidarische Rente beruht auf dem Gedanken der Solidarität und des Ausgleichs. Darüber waren wir uns bei der Rentenreform Anfang der 90er Jahre übrigens noch einig.
Ich kann Ihnen das vorlesen, wenn Sie wollen. Wenn Sie die versicherungsfremden Leistungen aus der Rentenversicherung herausnehmen, dann geht das Prinzip der Solidarität in der Rentenversicherung flöten. Dann ist es nicht mehr diese Republik und nicht mehr dieser Sozialstaat. Deswegen wollen wir das nicht.
Im übrigen ist der Streit für die Bürger in Wahrheit doch völlig uninteressant. Denn das, was Sie in Ihren Reden als versicherungsfremde Leistungen sehr be-
Dr. Wolfgang Schäuble
redt brandmarken - allerdings wahrheitswidrig -, ist
durch den Bundeszuschuß zur Rentenversicherung längst abgedeckt. Wir haben ja einen Zuschuß zur Rentenversicherung, der übrigens der größte Einzelposten auch in den Haushalten 1997 und 1998 ist. Über 80 Milliarden DM Bundeszuschuß zur Rentenversicherung!
Wenn wir diesen Bundeszuschuß nach unseren Vorstellungen um weitere 15 Milliarden DM erhöhen wollen, uni den Rentenversicherungsbeitrag entsprechend abzusenken, dann gibt es überhaupt keine reale Grundlage mehr für eine Debatte über versicherungsfremde Leistungen in der Rentenversicherung.
Wir wollen die Unterschiede gar nicht einebnen. Aber dort, wo gemeinsames Handeln notwendig und möglich ist, wo es also darum geht, gemeinsam zu handeln, lassen Sie uns doch jetzt eine erste Stufe der Steuerreform mit Auswirkungen, die für die Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden verkraftbar sind, nach gemeinsamer Überzeugung machen, und lassen Sie uns ferner den Rentenversicherungsbeitrag senken, indem wir es insoweit machen, wie wir Gemeinsamkeit haben.
Dann hätte diese Debatte mehr Sinn als alle Ihre Reden. Denn in der Zeit, in der wir angesichts der Situation unseres Landes sind, angesichts der ungeheuren Veränderungen und angesichts der Gefahrenpotentiale, die neben allen Chancen darin auch liegen, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ist Reden in diesem Fall nur Silber und Handeln Gold. Handeln Sie mit uns!
Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Abgeordneten Wolfgang Thierse das Wort.
Herr Kollege Schäuble, Sie haben in Ihrer Rede die Behauptung aufgestellt und den Eindruck erweckt, daß ich am 3. Oktober an einer Gegenveranstaltung zur offiziellen Veranstaltung zum Tag der Deutschen Einheit teilnehme und mich insofern an „Volksfrontambitionen" beteilige.
Ich möchte Ihnen dazu erstens mitteilen, daß ich an diesem Tage an einer Veranstaltung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, dessen Mitglied ich bin, in Erfurt teilnehme.
Diese Tagung befaßt sich mit dem Thema „Dialog und Verantwortung von Christen in der heutigen Gesellschaft" .
Zweitens nehme ich an diesem Tag abends an einer Podiumsdiskussion teil, die von Unterzeichnern der Erfurter Erklärung veranstaltet wird,
wo ich die Gelegenheit nutzen werde, Grundauffassungen - meine und die der SPD - zur deutschen Politik zu artikulieren, und etwas mit Selbstverständlichkeit tue, was ich für angemessen halte, nämlich die demokratische, die inhaltliche politische Auseinandersetzung mit anderen Parteien zu betreiben, zum Beispiel mit Positionen der PDS.
Ich kann nicht sehen, was daran in irgendeiner Weise dem Tag der Deutschen Einheit unangemessen wäre - es sei denn, Sie meinten, an diesem Tage sollten nur Reden in Stuttgart gehalten werden, anderswo sollte nicht politisch debattiert werden. Ich kann mir nicht ernsthaft vorstellen, daß Sie dies meinen.
Herr Abgeordneter Schäuble, Sie können darauf antworten.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Thierse, alles das, was Sie jetzt gesagt haben, ändert nichts an dem, was ich gesagt habe.
- Sehen Sie, das ist der Unterschied: Wir hören Ihnen immer zu, ,wir lassen Sie immer ausreden, ohne Sie zu stören, auch wenn wir das, was Sie sagen, für falsch halten. Sie dagegen fangen sofort an dazwischenzureden, wenn wir nur den ersten Satz sagen. Das ist der Unterschied.
Ich wiederhole das, was ich bereits gesagt habe: Erstens. Die Erfurter Erklärung ist eine Aufforderung zu gemeinsamer Regierungsverantwortung von SPD, Grünen und PDS. Ich habe sie da. Sie ist auch von Sozialdemokraten unterschrieben.
Zweitens. Ich habe wirklich nicht von der Veranstaltung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken gesprochen, sondern von der Einladung zur Versammlung im Zusammenhang mit der Erfurter Erklärung am 3. und 4. Oktober 1997 in Erfurt: „Einheit verpflichtet, sie soll dem Wohl der Allgemeinheit dienen. " Die ganze Veranstaltung soll den Appell der Erfurter Erklärung - Volksfrontregierung gemeinsam mit SPD, Grünen und PDS - am Tag der Deutschen Einheit erneuern. Daran beteiligen Sie sich. Daran würde ich mich als Sozialdemokrat nicht beteiligen.
Es liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Ich schließe die Aussprache zu diesem Geschäftsbereich.
Ich erteile dem Abgeordneten Dr. Gysi das Wort zu einer Erklärung nach § 30 der Geschäftsordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sowohl der Bundeskanzler als auch der Kollege Schäuble glaubten in Zusammenhang mit meinem Hinweis, daß auch bei Spendenversprechen eine Kontrolle angebracht sei, darauf hinweisen zu müssen, wes Geistes Kind ich bin. Es sollte hier der Eindruck vermittelt werden, als ob ich ein Kontrollfetischist wäre, wenn nicht noch Schlimmeres. Dies würde auch meine Herkunft besonders deutlich zeigen.
Hierzu möchte ich erstens erklären, Herr Bundeskanzler und Herr Schäuble, daß Sie nicht falsch Zeugnis reden sollten. Sie wissen, daß das nicht stimmt. Es ist völlig klar, daß ich dafür bin, daß man Leute, die versprechen, zu spenden, dahin gehend kontrolliert, ob sie es tatsächlich tun. Sonst gäbe es zu viele Versprechen, die nicht eingehalten werden.
Zweitens. Ich bin zum Beispiel auch für eine Kontrolle, wenn man Hunderte Millionen an die Vulkanwerft überweist und dann nicht mehr weiß, ob sie wirklich an die ostdeutschen Werften gegangen sind, wie man es vorgesehen hatte.
Aber ich bin gegen eine Kontrolle, ich bin gegen ein Spionieren auf der Ebene, auf die Sie sich gerade verständigt haben, nämlich zum Beispiel auf der Ebene, daß man in private Wohnungen hineinhört. So etwas können Sie mir nicht unterstellen. Des Geistes Kind bin ich nicht, und so etwas würde ich auch nie befürworten. Dies kommt aus Ihrer Richtung, nicht aus meiner.
Der Bundeskanzler hat zweitens noch einmal auf das Hamburger Plakat hingewiesen und dabei auch auf mich und andere Mitglieder der Gruppe verwiesen. Ich hatte mich vorhin bereits davon distanziert und möchte die Gelegenheit nutzen, den sehr kurzen Beschluß des Bundesvorstandes der Partei dazu zu verlesen, damit dies auch klargestellt ist:
Der Parteivorstand der PDS distanziert sich von dem Plakat der Hamburger PDS „Soldaten sind Mörder" und dem konkretisierenden Zusatz „Soldaten benutzen bisweilen Schaufeln statt Gewehre".
Herr Kollege Gysi, ich muß Sie unterbrechen. Eine Erklärung nach § 30 der Geschäftsordnung darf nur dazu dienen, entweder eigene Erklärungen richtigzustellen oder auf Gegenstände hinzuweisen, die sich auf Sie persönlich beziehen.
Hier ist mir die Verantwortung für dieses Blatt nachgesagt worden. Ich wollte damit sagen, daß der Bundesvorstand und damit auch ich uns von diesem Plakat distanziert haben, weil dahinter auch Arroganz steht und auch eine Verletzung von Menschenwürde, die wir nicht hinnehmen, was notwendige Auseinandersetzungen um internationale Einsätze der Bundeswehr und geschichtlichen Militarismus und andere Dinge selbstverständlich mit einschließt. Das werden wir auch zukünftig tun, genauso wie wir für die Freiheit des Tucholsky-Zitats sind. Dies wollte ich in diesem Zusammenhang bemerken.
Zu dem letzten Hinweis, daß wir uns in Erfurt an sozusagen unzulässigen Diskussionen am Tag der Deutschen Einheit beteiligen: Dazu kann ich nur sagen, wenn die CDU/CSU nicht aufgehört hätte, die Diskussion auch mit linken Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, mit linken Christinnen und Christen, mit linken Kulturschaffenden und linken Schriftstellerinnen und Schriftstellern zu führen, wären wir in dieser Gesellschaft weiter.
Wir setzen die Haushaltsberatungen fort und kommen zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes, Einzelplan 05. Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Klaus Kinkel.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der FAZ ist heute zu lesen:
Deutschland ist zur Zeit mit sich selbst beschäftigt. Die Perspektive verengt sich zunehmend auf die Kontroversen im Inneren, und der Blick über die nationalen Grenzen hinaus fällt schwer ...
Daran ist etwas Richtiges. Es darf aber natürlich nicht richtig sein. Bei all den Problemen, die wir im Innern haben, müssen wir wahrhaftig daran denken, daß außen- und sicherheitspolitische Fragen für dieses Land wichtig sind und von ihnen ganz entscheidend abhängt, wie es hier im Innern weitergeht.
Anfang des Jahres standen wir vor nicht ganz einfachen außenpolitischen Weichenstellungen. Vor uns lagen drei große Konferenzen: der Europäische Rat, die NATO-Gipfelkonferenz und der Weltwirtschaftsgipfel, in Amsterdam, Madrid und Denver. Heute können wir wirklich sagen, daß wir die Hauptziele erreicht haben. Die Tür für ein modernes, ungeteiltes Europa mit einer gemeinsamen Währung und gemeinsamer Sicherheitspolitik nach innen und nach außen ist geöffnet worden. Dies ist ganz unbestreitbar auch ein Erfolg dieser Bundesregierung.
Unsere Partner schauen auf uns, bauen auf Deutschland als Lokomotive für Europa und als Kraft für weltweite Stabilität. Deshalb ist es so enorm wichtig, daß wir Kurs halten. Wir werden das insbesondere bei den beiden jetzt anstehenden Weichenstellungen für das moderne Europa: bei der zügigen Erweiterung und Öffnung von EU und NATO und bei der Einführung eines stabilen Euro zum 1. Januar 1999. Bonn und Paris, Gott sei Dank nach wie vor Motor dieser europäischen Integration, halten - es ist
Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
ganz wichtig, dies zu betonen - ohne Wenn und Aber am Zeitplan wie auch an den Konvergenzkriterien für den Euro fest, weil dieser Euro gut für Europa ist, weil er für ganz Europa, für unsere Arbeitsplätze, für unsere Exporte und auch - bitte nicht vergessen - für unsere Glaubwürdigkeit in Europa und in der übrigen Welt wichtig ist.
Deshalb ist die Verschiebungsdiskussion falsch; sie ist - ich sage es so deutlich und klar - verantwortungslos und gefährlich, sogar sehr gefährlich.
Wir machen hier keine Laborversuche, sondern wir müssen uns in bezug auf den Euro auch von außen her messen lassen. Wenn Sie sich ansehen, wie die Kurse weltweit auf ganz bestimmte Erklärungen reagieren, und wenn Sie sich im Ausland umhören - ich höre es als Ihr Außenminister tagtäglich -, stellen Sie fest, daß wir sehr genau beobachtet werden, ob wir in der Lage sind, diesen Euro nun zu bringen oder nicht. Die Ansehensfrage sollte deshalb bitte nicht beiseite gekehrt werden.
Der Euro wird pünktlich zum 1. Januar 1999- ich wiederhole es noch einmal, obwohl es mittlerweile als abgedroschen gilt - unter Einhaltung der vertraglich vereinbarten Stabilitätskriterien kommen.
Das zweite große Vorhaben, das wir in Europa haben, die Erweiterung, wird der Europäische Rat auf der Basis der Vorschläge der Kommission - Agenda 2000 - im Dezember in Luxemburg entscheiden. Die Verhandlungen werden zunächst - wie von der Kornmission vorgeschlagen - nur mit einigen mittel- und osteuropäischen Ländern und mit Zypern beginnen. Aber - das ist von zentraler Wichtigkeit - die Tür bleibt für alle anderen offen. Wichtig ist auch, daß der Vorschlag, ein baltisches Land, nämlich Estland, mit in die erste Kandidatengruppe aufzunehmen, ein Signal über dieses Land hinaus ist. Alle drei baltischen Staaten gehören zu uns. Sie können auch auf uns zählen.
Mein neuer türkischer Kollege wird am Freitag erstmals nach Bonn kommen. Auch die Türkei, unser traditioneller Partner und Freund, ein strategisch wichtiger Partner an der Schnittstelle zu Nahost, zum Kaukasus und zu Zentralasien - sehr oft vergessen -, muß weiter an Europa herangeführt werden, über die jetzige Zollunion hinaus. Aber wir müssen unseren türkischen Freunden deutlich und klar sagen, daß es auf absehbare Zeit wohl nicht möglich sein wird, sie zum Vollmitglied in der Europäischen Union zu machen, und zwar einfach deshalb, weil der Weg nach Europa zwingend über den Schutz der Menschenrechte, eine rechtsstaatliche Lösung der Kurdenfrage, die Beilegung des türkisch-griechischen Streits und eine Verhandlungslösung des Zypernproblems führen muß.
Zum Nahen Osten: Der neuerliche schreckliche Bombenanschlag in Tel Aviv hat uns allen grausam vor Augen geführt: Der Nahostfriedensprozeß hängt im Augenblick im wahrsten Sinne des Wortes an einem seidenen Faden. Ich bin sehr dankbar dafür - ich habe versucht, darauf hinzuwirken -, daß Madeleine Albright ihre Reise nicht abgesagt hat, sondern heute ihren Besuch in der Region beginnt. Die festgefahrenen Friedensverhandlungen müssen wieder in Gang kommen; dazu gibt es keine Alternative. Wir wollen als Europäer durch den Botschafter Moratinos, der sich - im positiven Sinne - stärker eingeschaltet hat - das sage ich ganz offen -, als ich es ursprünglich vorhergesehen hatte, weiter helfen. Ich habe gerade in den letzten Tagen mit dem Außenminister der Palästinenser gesprochen, die natürlich in einer verzweifelten Lage sind. Die Abschottung, aus Sicherheitsgründen von Israel vorgenommen, treibt den schrecklichen Zirkelschluß von Gewalt und Gegengewalt hoffentlich nicht weiter voran. Beide Seiten sind jetzt aufgefordert, guten Willen zu zeigen. Ich glaube, wir sollten uns in diesem Deutschen Bundestag einig sein: Die Rechnung der Terroristen darf nicht aufgehen. Es war ganz typisch, daß dieser Terroranschlag im Vorfeld der angekündigten Reise von Madeleine Albright erfolgte. Sie sollte unterbunden werden; das war Sinn und Zweck der ganzen Sache. Die Palästinenser und Arafat müssen alles in ihrer Macht Stehende tun, um dem Terrorismus Einhalt zu gebieten. Mit aller Vorsicht, weil wir Deutschen - auch da sind wir uns einig, wie ich weiß - hier keine geeigneten Ratgeber sind, sage ich - ich glaube, daß das in Israel verstanden wird -: Ein Moratorium in der Siedlungsfrage, in der Frage Ha Homa, wäre sehr hilfreich.
Ich füge hinzu - auch da herrscht Einigkeit hier im Deutschen Bundestag; ich sage das, weil da in den letzten Tagen alle möglichen Äußerungen gemacht worden sind -: Alle Regierungen in der Nachkriegszeit waren sich darin einig, daß die Sicherheitsfragen Israels für uns ein besonders sensibles Problem sind und wir uns darin Israel in besonderer Weise verbunden fühlen.
Das heißt nicht, daß wir eine unausgewogene Nahostpolitik machen. Im Gegenteil: Gerade weil wir uns bei der Abstimmung über die beiden Resolutionen enthalten haben, weil sie total unausgewogen waren, sage ich: Wir alle - ich als deutscher Außenminister, Sie als Abgeordnete - können erhobenen Hauptes in sämtliche arabischen Länder reisen, einschließlich der palästinensischen Gebiete. Denn es gibt praktisch keinen Ruf nach Unterstützung, der nicht erfüllt wird; das gilt bilateral wie multilateral. Ich habe dem Außenminister der Palästinenser am vergangenen Freitag zugesagt, daß wir ihn wegen seiner Budgetlücke von 80 Millionen DM am kommenden Montag im Rat und auch gegenüber der Kommission unterstützen werden.
Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
Algerien: Hier in Deutschland fast vergessen, Terror mit traurigem Höhepunkt. Wir können relativ wenig tun.
Deshalb möchte ich Sie bitten, mich dabei zu unterstützen, wenn ich alle religiösen, gesellschaftlichen und politischen Kräfte aufrufe, den Weg der nationalen Versöhnung zu gehen und der Gewalt und dem Terror jetzt ein Ende zu setzen. Auch das algerische Volk hat ein Recht darauf, in Frieden zu leben.
Meine Damen und Herren, ich habe in der vorvergangenen Woche den Herrn Bundespräsidenten nach Moskau begleitet. Die NATO-Rußland-Grundakte und die Entscheidung des NATO-Gipfels von Madrid, in einer ersten Öffnungsrunde Polen, Ungarn und die Tschechische Republik als neue Mitglieder aufzunehmen, markieren wirklich einen Meilenstein auf dem Weg zur Errichtung einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur. Europas Trennung wird im Einvernehmen mit Rußland überwunden; Europas neue Sicherheit wird im Zusammenwirken mit Rußland gewährleistet. Das ist von historischer Bedeutung. Präsident Boris Jelzin hat in dem Gespräch, das der Bundespräsident und ich zusammen mit ihm hatten, einen Satz gesagt, den ich nicht so schnell vergessen werde. Er hat erklärt, die Beziehungen Rußlands zu Deutschland seien „die vorrangigsten unter den vorrangigen" . Wer hätte sich das vor zehn Jahren träumen lassen? Die Beziehungen haben sich auf eine Art und Weise entwickelt, für die wir etwas getan haben und auf die wir gemeinsam stolz sein können.
Zu Bosnien: Was sich in diesen Tagen dort abspielt, ist äußerst kritisch und zeigt, daß wir wahrscheinlich an einem Wendepunkt sind. Der Verweigerungsfront in Pale steht jetzt ein innenpolitischer Gegner in Banja Luka gegenüber. Ich habe Präsident Milosevic in den letzten Tagen massiv aufgefordert, sich in den Machtkampf zwischen Pale und Banja Luka hinter die gewählte Präsidentin Plavsic zu stellen, die unsere Ansprechpartnerin ist, solange sie den Dayton-Prozeß unterstützt, ihn implementiert und umsetzt, und sich nicht hinter die Hauptgegner des Friedens, Karadzic und seine Helfershelfer, zu stellen. Die Hetzkampagnen der von Karadzic gesteuerten Medien sind unerträglich und müssen - notfalls auch mit Gewalt - unterbunden werden. Das Mandat der SFOR erlaubt dies. Das ist auch schon geschehen; wir sollten das unterstützen.
Am kommenden Wochenende sind in Bosnien die Kommunalwahlen. Sie wissen, wie die kroatische Seite reagiert hat. Ich war gestern zusammen mit dem britischen Außenminister Cook in Hamburg. Wir haben der kroatischen Seite deutlich und klar erklärt, daß der vorgesehene Boykott nicht hinnehmbar ist.
Es bleibt dabei: Wer den Frieden und die Rückkehr der Flüchtlinge blockiert - das ist natürlich für uns nach wie vor eine ganz zentrale und wichtige Frage -, bekommt keine Wiederaufbauhilfe.
Umgekehrt müssen wir den Gemeinden helfen, die konstruktiv mitmachen. Das ist - hoffentlich - mit der Hilfe des Kollegen Schlee, dem ich für sein Engagement, seinen Einsatz und seine Bereitschaft danke, auch in der Republik Srpska zumindest in Einzelfällen möglich. Immerhin sind 60 Prozent der Flüchtlinge, die noch in der Bundesrepublik sind, aus der Republik Srpska.
Rugova war vor zwei Tagen bei mir und sagte: Bitte den Kosovo nicht vergessen. Auch in diesem Punkt müssen wir natürlich Milosevic auf die Füße treten, und zwar mächtig.
Menschenrechte bleiben für uns Kernstück unseres politischen Selbstverständnisses. Sie alle wissen, daß es da keinen Königsweg gibt. Aber: Wer die Menschenrechte mit Füßen tritt - leider Gottes findet das noch viel zu häufig auf dieser Welt statt -, der soll nicht ruhig schlafen können. Deshalb möchte ich mich gern - ich hoffe, daß Sie mich dabei unterstützen - für eine möglichst baldige Errichtung eines effektiven internationalen Strafgerichtshofs einsetzen.
Bevor ich zum Schluß komme, möchte ich noch ein Wort zum Iran sagen. Wir hatten - und wünschen uns dies wieder - zu diesem 70-Millionen-Volk in strategisch wichtiger Lage enge und freundliche Beziehungen. Der neue Außenminister, den ich aus verschiedenen Begegnungen in New York, wo er bisher Botschafter war, kenne, hat mit seinen Äußerungen zum Thema „Terrorismus, Vertrauensbildung und regionaler Frieden" ganz zweifellos einen neuen Ton angeschlagen. Wir begrüßen diesen Schritt; er hat die Hand ausgestreckt, die wir vorsichtig ergreifen wollen.
Ich hoffe, daß sich in New York am Rande der VN-Generalversammlung eine Möglichkeit zu einem Gespräch der EU-Troika mit ihm ergibt. Die beste Voraussetzung wäre natürlich, wenn die EU-Botschafter zurückkehren könnten. Das wird nicht geschehen unter Diskriminierung des deutschen Botschafters. Wir werden nicht als letzte zurückgehen. Die europäische Solidarität steht. Dafür bedanke ich mich nachdrücklich und ausdrücklich.
Die ausgestreckte Hand wird nicht um jeden Preis angenommen. Wir erwarten, daß der Iran positive Zeichen setzt und sich völkerrechtskonform verhält. Wir erwarten auch, daß im Prozeß gegen den Schriftsteller Sarkuhi nach Recht und Gesetz verfahren wird. Der Ball liegt eindeutig im iranischen Feld. Nicht wir haben „Mykonos" zu vertreten, sondern die iranische Seite. Deshalb können wir mit Ruhe
Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
und Gelassenheit dem entgegensehen, was da kommt. Ich sage nochmals: Wir sollten die ausgestreckte Hand ergreifen.
Was wir uns in Europa vorgenommen haben, ist eine Herkules-Arbeit, insbesondere deshalb, weil die Länder, die jetzt ihre Aufnahme in die Europäische Gemeinschaft beantragt haben, über Jahrzehnte kommunistische, diktatorische Regime hatten und keine Marktwirtschaft, sondern eine Kommandowirtschaft. Das wird eine gigantische Anstrengung werden, weil völlig anders strukturierte Länder in die Europäische Gemeinschaft aufgenommen werden sollen. Wir werden und müssen das schaffen.
Ich möchte, wenn Sie erlauben, zum Schluß etwas tun, was vielleicht unüblich ist. Aber ich tue es einmal, weil ich gemerkt habe, daß gerade in letzter Zeit Haushaltsfragen, sprich: Stellenabbau und weniger Mittel, im Auswärtigen Dienst dazu geführt haben, daß meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich gerade im letzten Jahr für dieses Land hochmotiviert geschlagen haben, ein bißchen Unterstützung brauchen. Wir sollten stolz auf sie sein.
Ich danke den Haushältern und dem Parlament dafür, daß immerhin das, was wir benötigen, bereitgestellt wurde. Hellen Sie uns noch ein bißchen mehr! Denn wir können Deutschland - unser Land, Ihr Land - nach außen nur würdig und so vertreten, wie Sie es alle wünschen und wie wir es unserem Volk schuldig sind, wenn wir die notwendige Unterstützung des Parlaments haben.
Vielen Dank.
Ich gebe dem Abgeordneten Dr. Christoph Zöpel das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ihrer nachdenklichen Eingangsfrage, Herr Außenminister, nach dem Stellenwert internationaler Politik kann ich nur beipflichten. Mein Eindruck ist, daß gerade bevölkerungsreiche und wirtschaftsstarke Staaten ihrer politischen Verantwortung als Teile der internationalen Gemeinschaft immer weniger gerecht werden. Nicht an allem auf dieser Welt ist das politische System schuld, sogar für immer weniger. Aber gerade dafür trägt das jeweils nationale politische System eine erhebliche Verantwortung.
Wenn man das so sagt - vor allem hier heute mittag -, kommt man fast ins Nachdenken und fragt sich: Was ist Außenpolitik eigentlich noch, Herr Außenminister, in einer global vernetzten Welt, in der Unternehmensentscheidungen, Finanzströme und vor allem Informationen in einer Weise global vernetzt und international sind, wie wir es täglich diskutieren? Wir kommen dann ganz schnell zu bestimmten Schlagworten. Die gängigste Vokabel, wenn wir in globalen ökonomischen Dimensionen denken, lautet „Standort". Manchmal gibt es Tendenzen, daß Außenpolitik zum Handlanger internationaler Standortkonkurrenz werden könnte.
- Auch darüber wage ich nachzudenken. Aber, Herr Kollege Haussmann, ich gehe jetzt einmal einen Schritt zurück. Es ist immer gut, wenn man, bevor man sich um internationale Politik kümmert, auch andere Erfahrungen hat. Als ich mich um die Städte in Deutschland kümmerte, habe ich gelernt: Zuviel lokale Standortkonkurrenz ist Kirchturmsdenken. Ich übertrage das auf die internationale Politik: Zuviel Außenpolitik zugunsten des Standorts ist provinziell.
Damit käme man zu der Frage, was zu tun ist. Die Antwort ist sehr deutlich: Wir brauchen internationale Politik. Außenpolitik muß sich in ihrem Selbstverständnis hin zu internationaler Politik verändern. Sie braucht dazu den Rahmen der UNO. Hier sind wir an einem wichtigen Punkt. Die Funktionsfähigkeit der UNO ist derzeit durch Meinungsverschiedenheiten mit der wirtschaftsstärksten - und bevölkerungsreichen - Nation, mit den Vereinigten Staaten, beeinträchtigt. Das hat mehr mit der Rolle des Kongresses zu tun als mit der Rolle der Regierung in den Vereinigten Staaten.
Ich komme damit zu der Frage: Wird es nicht die wichtigste Aufgabe der europäischen Parlamente sein, hier in einen intensiveren Dialog mit dem amerikanischen Parlament einzutreten?
Wir Sozialdemokraten wollen das gerne mit den Demokraten tun. Ich hoffe, Sie von CDU und CSU haben bei den Republikanern genausoviel Erfolg.
Daß die UNO funktioniert, wäre die erste Voraussetzung für eine Weltinnenpolitik, die dann internationale Regeln beachten muß. Ich nenne die beiden wichtigsten: Achtung der Menschenrechte und Verpflichtung auf die Nachhaltigkeit. Man kann über die weltweite Wirkung der Medien viel diskutieren. Ein positives Ereignis ist, daß es der UNO gelungen ist, weltweit diese Vokabel, Sustainability oder Nachhaltigkeit, zu einem Leitgedanken von Politik zu machen.
Ich halte die Achtung von Menschenrechten und Sustainability angesichts der Globalisierung für die beiden wichtigsten Aufgaben.
Ich halte aber an Weltinnenpolitik fest. Diese fängt zu Hause an. Was wir, so glaube ich, am wenigsten merken, ist, daß, sosehr Außenpolitik zu internationaler Politik und Weltinnenpolitik wird, umgekehrt Innenpolitik automatisch immer mehr internationale Politik wird. Es ist eine provinzielle Kurzsichtigkeit, wenn überhaupt noch Innenpolitik in Deutschland gemacht wird, ohne daß ihre internationalen Wirkungen reflektiert werden.
Dr. Christoph Zöpel
Ich will das an einem Auseinandersetzungsfeld verdeutlichen, das wir aktuell haben und das viele besonders bewegt: die Frage der inneren Sicherheit. Dazu kann man sich viele internationale Gedanken machen. Ich glaube, man kann über die Medien viel lernen, was man gegen Gewalt in Städten tun könnte, zum Beispiel aus New York. Da muß man aufpassen; aber ich glaube, man kann von New York lernen, was man gegen Gewalt in großen Städten tun kann. Andererseits: Ob man tatsächlich, wie man das im Bundesrat - provinziell? -
diskutiert hat, internationalen Verbrechertums mit nationalen Maßnahmen Herr werden könnte, da habe ich meine Zweifel. Da hilft vermutlich nur internationale Kriminalitätsbekämpfung. Das muß man in diesem Zusammenhang sehen.
- Ein Mitglied des Auswärtigen Ausschusses, das Chaostage mit internationalem Verbrechen verwechselt, zeigt, daß mein Vorwurf der Provinzialität hier voll trifft.
Der andere Fall ist die Abschiebung. Also, über Algerien mitfühlende Worte finden, Herr Bundesaußenminister - die ich Ihnen voll abnehme -, aber sich nicht mit dem Bundesinnenminister einigen, daß in diesen Wochen niemand nach Algerien abgeschoben werden kann, das verletzt Menschenrechte schon bei uns.
Ich halte Bemühungen um die Abschiebung von Algeriern in diesen Wochen für eine Menschenrechtsverletzung durch die daran beteiligten deutschen Abschieber. - Das zur Menschenrechtspolitik.
- Ich sprach von deutschen Abschiebern.
Mit diesem Stichwort komme ich zu dem Punkt, daß diese global vernetzte Welt natürlich gegliedert bleibt. Sie ist gegliedert in Weltreligionen. Das wurde uns am meisten bewußt, als ein Wissenschaftler, der gute Samuel Huntington, die Konflikte zwischen den Weltregionen beschrieben hat. Wenn der Krieg zur Sprache kommt, ist das seit Heraklit immer besonders interessant. Die Antwort von zivilisierten, bevölkerungsreichen, wirtschaftsstarken Ländern kann aber nur sein: Wir wollen nicht den Krieg zwischen Regionen, sondern wir müssen die größte europäische Erfahrung in der internationalen Politik auch in die Beziehungen zu unseren regionalen Nachbarn einbringen, nämlich die Politik gemeinsamer Sicherheit und Zusammenarbeit. Das gilt vorrangig gegenüber der Region im Nahen und Mittleren Osten.
Der Konflikt, der im Augenblick akut ist, ist von Ihnen angesprochen worden. Jeder Tote im Nahen und Mittleren Osten, der nicht hätte sterben müssen, wenn alle friedfertiger wären, ist zu bedauern. Das sage ich an dieser Stelle. Ich gehe jetzt aber einen Schritt weiter: Europa ist bei diesem Konflikt kein Beobachter, sondern Europa ist wegen der regionalen Nachbarschaft in globaler Dimension und inzwischen auch durch unser großes wirtschaftliches Engagement involviert. Ich meine, Frau Albright verdient - wie Sie dargestellt haben, Herr Außenminister - alle Unterstützung; ich teile das. Die europäischen Initiativen müssen weitergehen, über das erfolgreiche Wirken von Herrn Moratinos hinaus. Ich halte es für richtig, darüber nachzudenken, daß auch geeignete europäische Institutionen bei der Terrorismusbekämpfung helfen. Ich halte auch einen Dialog mit Israel darüber, ob sich Israel aus dem Südlibanon zurückziehen kann und wer statt dessen unter den Blauhelmen der UNO dort Hilfe leistet, für berechtigt. Wir müssen auch darauf hinweisen, daß Wirtschaftshilfe keinen Sinn hat, wenn durch - offenkundig wirkungslose - Strafaktionen der Effekt dieser Hilfe außer Kraft gesetzt wird.
Das gehört zu dieser regionalen Nachbarschaft, in die wir alle Staaten dieser Region einbeziehen sollten, ich sage bewußt: alle.
Der vielleicht am wenigsten erfolgreiche Teil Ihrer Außenpolitik, Herr Minister, ist nun einmal die Teilhabe am kritischen Dialog mit dem Iran. Das hat nicht gut gewirkt; das wissen wir alle. Ich meine, es macht auch keinen Sinn mehr, zu einzelnen Staaten dieser Region besondere Beziehungen aufzubauen. Statt dessen sollten wir - bei allen Schwierigkeiten - daran arbeiten, ein regionales Beziehungsgeflecht aufzubauen, niemanden auszuschließen und niemanden zu bevorzugen. Das macht in Einzelfällen Schwierigkeiten. Aber jegliche Politik des leeren Stuhls - weil irgendein anderer teilnimmt, die Araber weggehen, weil Israel da ist; Großbritannien weggeht, weil Libyen da ist - sollten wir vermeiden. Das gilt für alle Staaten. Wir sollten uns daranmachen, dieses Geflecht - alle Staaten reden über alles, und jeder bleibt da - aufzubauen. Nur das kann helfen. Alles andere war bisher nicht besonders erfolgversprechend.
Herr Kollege Zöpel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Irmer?
Selbstverständlich, Herr Präsident.
Vielen Dank, Herr Kollege Zöpel. - Ich wollte Sie nur fragen, ob Sie es für richtig halten, immer noch daran festzuhalten, daß der sogenannte kritische Dialog, den die Europäische Union mit dem Iran geführt hat, etwas Herausgehobenes gewesen sei, oder ob Sie mir zustimmen, daß es doch
Ulrich Irmer
im wesentlichen darum ging, die Beziehungen zu diesem Land nicht abzubrechen, sondern im Gespräch zu bleiben, dabei aber deutlich zu machen, daß das Im-Gespräch-Bleiben keineswegs bedeutet, daß man untragbare, nicht hinnehmbare Positionen des Iran etwa akzeptiert hätte, sondern daß man das Wort „kritisch" dem Wort „Dialog" deshalb vorangestellt hat, weil man deutlich machen wollte, daß man auf diese Weise auf den Iran einwirken will, um ihn von seinen verbrecherischen Eskapaden abzulenken.
- Lieber Karsten Voigt, ich frage doch nur, ob der Kollege Zöpel mir zustimmt.
Herr Kollege Irmer, entschuldigen Sie bitte, kein Dialog hier zwischendurch. War das Ihre Frage, die Sie stellen wollten?
Das war meine Frage, die ich Herrn Zöpel gestellt habe. Ich hoffe, sie ist trotz aller Semantik verständlich geworden.
Dann, Herr Kollege Zöpel, bitte, würden Sie antworten?
Herr Kollege Irmer, wir haben das sehr oft diskutiert. Der sogenannte kritische Dialog mit dem Iran ist besonders als Medienereignis gescheitert. Eine richtige Wortwahl aus der Tradition der deutschen Philosophie heraus ordnet das Wort „kritisch" richtig ein; das ist ganz unstreitig. Nur, so war es in keiner Zeitung zu lesen, vielleicht weil die Journalisten der Zeitungen, die darüber berichten wollten, Kant nicht gelesen haben. Aber da besteht dann eine Mitverantwortung der Politik. Begriffe, die in den Medien nicht richtig verstanden werden, sollte man nicht gebrauchen. Das ist der Fehler.
- Herr Minister, ich habe gesagt, Sie haben mitgewirkt. Das können Sie nicht bestreiten.
Das Ganze hat allerdings eine positive Seite - das füge ich ausdrücklich hinzu -, nämlich die Solidarität der EU-Staaten mit Deutschland gegenüber dem Iran. Auch alles, was nicht ganz gut geht, hat doch wieder etwas Gutes. In diesem Sinne wollten Sie mich das ja fragen.
Ich glaube nur, daß Versuche und Anstrengungen, mit möglichst allen Staaten Netze aufzubauen, keinen auszuschließen und keinen zu bevorzugen, ein geeigneterer Weg sind, als den Eindruck entstehen zu lassen, ein Land ist besonders wesentlich.
- Ich glaube, daß ich versucht habe, Ihre Frage zu beantworten. Danke für Ihren Respekt, daß Sie so lange gestanden haben, Herr Kollege.
Damit komme ich zu Algerien, Herr Außenminister. Ihr Urteil teilen wir. Ich gehe aber einen Schritt weiter. Ich glaube, in unserer informationell und in der Verpflichtung auf die Menschenrechte vernetzten Welt können wir es nicht mehr hinnehmen, daß die algerische Regierung uns sagt: Das geht keinen etwas an, außer uns selbst,
daß sie fortfährt, die Presseberichterstattung einzuschränken und sich damit selbst schadet,
nämlich Gerüchte aufkommen läßt, es könnten Militärkräfte in diesem Lande sein - ob sie von der Regierung kontrolliert werden können oder nicht, sei dahingestellt -, die verantwortlich sind. Ich meine, die Bundesregierung sollte zusammen mit der EU einen Versuch machen, damit der algerischen Republik deutlich gemacht wird: Die UNO möchte sehen, was dort passiert, und auch die EU als Teilnehmer am Barcelona-Prozeß möchte sehen, was dort passiert.
Dann kann man mit der algerischen Regierung und allen auf die Menschenrechte verpflichteten Kräfte dort darüber sprechen, wie unter Beachtung nationaler Souveränität geholfen werden kann.
Damit bin ich zum Schluß noch einmal bei den Medien. Ich habe die positiven Dinge genannt; ich nenne auch die negativen. Unsere Politik gegenüber den Staaten der Nah- und Mittelost-Region wird auch dadurch beeinträchtigt, daß sich Abgeordnete, Menschen, die in der Zeitung stehen wollen, bis hin zu Diplomaten in ihrer Einstellung, welcher der islamischen Staaten denn nun gut oder schlecht ist, davon leiten lassen, was zufällig in der Weltpresse aufgeblasen wird. Was Journalisten, die das kennen - nehmen wir Herrn Scholl-Latour -, dazu sagen, ist beängstigend. Wir müssen ein ganz dichtes Geflecht von Beziehungen der Regierungen, der Diplomaten, von Wissenschaftlern und Nichtregierungsorganisationen aufbauen, das Beziehungen zu diesen Staaten auch unabhängig von spektakulär aufgeblasenen Nachrichten jedes einzelnen Tages ermöglicht. Davon hängt die Sicherheit Europas ab, nachdem es seine geopolitische Gestalt durch die Osterweiterung wiedergefunden hat - ein Aspekt, den ich deshalb nicht genannt habe, weil mein Kollege Meckel darüber sprechen wird.
Herzlichen Dank.
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Dr. Erich Riedl.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Kollege Karsten Voigt hat einen Begriff in die Debatte eingebracht, der mir gut gefallen hat: Außenpolitik bedeutet Semantik. Als Haushälter sage ich: Außenpolitik bedeutet natürlich auch Geld.
Ich bitte die hochgeehrten Vertreter der noch höheren Diplomatie in diesem Haus um Nachsicht, wenn in dieser ersten Lesung des Haushalts für das Auswärtige Amt auch das Geld angesprochen werden muß. Es tut mir leid; aber wir sind ja in der ersten Lesung des Haushalts.
Herr Kollege Zöpel, hinsichtlich Ihres Appells, angesichts der dramatischen, menschenverachtenden Situation in Algerien das Thema Abschiebung von Algeriern aus Deutschland nach Algerien einer besonderen Würdigung zu unterziehen, haben Sie die Unterstützung unserer Fraktion. Ich bin genauso wie Sie über die verheerenden Massaker bedrückt, die angesichts vieler dramatischer Massaker in ganz Afrika eigentlich fast beispielhaft sind. Aber Algerien ist in bezug auf das Mittelmeerprogramm der EU beinahe schon im Türrahmen des Hauses Europa. Daher sollten wir dieses Thema im Bundestag und, soweit wir es von der Kompetenz her können, mit den deutschen Innenministern so diskutieren, wie Sie es angesprochen haben.
Der Regierungsentwurf für 1998 sieht für den Haushalt des Auswärtigen Amtes eine Summe von rund 3,5 Milliarden DM vor. Das sind 1,2 Prozent weniger als 1997, auch wenn man den Nachtrag, den wir hier ebenfalls behandeln, mit einbezieht. 3,5 Milliarden DM sind natürlich eine Menge Geld; in der Relation gesehen ist es jedoch nominell der niedrigste Haushaltsansatz für das Auswärtige Amt seit 1992. Ich erinnere mich noch an die erstaunten Gesichter der Kolleginnen und Kollegen, als ich im letzten Jahr den Anteil des Einzelplans 05 am gesamten Bundeshaushalt erwähnte. Auch 1998 geht der Anteil des Etats des deutschen Außenministeriums, gemessen am gesamten Bundeshaushalt, wieder ein Stück zurück und beträgt jetzt nur noch 0,77 Prozent. Die Statistik besagt, Herr Minister, daß dies der niedrigste Anteil des Einzelplans 05 am Gesamthaushalt der Bundesrepublik Deutschland seit ihrer Gründung im Jahr 1949 ist.
Sie erbringen damit - ich will das auch als Mitglied im Haushaltsausschuß sagen - einen bemerkenswerten Beitrag zur Stabilität und zur Haushaltskonsolidierung in Deutschland.
- Er hat es ja nicht ganz einfach; denn er hat soeben auch mit Ihrer Zustimmung, meine Damen und Herren, an uns appelliert, daß wir vielleicht noch ein bißchen mehr für die deutsche Außenpolitik nach der
Wiedervereinigung Deutschlands leisten sollten. Wir bewältigen ja die Aufgaben der deutschen Außenpolitik heute - bis auf wenige 0,0 ... Prozent - mit dem gleichen Personal wie im geteilten Deutschland.
In groben Zügen teilt sich dieser Haushalt in vier Blöcke auf, in drei große und einen winzigen. Der größte Block sind die Betriebsausgaben mit 42 Prozent des Haushalts oder 1,5 Milliarden DM. Dann kommt der Kulturhaushalt, also die Finanzierung der deutschen auswärtigen Kulturpolitik, mit 33 Prozent oder 1,2 Milliarden DM. Dann kommen mit erstaunlich niedrigen 900 Millionen DM oder 24 Prozent Anteil die Ausgaben für den sogenannten politischen Bereich. Daß das Deutsche Archäologische Institut mit 1 Prozent beim Außenminister etatisiert ist, kommt unter anderem daher, daß wir kein deutsches Bundeskultusministerium haben, was unserer Verfassung entsprechend ja auch richtig ist.
Ich habe einmal die Betriebskosten von 1,5 Milliarden DM auf die etwas mehr als 80 Millionen Einwohner in Deutschland umgerechnet und dabei nach Adam Riese festgestellt, daß auf jeden Bundesbürger rund 18 DM pro Jahr für die Bezahlung der Betriebskosten des deutschen auswärtigen Dienstes entfallen. Das ist bei über 8000 Mitarbeitern einschließlich der lokalen Kräfte - wir sind mit dem deutschen auswärtigen Dienst rund um die Welt tätig - eigentlich eine sehr gut vertretbare Ausgabe. Wenn man sich einmal überlegt, daß sich Millionen Deutsche jahraus, jahrein im Ausland befinden und nicht wenige von ihnen die Unterstützung unserer Auslandsvertretungen dringend brauchen, dann ist dies meiner Ansicht nach - ich sage es noch einmal - eine vernünftige Ausgabe.
Beim Kulturhaushalt ist das ähnlich: Die deutsche auswärtige Kulturpolitik kostet jeden deutschen Bundesbürger im Jahr rund 14 DM.
In diesem Haushalt haben wir ein Problem besonderer Art, das ich erwähnen möchte. Dies ist die leider nicht mehr ganz wiederherstellbare Etatisierung der Ausgaben für den politischen Bereich. Wir müssen uns einmal im Auswärtigen Ausschuß und im Haushaltsausschuß darüber unterhalten, ob wir durch Umschichtung mehr erreichen können. So wird zum Beispiel der Etat für die humanitäre Hilfe, der 1996 immerhin 80 Millionen DM betragen hat, im Vorschlag für 1998 mit 70 Millionen DM angesetzt. Herr Kollege Kuhlwein, wir müssen einmal überlegen, wie wir umschichten.
Zur UNICEF. Ich habe der Generalsekretärin der UNICEF leichtfertigerweise versprochen, daß sie 1998 genausoviel bekommt wie 1997.
- Du hast der charmanten Präsidentin mehr versprochen als ich. Das kommt, weil du dem Charme dieser Dame offensichtlich mehr unterlegen bist als ich.
Dr. Erich Riedl
- Dich nehme ich gar nicht mit, weil du, was das anbetrifft, noch gefährlicher bist.
Hier geht es um eine Summe in Höhe von 2 Millionen DM.
Auch im Bereich UNHCR müssen wir noch ein bißchen nachbessern und den Betrag von 8,2 Millionen DM auf 9 Millionen DM anheben. Das müßte uns durch Umschichtung gelingen.
Ein Problem besonderer Art sind die Haushaltskürzungen. Wir haben bei der Wochenendklausurtagung der Haushaltsgruppe von CDU/CSU und F.D.P. einmal grundsätzlich die Frage erörtert: Wie oft kann es sich der Staat noch leisten, jährlich 1,5 Prozent Personal einzusparen? Ich muß offen gestehen, daß wir, die Haushälter, bei Bundesfinanzminister Dr. Waigel auf ein sehr offenes Ohr gestoßen sind, und dafür bin ich dankbar. Wir haben es schon im letzten Jahr einmal versucht.
- Da hätte ich an Ihrer Stelle weniger Angst.
Ich hole mir dann Ihren Rat ein, wie man so etwas macht. Sie haben ja, als Sie noch bei der F.D.P. waren, bei Ihren Außenministern gewisse Erfahrungen sammeln können, Herr Verheugen.
Das war eine positive Bemerkung. Ich bitte, sie mir nicht allzusehr nachzutragen.
- Das werde ich Theo Waigel schon ersparen. So solidarisch bin ich; darauf können Sie sich verlassen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in den letzten Wochen ist das Wort „Nettobeitrag" durch die Gazetten gegeistert; die Gesellschaft für deutsche Sprache wird es vielleicht zum Wort des Jahres erheben. Ich will dazu einige Worte verlieren: Deutschland hat im Zeitraum von 1991 bis 1996 insgesamt 140 Milliarden DM mehr an die EU gezahlt, als es zurückerhalten hat; das ist ein echtes Problem. Allein im Jahr 1996 hat Deutschland trotz verstärkter Rückflüsse aus den EU-Strukturfonds einen Nettobeitrag von 22,5 Milliarden DM an den EU-Haushalt geleistet. Dies beruht auf dem sogenannten Eigenmittel- beschluß der EU von Edinburgh vom 31. Oktober 1994.
Da wir dies alle miteinander beklagen, muß ich doch einmal feststellen - ich habe das Bundesgesetzblatt zu diesem Eigenmittelbeschluß in meinem Büro liegen -, daß er fast einstimmig vom Deutschen Bundestag gefaßt worden ist und auch fast einstimmig
vom Bundesrat ratifiziert wurde. Wir haben ebenfalls zugestimmt; auch ich war dabei.
Jetzt stellen wir fest - das ist eine Frage, Herr Minister, die einmal grundsätzlich angegangen werden muß -, daß der Zeitraum der Beschlußfassung durch den EU-Ministerrat und die EU-Kommission mit dem Zeitraum, den wir bräuchten, um solche Beschlüsse ausführlich zu überprüfen, gar nicht vereinbar ist. Wenn ich die Wirkungen des Edinburgher Eigenmittelbeschlusses heute bewerte, dann muß ich sagen - dies gilt nur für mich -: Ich habe dies weitgehend unterschätzt. Ohne Vorwürfe sage ich: Auch die verfassungsgebenden Organe, die Gesetzgebungsorgane in Deutschland konnten die Auswirkungen gar nicht überblicken. Dies zeigen die Zahlen, die jetzt vorliegen.
Herr Kollege Riedl, gestatten auch Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Irmer?
Es ist mir ein Vergnügen.
Vielen Dank, Herr Kollege Riedl.
Auch wenn ich alldem zustimme, was Sie gesagt haben, möchte ich Sie doch fragen, ob Sie nicht wie ich die Gefahr sehen, daß die breite Erörterung dieses Problems in der Öffentlichkeit zu dem falschen Eindruck führen könnte, als bemesse sich der Nutzen, den die Bundesrepublik Deutschland wirtschaftlich aus ihrer Mitgliedschaft in der Europäischen Union zieht, lediglich nach dem Vergleich der Salden im europäischen Unionshaushalt.
Ist es nicht vielmehr so, daß wir den Menschen immer wieder sagen sollten, daß diese rein fiskalische Betrachtungsweise nicht ausreicht, sondern daß man ermessen muß, was wir als exportorientierte Wirtschaft allein für unsere Arbeitsplätze davon haben, daß wir überhaupt die Vorteile dieses freien Marktes genießen? Es ist manchmal eben etwas kurz gegriffen, wenn man dieses auf die Vergleiche von Zahlungen, die aus Deutschland in den bescheidenen EU-Haushalt fließen, mit dem, was aus diesem Haushalt wieder nach Deutschland zurückfließt, reduziert.
Da gebe ich Ihnen im Prinzip schon recht, nur sollten wir diese Rechnung einmal im einzelnen durchführen.
Ich habe Unterlagen aus dem Bereich aller 16 deutschen Länderfinanzminister, die besagen, daß die Effizienzrendite bei der Bewertung der Arbeitsplätze, die durch die Europäische Union in Deutschland und in den einzelnen Mitgliedstaaten anfallen, sich im Durchschnitt für Deutschland nicht günstig darstellt. Während die Effizienz bei der Schaffung von Arbeits-
Dr. Erich Riedl
plätzen im europäischen Durchschnitt bei 8 Prozent liegt, liegt sie in Deutschland nur bei 6 Prozent.
Ich weiß natürlich auch, daß sich die Friedensdividende eines vereinigten Europas - einer anderen Sichtweise schließe ich mich auch nicht an - nicht in der Nettorechnung widerspiegeln darf. Aber es darf natürlich auch nicht übersehen werden - ich darf noch einmal die Länderfinanzminister und den Bundesfinanzminister erwähnen -, daß diese auf der Länderfinanzministerkonferenz am 3. Juni 1997 in Bad Homburg festgestellt haben, daß die deutsche Leistungsbilanz im Verhältnis zu den EU-Ländern immer tiefer ins Defizit gerät. Im Jahre 1996 hat die deutsche Leistungsbilanz innerhalb der EU das Rekorddefizit von nahezu 31 Milliarden DM erreicht. Da die deutschen Exporte mit den Nettotransfers nicht Schritt halten, hat sich Deutschland als der mit Abstand größte Nettozahler immer stärker verschuldet.
- Es tut mir leid, wenn ich Sie so mit Zahlen belasten muß, aber auf die Frage hatte ich mich ohne Ansagen ausdrücklich vorbereitet.
Im Zeitraum 1991 bis 1996 verringerte sich auf diese Weise das Nettoauslandsvermögen Deutschlands gegenüber den EU-Ländern um insgesamt 87 Milliarden DM. Meine Damen und Herren, das kann so nicht bleiben, weil wir dadurch zwei Dinge nicht erreichen: Zum einen erreichen wir nicht eine volle, uneingeschränkte Akzeptanz der deutschen Bevölkerung für Europa, und wir erreichen auch nicht, daß Solidarität und Beachtung gleicher Lebensverhältnisse in Europa zu einem tragenden Prinzip der europäischen Einheit werden.
Ich bin Ihnen für diese Frage ausdrücklich dankbar.
- Ich finde es sehr lustig, wenn sich ausgerechnet die Opposition noch einmal dafür bedankt, wenn ein CSU-Abgeordneter sich über einen F.D.P.-Abgeordneten freut.
Meine Damen und Herren, die Außenpolitik - das kann ich auch nach der Rede vom Kollegen Zöpel sagen - ist Gott sei Dank ein Gebiet, wo wir nicht mehr so ins Streiten kommen wie in den letzten zwei Tagen. Ich möchte nur stichwortartig ansprechen, daß es zum erstenmal im Deutschen Bundestag seit ein, zwei Jahren möglich geworden ist, uns über einige ganz gravierende Fehlentwicklungen in Europa zu unterhalten: zum einen über die schrecklich ausgeuferte Bürokratie in Europa, zweitens über die schrecklich ausgeuferten Gehälter bei den internationalen Organisationen und drittens auch darüber, daß wir Europa unter dem Gesichtspunkt „schlanker Staat" sympathischer machen müssen.
