Herr Kollege Westerwelle, ich danke Ihnen für diese Information. Sie läßt Befürchtungen in mir aufkeimen. Wenn Sie so viel Zustimmung für Ihre Steuerpolitik in den neuen Bundesländern haben, könnten Sie ja dort über die 5-Prozent-Hürde kommen.
Verstecken Sie sich hier nicht wieder hinter dem Bundesrat. Ich habe mehrfach öffentlich gesagt: Falls Sie hier den Soli aus eigener Kraft absenken können, entscheiden die sechs Ministerpräsidenten der CDU/ CSU darüber, ob es eine Einspruchsmehrheit im Bundesrat gibt. Wenn Sie nicht mehr in der Lage sind, Ihre eigene Partei unter Kontrolle zu halten, dann setzen Sie sich hin und machen Sie Ihre Hausaufgaben! So platt ist das.
Wenn Sie Steuern senken wollen, können Sie nicht einfach über Länder und Gemeinden verfügen. Die Strukturen der Länderhaushalte und der Gemeindehaushalte sind ganz anders. Die Höhe der Personalkosten, die ein fester Block sind, ist in den Länder-
und Gemeindehaushalten ganz anders, so daß Ihr ganzes Steuerstrukturreformkonzept völlig falsch konstruiert ist. Es ignoriert auf der einen Seite die Tatsache, daß die Steuerschätzungen schon einen Ausfall in der Höhe ergeben haben, die Sie zurückgeben wollten. Es ignoriert auf der anderen Seite, daß die Gemeindehaushalte und die Länderhaushalte bei weitem nicht so elastisch sind, wie Sie vorgeben, daß der Bundeshaushalt sei.
Ich sage noch einmal: Sie können doch die zweite Stufe beschließen. Schaffen Sie doch den Soli ganz ab, wenn Sie Geld zuviel haben! Aber in Wirklichkeit wissen Sie ganz genau, daß Sie keine Mark übrig haben. Statt dessen heucheln Sie hier und spielen der Öffentlichkeit ein Theater vor, Herr Bundeskanzler, das zutiefst unwahrhaftig ist.
Vielleicht haben Sie vergessen - nachdem Sie bezüglich der Mehrwertsteuer an uns appelliert haben -, daß Sie mehrfach versprochen haben, die Mehrwertsteuer werde in dieser Legislaturperiode nicht erhöht. Sie sind doch der Mann, der von gebrochenem Versprechen zu gebrochenem Versprechen taumelt. Man weiß bei dem, was Sie hier vortragen, doch gar nicht mehr, was man ernst nehmen soll.
Nun glauben Sie immer, Sie müßten uns und die Länder und Gemeinden überzeugen, daß wir eine Steuerreform brauchen. Verfolgen Sie denn nicht, was in den Ländern und Gemeinden los ist und was dort diskutiert wird? Weil Sie ununterbrochen Steuergesetze gemacht haben, deren Folgen Sie nicht kal-
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
kulieren konnten oder die Sie immer fehlkalkuliert haben, ist das deutsche Steuerrecht praktisch zerstört. Es ist nicht mehr handhabbar. Es ist niemand mehr in der Lage, Einnahmen und Ausfälle, was die Steuern angeht, zuverlässig zu kalkulieren.
Ich nenne nur ein Beispiel: das Standortsicherungsgesetz. Das Finanzministerium schätzte bei der Körperschaftsteuer einen Ausfall von 4 Milliarden DM. Nordrhein-Westfalen sagte: Das ist viel zu niedrig gegriffen; es sind 9 Milliarden DM. Das Ergebnis waren 13 Milliarden DM. Das ist nur ein Beispiel von vielen. Wenn unser Steuersystem so zerzaust wird, daß keine Einnahmen mehr kalkuliert werden können, dann erodiert die Basis der Staatsfinanzen. Das liegt in Ihrer Verantwortung.
