Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Herren! Der Bundeskanzler hat soeben noch einmal den Finanzminister verteidigt und in Schutz genommen sowie seine Leistungen für die deutsche Finanzpolitik zu würdigen versucht. Ebenso hat er in seiner Ansprache dargelegt, was er seit 1982 auf den Weg gebracht hat. Über beidem lag so etwas wie ein Hauch von Abschied.
Als der Bundeskanzler den Finanzminister und seine Leistungen gewürdigt hat, stellte ich mir die Frage, was eigentlich vorausgegangen sein muß, damit es immer wieder zu diesem demonstrativen Schulterschluß kommt, der unverkennbar etwas von einem schlechten Gewissen an sich hat.
Um dies zu belegen und da wir heute so zitierfreudig sind, zitiere ich die „Welt am Sonntag", die sich zu diesem Sachverhalt durch den Mund des Bundesfinanzministers äußert. Waigel zu Kohl hinsichtlich der Neubewertung der Goldreserven:
Das blieb an mir hängen, und wie war es wirklich? Ich wollte die Aktion im März abbrechen, und du warst für die Fortsetzung, wolltest die Sache zu Ende bringen.
Und dann - Waigel wörtlich - war Freund Helmut ) „in den Büschen", als es darum ging, die Sache durchzustehen.
Dieses Zitat aus der „Welt am Sonntag", die in der Regel beste Kontakte zu Ihnen hat, ist bis zum heutigen Tag nicht dementiert. Wer von seinem Finanzminister verlangt, daß er eine solch zweifelhafte Aktion durchzieht, und nachher in den Büschen zu finden ist, der hat es im Grunde genommen verwirkt, noch Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland zu sein.
Nun haben Sie dargelegt, was Sie in den zurückliegenden Jahren alles getan haben. Nur, Sie kommen an der Bilanz nicht vorbei. Wir sagen nicht, daß Sie in den zurückliegenden Jahren nichts getan hätten. Aber es ist eine Tatsache, daß Sie die höchste Arbeitslosigkeit, die höchsten Schulden und die höchste Steuer- und Abgabenlast nach dem Krieg zu verantworten haben.
Das ist Ihre Bilanz und nicht das, was Sie hier an beschönigenden Reden vorgetragen haben.
Nun ist es bekannt, daß Angriffe aus der Opposition in der Regel von Ihnen abgewiesen werden. Es ist ebenso bekannt - das gilt für alle Parteien —, daß Angriffe aus den eigenen Reihen eher zum Nachdenken veranlassen.
Nun hat sich kürzlich ein prominenter Christdemokrat, der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker, zu Ihrer Regierungszeit geäußert. Dieser ehemalige Bundespräsident hat ein hohes Ansehen, wie Sie wissen. Sie sollten sich mit seinen Anmerkungen zumindest selbstkritisch auseinandersetzen und hier nicht so viel Selbstgefälligkeit verbreiten. Wenn Sie sich im übrigen hier hinstellen und so tun, als ob Sie die Wahl schon gewonnen hätten, wenn Sie sich dessen ganz sicher sind, sage ich den Wählerinnen und Wählern: Es ist gut, daß einer so selbstgefällig ist und glaubt, er habe den Sieg schon in der Tasche. Dies paßt uns in den Kram. Aber Hochmut kommt vor dem Fall, Herr Bundeskanzler.
Richard von Weizsäcker sagt:
Jedenfalls haben wir nun schon sehr lange ein politisches System in der Regierungsverantwortung,
- das ist, wie Sie richtig erkannt haben, eine vornehme Umschreibung Ihres Namens -
das die von der Demokratie angebotenen Mittel zur Erringung und Bewahrung der Macht auf eine bisher nie gekannte Höhe der Perfektion getrieben hat. Die Konzentration der Kräfte zur Machterhaltung übersteigt bei weitem die offene konzeptionelle Pionierarbeit, von geistiger Führung ganz zu schweigen.