Herr Kollege Riedl, gestatten Sie eine weitere Frage des Kollegen Brecht?
Herr Kollege Riedl, Sie haben heute das wiederholt, was Sie in einer Presseerklärung vor einiger Zeit schon einmal verkündet haben; Sie haben nämlich die Behauptung aufgestellt, daß die Gehälter bei internationalen Organisationen zu hoch seien. Haben Sie sich einmal die Mühe gemacht, die Gehälter, die zum Beispiel bei der UNO gezahlt werden, mit denen zu vergleichen, die auf dem entsprechenden Level in der Europäischen Union gezahlt werden?
Vielen Dank für diese Frage. Gestern oder vorgestern hat uns der Bundesfinanzminister den von uns angeforderten Bericht genau zu diesem Thema übermittelt. Wir werden ihn in einer der ersten Sitzungen des Haushaltsausschusses beraten. Es verhält sich in der Tat so, daß es hier gravierende Unterschiede gibt. Ich hätte besser von den überzogenen Gehältern bei allen internationalen Organisationen sprechen sollen, angefangen bei den Vereinten Nationen über die Weltbank und die OECD bis zur EU, der WTO und wie sie alle heißen. Ich darf Ihnen einmal folgendes sagen. Wir haben uns neun Monate - der Kollege Kuhlwein weiß das - über die Bundesregierung bemüht, nur das Gehalt des Generalsekretärs der WTO in Genf zu ermitteln. Neun Monate mußten wir warten, um hinter dieses Problem zu kommen. Gleichzeitig machen wir in Deutschland Nullrunden im öffentlichen Dienst. Das Thema muß angesprochen werden; ich habe es x-mal angesprochen - ich freue mich ja, daß Sie meine Presseerklärungen lesen -, aber wir sind noch zu keinem Ergebnis gekommen.
Im übrigen gibt es hier unter den Parteien im Deutschen Bundestag nicht den geringsten Konsens.
- Dissens, ja. Der Kollege schaut so liebenswürdig, daß es mir gar nicht in den Sinn kommt, von Dissens zu sprechen.
Herr Kollege, Sie sehen es mir nach, daß ich Sie schon rein optisch so positiv beurteile.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch ich könnte jetzt einen Katalog von Beispielen bringen, an Hand dessen wir den europäischen Verwaltungsapparat einmal kritisch durchleuchten könnten. Ich brauche mir nur die europäischen Agenturen anzuschauen, die in ganz Europa wie Pilze aus dem Boden geschossen sind. Ich kann das aus zeitlichen Gründen nicht tun, weil ich zum Schluß noch auf das eingehen möchte, was der Kollege Zöpel im Hinblick auf die Vereinten Nationen als wichtigen Rahmen
Dr. Erich Riedl
der deutschen Außenpolitik und der Außenpolitik überhaupt gesagt hat. Ich will das Thema Finanzreform kurz anschneiden, auch unter dem Gesichtspunkt, daß Sie, Herr Minister, wie ich glaube, in 14 Tagen zur 52. Generalversammlung der Vereinten Nationen fahren.
Immer, wenn wir hier im Deutschen Bundestag das Thema UNO-Finanzreform diskutierten, hatte ich als - das gebe ich zu - relativer außenpolitischer Laie den Eindruck: Das schaffen wir. Jetzt muß ich feststellen: Nichts ist geschafft worden. Wer dachte, die Anfang des Jahres 1995, also vor fast zweieinhalb Jahren, von der UNO-Generalversammlung beschlossene Überprüfung der prekären finanziellen Situation der UNO durch eine eigens eingesetzte Arbeitsgruppe erfolgreich umsetzen zu können, sieht sich jetzt, nach fast zwei Jahren, einer großen Enttäuschung, nämlich dem Scheitern, gegenüber. Am 16. Juni hat die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen eingesetzte Arbeitsgruppe ihre Arbeit eingestellt, ohne substantielle Ergebnisse vorzuweisen. Ich dachte immer, wenn Boutros-Ghali weg ist und Annan kommt, dann klappt es. Ich dachte immer, die Amerikaner haben dieses Personalproblem dazu benutzt, die UNO-Finanzreform voranzutreiben. Nichts ist passiert. Heute stehen wir vor einem Scherbenhaufen.
Die wohl schwerste Finanzkrise in der Geschichte der Vereinten Nationen - ich habe mir lange überlegt, ob ich das so sagen soll - ist durch ein Zusammenspiel zahlreicher Faktoren entstanden, erstens durch die nach wie vor mangelnde Zahlungsmoral zahlreicher Mitgliedstaaten, insbesondere des größten Beitragszahlers, der USA, zweitens durch das Zahlungsunvermögen von Staaten, die durch das überkommene Beitragssystem überbelastet sind, drittens durch eine ungerechtfertigte Begünstigung von Staaten, die nicht ihrem eigentlichen Leistungsvermögen entsprechend veranlagt werden, und viertens durch das unbefriedigende Ressourcenmanagement und die schwerfälligen administrativen Abläufe im VN-Sekretariat. Ich sage es jetzt einmal als meine ganz persönliche Meinung: Vielleicht war es doch falsch, Herr Minister, daß man zum neuen Generalsekretär der Vereinten Nationen einen Mann gemacht hat, der, ich glaube, schon fast 35 Jahre lang Beamter der Vereinten Nationen war. Ich weiß es nicht. Ich will ihm auch nicht unrecht tun. Ich habe den neuen Generalsekretär durch freundliche Vermittlung von Karsten Voigt hier in Bonn kennenlernen dürfen. Er hat einen sehr guten Eindruck gemacht.
Das Scheitern der jetzigen Finanzreformkommission ist ein größeres Desaster, als es die Zustände waren, die wir zur Zeit von Boutros-Ghali hatten. Der Zahlungsrückstand der Amerikaner beträgt 1,5 Milliarden US-Dollar. Jeder kennt den heutigen Dollarkurs und weiß, was das bedeutet. Herr Minister, ich beneide Sie schon allein wegen dieses Punktes nicht um Ihre Reise zur 52. Generalversammlung der Vereinten Nationen.
Ich befürchte, daß es, wenn die Frist zur Festlegung neuer Beitragsskalen und Finanzierungsrichtlinien am 31. Dezember dieses Jahres abgelaufen sein wird, ein Desaster in der Arbeit der Vereinten Nationen gibt, das sich verheerend für die Bevölkerung in Algerien, im Iran und im Nahen Osten auswirken kann.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Nur noch ein Satz, Herr Präsident. Ich bin sofort fertig. - Ich möchte Ihnen vorschlagen, Herr Kinkel, daß wir Ihnen, bevor Sie nach New York fahren, vielleicht durch eine gemeinsame Sitzung des Auswärtigen Ausschusses und des Haushaltsausschusses die parlamentarische Rückendeckung des Deutschen Bundestages geben. Es ist in dieser Frage fast schon fünf nach zwölf.
Wer wie auch Sie, Herr Zöpel, in der deutschen Außenpolitik sehr großen Wert auf eine leistungsfähige Organisation der Vereinten Nationen legt - da sind wir uns völlig einig -, der kann den Minister in zwei Wochen nicht im Stich lassen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Dr. Helmut Lippelt.
Herr Präsident, ich hoffe auf Ihre gütige Nachsicht. Dem Terminplan nach hätte ich genau die Hälfte der Redezeit von Herrn Riedl. Ich hoffe, unter dieser zu bleiben. Vielleicht überschreite ich trotzdem um eine Minute.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Riedl hat eine Anfangsbemerkung gemacht, über die wir kritisch nachdenken sollten, Herr Außenminister. Das, was Herr Riedl über den proportionalen Anteil des Haushalts des Auswärtigen Amtes - historisch betrachtet - am Gesamthaushalt gesagt hat, hat wenn man bedenkt, daß Sie das Ressort verwalten, das präventive und nicht-militärische Außenpolitik macht - anderwärts könnte viel mehr eingespart werden -, zur Folge, daß präventive Außenpolitik erschwert wird. Die Aufgaben nehmen doch zweifellos zu.
Ich will mich auf ein Thema des Sommertheaters beschränken. Ich kann hier keine Tour d'horizon machen. Dazu ist meine Redezeit zu knapp.
Ich will mich nicht auf das Thema Euro-Neurose beziehen, das eine große Rolle spielte. Dazu hat der Bundeskanzler die nötigen Erklärungen abgegeben, mit denen wir übereinstimmen können. Ich möchte vielmehr über die Abschiebungshysterie sprechen, die wir in diesem Sommer erlebt haben.
Dr. Helmut Lippelt
Der Ausgangspunkt war ganz klar ein opportunistischer gegenüber vermeintlichem Wählerwillen. Dabei ging es um die Feststellung, daß das Profil der größeren Oppositionspartei vom Kandidaten geschärft werden müsse, um Herrn Kanther zu überbieten; denn da wurde eine Schwäche gesehen. Trotzdem wundert mich, daß sich so viele daran beteiligt haben. Auch unser Außenminister hat sich an dieser Diskussion wenig rühmlich beteiligt.
Warum wird der Begriff der „hier straffällig gewordenen Ausländer" sofort unterschiedslos auch auf die noch nicht eingebürgerten, aber hier geborenen Ausländer der zweiten Generation übertragen? Dem Justizminister ist zu danken, daß er hier als erster ein bißchen Klartext geredet, und Herrn Westerwelle ist zu empfehlen, daß er sich von ihm beraten läßt.
Warum verschiebt sich die Diskussion sofort auf afrikanische Länder, von denen wir doch alle wissen, daß ein großer Teil heute von mörderischen Diktaturen beherrscht wird, die ihre Gegner nicht zurücknehmen wollen. Warum verschiebt sich die Diskussion auf die Konditionierung von Entwicklungshilfe? Das sind doch ganz andere Themen.
Das zugrunde liegende Problem - dabei will ich einen Moment verweilen - ist ein ganz anderes. Natürlich gibt es Gründe, weswegen Menschen aus aller Welt zu uns fliehen - natürlich sind manche dieser Gründe nicht anzuerkennen -, natürlich gibt es Schlepperbanden usw. Alles das wissen wir.
Aber: Wer die asylpolitischen Lageberichte des Auswärtigen Amtes in Stichproben kennt, wer die Verharmlosungen in ihnen gelesen hat, wer sich die Mühe gemacht hat, in die Kasuistik der Urteile einzusteigen, mit denen Asylanträge und Nachfolgeanträge abgeschmettert werden, wer auch den einen oder anderen vor Angst zitternden Ayslbewerber einmal in eine sogenannte Heimatbotschaft begleitet hat, wo er unter dem Druck des Ausländeramts Ersatzpapiere beantragen mußte, und dort neben den Konsularbeamten den Geheimdienstleuten begegnet ist, die die Immigration in unserem Lande kontrollieren, der weiß, daß die wirklich politisch Verfolgten oft keine Chance haben, das ihnen von den Müttern und Vätern des Grundgesetzes zugedachte politische Asyl bei uns zu finden, und allein deshalb ihre Herkunft verschleiern, weil sie kein Zutrauen zu unserem Asylverfahren haben und verhindern möchten, ins Land ihrer Verfolger zurückgesandt zu werden.
Dabei ist das Problem längst beherrschbar. Die Asylbewerberzahlen sinken von Jahr zu Jahr. Der Bundeskanzler hat heute morgen eine Zahl von Zuwanderern genannt, die ich für 1996 nicht nachvollziehen kann. Für 1992 - Höchststand der Asylanträge; 300 000 aus Rußland Umgesiedelte - könnte ich die Zahl akzeptieren, für 1995 oder 1996 kann ich es nicht. Im Augenblick beträgt die Zahl der Asylanträge 100 000 pro Jahr,
das entspricht genau der Höhe des gesamtgesellschaftlichen Sterbeüberschusses in Deutschland. Bei
einer Anerkennungsquote von 5 bis 8 Prozent entspricht die Personenzahl der eines größeren Dorfes im jetzt wieder so großen Deutschland. Das Problem ist also beherrschbar.
Ich denke, es ist an der Zeit, das Verfahrensrecht zu humanisieren. Natürlich hat dieser Ungeist der Abwehr des Fremden auch mit Ihrer Außenpolitik zu tun, Herr Kinkel, die sich ihre Zielvorgaben nicht nur von der Wirtschaft, sondern auch vom Innenminister holt. Und nun rangieren diese innenpolitischen Vorgaben vor außenpolitischen Notwendigkeiten.
Beispiel: Normalisierung der Beziehungen zu Milosevic nach Dayton. Plötzlich hat für Sie, Herr Kinkel, die Umsetzung eines Repatriierungsabkommens höchste Priorität, das doch, wie Sie selber und wir alle wissen, zu 75 Prozent Kosovo-Albaner trifft. Und die Forderung an Milosevic, politisch zuvor das Kosovo-Problem zu lösen, ist zweitrangig geworden.
Die Folgen weist der Bericht des Diakonischen Werks Stuttgart aus. Hier wurde den Schicksalen der von der ersten Abschiebewelle Betroffenen nachgegangen. Bei mehr als 50 von ihnen sind schwere Menschenrechtsverletzungen, von Mißhandlung bis hin zum Verschwinden einzelner, dokumentiert.
Was für ein Paradox, wenn wir plötzlich aus Ihrem Munde, Herr Außenminister, die Forderung nach ausländerfreundlicher Stimmung in unserem Land hören. In diesem Punkt unterstützen Sie Bildungsminister Rüttgers, der feststellen mußte, daß die Attraktivität der deutschen Universitäten für ausländische Studenten nachgelassen hat. In der Tat: Die vom Bundeskanzler 1982 angekündigte geistig-moralische Wende ist in einen Salto mortale umgeschlagen. Wir sprechen von Globalisierung nur noch unter dem Aspekt des Kostendrucks auf die Industrie mit der Folge der Arbeitsplatzverluste und bemerken nicht die Provinzialisierung unserer Bildung. Nur noch 2 bis 3 Prozent der deutschen Studenten zieht es ins Ausland. Auch das ist eine Folge der Abschottung gegen das Fremde, wie sie in der Abschiebung von Fremden zum Ausdruck kommt. Weltoffenheit ist nicht teilbar zwischen Harvard-Studenten und Kosovo-Albanern.
Die äußerste Zuspitzung solch gewendeten Geistes erleben wir jetzt in der irrealen Sicherheitsphilosophie unseres Verteidigungsministers, der für 23 Mil-harden DM, das heißt die Hälfte eines Jahresmilitärbudgets, 180 Eurofighter kaufen will und der damit eklatant gegen den Geist der NATO-RußlandGrundakte verstößt.
- Darüber können wir mit etwas mehr Zeit reden. Stellen Sie eine Zwischenfrage, dann rechnet es der Herr Präsident nicht auf meine Redezeit an.
Herr Kollege Lippelt, Sie müssen zum Schluß kommen.
Ich bin gleich am Schluß. -Vornehmste Aufgabe des
Dr. Helmut Lippelt
Außenministers sollte es sein, die Probleme der Welt jenseits unserer Grenzen zu uns durchzulassen und Anwalt einer weltoffenen Gesellschaft zu werden. Europabegeisterung kann man eben nur mit Weltoffenheit erzielen und nicht über Eurokratie und wählerbezogenen Streit um das richtige Datum zur Einführung des Euros.
Vielen Dank.
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Ulrich Irmer.
Vielen Dank, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es wird niemanden verblüffen, wenn ich zunächst die Gelegenheit beim Schopf ergreife, um im Namen meiner Fraktion dem Bundesaußenminister Klaus Kinkel herzlich für seine Arbeit für unser Land, für Europa, aber auch für den Frieden in der Welt zu danken. Herr Kinkel, herzlichen Dank! Machen Sie weiter so!
Herr Zöpel, bei mir ist richtige Freude aufgekommen, als ich Ihren Worten gelauscht habe. Vor allem hat mir das gutgetan, was Sie über den weitverbreiteten Provinzialismus gesagt haben. Ich kann Ihre Worte nur aus voller Seele teilen. Das gilt auch in Richtung auf den Bundesrat, der durch einzelne seiner Mitglieder oder Vertreter der Bundesländer durch die Debatte um die Verschiebung des Euro nachdrücklich unterstrichen hat, daß das sächsische oder bayerische Hemd bei weitem näherliegt als der europäische Rock.
- Nichts gegen das bayerische Hemd. Dagegen würde ich als Bayer nie etwas zu sagen wagen.
Herr Zöpel, ein Weiteres, das Sie gesagt haben, war sehr vernünftig; denn man sollte die Außenpolitik nicht dazu benutzen, in einen Standortwettbewerb einzutreten, der die eigene Rolle gegenüber den Interessen der anderen ohne Rücksicht durchzusetzen versucht.
Das ist auch nicht die Politik, die diese Bundesregierung wie die Bundesregierungen in der Vergangenheit betrieben hat. Ich möchte die Reihe der liberalen Außenminister noch einmal nennen dürfen: Scheel, Genscher, Kinkel. Hier gibt es eine Kontinuität, die sich nicht nur an dem orientiert, was von Fall zu Fall an Entscheidungen ansteht, sondern hier gibt es eine Kontinuität von Werten und von einer wertorientierten, den Menschenrechten verpflichteten Außenpolitik.
Es ist ganz klar, daß deutsche Außenpolitik auch die deutschen Interessen vertreten muß. Es hat sich aber erwiesen, daß die Vertretung eigener Interessen nicht möglich ist, wenn die Art, in der die Interessen vertreten werden, gegen die elementaren Interessen anderer gerichtet wird. Das ist doch auch die
Logik unserer Bemühungen um die europäische Einigung, um unsere Rolle in den Vereinten Nationen.
Herr Zöpel, Sie haben recht, wenn Sie anmahnen, daß wir Weltinnenpolitik machen müssen. Aber wir sollten nicht verkennen, wo die eigentlichen Probleme liegen. Probleme entstehen doch dann, wenn zwei Völkerrechtsprinzipien unversöhnlich auf einanderprallen, wenn ein Widerspruch besteht, wenn zum Beispiel das Recht auf Selbstbestimmung in Widerstreit mit dem Recht und dem Anspruch einzelner Länder, ihre territoriale Integrität zu bewahren, gerät. Ich nenne nur Kurdistan.
Dann bekommen wir Probleme und müssen die Entscheidung darüber treffen, wie wir uns verhalten und woran wir uns orientieren wollen. In solchen Fällen ist es sehr gut, wenn man Prinzipien hat, die sich bewährt haben und an denen man sich orientieren kann.
Außenminister Kinkel wird nicht müde, immer wieder die Bedeutung der drei Säulen der Außenpolitik zu betonen. Das sind die traditionelle Außenpolitik, die Außenwirtschaftspolitik - selbstverständlich in dem Sinne, wie ich sie umschrieben habe - und die auswärtige Kulturpolitik. Hier gefällt mir der Ausdruck wesentlich besser, den Bundespräsident Herzog geprägt hat: kulturelle Außenpolitik.
Ich glaube, daß wir ihnen in Zukunft ein noch stärkeres Augenmerk als bisher widmen müssen. Ich bin den Haushältern und dem Außenminister, der schwer dafür gekämpft hat, dankbar, daß die Einschnitte in diesem Bereich nicht so bitter sein werden, wie das zu befürchten war.
Wir müssen doch sehen, daß die kulturelle Dimension unserer Beziehungen zu den anderen Ländern, zu unseren Nachbarn - genauso wie im Inneren - immer bedeutender wird und daß wir mit anderen nicht richtig umgehen können, wenn wir uns nicht darum bemühen, sie zu verstehen. Das gilt für ihre Traditionen, ihre Herkunft und für das, was sie auf Grund ihrer Wertvorstellungen für richtig halten. Dies gilt auch dann, wenn das ganz anders ist als das, was wir gewöhnt sind.
Wir müssen uns darum bemühen, das zu verstehen, genauso wie sich unsere auswärtige Kulturpolitik nicht darin erschöpfen darf, den Ländern und Völkern weit weg von uns jetzt auf Glanzpostillen darzulegen, wie toll doch Beethoven war oder wie großartig irgendwelche kulturellen Errungenschaften heute bei uns sind.
Nein, es geht darum, ein gegenseitiges Verständnis von Kulturen zu erwecken, die auf den ersten Blick nur schwer in Einklang zu bringen wären.
Das fängt natürlich - da haben Sie recht - bei uns zu Hause an. Wir können vieles wieder kaputtmachen, was wir durch auswärtige Kulturpolitik aufgebaut haben, wenn wir hier mit den bei uns lebenden
Ulrich Irmer
Ausländern nicht anständig umgehen und nicht versuchen, auch diese Menschen zu verstehen.
Insofern plädiere ich hier noch einmal an alle: Wenn wir von auswärtiger Kulturpolitik reden, müssen wir uns darüber im klaren sein, daß sie im Grunde - für jeden Bürger zu verwirklichen möglich - hier bei uns vor jeder Haustür anfängt.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Andrea Gysi, PDS.
Dich ,nicht und auch den Außenminister nicht.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon mehrfach gesagt worden, daß in den Haushaltsberatungen sicher die sozialen Probleme in diesem Land im Vordergrund stehen. Aber auch dieser kleine auswärtige Haushalt läßt die Strategie der Politik der Bundesregierung ganz gut durchscheinen.
Da gibt es eine Devise. Diese gilt international wie national in der Politik der Bundesregierung: Sparen da, wo es um die Befriedigung der existentiellen Bedürfnisse der Menschen, um die Linderung von Notlagen geht; und Ausgabensteigerung dort, wo Macht, Prestige und Einflußnahme, und zwar auch militärische, winken.
Weil ich nur fünf Minuten Redezeit habe, dazu nur ein paar Fakten. Innerhalb des auswärtigen Haushalts gibt es Kürzungen beim Fonds des Kinderhilfswerks der UN, beim Hilfsfonds des Flüchtlingskommissars der UN, beim UN-Hilfsprogramm für palästinensische Flüchtlinge und bei der besonderen deutschen Hilfe für palästinensische Flüchtlinge.
Herr Außenminister, haben Sie bei Ihrem Gespräch dem palästinensischen Außenminister auch das erzählt? Ich finde solche Kürzungen absolut indiskutabel und empfinde sie angesichts der Lage im Nahen Osten als einen Skandal, wo es wirklich von zentraler Bedeutung ist, vor allem was die Lage der palästinensischen Bevölkerung betrifft, den Standard zu heben und diesen zu sichern.
Gekürzt werden humanitäre Maßnahmen im Ausland außerhalb der Entwicklungshilfe. Demgegenüber stehen die Schätzungen des Roten Kreuzes, wonach es heute 45 Millionen Flüchtlinge gibt und diese Zahl bis zum Jahr 2005 auf 90 Millionen ansteigen wird.
Ein weiteres Beispiel. Für das Minenräumen setzt die Bundesregierung im auswärtigen Haushalt 1998 zunächst nur lächerliche 3 Millionen DM an. Es heißt,
der Minister wolle noch etwas mehr lockermachen. Ich habe für ihn auch einen ganz konkreten Vorschlag.
- Im Haushalt stehen jetzt 3 Millionen DM.
- Ich schlage Ihnen etwas anderes vor, und zwar runde 300 Millionen DM. Gehen Sie zu Ihrem Kollegen Volker Rühe, und verlangen Sie dort von ihm, das Geld für die Produktion und für die Erforschung von High-Tech-Minen in Höhe von 300 Millionen DM in seinem Haushalt freizumachen und für Minenräumung zu verwenden.
Ich finde, so wie Sie sich immer als Vorreiter in der Minenbekämpfung dargestellt haben, stimmt diese Rolle einfach nicht mit der Wahrheit überein, wenn wiederum erstens nur ein Stagnieren festzustellen ist und zweitens diesem Betrag für Minenräumung ein unglaublich viel höherer Betrag für Entwicklung und Produktion von Minen in anderen Haushalten gegenübersteht. Zynischer läßt sich eine Prioritätensetzung eigentlich kaum beschreiben.
Ich möchte da, wo die Ausgaben der Bundesregierung erhöht werden, noch einige Posten anführen. Das ist der zivile Haushalt der NATO. Das ist der Beitrag für die WEU. Das wird das Aufstocken bei der Weiterführung der Finanzierungshilfen für den Bau der Meko-Fregatten sein. Auch die Ausstattungshilfe soll erhöht werden, in der sich häufig Ausgaben mit durchaus militärischem Bezug verstecken.
Ein letztes Beispiel für die Prioritätensetzung der Bundesregierung: Der OSZE werden lediglich 600 000 DM mehr als im letzten Jahr gegeben: 8,6 Millionen DM. Das Verhältnis zu dem, was die Bundesregierung im Vergleich zur OSZE für die NATO ausgibt, beträgt 500 zu 1. Das heißt, die Parole „OSZE first" ist blanker Hohn, wenn Sie ihn aussprechen, weil in der Politik der Bundesregierung eindeutig die Parole gilt: „NATO first".
Was man in diesem Haushalt vergeblich sucht, ist ein Ansatz für Friedens- und Konfliktforschung. Kein Pfennig und keine müde Mark dafür im Haushalt des Auswärtigen Amtes! Ich finde, daß diese Prioritätensetzung Bände spricht. Ich bin der Meinung, daß nicht nur in den Haushaltsberatungen, sondern ganz grundsätzlich eine Diskussion über die Orientierung der deutschen Außenpolitik stattfinden müßte. Dazu gehört nicht nur eine Diskussion, sondern ganz klar ein Regierungswechsel, der zu einer anderen, einer völkerverständigenden, einer auf tatsächliche europäische Einheit orientierten Außenpolitik beiträgt.
Zum Schluß deshalb nur eine Anmerkung, Herr Außenminister: Nicht die Diskussion zum Thema „Verschiebung der Einführung des Euro" ist falsch und gefährlich, sondern falsch und gefährlich ist es, wenn Sie die Bevölkerung für dumm verkaufen wol-
Andrea Gysi
len, sie nicht ausreichend informieren, so wie Sie das schon beim Vertrag von Maastricht I getan haben, wenn Sie meinen, der Bevölkerung irgend etwas aufoktroyieren zu können, von dem Sie wissen, daß es nur Nachteile hat. Diese Orientierung werden wir zu durchkreuzen wissen, indem wir weiterhin dafür eintreten werden, hierzu einen Volksentscheid durchzuführen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Markus Meckel, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es läßt sich nicht leugnen, daß mancher Punkt, den Frau Gysi hier eben angesprochen hat, ein Punkt ist, den auch wir kritisieren. Deshalb muß ich Ihnen jenseits aller Volksfrontgeschichten sagen: Wir stehen hinter manchem dieser Punkte. Was meine Haltung zur PDS ist, ist wahrscheinlich allen bekannt.
Insgesamt aber stimme ich dem zu, was Herr Riedl vorhin gesagt hat, daß wir uns in den zentralen Fragen der Außenpolitik hier einig sind und daß dies gerade angesichts der zerrütteten innenpolitischen Situation in unserem Land ein wichtiger Punkt ist.
Nach den tiefen Umbrüchen in Europa, nach dem Zusammenbruch des sowjetkommunistischen Systems ist gerade dieses Jahr von besonderen und sehr zentralen und wichtigen Entscheidungen geprägt, an die ich noch einmal erinnern möchte: an die Grundakte der NATO mit Rußland, die, wie ich denke, eine ganz zentrale Voraussetzung für die Zukunft und für die Bedeutung Rußlands und seine Präsenz in Europa ist, gleichermaßen aber auch der Vertrag mit der Ukraine, die Öffnung der NATO sowie die wichtigen Entscheidungen und Vorschläge der Kommission für die Erweiterung der Europäischen Union.
Neue Strukturen der Integration und Kooperation zeichnen sich ab, durch welche das Zusammenleben in Europa ein neues Gesicht erhält. Wenn der Herr Außenminister jetzt hier gewesen wäre,
hätte ich sogar gesagt, daß er daran einen nicht unwichtigen Anteil hat. - Er ist doch da; mein Dank geht dann doch an ihn.
In der Grundakte der NATO wurde die besondere Bedeutung Rußlands für die europäische Entwicklung anerkannt. Es wird für uns jetzt wichtig sein, daß wir dies inhaltlich mit Leben füllen und nicht sagen: Dieses eine haben wir geschafft, und jetzt lassen wir sie links liegen.
Ebenfalls ist es so, daß die Ukraine geheure Erwartungen an uns hegt. Wir werden nicht alle und schon gar nicht alle gleich erfüllen können. Doch wir sollten uns bemühen, auch hier die Kontakte intensiver, als es in der Vergangenheit geschehen ist, zu halten.
Mit dieser Neugestaltung der verbindlichen Kooperation mit Rußland und der Ukraine ist nun die Integration der Staaten Ostmitteleuropas die zentrale Herausforderung europäischer Politik. Die Öffnung und Erweiterung der eigenen Strukturen sind schon deshalb schwieriger, weil die damit verbundenen Probleme nicht allein unsere Beziehungen nach außen betreffen, sondern weil wir damit selbst zur Veränderung herausgefordert sind.
Allzuleicht ist es, Versprechungen nach außen zu machen. Es wird darauf ankommen, die damit verbundenen Veränderungen innerhalb unserer eigenen Strukturen auch wirklich ernst anzugehen und durchzusetzen. Daß dies oft nicht ganz einfach ist, hat gerade die zu Ende gegangene Regierungskonferenz mit ihren recht mageren Ergebnissen im institutionellen Bereich gezeigt. Hier wird es darauf ankommen, noch in diesem Jahrzehnt zu tragfähigeren Ergebnissen zu kommen, um den Erweiterungsprozeß, den wir alle brauchen und wollen, nicht zu behindern.
Ich komme zuerst zur NATO. Der Beschluß der NATO-Öffnung kann in seiner Bedeutung kaum überschätzt werden. Damit ist der sehnlichste Wunsch der betroffenen Staaten in Erfüllung gegangen. Wenn alles gutgeht, wird die NATO an ihrem 50. Jahrestag drei neue Mitglieder haben. Wir als Deutsche sollten insofern dazu beitragen, als wir diese Verträge nach ihrem Abschluß so bald wie möglich - ich frage uns: warum nicht als erste? - ratifizieren.
Wir Sozialdemokraten hätten uns in Madrid einen größeren Wurf gewünscht und bedauern es sehr, daß Slowenien und Rumänien nicht mit eingeladen wurden.
Um so wichtiger ist der Schritt weiterer Öffnung und daß der intensive Kontakt mit den Ländern, die daran interessiert sind, weiter gepflegt und ausgebaut wird. Das gilt auch für die baltischen Staaten, deren Wille zur Integration nicht mit einer aussichtslosen Perspektive beantwortet werden darf.
Für die innere Entwicklung der betreffenden Staaten noch wichtiger als die NATO-Öffnung ist jedoch die EU-Osterweiterung, betrifft sie doch alle Bereiche der Gesellschaft und nicht nur - wie oft gedacht - der Wirtschaft. Die Kommission hat die Beitrittsanträge und den erreichten Entwicklungsstand der zehn ostmitteleuropäischen Staaten gründlich geprüft und im vergangenen Juli in der von ihr vorgelegten Agenda 2000 die Aufnahme der Verhandlungen mit Estland, Polen, Ungarn, der Tschechischen Republik und Slowenien befürwortet.
Markus Meckel
Die Kommission hat den mutigen und meines Erachtens richtigen Schritt der Differenzierung der Kandidaten unternommen und ist zu klaren Aussagen gelangt. Die SPD hat in ihrer Präsidiumserklärung diese Entscheidung ausdrücklich begrüßt.
Wir fordern die Bundesregierung auf, bei dem Europäischen Rat in Luxemburg im Dezember, bei dem endgültig über die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen entschieden wird, die Vorschläge der Kommission tatkräftig zu unterstützen.
Wichtig ist es jedoch auch, hervorzuheben, daß die Kommission nicht nur vorgeschlagen hat, mit welchen Ländern im Januar die Verhandlungen beginnen sollen, sondern daß sie auch die Länder nicht aus dem Blick verloren hat, die noch mehr Schwierigkeiten haben, den Transformationsprozeß zu bewältigen und die Anpassung an den „acquis communautaire" zu schaffen. Auch für sie soll mehr als bisher getan werden, um die Heranführungsstrategie zu verstärken. Ich halte das auch für dringend notwendig, denn gerade diese Länder, die in ihrer Entwicklung in der zweiten Reihe stehen, brauchen eine verbindliche Beitrittsperspektive. Die Verhandungen sollen beginnen, sobald im jeweiligen Land die notwendigen Voraussetzungen dafür geschaffen sind. Daß die Kommission einen nächsten Bericht für Ende 1998 ankündigt, ist dafür ein wichtiger Punkt.
Ich möchte auch darauf hinweisen, daß wir von der Europäischen Kommission gerade hinsichtlich der Perspektive der Erweiterung gegenüber Polen und der Tschechischen Republik angesichts der Katastrophe des Hochwassers, die diese Länder noch sehr viel stärker getroffen hat als Deutschland, noch mehr erwarten, als bisher getan wurde. Bisher wurden nur Mittel umgewidmet. Hier braucht es aber stärkere und substantielle Hilfe.
Sehr geehrte Damen und Herren, wir sind uns vermutlich alle darin einig, daß die Integration der ostmitteleuropäischen Staaten und die Kooperation wichtig sind für die Stabilisierung Europas. Gleichzeitig ist jedoch klar, daß die makropolitischen Strukturen nicht ausreichen, um Demokratie entwickeln zu lassen. Es braucht einen breiten gesellschaftlichen Kontakt, es braucht mikropolitische Entwicklungen, um hier gesellschaftspolitisch noch mehr zu tun., als bisher getan wurde. Die gesellschaftspolitische Dimension der Außenpolitik muß deutlich verstärkt werden.
Dies ist keine neue Erkenntnis. Auch im Haushalt des Auswärtigen Amtes ist dies deutlich zu erkennen, wobei ich an den DAAD, an manche Projekte der Kulturpolitik oder eben auch an die parteinahen Stiftungen denke. Doch - damit knüpfe ich an das an, was Frau Gysi gesagt hat - gerade in diesem Bereich wurde - wie wir finden - eklatant gekürzt.
Nehmen wir die politischen Stiftungen, und zwar allesamt, die in Ostmitteleuropa und Osteuropa eine ganz wichtige Arbeit leisten. Die Mittel für ihre Arbeit werden im neuen Haushalt um 10 Prozent reduziert. Auch die Mittel des BMZ werden gekürzt. Außerdem ist die Unsicherheit, die jedes Jahr neu eintritt, eine schwerwiegende Belastung für die Arbeit in diesen Ländern.
Herr Abgeordneter Meckel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Riedl? - Bitte schön, Herr Dr. Riedl.
Frau Präsidentin, vielen Dank! Herr Kollege, die Kürzungen, die Sie ansprachen, tun jedem weh. Gerade Sie und wir alle, die in unseren politischen Stiftungen arbeiten, wissen natürlich, welche besondere Leistung dort auf dem Gebiet der Entwicklungshilfe der Außenpolitik geleistet wird.
Sind Sie mit mir der Meinung, daß es unvertretbar wäre, wenn wir angesichts der notwendigen Kürzungen im Bundeshaushalt, angefangen beim Goethe-Institut und dem Deutschen Akademischen Austauschdienst, über die Alexander-von-HumboldtStiftung und die Auslandsstipendien bis hin zur kirchlichen und gewerkschaftlichen Arbeit, ausgerechnet unsere politischen Stiftungen ausnehmen würden? Ich glaube doch, mit Ihnen einer Meinung zu sein, daß dies ein Akt der Ungerechtigkeit wäre, den ich auch gegenüber dem Steuerzahler und den sonstigen Zuwendungsempfängern nicht gerne vertreten würde.
Verehrter Herr Riedl, Sie haben mich gründlich mißverstanden. Ich habe nicht die Meinung vertreten, daß man den Stiftungen mehr Geld geben sollte und allen anderen gesellschaftlichen Institutionen weniger, sondern ich habe gesagt und vertrete dies ausdrücklich für meine Fraktion, daß wir die gesellschaftspolitische Dirnension der Außenpolitik überhaupt verstärken sollten. Wenn es darum geht, einen Haushalt zu kürzen, sind wir der Meinung, daß es eben nicht gerechtfertigt ist, den Stiftungen oder den anderen von Ihnen aufgezählten Institutionen die Mittel zu kürzen, sondern daß es eher darum geht, diese Dimension der Außenpolitik sehr deutlich zu verstärken.
Meine Damen und Herren, ich denke, daß hier ein wichtiger Punkt berührt wird, der für unsere Außenpolitik insgesamt wichtig ist, wenn wir von gesellschaftspolitischen Fragen und von Menschenrechten reden. Es wird darum gehen, daß wir Außenpolitik nicht nur als einen Kontakt zwischen Regierungen in sicherheitspolitischen Fragen verstehen, sondern daß gerade bei Ländern, die auf dem Weg zur Demokratie oder inzwischen halbwegs gefestigte Demokratien sind, diese gesellschaftlichen Kontakte unter Jugendlichen, Wissenschaftlern und Gewerkschaftlern stärker unterstützt werden müssen.
In einer so kurzen Zeit ist es nicht möglich, alle wichtigen Themen auch nur der europäischen Politik anzusprechen. Lassen Sie mich deshalb zu Bosnien nur eines sagen: Ich halte es für dringend erforderlich, daß wir uns schon jetzt darüber Gedanken ma-
Markus Meckel
chen, wie es dort nach Ende des Mandates im nächsten Sommer weitergehen soll. Wir wissen alle, daß ein Abzug der Truppen sehr schnell zu Krieg, Mord und Totschlag führen würde. Wenn man eine zweite, für Bosnien wichtige Dimension hinzunehmen will, ist es die Rückführung der Flüchtlinge. Auch das hat wiederum handfest mit unserer Innenpolitik zu tun. Wir müssen - das ist heute schon oft angesprochen worden - diese Fragen einfach integrativer betrachten und auch integrativer miteinander angehen und dürfen uns nicht scheuen, hier auch den Amerikanern heute schon zu sagen: Bleibt da, auch wir wollen dableiben.
Meine Damen und Herren, wir befinden uns hier in der Haushaltsdebatte. Alle genannten Aktivitäten kosten Geld. Wir müssen entscheiden, ob wir dieses Geld aufbringen wollen, um der gewachsenen Bedeutung Deutschlands in Europa gerecht zu werden, wie es der Kanzler zu Recht auszudrücken pflegt. Wie gezeigt, lassen wir jedoch manche Chancen ungenutzt, wo mit wenig Geld sehr viel und mit langfristiger Wirkung zu erreichen wäre; siehe den oben angesprochenen gesellschaftlichen Bereich. Überhaupt stünde es dem deutschen Finanzminister, der gerne Außenminister werden möchte, gut an, der deutschen Außenpolitik dafür die angemessenen Mittel zur Verfügung zu stellen. Ich denke, daß schon die Kürzungen der vergangenen Jahre im personalpolitischen Bereich wirklich kontraproduktiv für die notwendige deutsche Präsenz in anderen Ländern sind.
Vom Außenminister - er hat ja vorhin schon darum geworben - erwarten wir deshalb, daß er seinen Haushalt wirklich mit Zähnen und Klauen gegen jede Kürzung verteidigt. Wir werden ihm dabei beistehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, weitere Wortmeldungen zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes liegen nicht vor.
Wir setzen die Haushaltsberatungen fort und kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung, dem Einzelplan 14. Ich erteile das Wort dem Bundesminister der Verteidigung, Volker Rühe.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Verteidigungshaushalt 1998 halten wir die Bundeswehr einsatzbereit und zukunftsfähig. Der Haushalt ist ein annehmbarer Kompromiß. Die schwierige Finanzlage erfordert von allen schmerzhafte Eingriffe. Die Bundeswehr hat sich dieser Notwendigkeit schon in den letzten Jahren nicht verschlossen. Die Streitkräfte haben einen einzigartigen Sparbeitrag geleistet.
Aber unsere Verantwortung verlangt, daß unsere Bundeswehr ihren hohen Stand bei Ausbildung und
Ausrüstung hält. Die dringend notwendige Modernisierung für Heer, Luftwaffe und Marine kann weitergehen. Dazu gehört auch das neue Jagdflugzeug für die Luftwaffe. Die Finanzierung ist im Verteidigungshaushalt abgesichert.
Die Bundesregierung wird hierzu Ende September entscheiden. Wir haben trotz angespannter Haushaltslage eine Vorhabenplanung, die dem Bedarf aller Teilstreitkräfte angemessen Rechnung trägt.
- Frau Beer, nicht aufregen! Ich habe mich gestern über die Kollegin von der SPD amüsiert, die früher immer vorgerechnet hat, wie viele Kindergärten angeblich nicht gebaut werden können. Jetzt hat sie sich Sorgen um das deutsche Heer gemacht, fast so, als ob sie, Frau Matthäus-Maier, die Heeresbeauftragte der Sozialdemokraten wäre.
Das Heer ist in guten Händen. Die Teilstreitkräfte werden ausgewogen unterstützt.
Ich hoffe, Sie machen sich keine Sorgen um- das Heer, liebe Frau Beer. Es ist in guten Händen und auch in diesem Haushalt hervorragend berücksichtigt.
Ich bin dankbar für die breite Übereinstimmung in der Regierungskoalition, aber auch darüber hinaus, hier im Parlament und in der Öffentlichkeit, daß beim Verteidigungshaushalt nicht mehr gespart werden kann und eine mäßige Konsolidierung notwendig ist,
damit die Bundeswehr ihre Aufgaben erfüllen kann.
Der Haushalt wächst mittelfristig von 46,3 Milliarden DM im Jahre 1997 bis auf 48,6 Milliarden DM im Jahre 2001.
Dadurch steigt der investive Anteil von heute 22,5 Prozent auf über 28 Prozent im Jahre 2001.
Damit kommen wir näher heran an das notwendige und gute Verhältnis von Betriebsausgaben und Investitionen von 70 : 30.
Beim Betrieb steht jetzt die Materialerhaltung vor allem beim Heer im Vordergrund. Das ist eine komplexe Herausforderung an die Logistik. Denn zur Zeit wird das gesamte logistische System grund-
Bundesminister Volker Rühe
legend umgestellt und an die neuen Bedingungen angepaßt. Zugleich laufen Versorgung und Instandsetzung für Ausbildung und Einsatz weiter. Da sind Friktionen und Engpässe unvermeidbar.
Wir müssen unsere Soldaten auf den Einsatz in Bosnien sorgfältig vorbereiten. Deshalb muß die Truppe für jedes Kontingent intensiv üben. Das Material wird daher besonders beansprucht. Im Einsatz in Bosnien wird es ungleich mehr belastet als im Frieden am Standort.
Die Probleme sind erkannt. Wir gehen sie zielgerichtet und mit Nachdruck an. Für die Materialerhaltung vor allem des Heeres haben wir beträchtliche zusätzliche Mittel im Haushalt bereitgestellt. Mein besonderes Augenmerk gilt allen Maßnahmen, mit denen die Ersatzteilversorgung Schritt für Schritt den neuen Erfordernissen angepaßt wird.
Vorrang haben, was der Einsatz verlangt, Ausbildung und Ausrüstung. Unsere Streitkräfte müssen heute nicht mehr in 48 Stunden aufmarschieren können, wie das in der Zeit des kalten Krieges der Fall war. Sie müssen nicht mehr in 48 Stunden verteidigungsbereit sein. Deshalb können wir in der Einsatzbereitschaft und auch in der Materialausstattung differenzieren. Ich bin schon erstaunt über den einen oder anderen Kollegen von den Sozialdemokraten, der ein öffentliches Geheul über die schwierige Lage des Heeres veranstaltet, in Zusammenarbeit mit dem Freundeskreis des deutschen Heeres. Zum Teil verbergen sich dahinter eher Industrieinteressen, als daß es sich um besondere Freunde des deutschen Heeres handelte.
- Der Kollege weiß schon, wen ich meine.
Deswegen kann ich Ihnen nur mit aller Deutlichkeit sagen: Wir sind in einer anderen Lage als 1989. Meine zentrale Verantwortung ist es, wo immer Soldaten zum Einsatz kommen, ihre Ausbildung und Ausrüstung optimal zu regeln. Aber nicht alle 340000 Soldaten der Bundeswehr müssen in jeder Stunde kurzfristig voll ausgebildet, voll ausgerüstet in einen Einsatz geschickt werden können.
Es hat schon etwas für sich, daß sich die Sozialdemokraten von einem Verteidigungsminister dieser Koalition sagen lassen müssen, in ihrem Kopf ein bißchen für Ordnung zu sorgen.
- Ich weiß, das tut weh, wenn man darauf hingewiesen wird, daß man umdenken muß. Die Soldaten, die in den Einsatz gehen, erhalten das Beste, was wir haben. Ihre Ausrüstung in Bosnien hält jedem Vergleich stand.
Vergleichen Sie sie einmal mit den Ausrüstungen der Streitkräfte anderer Länder!
Gegenüber dem Haushalt 1997 steigen die verfügbaren Mittel im nächsten Jahr um rund 550 Millionen DM. Das ist ein wichtiges Signal für die Bundeswehr. Allerdings bleibt der Haushaltsentwurf hinter dem sorgfältig begründeten Bedarf zurück. Deshalb sind einige Eingriffe unvermeidbar.
- Was heißt hier aha? Was meinen Sie denn, was Rot oder Rot-Grün für die Bundeswehr bedeuten würde? Das wäre im Vergleich zu diesen kleinen Eingriffen die Zerstörung der Bundeswehr. Man muß das immer wieder sagen.
- Ich wußte doch, daß es mir gelingen würde, Sie nach dieser staatsmännischen Debatte über den Etat des Auswärtigen Amtes aufzuwecken.
Ich bleibe bei unserer Linie:
Erstens. Eingriffe in die Umfangstärke und die Struktur der Bundeswehr kommen nicht in Frage.
Zweitens. Auch bei Ausbildung und Übung wird es keine haushaltsbedingten Eingriffe geben.
Drittens. Der Aufbau Ost und wichtige Infrastrukturvorhaben zur Einnahme der neuen Struktur werden ebenfalls geschont.
Einige Bemerkungen zur Lage der Bundeswehr. Ich glaube, da können wir alle übereinstimmen: Das Ansehen unserer Streitkräfte war noch nie so hoch wie heute. Die Zustimmung der Bevölkerung zur Bundeswehr ist überwältigend.
- Ach, für Frau Beer ist das erschreckend. Ich glaube, das sollte festgehalten werden. Wenn Soldaten in einer Demokratie die Unterstützung der Bevölkerung haben, dann ist das nicht erschreckend. Es ist vielmehr eine phantastische Sache, wenn die Soldaten vom Vertrauen der Bevölkerung getragen werden.
Es ist nur erschreckend für diejenigen, die eine andere politische Strategie betreiben.
Ich finde es übrigens auch interessant, daß sich Frau Beer morgen bei der angeblich so geheimen KSK-Evakuierungsübung abgemeldet hat.
Ich habe sie für die Abgeordneten aller Fraktionen geöffnet. Selbst Vertreter der PDS kommen. Das sind Berührungsängste mit der neuen erfolgreichen Bundeswehr. Wir öffnen uns dort für alle, damit sie sich angucken können, was wir machen. Wenn Sie kommen würden, würde es Ihnen etwas schwerer fallen,
Bundesminister Volker Rühe
in der Öffentlichkeit weiterhin bestimmte Dinge über den Einsatz der Soldaten zu sagen.
Mit den Leistungen, dem erfolgreichen Kampf gegen die Flut an der Oder, dem Einsatz für den Frieden in Bosnien, dem Aufbau der Armee der Einheit, findet die Bundeswehr heute große Anerkennung und Unterstützung.
An der Oder hat die Armee der Einheit die große Bewährungsprobe bestanden. Wir haben dort Soldaten aus 70 Verbänden aus allen Regionen Deutschlands im Einsatz gehabt. Insgesamt waren es über 30000 Männer und Frauen. Heute weiß jeder, daß dort mehr geschehen ist als das Verbringen von acht Millionen Sandsäcken. Hier sind Menschen sozusagen zusammengewachsen. Die Soldaten können auf das, was sie dort geleistet haben, stolz sein. Die Dankbarkeit der Bevölkerung ist ihr schönster Lohn.
Ich habe an der Oder, auch in Hohenwutzen, zu den Soldaten immer über Bosnien gesprochen, weil ich wußte, was es für eine kritische Entscheidungssituation ist. Das wird auch in den nächsten Wochen der Fall sein. Unsere Soldaten dort leisten einen großartigen Dienst für den Frieden. In diesen Tagen ist das sechste Kontingent bezüglich IFOR und SFOR in den Einsatz gegangen. Man muß sich einmal folgendes vor Augen halten, um zu sehen, daß es eine ganz andere Armee ist: Insgesamt haben jetzt über 31000 Soldaten und Soldatinnen aus der ganzen Bundeswehr, aus Hunderten von Einheiten, aus allen Bundesländern an dem Einsatz im früheren Jugoslawien mitgewirkt.
Der dritte Punkt. Wie kaum eine andere Armee unterstützt die Bundeswehr unsere Nachbarn im Osten auf ihrem Weg in das Atlantische Bündnis. Wir helfen ihnen dabei, daß die Integration in die NATO im Frühjahr 1999 reibungslos erfolgen kann. Militärische Integration ist ein Signal dafür, daß das Schicksal unserer Völker auf das engste miteinander verbunden ist. Diese Schicksalsgemeinschaft ist im Westen über Jahrzehnte gewachsen. Ähnliches soll jetzt mit Polen und den anderen neuen Mitgliedstaaten geschehen.
Sie haben die Verabredung zwischen dem dänischen, dem polnischen und dem deutschen Verteidigungsminister verfolgt, ein gemeinsames Korps zu bilden. Schon im nächsten Monat werden die ersten sechs polnischen Offiziere nach Rendsburg zu LANDJUT kommen. Dann wird es in Stettin ein gemeinsames Hauptquartier mit wechselnder Leitung zwischen diesen drei Ländern geben. Es ist phantastisch, daß wir im dänisch-polnisch-deutschen Verhältnis Vergleichbares schaffen können, wie wir das mit unseren westlichen Nachbarn, den Franzosen, den Niederländern oder auch den Dänen im Norden haben schaffen können.
Wir werden im Oktober in Greifswald zwischen der 14. deutschen Division aus Neubrandenburg, der dänischen Jütland-Division und der 12. polnischen Division aus Stettin feierlich eine Partnerschaft zur Vorbereitung des gemeinsamen Korps besiegeln - übrigens unter einem Chef, der 1993 die Führungsakademie der Bundeswehr in Blankenese absolviert hat. Dies ist eine ganz bewußte Entscheidung des polnischen Verteidigungsministers, für die ich ihm sehr dankbar bin. Es ist eine sehr gute Geste, in der Stettiner Division jemanden einzusetzen, der diese Führungsakademie absolviert hat.
In dieser Zusammenarbeit entstehen persönliche Beziehungen, die unsere Völker verbinden: Truppenbesuche, Soldatenaustausche, Seminare, Sportveranstaltungen, gemeinsame Ausbildung - im Grunde ein Jugendaustausch in Uniform. Es sind alles junge Männer. Ich glaube, das ist der beste Stabilitätsexport, den wir uns vorstellen können.
- Natürlich. Auch mit ihnen wollen wir enger zusammenarbeiten. Es gibt ja auch schon die Teilnahme von russischen Soldaten an PfP. Vor allen Dingen in Jugoslawien arbeiten sie auf das engste zusammen. Also auch hier wollen wir eine engere Zusammenarbeit.
Ich muß mich jetzt etwas kürzer fassen. Wir haben die richtigen Streitkräfte für jede Aufgabe, die dieses deutsche Parlament den deutschen Streitkräften stellen kann: für die Landes- und Bündnisverteidigung - die klassischen Aufgaben -, die neuen internationalen Einsätze und eben auch für einen so gewaltigen Katastropheneinsatz wie den an der Oder.
Ich glaube, das ist die wichtigste Aussage, die wir treffen können: Unsere Soldaten haben die richtige Ausbildung und die richtige Ausrüstung. Bei allem Gejammere, das gelegentlich aufkommt, muß man sehen: Die Hubschrauber, über die manche früher gespottet haben, haben sowohl Menschen aus Tirana gerettet als auch Sandsäcke nach Hohenwutzen verbracht. Sie haben beide Aufgaben glänzend bestanden.
Ich kenne mit Ausnahme der Amerikaner eigentlich niemanden, der ein solches technologisches „asset" hätte. Das heißt, bei allen Lücken, die es immer wieder geben mag und die man über Nacht auch nicht beseitigen kann oder muß, weil wir uns nicht in einer zugespitzten Sicherheitslage befinden, gibt es eine hervorragende technologische Ausrüstung der Bundeswehr für alle Aufgaben, die sich ihr stellen. Das gilt auch für die ausgewogene Mischung von Berufs- und Zeitsoldaten, Wehrpflichtigen und Reservisten.