In jedem Erstsemester des Studiums der Finanzwissenschaft lernt man, daß die Grundvoraussetzungen der Steuerpolitik Stetigkeit, Verläßlichkeit und längerfristige Rahmenbedingungen sind.
Ich sage einmal kritisch an unsere Adresse: Wir haben in den letzten Jahren allzuoft auch Kompromisse mitgetragen, die zweifelhaft waren. Ich will Ihnen den letzten und den vorletzten nennen: Zunächst den Kompromiß bei der Abschaffung der Vermögensteuer. Wenn man in einer lahmenden Baukonjunktur zur Kompensation die Grunderwerbsteuer drastisch erhöht, ist das ökonomischer Unfug. Wir haben das mitgetragen, um im Steuerrecht überhaupt weiterzukommen. Aber das ist ökonomischer Unfug.
Wenn man zweitens beispielsweise bei der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer dem Finanzministerium die Ausführung überläßt und dann rückwirkend datiert wird, so daß die Kalkulation ganzer Betriebe ins Wanken kommt, dann ist das ebenfalls eine handwerklich unsolide Arbeit. Ihre Steuerpolitik hat weder Stetigkeit noch Verläßlichkeit, noch ist sie eine handwerklich solide Arbeit. Deshalb sind Sie so sehr in Verschiß bei den Wählerinnen und Wählern und auch bei der Wirtschaft.
Nun werben Sie immer für die große Steuerreform bei den Ländern und bei den Gemeinden. Da brauchen Sie nicht zu werben. Die veranlagte Einkommensteuer lag im Jahre 1992 noch bei 40 Milliarden DM. Sie ist jetzt faktisch bei Null. Das ist ein Ergebnis Ihrer fehlerhaften Steuerpolitik, einer überhaupt nicht mehr kalkulierbaren Steuerpolitik. Jedes Jahr gab es drei Gesetze, von denen Sie nicht wußten, was überhaupt die Folgen sein würden. Das ist Ihre Steuerpolitik. Wie soll da ein Mensch noch verläßlich kalkulieren können?
Es ist ein sozialpolitischer Skandal, daß die veranlagte Einkommensteuer von 40 Milliarden DM auf Null zurückgegangen ist. Das heißt: Sie haben aus dem Steuerrecht, das nach Leistungsfähigkeit besteuern soll, ein Bereicherungsrecht für die Wohlhabenden gemacht. Wir sehen darin einen sozialpolitischen Skandal ersten Ranges.
Der Fall aus Baden-Württemberg, der die Presse beschäftigt hat, daß jemand bei Einnahmen von 3 Millionen DM nicht nur seine Steuerlast im lauf enden Jahr auf Null drücken konnte, sondern auch noch durch den Erwerb einer Immobilie im Wert von 12 Millionen DM Rückerstattungen in Millionenhöhe zugesprochen bekam - das alles auf der Grundlage des Steuerrechts -, zeigt doch die Fehlentwicklung des Steuerrechts in den letzten Jahren.
Da stellen Sie sich hier hin und sagen, wir würden, wenn wir solche Dinge ansprechen, Neid schüren. Das reicht nun wirklich.
Die Gewinn- und Vermögenseinkommen haben sich in Ihrer Amtszeit verdreifacht. Die Einkommen der Selbständigen, die in erster Linie die veranlagte Einkommensteuer zahlen, haben sich in Ihrer Amtszeit verdreifacht, und die Lohneinkommen haben sich knapp verdoppelt. Wenn wir dann leichte Korrekturen für Arbeitnehmer und Familien fordern, werfen Sie uns pure Umverteilungsideologie vor. Sie haben in einem Maße schamlos umverteilt, wie das in den Jahren davor unvorstellbar war, und haben deshalb schwere ökonomische Verwerfungen zu verantworten.