Es war kein Wunder, daß Sie hier wieder versucht haben, Wahlkampf zu machen und Siegeszuversicht zu verbreiten statt Konzepte vorzustellen, wie jetzt die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen sei, wie jetzt die Steuerreform durchzuführen sei, wie jetzt die Rentenreform durchzuführen sei, wie jetzt die ökologische Steuerreform durchzuführen sei und wie jetzt die Lehrstellenmisere zu bekämpfen sei.
Nein, kein Wort davon. Sie beschäftigen sich immer nur mit dem Machterhalt. Hier ist die Analyse Richard von Weizsäckers absolut treffend: Ihnen geht die Macht vor der Lösung der Probleme und vor den Sachfragen. Das ist der Fehler Ihrer Regierungsarbeit in all den Jahren.
Richard von Weizsäcker fährt fort:
Auch leidet die Glaubwürdigkeit der politischen
Führung darunter, wenn nicht offen über die ungelösten Probleme gesprochen wird. Und die
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Mehrzahl der Probleme sind ungelöst und werden durch Gesundbeten
- hier hätte er sagen können: durch Ihr Gesundbeten - nicht besser.
Die Mehrzahl der Probleme ist ungelöst, aber das eigentliche Problem ist, daß Sie so mit der Wahrheit und der Wahrhaftigkeit umgehen, daß kein offener, ehrlicher, demokratischer Dialog mehr möglich ist. Das ist eine Fehlentwicklung der letzten Jahre, die dringend korrigiert werden muß.
Daß Sie überhaupt noch im Zusammenhang mit der Steuerpolitik glauben, an irgend jemanden kritische Aufforderungen richten zu können, ist im Grunde genommen unfaßbar. Keine Regierung auf der ganzen Welt hat sich in der Steuerpolitik ein solches Desaster, ein solches Rein und Raus, eine solche Serie von Lügen gegenüber der Bevölkerung erlaubt wie Ihre Regierung. Und dann stellen Sie sich hier hin und appellieren an andere, seriöse Steuerpolitik zu machen!
Es ist unglaublich, wie wenig Sie in der Lage sind, Ihre eigenen Fehler kritisch aufzuarbeiten.
Sie sagen immer, Sie hätten als einziger die deutsche Einheit gewollt.
Wenn man Ihnen zuhört, sind Sie der einzige, der die Entwicklung in Gang gesetzt hat, die zur deutschen Einheit geführt hat. Übernehmen Sie sich doch nicht so! Daß der Kommunismus zusammengebrochen ist, hat viele Gründe, aber zuallerletzt den Grund Helmut Kohl. Übernehmen Sie sich nicht so.
Sie haben diejenigen, denen es um die innere Einheit ging, um das konkrete Schicksal der Menschen, um die Frage, wie es mit der Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern sein wird, diffamiert und haben statt dessen Ihren harten Kurs durchgesetzt, der im Grunde genommen auf Grund ökonomischer Fehlentscheidungen Massenarbeitslosigkeit in den neuen Ländern zur Folge hatte; und das wußten Sie. Sie haben trotzdem diese Entscheidungen durchgesetzt, weil Ihr Ziel nur Machterhalt und Machtgewinn war und nicht die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen.
Sie haben doch bei der Steuerpolitik ungezählte Male von hier aus gesagt: Wegen der Einheit brauchen wir keine Steuern zu erhöhen.
Da begann eine Serie von politischen Unwahrheiten. 17mal haben Sie seitdem die Steuern erhöht. Wo gibt es ein ähnliches Beispiel in der ganzen Welt, daß eine Regierung einer Bevölkerung sagt, es muß keine Steuer erhöht werden, aber seitdem 17mal die Steuern erhöht wurden?
- Mit der F.D.P. selbstverständlich. Sie war immer dabei, wie sie immer gern dabeisein will. Diesmal wird sie auch bei der Niederlage dabeisein. Insofern rundet sich das Bild dann ab. Sie ist immer dabei.