Jetzt lassen Sie mich als letztes noch kurz sagen: Die Bundeswehr ist das Spiegelbild der Gesellschaft. Dies ist auch gut so. Wir bekommen so in die Streitkräfte viel Intelligenz, Jugendlichkeit und Mobilität, was wir in einer Berufsarmee nie hätten.
Aber wir erhalten natürlich auch die schwarzen Schafe und werden mit den Fehlentwicklungen der Gesellschaft konfrontiert, zum Beispiel mit jungen Menschen, die 18 Jahre in Familie und Schule ge-
Bundesminister Volker Rühe
formt wurden und nach zwei Monaten bei der Bundeswehr auffällig werden. Deswegen ist festzustellen: Jeder Soldat muß wissen, wofür er dient. Niemand sagt das so hart und klar wie wir. Er muß wissen, daß er als Soldat im Dienst und außerhalb des Dienstes für die Würde aller Menschen einzutreten hat. Die Bundeswehr kann und will Schule und Elternhaus nicht ersetzen. Die Versäumnisse können nicht in wenigen Monaten Grundausbildung aufgeholt werden.
Aber wir können auf keinen Fall Kriminelle und Gewalttäter in der Bundeswehr dulden. Auf diese Debatte freue ich mich; denn einige haben sich, so glaube ich, im Sinne einer Verabsolutierung des Datenschutzes voreilig festgelegt. Ich bin dankbar für die Unterstützung, die ich von Frau Schulte und von anderen bekommen habe.
Wehrdienst ist ein Ehrendienst. Dafür steht auch die Uniform. Wir können es nicht dulden, daß Extremisten an der Waffe ausgebildet werden und daß wir ihnen die Uniform geben.
Ich kann übrigens auch nicht akzeptieren, daß jugendliche Straftäter eine Woche nachdem sie bei der Bundeswehr sind, plötzlich zu Straftätern der Bundeswehr werden. In Wirklichkeit handelt es sich um jugendliche Straftäter, die eingezogen werden und der Bundeswehr in der nächsten Sekunde zugerechnet werden.
Ich möchte durch einen Einblick in das Zentralregister, in das Erziehungsregister, was die Reststrafen angeht, und durch Informationen der Landesbehörden wissen, ob beides zusammenkommt, nämlich Gewaltbereitschaft und politischer Radikalismus, und ob sich das in Straftaten geäußert hat. Es ist doch ein Unding, daß wir darüber nicht Bescheid wissen und diese Leute unwissend zum Wehrdienst heranziehen. Eine Woche später heißt es dann: Soldaten haben dieses und jenes gemacht.
Darum geht es. Ich glaube, man kann den Datenschutz für junge Männer in vernünftiger Weise gewährleisten und ihnen keine Jugendsünden auf ewig anhängen. Aber wenn Gewalttaten und politischer Radikalismus zusammenfallen, müssen wir darüber Bescheid wissen. Denn es bleibt immer noch eine Ehre und auch eine Verpflichtung, wenn wir ihnen Uniform und Gewehr geben. Deswegen werden wir diese Diskussion offen führen. Sie zeigt im übrigen auch: Für diese Leute ist kein Platz in der Bundeswehr; da gibt es kein Zurückweichen von unserer Seite.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Walter Kolbow, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst, Herr Rühe, haben Sie recht: Das Ansehen der Bundeswehr ist in diesem Sommer - zu Recht - gestiegen. Unsere Soldaten haben beim Katastropheneinsatz an der Oder Großartiges geleistet. Ohne ihren koordinierenden und helfenden Einsatz wäre es mit großer Wahrscheinlichkeit zu erheblich mehr Dammbrüchen und noch größeren volkswirtschaftlichen Schäden gekommen. Besonders dankbar möchte ich die Tatsache hervorheben, daß es beim gesamten Einsatz nicht zum Verlust von Menschenleben gekommen ist.
Dagegen mußten wir gestern leider mit tiefem Bedauern zur Kenntnis nehmen, daß es in Bosnien einen weiteren Verkehrsunfall mit Todesfolge gegeben hat und dabei ein Stabsunteroffizier aus dem Gebirgsbataillon 232 in Bischofswiesen, Bayern, getötet und zwei Soldaten verletzt worden sind. Den Angehörigen gilt unser Mitgefühl, und den verletzten Soldaten wünschen wir baldige Genesung.
Frau Kollegin Beer, beim Katastrophenschutz an der Oder hat die Bundeswehr in der Tat mit ihrer herausragenden Leistung ihren Platz und ihre Rolle in der Gesellschaft und im Verfassungssystem gefestigt. Noch vorhandene Skepsis in den neuen Bundesländern ist breiter Zustimmung gewichen. Durch diese helfende Leistung sind die Streitkräfte ein noch selbstverständlicherer und akzeptierterer Teil unseres Volkes geworden, als sie es schon waren. Deswegen möchte ich dies im Namen der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion ausdrücklich hervorheben, begrüßen und mich bei allen Soldaten herzlich bedanken. So etwas Törichtes wie Ihre Bemerkung hierzu, daß dies erschreckend sei, habe ich schon lange nicht mehr gehört -
um mich Ihnen gegenüber als Kollege höflich zu äußern; mir läge auch etwas anderes auf der Zunge.
Ich glaube, daß von diesen Sonnenstrahlen, die auf die Bundeswehr gefallen sind, zu Recht auch der Verteidigungsminister einige abbekommen hat. Das ist auch deswegen bemerkenswert, weil Ihre Koalitionskollegen in der Regierung trotz des schönen Sommerwetters, zumindest im August, im übertragenen Sinne eher im Regen standen, den Sie auch noch selbst - bayrisch - herbeigeredet haben. Zehren Sie also, lieber Kollege Rühe, von den Strahlen, die durch die gute Leistung Ihrer Soldaten auch Sie getroffen haben. Denn was ich zu anderen Bereichen anzumerken habe, ist leider nicht nur glänzend und anerkennend.
Die Probleme des Rechtsradikalismus in der Bundeswehr haben, wie wir in den letzten Tagen erfuhren, nun doch einen zahlenmäßig größeren Umfang angenommen, als es uns bisher glaubhaft gemacht wurde. Wir begrüßen es daher, daß der Generalinspekteur die Kommandeure gegenüber den Erschei-
Walter Kolbow
nungsformen des Rechtsradikalismus hat sensibilisieren können. Es ist richtig und erforderlich, um Schaden von der Bundeswehr abzuwenden, wenn nun jeder Fall der insgesamt 110 Fälle aufgegriffen und gemeldet wird. Gleichwohl meine auch ich, daß es die Sachlage verbietet, von einem rechtsradikalen Trend in der Bundeswehr zu sprechen,
weil - so meine Information jedenfalls - 94 Prozent der gemeldeten Täter Wehrpflichtige und 93 Prozent der Fälle sogenannte Propagandafälle sind. Der Kampf gegen rechtsextremistische Verhetzung und Ausländerfeindlichkeit muß daher auch - ich stimme Ihnen zu, Herr Minister - in der Familie, in der Schule, im Ausbildungsbetrieb und im Vereinsleben zivilcouragiert geführt werden, aber eben auch in der Bundeswehr.
Die erhebliche Zahl der nun gemeldeten Fälle beweist, daß die im Verteidigungsausschuß einhellig erhobene Forderung der Verteidigungspolitikerinnen und Verteidigungspolitiker richtig war, mit der Vernachlässigung der staatsbürgerlichen Bildung der Soldaten Schluß zu machen und auch in der Bundeswehr konsequent gegen den in Teilen der jungen Generation vorhandenen Rassismus vorzugehen und die Erziehungsmöglichkeiten der Bundeswehr auch zu nutzen.
Dem Generalinspekteur danken wir für seine Initiative zur stärkeren Nutzung der politischen Bildung in den Streitkräften. Er liegt richtig, wenn er Kommandeure und Chefs anweist, die vielfältigen Möglichkeiten des staatsbürgerlichen Unterrichts zu nutzen, um den Soldaten die verheerenden Folgen von Ausländerfeindlichkeit und Rassismus vor Augen zu führen. Wir hätten diese klaren Worte und auch die deutliche Information, wie viele Fälle dies nun sind, auch von Ihnen, Herr Rühe, erwartet. Schlechte Botschaften überbringen bei Ihnen immer andere; das ist ja auch nicht so medienwirksam.
Dem, was Sie dazu gesagt haben - wie wir vorbereitend, präventiv tätig werden -, wollen wir Ihnen gerne rechtstaatlich folgen. Aber Sie konnten leider auf meine schriftliche Anfrage an die Bundesregierung, wie Sie das denn tun wollen unter Beachtung rechtstaatlicher Kriterien des Datenschutzes, aber auch des Jugendschutzes, keinerlei Auskünfte geben. Sie sagen, Sie prüften noch. Sagen Sie uns bitte aus Sicht der Bundesregierung, auch im Rechtsausschuß, auch im Innenausschuß und natürlich im Verteidigungsausschuß, wie wir dies machen wollen. Sie erhalten dann unsere Unterstützung.
Ich komme nun zum heutigen Hauptthema, der finanziellen Lage der Bundeswehr. Hier hat, wie immer in diesem Zusammenhang, der Bundesminister der Verteidigung Zweckoptimismus verbreitet und einen Haushaltskompromiß zu seinen Lasten mit seinen markigen Worten, die ihm so eigen sind, kaschiert.
Denn die finanzpolitische Lage, in die die Bundesregierung die Bundeswehr mit dem 1998er Haushalt bringt, läßt leider befürchten, daß sich die dunklen Wolken, die durch die Politik dieser Regierung schon bisher über die Bundeswehr geschoben worden sind, weiter verfinstern. Die düstere Lage der Streitkräfte läßt sich eben nicht schönreden und auch nicht auf Foren und in sonstigen Reden im Lande kaschieren und - wie im Forum der „Welt am Sonntag" geschehen - einfach mit der Behauptung beseitigen, es gebe in der Strukturfrage - so Volker Rühe - eine völlige Übereinstimmung zwischen der politischen und militärischen Führung.
Eine gesunde Struktur kann nur erhalten werden, wenn sie bezahlbar ist. Davon beißt die Maus eben keinen Faden ab: Sie, Herr Rühe, haben für diese Struktur seit Jahren nicht genügend Mittel aufbringen können, und für die verfügbaren Mittel haben Sie keine Struktur.
In dieser Frage helfen Ihnen auch nicht die von Ihnen erlassenen Denkverbote. Wer wie Sie 53 Prozent des Etats für den Personalhaushalt der Bundeswehr ausgeben muß und eben nur 22 Prozent für Investitionen übrig hat - so die Zahlen -, der untergräbt die eigene Strukturpolitik. Die vergleichbaren Zahlen für gesunde Streitkräftestrukturen, zum Beispiel bei den Briten und den Amerikanern, aus dem Jahr 1995 sehen gänzlich anders aus. Die Briten wenden 40,9 Prozent für das Personal und 37 Prozent für Investitionen auf; die Amerikaner 39,4 Prozent für das Personal und 29,7 Prozent für Investitionen.
Selbst Ihr Parteifreund Thomas Kossendey, Herr Rühe, stellt an Hand der neuen sicherheitspolitischen Lage in Europa fest, daß eine Verkleinerung der Bundeswehr vor allem in der Teilstreitkraft Heer bezüglich der knappen Haushaltsmittel zukunftsweisend sei. Ich hoffe, er bekommt keine weiteren Schwierigkeiten. Aber wer die Wahrheit sagt wie wir, der bekommt ja auch öfter Probleme mit dem Verteidigungsminister.
Ich zitiere den Kollegen aus der SZ vom 20. Juni, der sagt:
Immer mehr soll also mit immer weniger Geld geleistet werden. Diese Rechnung geht nicht auf. Da helfen weder Denkverbote, wie der Verteidigungsminister sie gerne verkündet, noch populistische und phantasielose Schnellschüsse, wie wir sie in diesen Tagen schon von einigen F.D.P.-Kollegen hören.
Die koalitionsinternen Schnellschüsse des Herrn Kollegen Koppelin machen die Unzufriedenheit mit Ihrer Haushalts- und Strukturpolitik deutlich, wenn er fordert - ich zitiere -:
Walter Kolbow
Würde man 10 000 Wehrpflichtige weniger einberufen, könnten schon 300 Millionen DM für andere Aufgaben freigesetzt werden.
Solche Schnellschüsse lösen das Problem in der Tat nicht, sie machen aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, den Handlungsbedarf deutlich.
Deshalb treten wir für eine parteiübergreifende Wehrstrukturkommission ein, die seriös zu neuen, tragbaren Lösungen kommt, die die Wehrpflicht so lange wie möglich als die für die Bundeswehr beste Wehrform erhalten. Bereits heute liegen interessante Vorschläge hierzu vor, über die es sich parteiübergreifend zu diskutieren und einen Konsens anzustreben lohnt.
Bitte schön, Herr Kollege.
Nein, erst muß ich fragen.
Ich bitte um Nachsicht.
Ich gehe also davon aus, daß Sie eine Zwischenfrage gestatten. - Bitte schön, Herr Abgeordneter Koppelin.
Herr Kollege Kolbow, nachdem Sie mich zitiert haben - Sie haben mich richtig zitiert -, möchte ich Sie fragen, ob Sie bereit sind, zuzugeben, daß es auch in Ihrer Fraktion solche Auffassungen gibt. Ich nenne bewußt den Kollegen Opel, der hier ebenfalls die Debatte verfolgt. Sind Sie dann auch bereit, den Kollegen Opel und nicht nur mich darauf anzusprechen?
Ja, natürlich, Herr Kollege. Sie haben ja gestern schon gehört, daß auch wir eine pluralistische Partei sind.
Herr Kollege Zierer in der CSU, Sie in der F.D.P., der Kollege Opel in meiner Partei treten für die sogenannte Freiwilligenarmee unter Ruhen der Wehrpflicht ein. Ich halte das für falsch. Ich zitiere Sie nur deshalb, weil Sie ja in einer Koalition sitzen und weil Sie als Koalitionsabgeordneter natürlich auch mit Ihren Entscheidungen für Ausgaben, zum Beispiel für den Eurofighter, dem Verteidigungsminister erhebliche Sorgen machen. Diese Sorgen macht uns der Kollege Opel nicht, denn er berät uns mit seinem Sachverstand. In einer Frage folgen wir ihm halt nicht.
Ihr Denkverbot, Herr Minister, ist also kontraproduktiv. Es scheint so zu sein, daß sich selbst Mitglieder der Regierungskoalition sinnvollen Argumenten für eine neue Wehrstruktur nicht verschließen können. Hinzu kommt offener Widerspruch von seiten der Bundeswehr, die die geringe Investitionsquote öffentlich kritisiert. So ist es Ihnen selbst beim Forum der „Welt am Sonntag" gegangen, als Sie sagten, es gebe keinen Militär, den Sie kennten und der Ihnen in dieser Frage widerspreche. Prompt stand ein Oberstleutnant auf - hoffentlich wird seine Karriere dadurch nicht geknickt -, der sagte, die Bundeswehr laufe Gefahr, „ein Koloß auf tönernen technologischen Füßen zu werden", wenn es mit dem Verteidigungsetat so weitergehe. So ist die Lage.
Das bisherige Tabuisieren des Themas muß also zu Ende gehen, die offen ausgebrochene Kritik muß alle zum Umdenken anregen. Auch der Verteidigungsminister muß sein Schönreden beenden. Wenn die Bundeswehr, liebe Kolleginnen und Kollegen, als integraler Bestandteil der Gesellschaft effektiv erhalten bleiben soll, müssen intelligente Reformen zur zukunftsweisenden Modernisierung her. Die so gewonnenen Haushaltsmittel könnten dann effizienter in Ausbildung und Material investiert werden. Damit wäre auch gleichzeitig eine innovative Weiterentwicklung der Wehrpflicht möglich.
Selbst ein renommierter Experte wie Professor Dr. Huber von der Universität der Bundeswehr in München plädiert für eine Reduzierung der Bundeswehr um 15 bis 20 Prozent. Lesen Sie einmal - auch für die offene Debatte im Verteidigungsausschuß - das, was in der neuesten Ausgabe der „Zeitschrift für Wehrtechnik" steht. Er sagt:
... eine erneute Reduzierung der Bundeswehr um etwa 15 bis 20 Prozent stellt keine Gefährdung der Wehrgerechtigkeit und damit der Wehrpflicht dar.
Ich füge hinzu: Es schafft Investitionsspielräume, und die neue sicherheitspolitische Lage erlaubt dies auch.
Eine neue Wehrstruktur kann auch aufgabengerecht und bündnispolitisch verträglich sein. Die Personalkosten könnten verringert und die Investitionsanteile heraufgesetzt werden. Dadurch bekäme die Bundeswehr endlich wieder eine gesunde Struktur.
Ich sage an dieser Stelle, daß wir darüber reden wollen. Wir wollen darüber parteiübergreifend diskutieren und im Interesse der Soldatinnen und Soldaten und ihrer Familien einen Konsens erzielen. Hier ist kein Hauruckverfahren verlangt. Der Sozialverträglichkeit räumen wir einen wesentlichen Stellenwert ein, weil es hier natürlich auch um die Standorte und die Regionalverträglichkeit geht.
Dies wäre zu machen, wenn wir uns alle miteinander anstrengten und nicht abrupt, wenn man dieses Thema anspricht, von seiten des Herrn Bundesministers eine Mauer der Feindlichkeit errichtet würde. Ich fordere Sie auf: Öffnen Sie sich, Herr Rühe! Diskutieren Sie mit uns, im Interesse der Streitkräfte und einer sinnvollen Verwendung von Geld, der Modernität und Zukunftsreformen auch im Bereich der Verteidigungspolitik!
Walter Kolbow
Es bleibt natürlich nicht aus, auch auf den eurofighter einzugehen.
Das ist eine unendliche Geschichte. In den Medien wird viel über das größte Rüstungsprojekt in der Geschichte der Republik geschrieben; es gibt auch einen Kommentar in der „SZ" vom 8. September. Es wird viel gemutmaßt. Ich meine, alle Spekulationen dienen der Sache nicht, weder der Bundeswehr, die ein Luftverteidigungsflugzeug als Nachfolger für die „Phantom" braucht, noch unserer wehrtechnischen Industrie und den betroffenen Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen, die um ihre Arbeitsplätze bangen.
Diese unendliche Geschichte hat zum größten Teil die Bundesregierung insgesamt zu verantworten, insbesondere aber der Finanzminister als Herr der Haushaltslöcher und natürlich auch Sie, Herr Rühe, als Ressortverantwortlicher, als Verteidigungsminister. Durch die sprunghafte Planung, durch unsolide Haushaltspolitik und durch handwerkliche Fehler haben Sie dieses Projekt in noch schwierigere Fahrwasser gebracht, als es ohnehin schon war.
Sie kündigen seit 1995 eine Beschaffungsvorlage für dieses Flugzeug an, die wir bis heute noch nicht gesehen haben. Statt dessen sind im Entwurf des Verteidigungshaushaltes für die Beschaffung des Jagdflugzeuges 847 Millionen DM eingestellt.
Sie haben im Finanzpoker • mit Herrn Waigel um den Eurofighter verloren; das war einer der wenigen Siege, die der Finanzminister errungen hat. Das Projekt muß jetzt allein aus dem Verteidigungsetat bezahlt werden. Sie bekommen keine zusätzliche Mark vom Finanzminister, keine Anteile aus den DASA-Rückflüssen für geleistete Subventionen. Das war also ein völliger Einbruch, eine volle Verdrängung in den Verteidigungsetat.
- Bitte.
Ich muß wieder fragen: Sie gestatten die Zwischenfrage des Abgeordneten Breuer?
Gerne.
Bitte schön, Herr Breuer.
Herr Kollege Kolbow, ich nehme dankbar zur Kenntnis, daß Sie in dieser Debatte so vehement für den Eurofighter eintreten.
Wenn ich Ihren Redebeitrag richtig verfolgt habe, dann sehen Sie die Unsicherheiten lediglich bei der
Finanzierung. Für mich bleibt die Frage, ob Sie, wenn nachgewiesen werden kann, daß die Finanzierung gesichert ist, erwarten, daß die volle Zustimmung der SPD-Fraktion zum Eurofighter erfolgt.
Lieber Kollege Breuer, wenn Sie mich hätten zu Ende reden lassen, dann hätten Sie diese Frage nicht zu stellen brauchen; denn dann hätten Sie das runde Bild meiner Argumentation zur Kenntnis nehmen können. Ich lasse aber immer Fragen zu, wenn Sie sie stellen wollen. Deshalb beantworte ich diese Frage gerne.
Ich war beim Effekt der Verdrängung durch den Eurofighter im Bundeswehretat mit einem Volumen von 2 Milliarden DM pro Haushaltsjahr stehengeblieben. Dies konnte der Bundesverteidigungsminister nicht verhindern. Auch in einer Tischvorlage des Rechnungshofes vom 4. September 1997 für die Berichterstattergespräche zum Eurofighter wird dieser erhebliche Verdrängungseffekt auf andere Rüstungsprogramme festgestellt.
Ausbildung, Übung und Betrieb würden dann also in Mitleidenschaft gezogen. Auch die Materialerhaltung und die Ersatzteilversorgung würden noch schlechter, als sie ohnehin schon sind.
Hören Sie zu, Herr Kollege! Ich kann ja verstehen, daß Sie ungeduldig sind, weil das alles nicht so läuft, wie Sie es sich vorstellen. Ich weiß das ja aus den Debatten des Verteidigungsausschusses.
Nur, ich möchte gerne eine Argumentationskette entwickeln und Ihnen dann Gelegenheit geben, darüber nachzudenken.
Die SPD wird sich auf eine Beschaffungsentscheidung zum Eurofighter sorgfältig vorbereiten. Dazu aber brauchen wir eine Beschaffungsvorlage. Für das größte wehrtechnische Projekt aller Zeiten werden schon jetzt, einschließlich der Beschaffungs- und Entwicklungskosten, für das Jahr 1998 1,24 Milliarden DM veranschlagt; es soll laut Rechnungshof am Ende 30 Milliarden DM kosten. Und dann machen Sie noch nicht einmal eine Beschaffungsvorlage für das Kabinett und den Bundestag? Das ist natürlich eine Zumutung. Ohne Beschaffungsvorlage sagen wir zu diesem Flugzeug nein.
Wenn die Beschaffungsvorlage kommt, dann werden die damit verbundenen Risiken, die technischen, die finanziellen und die vertraglichen, geprüft und bewertet. Letztendlich werden wir unsere verteidigungspolitische Entscheidung davon abhängig machen, ob der Schaden für die gesamte Bundeswehr, die Streitkräfte und die Bundeswehrverwaltung,
Walter Kolbow
durch eine Beschaffung des Flugzeuges nicht größer sein wird als der Nutzen für unsere Luftverteidigung.
Herr Abgeordneter, es liegt ein weiterer Wunsch nach einer Zwischenfrage vor, diesmal vom Kollegen Kastning. - Bitte schön, Herr Kollege Kastning.
Herr Kollege Kolbow, ich möchte dem Ganzen noch etwas hinzufügen, indem ich Sie frage: Ist Ihnen aufgefallen, daß nach dem derzeitigen Stand des Regierungsentwurfs zum Verteidigungshaushalt der Auftrag für den Bau des Eurofighters überhaupt nicht vergeben werden kann? Er soll ja über Jahre laufen, im Haushalt ist aber nur Geld für das nächste Jahr eingestellt. Keine müde Mark Verpflichtungsermächtigung! Das ist doch bezeichnend, meinen Sie nicht auch?
Herr Kollege Kastning, wer könnte Ihren haushaltspolitischen Erfahrungen und Einsichten widersprechen? Ich hoffe nur, daß dies auch bei der Koalition Niederschlag findet und daß sie nicht kritiklos ihren Entscheidungsweg geht.
Ich war gerade dabei hinzuzufügen, daß es jeder und jede Abgeordnete in diesem Parlament mit sich ausmachen muß, ob wir uns angesichts der finanzpolitischen Misere, in die uns die Regierung gebracht hat, ein solches Flugzeug mit diesem Finanzvolumen für unser Land noch leisten können.
Können wir uns dieses Flugzeug noch leisten? So lautet die Frage auf. Grund der verfehlten Haushalts-, Finanz- und Wirtschaftspolitik dieser Regierung, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Ich stelle fest, daß mit dem gegenwärtigen Verteidigungsbudget die Bundeswehr in derzeitiger Struktur und in diesem Personalumfang unterfinanziert ist, daß dieser Verteidigungsetat die Schere zwischen Aufgaben, Personalumfang, Materialplanung und Geld in bezug auf das Gesamtsystem Bundeswehr noch weiter öffnet.
Man kann trefflich darüber streiten, ob die Bundeswehr überdimensioniert oder unterfinanziert ist. Deshalb noch einmal, damit niemand sagen kann, er hätte es nicht gewußt oder er könnte mit uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten keine Diskussion führen: Für die heutige Bundeswehrstruktur. haben Sie in der Koalition nicht das erforderliche Geld. Für das vorhandene Geld haben Sie keine Planung. Das muß auch dieser Verteidigungsminister endlich einsehen. Er muß seine Scheuklappen beiseite legen, damit er nicht weiter falsche politische Entscheidungen trifft.
Daß dieses Planungs- und Finanzchaos auch die Soldaten und die zivilen Mitarbeiter demotiviert und sie zur inneren Kündigung treibt, das nennen Sie, Herr Kollege Rühe, die komplexe Herausforderung insbesondere in der Logistik. Dann diffamieren Sie noch Kollegen, die sich um das Heer kümmern - den
Kollegen Augustinowitz als stellvertretenden Vorsitzenden und den Kollegen Zumkley, die sich im Heeresbereich besonders engagieren - als der Industrie nahestehend, wenn sie sich um das Heer sorgen.
- Herr Kollege Nolting bittet mich gerade auch um Ehrenschutz, den ich im übrigen gerne gebe.
Das heißt schlicht und einfach, daß Sie auch da die wirkliche Lage - Engpässe in der Materialausstatlung, bei der Ersatzteilkette, wo über 5000 Ersatzteile fehlen - beschönigen. Sie wollen die Perspektive eines Generationswechsels oder einer ausreichenden Ersatzteilversorgung nicht sichtbar machen, sondern Sie möchten es auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben. Damit lösen Sie einen riesigen Investitionsstau für die Zukunft aus, der kaum aufzulösen sein wird. Deswegen unsere Forderung, jetzt darüber nachzudenken.
Wenn man aus den Begegnungen mit der Truppe zitiert: Es sieht finster aus, sagte mir jüngst ein Kommandeur im Generalsrang. Die jüngsten Bemühungen des Heeresinspekteurs, das Heer trotzdem modern erscheinen zu lassen, gelingen nicht. Ein Truppenführer, der täglich mit den Problemen konfrontiert wird, bewertet Ihre Politik folgendermaßen: „Entweder die militärische und politische Führung weiß überhaupt nicht mehr, was in der Truppe vor sich geht, oder aber sie nimmt es mit der Wahrheit nicht so genau.." Beides wäre schlimm; ersteres ist wahrscheinlicher, freilich noch bedenklicher.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir erkennen die Arbeit des Verteidigungsministers an,
die Bundeswehr mit Augenmaß für die erweiterten Aufgaben im Zusammenhang mit den sicherheitspolitischen Herausforderungen zu öffnen und sie behutsam mit unserer Hilfe an die neuen Aufgaben heranzuführen. Dazu konnte in diesem Hause Konsens hergestellt werden; dieser Weg ist dann beschritten worden und hat jetzt auch Erfolge im ehemaligen Jugoslawien gezeitigt. Das wird akzeptiert, auch die großen Leistungen, die das SFOR-Kontingent in Bosnien erbringt.
In anderen Bereichen - das habe ich versucht darzulegen - haben Sie versäumt, Ihre Arbeit zu machen. Deshalb rufen wir Ihnen zu: Halten Sie ein, und wenden Sie sich nicht weiter gegen unsere Forderungen, eine parteiübergreifende Wehrstruktur- und Personalkommission einzusetzen, um die Folgen Ihrer gescheiterten Reformpolitik für die Streitkräfte aufarbeiten zu können, um die Zukunftsfähigkeit der Bundeswehr mit Wehrpflichtigen entwickeln und endlich die damit verbundenen notwendigen politischen Entscheidungen für die Jahre nach 2000 vorbereiten zu können.
Die SPD-Bundestagsfraktion wird Sie jedenfalls in der Debatte über Ihre Antwort auf unsere Große An-
Walter Kolbow
frage über die Lage und den Zustand der Bundeswehr damit konfrontieren. Die Kolleginnen und Kollegen der Koalition haben jetzt schon Gelegenheit, nicht nur darüber nachzudenken, sondern im Interesse unserer Streitkräfte und der Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft hoffentlich eine solche Position einzunehmen, die es erlaubt, daß wir diese Aufgabe gemeinsam angehen können. Denn sonst würden wir einen großen Fehler begehen, den allerdings Sie dann zu verantworten hätten.
Ich danke.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dietrich Austermann, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn man über Jahre hinweg Diskussionen zum Verteidigungsetat geführt hat, muß man sich manchmal wundern, wenn man heute diese Krokodilstränen des Kollegen Kolbow erlebt, so nach dem Motto: Das verkümmert ja alles, wenn wir, die Sozialdemokraten, nicht endlich dafür sorgen. Ich denke, daß in der weiteren Haushaltsberatung die SPD viele Anträge dahin gehend stellen wird, die Verteidigungsausgaben zu erhöhen. Zuvor hat man jahrelang jeweils Kürzungen beim Betrieb, bei Übungen, bei der Munition und bei allen Dingen, die man für das praktische Alltagsgeschäft braucht, gefordert. Jetzt auf einmal diese Kehrtwendung; Kolbow als Retter der Armeefinanzen. Ich glaube, Sie wissen selber, dieser Zirkelschluß ist etwas schnell. Allmählich hat man den Eindruck, manch einer entwickelt sich zum Kreisel, so schnell versucht er, seine Position zu verändern.
Was Sie, Ihre Partei und Ihre Fraktion von der Bundeswehr tatsächlich halten, wird klarer und deutlicher, wenn man sich Ihre Große Anfrage anschaut. Es sind knapp 150 Fragen, unterteilt in viele Unterfragen. Das ist sicherlich sehr fleißig, aber noch fleißiger ist die Bundesregierung bei ihren Antworten. Sie sagen Ihnen ein bißchen, wo es langgeht.
An der Diktion war es auch heute wieder erkennbar, daß man sich mit der Struktur der Bundeswehr - Sie haben ja ständig von neuer Struktur gesprochen, ohne zu sagen, was Sie damit meinen - eigentlich nicht abgefunden hat. Ich habe die Fragen und die Antworten gelesen und habe festgestellt: Man schlägt ein bißchen mehr Abrüstungsschritte vor; man will ein bißchen weiter abbauen. Man versucht, durch die neue Struktur zu kaschieren, daß man die Bundeswehr, so wie sie ist, eigentlich nicht will. Aber man sagt das nach draußen nicht so deutlich. Immerhin sind ja 340 000 Soldaten und 140 000 zivile Mitarbeiter dort beschäftigt. Auch sie sind Wähler. Also muß man vorsichtig und zurückhaltend sein.
Wenn man regierungsfähig werden will, muß man auch langsam versuchen, eine Kehrtwendung zu machen, und man muß sagen: Wir stehen voll hinter der Truppe. Wir warten mit Spannung darauf, Herr Kolbow, daß Herr Kastning und seine Freunde im Haushaltsausschuß substantielle Anträge zur Erhöhung des Verteidigungsetats stellen, um den Eurofighter möglich zu machen und um dafür zu sorgen, daß dieses Projekt endlich gestartet werden kann.
Herr Abgeordneter Austermann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kastning?
Ja.
Mal abgesehen davon, Herr Kollege Austermann, daß Sie ganz genau wissen, wie wir bei den Einzelberatungen verfahren sind, die weit seriöser waren, als Sie es hier jetzt nach draußen darzustellen versuchen, möchte ich Sie fragen: Haben Sie eigentlich mitbekommen - auch laut Aussage des Herrn Ministers -, daß der Etat der Bundeswehr unter der Regierung CDU/CSU und F.D.P. von 1989 bis 1995 um 6 Milliarden DM abgespeckt worden ist?
Haben Sie eigentlich mitbekommen, daß der Bundeswehr allein in den Jahren 1996, 1997 und folgende rund 7 Milliarden DM gegenüber der Planung 1997 entzogen werden?
Können Sie sich vorstellen, daß all die Kürzungen, die die SPD in Anträgen vor Jahren vorgeschlagen hat, nur ein geringer Teil dessen sind, was diese Regierung der Bundeswehr an Summen entzogen hat?
Herr Kollege Kastning, mein Gedächtnis ist durchaus in Ordnung.
Sie haben auf das Jahr 1990 Bezug genommen. Ich gehe gar nicht so weit zurück, nur bis zum März 1995. Da gab es hier von Ihrer Seite Änderungsanträge, die Sie so beschämt haben, daß Sie nicht zu der Debatte gekommen sind, wo es darum ging, den Bundeswehretat um 675 Millionen DM zu kürzen. Diese Änderungsanträge kamen von Ihnen.
Zum gleichen Zeitpunkt, also im Frühjahr 1995, gab es im Bundesrat einen Vorschlag, den Bundeswehretat über das hinaus, was die Regierung gemacht hat, um weitere 1,25 Milliarden DM zu kürzen. Diesen Vorschlag hat man im Laufe der Beratungen fallenlassen. Unser Gedächtnis ist durchaus in Ordnung.
Es geht auch nicht, daß man einerseits sagt, Ausbildung, Übung, Betrieb seien wichtig, andererseits aber die Einsatzbereitschaft nachher nicht unterstützen will.
Ich könnte einen langen Katalog von Zitaten - SPD und Bundeswehr, Kolbow und Bundeswehr, Opel und Bundeswehr - vortragen.
Dietrich Austermann
- Ich möchte meine Gedanken und nicht seine falschen vortragen. - Dann würde deutlich, daß Sie immer für eine kleinere Armee, eine wesentlich kleinere Armee - mit der Folge: wesentlich weniger Standorte - plädiert haben.
- Ich gebe gerne zu, Herr Kollege, daß Sie in Ihrer Partei, in Ihrer Fraktion eine Ausnahme darstellen. Ich kenne Sie aus vielen Zitaten in der Zeitung. Vorhin hat einer von der „Welt am Sonntag" gesprochen. Wo auch immer Ihre Position mit einem Zitat verbunden war, hätte ich alles unterschreiben können. Das Problem ist aber: Sie waren damit eine Rarität in Ihrer Fraktion, insbesondere auch in der Frage, aus was Verteidigung, Bundeswehr und Wehrpflicht bestehen.
Meine Damen und Herren, der Auftrag der Streitkräfte besteht nach dem politischen Umbruch der vergangenen Jahre nicht nur in der Befähigung zur Verteidigung des eigenen nationalen Territoriums - dies ist hier gesagt worden -, sondern auch in humanitären Hilfsmaßnahmen bei Katastrophen und Notlagen im Frieden und dem Beitrag zum Krisenmanagement außerhalb Europas.
Wenn man sich die Entwicklung der letzten Jahre anschaut, wird man feststellen: Auch das war nicht selbstverständlich. Wir halten es hierbei wie auch sonst immer: Wer wie die Grünen besonders lange nein gesagt hat, wird bei seinem Meinungsumschwung besonders herzlich begrüßt.
Ich gehe davon aus, daß der Verteidigungsetat mindestens mit dem Volumen, mit dem er vorgelegt worden ist, erhalten bleibt, daß wir keine weiteren Kürzungen vornehmen. Der Haushalt steigt um 0,8 Prozent. In der mittelfristigen Finanzplanung wird die Struktur weiter verbessert.
Der Verteidigungsetat - ich möchte dies noch einmal klar sagen, auch für die anwesende Bevölkerung
- beantwortet auch mit dem Etatvolumen eine langgestellte Frage: Kommt der Eurofighter oder nicht? Wir beantworten die Frage mit einem klaren Ja, und zwar aus vielen Gründen. Die Diskussion über die absehbare Rückzahlung der Airbus-Entwicklungskosten hat dieses erleichtert. Wenn die DASA gut beraten ist, macht sie bald ein Angebot, das akzeptabel ist.
Herr Kolbow, selbst die Arbeitsgruppe Luftverteidigung der SPD ist davon überzeugt, daß wir ein neues Jagdflugzeug brauchen. So weit, so gut. Das haben Sie beschlossen. Da sind Sie mit uns einer Meinung.
Wir haben inzwischen auch erhebliche Mittel für die Entwicklung eines eigenen Flugzeugs mit drei Partnern ausgegeben. Die Entwicklung ist weit gediehen, hat einen Haufen Geld gekostet. Da kann man sich doch nicht herstellen und sagen: „Ich warte auf die Vorlage", um dann konkret die Entscheidung zu treffen. Die Vorlage kann natürlich nicht in vollem
Umfang auf Beschaffung hinauslaufen, weil wir zunächst einmal über die Serienvorbereitung beschließen müssen. Herr Kollege Kastning, das sagt doch was über das Thema Verpflichtungsermächtigung.
Nein, es wäre an der Zeit gewesen, hier heute der Bevölkerung eine klare Antwort auf die Frage zu geben: Wird eine klare Mehrheit der SPD ja sagen zum Flugzeug? - Ein Teil wird sich bei der Abstimmung vielleicht herausschleichen, damit die Mehrheit gewährleistet ist. - Wird die Mehrheit der Fraktion zu diesem Projekt ja sagen?
Diese Frage haben Sie heute nicht beantwortet, unabhängig davon, ob die Beschaffungsvorlage vorliegt oder nicht. Sie gehen dann zu den DASA-Betriebsräten und klopfen Ihnen auf die Schulter, in der Hoffnung, die Koalition werde es schon richten. Aber selbst lassen Sie die klare und eindeutige Aussage vermissen.
Meine Damen und Herren, Frau Matthäus-Maier hat ja gestern im Zusammenhang mit dem Auftrag für den Eurofighter das Wort von der „bajuwarischen Selbstbedienung" gebraucht.
Herr Abgeordneter, es besteht ein weiterer Wunsch nach einer Zwischenfrage, und zwar des Abgeordneten Heistermann.
Bitte sehr.
Herr Kollege Austermann, darf ich Ihre Hinweise in Richtung SPD-Fraktion als Hilferuf verstehen, da Sie nicht sicher sein können, daß alle F.D.P.-Kollegen diesem Vorhaben zustimmen, und wollen Sie aus Angst, in der Koalition keine Stimmenmehrheit zusammenzubekommen, nun die SPD einspannen?
Ich gehe davon aus, daß diese Koalition - wie bei allen Vorhaben, die sie seit 1994 mit einer knappen Mehrheit einmütig durchgebracht hat - auch bei diesem Projekt eine klare Mehrheit finden wird.
Sie wissen es genau: Es gab einige Kommentatoren, die im Jahre 1994 sagten, die Mehrheit sei zu knapp: Wer weiß, ob sie wichtige politische Entscheidungen beschicken. Aber es gibt keinen einzigen Fall, in dem es der Opposition gelungen ist, mit einer Verwirrung von Positionen dazu beizutragen, daß die Mehrheit hätte geknackt werden können.
Auch der Abgeordnete Breuer hat den Wunsch nach einer Zwischenfrage. - Bitte schön, Herr Breuer.
Herr Kollege Austermann, können Sie bestätigen, daß das Wirrwarr innerhalb der SPD-Fraktion komplettiert wird dadurch, daß der Herr Fraktionsvorsitzende Scharping in der Öffentlichkeit ausgeführt hat, die Beschaffung eines Transportflugzeuges sei wesentlich dringlicher als die eines Jagdflugzeuges? Können Sie darüber hinaus bestätigen, daß das im krassen Gegensatz zu dem steht, was der Kollege Kolbow heute ausgeführt hat?
Selbstverständlich kann ich das bestätigen. Aber das ist das Problem dieser Partei: daß sie versuchen muß, mehrere Flügel unter einen Hut zu bringen und nach außen den Eindruck zu vermitteln, sie habe eine klar definierbare Position. Deswegen verlangt Herr Kolbow auch eine „neue Struktur" ; darunter kann sich jeder das Passende vorstellen.
- Wir können hier natürlich eine Fragestunde veranstalten, wenn die Frau Präsidentin das genehmigt.
Wir müssen langsam an den Zeitplan denken. Aber bitte schön, noch eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Schulte.
Herr Kollege Austermann, ich möchte Sie bezüglich des militärischen Nachwuchses der Offiziere fragen, welcher Sinn darin zu sehen ist, daß gemäß augenblicklicher Planung der Bundeswehr die Zahl der Leutnante in der A-9-Besoldung 4 913 beträgt, während im Haushalt 6 293 Stellen vorgesehen sind? In Wirklichkeit sind Sie schon lange dabei, die Struktur zu verändern. Viele Kolleginnen und Kollegen von Ihnen haben es nur noch nicht gemerkt. Wer den Stellenkegel beim Nachwuchs verändert, hat eine andere Struktur im Kopf. Können Sie mir das vielleicht einmal erklären?
Frau Kollegin, Sie wollen Ihre Ernsthaftigkeit als Gesprächspartnerin im Bereich der Bundeswehr doch nicht in Frage stellen, indem Sie behaupten, es gebe nur 4 000 Offiziere in der Bundeswehr.
Abgesehen davon, daß die Frage zu diesem Zeitpunkt völlig fehl am Platz ist - wir haben gerade über das Jagdflugzeug geredet, da reden Sie von der Zahl der Offiziere -, ist mir der Sinn Ihrer Fragestellung überhaupt nicht ersichtlich.
Ich möchte zu meinem roten Faden zurückkehren, um vorzutragen, was ich gerne sagen möchte.
Also: Die Kollegin Matthäus-Maier hat hier im Zusammenhang mit der beabsichtigten Beschaffung des Eurofighters von einer „bajuwarischen Selbstbedienung " gesprochen. Ich bin der letzte, der die großen Anstrengungen des Freistaates Bayern bei der Sicherung und dem Erhalt von Arbeitsplätzen sowie der Förderung neuer Technologien nicht erkennen würde. Aber wer sich mit Wehrtechnik und Beschaffung der letzten Jahre befaßt hat, wird wissen, daß Flugzeuge nicht nur südlich des Mains und Schiffe nicht nur nördlich der Weser gebaut und ausgestattet werden. Am Bau der Fregatte sind baden-württembergische und bayerische Firmen ebenso beteiligt wie die großen deutschen Werften. Der Eurofighter sichert unser Land und erhält etwa 18 000 'Arbeitsplätze in ganz Deutschland, viele auch in mittelständischen Betrieben nördlich der Elbe.
Der Zeitpunkt steht vor der Tür, wo Sie Farbe bekennen und eine Entscheidung treffen müssen. Es reicht nicht aus, sich bei den Betriebsräten anzubiedern, weil es um Arbeitsplätze geht; vielmehr müssen Sie ganz klar sagen, was Sie wollen.
- Daß Sie sich vor etwa 20 Jahren festgelegt haben, ist mir klar. Bei Ihnen warten wir auch nicht auf Einsicht. Aber ich gehe davon aus, daß der eine oder andere hier noch eine vernünftige Entscheidung mitträgt.
Sie sollten sich von den vielen überflüssigen Redebeiträgen Ihrer Kollegin Matthäus-Maier zu diesem Thema entfernen. Wenn Sie nach Vorliegen der Beschaffungsvorlage ja sagen, dann hat sie in den letzten sieben, acht Jahren ständig Unfug erzählt.
Neben dem Eurofighter sind als wichtige weitere Großvorhaben, die im kommenden Jahr mitfinanziert werden, der Unterstützungshubschrauber UHU, der jetzt in Serie anläuft und die alten, nicht mehr einsatzfähigen Hubschrauber ersetzt, und die Beschaffung des NATO-Hubschraubers und der Panzerhaubitze hervorzuheben. Die Vorhaben Gefechtübungszentrum, Fregatte 124 und U-Boot 212 werden fortgesetzt.
Die vorgeschlagenen Ausgaben für die Materialerhaltung tragen der angespannten Situation beim Heer Rechnung. Wir haben diese Mittel im letzten Jahr verstärkt, und ich bin sehr dafür, daß wir diese Praxis in diesem Jahr fortführen. Das durch Haushaltsbewirtschaftung bedingte Stop-and-Go der letzten Jahre hat zu erheblicher Verunsicherung beigetragen. Unsere Vertragspartner in der Industrie, in der Wirtschaft und bei den Werkstätten müssen auf absehbare Zeit wissen, woran sie mit der Bundeswehr sind. Es wird keine neue Hängepartie bis Ende des Jahres und darüber hinaus geben.
Wir werden im Bereich der sonstigen Betriebsausgaben Eingriffe in Aus- und Fortbildung und Übungsbetrieb vermeiden. Im investiven Bereich beruht die Reduzierung der Ausgaben für Forschung, Entwicklung und Erprobung auf dem planmäßigen Rückgang bei dem Entwicklungsaufwand für den Eurofighter. Das gehört in den Zusammenhang der Debatte um den Eurofighter: In dem Maß, in dem die Serienproduktion anläuft, werden die Mittel für die
Dietrich Austermann
Entwicklung reduziert, im kommenden Jahr um 250 Millionen DM.
Abweichend von der bisherigen Planung waren aus Haushaltsgründen gleichwohl einige Dinge als nicht so dringlich anzusehen. Sie können verschoben werden. Ich sage das klar als Abgeordneter, der aus Norddeutschland kommt: Noch in diesem Jahr wird trotz einer Verschiebung des Einsatzgruppenversorgers der Vertrag mit den Bietern, die die Ausschreibung gewonnen haben, unterschrieben.
Ich halte den vorliegenden Entwurf des Einzelplans 14 für eine gute Grundlage für die parlamentarischen Beratungen, mit dem die Zukunftsfähigkeit der Bundeswehr auch im personellen Bereich gesichert ist. Es bleibt bei 340 000 Soldaten. Wir schließen uns nicht den jahrelangen Forderungen der SPD an, eine Freiwilligenarmee von etwa 200 000 sei das Ziel der Zukunft.
Die SPD pirscht sich jetzt an die Regierungsverantwortung heran. Die Wortmeldungen zu diesem Thema machten deutlich: Die Gegner der Wehrpflicht - Herr Opel und andere - haben Sprechverbot, und man gab sich staatstragend, um deutlich zu machen, daß man es mit der Bundeswehr gut meint.
Im Rahmen des neuen Haushalts stellen wir beträchtliche Mittel zur Verbesserung der Beförderungssituation der Unteroffiziere und der Offiziere des Truppendienstes zur Verfügung. Es bleibt bei 340 000 Soldaten und 140 000 zivilen Mitarbeitern und Stellen.
Wir sagen ein klares Ja zur Wehrpflicht. Das sage ich auch an den Koalitionspartner gerichtet.
Es ist falsch, aus einem veränderten, aktuellen Bedrohungsszenarium, aus dem Augenblick heraus direkt auf die Möglichkeit zur Verkleinerung der Streitkräfte zu schließen. Genauso falsch ist die Behauptung, weniger, aber professioneller ausgebildete Freiwillige würden mehr leisten als unsere Wehrpflichtigen.
Einen direkten Vergleich mit den Erfahrungen in den Armeen anderer Länder zu ziehen, halte ich nicht für richtig. Deutschland muß auch die Erfahrungen der Vergangenheit berücksichtigen. Wir haben in den letzten 40 Jahren Loyalität im Bündnis eingefordert. Ich denke, Gleiches müssen wir jetzt gewähren. Tatsache ist, daß wir, bezogen auf die Bevölkerungszahl, eine der kleinsten Armeen Europas haben.
Was die Kosten angeht: Wer behauptet - das wäre falsch -, eine verkleinerte Freiwilligenarmee sei billiger als unsere derzeitige Mischstruktur aus Freiwilligen und Wehrpflichtigen, der muß sich die Frage gefallen lassen, ob sie die gleichen Fähigkeiten wie unsere Bundeswehr behalten würde oder welche vernachlässigt werden sollen.
Wir halten am aktiven Umfang der Bundeswehr fest, der sich an der jetzigen Größenordnung orientiert und der nur mit der allgemeinen Wehrpflicht machbar, das heißt für einen Haushaltspolitiker, auch bezahlbar ist. Die Alternative wäre - das ist das System Opel -: Armee halbieren und die Hälfte der Standorte schließen. Spätestens dann setzt Gott sei Dank auch bei den Genossen das Denken ein.
In letzter Zeit ist - auch das sollten Sie wissen - die Attraktivität des Wehrdienstes gestiegen. Die Zahl der Verweigerer geht zurück. Ich sage für mich persönlich: Für mich ist die ganze Debatte um die Frage „Wehrpflicht ja oder nein" bei dem Einsatz im Oderbruch versenkt worden.
Die Wehrpflichtarmee ist in der Politik und in der Gesellschaft fest verankert. Sie ist nicht nur Garant einer größtmöglichen gesellschaftlichen Integration, sondern sie steht auch für weitestgehende gesellschaftliche Kontrolle.
Deswegen bin ich skeptisch, ob es richtig ist, bestimmte junge Leute, die sich auf einem politischen Irrweg befinden, von vornherein auszusortieren. Das Problem, diese zu erkennen, ist nicht leicht. Nicht jeder Glatzkopf ist ein Radikaler, wie man bei jedem Bundesligaspiel erkennen kann.
Die Bundeswehr ist kein Hort für Rechtsradikale und wird es auch nicht werden. Wenn man die Zahl der rechtsextremen Vorkommnisse im Jahre 1996 betrachtet, so stellt man fest, daß es ganze 46 Meldungen und 59 Ermittlungen gab. Prozentual ist dies bei 340 000 Bundeswehrangehörigen noch nicht einmal als Stelle hinter dem Komma zu erkennen.
Voraussetzung für die Zukunftsfähigkeit der Bundeswehr bleibt, daß der Plafond des Einzelplans mittelfristig moderat steigt. Dies hat die Regierung in ihrem Finanzplan vorgesehen. Wir sind dem Finanzminister dafür dankbar; denn es darf nicht übersehen werden, daß der Verteidigungshaushalt im vergangenen Jahr überproportional zur Konsolidierung der Staatsfinanzen beigetragen hat. Weitere Einschnitte gefährden die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr. Die Gefährdung hochqualifizierter Arbeitsplätze in der wehrtechnischen Industrie Deutschlands erwähne ich nur der Vollständigkeit halber.
Ich bekunde meine volle Sympathie für die Kollegen, die sich engagiert im Förderkreis „Heer" und in anderen Einrichtungen betätigen. Diese Arbeit halte ich für sinnvoll. Wir wollen die Zusammenarbeit mit der Industrie.
Wenn man sich allein vor Augen hält, daß nach der Wiedervereinigung in Ost und West die Zahl der Menschen, die im Bereich Sicherheit gearbeitet haben, um etwa 800 000 zurückgegangen ist - in Ost und West jeweils etwa 400 000 -, dann ist es an der Zeit, daß wir deutlich machen, mit welcher Politik im Verteidigungsbereich wir Strukturen erhalten wollen und wie wir uns die Position in der Zukunft denken. Dazu brauchen wir verläßliche Partner auch in der Industrie.
Lassen Sie mich schließen. Insgesamt läßt der vorliegende Entwurf den Streitkräften den erforderlichen Raum für eine den Verhältnissen angemessene Entwicklung und Zukunftsfähigkeit. Veränderte Aufgabenstruktur unserer Armee, die vielfältigen humanitären und UN-Einsätze, eine weitge-
Dietrich Austermann
hende Übereinstimmung in letzter Zeit in der Wahrnehmung dieser Aufgaben durch unsere Soldaten und zivilen Mitarbeiter sollten dazu führen, daß wir die Beratung über den Verteidigungsetat im Haushaltsausschuß in größtmöglichem Einvernehmen vornehmen. Unsere Soldaten und die zivilen Mitarbeiter haben nichts anderes verdient.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Angelika Beer, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Damen und Herren! Die Kabinettsvorlage über den Jahreshaushalt 1998 ist nur noch als paradox zu bezeichnen.
Paradox, weil die Diskussion über Milliardenlöcher im Bundeshaushalt, zunehmende Arbeitslosigkeit und Aufkündigungen des Solidarvertrages schlichtweg nicht mit einem Verteidigungshaushalt vereinbar sind, der im Vergleich zu den anderen Titeln überproportional ansteigt und nach NATO-Kriterien runde 60 Milliarden DM verschlingen wird. Paradox, weil eine offensichtlich in allen Bereichen handlungsunfähige Regierung glaubt, im militärischen Bereich durch eine weitere Aufrüstung noch Handlungsfähigkeit vortäuschen zu können.