Sprechen Sie also nicht von Sozialneid in einer Situation, in der die Kirchen zu Recht feststellen, daß die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Manchmal wünsche ich mir, daß jemand aus den christlichen Sozialausschüssen das etwas deutlicher artikulierte. Es kann so nicht weitergehen. Das ist auch mit den Stichworten „Standortpolitik" und „Globalisierung" nicht begründbar. Auf diese beiden Herausforderungen müßten wir, so heißt es dann, mit Sozialkürzungen, Senkung der Steuern für Wohlhabende und immer stärkerer Belastung der Arbeitnehmer antworten.
Ich will Ihnen sagen, welche seit über 40 Jahren aufgeschobene Reform zu bewältigen ist: Wenn die Globalisierung dazu geführt hat, daß sich die Relation zwischen Lohneinkommen und Gewinn- und Vermögenseinkommen immer weiter zugunsten der letzteren verschoben hat, dann ist es eine große Reformaufgabe, die Sie seit Jahren verschleppt haben, nämlich Arbeitnehmer am Vermögens- und Gewinneinkommen zu beteiligen. Das wäre eine Reform, die
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
wieder mehr Gerechtigkeit in dieser Republik herstellen würde.
Merkwürdig ist folgendes: Selbst die F.D.P. - es ist nicht ungewöhnlich, daß Sie alle Monate Ihre Meinung ändern; das scheint offensichtlich moderne Flexibilität zu sein - hatte ein paar Ansätze zur Einführung ökologischer Komponenten in das Steuersystem. Die sind dann alle wieder in der Versenkung verschwunden.
Auch in der CDU gibt es immer wieder nette Diskussionen, wie man im Steuersystem ökologische Reformen durchführen kann. Wenn es dann ernst wird oder zum Schwur kommt, sind Sie alle dort, wo der Kanzler war, als er Waigel beistehen sollte, nämlich in den Büschen. So kann man keine Steuerpolitik betreiben. So verschleppt man Reformen, und so baut sich der Reformstau in Deutschland weiter auf.
Ich habe Ihnen bei der Steuerpolitik vorgeworfen, daß Sie in höchstem Maße die Unwahrheit sagen. Dasselbe werfe ich Ihnen auch bei der Rentenpolitik vor. Dies ist mittlerweile das Urteil auch der Presse.
Sie gehen zunächst einmal hin und sagen: Wir wollen doch Gemeinsamkeit. Das sagt immer insbesondere der Bundesarbeitsminister. Als Sie aber aus eigener Kraft im Bereich der Renten die Altersgrenze der Frauen nach oben geschoben und die Anerkennung der Ausbildungszeiten drastisch zusammengestrichen haben, da haben Sie diese Gemeinsamkeit nicht gesucht.
Es geht nicht, daß Sie zum einen auf die Tränendrüse drücken, also an die Gemeinsamkeit appellieren, und zum anderen, wenn es Ihnen gerade in den Kram paßt, Dinge allein durchziehen. So kann man mit dem Bundesrat und der Opposition nicht umspringen.
Sie haben nun wiederum den Versuch unternommen, die Kulisse aufzubauen, daß der Bundesrat schuld sei, wenn Sie die Rentenreform nicht durchsetzten - wo doch General Motors, wie der Bundeskanzler selbst gehört hat, in Deutschland nur dann investiert, wenn er die Rentenreform durchzieht. Herr Bundeskanzler, nun machen Sie es doch! Es wäre ja wirklich schrecklich, wenn Sie die Rentenreform nicht durchzögen; dann kommt General Motors nicht mit den Investitionen. Sie haben doch hier die Mehrheiten. Machen Sie es doch! Oder haben Sie Angst vor der eigenen Courage?
Da zeigt sich wieder Ihre Verlogenheit, nämlich Ihr Streben nach Machterhalt. Es ist natürlich unpopulär, eine Rentenkürzung im Jahre 1998 zu verantworten. Aber Sie sind nicht in der Regierung, um unpopulären Entscheidungen auszuweichen und um permanent immer wieder die Unwahrheit zu sagen. Sie können die Rentenreform aus eigener Kraft durchführen.