Als Sie dann die ersten Steuererhöhungen durchführen mußten, haben Sie wiederum die Unwahrheit gesagt. Sie sagten: Es ist wegen des Golfkrieges.
Diese Lüge erhielten Sie noch aufrecht, als mittlerweile jeder wußte, daß es eine völlig unzureichende Begründung war. Als der Golfkrieg dann als Begründung nicht mehr ausreichte, kam die dritte Unwahrheit: Sie sagten, Sie müßten die Mehrwertsteuer wegen Europa erhöhen. Diese Nummer steht uns ja noch bevor, daß Sie die Mehrwertsteuer wieder wegen Europa erhöhen müssen. Nein, Sie brauchten diese Serie von Steuererhöhungen wegen Ihrer Fehleinschätzungen, Ihrer falschen Wirtschafts- und Finanzpolitik. Sie schoben es immer auf unredliche und unehrliche Weise auf andere Gründe. Das ist zunächst einmal die Ursache dafür, daß Sie sich hoffnungslos verheddert haben.
Dann kam die traurige Geschichte um den Solidaritätszuschlag.
Da steht das Wort „Solidarität" am Anfang. Zunächst wurde also der Solidaritätszuschlag erhoben, dann abgeschafft, dann wieder erhoben. Danach gab es eine Serie von Versprechungen, daß er jetzt doch wegfallen solle. Ich mache mir ausdrücklich die Kritik derer zu eigen, die sagen: Muß man, wenn man bei Steuersenkungen anfängt, unbedingt diese Steuer zunächst ins Visier nehmen? Denn daß die Menschen in den neuen Ländern wissen, daß wir noch jahrelang erhebliche Hilfen geben müssen, um dort den Aufbau zu unterstützen, das ist unstreitig.
- Jetzt hat er es begriffen, sagen Sie Schnösel da? Ich
habe hier gesagt, Steuererhöhungen sind unver-
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
meidlich, um die deutsche Einheit zu finanzieren, während Sie das Volk belogen haben.
Wenn man beim Solidaritätszuschlag beginnt, dann sind selbstverständlich Fragen notwendig. Sicherlich gibt es ökonomische Gründe, die dafür sprechen, die Steuern weiter zu senken. Dazu ist ja bereits einiges gesagt worden. Wenn Sie aber, meine Damen und Herren, Steuersenkungen wollen, muß klar sein - hier liegt der weitere Fehler -, daß Sie nicht das Mandat haben, für Länder und Gemeinden einfach Steuersenkungen zu beschließen.
Das ist der Irrtum Ihrer Steuerpolitik. Sie haben dazu gar nicht das Mandat. Sie tun immer so, als hätten Sie dazu' ein Mandat und könnten über Länder- und Gemeindehaushalte verfügen. Sie haben dazu überhaupt nicht das Mandat. Die Vertretung der Interessen der Länder- und Gemeindehaushalte erfolgt im deutschen Bundesrat. Wenn der eine irrsinnige Steuerpolitik nicht mitmacht, stellt das die Wahrung der berechtigten Interessen der Länder und der Gemeinden dar.
Warum Ihre Steuerpolitik so total unglaubwürdig ist, will ich Ihnen hier kurz darlegen. Als Sie das Petersberger Konzept vorstellten, bekamen Sie zunächst einige gute Kritiken. Wer hört nicht gerne, daß die Steuern um 30 Milliarden DM gesenkt werden sollen? Aber dann kam eine neue Steuerschätzung. Wir hatten geraten, sie abzuwarten, das wäre vernünftig gewesen, dann wären Sie nicht so in Widersprüche verstrickt worden und hätten nicht Gesetze vorgelegt, die keiner mehr ernst nimmt. Wir baten darum, die Steuerschätzung abzuwarten, um dann auf seriöser Grundlage argumentieren zu können. Diese Steuerschätzung ergab ein Minus von rund 20 Milliarden DM. Daraufhin hätte man doch erwarten können, daß vernünftige Menschen ihre Steuerpläne revidieren und sagen, wenn jetzt plötzlich 20 Milliarden DM fehlen, müssen wir es uns noch einmal überlegen, ob wir Steuersenkungen von 30 Milliarden DM aufrechterhalten können.