Herr Rühe, wie erklären Sie älteren Menschen, die in der Apotheke stehen und auf einmal 13 Mark für ein Medikament bezahlen sollen, daß die Investitionen ins Militär auf 24 Prozent angehoben werden und die militärischen Beschaffungen um 19 Prozent ansteigen? Wie verträgt sich das sympathieträchtige Bild des Oder-Einsatzes der Bundeswehr mit der Anschaffung von Waffensystemen, die eben diese Bundeswehr in die Lage versetzen, nach Bedarf weltweit militärisch zu agieren?
Da geht es nicht urn humanitäre Hilfe, wie die mit 11 Millionen DM finanzierten Werbespots versprechen, sondern um Elitekampfeinheiten. Es ist richtig - Sie haben es vorhin erwähnt -: Die Grünen weigern sich, morgen einen Showlauf für das Kommando Spezialkräfte vor den Medien unter dem Motto: „Retten und evakuieren die Elitetruppe, die Speerspitze der Krisenreaktionseinheiten", in der Öffentlichkeit zu legitimieren. Wir fordern Sie auf: Verzichten Sie auf das Kommando Spezialkräfte.
Wie rechtfertigen Sie gegenüber den Menschen, die in mehr als 63 Ländern der Welt von dem Minentod bedroht sind, die Weiterentwicklung ihrer HighTech-Minen, um diese Massenvernichtungswaffe zu perfektionieren, während der Haushaltsansatz für humanitäre Minenräumung zu einer Makulatur gerät?
Wie können Sie eigentlich die Beschleunigung der Rückkehr der Flüchtlinge nach Bosnien betreiben, während sich Ihre Bundesregierung weigert, lächerliche 20 Millionen DM zur Verfügung zu stellen, um Bosnien zu entminen?
Ihr Kollege Austermann hat in den letzten Tagen sehr viel sinnvollere Ausführungen getätigt als heute. Er betonte nämlich, daß die Nettokreditaufnahme unbedingt eingehalten werden muß und deshalb alle möglichen Einsparpotentiale ausgenutzt werden müssen. Herr Kollege Austermann, es kommt selten vor, aber in diesem Punkt stimme ich Ihnen zu.
Die Grünen wollen erstens die Einsparpotentiale im Verteidigungsbereich ausnutzen und auf Wahnsinnsprojekte wie den Eurofighter verzichten. Darüber hinaus wollen wir abrüsten. Wir sagen ganz klar: Wer abrüsten will, muß die Wehrpflicht abschaffen. Wir verweigern ferner die Zustimmung zu fahrlässigen Beschaffungsplanungen im Rüstungsbereich, die durch Verpflichtungsermächtigungen in Milliardenhöhe eine Belastung nicht nur dieses Parlaments, dieser Gesellschaft heute, sondern zukünftiger Generationen festlegen und festzurren.
Es geht nicht nur um die 850 Millionen DM für den Eurofighter als Einstiegskosten. Es geht insgesamt um zirka 40 Milliarden DM für diesen Industrievogel, der weder sicherheitspolitisch noch politisch bei uns hier zu verantworten ist.
Der Erfolg, Herr Verteidigungsminister Rühe, den Sie hier vertreten, der Anstieg der Rüstungsausgaben, in Zeiten größter Finanznot ist für die Menschen in unserer Republik ein Desaster. Sie verhindern nicht nur langfristig die Konsolidierung der Staatsfinanzen, sondern Sie führen Deutschland in eine Außenpolitik, die sich mehr auf das militärische als auf das politische Standbein konzentrieren soll.
Es bleibt eigentlich nur ein Trost: Durch Ihre Starrsinnigkeit, an einer 340 000-Mann-Armee festzuhalten, eine Zweiklassenarmee aufzubauen, weil nur noch die Krisenreaktionskräfte ausgerüstet werden und die Landesverteidigungskräfte zum Ersatzteillager verkommen, haben Sie Ihre Hausaufgabe als Verteidigungsminister nicht erfüllt. Das macht uns zuversichtlich. Es gibt keine Planungssicherung für die Bundeswehr. Ihr Konstrukt ist so rissig, wie die Deiche im Oderbruch es waren.
Wir wollen eine andere Politik. Wir wollen abrüsten. Wir wollen zivile Konfliktprävention unterstützen. Die Weigerung der Bundesregierung, selbst zivile Friedensdienste in Bosnien auch nur anschubzufinanzieren, macht deutlich, daß sie in den politischen Bereichen unterhalb der militärischen Schwelle schlichtwegblind ist.
Angelika Beer
Ich will das ernste Thema „Rechtsradikalismus in der Bundeswehr" ansprechen. Manifestieren Sie nicht grundsätzliche Fehlentscheidungen! Lenken Sie nicht vom eigentlichen Problem ab! Zu sagen: „Es sind alles nur Einzelfälle", reicht nicht aus. Was ist ein Einzelfall? Dresden, Hammelburg, Detmold - eine Indizienkette, die zeigt, daß es im Gebälk der Bundeswehr kracht und daß sich Rechtsradikalismus längst breitgemacht hat.
Die innere Führung hat versagt, Kollege.
Die Zahlen, die gestern bekanntgeworden sind, beweisen, daß über Jahre das Problem von Rechtsradikalismus in der Bundeswehr verharmlost und verschwiegen wurde.
Wir sind gegen Ihre Vorschläge, die mit dem Datenschutz nicht vereinbar sind und vom eigentlichen Problem ablenken. Die Zurückweisung, die Bundeswehr sei eine Wehrpflichtarmee und damit Spiegel der Gesellschaft, versucht, davon abzulenken, was Ihr Kollege Glos heute morgen hier noch einmal explizit ausgeführt hat: Eine Regierung, die Ausländerfeindlichkeit schürt und zum Regierungsprogramm erklärt, ist verantwortlich für eine Gesellschaft, in der Rechtsradikalismus und Neofaschismus neuen Raum bekommen.
Das Echo dessen haben Sie in der Tat in der Bundeswehr zu ertragen. Es ist eine Selbstverständlichkeit, daß Sie als Verteidigungsminister dagegen vorgehen.
Herr Verteidigungsminister, Sie haben den Strukturwandel verschlafen. Ziehen Sie jetzt wenigstens die richtigen Konsequenzen! Manifestieren Sie nicht grundsätzliche Fehlentscheidungen durch panikartige Rüstungsbeschaffungsverträge, sondern fangen Sie an, die Hardthöhe abzuwickeln! Wir sind nicht bereit, Ihre Lasten im nächsten Jahr zu übernehmen.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jürgen Koppelin, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach vielen engagierten Debatten hier im Hause ist es erfreulich, festzustellen, daß unsere Soldaten wissen, daß der Einsatz der Bundeswehr von einer großen Mehrheit des Deutschen Bundestages getragen wird.
Auch wir als F.D.P. möchten heute noch einmal unsere anerkennenden Worte zum großen Engage-
ment der Bundeswehr beim Oder-Einsatz aussprechen. Genauso würdigen wir den Beitrag der Bundeswehr beim SFOR-Einsatz, der übrigens auch zeigt, daß unsere Soldaten wissen, welch große Verantwortung sie in diesem Einsatz übernommen haben.
In diesem Zusammenhang, Frau Kollegin Beer, ist es wirklich unerträglich, das zu hören, was Sie hier gesagt haben. Es ist eine Zumutung für die große Mehrheit des Hauses - ja, ich schaue auch hier in Richtung SPD; Herr Kolbow hat vorhin auch schon zu Recht etwas dazu gesagt -, das ertragen zu müssen, was Sie uns heute hier gesagt haben.
Der vorliegende Haushaltsentwurf für den Verteidigungshaushalt 1998 mit einem Umfang von 46,7 Milliarden DM zeigt, daß es dem Bundesverteidigungsminister gelungen ist, sich mit großem Engagement für seinen Etat einzusetzen und weitere Kürzungen zu verhindern. Das wird von seiten der F.D.P. begrüßt.
In den anstehenden Haushaltsberatungen werden wir als F.D.P. uns dafür einsetzen, daß es keine Eingriffe in die Ausbildung gibt, daß es keine Eingriffe in den Übungsbetrieb gibt und daß die notwendigen Investitionen, die in diesem Haushaltsentwurf bei zirka 24 Prozent liegen, dazu genutzt werden, in der Ausstattung das finanziell Machbare zu erreichen.
Bei den Haushaltsberatungen muß sehr sorgfältig darauf geachtet werden, daß es bei der Bundeswehr nicht zu Soldaten erster und zweiter Klasse kommt. Es muß dem Eindruck entgegengewirkt werden, daß es bei der Ausstattung eine einseitige Bevorzugung der Krisenreaktionskräfte gibt und es durch diese bevorzugte Ausstattung der Krisenreaktionskräfte innerhalb unserer Bundeswehr zu einer Zwei-Klassen-Armee kommt.
Deswegen sage ich hier für die F.D.P.: Der Einsatz der Krisenreaktionskräfte ist ohne den Einsatz und den Dienst der im Inland eingesetzten Soldaten nicht denkbar.
Um die gesamte Bundeswehr modern und einsatzbereit zu halten, brauchen wir ein gesundes Verhältnis von Betriebskosten zu Investitionen. Dafür setzen wir uns ein. Es kann nicht verschwiegen werden, daß der Haushaltsentwurf für 1998 nicht alles das bietet, was wir erwartet haben, nämlich einen Investitionsanteil von 30 Prozent. Wenn wir jetzt im Haushaltsentwurf einen Investitionsanteil von 24 Prozent haben, muß es Zielsetzung der Haushaltsberatungen sein, dafür zu sorgen, daß Heer, Luftwaffe und Marine genügend Mittel erhalten, um ihre Ausbildungs- und Einsatzfähigkeit zu sichern.
Jürgen Koppelin
Herr Minister, der Zustand des Materials in vielen Bereichen wirft bei den Soldaten die Frage auf - das erfährt man bei jedem Truppenbesuch -, ob noch so ausgebildet wird, daß jederzeit der Auftrag der Bundeswehr zu erfüllen ist. Der Zustand des Materials bei der Bundeswehr kann dazu führen, daß die Motivation unserer Soldaten in wenigen Jahren erheblich schlechter sein wird.
Was sagen wir eigentlich einem Soldaten, der die ersten Wochen seiner Bundeswehrzeit den ganzen Tag Dienst im Trainingsanzug machen muß, weil die Bundeswehr nicht in der Lage ist, ihm die entsprechende Kleidung zur Verfügung zu stellen? Was sagen wir dem Soldaten, der in Kantinen essen muß, die den Charme eines Bahnhofswartesaals dritter Klasse haben? Fast überall haben wir einen ungenügenden baulichen Zustand. Wie begründen wir gegenüber den Soldaten, daß die Bundeswehr inzwischen viele Küchen hat, die nur noch mit Ausnahmegenehmigung arbeiten dürfen und erhebliche hygienische Mängel aufweisen? Wir als F.D.P. werden versuchen, auch in den Haushaltsberatungen unseren Beitrag dazu zu leisten, daß es hier Verbesserungen gibt.
An den Behauptungen des Bundesverteidigungsministeriums, daß es 1996 zum Beispiel bei der Betriebsstoffversorgung keine Probleme gegeben hat, daß es bei der Munitionsversorgung für Manöver, Übungs- und Gefechtsmunition keine gravierenden Probleme gegeben hat, sind - so meine ich - Zweifel angebracht.
In vielen Bereichen gibt es Engpässe. Diese Engpässe sind 1996 und auch 1997 nicht behoben worden. Das Ausschlachten von Fahrzeugen und Geräten - bei der Bundeswehr nennt man dies Kannibalismus - ist inzwischen zum Tagesgeschäft geworden und sollte uns alle besorgt stimmen. Die auf diese Weise gewonnenen Ersatzteile sind nicht die so dringend benötigten neuen Ersatzteile, sondern haben oft auch schon Materialermüdungen vorzuweisen.
Die vorgesehenen Ansätze für die Materialerhaltung haben sich zwar gegenüber dem Vorjahr verbessert, sie sind jedoch nach unserer Auffassung nach wie vor nicht ausreichend.
Mit dem Haushaltsplan 1998 sollen wir im investiven Bereich einige wesentliche Großvorhaben auf den Weg bringen; das ist schon erwähnt worden. Es geht einmal um die Serieneinführung des Unterstützungshubschraubers „Tiger/Uhu" . Sie kann ebenso begonnen werden wie die Beschaffung des NATO-Hubschraubers „NH 90". Die Beschaffung eines Einsatzgruppenversorgers für die Marine wird auf den Weg gebracht. Ebenso werden die Vorhaben Fregatte 124 und U-Boot 212 fortgesetzt.
Bedauerlich ist, daß die notwendigen Beschaffungsvorhaben, die wir begrüßen, nun durch eine Diskussion um die Beschaffung des Eurofighters überlagert werden. Ich meine, daß es doch unstrittig ist, daß die Bundeswehr einen Nachfolgebedarf wegen der heute bereits mangelhaften Einsatzbereitschaft des Waffensystems „Phantom" hat. Jedoch stellen wir bei der Entscheidung über den Eurofighter Fragen, die einer Beantwortung durch das Ministerium bedürfen: Warum müssen 180 Flugzeuge beschafft werden, obwohl nur sieben Staffeln mit dem Flugzeug ausgerüstet werden sollen? Das ergäbe dann eine andere Zahl. Ist es nicht so, daß man die Stückzahl 180 nur genommen hat, um den 30 prozentigen Arbeitsanteil bei der DASA zu halten, daß also keine verteidigungspolitische Entscheidung zugrunde liegt? Ist es nicht so, daß es bei der Entwicklung des Eurofighters noch immer erhebliche technische Probleme zu lösen gibt? Ich nenne hier den Gewichtsaufwuchs, die Radarleistung und auch die Flugkontrollsoftware. Ist es nicht so, daß über die Beschaffung des Flugzeuges erst dann entschieden werden kann, wenn die gesamte Flugerprobungszeit von über 4000 Flugstunden durchgeführt wurde? Zur Zeit sind erst etwas über 400 Stunden absolviert. Auch die Kosten der Bewaffnung des Eurofighters sind - so meinen wir - nach wie vor unklar. Diese Fragen können in der nächsten Zeit vom Verteidigungsministerium durchaus noch zufriedenstellend beantwortet werden. Aber Sie sollten sie beantworten, genauso wie wir als Haushälter und auch die Verteidigungspolitiker erwarten können, daß wir eine Beschaffungsvorlage bekommen, die bis heute nicht vorliegt.
Dem Haushälter stellt sich auch die Frage, warum im Haushaltsplan 1998 zwar ein Betrag für die Beschaffung des Waffensystems ausgewiesen wurde, nicht jedoch - da muß ich dem Kollegen Austermann widersprechen, wir sind da anderer Auffassung - eine Verpflichtungsermächtigung für die Jahre darauf. Was ich beim NH 90 und beim „Uhu" mache, muß ich doch auch beim Eurofighter machen. Das wäre dann notwendig, wenn man dieses Projekt will. Ich sage noch einmal: Der Bedarf an einem neuen Jagdflugzeug dürfte im Grundsatz nicht streitig sein, aber es müssen bei der Beschaffung des Flugzeuges Kosten und Technik kritisch hinterfragt werden dürfen. Ich erwarte insofern eine Beschaffungsvorlage, damit wir vernünftig über Kosten und Technik diskutieren können.
Ich will noch einen anderen Bereich ansprechen, der mir wichtig erscheint; er ist auch hier in der Debatte schon erwähnt worden. Das sind im Truppenalltag die Rahmenbedingungen für die politische Bildung bei den Streitkräften. Nicht nur die Vorgänge in Hammelburg und einzelne Vorfälle, die Sie, Frau Kollegin Beer - ich sehe sie jetzt nicht, sie ist anscheinend gleich wieder davongeeilt -, nicht auf die gesamte Bundeswehr übertragen können, sollten uns darüber nachdenken lassen, ob wir genügend für die politische Bildung in der Bundeswehr tun.
Für die politische Bildung in der Bundeswehr gibt es zur Zeit keinen gesonderten Haushaltstitel. Es wäre die Frage, ob wir in den Haushaltsberatungen einen zusätzlichen Haushaltstitel schaffen; denn politische Bildung in der Bundeswehr kann nicht nur aus dem Bezahlen von Vortragshonoraren oder von Tageszeitungsabonnements bestehen. Die Bedeutung der politischen Bildung ist unbestritten. Wenn die Haushaltsberatungen ergeben, daß es notwendig wird, noch zusätzliche Mittel zur Verfügung zu stellen, so werden wir uns als F.D.P. dafür einsetzen und
Jürgen Koppelin
stark machen. Dem staatsbürgerlichen Unterricht und der politischen Bildung in den Streitkräften muß in den nächsten Jahren eine verstärkte Bedeutung zukommen.
Ihre Redezeit ist zu Ende.
Ich komme zum Schluß, noch einen Satz. - Herr Verteidigungsminister, Sie haben in diesen Tagen angekündigt, daß es von Ihnen auf Grund der rechtsradikalen Erscheinungen, die wir erlebt haben, eine Gesetzesinitiative geben wird. Wir werden sehr kritisch prüfen, was Sie uns vorlegen. Die Bundeswehr als Personaldatensammelstelle wird nicht die Zustimmung der Freien Demokratischen Partei finden.
Unseren Soldaten sagen wir ausdrücklich unseren Dank und werden versuchen, in den Haushaltsberatungen besonders auch die Interessen der Bundeswehrangehörigen und ihrer Familien zu berücksichtigen.
Vielen Dank für Ihre Geduld.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Heinrich Graf von Einsiedel, PDS.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es wurde eben gesagt, daß es manchmal unerträglich ist, was man sich anhören muß. Besonders unerträglich und schmerzhaft ist es natürlich, wenn das Unerträgliche von einer Seite gesagt wird, die man eigentlich als die eigene betrachten müßte oder sollte. Was sich der Landesverband Hamburg der PDS geleistet hat, ist ein Skandal.
Der Landesverband Hamburg der PDS nimmt gegen den Willen des PDS-Bundesvorstandes an der Bürgerschaftswahl teil und will sich offensichtlich als eine eigene Partei innerhalb der Partei etablieren. Kein Mensch - auch nicht diese SiebendreiviertelMonats-Revoluzzer in Hamburg - hat das Recht, zu bestreiten, daß die Bundeswehr bei der Bekämpfung des Oderhochwassers einen wunderbaren Job geleistet hat
und daß die Soldaten, die dort geschuftet haben und teilweise ihr Leben riskiert haben, höchstes Lob und Anerkennung verdienen.Aber es ist doch schließlich auch eine Selbstverständlichkeit, daß diese Bundeswehr, die uns so viel gekostet hat, viele hundert Milliarden DM in den letzten Jahrzehnten, in einem solchen Notfall eingesetzt wird.
Und so bemerkenswert diese Leistung auch gewesen ist, so kann sie doch unmöglich als ein Argument dafür dienen, wie das eben Herr Austermann gesagt hat, die allgemeine Wehrpflicht beizubehalten, 340 000 Mann unter Waffen zu halten und zig Milliarden DM für ein neues militärisches Großgerät auszugeben.
Das entscheidende Problem, vor dem unsere Gesellschaft steht, ist doch nicht die militärische Sicherheit, sondern die ständig steigende Massenarbeitslosigkeit, die die soziale Sicherheit, also den Kern unserer inneren Sicherheit, unsere Gesellschaft gefährdet.
Wir sind der Überzeugung, daß diese Probleme nur dadurch gelöst werden können, daß die Politik Mittel und Wege findet, um einen Teil der gewaltigen Gewinne, die sich nicht erst unter Ihrer Regierung bei knapp 10 Prozent der Bevölkerung angehäuft haben, zu rekanalisieren, das heißt zu investieren. Sie behaupten, Sie werden dieses Ziel erreichen, indem Sie die Steuern auf diese Gewinne und die sozialen Leistungen noch weiter senken und damit Anreiz für neue Investitionen schaffen. Aber daß dieser Weg uns nur noch weiter in die Sackgasse treibt, in der wir uns schon befinden, dazu ist heute bereits genug gesagt worden.Wir sind der Meinung, daß eine wirksame Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit nur über den öffentlichen Beschäftigungssektor zu erreichen ist. Es gibt gewaltige Aufgaben in dieser Gesellschaft, die der Markt nicht löst, weil dort keine Gewinne zu erzielen sind, ob es sich nun um Schulen, Universitäten, um Kultur schlechthin handelt, um eine Reorganisation des Verkehrswesens, der Energiewirtschaft oder die riesigen Probleme des Umweltschutzes und des Gesundheitswesens. Dafür haben Sie aber kein Geld, weil Sie den Staat durch Ihre Steuersenkungen systematisch verarmen und zulassen, daß er durch das global wirksame System des Steuerdumpings noch weiter verarmt wird.
Nun ist die Bundeswehr ohne Zweifel ein bedeutender Faktor des öffentlichen Beschäftigungssektors. Nach NATO-Kriterien geben wir fast 60 Milliarden DM, weit über 10 Prozent des Haushaltes, für die Bundeswehr aus. Sie ist der einzige Posten in Ihrem Haushalt, der nicht gekürzt wird, sondern 1998 und in den folgenden Jahren noch steigen soll.Wenn diese Regierung im nächsten Jahr abtritt, wird sie der kommenden Regierung, wer das auch immer sein mag, eine schwere Erbschaft hinterlas-
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Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 188. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 10. September 1997 17045
Heinrich Graf von Einsiedelsen: langfristige Festlegungen wie eben zum Beispiel die Investitionen, die Sie für den Eurofighter 2000 planen, die sich bis in das nächste Jahrhundert auf, vorsichtig geschätzt, 80 bis 100 Milliarden DM steigern werden. Die erste Milliarde davon soll im nächsten Jahr fällig werden.Es ist mir unerklärlich, mit welchem Starrsinn Sie in dieser Zeit, wo weit und breit nicht die geringste militärische Bedrohung unseres Landes in den nächsten 15 oder 20 Jahren erkennbar ist, an der Wehrpflicht und an den gigantischen Umrüstungsplänen für die Bundeswehr festhalten, während die soziale Sicherheit aufs äußerste gefährdet ist.
Ich gebe zu, ich bin in vielem, was hier eben über Details dieser Rüstungspläne geäußert wurde, absolut überfragt und kann da nicht mitreden. Aber wenn ich einfach an die Geschichte denke, dann kann ich mir vorstellen, daß das vielleicht zur Zeit des kalten Krieges sinnvoll war. Vielleicht hätten die Demokratien in Westeuropa, als Hitler aufrüstete, solche Diskussionen führen können. Aber wir tun ja gerade so, als ob wir kurz vor einem Kriege ständen und 180 Eurofighter für diese ungeheuren Summen bräuchten.
Wir verstehen nur allzu gut, daß eine grundsätzliche Veränderung der Struktur der Bundeswehr, das heißt ein Verzicht auf die Wehrpflicht, eine langwierige und äußerst schwierige Aufgabe ist. Die Bundeswehr ist in dieser Größe eine Erblast des kalten Krieges. Aber sie ist, wie gesagt, das mit Abstand größte öffentliche Beschäftigungsprogramm. Sie nutzen gerne das Argument, wie viele Arbeitsplätze mit der Bundeswehr zusammenhängen. Deshalb begrüße ich mit Nachdruck die Initiative von 47 Kollegen aus der SPD-Fraktion, die Vorschläge unterbreiten, wie man dieses Arbeitsplatzproblem, das zum Beispiel mit dem Eurofighter zusammenhängt, auf vernünftige Art und Weise lösen kann. Ich hoffe, daß dies nicht eine Schwalbe bleibt, die den Sommer verfrüht ankündigt, sondern daß die rot-grüne Koalition, die Sie hoffentlich im nächsten Jahr ablösen wird, weitere kreative Projekte dieser Art auf den Weg bringen wird.
Graf Einsiedel, Ihre Redezeit ist längst zu Ende. Kommen Sie bitte zum Schluß.
Danke.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, weitere Wortmeldungen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung liegen nicht vor.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 e auf:
Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Bundeswasserstraßengesetzes
- Drucksache 13/7955 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 31. Oktober 1996 zur Änderung des Abkommens vom 8. April 1960 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande über niederländische Kriegsgräber in der Bundesrepublik Deutschland
- Drucksache 13/7991—
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß
Auschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gila Altmann und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Wesertunnel-Planungen beenden - Drucksache 13/7963 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuß
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck , Franziska Eichstädt-Bohlig, Andrea Fischer (Berlin), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gedenken und Erinnern durch die Kennzeichnung historisch bedeutsamer Orte im Berliner Parlaments- und Regierungsviertel
- Drucksache 13/4182 —
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß
Ältestenrat
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck , Halo Saibold, Joseph Fischer (Frankfurt), Kerstin Müller (Köln) und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeordneten Ute Vogt (Pforzheim), Freimut Duve, Monika Ganseforth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
60. Jahrestag der Bombardierung von Guernica/Gernika
- Drucksache 13/7509 —
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß Auswärtiger Ausschuß
Es handelt sich um Überweisungen ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
Vizepräsidentin Michaela Geiger
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen.
Der gemeinsame Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zum 60. Jahrestag der Bombardierung von Guernica auf Drucksache 13/ 7509 - das ist der Tagesordnungspunkt 3 e - soll zur federführenden Beratung dem Innenausschuß und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuß überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Bei den folgenden Tagesordnungspunkten handelt es sich um die Beschlußfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 41 auf:
a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 13. September 1994 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Costa Rica über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 13/7609 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
- Drucksache 13/8354 -
Berichterstattung: Abgeordneter Siegmar Mosdorf
b) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 11. August 1993 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Paraguay über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 13/7610 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
- Drucksache 13/8355 -
Berichterstattung: Abgeordneter Siegmar Mosdorf
c) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 28. Oktober 1993 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Slowenien über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 13/7611-
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
- Drucksache 13/8356 -
Berichterstattung: Abgeordneter Siegmar Mosdorf
d) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 29. September 1995 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Simbabwe über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 13/7612 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
- Drucksache 13/8357 -
Berichterstattung: Abgeordneter Siegmar Mosdorf
e) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 11. September 1995 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Südafrika über die gegenseitige Förderung und den Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 13/7613 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
- Drucksache 13/8358 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Siegmar Mosdorf
f) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 28. April 1993 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Usbekistan über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 13/7614 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
- Drucksache 13/8359-
Berichterstattung: Abgeordneter Erich G. Fritz
g) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 31. Januar 1996 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung Hongkongs zur Förderung und zum gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 13/7615 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
- Drucksache 13/8360-
Berichterstattung: Abgeordneter Erich G. Fritz
Vizepräsidentin Michaela Geiger
h) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. Dezember 1994 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Barbados über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 13/7616 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
- Drucksache 13/8361 -
Berichterstattung: Abgeordneter Erich G. Fritz
i) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 21. März 1995 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Honduras über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 13/7617 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
- Drucksache 13/8362 -
Berichterstattung: Abgeordneter Erich G. Fritz
j) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 24. Februar 1995 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Ghana über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 13/7620 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
- Drucksache 13/8363 -
Berichterstattung: Abgeordneter Erich G. Fritz
k) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 28. Februar 1994 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Moldau über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 13/7621 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
- Drucksache 13/8364 -
Berichterstattung: Abgeordneter Erich G. Fritz
1) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 3. April 1993 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sozialistischen Republik Vietnam über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 13/7622 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
- Drucksache 13/8365 -
Berichterstattung: Abgeordneter Erich G. Fritz
Der Ausschuß für Wirtschaft empfiehlt auf den Drucksachen 13/8354 bis 13/8365, die Gesetzentwürfe unverändert anzunehmen.
Wenn Sie damit einverstanden sind, lasse ich über die 12 Gesetzentwürfe gemeinsam abstimmen. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Ich bitte diejenigen, die den 12 Gesetzentwürfen zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann sind die Gesetzentwürfe mit den Stimmen von CDU/CSU, F.D.P., SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei Stimmenthaltung der PDS angenommen.
Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 4 m:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung statistischer Rechtsvorschriften
- Drucksache 13/7392 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses
- Drucksache 13/8384 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Wolfgang Bosbach Ute Vogt
Manfred Such
Dr. Max Stadler
Ulla Jelpke
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und SPD bei Stimmenthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und PDS angenommen.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist der Gesetzentwurf mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie bei der zweiten Lesung angenommen.
Vizepräsidentin Michaela Geiger
Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 4 n:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Gila Altmann (Aurich), Franziska Eichstädt-Bohlig, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Fahrrad-Fahrbereitschaft für den Deutschen Bundestag in Bonn
- Drucksachen 13/3328, 13/8078 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Adolf Roth
Ina Albowitz Rudolf Purps Antje Hermenau
Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/3328 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und SPD, wobei es bei der SPD eine Enthaltung gab, gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 4 o:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Mitteilung der Kommission zur Entwicklung des sozialen Dialogs auf Gemeinschaftsebene
- Drucksachen 13/6129 Nr. 1.29, 13/7966- Berichterstattung: Abgeordnete Leyla Onur
Der Ausschuß empfiehlt, unter Kenntnisnahme der Mitteilung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dann ist die Beschlußempfehlung bei mäßiger Beteiligung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 4 p:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 226 zu Petitionen
- Drucksache 13/8068 -
Es liegt ein Änderungsantrag der Gruppe der PDS vor. Dazu hat der Abgeordnete Gerhard Jüttemann eine schriftliche Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung abgegeben. Wer stimmt für den Änderungsantrag der PDS auf Drucksache 13/8478? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist der Änderungsantrag mit den Stimmen von CDU/CSU, F.D.P., SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei Zustimmung der Gruppe der PDS abgelehnt.
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist die Sammelübersicht 226 mit demselben Stimmenverhältnis wie vorher angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir setzen jetzt die Haushaltsberatungen fort und kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Einzelplan 23.
Ich erteile dem Bundesminister Carl-Dieter Spranger das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Haushalt 1998 steht wie seine Vorgänger in den letzten Jahren unter dem strikten Gebot des Konsolidierens und Sparens. Für die Bundesregierung bedeutet dies, daß die aus den verschiedenen Einzelplänen zu finanzierenden Ausgaben nach ihrer Bedeutung für die Zukunft unseres Landes zu gewichten sind.
Wenn vor diesem Hintergrund der Einzelplan 23 mit dem Ausgaberahmen des vergangenen Jahres erhalten bleibt, ist dies, so meine ich, ein respektables Ergebnis für die Entwicklungspolitik.
Wenn wir trotz dieser Tatsache schmerzliche Einschnitte in einigen Bereichen hinnehmen, so liegt dies im wesentlichen an dem gestiegenen Dollarkurs. Ich verstehe und teile die Sorgen all derer, die sich mehr Geld für die Entwicklungszusammenarbeit wünschen. Andererseits kann ich feststellen, daß die Mittel von über 7,6 Milliarden DM auch im nächsten Jahr unsere Handlungsfähigkeit erhalten. Deutschland bleibt ein verläßlicher Partner der Entwicklungsländer.
Wenig nützlich sind allerdings Unkenrufe der SPD noch während der Aufstellung des Haushalts, der Entwicklungsetat werde um über eine halbe Milliarde DM gekürzt, ein Herunterrechnen der Ansätze, wie es die Grünen in einer Pressemitteilung vom 29. August dieses Jahres versucht haben, oder unqualifizierte Behauptungen der Geschäftsführer von Welthungerhilfe und „terre des hommes", die die Handlungsfähigkeit der deutschen Entwicklungspolitik in Abrede stellten. Dies schadet unserer gemeinsamen Sache und untergräbt das Vertrauen, das zwischen staatlicher und nichtstaatlicher Entwicklungszusammenarbeit in letzter Zeit in sehr erfreulichem Maße gewachsen ist.
Trotz aller Besorgnis brauchen wir nach wie vor den internationalen Vergleich nicht zu scheuen. Das zeigt der Blick auf die OECD-Statistik. Drastische Einbrüche, wie sie zum Beispiel Japan, Kanada und Australien zu verzeichnen haben, konnten vermieden werden. Auch Frankreich fiel in den Zahlen für 1996 erstmals hinter uns zurück. Deutschland hält nun seine Position als weltweit drittgrößter Geber. Das ist, so glaube ich, eine erfreuliche und zu begrüßende Position. Dabei werden - das muß man immer
Bundesminister Carl-Dieter Spranger
wieder betonen - unsere Leistungen für Osteuropa mit vielen Millionen DM überhaupt nicht mitgezählt.
Partnerschaft ist keine Einbahnstraße. Partnerschaft zwischen Staaten berührt das gesamte Feld der politischen Beziehungen. Die Entwicklungszusammenarbeit ist bei vielen Ländern ein wichtiger Faktor, aber eben nur ein Faktor neben anderen. Es ist selbstverständlich, daß wir auch in unserer Entwicklungszusammenarbeit berücksichtigen, wie sich ein Staat bei der Erfüllung seiner völkerrechtlichen Verpflichtungen uns gegenüber verhält. Wir sind uns innerhalb der Bundesregierung deshalb völlig einig, daß die Weigerung von Staaten, eigene Staatsangehörige, die Deutschland verlassen müssen, aufzunehmen, alle Bereiche der auswärtigen Beziehungen berührt und Konsequenzen erfordert. Die Entwicklungszusammenarbeit allein kann diese Probleme, die letztlich ihre Ursachen im riesigen Mißbrauch eines großzügigen Asylrechts haben, nicht lösen.
Eine wichtige Aufgabe der Entwicklungspolitik ist die Bekämpfung von Fluchtursachen, aber auch die Reintegration von Flüchtlingen und abgelehnten Asylbewerbern. Dabei erwarten wir - und können wir zu Recht erwarten - die Kooperationsbereitschaft unserer Partnerländer.
Wenn dem Entwicklungsetat nur ein Bruchteil der Mittel zur Verfügung stünde, die Deutschland für Asylbewerber und Flüchtlinge jährlich aufbringt, könnten wir den Menschen in ihrer angestammten Heimat außerordentlich wirkungsvoll zusätzliche Hilfe leisten.
Nirgends wird die friedenspolitische Funktion der Entwicklungszusammenarbeit derzeit deutlicher als bei unseren östlichen Nachbarn. Von dort richten sich an Deutschland große Erwartungen. Gleichzeitig bietet der sich im Osten vollziehende Wandel für uns auch große Chancen. Der Haushalt des BMZ wird deshalb 1998 noch deutlicher als in den Vorjahren zum zentralen Finanzierungsinstrument der Bundesregierung für die Unterstützung der MOE/NUS-Staaten. Bei den Ressorts hat sich endgültig die richtige Erkenntnis durchgesetzt, daß die Instrumente der Entwicklungszusammenarbeit am besten geeignet sind, Transformation und Reformen in den ehemals sozialistischen Staaten im Osten nachdrücklich zu fördern.
Ich möchte aber auch Schwierigkeiten, die sich durch die vorgeschlagenen Haushaltsansätze ergeben, nicht verschweigen. Für unsere Planungen sind die Verpflichtungsermächtigungen von besonderer Bedeutung. Die Einschnitte in diesem Bereich erschweren eine langfristige Politik. Wir müssen auch in Zukunft in der Lage bleiben, Zusagen in dem erforderlichen Umfang zu machen. Ein gravierendes und verstärkendes Problem ist die Entwicklung des Dollarkurses. Sie führt zu zusätzlichen Ausgaben im multilateralen Bereich, die das BMZ angesichts des engen Verfügungsrahmens nicht auffangen kann.
Für diese beiden Bereiche besteht in den parlamentarischen Beratungen sicher noch Diskussionsbedarf.
Die multilateralen Ausgaben bleiben mit rund 2,5 Milliarden DM im Verhältnis zu diesem Jahr konstant. Die auch von uns angestoßenen Reformen bei vielen multilateralen Organisationen haben inzwischen deutliche Effizienzgewinne und damit einen beschleunigten Mittelabfluß zur Folge. Die vom BMZ bei UNIDO bewirkte Straffung und Verschlankung ist beispielhaft dafür, wie wir unserer Forderung nach mehr Effizienz und Einsparung auch im multilateralen Bereich zum Durchbruch verhelfen können.
Jetzt kommt es darauf an, daß der neue Generaldirektor, der traditionell von einem Entwicklungsland gestellt wird, die angefangenen Reformen beherzt fortführt. Im VN-Bereich müssen aufgeblähte Verwaltungsapparate weiter abgeschmolzen und zusammengelegt werden. Wir werden die knappen Mittel im Bereich der multilateralen technischen Zusammenarbeit auf die maßgebliche Organisation, nämlich UNDP, konzentrieren. Gleichwohl - auch das ist festzustellen - müssen auch bei diesem Titel aus Sparsamkeitsgründen Kürzungen vorgenommen werden.
Die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit bleibt mit etwa zwei Dritteln des Gesamthaushaltes unser schlagkräftigstes Instrument. Trotz des begrenzten Handlungsspielraums setzt der Haushalt hier einige deutliche Akzente. Die zahlreichen entwicklungspolitisch nützlichen Initiativen privater Träger werden mit einer kleinen, aber wichtigen Erhöhung des Titelansatzes honoriert.
In der finanziellen Zusammenarbeit wird das zukunftsweisende Instrument der Verbundfinanzierung weiter ausgebaut. Dies zeigt, daß wir auf die veränderten weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen für Entwicklung schnell und gezielt reagieren.
Das Ausmaß der privaten Kapitalströme in Entwicklungsländern stellt die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit vom Volumen her inzwischen weit in den Hintergrund. Es geht deshalb darum, mit Hilfe von Anreizen aus öffentlichen Mitteln private Finanzierungen zu stimulieren. Genau diese Mobilisierungsfunktion hat unsere Verbundfinanzierung. Ihr zweiter unbestrittener Vorteil ist der positive Nebeneffekt für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Aufträge im Rahmen der Verbundfinanzierung sichern Arbeitsplätze und Exportanteile in Deutschland.
Zum Stichwort Standort Deutschland noch eine wichtige Zahl aus dem Haushalt: Trotz äußerster Sparsamkeit gelang es uns, den Ansatz für Stipendien und Wissenschaftleraustausch auf der Basis von 1995 um fast 60 Prozent zu erhöhen. Wir ziehen hiermit die Konsequenz aus einer Reihe von Veranstaltungen im letzten Jahr, wo wir auch unter Hinzuziehung ausländischer Experten den Wissenschafts-
und Hochschulstandort Deutschland aus der Sicht der Entwicklungsländer analysiert haben, was mich dazu veranlaßt hat, mit den Kultusministern Verbindung aufzunehmen, um eine Reihe von Schwierigkeiten zu beseitigen, die offensichtlich dazu geführt
Bundesminister Carl-Dieter Spranger
haben, daß die Zahl der jungen Menschen, die zur Ausbildung nach Deutschland kommen, in den letzten Jahren immer rückläufiger geworden ist. Das ist eine Situation, mit der wir uns aus vielerlei Gründen nicht abfinden können.
Deswegen gehört diese Erhöhung auch zu dem Bestandteil unserer Anstrengungen, den Hochschulstandort Deutschland zu stärken, und erfüllt unsere Zusagen auf dem Symposium der Alexander-vonHumboldt-Stiftung im April dieses Jahres. Für unser internationales Ansehen, für die politischen und wirtschaftlichen Verbindungen zu anderen Staaten ist es ungeheuer wichtig, daß unser Land für ausländische Studenten und insbesondere auch für Studenten aus Entwicklungsländern offen bleibt.
Natürlich müssen wir dem Mißbrauch entgegenwirken. Dies darf aber nicht zu neuen Schranken für Wissenschaftler und Studenten führen, die in ehrlicher Absicht zu einer Ausbildung nach Deutschland kommen.
Meine Damen und Herren, der Regierungsentwurf für den Entwicklungshaushalt stabilisiert die Ausgaben für Entwicklungspolitik auf dem Niveau der vergangenen Jahre. Auf dieser Grundlage werden wir auch 1998 vernünftige Politik zum Wohle der Menschen in unseren Partnerländern und in unserem eigenen Interesse gestalten können.
Ich darf im vorhinein schon den Kolleginnen und Kollegen herzlich danken, die sich in den zuständigen Ausschüssen in den kommenden Tagen und Wochen mit dem Haushalt beschäftigen und mit viel Mühe, Einsatz und hoffentlich auch Wohlwollen beraten und mitgestalten.
Ich bedanke mich sehr für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Adelheid Tröscher.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, Sie, Herr Minister Spranger, heute so frisch wiederzusehen; denn Sie hätten ja leicht dem Sommerspektakel Ihres Parteifreundes Waigel zum Opfer fallen können. Das hätten wir doch sehr bedauert.
Wir brauchen den Dialog mit Ihnen, und wir gehen davon aus, daß Sie am 24. September auch noch in den Ausschuß kommen, um mit uns den Einzelplan 23 zu beraten. Haushaltsberatungen sind das ureigenste Recht des Parlaments. Deshalb bin ich mir
sicher, daß Sie rechtzeitig aus Hongkong wieder da sein werden. Die Weltbankkonferenz, auf der Sie dort sind, ist sicherlich wichtig, aber ich denke, in diesem Fall sind wir noch wichtiger.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Etat für die Entwicklungszusammenarbeit der Bundesrepublik wird 1998, wenn es nach den Haushaltsansätzen geht, nominell zwar annähernd konstant bleiben, real aber sinken. Herr Minister Spranger mag dies angesichts der teilweise stark gekürzten Haushaltsansätze der Mehrzahl der anderen Ministerien zwar als Erfolg feiern; dessenungeachtet muß sich Bundeskanzler Kohl fragen lassen, was denn aus seinem Ziel von 0,7 Prozent geworden ist, das in Rio so vollmundig angekündigt worden ist. Außer hohlen Phrasen ist nichts geblieben.
Die Nerven liegen in dieser Frage auch bei Herrn Minister Spranger blank. In einer Presseerklärung Ihres Hauses hat Ihr Pressesprecher die Äußerungen der Deutschen Welthungerhilfe und von „terre des hommes" zur deutschen Entwicklungspolitik nicht nur als irreführend und maßlos zurückgewiesen, sondern auch die darin enthaltene Zahl von 0,29 Prozent als Anteil der Entwicklungshilfe am Bruttosozialprodukt als pure Spekulation zurückgewiesen. Weiter heißt es in dieser Presseerklärung:
Tatsächlich weisen die vor kurzem für 1996 offiziell vorgelegten Zahlen eine Quote von 0,32 Prozent aus. Damit liegt Deutschland weit über dem internationalen Durchschnitt von 0,25 Prozent.
Hierzu möchte ich zweierlei bemerken: Erstens sollte man in seiner Wortwahl gegenüber zwei Organisationen, die seit Jahren vorbildliche Entwicklungsarbeit leisten, doch etwas höflicher sein. Zweitens entspricht es einfach der Realität, daß in Deutschland seit Jahren der Anteil der Entwicklungshilfe am Bruttosozialprodukt sinkt. 0,25 Prozent bedeuten nach Angaben der OECD die niedrigste Quote seit Beginn der Erfassung. Wenn Sie, Herr Minister, jetzt sagen, mit 0,32 Prozent liege man weit über dem internationalen Durchschnitt, dann ist dies Schlichtweg falsch und beschämend für die deutsche Entwicklungspolitik. Dafür tragen Sie die politische Verantwortung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es stimmt augenscheinlich etwas nicht an der Entwicklungspolitik dieser Bundesregierung. In diesem Zusammenhang fand ich es doch sehr bemerkenswert, was der Kollege Laschet auf einer Pressekonferenz anläßlich des Beschlusses des Bundesfachausschusses Entwicklungspolitik der CDU dazu gesagt hat. Herr Kollege Laschet, was ich hierzu der Presse entnehmen konnte, war, daß Sie sich für eine stärkere Ausrichtung der deutschen Politik an entwicklungspolitischen Aufgabenstellungen ausgesprochen haben, für eine Stärkung der multilateralen Zusammenarbeit plädiert haben, kritisiert haben, daß derzeit elf Ressorts in unterschiedlicher Weise entwicklungspolitisch aktiv sind und dabei einzelne Häuser, die
Adelheid Tröscher
im selben Land engagiert sind, zum Teil nicht einmal von den Aktivitäten anderer Ministerien wissen, bemängelt haben, daß eine Reihe großer UN-Konferenzen zu Fragen der internationalen Entwicklung während der vergangenen fünf Jahre von unterschiedlichen Ministerien federführend betreut worden seien, obwohl es zentral stets um Fragen der Entwicklungspolitik, also des BMZ, gegangen sei, und auch den Stellenabbau im BMZ kritisiert haben. Gleichzeitig haben Sie gefordert - das fand ich besonders bemerkenswert; ich stehe Ihnen da ganz nahe, Herr Laschet -, daß globale Strukturpolitik zur Chefsache beim Bundeskanzler erklärt werden müsse,
und betont, das vorgelegte Papier sei kein Beitrag zur neuentflammten Diskussion über eine Kabinettsumbildung. Daß Sie das noch erwähnen mußten, ist natürlich besonders pikant.
Es liegt doch an Minister Spranger selbst - ich spreche ihn hier direkt an -, die Federführung bei den großen UN-Konferenzen anzumahnen und für sich zu beanspruchen. Es liegt doch an ihm, den Stellenabbau im BMZ zu stoppen. Es liegt auch an ihm, die Auslandsarbeit besser zu koordinieren. Schließlich liegt es auch an Minister Spranger, die multilaterale Zusammenarbeit zu stärken. Aber ein Minister, der es zuläßt, daß sein Haushalt immer weiter sinkt, der sich mit Außenminister Kinkel über den Sicherheitsrat streitet, der den Austritt aus der UNIDO fordert - das ist ja jetzt Gott sei Dank korrigiert worden - und Etatkürzungen bei der UNDP zustimmt, macht keine vorbildliche Politik, sondern schadet dem internationalen Ansehen deutscher Entwicklungszusammenarbeit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der vorgelegte Haushalt führt vor dem Hintergrund hoher Rechtsverpflichtungen zu schmerzhaften Eingriffen in nahezu allen Bereichen des Einzelplans 23. Dies gilt sowohl für die Ausgabenseite als auch für die Verpflichtungsermächtigungen. Gerade bei den Verpflichtungsermächtigungen als herausragendem Gestaltungselement für eine wirkungsvolle Entwicklungszusammenarbeit wird dies für die Zukunft zu schweren Fehlentwicklungen und Belastungen führen. Die Kürzungen in diesem Bereich gehen über das hinaus, was wirklich erforderlich gewesen wäre.
Nun komme ich zu den Schwerpunkten, die wir, die SPD-Bundestagsfraktion, daher bei den Haushaltsberatungen setzen werden. Als erstes
nenne ich die verstärkte Förderung von Projekten der selbsthilfeorientierten Armutsbekämpfung.
Herr Minister Spranger, Sie haben unter anderem bei der Vorstellung des Berichts des United Nations Development Programs über die menschliche Entwicklung erklärt, daß der Schwerpunkt Armutsbekämpfung längst zum Bestandteil deutscher Entwicklungspolitik gehöre. Fakt ist aber, daß der Anteil
im Bereich der selbsthilfeorientierten Armutsbekämpfung in den letzten Jahren immer weiter gesunken ist. Wir fordern Sie daher auf, den Anteil auf mindestens 20 Prozent der finanziellen und technischen Zusammenarbeit zu steigern.
Zweitens fordern wir die Erhöhung der Mittel für die entwicklungspolitische Bildung und für private Träger der Entwicklungszusammenarbeit. Dies wäre durch Umschichtung im Haushalt zu erreichen; denn gerade die besondere Bedeutung entwicklungspolitischer Bildungsarbeit und der Nichtregierungsorganisationen ist auch von Ihnen immer wieder hervorgehoben worden. Es geht nicht an, daß die NROs von Ihnen immer wieder dann instrumentalisiert werden, wenn Sie sie brauchen; aber wenn sie Geld von Ihnen fordern, dann werden sie in den Senkel gestellt.
Drittens fordern wir die verstärkte Förderung von Kleinkreditprogrammen. Kleinkreditprogramme gewinnen insbesondere im Bereich der Förderung von Frauen in Entwicklungsländern zunehmend an Bedeutung, da sie besonders nachhaltig wirken. Herr Kollege Pinger, mir wäre es sehr wichtig, wenn wir in dieser Frage zu einer gemeinsamen Initiative finden würden.
Viertens fordern wir keine Kürzungen bei Stiftungen und Kirchen. Gerade die Entwicklungszusammenarbeitsprojekte der Kirchen und Stiftungen dienen in besonderer Weise der Förderung der Zivilgesellschaft in den Entwicklungsländern; wir dürfen das wirklich nicht unterschätzen.
Wir fordern, fünftens, keine Kürzungen bei UNDP und UNIDO. Die Armut ist zwar in den letzten 50 Jahren auf der Welt deutlich zurückgegangen, dennoch weist auch der letzte UNDP-Bericht darauf hin, daß die Zahl der Menschen, die von weniger als einem Dollar pro Tag leben müssen, auf 1,3 Milliarden gestiegen ist. Dies betrifft über ein Viertel der Bevölkerung in den Entwicklungsländern. Kürzungen bei der UNDP sind ein falsches Signal, und Sie haben hier ja doch eine erhebliche Kürzung vorgesehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zum Schluß noch auf einige grundsätzliche Punkte eingehen.
Aus sozialdemokratischer Sicht muß Entwicklungspolitik eine am Ziel der Nachhaltigkeit orientierte Querschnittsaufgabe durch Vernetzung von Entwicklungs-, Außen-, Wirtschafts-, Europa-, Land-wirtschafts- und Umweltpolitik werden. Wir wollen, daß die multilateralen Institutionen gestärkt werden. Das heißt: Die Programme und Transfers der UNO mit ihren Unter- und Sonderorganisationen, der WTO, des IWF und der Weltbank sowie der regionalen Entwicklungsbanken, müssen besser koordiniert werden. Das heißt auch, daß wir den eingeleiteten Reformprozeß unterstützen und unserem politischen Gewicht entsprechend mitgestalten und Stellung beziehen. Das wird einfach von uns erwartet.
Im Bereich der Wirtschafts- und Handelspolitik wollen wir erreichen, daß arme Entwicklungsländer im Prozeß der Globalisierung aufholen können. Entsprechende Strukturhilfe muß daher ein Schwerpunkt unserer Entwicklungszusammenarbeit sein.
Adelheid Tröscher
Entwicklungsländer brauchen einen fairen Zugang zu den Märkten.
Wir müssen stärker als bisher die Entschuldung der am stärksten verschuldeten Entwicklungsländer bei privaten und staatlichen Gläubigern wie auch bei multilateralen Organisationen vorantreiben.
Bemühungen von Entwicklungsländern um demokratische Strukturen, die Garantie von Menschen- und Minderheitenrechten und effektive Verwaltung müssen wir verstärkt unterstützen.
Wir müssen auch stärker zwischen Schwellenländern und armen Entwicklungsländern unterscheiden. Schwellenländern müssen wir öffentliche Mittel vorrangig für die ökologische Umlenkung im Produktions-, Energie- und Verkehrssektor bereitstellen. Für die armen Länder brauchen wir Mittel vorwiegend für Programme im Bereich der Armutsbekämpfung, der Bildung, der Gesundheit, des Umweltschutzes, der eigenen Ernährungssicherung, der Frauenförderung und der gesellschaftlichen Partizipation.
Bei aller Unterschiedlichkeit, die wir manchmal in der Sache haben: Bei diesen Punkten sollten wir gemeinsam handeln.
Ich danke Ihnen.
Zu einer Kurzintervention erhält der Abgeordnete Armin Laschet das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte auf das eingehen, was Frau Tröscher bezüglich des Papiers gesagt hat, dem sie fast vorbehaltlos zugestimmt hat.
Zunächst einmal: Es war kein Privatpapier, sondern ein Papier des Bundesfachausschusses unserer Partei, der sich über momentane Situationen, über die Tagesaktualität hinaus mit Fragen globaler Zukunftssicherung befaßt hat
und daraus, als Konsequenz, einige Forderungen aufgestellt hat.
Diese Ansammlung internationaler Abteilungen in verschiedenen Ministerien, ist nichts, was Sie speziell dieser Bundesregierung vorwerfen könnten. Sie wissen genau, daß das über Jahre hinweg entstanden ist, daß dieses Unwesen schon in den 70er Jahren, als Sie mit der F.D.P. regiert haben, begann: die Verlagerung von Zuständigkeiten aus einem Ministerium heraus in ein anderes.