Es kommt dabei auf die Gegenfinanzierung an. Schäuble schleudert jeden Tag mit irgendeiner Argumentation, um aus der Ecke herauszukommen. Da hören wir auf einmal, nur die Erhöhung der Mehrwertsteuer könne zur Gegenfinanzierung herangezogen werden. Warum geht das nicht mit der Mineralölsteuer? Was ist die sachliche Begründung?
Die sachliche Begründung ist, daß Sie in den eigenen Reihen überhaupt nichts mehr zustande bringen, weil Sie ja schon vor Stoiber in die Knie gehen, bevor er überhaupt den Mund aufgemacht hat. Das ist doch nicht mehr zu fassen.
Wenn man das einmal sachlich betrachtet, müssen wir uns die Frage stellen: Kann der Einzelhandel jetzt eine Mehrwertsteuererhöhung gebrauchen? Das Handwerk, das ab und zu lauter und ab und zu weniger laut ist - wir wissen auch immer einzuordnen, wer wann wo wen unterstützen will -, weist darauf hin, daß ein Prozentpunkt Mehrwertsteuererhöhung zum Wegfall von 60 000 Arbeitsplätzen führt. Auch die Mineralölsteuer ist unter dem Gesichtspunkt der Wirtschaft nicht unbedingt wertfrei und hat auch Struktureffekte. Nur, ich habe der Presse nicht entnommen, daß die Automobilwirtschaft in einer tiefen Krise ist
und daß beispielsweise der Einzelhandel blüht.
Wenn Sie schon Reformen angehen, dann versuchen Sie doch, zumindest ein bißchen ökonomisch zu argumentieren, und versuchen Sie dann, wenn es darum geht, eigene Entscheidungen durchzusetzen, sich nicht hinter anderen zu verstecken. Das ist schäbig und zeigt, wie kraftlos diese Koalition geworden ist.
Auch bei der Rentendebatte - es ist nicht mehr zu fassen - wird jeder Ansatz eines weitergehenden Reformschrittes nicht aufgegriffen, weil Sie wie das Kaninchen auf die Schlange nur noch auf den Wahltermin fixiert sind und hoffen, daß Sie noch einmal davonkommen, Herr Bundeskanzler, und darüber alle notwendige Sacharbeit vergessen.
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Nun komme ich auch zur Jugendarbeitslosigkeit. Es ist nicht so, daß irgend jemand hier behaupten würde, er hätte ein durchgreifendes Patentrezept, um die Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen. Was hier zunächst einmal gesagt wird, ist: Wir können nicht tatenlos zusehen, daß 500 000 Jugendliche arbeitslos sind und daß etwa 100 000 Jugendliche immer noch nicht wissen, ob sie eine Lehrstelle bekommen. Das ist unsere Position.
Dann haben Sie, Herr Bundeskanzler, wiederum die Frage zurückgewiesen, ob man nicht ausbildende Betriebe zur Ausbildung heranzieht, und gesagt, das sei nicht in Ordnung und das könne man nicht vertreten. Ich will Ihnen einmal ein Zitat vorlesen:
Wir gehen davon aus, daß eine Reform der beruflichen Bildung ein neues Finanzierungssystem für die betriebliche Ausbildung verlangt. Dabei wird es notwendig sein, auch jene Betriebe stärker zur Finanzierung der beruflichen Bildung heranzuziehen, die sich nicht unmittelbar an der für die gesamte Wirtschaft erforderlichen Ausbildung des Nachwuchses beteiligen.
So Ministerpräsident Helmut Kohl am 20. Juni 1973 vor dem Rheinland-Pfälzischen Landtag.