Jetzt steht die nächste Steuerschätzung ins Haus. Darin sind weitere 10 Milliarden DM Steuerausfall avisiert, also genau das Volumen des Ausfalls, das Sie für die nächsten Jahre versprochen haben. Man hätte doch erwarten können, daß Sie darauf reagieren und sagen: Unsere Kalkulationen waren falsch; wir überarbeiten diese Kalkulationen und legen ein neues Konzept vor. Aber weil Sie untereinander zutiefst zerstritten sind und sowieso an keine einzige Zahl mehr glauben, ist das auch egal. Sie tragen hier Versprechungen vor, die völlig unhaltbar sind. Das weiß mittlerweile die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung.
Wenn Sie Steuern senken wollen - hier sieht man die Unehrlichkeit, die ich Ihnen vorwerfe, Herr Bundeskanzler, die Unwahrhaftigkeit, die in den letzten Jahren schlimm war, insbesondere in der Steuerpolitik, und die den demokratischen Dialog erschwert -, dann können Sie den Solidaritätszuschlag senken, ohne daß Sie die SPD brauchen und ohne daß irgend jemand Sie blockiert. Sie haben doch gesagt, Sie würden handeln, wir würden nur reden. Nun handeln Sie doch! Aber belügen Sie nicht ständig das Volk und verstecken Sie sich nicht ständig hinter dem Bundesrat. Es ist unglaublich, was hier in den letzten Monaten vorexerziert worden ist.
Die Soli-Absenkung können Sie ohne die SPD und ohne den Bundesrat machen.
Sie können sie aber nicht machen, weil Sie in etwa eine Ahnung haben, wie die Bundesfinanzen sich entwickeln. Das wird wirklich ein hervorragendes Erbe, das da angetreten werden muß.
Wenn die nächste Steuerschätzung da ist, wird es ganz verheerend.
Sie verschleiern die wirkliche Situation des Bundeshaushaltes, indem Sie das Tafelsilber verkloppen. Die Wahrheit über den Bundeshaushalt ist gar nicht bekannt - durch Nebenhaushalte, durch künstliche Buchungen. In Wirklichkeit ist der Bundeshaushalt in viel, viel schlechterem Zustand, als die Zahlen das oberflächlich ausweisen.
Ich hätte gerne einmal erleben wollen, was geschehen wäre, wenn ein sozialdemokratischer Finanzminister ein solches Zahlenwerk vorgelegt hätte.
Sie von der F.D.P. stehen wiederum als die betrogenen Betrüger da. Denn Sie kriegen die Solidaritätszuschlagsabsenkung nicht hin.
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Sehen Sie, alle außer der F.D.P. - sie sagt: 5 Prozent wollen Steuersenkungen hören; der Rest interessiert uns nicht - haben gesagt: Das ist nicht machbar.
- Selbstverständlich, Sie kommen gleich dran.
Von der Koalition hören Sie immer wieder: Das geht aber nur, wenn gegenfinanziert wird. Dann ist eine sinnvolle Frage: Wo erhöht man Steuern, um das Lieblingskind der F.D.P. zu finanzieren? Ist es wirklich sinnvoll, beispielsweise Unternehmenssteuersubventionen zu streichen, um den Solidaritätszuschlag zu senken? Das ist eine sachliche Frage.
Meine Damen und Herren, genau an dieser Stelle sind Sie einfach der Unwahrheit überführt. Sie können den Soli senken. Weil Sie sich nicht einigen können, schimpfen Sie unwahrhaftig auf den Bundesrat und lenken damit von Ihrem eigenen Versagen und Ihrer eigenen Verantwortung ab.