Ich frage mich allerdings, wie Sie es fertigbringen konnten, in Ihrer Rede aus diesem Papier heraus Herrn Minister Spranger zu kritisieren. Es wundert mich, daß Sie sich das selbst dann noch trauen, wenn Herr Scharping den Saal betritt. Immerhin hat uns Herr Scharping als Kanzlerkandidat vorgeschlagen, das ganze Ministerium aufzulösen. Ich hätte zumindest in dem Moment, wo Herr Scharping hier den Saal betritt, nicht den Minister wegen dessen beschimpft, was in unserem Papier steht.
Ein letztes, Herr Scharping. Ich weiß nicht, ob Sie noch einmal Kanzlerkandidat werden.
Aber wenn ich daran denke, daß das ein Beitrag zur Entwicklungspolitik sein soll, und daran, was uns im nächsten Wahlkampf droht, nachdem Herr Schröder in unverantwortlicher Weise über Abschiebungen und über die Entwicklungshilfe als Instrumentarium gesprochen hat, dann wünsche ich mir, daß man das so differenziert, wie Minister Spranger es gemacht hat, daß man hier nicht pauschal Entwicklungshilfe einsetzt.
Ich fürchte mich schon aus entwicklungspolitischer Sicht vor diesem nächsten Bundestagswahlkampf, nachdem ich erlebt habe, was im letzten hier von Ihnen praktiziert worden ist.
Möchten Sie antworten? - Bitte.
Herr Laschet, regen Sie sich darüber doch nicht so auf! Wir waren lernfähig. In dieser Form hat Herr Scharping das auch im Wahlkampf nie gesagt.
Es ist immer wieder mißbräuchlich zitiert worden.
Die Entwicklungspolitik hat bei uns einen großen Stellenwert. Wir hatten kürzlich einen außenpolitischen Kongreß, auf dem die Entwicklungspolitik gleichberechtigte Partnerin war.
Wenn Sie monieren - wir monieren das ja auch -, daß Entwicklungspolitik in so vielen Ressorts stattfindet oder auch nicht stattfindet, auf jeden Fall nicht so stattfindet, wie wir das gerne hätten, dann muß man
Adelheid Tröscher
sagen, daß Sie natürlich 15 Jahre Zeit hatten, das zu ändern.
Es ist keine Entschuldigung, zu sagen, daß die F.D.P. und die SPD das falsch gemacht haben.
Wir denken, daß man die Organisationsentwicklung nicht immer nur anderen aufoktroyieren darf. Vielmehr muß man, wenn man wirklich Entwicklungspolitik betreiben möchte, das selbst in die Hand nehmen. Das habe ich gerade bei Minister Spranger angemahnt. Er muß es in die Hand nehmen. Er muß hier die Führung für die Entwicklungspolitik übernehmen. Das ist die Aufgabe des BMZ. Soviel dazu.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Michael von Schmude.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Haushaltsansatz 1998 für den Einzelplan 23 bewegt sich fast auf der gleichen Höhe von 1997. Offen ist allerdings noch, wie der Mittelabfluß in 1997 tatsächlich aussehen wird.
Die Fortschreitung der Mittel in einer Zeit des knappen Geldes wird natürlich nicht jeder Wunschvorstellung gerecht, aber wir liegen mit unseren Möglichkeiten und Mitteln durchaus im Rahmen dessen, was andere große Geberländer aufbringen.
Wer uns unterstellt, wir würden nur wiederwillig einer lästigen Pflichtaufgabe nachgehen, verkennt die wirtschaftliche und finanzielle Gesamtsituation. Er verkennt aber auch das elementare Interesse Deutschlands, im Kampf gegen Hunger und Elend, gegen Unterdrückung und Unfreiheit mitzuhelfen. Er verkennt insbesondere aber das, was von Tausenden auch ehrenamtlich Tätigen, was von Kirchen und Stiftungen und anderen Nichtregierungsorganisationen in der Entwicklungshilfe mit unserer finanziellen Unterstützung geleistet wird. Wir sind den vielen in diesem Bereich engagierten Menschen zu großem Dank verpflichtet. Sie können auch weiterhin auf unsere Unterstützung rechnen.
Auf Kritik gehen wir im Rahmen der Haushaltsberatungen noch ein, vielleicht nicht immer so, wie Betroffene es sich vorstellen. Bei den Stiftungen und Kirchen - das kann ich hier schon zusagen - werden wir den Ansatz noch etwas nach oben korrigieren.
Wir wissen alle, meine Damen und Herren, daß nackte Zahlen allein nichts über Effizienz und Effektivität aussagen. Angesichts der manchmal überraschenden Rückschläge in einzelnen Ländern muß
unser Augenmerk bei den Projekten mehr denn je der Nachhaltigkeit gelten.
Ich begrüße deshalb, daß der BMZ die begleitende Kontrolle und die abschließende Bewertung von Maßnahmen verstärkt hat.
Der Anteil der multilateralen Leistungen liegt bei etwa 2,5 Milliarden DM, was rund ein Drittel des Gesamtetats ausmacht. Wir sind damit noch von unserem Ziel entfernt, die 30-Prozent-Marke wieder deutlich zu unterschreiten.
In den nächsten Jahren werden unsere Zahlungen an internationale Finanzierungsinstitute, die heute noch rund 1,8 Milliarden DM ausmachen, deutlich absinken, weil dank der Darlehensrückflüsse in diesem Bereich eine immer größere Selbstfinanzierungskraft heranwächst.
Die deutsche Beteiligung an Einrichtungen der Weltbankgruppe kann daher 1998 um 103 Millionen DM auf nunmehr 918 Millionen DM zurückgenommen werden. Bei der Asiatischen Entwicklungsbank und auch bei der Afrikanischen Entwicklungsbank sind noch einmal Kapitalerhöhungen zu finanzieren, die den Haushalt zusätzlich mit 141 Millionen DM belasten.
Wir werden hier im Haushaltsausschuß einen Bericht der Bundesregierung anfordern, insbesondere bezüglich der Asiatischen Entwicklungsbank.
Das erscheint uns vor dem Hintergrund der jüngsten Währungsturbulenzen in Ostasien angezeigt.
Deutschland nimmt mit seinen Zahlungen an internationale Organisationen und Einrichtungen eine Spitzenstellung ein. Es bleibt für uns deshalb eine Daueraufgabe, zu prüfen, inwieweit wir Entlastungen erreichen können. Dies gilt insbesondere bezüglich der Beiträge an verschiedene internationale Organisationen. Im Haushalt 1998 werden bereits die UNDP-Mittel von 120 Millionen DM auf. 90 Millionen DM zurückgenommen, und für UNIDO sind es nur noch 10 Millionen DM gegenüber bisher 17,6 Millionen DM. Der. Vorschlag von Minister Spranger, aus der UNIDO auszutreten, hat meine volle Unterstützung gefunden. Die Satzung der UNIDO ist überholt; das Ziel der Industrialisierung der Entwicklungsländer steht offenbar nicht mehr allein im Mittelpunkt, da man sich ständig neue Aufgaben sucht, so daß man Überschneidungen mit anderen internationalen Organisationen herbeiführt. Ich füge auch hinzu: Das Image der UNIDO wird sich nicht unbedingt verbessern, wenn sich das Gerücht bewahrheiten sollte, daß jemand zum Generalsekretär berufen werden soll, der früher im kommunistischen Polen Professor für Planwirtschaft war.
Michael von Schmude
Obwohl die Zahlungen an internationale Organisationen künftig sinken werden, wird das deutsche Volumen für den Europäischen Entwicklungsfonds auf Grund der vertraglichen Vereinbarungen weiter anwachsen und in der Spitze zu einer Zahllast von 1,2 Milliarden DM jährlich führen. Hier rächt sich, daß nur Zuschüsse gewährt werden und somit keine Darlehensrückflüsse zur Refinanzierung zur Verfügung stehen. In den Haushalten 1996 und 1997 hatten wir für den EEF jeweils 850 Millionen DM eingeplant, ausgegeben wurde 1996 nur ein Betrag von 472 Millionen DM, und auch 1997 wird das Haushaltssoll bei weitem nicht erreicht. Der Mittelabfluß beim Europäischen Entwicklungsfonds läßt sich bedauerlicherweise kaum noch realistisch einschätzen. Hier wirkt sich nicht nur negativ aus, daß der achte EEF immer noch nicht ratifiziert ist, sondern hier spiegelt sich auch die Schwerfälligkeit bei der Umsetzung von Maßnahmen in Brüssel wider.
Die Bindung von Haushaltsmitteln, die möglicherweise in größerem Umfang nicht in Anspruch genommen werden, ist für den Einzelplan ein großes Hemmnis. Der Finanzminister hat ja immer wieder Möglichkeiten genutzt, nicht abgeflossene Mittel zur Deckung anderer Positionen und auch für Einsparmaßnahmen einzufordern. Angesichts des deutschen Anteils beim Europäischen Entwicklungsfonds von 26 Prozent muß der deutsche Einfluß auf die entwicklungspolitischen Vorstellungen der Europäischen Union bei der Projektauswahl verstärkt werden. Darüber hinaus entspricht die deutsche Beteiligung bei der Auftragsvergabe im Rahmen der Projekte immer noch nicht unseren Vorstellungen. Das
gleiche gilt für EU-Mittel hinsichtlich deutscher Nichtregierungsorganisationen.
Der Haushalt 1997 stand unter dem Eindruck eines rasanten Anstiegs der Baranforderungen bei der finanziellen Zusammenarbeit. Die Opposition geriet geradezu in Panik. Wir hatten die Bundesregierung ermächtigt, zusätzlich zu den bar veranschlagten 2,2 Milliarden DM durch Forderungsverkauf gegebenenfalls weitere 250 Millionen DM als Barmittel einzusetzen. Davon brauchte bis heute noch kein Gebrauch gemacht zu werden. Dennoch halten wir es für richtig, eine solche Klausel im Haushalt auch für 1998 beizubehalten. Das Volumen der FZ bestimmt vor allem mittel- und langfristig Projekte der Infrastruktur. Um mehr Kontinuität und Planungssicherheit zu erreichen, werden wir hier ein Zeichen setzen und im Rahmen der Haushaltsberatungen die Verpflichtungsermächtigungen deutlich anheben. Damit aber sollen nach unseren Vorstellungen beschäftigungspolitische Effekte in der Bundesrepublik ausgelöst werden, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Die Konzentration bei der Förderung der mittel- und osteuropäischen Länder ist nun ein gutes Stück vorangekommen. Dem Ministerium stehen 136 Millionen DM zur Verfügung, die wohl noch etwas aufgestockt werden, weil Bulgarien neu dazugekommen ist.
Wir Haushälter werden uns dabei aber auch mit der Frage auseinandersetzen müssen, warum beim BMZ drei Beamte ausreichen, um diese Mittel zu bewirtschaften, in den übrigen Ministerien für 150 Millionen DM MOE-Mittel aber 43 Beamte eingesetzt werden.
Das ist ein Punkt, der uns gemeinsam beschäftigen wird.
Auch in diesem Jahr erreichen uns zeitgerecht zu den Haushaltsberatungen Wünsche nach totalem Schuldenerlaß. Das, was wir in der Vergangenheit dazu gesagt haben, gilt auch heute noch. Wir bewegen uns aus gutem Grund nicht anders als die Solidargemeinschaft des Pariser Clubs. In bestimmten Fällen und unter ganz bestimmten Auflagen sind wir aber bereit, neue Wege zu gehen. Wir haben das bewiesen bei der Umwandlung der DDR-Altforderungen und mit dem Schuldenerlaß in einer Größenordnung von bis zu 210 Millionen DM, wenn die betreffenden Länder im Gegenzug Projekte zur Armutsbekämpfung und für den Umweltschutz realisieren.
Wir, die Union, und auch die F.D.P. wollen diesen Haushaltsvermerk erweitern, damit auch der Bildungsbereich einbezogen werden kann. Ich glaube, darüber gibt es unter den Fraktionen Einvernehmen. Damit wird auch sichergestellt, daß dieser Titel wirklich ausgeschöpft wird.
Wirtschaftliche Zusammenarbeit in der Entwicklungshilfe setzt faire Partnerschaft voraus. Das gilt für das gesamte Spektrum der politischen Zusammenarbeit. Wir können es deshalb nicht länger dulden, daß sich Regierungen in Afrika weigern, ihre eigenen Bürger zurückzunehmen.
Bei den rund 140 000 in Deutschland offiziell lebenden Schwarzafrikanern - von den anderen rede ich gar nicht - gibt es 26 282 Abschiebungs- und 1 360 Ausweisungsfälle. Bei fast allen muß die Identität geklärt werden, weil sie ihre Ausweispapiere vernichtet oder versteckt haben. Wir erwarten von ihren Heimatländern, daß sie mit uns zusammenarbeiten, wenn es darum geht, die Herkunft zu klären, um die Rückkehr zu ermöglichen.
Es ist schon bemerkenswert, daß einer der SPD-Kanzlerkandidaten zunächst mit markigen Worten die deutsche Entwicklungshilfe als Druckmittel gegenüber diesen Ländern ins Gespräch bringt und dann aus dem eigenen Lager gescholten wird, er würde die Stammtische in Deutschland von rechts bedienen.
Inzwischen läßt Herr Schröder seine Äußerungen schon wieder modifizieren, man kann auch sagen: einsammeln. Er muß seine Thesen jetzt von links abräumen. Man könnte es auch anders formulieren. Er
Michael von Schmude
hat an den Stammtischen Platz genommen und schleicht sich jetzt als Zechpreller davon.
Es ist für uns - da stimmen wir mit Minister Spranger überein - überhaupt keine Frage, daß mit den betreffenden Ländern eine deutliche Sprache zu sprechen ist. Einige Länder ragen besonders heraus. Ich will das hier mal deutlich machen. Ghana: Spitzenreiter mit 3 859 Abschiebungs- und 348 Ausweisungsmaßnahmen, Zaire mit 3 282 Abschiebungs- und 47 Ausweisungsmaßnahmen,
Liberia mit 2652 Abschiebungs- und 51 Ausweisungsmaßnahmen, Nigeria mit 2 597 Abschiebungs- und 218 Ausweisungsmaßnahmen.
Die Liste läßt sich beliebig fortsetzen. Es sind 23 Länder, von denen nicht nur etliche in beträchtlichem Umfang Hilfe von uns erhalten, sondern die zudem noch in erheblichem Maße bei uns verschuldet sind. Diesen Ländern muß klargemacht werden, daß uns ihr Verhalten erhebliche Kosten verursacht und daß wir diese Gelder viel besser für andere Zwecke - auch für die Entwicklungshilfe - einsetzen könnten.
Wir erwarten aber auch von den Bundesländern, daß sie Abschiebungen konsequent vollziehen und daß nicht wie in Niedersachsen 30 000 Asylbewerbern, die keinen Anspruch auf Bleiberecht haben, ein Bleiberecht gewährt wird, wovon insgesamt eigentlich nur 5 Prozent politisch Verfolgte sind.
Zum Schluß gilt mein Dank den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ministeriums, die unsere Vorgaben im Bereich der Entwicklungshilfe erfolgreich und kostengünstig umgesetzt haben. Das letztere wird an der Entwicklung der Verwaltungsausgaben beim Einzelplan 23 deutlich, die 1998 fast auf dem Stand von 1997 fortgeschrieben werden.
Die Personaldecke des Hauses ist heute kleiner als vor der Vereinigung Deutschlands, wovon andere Häuser noch weit entfernt sind. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gebührt deshalb unser besonderer Dank.
Jetzt spricht der Abgeordnete Wolfgang Schmitt.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Ich dachte, daß die Einlassung des Ministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung im Sommer, wie sie zumindest die „Frankfurter Rundschau" überliefert hat, nach der er die Abschiebung
straffällig gewordener Ausländer erleichtern möchte, indem er die jeweiligen mutmaßlichen - mutmaßlichen! - Heimatländer entwicklungspolitisch unter Druck setzt, eine Einzelmeinung - wenn auch eine bedeutende Einzelmeinung - innerhalb des Unionslagers darstellt.
Ich gehe davon aus, daß die Äußerungen des Kollegen von Schmude nicht nur seine persönlichen waren, sondern tatsächlich die Position der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion wiedergeben. Ich bin erschrocken darüber und weise die Inanspruchnahme der Entwicklungszusammenarbeit für die Abschiebepraxis der Bundesregierung schärfstens zurück.
Wir haben es in den vergangenen 30 Jahren häufiger erlebt, daß die Entwicklungszusammenarbeit für andere Politikbereiche instrumentalisiert wurde. Ich glaube, die Ergebnisse, die dabei herausgekommen sind, sind wenig schmeichelhaft für die Entwicklungszusammenarbeit. Sie haben dazu geführt, daß entwicklungspolitisches Engagement diskreditiert wurde mit dem Hinweis: Die Dinge, die ihr vorhattet, habt ihr nicht erreicht.
Wenn man Ihre Vorstellungen zu Ende denkt, heißt das, daß in Zukunft Regime, die sich möglicherweise alles andere als förderlich in der Entwicklungszusammenarbeit verhalten, aber bereit sind, ihre Bürger aufzunehmen, im Sinne eines entwicklungspolitischen Menschenhandels dafür belohnt werden, daß die Leute zurückgenommen werden,
während die entwicklungspolitischen Kriterien dabei überhaupt keine Rolle spielen.
Es wird allerhöchste Zeit, daß sich an der Spitze des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung - oder sollte ich besser sagen: des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit in Abwicklung; denn die erwähnten Äußerungen haben mit wirtschaftlicher Zusammenarbeit weiß Gott nichts mehr zu tun - nicht nur personell, sondern auch konzeptionell etwas ändert.
Meine Damen und Herren, der Gehalt des Einzelplans 23 ist wirklich ernüchternd. Der Minister, aber auch andere Redner haben darauf hingewiesen: Wir haben es mit real sinkenden Haushaltsansätzen zu tun. Die absehbaren Einbrüche in den nächsten Jahren durch die deutliche Reduzierung der Verpflichtungsermächtigungen - die sind unser wichtigstes Instrument - verringern die Spielräume einer Entwicklungspolitik, die diesen Namen verdient, bis zur Unkenntlichkeit. In Zukunft stehen für die durch die Bundesregierung selbst benannten Schwerpunkte der Entwicklungszusammenarbeit, nämlich für den
Wolfgang Schmitt
Umwelt- und Ressourcenschutz sowie die Armutsbekämpfung, deutlich weniger Mittel zur Verfügung.
Die Fülle der Aufgaben des Ministeriums hat zugenommen. Das haben Sie richtig benannt, Herr Kollege Schnell. Sie haben auch erwähnt, daß der Personalbestand, anders als bei allen anderen Häusern dieser Bundesregierung, auf den Stand von vor 1990 zusammengeschmolzen ist. Aber Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als mit Dank an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Hauses zu reagieren. Die notwendige Konsequenz wäre, a) den Personalbestand oder b) die Aufgabenanforderung zu erhöhen. Aber mit einem warmen Händedruck werden Sie den bevorstehenden Schwierigkeiten, daß die wachsende Aufgabenfülle von immer weniger Beamtinnen und Beamten bewältigt werden muß, nicht gerecht.
Schließlich zu der ungeklärten Finanzierung der internationalen Verpflichtungen des Hauses auf Grund des höheren Dollarkurses: Das ist weiß Gott ein Bubenstück von Lastenteilung innerhalb der Bundesregierung. In der Vergangenheit war es so, daß das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung mögliche Erlöse, die auf Grund des überraschend niedrigen Dollarkurses anfielen, umgehend an das Bundesministerium der Finanzen abführen mußte und dies mit dem Hinweis darauf erklärte, daß es sich schließlich nicht um eigene Verdienste handelte. Das leuchtete ein, solange man davon ausgehen konnte, daß im umgekehrten Falle Mehrausgaben infolge eines überraschenden Steigens des Dollarkurses ebenfalls vom Bundesministerium der Finanzen übernommen werden. Jetzt müssen wir feststellen: Die Vereinbarungen werden so gestrickt, daß Bundesfinanzminister Waigel wenigstens in diesem einen Fall immer auf der Seite der Gewinner steht. Das ist er sonst ja nicht mehr gewöhnt. Entsprechende Veränderungen am Devisenmarkt gehen immer zugunsten seines Hauses und zu Lasten des betreffenden Ministeriums.
Der Minister selbst hat im Rahmen seiner Aktion "Rette, was zu retten ist" offensichtlich - so meine ich - die Übersicht verloren. Es hat eine Pressekonferenz gegeben. Auf dieser Pressekonferenz hat er den vorliegenden Haushaltsentwurf charakterisiert: Der Haushalt ist eine sinnvolle Kompromißlösung; so Originalton Spranger. Fünf Minuten später: Es hat in meiner Amtszeit noch keine so drastischen Einschnitte gegeben.
Das gipfelt auf der gleichen Pressekonferenz in der Aussage: Der Personalabbau im BMZ kann nicht schlimmer werden, das heißt, wir sind praktisch am Ende. Die Existenz des Hauses oder die Sinnhaftigkeit der Arbeit steht grundsätzlich zur Debatte.
Die Frage ist: Handelt es sich bei dem hier vorliegenden Entwurf um einen Kompromiß, oder ist es ein entwicklungspolitisches Desaster. Ich glaube, die zweite Charakterisierung trifft zu.
Herr Laschet, es ist bereits darauf hingewiesen worden, daß Sie auf einer Pressekonferenz, wohl im Auftrag des Bundesfachausschusses Ihrer Partei, einige konzeptionelle Überlegungen zur bundesdeutschen Entwicklungszusammenarbeit zu Papier
gebracht haben. Mein persönlicher Eindruck ist, daß man die darin aufgeführten Thesen auch aus grüner Sicht vorbehaltlos unterstützen kann.
Sie sind aber in der Regierung. Wir wollen von Ihnen keine Konzepte lesen, sondern wir müssen Sie - das werden Sie mir nachsehen -, weil Sie in der Regierung sind, an Ihren Taten messen.
Wenn man den Inhalt dieses Papiers mit der konkreten Entwicklungspolitik dieser Regierung kontrastiert, dann finde ich in der Politik des Hauses Spranger sehr wenig von dem wieder, was Sie zu Papier gebracht haben.
Ich bin davon überzeugt, daß das Ministerium unter dieser Führung keine Zukunft hat. Man bedient sich jetzt der „kreativen Buchführung", um etwaige Ausgaben, die eigentlich in diesem Jahr anfallen müßten, ins nächste Jahr zu vertagen - Maastricht läßt grüßen. Man steht konzeptionell vor einem Trümmerhaufen. Ich bin davon überzeugt, daß die nächste Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung um ihre Aufräumaufgabe wahrlich nicht zu beneiden ist.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesem kleinen Kreis kann ich es sicher wagen, dem Kollegen Schmitt in Ihrer aller Namen dazu zu gratulieren, daß er gestern Vater einer kleinen Tochter geworden ist.
Man sieht: Der Abgeordnete ist immer im Dienst; auch dann.
Das Wort hat jetzt der Kollege Roland Kohn.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich darf mich den Glückwünschen an den Kollegen Schmitt für die F.D.P.-Fraktion ausdrücklich anschließen. Ich verzeihe ihm deswegen sogar die Rede, die er gerade gehalten hat.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die öffentlichen Haushalte sind - wir wissen das - strukturell in hohem Maße belastet und die Bürger mit Steuern und Abgaben überlastet. In dieser Zeit müssen sich Politiker zu ihrer Gesamtverantwortung für unser Land bekennen. Auch ein Entwicklungspolitiker kann nicht vor die Bürger treten und ausschließlich ressortbezogene Interessen vertreten.
Für das Jahr 1998 sind im Einzelplan 23 7,64 Milliarden DM vorgesehen. Dies entspricht nicht ganz dem Ansatz von 1997, ist aber mehr, als man angesichts der angespannten Haushaltslage erwarten konnte. Im Vergleich zum Haushalt 1997 liegt der
Roland Kohn
Anteil des Einzelplans am Gesamthaushalt 1998 weiterhin bei 1,7 Prozent.
Um es ganz deutlich zu sagen: Deutschland gehört damit auch in Zukunft zu den Staaten, die in hervorgehobener Weise weltweit Verantwortung übernehmen. Der Einzelplan 23 beweist, daß wir auch in finanziell schwierigen Zeiten gewillt sind, unser entwicklungspolitisches Engagement fortzusetzen. Dafür gebührt insbesondere unserem erfolgreichen Entwicklungsminister Carl-Dieter Spranger ausdrücklich Dank.
Ich bleibe dabei: Wir Liberalen lehnen eine Beurteilung der Entwicklungspolitik nach rein quantitativen Maßstäben ab. Es kommt auf die Qualität von Entwicklungspolitik an. Deswegen, Frau Kollegin Tröscher, kann ich es, ehrlich gesagt, nicht mehr hören, daß dieses 0,7-Prozent-Ziel wie eine Monstranz durch die Gegend getragen wird. Die Wahrheit ist, daß keine Regierung in Deutschland, wie immer sie aussehen wird, in der Lage sein würde, dieses Ziel zu erreichen. Ich finde, es wäre ein Gebot der Ehrlichkeit, den Menschen darüber die Wahrheit zu sagen und nicht zu versuchen, sie hinter die Fichte zu führen.
Wir Liberalen engagieren uns für die Entwicklungspolitik aus einer ethisch-humanitären Überzeugung heraus,
aber auch deshalb, weil wir ein Land mit weltweiten Interessen und einer gewachsenen internationalen Verantwortung sind. Um so problematischer ist es, daß das Interesse der Deutschen - der Bürger, der Medien, aber auch von Teilen der Politik - an internationalen Beziehungen rückläufig ist. Ich halte das für eine gefährliche Entwicklung.
Wir haben aber auch ein legitimes Eigeninteresse daran, diesen Ländern zu hellen. Die Vergangenheit hat gezeigt, daß sich Deutschland nicht von den Folgen abschotten kann, die Armut, ungebremstes Bevölkerungswachstum, Umweltzerstörung, Bürgerkrieg oder Drogenanbau in den Entwicklungsländern bedeuten. Das beweist die immer größer werdende Zahl von Flüchtlingen und Auswanderern, die auch nach Europa streben.
Ziel muß es deshalb sein, Probleme dort zu bekämpfen, wo sie entstehen. Für uns ist Entwicklungspolitik Teil einer Politik globaler Zukunftssicherung. Wir wollen einen Beitrag zum Frieden, zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit und zur Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen leisten.
Entwicklungspolitik - ich sage das deutlich - ist nicht der Transfer riesiger Geldmengen. Entwicklungspolitik als weltweite Sozialhilfe wäre zum Scheitern verurteilt. Natürlich müssen wir dort helfen, wo Notsituationen entstehen. Aber Entwicklungspolitik muß beim Aufbau leistungsfähiger und menschenwürdiger politischer, wirtschaftlicher und sozialer Strukturen helfen. Wir wollen die Menschen in die Lage versetzen, sich selbst helfen zu können. Vornehmstes Ziel der Entwicklungspolitik muß es nämlich bleiben, sich selbst überflüssig zu machen.
Freier Handel und privates Kapital haben für die Entwicklung von Entwicklungsländern mittlerweile weit größere Bedeutung erlangt als die öffentliche Entwicklungshilfe. Der gestern vorgelegte Bericht der Weltbank weist dies in eindrucksvollen Ziffern noch einmal aus.
Wir Liberalen drängen deshalb auf die Öffnung insbesondere auch unserer Märkte für Produkte aus den Entwicklungsländern. Die europäische Handelspolitik muß verändert, Handelshemmnisse müssen abgebaut werden, und protektionistische Maßnahmen und Subventionierungen, beispielsweise von Agrarexporten der EU, müssen ein Ende haben. Es gibt aus der Vergangenheit ganz schlimme Beispiele.
Auf der anderen Seite müssen die Entwicklungsländer auch ihre eigenen Hausaufgaben machen. Ich spreche hier von der Eigenverantwortung der Eliten in diesen Ländern, die dafür zu sorgen haben, daß ihre Staaten die Chancen der Teilnahme am freien Welthandel auch tatsächlich nutzen und im Wettbewerb um Kapital, Investitionen und Arbeitsplätze bestehen können.
Wir Liberalen fordern die strikte Bindung entwicklungspolitischer Zusammenarbeit an den Gesichtspunkt guter Regierungsführung. Das möchte ich insbesondere an die Adresse des Kollegen Schmitt sagen, der hier eben abenteuerliche Dinge über die Entwicklungspolitik der Bundesregierung vorgetragen hat.
Ich begrüße es deshalb ausdrücklich, daß in zukünftigen Abmachungen die Bundesregierung über Entwicklungszusammenarbeit eine Klausel aufnehmen will, in der sich beide Partner zu effektiven Maßnahmen gegen Korruption verpflichten. Korruption ist eines der Krebsübel der Entwicklung. Deswegen ist diese Entscheidung überfällig.
Das gleiche gilt auch für Länder, die straffällig gewordene Flüchtlinge nicht aufnehmen wollen. Klaus Kinkel hat richtigerweise gesagt: Wer die Ampel bei völkerrechtlich gebotener Wiederaufnahme eigener Staatsangehöriger auf Rot stellt, darf sich nicht wundern, wenn über entwicklungspolitische Leistungen nachgedacht wird.
Aber wir müssen auch im Inland noch sparsamer mit Mitteln der Steuerzahler umgehen. Alle Institutionen und Organisationen, die ihre entwicklungspolitische Arbeit teilweise oder ganz aus öffentlichen Geldern finanzieren, müssen auf die aktuellen Haushaltszwänge reagieren.
Auch sie müssen in Zukunft über die eigenen Ziele und Aufgaben nachdenken. Alle vermeintlichen oder tatsächlichen Besitzstände gehören auf den Prüfstand.
Roland Kohn
Nichtregierungsorganisationen leisten neben den staatlichen Einrichtungen einen wichtigen Beitrag zum Bild der deutschen Entwicklungspolitik. Das begrüßen wir Liberalen ausdrücklich.
Aber auch für sie gilt wie für alle staatlichen Institutionen der Entwicklungszusammenarbeit: Wir brauchen mehr Transparenz und Ergebnisorientierung. Wir brauchen verbesserte Kooperation und Koordinierung. Wir brauchen Wirksamkeitsanalysen und Erfolgskontrollen, die Einführung marktwirtschaftlicher Prinzipien bis hin zur Vergabe von Fördermitteln im Wettbewerb der Durchführungsorganisationen bei Geber- und Partnerländern. Dies alles trägt dazu bei, Entwicklungspolitik wirksamer zu machen.
Herr Kollege Kohn, gestatten Sie eine Zwischenfrage Ihres Kollegen Koppelin? Sie sind mit Ihrer Redezeit fast am Ende.
Wenn ich darf. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Bitte.
Herr Kollege, Sie sprechen so schnell, daß es schwierig ist, zu Wort zu kommen. Aber ich verstehe das ja; es ist wegen der Redezeit.
Herr Kollege, darf ich Sie fragen, ob Sie meine Auffassung teilen, daß es auch ein Beitrag zur Entwicklungshilfe ist, wenn man für ausländische Studenten - vor allem für Studenten aus den Entwicklungshilfeländern - Studienplätze an den Universitäten in Deutschland schafft? Teilen Sie meine Auffassung, daß wir, sollte es tatsächlich stimmen, was ich den Medien entnommen habe, nämlich daß im Innenministerium darüber nachgedacht wird, das Studieren ausländischer Studenten an unseren Universitäten zu erschweren, dem auf jeden Fall widersprechen sollten?
Herr Kollege, ich teile ausdrücklich Ihre Auffassung. Wir haben bei unserer Reise nach Indonesien vor wenigen Tagen dieses Problem als ein zentrales Problem kennengelernt. Es hat sich gezeigt, daß die starke Stellung Deutschlands auf dem indonesischen Markt von der Tatsache abhängig ist, daß viele Indonesier früher in Deutschland studiert haben. Diesen Strom müssen wir wieder herstellen - in unserem eigenen Interesse. Deswegen ist das, was Sie eben angesprochen haben, in der Tat eine wichtige Aufgabe für die Zukunft.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage, und zwar des Kollegen Schily?
Ich würde gern zum Ende kommen.
Ihre Redezeit ist schon vorbei. Sie dürfen nur noch Fragen beantworten. - Bitte.
Da ich die Auffassung des Kollegen Koppelin teile, daß es ein Unsinn wäre, das Studium von Personen aus Entwicklungsländern hier nicht zu ermöglichen, möchte ich Sie fragen, Herr Kollege, ob Kollege Koppelin oder Sie über genügend Erkenntnisse über die Regierungsarbeit verfügen, um sagen zu können, ob die Meldung, daß Herr Kanther solche Planungen in seinem Hause vorhat, zutrifft oder nicht.
Ich kann Ihnen sagen, daß Herr Kollege Koppelin als haushaltspolitischer Sprecher für diesen Bereich und ich als fachpolitischer Sprecher gemeinsam dafür eintreten, daß hier eine vernünftige Politik zustande kommt. Ich werde Sie auffordern, uns an den Ergebnissen zu messen und nicht an Planungen, die irgendwo im Regierungsapparat vorgenommen werden.
Deswegen möchte ich, zum Schluß kommend, darauf hinweisen, daß es drei Punkte gibt, die aus unserer Sicht besonders wichtig sind. Wir müssen den Senior-Experten-Service stärken, weil er gute Arbeit leistet. Wir müssen die integrierten Fachkräfte stärken, weil sie ebenfalls gute Arbeit leisten. Wir müssen auch die politischen Stiftungen stärken, die insbesondere in Osteuropa hervorragende Arbeit leisten.
Wir als Liberale stimmen der Überweisung des Haushalts in den Ausschuß zu und freuen uns auf die Beratungen dort, in die wir mit sehr viel Motivation hineingehen.
Vielen Dank.
Zu einer Kurzintervention erhält jetzt der Abgeordnete Hedrich das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Erstens. Gerade die letzten Wortbeiträge geben mir Veranlassung, darauf hinzuweisen, daß die Koalitionsfraktionen eine Große Anfrage eingebracht haben, die sich mit der gesamten Problematik der Verbesserung der wissenschaftlichen und kulturellen
Klaus-Jürgen Hedrich
Beziehungen mit unseren Partnerländern beschäftigt. In der Antwort werden wir die gesamte Problematik erläutern.
- Und zwar differenziert.
Zweitens. Wenn man den Ausführungen des Ministers vorhin sorgfältig gefolgt ist, wird man festgestellt haben, daß er gerade diesem Aspekt besondere Aufmerksamkeit gewidmet hat. Wer sich nun seinerseits die zusätzliche Mühe macht, einen Blick in den Einzelplan 23, also in den Haushalt des BMZ, zu werfen, wird feststellen, daß unter den wenigen Punkten, an denen wir eine Steigerung des Haushaltes vornehmen können, wir gerade bei den Wissenschaftskooperationen eine Ausweitung vornehmen. Das gilt insbesondere für die Tätigkeit der Alexander-von-Humboldt-Stiftung und des Deutschen Akademischen Austauschdienstes.
Wir sind also ganz im Gegenteil daran interessiert, die Probleme des Standortes Deutschland zu beseitigen. Aber ich mache hier in aller Deutlichkeit darauf aufmerksam: Es gibt durchaus eine jetzt bestehende ausländerrechtliche Beschwernis, die wir beseitigen wollen, um zu erreichen, daß ausländische Studenten hierherkommen können. Aber ich weise auch darauf hin - hoffentlich wird das jetzt im Rahmen der Neuformulierung der Hochschulrahmengesetzgebung deutlich -, daß ein Großteil der Hemmnisse darin besteht, daß die deutschen Universitäten nach wie vor nicht ausreichend in der Lage sind, auf die Forderung von ausländischen Wissenschaftlern und Studenten nach anerkannten Abschlüssen zu reagieren. Das wird Gott sei Dank immer besser.
Frau Präsidentin, als letzte Bemerkung mache ich auf folgendes aufmerksam: Ob man es gern hat oder nicht, aber die Zeiten - das haben wir mit unserer Geschichte übrigens auch verspielt -, in denen Deutsch die klassische Wissenschaftssprache war, sind vorbei. Wir müssen einfach zur Kenntnis nehmen, daß dies für Deutsch nicht mehr gilt. Heute ist Englisch die entscheidende Sprache, übrigens neben einer zunehmenden Bedeutung für Spanisch.
Deshalb ist es gut, wenn deutsche Universitäten zunehmendem Maße darauf reagieren und ausländische Wissenschaftler in Deutschland ihre Abschlüsse in der Wissenschaftssprache Englisch und auch in Spanisch machen können. Das ist ein ganz entscheidender Beitrag zur Erhöhung der Attraktivität Deutschlands als Wissenschaftsstandort und für die wissenschaftliche Kooperation gerade mit unseren Partnerländern.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Willibald Jacob.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wiederum ist der Haushalt für Entwicklungszusammenarbeit von skandalösen Kürzungen bestimmt. Zugleich ist ganz deutlich: Die Institutionen, die den Gedanken der gesellschaftlichen Entwicklung tragen und menschliche Entwicklung fördern, werden finanziell unterhöhlt. Dem kann die PDS nicht zustimmen.
Zu den Kürzungen: Erstens. 0,2 Prozent des Baransatzes werden gekürzt. Zweitens. Die Verpflichtungsermächtigungen für die kommenden Jahre werden um mehr als 16 Prozent gekürzt; das sind 750 Millionen DM. Drittens. Besonders die Mittel von Nichtregierungsorganisationen und Kirchen werden verringert. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind unter anderem die polytechnische. Ausbildung und damit die Armutsbekämpfung. Viertens. Die Unterstützung der ungeliebten UN-Organisationen wird beschnitten. Das heißt, Entwicklungsanalytikern , Entwicklungstechnikern (UNIDO), Frauenprogrammen (UNIFEM) und dem Kinderhilfswerk (UNICEF) wird Schritt für Schritt die Unterstützung entzogen.
Damit verbunden ist das Gegenteil dessen, was die Praktiker der Entwicklungshilfe erwarten: Erstens. Die Regierung ist nicht bereit, ersparte Mittel der Entwicklungshilfe dieser wieder zuzuführen, sondern sie stopft damit die allgemein bekannten Haushaltslöcher im reichsten Land Europas. Zweitens. Die Regierung ist keineswegs zum vollständigen Schuldenerlaß für die ärmsten Länder bis zum Jahre 2000 bereit. Drittens. Sie unterhöhlt damit de facto die Beschlüsse aller UN-Gipfelkonferenzen der letzten Jahre. Viertens. Die Regierung ist dabei, das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung überflüssig zu machen und damit auch den entsprechenden Bundestagsausschuß.
Das Fazit: Was nach innen wahr ist, ist auch nach außen wahr. In unserem eigenen Land wachsen die Massenarbeitslosigkeit und gleichzeitig die Gewinne von Banken und Großbetrieben. In den Entwicklungsländern wächst die Armut, und gleichzeitig wachsen die Gewinne von Großbanken und multinationalen Konzernen. So wie im eigenen Land Armutsbericht und Reichtumsbericht fehlen - von der Regierung verweigert -, so fehlen sie auf Weltebene.
Von Armutsbekämpfung wird gesprochen. Gleichzeitig sollen wir Schritt für Schritt unfähig gemacht werden, die Ursachen von Armut, Hunger, Fluchtbewegungen und Bürgerkriegen zu verstehen und nach ihnen zu fragen. Aber ich denke, unsere Regierung irrt, wenn sie meint, Menschen, die das erkannt haben, würden Ruhe geben.
Sie haben längst begriffen, daß eine „Störung der gesamtwirtschaftlichen Lage" vorliegt, wie Herr Dr. Waigel es gestern sagte. Praktiker der Entwicklungszusammenarbeit fügen hinzu: Diese Störung ist eine globale Erscheinung. Eine Ausgewogenheit der weltwirtschaftlichen Lage hat es nie gegeben. Kolonialismus, Rassismus und der dann folgende Neoliberalismus waren und sind Indikatoren für eine Störung der weltwirtschaftlichen Lage.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
„Die Märkte müssen handeln. Finanzmärkte bestrafen schlechte und belohnen gute Politik" , dann hat er damit ein Etwas zum Subjekt erklärt. Die Märkte, anonyme Gewalten, sind Herren über uns;
Dr. Willibald Jacob
sie strafen und belohnen. Dieser Paradigmenwechsel scheint sich durchzusetzen. Wir werden weggeführt von unserer Personalität hin zu einer Art Anonymität, die wir bisher kaum kannten, hin zu einem neuen Kollektivismus. Seine Ausführungen gestern dokumentierten für mich nicht nur die finanzielle Pleite, sondern noch stärker die Elemente einer philosophischen Pleite, eines geistigen Mißstandes, der sich wie ein Krebsgeschwür ausbreitet. Menschen fragen, wer denn in dieser Gesellschaft überhaupt noch verantwortlich ist, wenn der Markt nun der Plan ist und die Vorgaben macht. Der politische, für das Gemeinwesen wirkende Mensch sollte sich seiner Würde und Verantwortung neu bewußt werden!
Eine Stimme aus der Zentrale der Franziskaner in Bonn:
Was wäre Globalisierung doch für ein Zauberwort, ginge es nicht nur um die Märkte, sondern um die Köpfe. Dann nämlich würde Globalisierung bedeuten: Es gibt nur eine Erde, auf der nicht länger zwei Drittel der Menschheit bitterarm und das andere Drittel auf Kosten der Armen in Wohlstand lebt, die Ressourcen plündert und die Welt in eine Katastrophe zu treiben droht.
Dann wäre Globalisierung das, was uns eigentlich geboten ist: Die Bewahrung der Schöpfung durch uns Menschen, gegen den Eigennutz der Geldbesitzenden, die meinen, sich mit ihren Interessen hinter der anonymen Kollektivität der Märkte verstecken zu können.
Die Kolleginnen und Kollegen des Haushaltsausschusses erinnere ich daher an ihre personale Verantwortung. Lassen Sie es nicht zu, daß die deutsche Entwicklungshilfe zu einem lebensunfähigen Torso wird. Lassen wir es vor allen Dingen nicht zu, daß sie als Druckmittel gegen die bedürftigen Länder in der Asylpolitik mißbraucht wird und damit in ihrem Kern verkommt.
Danke sehr.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Winfried Pinger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich schließe mich natürlich dem Glückwunsch an Herrn Schmitt an. Mir scheint, daß er etwas länger und ausgiebiger gefeiert hat, was ich ja verstehen kann; jedenfalls scheint er heute noch gut drauf zu sein. Er ist hierhingekommen, hat den Colt herausgeholt, kräftig in die Luft geschossen und gemeint, der Minister stehe konzeptionell vor einem Trümmerhaufen.
Es ist ja das gute Recht der Opposition, Kritik zu üben. Dazu mag es ja hin und wieder auch eine gewisse Berechtigung geben. Aber das scheint mir nun richtig danebenzuliegen. Ich komme nachher darauf zurück.
Lassen Sie mich feststellen - es ist ja bekannt -, daß die 80er Jahre für Afrika ein verlorenes Jahrzehnt waren. Das Bruttosozialprodukt pro Kopf verringerte sich von Jahr zu Jahr, um insgesamt 15 Prozent pro Kopf. Die Leidtragenden waren die Ärmsten der Armen. Die Situation hat sich geändert. Es scheint so, daß sie sich nachhaltig geändert hat. Für dieses Jahr stellt der Internationale Währungsfonds eine Steigerung des Bruttosozialproduktes um 5 Prozent fest, auch für Schwarzafrika. Die Weltbank prognostiziert in ihrem gestern vorgestellten Bericht, den Sie heute in allen Zeitungen lesen können, daß die Entwicklungsländer ihren Weltmarktanteil bis zum Jahr 2020 insgesamt verdoppeln werden.
Das Erfreuliche ist, daß diese Entwicklung an Afrika nicht vorbeigeht, sondern auch für Schwarzafrika auf Grund der vorhandenen Fakten eine durchschnittliche Steigerungsrate von 4,1 Prozent prognostiziert wird. Nun sind Prognosen immer etwas vorsichtig zu behandeln, aber die Tendenz ist eindeutig. Und die Tendenz hat sich geändert. Sie hat sich gebessert. Die Ursachen hierfür sind im wesentlichen Änderungen der Politik in den Entwicklungsländern, aber auch Verbesserungen der Entwicklungspolitik; daran hat die deutsche Entwicklungspolitik konzeptionell, Herr Kollege Schmitt, wesentlichen Anteil. Die Formulierung der Schwerpunkte - Armutsbekämpfung, Bildungsförderung und Umweltschutz - und nicht zuletzt der Kriterien im Jahre 1991 hat ein Signal gegeben. Nun geht es darum, diese in der Politik umzusetzen. Das ist in der Tat nicht ganz so einfach.
Wir müssen uns allerdings auch die Gefahren der Entwicklung vor Augen halten, die insgesamt positiv ist. Nehmen wir die Länder, die im Transformationsprozeß sind. Das sind fast alle Länder, mehr oder weniger, vor allem aber auch die ehemals kommunistischen Länder. Dort ist ein Teil der Wirtschaft dynamisch und privat; an den Vorteilen hat ein Teil der Bevölkerung besonders Anteil. Aber wir müssen einfach sehen, daß die Gefahr besteht, daß ein anderer Teil der Bevölkerung nicht partizipiert, weil er die Chancen in einem veränderten, privatwirtschaftlichen Umfeld nicht wahrnehmen kann. Da muß die Entwicklungspolitik ansetzen.
Armutsbekämpfung ist nicht eine Randerscheinung der Entwicklungspolitik, sondern zentrale Aufgabe. Unsere Zielgruppen sind nicht die, die weniger leistungsfähig sind, sondern die leistungsfähigen, die unterprivilegiert waren und auch heute noch unterprivilegiert oder gar diskriminiert sind. Das ist in vielen Ländern die Masse der Bevölkerung. Das heißt Armutsbekämpfung. Wir wollen nicht Umverteilung, sondern wollen, daß die produktiven Fähigkeiten dieser Bevölkerungsschichten gestärkt und dazu
Dr. Winfried Pinger
auch institutionell die Voraussetzungen geschaffen werden,
zum Beispiel dadurch, -
Herr Kollege Pinger, leider ist Ihre Redezeit, die angemeldet war, überschritten.
- daß das Finanzwesen entwickelt wird.
Ich denke, daß wir in dieser Richtung gemeinsam unsere Entwicklungspolitik konzeptionell betreiben und daß wir da auf gutem Wege sind, und zwar mit dem Minister.
Danke.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Werner Schuster.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Im Rahmen der heutigen Haushaltsdebatte heißt mein Thema: Bundeskanzler Kohl verspielt die Zukunft der deutschen EZ,
und der zuständige Entwicklungsminister kneift. Das will ich an sieben Punkten darlegen.
Erstens. Herr Minister, als ich die ersten Pressemitteilungen las, war ich angenehm überrascht. Ich hatte erwartet, daß „Mister Goldfinger" stärker zuschlagen würde, und las dann - ich habe Ihre Worte im Ohr -: Soll 1998 ungefähr wie Soll 1997. Wenn man dann aber analysiert, stellt man als erstes fest: 90 Millionen DM haben Sie schon für den Dollarkurs eingerechnet -1,55 DM -, 100 bis 150 Millionen DM kommen für den aktuellen Dollarkurs mindestens dazu. Das sind schon 240 Millionen DM weniger, und die Haushaltsberatungen und die Steuerschätzung im November sind noch gar nicht vorüber bzw. hat noch nicht stattgefunden. Da sind Größenordnungen von weiteren 500 Millionen DM genannt worden. Ich behaupte: Das bereinigte Soll, das reale Soll von 1998 wird um 0,7 Milliarden DM unter dem von 1997 liegen. Dann sind wir bei rund 10 Prozent Rückgang Ihres Etats, und das sind keine Peanuts mehr. Da, Herr Minister, hätte ich mehr Redlichkeit statt Schönfärberei in Ihren vielen Pressemitteilungen erwartet.
Zweitens. Die VE, Verpflichtungsermächtigung, wird um 0,8 Milliarden DM reduziert. Das sind 15 Prozent. Genau damit, Herr Staatssekretär, verspielt die Regierung Kohl die Zukunft der EZ. Oder mit Ihren eigenen Worten in den Erläuterungen:
Ungeachtet der Bedeutung, die dem Barmittelansatz für die Flexibilität und Handlungsfähigkeit
der deutschen Entwicklungspolitik im nächsten Jahr zukommt, sind für unsere langfristig angelegte Zusammenarbeit die Verpflichtungsermächtigungen von besonderer politischer Bedeutung. Sie legen den Rahmen der möglichen neuen Zusagen, die uns bilateral möglich sind, fest. Dieser ist 1998 kleiner als 1997.
Nicht einmal das Wort „leider" ist Ihren Mitarbeitern eingefallen, Herr Minister. Seit Erhard Eppler wissen wir, was das bedeutet: Verpflichtungsermächtigungen - hinauf oder herunter. Sie aber, Herr Minister, kneifen schlicht.
Drittens. Sie, Herr Minister nehmen nicht einmal Ihre eigenen fünf Kriterien ernst. Nehmen Sie sich eigentlich selber ernst? Oder wie erklären Sie sich, daß nach wie vor FZ-Spitzenreiter Länder wie Indien, China, Türkei und Indonesien sind? Offenkundig wird die Einhaltung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit - im besten Kolonialstil - nur von afrikanischen Staaten verlangt. In Afrika nennt man Sie inzwischen den „Minister mit den zwei Maßstäben" : mit dem strengen Maßstab für die Schwarzen und mit dem soften Maßstab für die wirtschaftlich interessanten Länder Asiens. Wollten Sie das eigentlich, Herr Minister?
Ich bin sehr gespannt, wie Sie Ihr sechstes - richtiges - Kriterium, die Korruptionsklausel, in die Praxis umsetzen werden, ob Sie dann auch wieder zwei verschiedene Metermaße anlegen werden.
Viertens. Herr Minister, einstimmige Beschlüsse des Fachausschusses, um die Sie dauernd werben, kümmern Sie und Ihr Haus offensichtlich nicht. Das will ich an zwei Beispielen deutlich machen:
Wir haben im Januar dieses Jahres, Herr Graf von Waldburg-Zeil, ganz mühselig und ernsthaft diskutiert und differenziert, wie wir im Sudan helfen können. Wir haben dann einstimmig beschlossen: Jawohl, wir brauchen eine koordinierte Förderung der Zivilgesellschaft und keine Förderung der staatlichen Strukturen. Wir haben bewußt gesagt: Förderung über den DED und die NGOs. Sie skippen das einfach. Wenn es dann im Sudan zum großen Bürgerkrieg kommt, dann zahlen wir wieder und weinen. - Unverständlich!
Zweites Beispiel: Armutsbekämpfung. Scheinbar erhöhen Sie die Mittel von 14 auf 15 Prozent. Erstens sind 15 Prozent immer noch nicht 20 Prozent, und zweitens verschweigen Sie, daß Sie durch Manipulation der Bezugszahl den Titel Armutsbekämpfung, Herr Pinger, de facto um 60 Millionen DM reduzieren. Aus lauter Angst, Sie könnten Armutsminister genannt werden, verkommt die deutsche Entwicklungszusammenarbeit zur falsch verstandenen Industriepolitik. Die engagierten Menschen im Süden, auf die wir als Träger der Entwicklung angewiesen sind, bleiben auf der Strecke. - Unverständlich!
In die gleiche Rille paßt Ihre seltene Teilnahme an Sitzungen des Fachausschusses. Ich kenne keinen Minister, der sich im Ausschuß so wenig dem Dialog
Dr. R. Werner Schuster
stellt, wie Sie: weder Herr Blüm noch Herr Waigel, weder Herr Seehofer noch Herr Rühe und Herr Kinkel.
Den Boden des Fasses schlägt die Information aus, daß Sie nicht einmal Zeit haben werden, bei den Haushaltsberatungen im Ausschuß anwesend zu sein.
Herr Kollege Schuster, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Pinger?
Lassen Sie mich den Satz noch zu Ende formulieren.
Welcher engagierte Entwicklungspolitiker mit Charakter sollte eigentlich noch Lust haben, die von Ihnen immer wieder eingeforderten gemeinsamen Anliegen zu unterstützen?
Herr Kollege Schuster, stimmen Sie mir zu, daß es Sache der Obleute und des gesamten Ausschusses ist, ob. der Minister in den Ausschuß kommt? Stimmen Sie mir weiter zu, daß er immer gekommen ist, wenn wir ihn eingeladen haben?
Nein, Herr Pinger. So sehr ich Sie schätze, muß ich Ihnen sagen, daß es eine Bringschuld ist. Die Frage, ob er eingeflogen kommt und uns seine Themen unterbreitet, ob er an unserem Dialogprozeß teilnimmt, in dem wir - wie Sie wissen - unter Schwierigkeiten versuchen, uns zu einigen, ist primär seine Sache und nicht die Sache des Ausschusses. Wir haben dieses Problem im Ausschuß wiederholt thematisiert und wiederholt einstimmig darum gebeten, daß er regelmäßiger kommt.