Ich gebe Ihnen gerne die Quelle. Sie haben schon so viele Reden gehalten, Herr Bundeskanzler, daß Sie natürlich nicht mehr wissen, was Sie alles erzählt haben. Aber das hier ist aus dem Protokoll; das ist autorisiert. Das war also einmal Ihre Meinung. Nun darf jeder die Meinung ändern und ordnungspolitische Einwendungen haben, natürlich. Aber wenn Sie ordnungspolitische Einwendungen gegen diese Abgabe haben, dann ist Ihr Ansatz, jetzt bei der Auftragsvergabe auf einmal zwischen Betrieben, die ausbilden, und solchen, die nicht ausbilden, zu unterscheiden, ordnungspolitisch zumindest ebenso bedenklich. So astrein ist das nicht.
Da sage ich noch einmal: Es geht nicht um die Frage, ob man eingreifen muß. Sie wollen nur ein bißchen eingreifen, und Sie wollen dabei nicht erwischt werden. Nein, es geht um die Frage, ob wir uns dieser Herausforderung stellen. Wir sagen: Wenn Tony Blair in England ein steuerfinanziertes Ausgabenprogramm aufgelegt hat, um Jugendlichen einen Arbeitsplatz zu geben - 200 000 Jugendliche sollen in Arbeit kommen -, und wenn Lionel Jospin in Frankreich ein ebensolches Programm aufgelegt hat mit dem Ziel, 300 000 Jugendliche in Arbeit zu bringen, dann können wir hier in der Bundesrepublik nicht tatenlos zusehen, daß 500 000 junge Menschen arbeitslos sind und 100 000 nicht wissen, ob sie eine Lehrstelle bekommen.
Ich möchte hinsichtlich Ihrer Regierungsarbeit aber noch einen anderen Aspekt beleuchten. Es war interessant, daß Sie vorhin hier zu dem Ergebnis
kamen, der Standort Deutschland sei hervorragend. Wir hatten das auch schon anders gehört.
Aber immerhin, wenn die kritische Debatte der letzten Zeit etwas genutzt haben sollte und wenn Sie gemerkt haben, daß die Exportwirtschaft wieder boomt und daß im Grunde genommen die ganze Diskussion unter falschen Voraussetzungen geführt wird, wäre das schon ein Fortschritt.
Aber die Standortdebatte ist nur ein Synonym für eine andere geistige Fehlorientierung, die während Ihrer Amtszeit zu beklagen ist, nämlich die Fehlorientierung, alles in ökonomische, in betriebswirtschaftliche Kategorien zu fassen. In der geistigen Diskussion unseres Landes wird dies schon thematisiert. In der unverdächtigen „Frankfurter Allgemeinen " stand ein Aufsatz unter dem Titel „Die Welt als Betrieb", in dem diese Fehlentwicklung des Denkens gegeißelt wurde. Sie findet vielfach Ausdruck. Wenn beispielsweise - auch noch unter Beifall von konservativer Seite - eine Diskussion um den Shareholder Value geführt wird, mit der Aussage, daß es das Ziel eines Unternehmens sei, den Aktienwert zu steigern und immer wieder auf die Kurssteigerung des nächsten Tages zu schauen, dann ist das Ausdruck einer geistigen Fehlorientierung der Gesamtgesellschaft.
Es kann nicht das Ziel eines Unternehmens sein, in erster Linie auf den Aktienkurs zu starren, denn ein Unternehmen hat gesamtgesellschaftliche Verantwortung; es ist auch seinen Arbeitnehmern verpflichtet. Daher spricht es unserem Konsens nach dem Kriege Hohn, daß die Aktienkurse nach oben schnellen, wenn Massenentlassungen angekündigt werden. Das versteht langsam keiner mehr in unserem Lande, und das ist auch richtig so.
Mit dieser geistigen Fehlorientierung hat natürlich auch die Misere auf dem Lehrstellenmarkt zu tun. Eine solche Entwicklung wäre nach dem Kriege nicht vorstellbar gewesen. Damals war der innere Zusammenhalt unserer Gesellschaft noch stärker. Damals wußten viele Unternehmen, daß es, Standortdiskussionen hin, Standortdiskussionen her, Globalisierung hin, Globalisierung her, eine Investition in die Zukunft, in den Standort Deutschland, in die Herausforderung der Globalisierung ist, wenn wir die jungen Menschen gut ausbilden, damit sie die Zukunft bestehen können.