Fünftens. Herr Minister, wenn es schon weniger Geld gibt, dann gilt auch für die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit: Das Geld dafür muß effektiver und nachhaltiger ausgegeben werden.
Wir alle stecken als Entwicklungspolitiker gegenüber unseren Wählerinnen und Wählern in einer Legitimationsproblematik. Wir brauchen vorzeigbare Erfolge; sonst sind unsere Wählerinnen und Wähler nicht mehr bereit, solche Typen wie mich und wie manche von Ihnen zu wählen.
Unser Problem ist, daß wir für das Anliegen der dritten Welt werben müssen. Und doch überfahren wir unsere Partner im Süden häufig und überfordern sie mit unseren Angeboten. Herr Minister, ich schlage Ihnen vor: Tun Sie einmal das, was wir jetzt auf unserer Reise nach Westafrika wieder gemacht haben. Sprechen Sie einmal informell mit den dort tätigen deutschen Entwicklungshelfern. Ihnen würden die Ohren klingen. Denn diese haben zum Teil sehr
konstruktive Vorschläge. Sie wissen, wo man etwas ändern müßte. Aber sie trauen sich nicht, weil sie um ihren Job fürchten müssen. Ich habe das vor Jahren einmal als das Problem der zwei Wahrheiten bezeichnet. Ich kann Ihnen nur empfehlen, mit deutschen Entwicklungshelfern vor Ort zu sprechen. Sie machen einen strategischen Fehler, wenn Sie auf dieses Feedback verzichten.
Sechstens. Machen Sie es sich nicht zu einfach, Herr Minister, indem Sie sagen: Es ist die Aufgabe der SPD und der Grünen als Opposition zu kritisieren. Können Sie eigentlich noch ruhig schlafen, nachdem Sie dieses Büchlein mit dem Titel „Die Wirklichkeit der deutschen Entwicklungshilfe" gelesen haben? Oder sollten Ihre lieben Mitarbeiter Ihnen dieses Büchlein gar vorenthalten haben? Es ist nicht unqualifiziert, wie Sie behauptet haben. Es steht sehr viel Nachdenkenswertes darin, auch wenn ich manche Passage nicht teile.
In diesem Buch steht als zentrale Forderung: „Entwicklungspolitik muß Querschnittsaufgabe werden",
wie es die SPD in ihrem Gesetzentwurf verlangt und wie Sie, Herr Laschet, es auch formulieren. Aber dann, Herr Minister, muß man eben kämpfen und darf nicht kneifen. Denn kein Finanzminister - weder eine grüne noch eine rote Ministerin bzw. Minister - wird uns so viele Mittel für die EZ geben, um das wieder gutzumachen, was all die Borcherts, Waigels und Rexrodts im Süden verkehrt machen.
Das ist der Punkt. Deswegen brauchen wir endlich ein kompetentes „Querschnittsministerium".
Siebtens. Zum Schluß die Conclusio: Wir brauchen eine Reform des BMZ an Haupt und Gliedern. Wir brauchen einen Minister und ein BMZ, die sich nicht schämen, offensiv zu sagen: Jawohl, unser oberstes Ziel ist es, die Interessenvertretung von 5 Milliarden Menschen im Süden - immerhin 80 Prozent der Weltbevölkerung - und vor allem derjenigen 1,3 Milliarden Menschen zu sein, die unterhalb der Armutsgrenze leben.
Meine Damen und Herren, zu Recht sind wir stolz auf die Wertvorstellungen unseres Grundgesetzes. Dort steht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar." Das gilt doch auch für die Menschen im Süden - oder?
Ich bedanke mich.
Jetzt erteile ich dem Abgeordneten Otto Graf Lambsdorff in seiner Funktion als fraktionsübergreifender Sprecher der politischen Stiftungen das Wort.
Herr Penner, es gibt auch manchmal Neues. Warum eigentlich nicht? Wir sollten doch flexibel und wandlungsfähig sein.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie haben es soeben gehört: Der Ältestenrat hat dem Vorsitzenden der Friedrich-Naumann-Stiftung freundlicherweise einige Minuten Redezeit eingeräumt. Dafür bedanke ich mich im Namen aller politischen Stiftungen bei den Fraktionen. Was ich hier sage, haben wir unter den Stiftungen abgestimmt. Wir arbeiten nämlich gut und nahezu völlig konkurrenzlos zusammen.
Die Stiftungen begrüßen, daß das BMZ seinen Etat für 1998 nahezu auf dem Stand des laufenden Jahres halten konnte. Angesichts der Gesamthaushaltssituation ist eine Kürzung von lediglich 0,2 Prozent wahrlich keine Selbstverständlichkeit. Eines kann man jedenfalls sagen - ich habe den Ausführungen hier natürlich zugehört; da gibt es unterschiedliche Meinungen -: Andere Ressorts haben in dieser Haushaltsvorlage mehr Federn lassen müssen.
Besorgt stimmt uns die Tatsache, daß dieser 0,2 prozentigen Kürzung des BMZ-Gesamthaushaltes eine weitere Kürzung von 5 Prozent bei den Stiftungen gegenübersteht. Zum Vergleich die Situation hinsichtlich der Förderung der Länder Mittel-, Südost- und Osteuropas: Hier soll der Ansatz um über 100 Millionen DM gegenüber dem des laufenden Jahres steigen. Dieser Zuwachs wird aber überwiegend der Finanziellen Zusammenarbeit und zu einem geringeren Teil der Technischen Zusammenarbeit zugute kommen. Die Mittel für die politischen Stiftungen hingegen, deren Aufgaben gerade in den Transformationsländern in jüngster Zeit stark gewachsen sind, sollen mit insgesamt 38,5 Millionen DM unverändert bleiben. Weitere Kürzungen auch in diesem Bereich sind wohl zu befürchten. Ob damit die politischen Gewichte richtig gesetzt sind, bezweifeln wir.
Insgesamt muß die finanzielle Situation für die politischen Stiftungen durch die erneuten Kürzungen im Baransatz und - was noch schwerer wiegt - bei den planungsrelevanten Verpflichtungsermächtigungen als fortschreitend kritisch bezeichnet werden. Vielerorts bereitet es uns bereits jetzt erhebliche Mühe, den Kernbestand nachhaltig aufgebauter Strukturen und Kontakte zu sichern und - auch das muß erwähnt werden - den Verpflichtungen gegenüber unseren Partnern nachzukommen.
Die Bedeutung der Auslandsarbeit der politischen Stiftungen und ihre Erfolge werden nicht zuletzt dank der Ausführungen von Bundespräsident Herzog zunehmend gewürdigt. Es erscheint mir allerdings wichtig, einmal auf die besondere Bedeutung der Arbeit der Stiftungen gerade in den Transformationsländern hinzuweisen. Dabei beziehe ich mich nicht nur auf die Länder in Mittel-, Südost- und Osteuropa, sondern auch auf zahlreiche Länder Afrikas, Lateinamerikas und Asiens. Auch dort vollziehen sich zum Teil schwierige politische und wirtschaftliche Übergangsprozesse, und nicht alle verlaufen auf Anhieb erfolgreich. Der jüngste Putsch in Kambodscha - um ein besonders krasses Beispiel zu nennen - verdeutlicht auf erschreckende Weise, wie schwach verankert vielerorts die demokratisch-rechtsstaatlichen Strukturen noch sind. Mit einem Schlag wurden hier die 1993 von der internationalen Staatengemeinschaft mit über 2 Milliarden US-Dollar und rund 20 000 Soldaten unterstützten Bemühungen zunichte gemacht, über freie Wahlen die Agonie von 20 Jahren Bürgerkrieg zu überwinden. Auch die anhaltende wirtschaftliche und politische Krise in Thailand sowie die Entwicklung in anderen Teilen der Welt - im ehemaligen Jugoslawien, in Pakistan, in Indonesien oder in Nigeria - zeigen, wie wichtig die Arbeit für den Aufbau und die Sicherung von demokratischen, pluralistischen und rechtsstaatlichen Strukturen ist.
Diese Arbeit ist mitunter mit einem erheblichen persönlichen Risiko - denken Sie bitte einmal an die Sicherheitslage in Südafrika - für unsere Auslandsmitarbeiter und deren Familien verbunden. Ich möchte hier heute die Gelegenheit nutzen, ihnen im Namen aller Stiftungen für ihr Engagement herzlich zu danken.
Sie leben dort nicht mit diplomatischem Status und den damit verbundenen Vorrechten.
Der Aufbau ziviler Bürgergesellschaften ist eine originäre Aufgabe der politischen Stiftungen im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit, eine Aufgabe, deren Wahrnehmung durch die fortgesetzten Kürzungen zunehmend schwieriger wird. Wenn wir mit unseren Bemühungen in den Transformationsländern gerade jetzt nachlassen, werden wir bald einen höheren Preis bezahlen. Vergessen wir bitte gerade hier in Deutschland nicht: Die Staaten in Ost- und Mitteleuropa konnten am gemeinsamen europäischen Zivilisationsprozeß während des letzten halben Jahrhunderts nicht teilnehmen, aus Gründen, die letztlich Deutschland zu vertreten hat, wenn auch das Veto der Sowjetunion nach dem Kriege die unmittelbare Ursache für den Ausschluß der Ost- und Mitteleuropäer aus Europa gewesen ist.
Unsere Arbeit in Rußland, der Ukraine, Bulgarien und Rumänien bedarf der Fortsetzung. Unser Engagement in den Ländern, die sich der Europäischen Union anschließen möchten, müßte verstärkt werden. Gleichzeitig, Herr Minister Spranger, fordern Sie - ebenso wie Ihr Kollege Kinkel - uns völlig zu Recht zu neuen Aktivitäten in weiteren Ländern auf. Aber um diesen Anforderungen gerecht zu werden, brauchen die politischen Stiftungen mindestens 45 Millionen DM aus dem „Programm zur Förderung der Länder Mittel-, Südost- und Osteuropas" für 1998. Sie werden besser beurteilen können als ich, ob das in Ihrem Etat überhaupt möglich ist.
Bei der Auslandsarbeit der politischen Stiftungen geht es um den Aufbau klarer marktwirtschaftlicher Strukturen sowie um die Durchsetzung und Sicherung der Freiheitsrechte und der politischen Partizipationsmöglichkeiten der Bürger. Es geht um die tat-
Dr. Otto Graf Lambsdorff
kräftige Unterstützung umfassender Reformprozesse, wie ich sie mir im übrigen auch für Deutschland in viel stärkerem Maße wünschen würde. Die politischen Stiftungen erfüllen eine Aufgabe, wie sie so von staatlichen Trägern nicht wahrgenommen werden kann. Sie erfüllen sie mit unterschiedlichen Ansätzen und unterschiedlichen Partnern. Das ist so gewollt, und es kann auch nicht anders sein.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Unterstützen Sie bitte Herrn Bundesminister Spranger bei seinen Bemühungen zur Sicherung eines den Aufgaben des BMZ angemessenen Etats. Ich habe Ihre Bemerkungen, Herr von Schmude, über das Thema Stiftungen natürlich mit Interesse und Wohlgefallen gehört.
Neben der Technischen und Finanziellen Zusammenarbeit gilt es dabei, verstärkt auch den Bereich der politischen Bildung, der Politikberatung und des politischen Dialogs zu unterstützen. Auch wir, die politischen Stiftungen, werden unseren Beitrag zum Fortbestand des auf diesem Gebiet bislang Erreichten leisten. Wir werden den eingeschlagenen Weg der Kostenreduzierung, der Effizienzsteigerung und der Nutzung von Synergieeffekten konsequent fortsetzen. Wir wissen, daß wir mit dem Geld des Steuerzahlers sparsam umzugehen haben.
Stiftungsfinanzierung, meine Damen und Herren, ist keine verdeckte oder gar offene Parteienfinanzierung. Wer das behauptet, der hat sich mit den Aufgaben der Stiftungen nicht befaßt.
So überschreitet - um nur ein Beispiel zu nennen - meine eigene Stiftung, die Friedrich-Naumann-Stiftung, in ihrer Kampagne „Umdenken - Anstiftung zur Freiheit" nicht die vom Bundesverfassungsgericht gesetzten Grenzen. Ich habe Herrn Professor von Arnim, der bekanntlich zu unseren häufigen Kritikern gehört, angeboten, das einmal in einem öffentlich mit ihm geführten Streitgespräch vielleicht zu einem Ende zu bringen. Er hat zugesagt; wir suchen noch nach einem Termin.
Herr Minister Spranger, Ihnen und Ihren Mitarbeitern gilt für Ihre Bemühungen unser Dank. Vor kurzem hat eine wohlmeinende Journalistin eine Aufwertung und stärkere Profilierung ihres Ministeriums als Zukunftsministerium gefordert. Ich will hier keinen Anlaß zu neuen Spekulationen über zukünftige Ressortzuschnitte liefern, aber daß mit den Mitteln Ihres Hauses wichtige Zukunftschancen eröffnet werden, steht außer Frage. Die politischen Stiftungen wollen gerne dabei helfen.
Vielen Dank, meine Damen und Herren, für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. - Weitere Wortmeldungen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung liegen nicht vor.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern; das sind die Einzelpläne 06 und 33.
Das Wort zur Einbringung des Haushaltes hat zunächst Herr Bundesminister Manfred Kanther.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Der Kampf gegen das Verbrechen, der Kampf für die innere Sicherheit ist der Schwerpunkt der Innenpolitik dieser Bundesregierung.
Nach den herkömmlichen Gesetzen, die in unserem Fach gelten, wird die Richtigkeit dieser Politik immer dann ganz besonders ausgewiesen, wenn sich die Opposition der Regierung anschließt.
Es ist offenkundig, daß die SPD jetzt erklärt: Die Innenpolitik der Regierung ist richtig; so wollen auch wir sie haben. - Das ist zunächst einmal als Erfolg zu bewerten; denn was man gemeinsam tun kann, ist besser als das, was im Streite geschehen muß. Aber es ist zu fragen, ob es zutrifft, was da so vollmundig in Interviews erklärt wird und was in Abhakkalendern an Aktionen, die nötig seien, zusammengefaßt wird. Wenn man das glauben soll, muß mehr geschehen als das Geben von Interviews. Denn die Kriminalität ist eine Reflexion der gesellschaftlichen Umstände.
Die sozialdemokratische Gesellschaftspolitik vieler Jahre war in vielen einschlägigen Aspekten außerordentlich falsch: in der Erziehungspolitik, in der Familienpolitik, in der Ausländerpolitik, bei der Definition von „freihändigen" Gewaltbegriffen oder Widerstandsrechten. Wenn man bedenkt, was allein aus dem niedersächsischen Regierungslager im Umfeld von Castor-Transporten erschallt, dann muß man die Frage stellen: Ist eigentlich alles wahr, was an anderer Stelle nunmehr neu eingefordert wird?
Die Sicherheitspolitik braucht eine geistige Basis. Ich würde mich freuen, wenn wir uns auf die gleiche Basis verständigen könnten. Aber ich muß schon darauf hinweisen: Was etwa im Zusammenhang mit der Asylpolitik an Kübeln von Schmutz über uns ausgegossen worden ist,
während jetzt eine schnellere Abschiebung gefordert wird, das geht doch auf keine Kuhhaut!
Lassen Sie mich Ihnen einmal ein Zitat für ungezählte andere hier darbieten:
Die Staatsräson der Nazis war die Verfolgung ethnischer und politischer Minderheiten. Teil der
Bundesminister Manfred Kanther
Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland ist deren Schutz. ... Albrecht zerstört damit einen Teil unserer freiheitlichen Ordnung, deren Kraft sich gerade in Schwierigkeiten beweisen muß. Aber so sind sie, diese Patentchristen: Wenn es schwierig wird, geht die Ethik über Bord. Was bleibt, ist Machtwille, gestützt auf kalten Zynismus. Jeder Abgeordnete kann zeigen, wohin er gehört: auf die Seite des Anstands oder auf die der Unanständigkeit, auf die Seite der Moral oder die der Unmoral.
So Herr Schröder vor zehn Jahren. Deshalb müssen wir hinterfragen, ob es wahr ist, wenn er nun richtigerweise schnellere und mehr Abschiebungen von Ausländern ohne Bleiberecht und insbesondere von Straftätern fordert, zumal er doch so sehr zuständig wäre.
Aber 51,5 Prozent all derer, die ausreisepflichtig sind, tauchen in Niedersachsen ab. Im ganzen vergangenen Jahr sind vier Straftäter abgeschoben worden - bei 200 000 Ausländerdelikten im Lande. Das ist die Realität, und auch sie gehört zum Problem.
Wenn man sich mit Jugendkriminalität beschäftigt und dies auch noch mit starken Worten tut, dann muß daran erinnert werden, daß sich hier in besonderem Maße gesellschaftliche Umstände widerspiegeln, die auf Erziehung in Familien und Schulen fußen.
- „Sehr richtig" . - Aber das ist sehr schwierig, wenn man bedenkt, daß noch vor nicht langer Zeit einer Ihrer Kanzlerkandidaten erklärt hat, daß Pflichtgefühl eine Sekundärtugend sei, mit der man auch ein KZ betreiben könne. Wie wollen wir denn die Rechtsordnung bei jungen Leuten als eine einzuhaltende verankern, wenn wir Werte gleichzeitig so herabsetzen?
Ich wünsche mir, daß sich das bei denjenigen in der SPD wirklich ändert, von denen all diese endlosen Zitate stammen. Es geht ja nicht um alle in der SPD; ich will hier nicht alle über einen Leisten schlagen. Gerade im Innen-Fach gibt es ja viele Männer und Frauen, die anders denken. Aber wenn es eine grundsätzliche Umkehr der Sozialdemokratischen Partei in der Sicherheitspolitik geben soll, dann gehört auch die Aufarbeitung dieser offenkundigen Defizite dazu.
Ferner gehört ein Nachweis in der Praxis dazu, daß es nun anders hergehen soll. Was eigentlich braucht ein Politiker noch als eine absolute Mehrheit mit den eigenen Freunden, um genau die Politik zu machen, die er gerne machen möchte?
Deshalb ist doch die Frage, warum in den sozialdemokratischen Polizeigesetzen im Saarland, in Schleswig-Holstein und besonders in Niedersachsen zum
Beispiel die Polizeiaufgabe der Bewahrung der öffentlichen Ordnung unter dem Aspekt eines Pseudoliberalismus, der immer falsch war, eliminiert worden ist. Ich fordere die Verantwortlichen auf, ihre Polizeigesetze so zu ändern, daß sie zu ihren Interviews passen.
Ich fordere sie auf, ihre faktische Landespolitik so einzurichten, daß sie zu ihren Forderungen paßt.
Der Bundesgrenzschutz hat in den letzten Jahren 3 000 Beamte mehr erfahren, und die Aufwendungen für den Bundesgrenzschutz sind in den Haushalten von 1993 bis 1998 um über 40 Prozent gestiegen. Aber in Niedersachsen gibt es in den letzten drei Jahren 247 Planstellen für die Polizei weniger. Da muß doch erklärt werden, wie man damit mehr Sicherheit gewährleisten will.
Ich muß daran erinnern, daß im föderativen Staatsgebilde die Polizei und die Justiz ganz überwiegend Aufgabe der Länder sind. Es kann nicht zugelassen werden, daß man diese Aufgabe wegdrückt, indem man sich nur noch mit bundespolitischen Forderungen an die Gesetzgebung tummelt, aber die eigenen Schularbeiten höchst unzulänglich macht. Polizei und Justiz sind Länderaufgabe.
Die innere Sicherheit zu gewährleisten ist Länderaufgabe.
- Ganz entscheidend Länderaufgabe.
Der Bund hat seine gesetzgeberischen Schularbeiten gemacht oder ist zur Zeit dabei. Mit Grund sage ich das so: Wir haben das Anti-Korruptionsgesetz, das Verbrechensbekämpfungsgesetz, das BKA-Gesetz, das BGS-Gesetz und das Ausländergesetz novelliert. Wir stehen kurz vor der Novellierung der Gesetze betreffend Abhören und Geldwäsche.
Die gesetzgeberischen Schularbeiten sind im wesentlichen, jedenfalls dem Grunde nach, gemacht. Nun geht es um die Durchführung. Aber auch da sind die bundespolitischen Schularbeiten gemacht: mit der ins Haus stehenden BGS-Reform, mit den genannten Organisationsgesetzen. Nun muß durchgesetzt werden, was angeblich gemeinsamer politischer Wille ist.
Wir werden nicht zulassen, daß die Länder, insbesondere die sozialdemokratisch regierten, die Aufgabe ihrer Staatlichkeit im wesentlichen darin sehen, Entscheidungen zu bundespolitischen Themen zu blockieren, während sie zu Hause ihre eigenen sicherheitspolitischen Schularbeiten nicht machen.
Bundesminister Manfred Kanther
Sie müssen sich einmal die Statistiken vornehmen. Darin stehen Bayern und Baden-Württemberg, was die Aufklärungsquote anbetrifft, mit einem riesigen Abstand vor den norddeutschen Ländern. Die langfristig stetige Sicherheitspolitik unionsgeführter Landesregierungen hebt sich sichtbar von der sozialdemokratischer Landesregierungen ab. Diese Länderaufgabe gilt es hier zu betonen.
Ich habe einen Vorschlag für eine völlig neue Sicherheitspolitik in den besonders gefährdeten Großstädten gemacht. Maßnahmen sind dringend erforderlich, wenn wir die Sorgen unserer Mitbürger ernst nehmen;
denn das Bild wird insbesondere von den Erlebnissen und den Vorgängen zumindest in einigen Großstädten geprägt. Hier müssen wir aus amerikanischen Erfahrungen lernen, ohne sie blind abkupfern zu wollen.
Dieser Vorschlag wurde in den letzten Tagen von den Bundesländern damit beantwortet, daß gesagt wurde: Ja, Herr Kanther, schicken Sie doch einmal 100 Leute vom BGS. Dann ist das neue Sicherheitskonzept in Ordnung. -
Das wird ganz sicher nicht geschehen.
Ein neues großstädtisches Sicherheitskonzept verlangt nach neuen Ansätzen in der praktischen Politik, auch nach neuen geistigen Ansätzen. Für die Sicherheitsarbeit in der Großstadt ist der Ordnungsbegriff wesentlich. Dort müssen großstädtische Verwaltungen und Sicherheitsbehörden zusammenarbeiten, um Prävention und Verbrechensbekämpfung zu stärken. Dort muß die Justiz in einem stärkeren Maße, als es heute geschieht, ihren Sicherheitsauftrag reflektieren. Dort muß insbesondere gegen die Alltagskriminalität, auch gegen solche mit einem geringeren Unrechtsgehalt, vorgegangen werden. Es darf nicht von Bagatellkriminalität und von der Freigabe von Drogen in Apotheken geredet werden.
Man darf nicht die Leute verwirren und die Hemmschwelle senken, statt sie zu verteidigen. Das alles sind die grundlegenden Ansätze eines neuen Konzepts. Es geht nicht darum, daß der Bund 100 Beamte des Bundesgrenzschutzes an die Seite der Landesregierung stellt.
Ich würde mich freuen, wenn es zu mehr Gemeinsamkeit in der Praxis käme. Das aber bedeutet, daß die Landespolitiker in diesem Sinne tätig werden müssen und sich damit als glaubwürdig erweisen.
Ich freue mich, daß sich die Sozialdemokraten der Politik anschließen wollen, die wir, auch ich, immer unbeirrt vertreten haben,
insbesondere in wesentlichen Fragen der Ausländerpolitik. Nur, Ihre Kandidaten müssen das noch mit der Verheißung in Einklang bringen, daß die Zukunft der ganzen Bundesrepublik rot-grün aussehen soll. Ein institutionalisierteres Sicherheitsrisiko als eine Koalition mit den Grünen kann es doch allen Erfahrungen nach gar nicht geben.
Das Polizeigesetz, das Herr Schröder jetzt nachzubessern verheißt, stammt doch aus rot-grüner Feder.
Was aus der Arbeit des hessischen grünen Justizministers lädt zum Nachmachen oder gar zur Übertragung auf die Bundesebene ein? Was machen denn Ihre rot-grünen Landesregierungen als erstes angesichts des gefundenen Kompromisses zu den Themen des Abhörens und der Geldwäsche? Sie erklären, sie werden sich im Bundesrat der Stimme enthalten. Sie können aber doch die Sicherheitspolitik, die Sie uns ansinnen und die Sie mit rotgrüner Mehrheit durchsetzen wollen, in diesem Hause auf gar keinen Fall mit Enthaltung durchbringen.
Das heißt also, bevor das sicherheitspolitische Godesberg der Sozialdemokraten glaubwürdig ist, muß es in der Praxis dort nachgewiesen werden, wo Sie selbst Verantwortung tragen.
Wir haben die Sicherheitspolitik zu einem Hauptaspekt der Koalitionsarbeit gemacht.
Sie hat sich in den vier Jahren, die ich jetzt im Amt bin, als der wesentliche und vorankommende Aspekt der eigenen Arbeit erwiesen. Das, was wir miteinander anpacken wollen, ist geschehen. Es hat häufig Ihren Widerspruch gefunden. Ich freue mich, wenn es jetzt in wesentlichen Fragen Ihre Zustimmung findet. Aber ich weiß nicht, ob das so bleiben wird.
Wenn man schnellere Verfahren vor deutschen Gerichten fordert, darf man nicht, wie zuletzt die Herren Voscherau und Schröder, der Hauptverhandlungshaft hier im Hause und im Bundesrat widersprechen. Das paßt nicht zueinander.
Es geht gerade in der Sicherheitspolitik darum, glaubwürdig zu sein. Diese Glaubwürdigkeit ist etwas, was wir mit vielen praktischen Punkten der Gesetzgebung und des Vollzuges - ich verweise auf die hohen Aufwendungen für die Sicherheitskräfte des Bundes, BKA und Bundesgrenzschutz - immer nachgewiesen. haben.
Bundesminister Manfred Kanther
Ich freue mich, wenn wir auf eine Zeit der Gemeinsamkeit als einem Hauptanliegen unserer Bürge] zugehen sollten, aber nicht nur durch ein Abhaken von vordergründigen Handlungskalendern, sondern durch die geistige Fundierung von Sicherheitspolitik. Ich hoffe das, aber ich möchte es gern in der Praxis nachgewiesen wissen.
Danke sehr.
Jetzt hat der Abgeordnete Otto Schily das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Bisher habe ich einigen Pressebemerkungen, daß der Kabinettsposten von Herrn Kanther gefährdet sei, keinen Glauben geschenkt. Aber nach dieser hochfahrenden, aggressiven Rede, die Sie gehalten haben, Herr Kanther,
muß ich den Eindruck haben, daß meine Skepsis nicht so ganz falsch zu sein scheint. Vielmehr müssen Sie offenbar um Ihren Kabinettsposten kämpfen. Ich weiß nur nicht, ob Ihnen das auf diese Weise gelingt.
Es ist bedauerlich, daß Sie versuchen, ein Ergebnis, das wir gemeinsam in mühsamen Verhandlungen erreichen wollten, in anmaßender Form nun so zu interpretieren, als ob wir nur Ihre Forderungen abgehakt hätten.
So war es gewiß nicht. Wer die Verhandlungen kennt, weiß, daß wir uns, wie ich finde, in einem fairen und freimütigen Meinungsaustausch aufeinander zubewegt haben. Sie sollten eine solche Möglichkeit gemeinsamen Handelns nicht durch derartige Reden in Gefahr bringen.
Am 26. Mai 1994 hat der Bielefelder Polizeipräsident Horst Kruse in einem Vortrag vor der FriedrichEbert-Stiftung seine Überlegungen zur Kriminalitätsbekämpfung unter das Leitmotiv gestellt: Mehr Sicherheit durch Zusammenarbeit. Er hat in diesem Zusammenhang zugleich vor der Illusion gewarnt, die juristische Regelung eines Sachverhalts der tatsächlichen Problemlösung gleichzusetzen.
In der Tat, verehrte Kolleginnen und Kollegen, brauchen wir ein breites gesellschaftliches Bündnis gegen Kriminalität und gegen Gewalt. Wenn diese Erkenntnis an Boden gewinnt - ich zitiere noch einmal Horst Kruse -, wird sich auch zunehmend die Überzeugung durchsetzen, daß die Gewährleistung der inneren Sicherheit nicht nur Sache von Polizei und Justiz ist, sondern letztlich jeden einzelnen von uns angeht.
Um den Gefahren für die innere Sicherheit zu begegnen, die insbesondere in Gestalt der organisierten Kriminalität besonders bedrohliche Ausmaße erreicht haben, ist die Sozialdemokratie zur Zusammenarbeit im Bund, in den Ländern und in den Kommumen, wo immer sie möglich ist, bereit.
In diesem Sinne ist es zu begrüßen, daß wir in den Verhandlungen über ein Gesamtkonzept zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität einen guten Kompromiß gefunden haben, der hoffentlich auch die Zustimmung dieses Hauses finden wird, einen Kompromiß, der die Möglichkeiten zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität deutlich verbessert und zugleich garantiert, daß staatliches Handeln an rechtsstaatliche Grundsätze gebunden bleibt. Mit Ruhe und Respekt sollte jedoch auch das Gespräch mit jenen gesucht werden, die Vorbehalte gegen die Einschränkung des Grundrechts in Art. 13 geltend machen. Die Unverletzlichkeit der Wohnung, die in Art. 13 des Grundgesetzes verbürgt wird, ist ein hohes Gut, dessen Rang außer Zweifel stehen sollte. In einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat muß - das ist meine tiefe Überzeugung - das Individuum einen Raum haben, in dem er nur für sich ist und in dem er der Kontrolle und Aufsicht des Staates entzogen bleibt. Das ist übrigens ein Unterscheidungsmerkmal zum totalitären Staat, der in alle Lebensverhältnisse des Menschen eindringt und sich ihrer bemächtigt.
Der Staat hat aber nicht nur die Pflicht, das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung zu achten und zu schützen, sondern er steht ebenso in der Verantwortung, die Menschen in ihren anderen Grundrechten zu schützen, in ihrem Grundrecht auf Leben, auf körperliche Unversehrtheit, auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit und auf Wahrung ihrer Würde.
Durch die sich ausbreitende organisierte Kriminalität sind diese Grundrechte in hohem Maße bedroht. Wenn beispielsweise in Europa, leider auch in Deutschland, Frauen in großer Zahl von gewissenlosen Verbrecherbanden verschleppt und zur Prostitution gezwungen werden, ist das eine massive Verletzung von Grundrechten, denen der Staat ebenso wie anderen Formen des organisierten Verbrechens nicht tatenlos zusehen kann.
Deshalb muß, wenn alle anderen Mittel zur Strafverfolgung nicht zum Ziel führen, in Ausnahmefällen auch das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung zurückstehen, wenn es um die Aufklärung schwerster Verbrechen geht. Selbstverständlich muß ein solcher Eingriff in das Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung immer am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gemessen werden und darf nur letztes Mittel bei der Strafverfolgung sein. Wir überschätzen dabei keineswegs - um auch diesem Mißverständnis zu begegnen - die Erfolgschancen einer akustischen Wohnungsüberwachung. Wir folgen aber dem Rat von Experten, darunter Luigi Violante, dem italienischen Parlamentspräsidenten und früheren Vorsitzenden des Anti-Mafia-Ausschusses, der uns dringend empfohlen hat, auch die akustische Wohnungsüberwachung zur Strafverfolgung zuzulassen, nicht zuletzt um die internationale Zusam-
Otto Schily
menarbeit bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität zu unterstützen.
Die weitaus größere Bedeutung bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität hat für uns der Zugriff auf kriminell erworbenes Vermögen. Das Bündel von Maßnahmen, das wir vorgesehen haben, wird es Polizei und Justiz ermöglichen, das organisierte Verbrechen an der empfindlichsten Stelle zu treffen, dem Geld. Wir verdanken es der Initiative meines Fraktionskollegen Jürgen Meyer, daß wir ein weiteres wichtiges Instrument mit einsetzen, nämlich das Steuerrecht, was in anderen Rechtsgebieten heute schon zu erheblichen Erfolgen führt.
Ich will Sie, wenn Sie schon diese hochfahrende Rede hier heute gehalten haben, Herr Kanther, daran erinnern, daß das Wirtschaftsministerium noch in letzter Minute versucht hat, diese Regelung abzuschwächen und diese Maßnahme aus dem Paket herauszubekommen.
Wir hoffen, daß es außerdem gelingt, zusätzlich im Polizeirecht entsprechende Regelungen zu verankern. Ohnehin kann das, was wir vereinbart haben, nur Teil einer Gesamtstrategie zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität sein.
Leider verweigern Sie sich insbesondere einer Neuorientierung in der Drogenpolitik. Mit Recht hat der angesehene frühere Präsident des Bundeskriminalamtes, Herr Zachert, auf folgendes hingewiesen - ich zitiere -:
Die gebotene Aburteilung organisierter Straftäter hat langfristig nur Sinn, wenn gleichzeitig die von den Tätern genutzten Logistikstrukturen aufgebrochen und die Beschaffungs- und Absatzmärkte zerstört werden.
Ohne eine solche Gesamtstrategie dürfte eine bloß strafrechtliche Verurteilung der OK-Straftäter langfristig eher zu einer Stärkung besonders gefährlicher Straftäterorganisationen führen als zu deren Zerschlagung.
Ich denke, daraus sollten auch Sie, Herr Geis, die notwendigen Konsequenzen ziehen.
Innerhalb einer Gesamtstrategie zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität muß ferner die internationale Zusammenarbeit intensiviert werden. Insbesondere muß unter anderem das Europol-Abkommen zügig ratifiziert und umgesetzt werden. Die sicherheitsrelevanten Rechtsbereiche müssen vergemeinschaftet werden. Defizite der Durchführungsbestimmungen des Schengener Abkommens müssen bereinigt werden. Gemeinsam müssen international arbeitende Ermittlungsgruppen zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität gebildet werden.
Nebenbei sei angemerkt: Wir müssen nicht zuletzt auf punktgenauen Einsatz der knappen Ressourcen von Justiz und Polizei achten. Wenn beispielsweise die Staatsanwaltschaft ein halbes Jahr damit verbringt, herauszufinden, ob die bekannte Wehrmachtsausstellung in irgendeiner Weise strafrechtliche Bedeutung hat, muß man sich nicht wundern, daß anderswo Kapazitäten zur Strafverfolgung fehlen.
Wenn die Polizei zur Überwachung der Einhaltung von Parkverboten eingesetzt wird, dann muß man sich, denke ich, nicht wundern, daß es anderswo an den notwendigen Polizeikräften mangelt.
Die innere Sicherheit, meine Damen und Herren Kollegen, wird nicht nur - das wissen wir alle - durch das organisierte Verbrechen, sondern auch durch die sogenannte Alltagskriminalität bedroht, wobei - das sollte nicht übersehen werden - die sogenannte Alltagskriminalität häufig zum Aktionsfeld der organisierten Kriminalität gehört.
Alltagskriminalität wird in der Bevölkerung unmittelbar wahrgenommen. Zunehmende Gewalttätigkeiten in den Großstädten, eine besorgniserregende Entwicklung der Jugendkriminalität, Drogenhandel, Wohnungseinbrüche, Taschendiebstähle, Betrügereien und ähnliches beeinträchtigen das Sicherheitsgefühl der Menschen. Der Staat ist in der Pflicht, Rechtsverletzungen zu unterbinden und die Menschen vor Straftaten zu schützen.
Auch auf dem Gebiet der Alltagskriminalität erreichen wir mehr Sicherheit nur durch Zusammenarbeit. So wichtig wirksame Strafverfolgung durch Justiz und Polizei ist - wichtiger ist die Prävention, die Verbrechensvorbeugung. Auf diesem Gebiet ist noch viel zu tun.
Selbstverständlich, Herr Kanther - Sie haben das erwähnt -, sind wir bereit, auf Ihren Vorschlag einzugehen, in deutschen Großstädten unter Federführung der jeweiligen Landespolizei Modellversuche zur Kriminalitätsbekämpfung unter Mitwirkung des Bundesgrenzschutzes zu beginnen. Herr Glogowski hat diese Anregung bekanntlich aufgenommen. Sie hätten ihm nicht so antworten sollen, wie Sie das heute hier im Bundestag getan haben.
Ihre Anregung - manches, was Sie in Pressemeldungen verlautbaren, ist von gleicher Art und Güte -, in den Städten und Kommunen Polizeiarbeit gemeindenah zu gestalten und Sicherheitsräte oder Bürgerkomitees einzurichten, kommt allerdings ein wenig spät; denn diese Sicherheitsräte gibt es seit Jahren. Sie nennen sich unterschiedlich, haben aber dieselbe Zielsetzung. Ob deren Arbeit noch verbesserungsbedürftig ist, sollten wir gemeinsam vorurteilsfrei prüfen.
Otto Schily
Soweit Sie auch Kräfte des Bundesgrenzschutzes für eine dezentrale Verbrechensbekämpfung anbieten, sollten Sie, Herr Innenminister Kanther, Ihre Planungen im Bereich der Strukturreform des Bundesgrenzschutzes überdenken und Einheiten des Bundesgrenzschutzes weiterhin dort stationieren, wo sie benötigt werden.
Verbesserung und Intensivierung von Kriminalitätsbekämpfung haben im übrigen zur Voraussetzung, daß wir uns nicht an Schlagworten orientieren, sondern mit großer Sorgfalt daran arbeiten, unsere Erkenntnisse über Erscheinungsformen der Kriminalität auszuweiten und zu präzisieren.
Leider hat die Bundesregierung die Anregungen meines Fraktionskollegen Frank Hofmann bis heute nicht aufgenommen, ein Sachverständigengremium zur Beurteilung der Sicherheitslage der Bundesrepublik Deutschland einzurichten, das periodisch einen Sicherheitsbericht erstellt und die unterschiedlichen Statistiken - Kriminalstatistik, Strafverfolgungsstatistik usw. - mit dem Ziel verknüpft, ein besseres Lagebild der Kriminalitätsentwicklung zu liefern.
Nur auf einer solchen Grundlage - auch das sollte Sie interessieren, Herr Marschewski -, die die qualitativen Komponenten bei der Auswertung kriminalpolizeilicher Erkenntnisse stärker berücksichtigt und die Ergebnisse der kriminologischen Forschung einbezieht, ist eine zuverlässige Analyse der Erscheinungsformen von Kriminalität möglich. Ohnehin ist eine allzu forsche Wortwahl in Fragen der Innenpolitik unangebracht.
Innenpolitik muß Aggression abbauen und darf sie nicht fördern. Es ist sicherlich zulässig und sogar notwendig, ohne Beschönigungsversuche zu prüfen, ob und auf welchen Gebieten Ausländer an bestimmten Deliktsformen überproportional beteiligt sind. Aber pauschale und vergröbernde Schuldzuweisungen sollten wir tunlichst unterlassen.
Ich rate im übrigen zur Vorsicht gegenüber Anwandlungen, Modelle aus Übersee oder anderswo umstandslos zu übernehmen.
Wer uns die Erfolge der Polizei in New York anpreist und deren Methoden zur Nachahmung empfiehlt, sollte daran erinnert werden, daß allein in New York immer noch dreimal soviel Morde begangen werden wie in ganz Deutschland.
Verbrechensvorbeugung gelingt dann am besten, wenn wir die Gesellschaft gegen Kriminalität immunisieren. Nun hören Sie gut zu, Herr Marschewski: In einer Gesellschaft jedoch, in der der soziale Zusammenhalt brüchig wird, in einer Gesellschaft, die vielen Jugendlichen die Teilhabe an Ausbildung und am Arbeitsleben verweigert, in einer Gesellschaft, in der die Gerechtigkeit notleidend wird, nehmen die Abwehrkräfte gegen Verbrechen ab.
Justiz und Polizei können nie und nimmer die Versäumnisse aufholen, die der Bundesregierung und der Koalition auf den Gebieten der Wirtschafts- und Sozialpolitik, der Bildungs-, der Finanz- und Steuerpolitik anzulasten sind.
Wenn wir diesen Zusammenhang aus dem Auge verlieren, verkommt Strafjustiz zu einer Alibiveranstaltung, die von den wahren Ursachen gesellschaftlicher Fehlentwicklungen ablenkt.
Herr Kanther, da Sie von der „geistigen Basis" gesprochen haben: Ich weiß gar nicht, wo Ihre geistige Basis ist. Ich kenne Ihre geistige Basis nicht. Weil Sie hier ein Pflichtgefühl beschwören, sage ich Ihnen: Wenn Pflicht nicht mit Werten verbunden ist, dann kann Pflichtgefühl in der Tat vom Staat mißbraucht werden, wie wir das in der dunkelsten Vergangenheit Deutschlands leider erlebt haben. Daran sollten Sie sich orientieren, und darüber müssen Sie mit Jugendlichen sprechen.
Deshalb dürfen wir uns keinesfalls auf törichte Vorschläge einlassen, das Strafmündigkeitsalter herabzusetzen.
Ich halte auch nichts davon, Kinder zu vermeintlichen Erziehungszwecken in geschlossenen Heimen unterzubringen. Solche Überlegungen führen in die Irre. Ein Kind einzusperren, weil die Erziehung durch Familie und Gesellschaft scheitert, ist die erbärmlichste Antwort auf eigenes Versagen.
Wir sollten aber auch einsehen, daß die zunehmende Gewaltbereitschaft unter Jugendlichen mit anderen gesellschaftlichen Strukturen etwas zu tun hat: mit dem geistig-kulturellen Umfeld, mit verfehlter Erziehung, mit einer Verschandelung des Menschenbildes und nicht zuletzt mit den verrohenden und brutalisierenden Suggestivbildern, mit denen wir Kinderseelen überfluten und verwüsten.
Otto Schily
Das läßt sich auch nicht durch beschwörerische Formeln vom Werteverfall und ähnlichem kompensieren.
Ich denke, Sie sollten die Shell-Jugendstudie einmal sehr intensiv lesen. Daß die Politik insgesamt bei der Jugend an Ansehen eingebüßt hat, werden Sie nicht durch Appelle ausgleichen, sondern nur durch selbstkritische Prüfung, ob Worte und Taten in der Politik wirklich übereinstimmen.
- Das gilt für alle.
Wir werden uns zudem fragen müssen, ob die Legitimationsverluste des Staates ganz allgemein nicht auch dadurch zustande kommen, daß eine durchgreifende Modernisierung der Verwaltung und des Staatsapparates bis heute nicht gelungen ist.
Ungeachtet vieler verdienstvoller Ansätze in den Kommunen hat die Bundesregierung auf diesem Gebiet außer zahllosen Ankündigungen so gut wie nichts zustande gebracht.
Sie versäumt die Chance, den Umzug von Bonn nach Berlin für eine grundlegende Reform auf der Bundesebene zu nutzen. Sie war nicht bereit, die Dienstrechtsreform mit einer umfassenden Reform der Verwaltung zu verbinden. Dadurch läßt sie viele Möglichkeiten brachliegen, erhebliche Effizienzgewinne zu erzielen, die den Bundeshaushalt in nicht unbeträchtlichen Größenordnungen entlasten könnten.
Von einer Bundesregierung, die offen eingesteht, daß sie im letzten Jahr der Legislaturperiode ihre Arbeit einstellt und nur noch Wahlkampf betreiben will, kann leider eine notwendige und durchdachte Verwaltungsmodernisierung nicht erwartet werden.
Zur Negativbilanz Ihrer Innenpolitik gehört schließlich, daß Sie bis heute ungeachtet aller Versprechungen und Ankündigungen kein Konzept zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts und zur Steuerung von Zuwanderung vorgelegt haben. Wer aber die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts verweigert, erschwert und verhindert die Integration von vielen Menschen, die zu Unrecht noch Ausländerinnen und Ausländer genannt werden.
Diesen Menschen wird ein Rechtsstatus vorenthalten, der sie zu gleichberechtigten Bürgerinnen und Bürgern dieses Staates macht. Ein veraltetes, ethnisch verortetes Staatsverständnis hindert Sie daran, ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht zu schaffen, in dem das Abstammungsprinzip mit dem Territorialprinzip verbunden wird.
Eine angstbesetzte Abwehrhaltung hindert Sie daran, sich auf ein modernes Zuwanderungskonzept einzulassen, in dem Zuwanderung nicht als Verhängnis, sondern als kulturelle und wirtschaftliche Bereicherung unseres Landes verstanden wird, das aber zugleich nicht in den wirklichkeitsfremden Irrtum verfällt, daß unbegrenzte Zuwanderung möglich sei.
Innenpolitik verträgt am allerwenigsten ein Entweder-Oder. Wer Kriminalität wirksam bekämpfen will, muß umsichtige und umfassende Kriminalitätsvorbeugung mit einer entschlossenen Bekämpfung der akut auftretenden Kriminalität verbinden. Wer die Verwaltung modernisieren will, sollte staatliche Bürokratie dort abbauen, wo es vernünftig ist, und zugleich staatliche Institutionen dort verstärken, wo sie zur Aufgabenerfüllung besser geeignet sind. Wer den inneren Frieden wahren will, muß Integration und Steuerung der Zuwanderung als gleichgewichtigen Bestandteil einer Gesamtaufgabe verstehen.
Eine ausgewogene moderne Innenpolitik kann von dieser Bundesregierung nicht erwartet werden. Dazu bedarf es einer Erneuerung der Politik. Dazu wird im nächsten Jahr Gelegenheit sein.
Jetzt hat der Abgeordnete Klaus-Dieter Uelhoff das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bevor ich auf den Regierungsentwurf zum Innenetat, den Einzelplan 06, der immerhin 8,7 Milliarden DM umfaßt, eingehe, möchte ich sagen, daß die Rede, die hier gewissermaßen als Prolog zum Wahlkampf von Ihnen, Herr Kollege Schily, gehalten worden ist, nach einer Replik verlangt. Weil es mich in der Sache interessiert, habe ich das Bundesratsprotokoll vom letzten Freitag gelesen.
Ich erinnere insbesondere Sie, der Sie hier den Eindruck erweckt haben, als würden Sie im Kreis von Blauäugigen reden, die ein schlechteres Gedächtnis haben, als ich Ihnen unterstelle, daran, daß im Protokoll zu lesen ist, wie lange man im Bundesrat beispielsweise über das Verbrechensbekämpfungsgesetz diskutiert hat, bei dem es um die Beschleunigung des Verfahrens ging.
Ich habe dort nachgelesen, wie lange man über eine Novelle zur StPO geredet hat, bei der es um die Hauptverhandlungshaft ging. Ich erinnere gerade Sie, der Sie ein Verdienst daran haben, daß es endlich zu einer elektronischen Überwachung von Gangsterwohnungen kommt, daran, wie lange Ihre Parteifreunde in den Landesregierungen im Bundesrat und auch anderswo blockiert haben, bevor es endlich zu diesem Gesetz zur elektronischen Überwachung von Gangsterwohnungen kommen konnte.
Seit 1990 diskutieren wir doch darüber. Sieben kostbare Jahre sind vergangen, bis Sie endlich Ihr sicher-
Dr. Klaus-Dieter Uelhoff
heitspolitisches Godesberger Programm erkannt haben.
Ich kann Ihnen, Herr Schily, und Ihren Parteigenossen der SPD nur wünschen, daß das alles ernst gemeint ist, so wie es Minister Kanther hier gesagt hat. Wir hoffen, daß es ernst gemeint ist. Sie haben aber dem Minister, als er die berechtigte Sorge äußerte, ob es Wahlkampfgeklingel oder wirklich ernst gemeint sei, vorgeworfen, er habe eine hochfahrende Rede gehalten. Sie, Herr Kollege Schily, haben eine unglaublich arrogante und hochfahrende Rede gehalten und überhaupt nichts von dem verstanden, was Minister Kanther hier gesagt hat.
Sie haben dem Minister abgesprochen, daß er sich über die Werte geäußert hat. Die Werte, um die es geht, sind leider in der Folge der Jahre uni 1968 in Mißkredit geraten. Ich frage Sie: Wie haben Sie es denn gehalten, als Sie von Gewalt gegen Sachen und Personen geredet haben? Haben Sie nicht mit dazu beigetragen, daß es hier zu diesem feinen Unterschied und zu einer Verschiebung kommt? Ich frage Sie danach.
Ich könnte Ihnen noch andere Beispiele nennen. Aber ich will Ihnen nur das eine sagen: Ich hoffe mit dem Bundesminister Kanther und den Freunden der Koalition, daß das, was jetzt angeleiert worden ist, auch im Bundesrat, was dort von den Ministerpräsidenten in erfreulicher Übereinstimmung gesagt worden ist, ernst gemeint ist.
- Nein, vorläufig lasse ich keine Zwischenfrage zu. Ich will noch einiges sagen.
- Entschuldigen Sie einmal, ich spreche gerade. Ich möchte meine Ausführungen zu Ende bringen.
Ich will Ihnen noch eines sagen. Es ist davon geredet worden, der niedersächsische Ministerpräsident sei vom Saulus zum Paulus geworden. Ich kenne mich ein bißchen in der Bibel aus. Ich erinnere daran, daß Saulus von Tarsos auf dem Wege nach Damaskus vom Blitz getroffen wurde und, als er dann wieder aufwachte, erkannte, daß er im vergangenen Leben völlig falsch gearbeitet hat und etwas völlig Neues machen wollte.
Ich bin noch nicht bereit, den Ministerpräsidenten von Niedersachsen mit Paulus zu vergleichen.
Ich will es etwas konkreter sagen. Mich erinnert dies an Grimms Märchen. Ich erinnere Sie an das Märchen vom Wolf und den sieben Geißlein, in dem ein kreidefressender Wolf auftauchte, der eine verheerende Wirkung auf die sechs Geißlein hatte, die sich hinterher im Magen des Wolfes wiederfanden.
Ich hoffe, daß Herr Schröder nicht ein kreidefressender Wolf war. Er hat die Chance, durch seine Taten, zum Beispiel durch eine Änderung des Landespolizeigesetzes in Niedersachsen, zu beweisen, daß er es so meint, wie er sagt.
Daß die Bundesregierung - damit komme ich zum Einzelplan 06 - den Bereich der inneren Sicherheit sehr ernst nimmt und in Taten und ganz konkret im Haushalt auch in Moneten deutlich macht, können Sie daraus entnehmen, daß sogar mehr als ein Drittel dieses Etats für den Bereich der inneren Sicherheit ausgegeben wird.
Der Bundesgrenzschutz und das Bundeskriminalamt sind die Herzkammern des Etats beim Bereich der inneren Sicherheit. Es gibt eine Steigerung in diesen Bereichen, die überdimensional ist, weil es als notwendig erkannt worden ist. Wir haben eine Steigerung in diesem Bereich des Innenetats von 3,1 Prozent, der im übrigen - wie auch anderswo - sehr sparsam ausgefallen ist.
Wir haben beispielsweise im Gegensatz zu Niedersachsen in den letzten fünf Jahren 5 400 neue Planstellen für BGS-Beamte bekommen, so daß man jetzt etwa bei der Zahl von 30 000 ist, wie sie der Bund mit der Innenministerkonferenz der Länder vereinbart hat. Wir haben durch übereinstimmende Beschlüsse im Haushaltsausschuß auch bei den Beförderungen Nachbesserungen ermöglicht, so daß etwa 22 000 Beförderungen beim Bundesgrenzschutz in den letzten Jahren möglich waren und damit auch erheblich zur Motivation der Beamten beigetragen worden ist.
Aber ich will in diesem Zusammenhang kritisch deutlich machen: Der Bundesgrenzschutz ist in seiner Planstellenfiguration noch nicht da, wo die Länderpolizeien sind. Es wird eine wesentliche Aufgabe auch der nächsten Jahre sein, in dieser Richtung - wie wir es übrigens in den letzten drei Jahren sehr übereinstimmend im Haushaltsausschuß und mit den Innenpolitikern gemacht haben - fortzufahren.
Ich meine, die Kritiker müssen sich schon die Frage gefallen lassen, welches Bundesland in vergleichbarer Weise seine Anstrengungen für die Landespolizei in den letzten Jahren so verstärkt hat, wie es der Bund bei dem Bundesgrenzschutz getan hat.
In diesem Zusammenhang möchte ich bei der Beratung des Einzelplans 14 die großartige Leistung der Bundeswehr bei der Erhaltung der Dämme an der Oder würdigen.
Ich möchte für sie alle deutlich machen, daß wir mit großem Respekt und großer Anerkennung den Beamten des Bundesgrenzschutzes, die auch über die grenzschützende Tätigkeit hinaus an der Oder ihre Pflicht getan haben, genauso danken wie den hauptamtlichen und ehrenamtlichen Helfern des Technischen Hilfswerks.
Dr. Klaus-Dieter Uelhoff
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gab im Bundesrat eine erfreuliche Diskussion zum Thema innere Sicherheit. Ich hoffe, daß jetzt seitens der Sozialdemokraten im Bund und in den Ländern Taten folgen.
Ich will aber, da wir uns hier über den Einzelplan 06 unterhalten, nicht nur etwas über das eine Drittel innere Sicherheit - so wichtig es ist - sagen, sondern ein weiteres wichtiges Problem ansprechen, das den Innenetat belastet. Immerhin sind 50 Prozent der Ausgaben dort für Personal vorgesehen. Dies ist in einem Bereich, in dem die Verwaltung eine große Rolle spielt, eine normale Angelegenheit. Aber ich finde, daß es zwei große Problembereiche gibt, nämlich die Gauck-Behörde und das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, BAFI. Zu dem Zeitpunkt, als sie gegründet wurden, hatten sie einen riesigen Personalbedarf. Nachdem es endlich zu einem vernünftigen Asylrecht gekommen war, bestand ziemlich schnell nicht mehr die Notwendigkeit eines so hohen Beamtenbesatzes. Der Bundesinnenminister sitzt allerdings auf einem beachtlichen Sockel von Planstellen, die er nicht ganz schnell loswerden kann. Es ist - wahrscheinlich für den gesamten Bereich dieser Bundesregierung - vorbildlich gewesen, mit welch einer Penetranz - ich bezeichne das einmal so - und mit welch einer verbindlichen Konsequenz der Bundesinnenminister die Personalpolitik in seinem Hause gefahren hat.
Wir können mit Freude feststellen, daß dem Willen des Parlaments, 1,5 oder gar 2 Prozent Planstellen abzubauen, im Bundesinnenministerium mit großem Erfolg entsprochen worden ist.
Wir haben im Bereich des Einzelplans 06 in den letzten fünf Jahren einen Abbau von 226 Stellen zu verzeichnen.
Es ist durchaus aller Anerkennung wert, daß ein Ministerium deutlich gemacht hat: 226 Stellen weniger, so wie es der übereinstimmende Wunsch des Parlaments war. Herr Minister, ich glaube, ohne Ihre Konsequenz und Penetranz wäre dies so nicht möglich gewesen.
Wir haben darüber hinaus einen Etat in einer Figuration, wie er bisher nicht gewesen ist, nicht nur im Einzelplan 06, sondern auch sonst. Denn es gibt, ausgehend von den Erfahrungen, die wir mit der Budgetierung insbesondere im Innenetat gemacht haben, jetzt eine Flexibilisierung über den gesamten Bundeshaushalt, so wie er im Entwurf des Haushaltsgesetzes 1998 und auch in dem hier in den nächsten Wochen zur Beratung anstehenden Gesetzentwurf zur Fortentwicklung des Haushaltsrechts von Bund und Ländern vorgesehen ist.
Dies ist deshalb sehr wichtig, weil es in der Frage des Haushalts und der Haushaltsberatungen zu einer gravierenden Änderung kommen wird. Die größere Flexibilisierung besagt nämlich, daß mehr Verantwortung vor Ort möglich gemacht wird, daß der einzelne Mitarbeiter, die einzelne Verwaltungseinheit sehr viel selbstverantwortlicher mit dem Geld der Steuerzahler umgehen können. Um nur drei Kernpunkte zu nennen: erstens volle Deckungsfähigkeit innerhalb von verschiedenen Hauptgruppen - etwa Personalausgaben, sächlichen Ausgaben und Baumaßnahmen -, zweitens Deckungsfähigkeit in Höhe von 20 Prozent zwischen den Hauptgruppen und - das ist ganz wichtig - drittens die überjährige Verfügbarkeit nicht in Anspruch genommener Haushaltsmittel. Dies ist ein ganz entscheidender Punkt gegen das Dezember-Fieber, das wir in unseren Verwaltungen immer wieder mit Recht beklagt haben. Durch die Übertragung der Verantwortung vor Ort, durch die größere Flexibilisierung wird nicht nur ein effektiveres, sondern auch ein wirtschaftlicheres Verwaltungshandeln geradezu herausgefordert. Der Bericht des Bundesrechnungshofs war dazu sehr erfreulich. 100 Millionen DM Effizienzrendite, dies ist das im Innenetat allein dadurch freigemachte Sparpotential.
Meine Damen und Herren, ich möchte noch eine letzte Bemerkung zu einem weiteren Punkt machen, der weit von der inneren Sicherheit entfernt ist, aber in dem der Bund doch deutlich macht, daß auf ihn dann, wenn es um Kulturförderung geht, Verlaß ist.
Wenn der von mir sehr geschätzte Hans Zender, ein Musiker, ein namhafter Komponist und Dirigent, neulich bei der Verleihung des Goethe-Preises in Frankfurt als die beiden Hauptgegner der Kulturpolitik: die Medien und die öffentliche Haushaltspolitik nannte, hatte er bezüglich der Unterhaltungsindustrie sicher recht. Ich bin davon überzeugt, daß Fernsehen und Videos überhaupt nicht so viel Kultur vermitteln können, wie sie gleichzeitig zerstören.
Aber hinsichtlich der staatlichen Kulturpolitik und der Mittelkürzung beim Bund hat er nicht recht. Denn wir haben uns vor drei Jahren auf eine Budgetierung von etwa 690 Millionen DM verständigt. Der Bund fühlt sich für die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, für die Flaggschiffe, diese hervorragenden Einrichtungen in den neuen Bundesländern - gerade sind die Luther-Stätten Weltkulturerbe geworden -, in der Verantwortung. Hier läßt er auch niemanden hängen.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist der Denkmalschutz mit 45 Millionen DM. Noch niemals hat es in Deutschland einen so hohen Ansatz für Denkmalschutz gegeben. Wir werden uns bemühen, das „Dach-und-Fach-Programm", das wir gemeinsam vor zwei Jahren zum Schutz von heruntergekommenen, restaurierungsbedürftigen Einrichtungen in den neuen Bundesländern auf den Weg gebracht haben, so weiterzufahren wie bisher.
Gerade bei der Kulturpolitik hat der Einzeletat 06 schon in der Vergangenheit bewiesen, daß sich der
Dr. Klaus-Dieter Uelhoff
Bund seiner Verantwortung in dem Rahmen, den der Bund für die Kulturpolitik hat, nicht entzieht. Er wird dies kontinuierlich fortsetzen. Wir verstehen uns nicht nur als Kulturnation, sondern sind auch bereit, die materiellen Sicherheiten dafür zu geben. Wenn es im einzelnen noch Verbesserungsmöglichkeiten gibt, werden wir diese in den Haushaltsberatungen sicher im einzelnen nutzen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Rezzo Schlauch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Man kann eigentlich die Uhr danach stellen: Wenn von den politischen Marktschreiern die innere Sicherheit in die Öffentlichkeit gepuscht wird, dann ist Wahlzeit, dann wird auf Teufel komm raus gehobelt, und dann fallen grobe Späne. Diese bewirken alles, nur keine seriöse Diskussion und noch viel weniger Sicherheit für die Bürger.
Oft bewirken sie das Gegenteil von dem, was mit ihnen beabsichtigt wird. Die kostbaren Wählerstimmen, die man auf seine Schultern schaufeln will, landen nämlich ganz woanders. So ist es in Baden-Württemberg geschehen, wie viele von uns wissen.
Sie können eben nicht wie Herr Schröder den durchreisenden Drogendealer mit 4 Kilogramm Heroin mit dem hier in Deutschland geborenen ausländischen Jugendlichen mit ausländischem Paß, der hier aufgewachsen ist, eine Lehrstelle durchlaufen hat und wie seine deutschen Altersgenossen in seiner Jugendzeit mal eben auf die schiefe Bahn gerät, vergleichen und über einen Kamm scheren. Wir können doch nicht die Strafe für ein Fehlverhalten der hier in Deutschland aufgewachsenen Jugendlichen von Eltern ausländischer Herkunft davon abhängig machen, welchen Paß der Betreffende nun gerade hat.
Meine Damen und Herren, wenn in Hamburg einer durch die Stadt tingelt und ruft, die Kriminalität sei zu hoch, wir brauchten neue Gesetze, um die Verbrecher fassen zu können, und wenn er gleichzeitig die Staatsanwaltschaft unterbesetzt und ganze Stadtteile sozial verelenden läßt, weil er lieber nach den Pfeffersäcken schielt, dann werden ihm solche ideologischen Kampagnen auf die eigenen Füße fallen.
Der Kandidat aus Hamburg, der in seinem eigenen Kiez mit einer hausgemachten und im Vergleich zu anderen Großstädten erschreckend niedrigen Aufklärungsquote bei dem Delikt Raub aufwartet, und der Kandidat aus Hannover, einer Stadt, die offensichtlich führend in der Statistik über Jugendkriminalität ist, hätten besser erst vor der eigenen Tür gekehrt, bevor Sie in platter Weise nach dem eisernen Besen in Bonn rufen.
- Ich glaube, der Beifall von Ihnen kommt ziemlich falsch.
- Warten Sie nur ab, Sie kommen auch noch dran. - Dann hätten Sie sich vielleicht auch einmal darüber kundig machen können, daß in den letzten Jahren 40 Gesetze verabschiedet wurden, die alle an der Repressionsschraube gedreht haben.
Das hat zur Folge, daß es kein Defizit in der Gesetzgebung gibt - wir haben ja eine Inflation von Gesetzen -, sondern, wenn überhaupt, ein Defizit im Vollzug. Ich bin mit vielen Polizeipräsidenten in dieser Republik einig, die sagen, daß ein noch mehr an Sicherheit nur durch verstärkte Prävention, nur durch Vorbeugung zu erreichen ist. Es ist wichtiger - dahin gehend müssen wir unsere politischen Kräfte bündeln -, daß ein Delikt nicht begangen wird, als daß es zur Freude der Polizei aufgeklärt wird.
Meine Damen und Herren, den Menschen, die von Kriminalität bedroht sind und sich bedroht fühlen, helfen Sie mit dem Lauschangriff nicht. Die Alltagskriminalität vom Handtaschenraub bis zum Wohnungseinbruch kann man nur durch Präsenz von Polizei auf den Straßen in Verbindung mit präventiven Maßnahmen im Stadtviertel in den Griff bekommen. Was passiert aber beispielsweise bei all denjenigen, die nach mehr Polizei rufen? Beispielsweise bei der Großen Koalition in Berlin wird Polizeipräsenz abgebaut; man erhält nicht den Bestand.
Auch New York hilft nicht viel weiter. Der bei den konservativen Innenpolitikern in Mode gekommene Begriff der Nulltoleranz entblößt nur die Doppelzüngigkeit der Konservativen. Wenn es darum geht, Verkehrsdelikte, das Zuparken von Rad- und Gehwegen oder Geschwindigkeitsüberschreitungen, zu verfolgen, dann tönt der konservative Chor: Mehr Toleranz, mehr Großzügigkeit, weniger staatliche Eingriffe!
Noch schräger wird es, wenn der Rechtsprotagonist Gauweiler einem Herrn Krenz, der wegen Totschlags verurteilt wurde, die höchste Form der Toleranz in Gestalt der Begnadigung zukommen lassen will. Das, meine Damen und Herren Konservative, ist keine Kriminalpolitik. Das ist Willkür und Unberechenbarkeit, die es in einem Rechtsstaat eigentlich nicht geben sollte.
Es liegt auf der gleichen Ebene, wie wenn die PDS in
Hamburg Plakate mit dem Spruch „Soldaten sind
Rezzo Schlauch
Mörder" klebt und man darunter kleben müßte: „Aber Krenz' Soldaten nicht".
Herr Kanther, Sie beklagen den Werteverfall und -verlust. Es muß Ihnen im Echo zurückschallen. Wer betreibt denn einen gnadenlosen Modernisierungskurs ohne Rücksicht auf Verluste?
Wer höhlt denn die Solidargemeinschaft aus? Wer predigt ständig: Das Recht des Stärkeren soll sich durchsetzen? Wer hat denn den Fernsehkanälen für Sex and Crime durch die Unterwerfung der Rundfunklandschaft unter die Marktgesetze den Weg bereitet?
Das waren doch Sie mit Ihrer Regierung. Das können Sie doch jetzt nicht beklagen.
Die Mehrheit in diesem Hause hat hierfür offensichtlich überhaupt kein Gespür.
Sie setzt auf alte, abgedroschene Rezepte. Wir werden uns an diesen ideologischen kriminalpolitischen Schlachten von gestern nicht mehr beteiligen. Wir wollen die präventiven Instrumente ausbauen. Wir wollen die jugendlichen Delinquenten tatnah und ohne Zeitverzögerung den Prozessen zuführen. Wir wollen die völlig fehlgeschlagene und in hohem Maße Kriminalität verursachende Drogenpolitik reformieren. Wir wollen eine aktive Sozialpolitik betreiben. Das ist nämlich die beste Vorsorge gegen wachsende Jugendkriminalität.
Danke schön.
Ich gebe das Wort der Abgeordneten Ina Albowitz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Schlauch, das war schon ganz schön dramatisch, was Sie alles vorgetragen haben - vor allen Dingen wie. Aber ich frage mich vor allem bei dem letzten Teil Ihrer Ausführungen, warum Sie das alles bis jetzt nicht getan haben. Sie tragen, wenn ich das richtig sehe, in vier Ländern Verantwortung mit, unter anderem in Nordrhein-Westfalen, in Hessen, in Sachsen-Anhalt. Warum tun Sie das da nicht? Warum haben Sie es nicht in Schleswig-Holstein gemacht? Warum haben Sie es vorher nicht in Niedersachsen gemacht?
Da haben Sie Polizeigesetze abgeschafft.
Und jetzt Ihr Ministerpräsident - das bringt uns in dieser Republik nicht weiter und hängt den Leuten inzwischen zum Hals raus. Ich sage Ihnen das in aller Deutlichkeit.
- Herr Krüger, zu Ihnen oder zur SPD komme ich jetzt.
Jetzt ist Herr Schily weg, und er hat sich dafür auch entschuldigt. Das ist akzeptabel. Ich würde trotzdem gern zwei Bemerkungen machen.
Erstens möchte ich ihm danken für seine eindeutige Haltung und die der SPD-Bundestagsfraktion, für die er geredet hat, zur Strafmündigkeit von Kindern.
Ich finde das, was Herr Schröder im Bundesrat erklärt hat, völlig inakzeptabel. Es ist ein Armutszeugnis für einen Mann, der offensichtlich selber keine Kinder hat und nicht weiß, wie man damit umgeht. Das wird er vielleicht noch irgendwann lernen. Soll das das einzige Mittel der Gesellschaft sein, wenn Eltern versagen, wenn die Gesellschaft versagt und möglicherweise auch die Schule versagt? Ich denke, das trägt nichts bei.
Der zweite Punkt: Lauschangriff. Ich sage das jetzt auch für Herrn Schily zu Protokoll. Die SPD hat das ganz flott auf einem Parteitag beschlossen. Meine Partei hat sich außerordentlich schwer mit diesem Thema getan. Ich finde, es ziert eine Partei, wenn sie sich bei einem so massiven Eingriff in die Grundrechte der Menschen mit einem Thema schwertut. Wir haben einen Mitgliederentscheid herbeigeführt, und wir haben lange in einer großen Koalition verhandelt. Aber daß man sich jetzt hier hinstellt und den Innenminister prügelt und dabei selber schon weiß, daß mindestens vier Bundesländer, wo Koalitionen regieren, die Koalitionsklausel ziehen werden, kann ich nicht akzeptieren.
Der innere Frieden einer Gesellschaft beruht aber auf der Freiheitlichkeit ihrer Rechtsordnung, ebenso wie beim Schutz von Leib und Leben und Eigentum der Bürger, nämlich auf den Grundrechten.
Ina Albowitz
Kriminalität ist ein Verstoß gegen die Zivilisation, dem sich der Rechtsstaat mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln entgegenstellen muß. Aber im Gegensatz zu zahlreichen Vertretern anderer Parteien greifen die Liberalen das Thema innere Sicherheit nicht erst dann auf, wenn die nächste Wahl vor der Tür steht; dazu ist heute schon viel gesagt worden. Diese Problematik steht bei uns ständig auf der Tagesordnung. Allerdings beschäftigen wir uns mit ihr in einer angemessenen und verantwortungsvollen Art. Für eine erfolgreiche liberale Innenpolitik gibt es zahlreiche Beweise. Sie hat nämlich die Geschichte dieser Bundesrepublik entscheidend mitgeprägt.
Die Lufthoheit über den Stammtischen zu erringen und Ängste zu schüren war nie unsere Sache.
Statt dessen haben wir uns intensiv mit Lösungsmöglichkeiten auseinandergesetzt. Das war oft schwierig genug für die eigene Partei. Was an gesetzgeberischen Maßnahmen notwendig war, haben wir auf den Weg gebracht oder mitgetragen, oft nach schwerem Ringen. Hätten sich andere Verantwortungsträger beim Bund und in den Ländern einige unserer Ideen früher zu eigen gemacht, wäre das, was Herr Kanther heute als neue Form der Verbrechensbekämpfung vorschlägt, längst gang und gäbe. Herr Kanther, das war so auch vor Ihrer Zeit als Bundesinnenminister.
Schließlich fordern wir seit langem den Ausbau von Prävention und Bürgerbeteiligung. In unserem Thesenpapier zur inneren Sicherheit von 1993 können Sie das alles nachlesen: die Einrichtung sogenannter kriminalpräventiver Räte - Herr Schily hat eben gesagt, das geschehe längst; das geschieht längst nicht in allen Bundesländern -
- ich sage ja: Es passiert nicht in allen; Herr Schlauch, es passiert zum Beispiel nicht in Bayern; wir reden ja von allen Bundesländern -
- das habe ich nicht gesagt -,
die Modernisierung und Neuorganisation der Polizei, um mehr Bürgernähe und Polizeipräsenz auf den Straßen zu erreichen, zusätzliche Stellen und technische Aufrüstung usw.
Was jetzt als besondere Erfindung der New Yorker Polizei zur Nachahmung empfohlen wird, steht schon seit Jahren in unseren Konzepten. Das „Broken windows” -Programm ist inzwischen eines, mit dem man sich ernsthaft auseinandersetzen kann.
- Genau, Herr Kollege Marschewski.
Auch in haushaltsmäßiger Hinsicht haben meine Partei und meine Fraktion alles, was der Verbesserung der inneren Sicherheit dienen konnte, mitgetragen oder angeregt. Ob es sich um die Neuorganisation des BGS, des BKA, den Aufbau einer schlagkräftigen europäischen Polizei oder die Ausrüstung dieser Behörden mit modernster Technik handelt, die F.D.P. hat sich dafür immer stark gemacht. Die Bremser saßen häufig woanders, und zwar in den Ländern. Auch das wissen wir.
Natürlich freuen wir uns besonders, wenn sich auch der Bundesinnenminister unserer Meinung anschließt. Ich nehme das jetzt für uns in Anspruch. Genau wie er jetzt sind wir nämlich schon seit langer Zeit der Meinung, daß unsere Gesetze zur Verbrechensbekämpfung sehr gut und ausreichend sind. Das Problem in unserem Land besteht nicht in den gesetzlichen Grundlagen, sondern in ihrem Vollzug.
Davon abgesehen kann sich die gesetzgeberische Arbeit der Koalition aus CDU/CSU und F.D.P. zur Verbesserung der Strafprozeßordnung wirklich sehen lassen. In dieser und in der letzten Legislaturperiode haben wir eine Vielzahl von Gesetzen verabschiedet, um vorhandene Lücken zu schließen und um auf neue Formen der Kriminalität zu reagieren. Wend man die einzelnen bundesgesetzlichen Maßnahmen seit 1991 zusammenzählt, dann kommt man zur Zeit auf die stattliche Anzahl von 39 und nicht auf 40, Herr Schlauch. Die 40. Maßnahme müssen wir erst noch verabschieden. Darunter sind so wichtige wie das Geldwäschegesetz, das Verbrechensbekämpfungsgesetz, das kürzlich beschlossene Korruptionsgesetz oder die Hauptverhandlungshaft, die wir gegen den massiven Widerstand der SPD durchgesetzt haben.
Es zeugt im übrigen auch nicht von innerer Überzeugung eines Landes, wenn man, bevor die erlassenen Gesetze ihre Wirkung überhaupt entfalten können, schon wieder nach neuen ruft.
Die Kriminalitätsbekämpfung krankt nicht an mangelnden gesetzlichen Möglichkeiten, sondern an Vollzugsdefiziten. Was nützen neugeschaffene Methoden wie das beschleunigte Verfahren, wenn sie in manchen Ländern so gut wie überhaupt nicht angewandt werden und wenn die Bürger wegen der schleppenden Fallbearbeitung bei den Länderjustizbehörden den Eindruck gewinnen müssen, daß Strafe nicht mehr auf dem Fuß folgt?
Interessanterweise gibt es gerade bei denjenigen Ländern die größten Vollzugsdefizite, deren oberste Repräsentanten sich in den letzten Wochen und
Ina Albowitz
Monaten mit law-and-order-Parolen als Seelenverkäufer betätigt haben.
- Frau Kollegin, ich bitte Sie, lesen Sie sich nur einmal das Protokoll der Sitzung des Bundesrates in der letzten Woche durch. Dann fällt Ihnen nichts mehr ein. Der in den letzten Tagen so viel zitierte Professor Pfeiffer stellt den Städten Hamburg und Hannover ein vernichtendes Zeugnis in puncto innere Sicherheit aus.
Frau Kollegin Albowitz, Ihre Redezeit ist eigentlich beendet, aber würden Sie noch eine Frage zulassen und dann zum Schluß kommen?
Ja, wenn ich dann zum Schluß noch einen Satz sagen darf.
Bitte schön, Frau Däubler-Gmelin.
Ich habe doch gar nichts dagegen, wenn Sie hier den Namen Schröder fünfmal bringen. Das macht ihn bei denen nur noch bekannter, bei denen er es noch nicht ist.
Wenn Sie sich einmal die vom Bundesinnenministerium herausgegebenen Zahlen im Jahresbericht zur Kriminalitätslage in der Bundesrepublik Deutschland anschauen und wenn Sie dann nicht nur auf die Bereiche schauen, in denen die Straftaten tatsächlich zurückgegangen sind, sondern in denen insbesondere die Aufklärungsquote - also eine reine Ländervollzugsangelegenheit - gestiegen ist, dann können Sie feststellen, liebe Frau Kollegin, daß Sie Ihre The- sen einfach nicht halten können. Darauf wollte ich Sie aufmerksam machen.
Ich danke Ihnen sehr. Trotzdem bin ich anderer Auffassung. Möglicherweise trennt uns das, Frau Kollegin.
- Sie können gegenseitig die Argumente austauschen, dann kann ich mir das sparen und zu meinem Konzept reden. Ich dachte, die Frage sei an mich gerichtet gewesen.
- Ich hatte den Eindruck, Frau Kollegin, Sie waren an meiner Antwort nicht interessiert.
Ich fahre mit meiner Rede fort.
Ich möchte gerne noch einmal ganz kurz auf Professor Pfeiffer zurückkommen, weil mir der Präsident das erlaubt hat. Er stellt den Großstädten Hamburg und Hannover in puncto innere Sicherheit ein vernichtendes Zeugnis aus. Was wir in diesem Landjetzt brauchen - damit komme ich zum Schluß, Herr Präsident -, ist eine kluge Mischung aus innerer Liberalität, Toleranz und rechtsstaatlicher Härte bei der Verbrechensbekämpfung. Wir Liberale werden das wie bisher unterstützen, wo wir nur können; denn für uns sind Freiheit und Sicherheit zwei Seiten derselben Medaille.
Danke.
Ich gebe das Wort der Abgeordneten Ulla Jelpke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Innenminister, mir kommt es so vor, als versuchten dieser Tage nicht nur Sie, sondern auch die Herren Stoiber, Schröder und Voscherau, sich gegenseitig unter den Tisch zu saufen, was den innenpolitischen Stammtisch angeht. Anders kann ich auch die Art, wie Sie hier weiter diskutieren, nicht nachvollziehen.
Sie haben heute zwar häufig dieses Hamburger Plakat angesprochen, das jeder kritisieren mag. Aber dieses Plakat wird in Hamburg bei weitem nicht so kritisch gesehen wie die Kampagne, die Sie hier mit Ihrer Politik und den genannten Innenministern bzw. dem Bürgermeister von Hamburg ausgelöst haben. Sie haben erreicht, daß Rechtsextremisten in Hamburg, wo genau diese Vorstellungen eine Akzeptanz finden, mit solchen Plakaten auftreten können. Ich meine, daß letztendlich Sie dafür verantwortlich sind, daß Rechtsextremisten und Neofaschisten in den Städten wieder so frech Plakate kleben.
Eine traurige Nachricht in diesem Zusammenhang ist - sie sollte von solchen Auseinandersetzungen nicht losgelöst gesehen werden -, daß im ersten Halbjahr die Zahl der Anschläge von Rechtsextremisten mit antisemitischem Inhalt wieder angestiegen ist. Das sollte man sich einmal vergegenwärtigen.
Ich möchte in diesem Zusammenhang zu zwei weiteren Punkten Stellung nehmen. Die Bundesregierung läßt wirklich keine Möglichkeit aus, das soziale Netz zu zerschneiden. Innenminister Kanther hat auch heute wieder deutlich gemacht, daß er dieses durch ein Sicherheitsnetz ersetzen möchte. Zusammen mit seinen sozialdemokratischen Kollegen aus Niedersachsen, Bremen und Hamburg - ich denke, da ist die Diskussion längst weiter, als hier teilweise auch vom Kollegen Schily getan wird - will Innenminister Kanther den Bundesgrenzschutz auf die Jagd nach den sozialen Verlierern Ihrer neoliberalen Politik schicken. Gemeint sind Ausländerinnen und Ausländer, Jugendliche, Bettler und Obdachlose. Die PDS hält überhaupt nichts von dieser Kampagne, die Sie jetzt à la New York starten wollen.
Ulla Jelpke
Der zweite Punkt. In einer faktisch großen Koalition wollen CDU/CSU und SPD den großen Lauschangriff einführen. Von Herrn Schily ist heute sehr plastisch dargelegt worden, warum man in einer großer Koalition zunächst das Grundrecht auf Asyl gekillt hat und jetzt auch die Unverletzbarkeit der Wohnung killen wird, obwohl doch die Argumentation sehr hanebüchen war, die Kollege Schily vorgetragen hat.
All dies muß man in dem Zusammenhang sehen, daß dies im Jahr des Antirassismus stattfindet. Dieses Jahr ist meiner Meinung nach zu einer Farce geworden, wenn man sieht, welche Taten der Hauptkoordinator, Innenminister Kanther, der dafür verantwortlich ist, in diesem Jahr vollbracht hat, zum Beispiel die Einführung der Kindervisa-Verordnung und das Asylbewerberleistungsgesetz. Dadurch werden die Leistungen an Flüchtlinge unter das Niveau der Sozialhilfe gedrückt. Die CSU will die Erteilung von Arbeitserlaubnissen zudem erneut verschärfen.
Es ist darauf hinzuweisen, welche Verschlechterungen vor der Sommerpause im Bereich der Ausländergesetzgebung , insbesondere die Verschlimmbesserung für nichtdeutsche Ehefrauen bzw. Partner in § 19 des Ausländergesetzes, durchgesetzt wurden. Nichts hat sich im Bereich der Staatsbürgerschaft getan. Ich frage mich, welchen Beitrag es überhaupt zum Jahr des Antirassismus gibt.
Statt dessen - das hat Herr Kanther hier stolz ausgeführt - sind die Mittel entsprechend gestiegen, wenn es darum geht, die Grenzen abzuschotten. Allein beim BGS sind seit 1992 die Ausgaben um zwei Drittel, also um 60 Prozent, gestiegen.
In den letzten Jahren hatten wir folgende Politik: Erst schickt man die Vietnamesen weg. Dann müssen die Bürgerkriegsflüchtlinge nach Bosnien-Herzegowina zurück. Jetzt sollen es die palästinensischen Flüchtlinge sein. Man fragt sich, wer die nächsten sein werden.
Zum Schluß möchte ich einen weiteren Punkt ansprechen, der immer wieder von mir angeführt wird, wenn es um die sogenannten Minderheiten in Osteuropa geht. Die Vertriebenenverbände werden auch in diesem Jahr wieder 170 Millionen DM bekommen. Zum Teil ist das für die Aussiedler und Aussiedlerinnen natürlich nicht zufriedenstellend. Sie haben im übrigen dazu aufgerufen, anläßlich der Bundestagswahlen die Republikaner zu wählen, weil die Bundesregierung ihren Forderungen zuwenig nachkommt.
Es geht, wie Sie wissen, beispielsweise um die Angriffe der Vertriebenenverbände auf den Bundespräsidenten Herzog, der am „Tag der Heimat" als „Vaterlandsverräter" beschimpft worden ist. Ich möchte in diesem Zusammenhang daran erinnern, daß die SPD - der Kollege Körper, der leider nicht mehr da ist - dies zum Anlaß genommen hat, zu sagen, daß man genau prüfen werde, ob Verbände, die rechtsextremistische Aussagen machen bzw. Propaganda betreiben, noch Geld bekommen sollen oder nicht. Ich sehe das im Moment nicht.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluß kommen.
Ja.
Keinerlei Initiativen sind hier wahrzunehmen. Wir haben ja noch eine Beratung im Innenausschuß. Aber dieses Versprechen sollte die SPD auf jeden Fall einhalten, weil es nicht angehen kann, daß Organisationen, die weiterhin die Auschwitzlüge und rassistisches Gedankengut verbreiten, so viel Geld erhalten.
Danke.
Weitere Wortmeldungen zu diesem Geschäftsbereich liegen nicht vor.
Wir kommen dann zu den Einzelplänen 07 und 19, Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz. Das Wort hat der Bundesminister Professor Dr. Edzard Schmidt-Jortzig.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Es wird zwar behauptet, Haushaltsberatungen seien dieser Tage nicht unbedingt vergnügungsteuerpflichtig. Das mag zutreffen, wenn man den Blick auf die in der Tat schwierige Haushaltslage richtet. Aber es trifft überhaupt nicht zu, wenn man die Leistungsbilanz der Bundesregierung betrachtet, jedenfalls im Bereich der Rechtspolitik.
Gerade im Bereich der Rechtspolitik - darüber wollen wir in dieser schönen Isolierung hier sprechen, obwohl die Fußballübertragung begonnen hat - hat die Koalition nämlich eine Vielzahl von Reformen auf den Weg oder sogar schon ans Ziel gebracht. Ich will nur die Kindschaftsrechtsreform, die umfassende Strafrechtsreform sowie die Reformen im Handels- und Transportrecht herausgreifen. Mit diesen Arbeiten bieten wir in der Rechtspolitik dem Bürger das, was er eigentlich erwartet, nämlich Lösungen statt Blockade.
Eine gute Gesetzgebungsarbeit alleine genügt aber nicht. Darauf hinzuweisen ist gerade in diesen Tagen der lauten Töne ganz angebracht. Ein Rechtsstaat kann seine friedensstiftende Funktion nur erfüllen, wenn er auch im Alltag der Bürger präsent ist.
Nicht ein abstraktes Gedankengebäude, nicht eine noch so gerechte Rechtsordnung, nicht eine ausgewogene gesetzliche Regelung allein machen einen Rechtsstaat aus. Erst die konsequente Anwendung dieser Rechtsordnung im Einzelfall schafft Vertrauen.
Ich will dies zunächst am Beispiel der Kriminalitätsbekämpfung verdeutlichen. Verbrecher fängt man bekanntlich nicht mit tosenden Worten in
Bundesminister Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Pressekonferenzen, Verbrecher fängt man auch nicht, jedenfalls nicht nur, mit Gesetzen, sondern Verbrecher fängt man mit Polizisten, mit Staatsanwälten, Richtern und allem übrigen Personal und deren Anstrengungen in diesem Bereich. Aber nach dieser Überzeugung muß dann auch gehandelt werden. Dafür ist nach unserer föderativen Ordnung nun einmal die Länderebene zuständig.
Hier bestehen Defizite - soweit ich das am Bildschirm mitbekommen habe, hat dieser Punkt auch in der Debatte zum Innenressort eine wesentliche Rolle gespielt -, wenn ich bedenke, daß zum Beispiel Niedersachsen - woher jetzt so laute Töne kommen - bundesweit die geringste Polizeidichte hat, in Hamburg im letzten Jahr 200 Polizeistellen gestrichen worden sind und allseits Richterstellen abgebaut werden. Ich denke, man muß hier an die praktischen Umsetzungsdefizite erinnern, bevor man die ganz große Gesetzgebung, die möglichst weit von der Basis entfernt sein soll - deshalb läßt sich so gut nach Bonn verweisen - in den Vordergrund stellt.
Lassen Sie mich drei Projekte bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität herausgreifen. Bei der akustischen Wohnraumüberwachung - früher mal ganz vulgär „großer Lauschangriff" geheißen - haben wir nach zähen Verhandlungen eine Einigung erzielt. Jetzt kommt es darauf an, den gefundenen Kompromiß ins Gesetzblatt zu bringen.
Wir haben zweitens in diesen Verhandlungen auch einen Kompromiß bei der Geldwäschebekämpfung erzielt. Ohne eine Umkehr der Beweislast wird der Zugriff auf verdächtiges Vermögen erleichtert.
Die dritte Maßnahme, nämlich die verbesserte Korruptionsbekämpfung, ist bereits Gesetz, steht schon im Gesetzblatt.
Meine Damen und Herren, die Bekämpfung der organisierten Kriminalität allein reicht aber nicht aus. Das Vertrauen des Bürgers in den Rechtsstaat muß sich im Alltag bilden und bewähren. Ein ganz wesentliches Element in diesem Prozeß ist, daß die Sanktionen, die der Staat für Normverletzungen androht und auswirft, von den Bürgern als gerecht und ausgewogen empfunden werden. Mein Gesetzentwurf zur Strafrahmenharmonisierung trägt dem Rechnung.
Zeitgleich hat die Koalition schon im März das gemeinsam erarbeitete Gesetzespaket zur Bekämpfung der Sexualdelikte gegen Kinder in den Bundestag eingebracht. Ich komme darauf aus gegebenem Anlaß zu sprechen. Der an mich gerichtete Vorwurf, dieses Paket zu behindern, ist also nicht nur falsch adressiert, er ist auch in der Sache völlig an den Fakten vorbeigehend, ja abenteuerlich, kommt er doch aus dem Freistaat,
auf dessen Drängen der Gesetzentwurf nämlich beim
einzig wirksamen Therapiezwang verwässert wurde
und über den Bundesrat noch weiter zu verwässern
versucht wird. Ich sage das hier in aller Gelassenheit, aber auch Deutlichkeit.
Aber nicht nur im materiellen Strafrecht, auch im Strafprozeßrecht hat die Koalition gehandelt. Die Hauptverhandlungshaft
baut das beschleunigte Verfahren zu einem wirksamen Instrument gegen die Alltagskriminalität aus. Jetzt müßte es nur noch stärker von den Ländern genutzt werden.
Wenn ich es richtig höre, wollen das ja nun alle Länder tun. Jedenfalls ist es schon merkwürdig, daß etwa gerade in Niedersachsen nur ein Bruchteil der Anträge auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren gestellt wird wie in Nachbarländern. Wenn Sie sich umsehen, wer dort in der Nachbarschaft die Regierungen stellt, ist das ganz bemerkenswert. Die dortige Justizministerin hatte ja schon immer ideologische Bedenken gegen dieses Verfahren, freilich - so muß ich nun annehmen - ohne Abstimmung mit Ihrem Landesherrn.
Zur Kriminalitätsbekämpfung bedarf es auch einer Überarbeitung des strafrechtlichen Sanktionensystems.
Die Handlungsmöglichkeiten für die Gerichte müssen erweitert werden, um flexibler auf den Unrechtsgehalt der jeweiligen Tat reagieren zu können und auch um dem Täter flexibler und angemessener begegnen zu können. Hier hat - das will ich ausdrücklich anerkennen und erwähnen - auch die SPD-Fraktion schon interessante, wichtige und maßgebende Anstöße geliefert. Das ist das Schöne in unserem Bereich, liebe Frau Kollegin Däubler-Gmelin: daß wir uns in vielen Dingen einig sind.
- In Maßen dort, wo es angemessen ist, gerne.
Diese Reform, meine Damen und Herren, soll noch in dieser Legislaturperiode begonnen werden, indem wir dazu eine Kommission zur Aufarbeitung und Diskussion des Komplexes einsetzen. Danach kann zügig mit einem Gesetzentwurf seitens der Regierung aufgewartet werden.
Zum Vollzugsdefizit habe ich schon gesprochen. Ich will nur noch auf einen Punkt zu sprechen kommen, nämlich auf den, der jetzt sehr in die Diskussion geraten ist - wie ich glaube, zu Unrecht. Bundestag und Bundesrat haben schon 1994 mit überwältigender Mehrheit die Reform des Insolvenzrechts beschlossen. Diese Reform soll zum einen denjenigen eine Chance geben, die hoffnungslos überschuldet sind. Sie wird es aber vor allem gerade bei mittelständischen Unternehmen ermöglichen, von einer konkursmäßigen Abwicklung abzusehen und die lei-
Bundesminister Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
stungs- wie überlebensfähigen Teile eines Betriebes zu retten.
Man sollte angesichts der Lage auf dem Arbeitsmarkt meinen, daß sich niemand gegen die Sanierung von Unternehmen und die Erhaltung von Arbeitsplätzen in dieser Form sperrt. Aber weit gefehlt! Nachdem die Reform auf Drängen der Länder überhaupt erst zum 1. Januar 1999 in Kraft treten soll, fordern jetzt viele trotz der Lage auf dem Arbeitsmarkt sogar eine weitere Verschiebung.
Sie tun dies, um die erforderlichen Stellen in der Justiz einzusparen, und sie tun dies, obwohl die von mir durchgesetzten, auf den Weg gebrachten und noch geplanten Maßnahmen eine deutliche Entlastung der Justiz bewirken.
Ich will sie aufzählen: Die Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung ist am 1. Januar 1997 in Kraft getreten. Die Novelle des Ordnungswidrigkeitenrechts wird durch die Anhebung von Wertgrenzen oder die Reduzierung der Zahl der Richter beim OLG zu Entlastungen führen. Mit dem Kindesunterhaltsgesetz wird im Unterhaltsrecht der prozessuale Aufwand durch die gesetzliche Dynamisierung des Regelunterhalts und die auf Antrag mögliche Dynamisierung des individuellen Unterhalts reduziert.
Auch die Novelle des Schiedsgerichtsverfahrens wird die Justiz entlasten. Natürlich sind wir gern bereit, auf weitere angemessene Entlastungsmöglichkeiten für die Länder einzugehen und mit den Ländern darüber nachzudenken; denn kein Prozeß belastet die Justiz weniger als einer, der überhaupt nicht vor ihre Schranken gerät. In. diesem Sinne soll den Ländern durch eine Öffnungsklausel ermöglicht werden, dem Klageverfahren eine außergerichtliche Streitschlichtung in Nachbarschaftsstreitigkeiten und in Bagatellsachen vorzuschalten.
Außerdem hätte ich keine Bedenken, bestimmte Aufgaben aus der Justiz auszugliedern. Auch dieses Stichwort soll hier fallen, selbst wenn Einzelheiten hierzu noch umstritten sind. Natürlich denkt man da an die Handelsregister,
die statt von den Gerichten auch von den Industrie- und Handelskammern geführt werden könnten. Darüber werden wir zu sprechen haben. Dem Wunsch des Justizministers aus Baden-Württemberg, dies in seinem Land experimentell einzuführen, stehe ich auch deswegen offen gegenüber,
weil die für die Insolvenzrechtsreform benötigten Rechtspfleger gerade im Registerwesen freigesetzt werden könnten.
Außerdem wird mit der zweiten Zwangsvollstrekkungsnovelle beabsichtigt, die Abnahme eidesstattlicher Versicherungen auf die Gerichtsvollzieher zu übertragen. Auch dadurch werden Rechtspfleger entlastet.
Selbst wenn die Insolvenzrechtsreform indes einige zusätzliche Stellen erfordern sollte, so werden die verhältnismäßig geringen Mehrausgaben im Justizhaushalt sicherlich bei weitem durch die Einsparungen im Sozialhaushalt aufgewogen, wenn eben auf diesem Wege betriebliche Arbeitsplätze erhalten werden können.
Aber nicht nur um der Arbeitsplätze willen muß die Insolvenzrechtsreform pünktlich in Kraft treten. Die Wirtschaft, namentlich die Banken haben sich bereits auf die Reform eingestellt. Einmal beschlossene Reformen sind umzusetzen, weil gerade die Wirtschaft - Wirtschaftsstrukturen ebenso wie die wirtschaftenden Personen - Planungssicherheit durch verläßliche Rahmenbedingungen benötigt.
Meine Damen und Herren, das gilt auch und gerade für den Euro, auf den ich als letzten Sachpunkt noch zu sprechen kommen möchte, selbst wenn Sie vielleicht etwas überrascht sind, daß das beim Bereich Justiz zur Sprache kommt. Um meinen Beitrag und den des Bundesjustizministeriums dazu zu leisten, daß von Anfang an mit der neuen Währung vertrauensvoll gearbeitet werden kann, haben wir die Federführung für die Euro-Begleitgesetzgebung übernommen.
Es gilt, für die Übergangszeit vom 1. Januar 1999 bis zum 31. Dezember 2001, in der noch keine EuroMünzen und -Banknoten zur Verfügung stehen, die Hemmnisse für eine erfolgreiche Einführung des Euro zu beseitigen. So soll zum Beispiel das Gesellschaftsrecht für den Euro geöffnet werden, damit bestehende Aktiengesellschaften und GmbHs ihr Kapital schon auf Euro umstellen und neue Gesellschaften auf Euro-Basis gegründet werden können. Eine Öffnung des Bilanzrechts soll vor allem den europaweit tätigen Unternehmen die Aufstellung ihrer Jahresabschlüsse in Euro ermöglichen. Den Gesetzentwurf werden wir im übrigen noch in diesem Monat dem Bundeskabinett vorlegen können.
Solche Leistungen erfordern - damit schließe ich den Kreis zum Haushalt - genügend Personal. Sie werden mich als alles andere denn als Anhänger Parkinsonscher Apparate kennengelernt haben. Ich gebe auch offen zu, daß die Stellenkürzungen zu manch sinnvoller Verschlankung geführt haben. Wir haben dies im Bundesministerium der Justiz zu einer ganz hilfreichen Umorganisation genutzt. In meinem Haus sind aber angesichts der Menge der Gesetzentwürfe - bitte gestatten Sie mir, daß ich das zum
Bundesminister Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Schluß doch erwähne -, der Vielzahl der Anfragen und der Präzision der Arbeit, die von uns erwartet wird, die Grenzen der Belastbarkeit erreicht. Ich bitte also den Haushaltssouverän, das Parlament, um Unterstützung für mein Anliegen, in künftigen Haushaltsjahren Kürzungen im Personalhaushalt kleinerer Häuser, wie etwa des Bundesministeriums der Justiz, stärker zu hinterfragen.
Insgesamt, meine Damen und Herren, bitte ich Sie jetzt, 1997, um Zustimmung für die Einzelpläne 07 und 19.
Herzlichen Dank.
Ich gebe dem Abgeordneten Gunter Weißgerber das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Thema Nachtragshaushalt ging glücklicherweise .am Einzelplan 07 vorbei, ohne größeren Schaden anzurichten. Es drängt sich immer wieder der Gedanke auf: Was wäre bewirkt worden? Wäre hier zu stark gekürzt worden, liefe man Gefahr, den Haushalt letztendlich in Luft aufzulösen.
Zum Haushalt für das Jahr 1998. Gegenüber dem letztjährigen Haushalt erfolgt ein Rückgang um 1,9 Prozent auf rund 692,7 Millionen DM. Das entspricht in etwa einem Anteil am Bundeshaushalt von 0,15 Prozent.
Erfreulich am vorliegenden Entwurf ist der TäterOpfer-Ausgleich. Auch für 1998 ist wieder ein Ansatz in Höhe von 151 000 DM enthalten. Ich erinnere Sie daran: Bis 1995 war der Bund mit 300 000 DM im Jahr in alleiniger Verantwortung. Ab 1996 galt die Vereinbarung, daß sich Bund und Länder die Kosten hälftig teilen, zu je 150000 DM. Die Länder waren 1996 noch nicht in der Lage, ihren Teil beizusteuern. Deshalb war der Täter-Opfer-Ausgleich generell in Gefahr. Für dieses Jahr - ich habe den Brief des Bundesjustizministers vorliegen - haben sich die Länder endlich geeinigt; die Kofinanzierung ist gesichert.
Aus meiner Sicht ist dabei erstaunlich, daß, obwohl nicht alle Länder dabei sind, der Gesamtbetrag bereitgestellt worden ist. Es scheint in den Ländern, was den Täter-Opfer-Ausgleich angeht, eine Solidarität parteiübergreifender Art zu geben.
Ich erinnere den Kollegen Kolbe an die letzten Haushaltsberatungen. Es war vorwiegend die Opposition, die letztendlich den Täter-Opfer-Ausgleich gerettet hat.
- Ja, der Einwand ist richtig: Wir konnten die Mehrheit überzeugen. Die Widerstände aber waren sehr groß.
Das Kapitel „Wehrstrafgerichtsbarkeit" taucht im Haushaltsentwurf jedesmal wieder auf. Die SPD lehnt dies natürlich weiterhin ab. Wir sind der Meinung, daß es einer speziellen Wehrstrafgerichtsbarkeit in unserem Land nicht bedarf. Soldaten sind Staatsbürger in Uniform.
Ich bin gespannt, wie dieses Thema im Haushaltsausschuß behandelt wird. Im vorigen Jahr hat speziell der Kollege Weng angeregt, daß sich, wenn es tatsächlich nie zur inhaltlichen Ausfüllung dieses Kapitels kommt, die Frage stellt, ob die Wehrstrafgerichtsbarkeit überhaupt noch im Haushaltsentwurf auftauchen muß.
- Herr Kollege Weng hat das voriges Jahr im Haushaltsausschuß angesprochen. Momentan ist es noch im Ansatz vorhanden.
Ein weiteres großes Kapitel im Haushalt des Justizministeriums ist das, was die Föderalismuskommission 1992 empfohlen hat und der Bundestag zur Kenntnis genommen hat. Ganz wichtig: Der Bundesgerichtshof und die Dienststelle des Generalbundesanwaltes, soweit bisher beide in Berlin ansässig, sind seit 14. Juli dieses Jahres in Leipzig. Damit sind die ersten Bundeseinrichtungen in Ostdeutschland angesiedelt. Ich als Leipziger nehme das sehr befriedigt zur Kenntnis. Ich bin auch sehr froh, daß der Kostenrahmen nicht ausgenutzt worden ist: Ursprünglich waren 21 Millionen DM veranschlagt; am Ende hat es zirka 18 Millionen DM gekostet. Auch solche Maßnahmen können also durchaus billiger werden. Wir werden sehen, wie das mit dem Berlin-Umzug noch wird. Man sieht an dem Leipziger Beispiel: Die Dinge haben durchaus die Chance, wesentlich billiger zu werden.
In dem Zusammenhang möchte ich mich seitens des Bundesjustizministeriums, seitens des Finanzministeriums - ich sehe Frau Diehl hinten sitzen - bei allen Beteiligten, dem Generalbundesanwalt, dem Land Sachsen und natürlich der Stadt Leipzig, dafür bedanken, daß es zu dieser Entwicklung gekommen ist. Natürlich besonderen Dank an Sie, meine Kollegen im Rechts- und Haushaltsausschuß, vor allem an die, die hier sitzen. Herzlichen Dank, daß das erste Projekt gelungen ist.
Allerdings gibt es beim Bundesgerichtshof noch ein Problem, die sogenannte Rutschklausel. Sie wissen sicherlich - sonst bringe ich es in Erinnerung -, die Föderalismuskommission hat 1992 unter anderem auch beschlossen, für jeden neu entstehenden Senat in Karlsruhe wird ein Strafsenat in Leipzig angesiedelt. Das stand bisher fest. Ausgerechnet am Tag der Einweihung des Bundesgerichtshofes in Leipzig am 3. September ist das von mehreren Rednern zur Sprache gebracht worden, mit der Hoffnung verbunden, daß diese Rutschklausel hinfällig wird. Ich warne alle im Haus. Es hat genug Enttäuschungen die ganzen Jahre gegeben. Die Politik muß auch einmal zu dem stehen, was sie formuliert hat.
Gunter Weißgerber
Außerdem gibt es ein noch größeres Problem. Der Bundesgerichtshof will seit Jahrzehnten in Karlsruhe bauen. Ich meine, das ist sehr berechtigt. Die Richter sind miserabel untergebracht. Das ist also ein berechtigtes Anliegen.
- Auf jeden Fall viel schlechter als Abgeordnete. Ich könnte noch ganz andere Vergleiche anstellen. Ich komme aus dem Osten. Sie wurden wirklich nicht gut untergebracht.
Ich bin nicht rachsüchtig und daher nicht geneigt, es den Richtern in Karlsruhe nicht zu gönnen, nur weil die Gesamtentscheidung nicht für Leipzig ausgegangen ist. Ich bin der Meinung, die Ansprüche sind berechtigt. Wir sollten dem stattgeben. Aber die Betroffenen in Karlsruhe sollten auch bitte die Hände von der Rutschklausel lassen. Das eine bedingt das andere.
Thema Reichsgerichtsbibliothek. Ich gehe davon aus, daß es das letzte Mal sein wird, daß ich in diesem Rahmen davon spreche. Es ist schließlich zu einem guten Konsens gekommen. Die Bestände bis 1801 kommen alle nach Leipzig. Alles das, was das Verwaltungsrecht angeht, wird ebenfalls in Leipzig untergebracht.
Ich bin zufrieden mit dem Konsens, und ich denke, wir sollten alle gut damit leben können. Es stellt sich nur die Frage, wieso das überhaupt so lange gedauert hat.
Zum Bundesverwaltungsgericht. Auch dieses könnte, was Föderalismus angeht und die Verteilung von Bundesinstitutionen, eine Art späte Erfolgsgeschichte werden. Herr Minister, Sie werden aber verstehen: Mir wäre es lieb, wenn die Geschichte ab dem nächsten Jahr durch einen sozialdemokratischen Justizminister weitergeschrieben würde. Aber das, was Sie und Ihre Vorgängerin bisher auf dem Gebiet geleistet haben, verdient Anerkennung.
Ab Januar 1998 wird das Reichsgerichtsgebäude in Leipzig renoviert. Dafür stehen 16 Millionen DM im Haushaltsentwurf. An die Stadt Leipzig ergeht von hier aus der Appell, alles dafür zu tun, daß das Reichsgerichtsgebäude bis zum Jahresende auch geräumt sein wird. Zur Zeit befindet sich das Museum der bildenden Künste darin. Die Stadt Leipzig hat zugesichert, dies termingemäß zu leisten. Alles andere wäre sehr blamabel. Es ist ganz schlecht, wenn man Leistungen fordert und selbst die Gegenleistungen nicht zu erbringen imstande ist. Die Stadt Leipzig steht hier in der Pflicht. Ich hoffe ganz stark, daß sie dieser Pflicht auch nachkommt.
Eine Anerkennung auch an den Rechtsausschuß für die Entscheidung, daß die Wehrdienstsenate von München ebenfalls nach Leipzig kommen.
Das nächste Projekt: Verlagerung der Dienststelle Berlin des Deutschen Patentamtes nach Jena. Auch dies wird im nächsten Jahr angegangen und wird Mitte 1999 abgeschlossen sein. In Jena werden dadurch 183 zusätzliche Stellen entstehen.
Ich komme jetzt zu einem Problem, welches mit dem Haushalt erst einmal wenig zu tun hat. Aber Sie als die versammelte juristische Kompetenz im Bundestag sollten mir deshalb trotzdem zuhören. Das Problem der Zahlungsmoral öffentlicher und privater Auftraggeber ist im Osten ein nahezu existentielles Problem für sehr viele Unternehmen. Wie ich vielfach höre, wird es auch im Westen des Landes zu einem wesentlich größeren Problem als bisher.
Wir diskutieren vielerorts über Eigenkapitalhilfeprogramme und über die Aufstockung des Eigenkapitals. Das alles ist richtig. Ich meine, solche Programme dienen vor allem auch dem Zweck, daß Unternehmen säumige Zahler besser verkraften können. Hier muß auch auf justiziellem Wege etwas geschehen. Nun bin ich kein Jurist par excellence, aber wir alle sind aufgerufen, dieses Problem noch einmal gründlich anzugehen.