Genau hier ist auch die Trennlinie zwischen der Politik der Opposition und Ihrer Politik sowie dem, was Sie in den letzten Jahren vertreten haben. Sie glauben, die Reduzierung des Kündigungsschutzes sei sinnvoll gewesen. Sie haben die Kürzung der Lohnfortzahlung wieder angesprochen. Sie sind
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
gegen staatliche Maßnahmen etwa zur Verbesserung auf dem Lehrstellenmarkt. Jetzt sind Sie ein bißchen auf diese Linie gekommen. Sie haben in den letzten Jahren soziale Leistungen in großem Umfang gekürzt.
Wo ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns? Der Unterschied liegt darin, daß wir sagen, man kann diese Entscheidungen nicht nur nach ökonomischen Kategorien treffen. Herr Bundeskanzler, wer beispielsweise die Lohnfortzahlung kürzen will, der darf nicht nur die Entlastung der Betriebe sehen, sondern der muß berücksichtigen, was die Kürzung für einzelne Kranke im Betrieb bedeutet. Hier zeigt sich die unterschiedliche Herangehensweise an diese Thematik.
Wer noch stolz darauf ist, daß er den Kündigungsschutz bei kleineren Betrieben abgebaut hat, der weiß nicht, was die daraus entstehende Unsicherheit für einzelne Menschen bedeutet, die von der Gefahr bedroht sind, daß ihnen plötzlich gekündigt wird, wenn die Geschäfte einmal etwas schlechter gehen. Es kommt nicht nur auf die ökonomischen Kategorien an. Nein, es kommt darauf an, daß man immer die Situation des einzelnen Menschen in der Gesellschaft sieht.
Das Interessante ist ja, daß die Forderung nach Abbau des Kündigungsschutzes oder der Lohnfortzahlung immer von denjenigen erhoben werden, die entweder als Professoren Lebenszeitbeamte sind oder als Unternehmer natürlich überhaupt nicht daran denken, wenn sie einmal krank sind, eine Minderung ihrer gewaltigen Bezüge in Kauf zu nehmen. Das ist doch die geistige Fehlentwicklung in Deutschland: daß man den anderen, den Kleinsten, zumuten will, was man für sich selbst nicht gelten lassen will.
Herr Bundeskanzler, Sie haben dann noch etwas zum Euro und zur europäischen Politik gesagt. Ich möchte zunächst deutlich machen, daß es, wenn wir hier Ihren Rücktritt verlangen, Herr Bundesfinanzminister, nicht um eine persönliche Auseinandersetzung geht
und daß ich das Urteil unterstütze, daß Sie auf europäischer Ebene, was die Einführung des Euro und der Europäischen Währungsunion angeht, Fahne zeigen und daß Sie populistischen Strömungen auch
in Ihrer eigenen Partei widerstehen. Das ist aus meiner Sicht anerkennenswert.
Daß wir Ihren Rücktritt verlangen, ist in der Haushaltspolitik begründet, die nicht mehr überschaubar und nicht mehr verläßlich ist, und in der Steuerpolitik, die zu einem Ergebnis geführt hat, das unter keinem Gesichtspunkt akzeptabel ist.
Sie haben das vielleicht in guter Absicht getan. Aber das Ergebnis ist eindeutig; das wollte ich noch einmal klarstellen.