Im Arbeitsrecht gibt es eine Regelung, daß es dann, wenn jemand meint, zu Unrecht entlassen worden zu sein, innerhalb von vier Wochen den Gerichtstermin gibt. Leute, die auf säumige Zahlungen warten, müssen sehr oft zum Gericht laufen, und aus ihrer Sicht geschieht auch sehr wenig.
Nun weiß ich nicht, wie das in der Marktwirtschaft bewertet werden soll und wie das hier im Hause gesehen wird. Aber wir als Politiker schaffen schließlich auch die Rahmenbedingungen, in denen sich Marktwirtschaft abspielen soll. Aus meiner Sicht jedenfalls bedarf es in dieser Beziehung Regelungen.
Die Industrie- und Handelskammern regen da auch vieles an. Sie sind der Meinung, daß man mit einem Notaranderkonto arbeiten könnte, auf dem 60 oder 80 Prozent der vereinbarten Geldleistungen geparkt werden, damit der Auftraggeber sieht, daß das Geld da ist. Das ist vielleicht eine Möglichkeit.
Eine andere Möglichkeit wäre, zu fragen, ob man per se von einem Betrugsverdacht ausgehen kann. Das ist eine Möglichkeit des Strafrechts. Das sind Fragen, die ich aufwerfe. Ich erwarte jetzt nicht von Ihnen, daß Sie sofort Regelungen vorlegen.
Aber die Menschen nehmen es nicht mehr hin, wenn wir nicht auch diesen Dingen auf den Grund gehen, die sie tatsächlich zu Hause sehr stark betreffen. Ich bitte Sie also ganz einfach, sich dieses Problem einmal gründlich zu überlegen.
Danke schön.
und des Abg. Detlef Kleinert [Hannover]
[F.D.P.])
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Manfred Kolbe.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Haushaltsdebatten zu den Einzelplänen Justiz und Bundesverfassungsgericht stehen immer im Spannungsfeld von Gerechtigkeit und Geld.
Dabei steht es auch einer Haushaltsdebatte gut an, die zentrale Bedeutung des Rechtsstaats zu betonen. Unser Rechtsstaat verkörpert das Wesen der Bundesrepublik Deutschland, ist Grundlage unseres friedlichen Zusammenlebens, auch unseres wirtschaftlichen Wohlstands und hat uns nach 1945 wieder zu Ansehen in der Welt verholfen. Dies kann man nicht oft genug betonen.
Seine jüngste Bewährungsprobe hat dieser unser Rechtsstaat bravourös mit dem erstinstanzlichen Abschluß des Berliner Politbüroprozesses bestanden. Dieses Verfahren und die dort verkündeten Urteile haben unzweifelhaft deutlich gemacht, daß auch die Repräsentanten eines Staates sich nicht nach Belieben über Menschen- und Bürgerrechte hinwegsetzen können. Auch die von einem Unrechtsstaat zur Durchsetzung und Erhaltung seiner Macht geschaffenen „Gesetze" oder „Erlasse" sind kein Freibrief dafür, elementare rechtsstaatliche Grundsätze zu mißachten.
Der Politbüroprozeß hat den Rechtsstaat gestärkt, weil, für jedermann erkennbar, der berühmt-berüchtigte Satz „Die Kleinen hängt man, die Großen läßt man laufen" sich gerade nicht bewahrheitet hat. Weiter war der Prozeß auch kein Schauprozeß, im Gegenteil: Eine Show daraus zu machen hat allein der mitangeklagte Krenz versucht. Schließlich war er auch kein Ausdruck von „Siegerjustiz", sondern ein Sieg der Justiz und des Rechtsstaates, und er hat gerade auch im Osten Deutschlands, Herr Heuer, etwa in meinem sächsischen Wahlkreis, große Zustimmung gefunden.
Die Revision gegen die Urteile im Berliner Politbüroprozeß wird nächstes Jahr vor dem 5. Strafsenat des BGH in Leipzig verhandelt werden. Dies ist von politisch und psychologisch großer Bedeutung, wird doch durch den Sitz von Bundeseinrichtungen auch im Osten Deutschlands augenfällig dokumentiert, daß dieser Landesteil gleichwertig dazugehört.
In der Tat, Herr Minister, hat die Justiz vor exakt einer Woche in Leipzig ein denkwürdiges gesamtdeutsches Ereignis begangen. Mit dem nach Leipzig verlegten 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat die erste oberste Bundeseinrichtung ihre Arbeit in den östlichen Bundesländern außerhalb Berlins aufgenommen. Sieben Jahre nach der Einheit ist zwar etwas spät, aber immerhin nicht zu spät, die erste von 16 Empfehlungen der Föderalismuskommission umgesetzt worden. Vergleicht man das einmal mit dem, was in dieser Zeit in den Ländern geleistet worden ist - dort sind ganze Landesverwaltungen errichtet worden -, dann ist der Bund leider nicht der Schnellste gewesen. Aber Ihrem Haus, Herr Minister,
gebührt hier das Verdienst, gesamtdeutscher Vorreiter zu sein. Sie haben das alte Sprichwort „Die Mühlen der Justiz mahlen langsam" Lügen gestraft. Dazu herzlichen Glückwunsch Ihnen und Ihrer Vorgängerin.
Mehr als unpassend - da schließe ich mich den Ausführungen meines Kollegen Weißgerber an - haben viele Gäste des Festaktes vor einer Woche und auch ich persönlich es empfunden, daß der BGH-Präsident und der Generalbundesanwalt ausgerechnet anläßlich dieses gesamtdeutschen Festaktes die Beschlüsse der Föderalismuskommission heftig kritisierten, insbesondere die vielleicht erst in Jahren zur Debatte stehende Einrichtung eines zweiten BGH-Senats in Leipzig.
Nicht nur unter Juristen gilt der Grundsatz: Pacta sunt servanda. Wir erinnern uns alle: In der Föderalismuskommission ist hart gerungen worden, ob der BGH in Karlsruhe bleibt oder an den Standort Leipzig, wo das Reichsgericht seinen Sitz hatte, zurückkehrt.
Ein Kompromiß ist zugunsten von Karlsruhe als Hauptsitz gefunden worden. Unverzichtbarer Teil dieses Kompromisses ist aber die Klausel, daß neue BGH-Senate in Leipzig errichtet werden. Alle Beteiligten wissen seit 1992, daß es nach der Jahrtausendwende vielleicht mal einen zweiten oder dritten Senat in Leipzig geben wird.
Es kann nicht angehen, aus einem mühsam errungenen Kompromiß den Teil, der einem nicht schmeckt, herauszubrechen. Wer das wie der BGH-Präsident versucht, der gefährdet den ganzen Kompromiß und eröffnet die Sitzfrage erneut; denn dann wird die Grundsatzfrage wieder aufgeworfen. Die Beschlüsse der Föderalismuskommission gelten zur Gänze, Herr Minister.
Erfreulich ist in diesem Zusammenhang - auch da schließe ich mich dem Kollegen Weißgerber an -, daß wir endlich den Streit um die ehemalige Reichsgerichtsbibliothek beendet haben. 75 000 zum Teil äußerst kostbare Bücher aus der Zeit vor 1800 kehren nach Leipzig zurück. Der Teil aus der Zeit nach 1800, von dem die BGH-Richter meinen, daß sie ihn bei der täglichen Arbeit brauchen, verbleibt in Karlsruhe. Ich glaube, das ist ein vernünftiger Kompromiß, Herr von Stetten, den Sie mittragen können.
In der Haushaltsdebatte müssen die verantwortlichen Politiker dem Steuerzahler aber natürlich auch Rechenschaft über die Effizienz und die Kosten der Justiz ablegen. Es ist ähnlich wie bei der Gesundheit: Auch diese ist nach dem Volksmund unbezahlbar. Dennoch muß der Kollege Seehofer gelegentlich darauf achten, daß sie nicht tatsächlich unbezahlbar wird.
Hier vertritt die Koalition das Konzept des schlanken Staates.
Manfred Kolbe
- Sie, Herr Kollege Fischer, personifizieren geradezu die Verschlankung. Sie sind wirklich ein augenfälliges Beispiel dafür.
Die Gründe dafür liegen nicht nur in der gegebenen Enge der öffentlichen Haushalte, sondern auch in dem Bedarf einer grundlegenden Erneuerung im Hinblick auf vielfältige Verkrustungen und Effizienzmängel.
Derzeit häufen sich in Deutschland aber leider die Klagen über zu komplizierte Gesetze, zu lang andauernde Verfahren und zu hohe Personalkosten.
Wir haben in Deutschland heute knapp 85 000 zugelassene Rechtsanwälte. Das sind 10 000 mehr als bei der Haushaltsdebatte zum Bundeshaushalt 1996, also vor zwei Jahren. Das sage ich nur, um die Entwicklung plastisch vorzuführen. Wir haben 20 600 Richter, 5 000 Staatsanwälte und 12 500 Rechtspfleger.
Ein vergleichbarer Industriestaat wie Japan kommt bei einer Bevölkerungszahl von 120 Millionen Einwohnern mit 14 000 Rechtsanwälten, 2 800 Richtern und 1 200 Staatsanwälten aus.
Personalmehrungen sind da nicht mehr möglich. Die Verfahren sind kritisch und kreativ zu überprüfen.
Ich meine, daß die erste Instanz grundsätzlich die einzige Tatsacheninstanz sein sollte. Jeder angehende Jurist, Herr Kleinert, wundert sich schon im Studium
- auch jeder, der das Studium abgeschlossen hat -, warum es bei Mord nur eine Tatsacheninstanz gibt, während ein Zivilrechtsstreit über 2 000 DM, der unzweifelhaft ein geringeres Gewicht hat als ein Mordprozeß, zwei Tatsacheninstanzen hat. Dieser Wertungswiderspruch muß nicht sein. Ich glaube, wir können auch in Zivilverfahren grundsätzlich mit einer Tatsacheninstanz auskommen. Das Rechtsmittelverfahren könnte sich dann grundsätzlich auf die rechtliche Würdigung beschränken.
Auch bei der Besetzung der Spruchkörper sollten wir kreativ sein. Das Einzelrichterprinzip ist auszubauen. Kollegialgerichte könnten in bestimmten Fällen auch mit lediglich zwei Berufsrichtern auskommen. Herr Kleinert, Sie kennen ja die aus dem Studium und der Praxis bekannte Figur des sogenannten „Beischläfers", der nicht in allen Spruchkörpern vertreten sein muß.
- Der ist nur den Juristen bekannt, Herr Fischer, da können Sie ausnahmsweise einmal nicht mitreden.
Schließlich ist auch ein Zusammenhang zwischen der steigenden Verfahrensflut und der ebenfalls steigenden Anwaltsdichte nicht zu leugnen. Obwohl hier natürlich die Berufsfreiheit des Art. 12 GG zu beachten ist, darf auch dieses Thema nicht tabuisiert werden.
Ich darf mich bei der folgenden Frage noch einmal dem Kollegen Weißgerber anschließen - es ist erfreulich, daß es soviel parteipolitische Übereinstimmung gibt -:
Auch die Zahlungsmoral ist in der Tat ein echtes Problem, insbesondere im Osten des Landes. Viele kleine und mittlere Betriebe verzweifeln daran. Hier müssen wir etwas tun, um zu einer Effizienzsteigerung zu kommen.
Es besteht also Handlungsbedarf. Lassen Sie uns aber zunächst einmal die Einzelpläne 07 und 19 beraten.
Danke schön.
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Volker Beck.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bundesminister Schmidt-Jortzig hat sich in den letzten Tagen ja ganz mutig gegen das „Herumschrödern" in der Innenpolitik stark gemacht. Herr Bundesminister, da, wo Sie gegen Populismus und für Besonnenheit bei der Kriminalpolitik eintreten, werden Sie auf die Unterstützung unserer Fraktion immer rechnen können. Als Schutzpatron für Bürgerrechte und Rechtsstaatlichkeit oder gar als Garant für Liberalität in der Rechtspolitik sind Sie allerdings eine Fehlbesetzung.
Sie und Ihre Partei wurden schon viel zu oft beim vorsätzlichen „Mitkanthern" ertappt. Sie verdanken Ihr Amt - daran wollen wir uns doch erinnern - der endgültigen Wende der F.D.P. von einer schmalbrüstigen und kurzatmigen Rechtsstaatspartei zur rechten Staatspartei.
Bei allen Gesetzesverschärfungen und Maßnahmen zum Grundrechtsabbau war die F.D.P. mit dabei: bei der faktischen Abschaffung des Asylgrundrechtes, jetzt beim Großen Lauschangriff, bei der Einführung verdeckter Ermittler, bei der Ausdehnung und Verlängerung der Kronzeugenregelung und bei der Einführung der Hauptverhandlungshaft.
Auch Ihr rechtspolitisches Gesellenstück, die Strafrechtsreform, ist ein plattes und phantastisches Projekt der Verschärfung von Strafrahmen, statt die notwendige Harmonisierung als Chance zur Neujustierung der Strafrahmen - zwischen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und die körperliche Integrität auf der einen Seite und Eigentumsdelikte
Volker Beck
auf der anderen Seite - zu nutzen und das heutige System von Höchst- und Mindeststrafen dahin gehend zu reformieren, daß weniger oder kürzere Freiheitsstrafen in Deutschland verhängt werden müssen.
In dem Werk finden sich fragwürdige Regelungen wie die Neukriminalisierung der versuchten Körperverletzung. Vermißt werden dagegen Vorschläge zu einer Sanktionenrechtsreform, die weniger Freiheits-
und Ersatzfreiheitsstrafen ungleich macht, sowie Ideen zugunsten einer bürokratieärmeren und opferfreundlicheren Sanktionsform bei Kleinkriminalität.
Herr Minister, besonders putzig fand ich, daß Sie in Ihrem Interview heute in der SZ schon Ihre eigene Opposition geben. Sie machen sich stark gegen die Abschiebung straffälliger Ausländer, die hier geboren sind oder schon lange hier leben. Das unterstützen wir voll und ganz. Vor wenigen Wochen haben Sie aber erst ein Gesetz durch den Bundestag gepaukt, mit dem gerade dies zukünftig leichter möglich sein soll. Wenn Sie denn schon eine solche Initiative - im Gegensatz zu uns - für inhaltlich richtig halten, hätten Sie diese Initiative als Hebel nutzen müssen, um endlich ein neues Staatsbürgerschaftsrecht hier im Deutschen Bundestag durchzusetzen.
Bei Sonntagsreden zur Staatsbürgerschaft hören wir immer etwas von liberaler Rechtspolitik. Wenn es im Bundestag unter der Woche zur Sache geht, dann sind Sie bei der Abschiebung von Ausländern mit dabei. Wir bleiben dabei: Das Ausländerrecht ist kein Strafrecht, und Abschiebung ist keine akzeptable Nebenstrafe.
Zur Opposition zu Ihrer gescheiterten Kriminalpolitik besteht allerdings in der Tat Anlaß: Mehr als 40 Gesetze haben Sie hier seit 1991 durch den Bundestag gepaukt, mit denen Strafvorschriften ausgedehnt, Strafrahmen erhöht und Ermittlungsbefugnisse erweitert wurden.
Rechtsstaatliche Prinzipien und Bürgerrechte haben Schaden genommen, die Kriminalität ist nicht gesunken. Die kriminalpolitische Bilanz der Kohl-Regierung liest sich wie eine einzige Bankrotterklärung: 1 Million mehr Straftaten in den alten Ländern seit dem Antritt der konservativ-liberalen Bundesregierung. Die Zahl der jährlichen Drogentoten hat sich seitdem um 346 Prozent erhöht.
Ihr Setzen auf Repression statt Prävention, Ihr Wegschauen bei der Verbrechensvorbeugung hat gezeigt, daß Kriminalität so nicht zu bekämpfen ist. Mit Ihren Konzepten sind Sie am Ende, und um das zu verdecken, hat jetzt Ihr Kollege Kanther - ohne Ihre Kritik hervorzurufen Herr Minister - den großen Krieg gegen die Bagatellkriminalität ausgerufen.
Er hat den Ländern angeboten, den Bundesgrenzschutz im Kampf gegen Schwarzfahrer und Ladendiebe einzusetzen. Das stellt doch die Verhältnisse
auf den Kopf. Da kann man doch nicht mehr von Verhältnismäßigkeit der Mittel sprechen.
Das Prinzip, das Sie mit der Hauptverhandlungshaft eingeführt haben - die Kleinen hängt man, und die Großen läßt man laufen -, soll fortgeführt werden.
Herr Scholz hat in der Sommerpause einen interessanten Vorschlag gemacht - ich bedaure sehr, daß er jetzt nicht hier ist -: Er hat unseren Vorschlag übernommen, bei den Ladendieben in Zukunft die doppelte Schadenswiedergutmachung als Sanktion vorzusehen.
Das ist ein guter Vorschlag. Aber wenn Sie jetzt sagen, das soll nicht ohne zusätzliche Strafe gelten, dann wird es völlig absurd. Wer nicht den Mut hat, Schadenswiedergutmachung vor die Strafe zu stellen, den Rückzug des Strafrechts in diesem Bereich vorzunehmen, wenn der Schaden ausgeglichen ist, der kommt zu dem rechtspolitischen Ergebnis, daß der kleine Ladendieb schärfer bestraft wird als derjenige, der große Betrugsverbrechen und Steuerhinterziehungen begeht, weil dieser mit Freiheits- und Geldstrafe allein davonkommt.
Es ist modern geworden, New York zu zitieren. Kanthers sozialdemokratischer Background-Chor von Schröder über Voscherau, Scherf und Schmalstieg intoniert in diesen Tagen das Frank-SinatraLied „New York, New York": If we can make it there, we can make it everywhere.
- Dafür reicht die Redezeit nicht.
Nulltoleranz und „broken windows sind die Schlüsselbegriffe. Wir können aus New York lernen. Wenn Stadtviertel und Straßenzüge verwahrlosen, dürfen wir nicht wegschauen. Hier müssen wir sozialpolitisch und städtebaulich eingreifen und auch mit Polizeipräsenz reagieren. Aber allein auf die Polizei zu setzen, ist der Grundfehler in New York.
Stichwort „broken windows": Bei zerbrochenen Fensterscheiben bestellt man den Glaser und nicht den Polizisten, weil der Glaser das besser reparieren kann.
Ich möchte noch ein paar Fakten nennen. Es wird die Wundermär erzählt, wie toll es in New York geworden ist. Waigel hat im „Focus" gesagt, New York sei die sicherste Stadt auf dieser Welt. Na, danke für Obst, kann ich da nur sagen.
In New York sind im letzten Jahr so viele Menschen umgebracht worden wie in der ganzen Bundesrepublik. Stellen Sie sich das einmal vor: In einer Stadt mit 7,3 Millionen Einwohnern wurden so viele
Volker Beck
Menschen ermordet wie in unserem Land mit 81 bis 82 Millionen Menschen. Das ist eine zehnmal höhere Kriminalitätsbelastung. Das kann doch wohl nicht Ausgangspunkt unserer Überlegungen und Vorbild für unsere Kriminalpolitik sein.
In anderen amerikanischen Städten, in denen eine andere Strategie verfolgt wurde, zum Beispiel in Los Angeles, haben wir gute Ergebnisse bei der Kriminalitätssenkung und der Senkung der Mordrate.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluß kommen.
Einen Satz noch, Herr Präsident.
Die Gründe dafür sind der demographische Wandel in der Gesellschaft, die sinkende Arbeitslosigkeit und die Tatsache, daß dort ein Problem, das wir Gott sei Dank nicht haben, durch die Entwaffnung eines Teils der Bevölkerung gelöst werden kann. Die Bewaffnung ist auf Grund der dortigen laschen Waffengesetzgebung ein großes Problem. Ich hoffe, daß wir uns dieses Problem nicht erst schaffen werden. Wir sollten mit Prävention mehr Sicherheit schaffen. Ein alleiniges Setzen auf Regression wird die zu hohe Kriminalitätsbelastung nicht senken, unserer Demokratie allerdings schaden.
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Detlef Kleinert.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die Aufführung des Beckschen Musicals „New York, New York" war eindrucksvoll, aber rechtlich, rechtspolitisch und kriminalpolitisch kolossal wenig ergiebig.
Auch hilft es nicht, wenn Sie andere Leute beschimpfen, die sich der unglaublich schwierigen Aufgabe stellen, zu erkennen, daß der Bürger genauso ein Recht auf seine Garantien in gerichtlichen Verfahren, ein Recht auf ein faires Verfahren, auf die Unschuldsvermutung bis zur Verurteilung hat, wie er auch ein Recht auf Sicherheitsgewährung durch den Staat hat. Auf Grund sich ständig wandelnder Umweltverhältnisse in ständig neuer Abwägung dazwischen einen fairen Weg zu finden, das ist eine Aufgabe, bei der man wenig Freunde erwerben kann, bei der man viele Risiken läuft, insbesondere die, in der Gunst des Bürgers zu sinken, der man sich aber, wenn man verantwortliche Rechtspolitik machen will, immer wieder stellen muß.
Es nützen keine Musicalaufführungen, sondern man muß sich der Sache stellen, anstatt andere Leute einfach so mir nichts, dir nichts zu beschimpfen.
Ich komme bei den Haushaltsdebatten immer wieder auf die Idee, wir würden über diesen Haushalt sprechen, es ginge um Geld und darum, wie Geld ausgegeben werden soll. Das habe ich heute von wohlmögenden und großartigen Rednern schon ganz anders vernommen. Es wäre überhaupt die Stunde für eine Debatte über die Lage der Nation, hat einer gesagt. Aber das ist eine andere Abteilung.
Es geht darum: Wie geht der Bundesjustizminister mit dem Geld der Bürger um? Prozentual - das haben wir schon gehört - ist es ein ganz erstaunlich kleiner Betrag, der in diesem Lande für die Rechtspflege aufgewendet wird. Es ist noch kleiner, wenn man den Bund betrachtet, der allerdings zugegebenermaßen die geringsten Lasten für die tatsächliche Durchführung der Rechtsgewährung zu tragen hat.
Aber es ist im Lauf der Jahre immerhin eine stabile Tatsache geblieben, daß hier sehr wenig Geld ausgegeben wird - im Bund sowieso. In den Ländern kann man schon eher sagen: leider.
In den Ländern hören wir immer wieder, daß eine Instanz genügt. Von Herrn Kolbe habe ich zu meinem Mißfallen gehört, daß man den Einzelrichter fördern muß.
Wenn alles ganz anders würde - auch das Thema hatten wir schon -, wenn wir einen anderen Zugang zum Richteramt hätten und wenn daraus eine andere Art von Vertrauen in die Richterpersönlichkeiten erwachsen würde, dann könnten wir mehr Einzelrichter haben.
Die Kunst wird sein, einen Übergang zwischen Kammer und Einzelrichter dergestalt zu finden, daß man sagt: Dieser oder jener ist besonders befähigt, als Einzelrichter tätig zu sein. Er wird auch anders besoldet - allerdings nur ein wenig anders; mehr läßt das System ohnehin nicht zu; da bin ich schon ganz sicher -, damit man vielleicht auch von außen zusätzliche, besonders lebenserfahrene Kräfte gewinnen kann. Dann kann man auf dem Weg zum Einzelrichter weiterkommen.
In unserem jetzigen System wird die Mehrheit der Anwaltschaft davon abraten, daß man den Einzelrichter fördern muß. Wir möchten schon gerne noch eine zweite Chance haben. Wenn uns der eine nicht zuhören mag, dann hört vielleicht der vorhin erwähnte Beischläfer zu - ein hartes Wort. Ich würde eher sagen: „fleet in being" . So ein Mann sitzt da und sieht fast etwas müde aus. Aber wenn die Herausforderung kommt, wird er wieder wach und dann hallo.
Dadurch kann er dann sein Gehalt verdienen.
Detlef Kleinert
Diesen Möglichkeiten sollten wir uns nicht leichtfertig verschließen, und wir sollten schon gar nicht Vergleiche zu Japan anstellen. Die Zahlen sind zutreffend. Reisen bildet bekanntlich, obwohl immer wieder schlecht darüber gesprochen wird. Frau Däubler-Gmelin weiß genau, was jetzt kommt. Auch sie war dabei.
Als wir uns einmal der Mühe unterzogen haben, an viel zu kleinen Tischen Platz zu nehmen, um herauszufinden, wieso sie in Japan mit so wenigen Richtern auskommen, stellten wir fest: Sie lassen das Ganze einfach vollaufen, und dann gibt es eben kein Urteil. Das Verfahren dauert eben 10 oder 15 Jahre und erledigt sich unter Umständen dadurch, daß die Parteien, ich sage einmal höflich: aus welchen Gründen auch immer kein Interesse mehr an der Sache haben. Das ist natürlich nicht die Lösung, die wir für unser Land anstreben sollten. Ich kenne hier auch niemanden, der das ernsthaft vertreten würde.
- Herr Kolbe muß auch einmal reisen. Dann ändert sich seine Einstellung zu der vorbildhaften Natur des Rechtssystems in Japan. - Das mag für die dortigen Verhältnisse so richtig sein, aber nicht für uns.
Ich möchte noch ganz kurz sagen: Es gibt praktische Möglichkeiten, auch hier Geld zu sparen, ohne den genannten Interessen der Bürger zu widerstreiten. Wir werden in Kürze den Entwurf der Bundesregierung für eine Änderung der Zwangsvollstrekkungsordnung im Rechtsausschuß zu beraten haben. Wir haben interfraktionell - es ist immer wieder das Gute und Schöne in unserem Bereich, daß die Freude an der Sache durchschlägt - eine Lösung über den Entwurf der Bundesregierung hinaus erdacht, die dazu führen wird, daß die Verfahren wesentlich schneller, wesentlich preiswerter und viel effizienter werden. Darüber unterhalten wir uns dann zu gegebener Zeit.
Sie müssen zum Schluß kommen, Herr Kleinert.
Ich höre, daß ich meine kaum begonnene Rede zum Schluß bringen soll.
Das hängt damit zusammen, daß wir versuchen, in dieser einen Woche alles gleichzeitig zu beraten, eine Idee, von der ich Abstand zu nehmen rate. Denn die Öffentlichkeit wird es eh nicht zur Kenntnis nehmen. Um so schöner ist es, daß wir uns wenigstens in dieser Runde sehen konnten.
Danke schön.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Uwe-Jens Heuer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Minister Kanther hat über geistige Erneuerung und Werte gesprochen. Nun kann man über geistige Erneuerung und Werte sehr verschiedener Meinung sein. Ich möchte über ein Thema sprechen, worüber es mehr Einverständnis geben kann, weil es einen eindeutigen Maßstab, das Grundgesetz, gibt, nämlich über das Verfassungsverständnis von Politikern dieses Landes.
Sie wissen, daß in den jährlichen Berichten des Bundesamtes für Verfassungsschutz wiederholt die PDS und auch einzelne Bundestagsabgeordnete unter der Rubrik Linksextremismus als Verfassungsfeinde genannt werden. Als Beleg reichte im Bericht 1995 in meinem Fall dafür die sicherlich in keiner Weise grundgesetzwidrige Äußerung „Wer Sozialismus will, kann an dem gescheiterten Sozialismusversuch nicht vorbeigehen ...". 1996 wurde zitiert, es sei eine notwendige Aufgabe, eine „sozialistische Alternative aus den heutigen Widersprüchen und gesellschaftlichen Problemen theoretisch abzuleiten und sie theoretisch zu rekonstruieren". Für die Aufdekkung solcher „Verschwörungen" werden Steuergelder verwandt.
Die faktisch gegebene uneingeschränkte Definitions- und Denunziationsmacht der Bundesregierung hinsichtlich der Frage der Verfassungsfeindlichkeit von Personen und Organisationen macht so etwas bis heute möglich.
Das Grundgesetz von 1949 war Ergebnis der verheerenden Niederlage des deutschen Faschismus. Es sollte ein neues demokratisches, sozial- und rechtsstaatliches Deutschland begründen, das der Aggressionspolitik abschwört.
Dieser „historische Kompromiß" ist heute tatsächlich bedroht, aber nicht durch die PDS, sondern aus der rechten Mitte heraus.
Das ist eine schwerwiegende Behauptung, aber ich meine, daß sie zu belegen ist.
Der Gesetzgeber engte 1993 das Asylrecht rigoros ein - Art. 16a.
Die Politik des Einsatzes der Bundeswehr im Ausland „zur Wahrnehmung deutscher Interessen" wurde 1994 mittels einer höchst fragwürdigen Auslegung des Grundgesetzes - Art. 87 - abgesegnet. Ignoriert wurde seit 1995 in immer schärferem Maße das So-
Dr. Uwe-Jens Heuer
zialstaatsgebot des Grundgesetzes - Art. 20 - als Barriere gegen den Sozialabbau.
Das Bundesministerium der Justiz versteht sich auch als „Verfassungsressort" der Bundesregierung. Tatsächlich aber betätigte sich der Bundesminister der Justiz selbst aktiv als Mittäter des Grundgesetzabbaus. Der große Lauschangriff, auf den sich kürzlich eine große Koalition von CDU/CSU, F.D.P. und SPD geeinigt hat, fand seine aktive Unterstützung. Damit ist Art. 13 des Grundgesetzes fällig. Noch vor dreieinhalb Jahren gab es einen entsprechenden Antrag zu Art. 13 des Grundgesetzes in der Gemeinsamen Verfassungskommission. Die SPD lehnte sofort kategorisch ab.
Auch der CDU war dieser Antrag offenbar peinlich. Damals wurden die Reformvorschläge der Opposition immer wieder mit der Erklärung, das Grundgesetz habe sich bewährt, vom Tisch gewischt.
Es war und bleibt ein Skandal der deutschen Justizgeschichte, daß der damalige Justizminister Klaus Kinkel auf dem 15. Deutschen Richtertag am 23. September 1991 an die anwesenden Richter und Staatsanwälte appellierte, es müsse der Justiz gelingen, „das SED-Regime zu delegitimieren" .
Wie verfuhr die unabhängige Justiz? Weil das rechtsstaatliche Prinzip „nulla poene, sine lege" aus Art. 103 des Grundgesetzes einer politischen Strafverfolgung der führenden Politiker der DDR im Wege stand, wurde es mit dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Oktober 1996 in bezug auf die Grenzordnung der DDR aufgehoben.
Ich meine, dieser Beschluß war verfassungswidrig. Am 25. August entschied das Landgericht Berlin im sogenannten Politbüroprozeß entsprechend. Im Gegensatz zum Kollegen Kolbe meine ich nicht, daß der Rechtsstaat hier seine Probe bravourös bestanden hat.
Die deutsche Einheit ist nicht zu realisieren, wenn die einen ein Grundrecht ganz haben und die anderen nur eingeschränkt.
Ich sehe es auch als ein Alarmzeichen an, daß vom rechten Spektrum der politischen und ökonomischen Elite grundsätzliche Aufforderungen ergehen, nun eine Systemveränderungsdebatte zu beginnen. Hans-Olaf Henkel, Präsident des BDI, möchte unter anderem die föderalistische Struktur der Bundesrepublik - Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes - zur Disposition stellen. Ihm ist auch laut „Spiegel", 30/1997,
das Konsensgesülze im System der Zusammenarbeit von Gewerkschaften und Unternehmen „zuwider". Ihm wird von den Kollegen Graf Lambsdorff und Schäuble sekundiert.
Wenn ich aus dieser Entwicklung ein Fazit ziehen kann, so meine ich, daß dies nicht besser geschehen kann als durch ein Zitat aus einem Artikel von Heribert Prantl in der „Süddeutschen Zeitung" vorn 9. August. Er schreibt:
1992/94 wurde das Grundgesetz quasi unter Denkmalschutz gestellt. Heute bedauern die Denkmalschützer von gestern die Schwierigkeiten, die sich jetzt beim Umbau des Hauses ergeben. Deshalb kommen sie nun mit der Abrißbirne. Ist das jetzt die große Wende, die Helmut Kohl 1982 angekündigt hat?
Ich gebe das Wort der Abgeordneten Frau Dr. Herta Däubler-Gmelin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Haushaltsdebatte zeigt in jedem Jahr wieder in gleicher Weise erstens, daß wir nicht ganz so giftig miteinander sind wie andere, und zweitens: Herr Kleinert kann sein Wort von der „fleet in being" loswerden. Drittens geht es gelegentlich auch um Zahlen, wenn es um den Haushalt geht, nicht nur um den Versuch, in der einen oder anderen grundsätzlichen Frage miteinander zu reden oder sie zumindest anzusprechen.
Ich möchte zunächst einige Bemerkungen zu den Zahlen machen. Ich glaube, es ist durchaus wichtig, daß wir uns in Erinnerung holen, was Gunter Weißgerber zur Wehrstrafgerichtsbarkeit gesagt hat: Die Institution ist töter als tot. Kein Mensch will sie, jedenfalls keiner, der seine Sinne beisammen hat.
Wir sind auch durch niemand gezwungen, sie zu machen. Im Haushalt ist auch kaum mehr Geld dafür. Ich bin der Meinung, man sollte die jetzigen Haushaltsberatungen dazu benutzen, dieses Kapitel zu streichen. Ich glaube, es sind zweimal 5000 DM. Diese könnten Sie doch hervorragend woanders unterbringen. Wenn Sie dazu Anregungen brauchen, würde ich mir gestatten, eine zu machen. Die Beratungshilfe für den Aufbau von Demokratie und Marktwirtschaft in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, den Staaten Mittel- und Osteuropas, ist eine nützliche Sache.
Wohin wir auch immer kommen, sagen uns unsere Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner, daß sie an sehr viel mehr Aufbauhilfe und Unterstützung interessiert wären. Hier könnte man mühelos etwas sinnvoller unterbringen, was jetzt von der Symbolik und vom Geld her -10 000 DM zuviel - falsch ist.
Weiter möchte ich noch einmal die Not des Bundesgerichtshofs unterstreichen, der nun wirklich teil-
Dr. Herta Däubler-Gmelin
weise in Karnickelställen sitzt, die nicht nur polizeiwidrig sind, sondern auch eindeutig nicht der Rechtsfindung dienen.
Wir alle wissen, daß 2,8 Millionen DM Planungs- und Projektierungsmittel gefunden werden müssen. Die Stellungnahmen des Rechnungshofes sind uns auch bekannt. Ich glaube, daß wir in den Haushaltsberatungen jetzt einen Weg finden müssen, diese Projektierungsmittel freizusetzen, damit angefangen werden kann. Ich bitte Sie ganz ausdrücklich darum, mit uns zu versuchen, einen Weg zu finden.
Lassen Sie mich aber auch noch einige andere Anmerkungen machen. Sie, verehrter Herr Bundesjustizminister, haben eine große Zahl von Einladungen zu Ihrem Lob ausgesprochen. Nun will ich gar nicht so unkameradschaftlich sein und mich da mehr als nötig zieren, zumal Sie wissen, daß ich einiges von dem, was Sie sagen, außerordentlich sympathisch finde, das um so mehr, als Sie freundlicherweise durchaus auch zugegeben haben, daß Sie gelegentlich auf Ideen von uns im Kindschaftsrecht oder beim Strafrahmen zurückgreifen.
Auch das, was jetzt beim Zwangsvollstreckungsrecht und beim Ordnungswidrigkeitenrecht auf den Weg gebracht wurde, könnte, sollte und müßte durchaus in dieser Kategorie genannt werden. Nun brauchen wir uns nichts vorzumachen. In unserem Beruf gilt der Satz plagiare necesse est. Warum auch nicht? Es wäre natürlich gut, wenn wir über das hinaus, worauf wir uns vernünftig verständigen können, ein bißchen schneller vorankämen. Dann fiele es mir noch leichter, Sie zu loben; dann würde ich zum Beispiel auch noch deutlich erwähnen, daß ich es gut finde, daß dieses bescheuerte Gesetzesvorhaben zu dem Thema „Soldaten sind Mörder" nicht kommt. Da hat sich wirklich auch Vernunft durchgesetzt.
- Herr Geis, nehmen Sie mir bitte nicht schon wieder jede Illusion.
Ich möchte ja so gerne auch an die Vernunft in Ihren Kreisen glauben.
Es wäre dann natürlich auch ganz gut, wenn man sich noch auf andere Dinge verständigen könnte. Die Flexibilisierung und Ausweitung des Sanktionensystems ist mittlerweile so weit vorangeschritten, daß man dazu keine Kommission mehr einzusetzen braucht. Es wäre sehr sinnvoll, wenn Sie die Kommission für ganz andere Dinge einsetzen würden, die dann einen gesamtstaatlichen Impuls zur Justizreform geben und auch den Ländern zusätzliche Entlastung bringen könnten, zum Beispiel die Angleichung der unterschiedlichen Verfahrungsordnungen oder das Projekt, das wir gemeinsam unternehmen sollten und dem ein vernünftiger Mensch nicht
widersprechen kann, die Eingangsgerichte zur Hauptsache der Gerichtsbarkeit zu machen.
Das würde natürlich nach sich ziehen, daß die vernünftigsten, besten und erfahrendsten Richter und vor allen Dingen die Richter mit der größten sozialen Kompetenz in diesen Bereichen sitzen. Das hat dann auch wieder Auswirkungen vom Dienstrecht bis hin zum Besoldungsrecht. Hierfür brauchen wir eine Kommission, weil wir spätestens in der nächsten Legislaturperiode, in der es andere Mehrheiten geben wird, wie wir wissen, entscheidend weiterkommen müssen.
Meine Damen und Herren, ich würde den Justizminister noch gerne wegen anderer Dinge loben. Manche Interviews, die Sie geben, gefallen mir sehr und finden auch meine Sympathie. In der Praxis sähe ich gerne noch ein wenig mehr Durchsetzungsvermögen hier im Haus und auch sonst.
Fangen wir beim Sexualstrafrecht an. Sie wissen, ich teile die Auffassung, daß hier vieles in der Praxis im argen liegt. Je mehr man hereinschaut, um so schlimmer ist es. Ich finde es auch gut und darf es ausdrücklich sagen, daß wir Ihre Unterstützung bei der Ermittlung von mehr Zahlenmaterial bekommen haben. In diesem Bereich wird noch mehr erforderlich sein. Aber warum zum Teufel muß man mitmachen, wenn im Bereich der Sicherungsverwahrung Gesetze in die falsche Richtung geändert werden? Das verstehe ich einfach deswegen nicht, weil das kein Kind besser schützen wird,
sondern lediglich dazu führen wird, daß hier wahrscheinlich, Herr Geis, die falschen Täter und nicht die, die Sie und ich einsperren möchten, zu Lasten des Steuerzahlers länger im Gefängnis sitzen.
Wir haben in der Anhörung von Montag relativ lange darüber geredet und werden es auch fortsetzen. Sie haben das gleiche Ziel wie ich, nämlich die Kinder mehr zu schützen. Lassen Sie uns doch um Gottes willen prüfen, wo die Mängel wirklich liegen, und sie beheben und nicht ständig diesem Pawlowschen Reflex gehorchen, neue Gesetze machen zu wollen, um einfach etwas vorzeigen zu können.
Auch der gute Herr Kanther hat heute so getan, als hätte er es jetzt verstanden. Warum sollte man dann in der Frage des Sexualstrafrechts nicht konsequent sein?
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Herr Bundesjustizminister, ich hätte gerne ihre Unterstützung für ein paar andere Dinge. Sie haben Europa erwähnt. In der Tat muß es darum gehen, daß wir in kürzester Zeit sozialstaatliche, demokratische und rechtsstaatliche Verhältnisse, kurz, einen gemeinsamen europäischen Rechtsraum bekommen, wie wir ihn uns - ich sage es jetzt einmal - gemeinsam vorstellen. Dazu gehört nicht nur das Projekt „Gemeinsame europäische Bürgerrechte", das wir dringend wollen; dazu gehört auch die Verbesserung des Rechtsschutzes. Dazu gehört freilich auch eine klar verbesserte Zusammenarbeit zur Bekämpfung der über die Grenzen hinausgehenden Kriminalität, sei sie nun organisiert oder nicht.
Dazu gehört auch, daß Europol seine Tätigkeit aufnehmen kann. Aber warum - ich wiederhole: warum - muß das mit einem Immunitätsprotokoll in Zusammenhang gebracht werden, das jedem unserer rechtsstaatlichen Grundsätze ins Gesicht schlägt? Ich verstehe gar nicht, warum man die Amtstätigkeiten - Worte, Taten und auch Schriftlichkeiten - der Europol-Beamten „von jeglicher Gerichtsbarkeit" ausnehmen muß. Wo sind wir denn eigentlich? Sind wir wirklich der Meinung, sind Sie wirklich der Meinung, wir sollten in der Schaffung des europäischen Rechtsraumes wieder da anfangen, wo wir vor hundert Jahren waren, und alles das, was wir schon erkämpft hatten, noch einmal erkämpfen müssen? Ich bitte Sie: Das ist doch nicht allein ein sozialdemokratisches Projekt. Da müßten doch auch bei Ihnen sämtliche Warnlampen leuchten. Da müßten Sie doch mit uns zusammenarbeiten.
- Natürlich. Die sind zum Teil ganz vernünftig;
aber dies ist es nicht. - Gut, ich weiß jetzt nicht, was Sie meinen, Herr Kleinert.
Möglicherweise müssen wir noch mehr Begründungen dafür nennen, daß wir das nicht akzeptieren können. Das ist mir recht; das wissen Sie auch.
Ich habe noch eine letzte Bitte - für heute; natürlich werden in Zukunft noch weitere kommen. Wir haben vor mehreren Monaten für die Deserteure in einem, wie ich finde, ganz ordentlichen Aufeinanderzugehen eine gemeinsame Erklärung des Deutschen Bundestages beschlossen, die durchaus würdig war, bei allen Schwierigkeiten und Mängeln, die ich oder die andere darin noch haben sehen können. Erstens steht der Erlaß des Bundesfinanzministeriums noch aus; zweitens können wir die Form so noch nicht akzeptieren. Meine Bitte nicht nur an Sie, die Kollegen von der Union und der F.D.P., sondern auch an Sie, Herr Bundesjustizminister, obwohl Sie ressortmäßig nicht zuständig sind, ist, daß Sie mithelfen, daß wir dieses Kapitel der deutschen Geschichte auf eine
schnelle und auf eine würdige Weise zu Ende bringen.
Herzlichen Dank.
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Norbert Geis.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Däubler-Gmelin, der Erlaß liegt vor. Nur, Sie sind nicht damit einverstanden - aus Gründen, die ich nicht nachvollziehen kann. Ich bin der Auffassung, daß der Erlaß sich ganz und gar nach der Entschließung richtet. Danach hat er sich auch zu richten.
Es können in den Erlaß keine Dinge aufgenommen werden, die nichts mit der Entschließung zu tun haben.
Aber wir können darüber vielleicht noch einmal in aller Ruhe reden. Ich will jetzt dazu nur deshalb Stellung nehmen, weil Sie das Thema aufgegriffen haben.
Lassen Sie mich aber zu einem anderen Gedanken kommen. Es geht um die Prozesse in Berlin gegen die Mitglieder des Politbüros, Herr Heuer. Es kam das Wort von der „Siegerjustiz" auf. Wahrheit ist, daß sich die Bevölkerung der damaligen DDR in einer unblutigen Revolution gegen Lug und Trug und gegen die Gewaltherrschaft der SED gewandt hat und die Machthaber aus dem Amt vertrieben hat. Jetzt haben sich diese Machthaber wegen ihrer Taten zu verantworten.
Das ist gerecht. Anders kann sich der Rechtsstaat nicht verhalten. Das hat nichts mit Rache, das hat nichts mit Revanche zu tun. Das hätte nicht anders sein können, wenn sich die DDR nicht mit der damaligen Bundesrepublik vereinigt hätte, sondern ein selbständiger, aber demokratischer Staat geworden wäre. Deswegen ist dieses Wort von der sogenannten „Siegerjustiz" so falsch.
Es ist schwer genug, diese Regierungskriminalität aufzuarbeiten, doch schon allein deshalb, weil auf Grund des Rückwirkungsverbotes in Art. 103 des Grundgesetzes nicht unser Strafrecht angewendet werden kann. Vielmehr können die damaligen SED-Funktionäre nur nach den damaligen Gesetzen der DDR bestraft werden. Nur wenn nachgewiesen wird, daß sie gegen diese Gesetze verstoßen haben, ist ein Urteil überhaupt möglich.
Norbert Geis
Das erklärt auch - das muß man der Bevölkerung sagen -, warum so viele Taten, die wir als Unrecht empfinden, gar nicht zur Anklage kommen können: weil unser Strafrecht keine Geltung hat. Unser Strafrecht gilt nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes nur für die Fälle, für die es milder als das vormalige DDR-Recht ist. Das ist nicht ganz so oft der Fall. Aber es ist schon einmal bei den Mitgliedern des Verteidigungsrates angewendet worden, bei Herrn Keßler, Herrn Albrecht und Herrn Streletz. In diesem Fall ist westdeutsches Strafrecht angewendet worden, weil es in diesen Fällen milder als das DDR-Recht war.
Nur dann, wenn die begangene Tat in Übereinstimmung mit dem DDR-Recht kraß gegen die Gerechtigkeit verstoßen hat, ist nach der Radbruchschen Formel aus dem Jahre 1946 eine Verurteilung möglich. Das hat Krenz zu spüren bekommen. Deswegen ist das Urteil gegen Krenz auch nach meiner Auffassung richtig. Wie auch immer: Die Justiz hat es in den Händen. Über das Urteil mag ein Revisionsgericht befinden. Aber wir sollten hier nicht von „Siegerjustiz" sprechen. Wir sollten dieses Urteil nicht als nicht verfassungsgemäß bezeichnen.
Eine ganz andere Frage ist die Frage der Amnestie und des Schlußstriches, der gefordert wird. Ich bin nicht dafür. Wenn überhaupt eine Gelegenheit bestand, einen solchen Gedanken durchzusetzen, dann war es in der Zeit der Revolution oder in der Zeit danach, als der Westen und der Osten die Einigungsverträge ausgehandelt und durchgesetzt haben. Da hätte man vielleicht eine Amnestie erlassen und einen Schlußstrich ziehen können. Jetzt aber, wo es den Rechtsstaat gibt, müssen wir uns daran erinnern, was der Rechtsstaat tun muß. Er muß nämlich dafür sorgen, daß Recht und Ordnung Geltung haben und daß sich die Gerechtigkeit durchsetzt. Das kann er mit einem demokratisch legitimierten Strafrecht, das sich den Einzelfall anschaut und das dem Einzelfall entsprechend sein Urteil spricht.
Eine weitere Frage ist, ob wir die Verjährungsfrist für Straftaten, die jetzt am 31. Dezember verjähren, verlängern. Das muß überlegt werden. In diesem Punkt müssen wir die dafür zuständigen Länderminister hören. Wir müssen aber auch die Staatsanwaltschaft hören, die in Berlin diese Taten von Regierungskriminalität verfolgt. Erst dann sollten wir dem Gedanken nähertreten. Es stehen aber viele andere gewichtige Argumente dagegen. Auch das darf man nicht übersehen.
Eine der wichtigsten Aufgaben der Rechtspolitik bleibt die innere Sicherheit. Das ist heute oft genug gesagt worden. Wir haben einen Anstieg der organisierten Kriminalität, der Gewalt-, der Ausländer- und der Jugendkriminalität. Das hat viele Gründe.
Herr Kollege Geis, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Heuer?
Bitte sehr.
Lieber Kollege Geis, räumen Sie mir erstens ein, daß ich nicht „Siegerjustiz" gesagt habe?
Zweitens haben Sie eine ganze Reihe anderer Fragen überhaupt nicht berücksichtigt, zum Beispiel die welthistorische Einbindung, die Frage, wie weit die DDR überhaupt in der Lage war, selbständig zu entscheiden. Was ich gesagt habe, war - und ich frage Sie, ob sie das widerlegen wollen -, daß das Bundesverfassungsgericht im Gegensatz zu den Instanzgerichten gesagt hat: Der Art. 103 des Grundgesetzes findet hier keine Anwendung. Das halte ich wirklich für verfassungswidrig, weil der Art. 103 des Grundgesetzes einer der ganz eindeutigen Artikel ist.
Ich habe das Wort „Siegerjustiz" nicht gebraucht. Ich habe nur gesagt, ich halte das für verfassungswidrig, was das Bundesverfassungsgericht gemacht hat. Das widerlegen Sie nicht mit Ihren Ausführungen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sie haben das Wort „Siegerjustiz" hier nicht gebraucht. Aber es ist von Krenz und von anderen Mitgliedern auch Ihrer Partei gebraucht worden. Darauf habe ich Bezug genommen. Sie selbst haben es hier heute nicht gesagt. Das ist richtig.
- Er hat es wohl sinngemäß gemeint. Aber ich will darüber jetzt nicht finessieren.
Aber eines hat das Bundesverfassungsgericht zu Art. 103 des Grundgesetzes gesagt: Der Art. 103 des Grundgesetzes gilt für den Fall nicht, wenn das deutsche Strafrecht, wie ich das vorhin ausgeführt habe, milder als das Strafrecht der DDR ist. In diesem Fall verstößt die Anwendung des jetzigen Strafrechtes Gesamtdeutschlands nicht gegen das Rückwirkungsverbot.
Auch ein Zweites ist bestätigt. Das ist die Tatsache, daß es dann zu einer Strafverfolgung kommen kann, wenn eine Tat mit dem vormaligen DDR-Strafrecht in Übereinstimmung steht. Wenn aber die Tat in einer groben, massiven Weise - nicht in einer NebenbeiWeise - gegen das Gerechtigkeitsgebot verstößt, dann ist es ebenfalls möglich, das sogenannte übergesetzliche, das überverfassungsrechtliche allgemeine Recht, wie es Radbruch für das Nazi-Recht formuliert hat, entsprechend auch in diesem Fall anzuwenden.
Ich meine, darüber brauchen wir uns keine Gedanken zu machen. Ich halte das durchaus für verfassungskonform.
Ich möchte zu der Frage des Anwachsens der Kriminalität zurückkommen. Dies ist die wichtigste Aufgabe, die wir in der Rechtspolitik haben. Hierzu wird ein Großteil aus Ihrem Ministerium, Herr Minister, geleistet.
Norbert Geis
Es geht dabei um das Sexualstrafrecht, um den Schutz von Frauen und Kindern vor Sexualstraftätern. Wir diskutieren hierüber bereits ein Jahr lang. Es ist am 6. Oktober des letzten Jahres gewesen, daß der Rechtsausschuß eine erste Anhörung dazu durchgeführt hat.
Wir haben damals gesagt: Es ist durchaus möglich, daß wir bis zur Sommerpause ein entsprechendes Gesetz im Bundesgesetzblatt haben. Wir haben auch gesagt, daß wir dann, wenn die beiden Gesetzgebungsvorhaben, das Strafrahmenharmonisierungsgesetz und das Sexualstrafgesetz, verschiedene Geschwindigkeiten entwickeln, das Sexualstrafgesetz vorziehen.
Ich bin der Meinung, es ist jetzt der Augenblick gekommen, an dem wir uns das eingestehen müssen. Das Strafrahmenharmonisierungsgesetz ist zwar ein wichtiges Gesetzgebungsvorhaben, benötigt aber sehr detaillierte Beratungen. Die Berichterstatter sind einfach überfordert, wenn sie in kürzester Frist all die vielen Punkte - die Anhörung hat gezeigt, wie notwendig es ist, daß wir in die Beratung über die einzelnen Punkte eintreten - gewissermaßen im Schnellgalopp bewerten müssen. Ihr Haus hat da einen Vorteil. Sie haben einen langen Vorlauf. Ihre Fachleute beschäftigen sich damit vielleicht schon jahrelang.
Wir können das nicht in der Kürze der Frist so beurteilen, wie die Fachleute das tun. Ich sage Ihnen noch einmal hier vor dem Plenum: Ich bin sehr dafür,
daß wir das Strafrahmenharmonisierungsgesetz verabschieden - aber bitte nicht unbedingt zeitgleich mit dem Sexualstrafrecht. Hier ist, wie ich meine, eine Antwort dringend erforderlich. Die können wir geben; hier sind wir weitgehend einig.
Herr Präsident, ein Schlußsatz. Ich danke für die gute Zusammenarbeit und auch für die große Leistung, die aus dem Justizministerium kommt. Wir befassen uns mit einer Vielfalt von Themen. Jedes Thema bedarf einer ganz intensiven Vorbereitung. Ich danke auch den Kolleginnen und Kollegen im Ausschuß und hoffe, daß sich das gute Klima auch im letzten Jahr dieser Legislaturperiode fortsetzen läßt.
Danke schön.
Wenn es heißt, man wolle nur noch einen Satz sprechen, dann habe ich offenbar immer Probleme mit der Interpunktion. Das ist schon mehrfach vorgekommen.
Weitere Wortmeldungen liegen für die heutige Sitzung nicht vor.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 11. September 1997, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.