Jetzt stellt sich der Bundeskanzler hier hin und tut so, als müsse er uns Nachhilfe in Sachen Europa geben. Da Sie sich an dieser Stelle schon häufiger als jemand zu profilieren versucht haben, der sowohl die deutsche Einheit als auch die europäische Einheit stets im Auge gehabt hat, betone ich: Wir haben, als Sie noch jede Rede mit der Formel „Gott segne unser Vaterland" abschlossen, schon immer wieder gesagt: Die deutsche Einheit muß eingebunden werden in die europäische Einigung. Versuchen Sie nicht, einer Partei, für die ich hier spreche und die schon seit zig Jahren die europäische Einigung im Programm hat, irgendwie die europäische Verläßlichkeit abzusprechen, sehr verehrter Herr Bundeskanzler!
Dann sagten Sie hier, kein europäischer Regierungschef wünsche Ihre Ablösung oder einen Wahlsieg der Opposition. Mit wem reden Sie eigentlich
und in welcher Sprache?
Vielleicht liegt es an der Sprache, Herr Bundeskanzler; auf jeden Fall erzählen sie mir etwas ganz anderes.
Stellen Sie sich nur einmal vor, daß ich einige schon gekannt habe, als Sie sie noch gar nicht kannten. Sie verfügen also nicht über ein Monopol des Wissens.
Ich sage Ihnen vor dem Beschäftigungsgipfel: Der von Ihnen und von Theo Waigel stets wiederholte Satz, Beschäftigung machten wir zu Hause, stößt in der ganzen Europäischen Union nur auf Kopfschütteln.
Sie machen im zusammenwachsenden Europa Beschäftigungspolitik nicht nur zu Hause, Herr Bundeskanzler. Auch wenn ökonomische Dinge nicht so
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sehr Ihr Interesse finden, möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, daß dies schlicht und einfach ein gewaltiges Fehlurteil und mit Veranlassung dafür ist, daß in Europa die Arbeitslosenzahlen immer weiter nach oben gehen. Wenn diese Politik, die teilweise auch von Major und anderen befürwortet worden ist, Grundlage der europäischen Wirtschafts- und Finanzpolitik war, dann darf man sich nicht wundern. Wenn dies dann auch noch durch Wechselkursschwankungen überlagert wurde, die realwirtschaftlich nicht begründet waren, dann darf man sich erst recht nicht wundern. Wenn die Märkte in Europa immer mehr zusammenwachsen, dann müssen auch Sie endlich begreifen, daß Beschäftigungspolitik auch auf europäischer Ebene gemacht werden muß. Wir hoffen, daß auf dem Europäischen Gipfel in Luxemburg ein Durchbruch im Interesse der Arbeitslosen erreicht wird.
Dann haben Sie den Stabilitätspakt angesprochen. Natürlich ist das Geld wichtig. Aber, meine Damen und Herren, wäre es nicht längst an der Zeit gewesen, ebenso, wie man Kriterien für die Stabilität einführt, auch einmal Kriterien für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit einzuführen? Wir fordern dies am heutigen Tage ausdrücklich.
Ein Beschäftigungspakt, der genauso Kriterien für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit festsetzt, wie Sie es für die Geldwertstabilität getan haben, ist dringender als jede andere Maßnahme in Europa.
Da ist es auch zulässig, meinetwegen über die Europäische Investitionsbank oder andere Möglichkeiten Infrastrukturmaßnahmen zu finanzieren, die das zusammenwachsende Europa braucht. Auch die Schienenwege, auch die Telekommunikationswege, auch die Energieversorgung können wir national nicht mehr organisieren. Wir müssen sie europäisch organisieren. Deshalb war Ihr Widerstand gegen den Ausbau der transeuropäischen Netze ein Fehler, den Sie schleunigst korrigieren sollten.
Die Kernauseinandersetzung aber bleibt: Wir müssen die Wirtschafts- und Finanzpolitik ändern, weil die jetzige widerlegt ist. Wir können Ihnen ja noch unterstellen, daß Sie immer in guter Absicht gehandelt haben, als Sie jedes Jahr mit neuen Standortsicherungsgesetzen und anderen Gesetzen kamen und versprachen, jetzt würde die Arbeitslosigkeit aber zurückgehen. Das Ergebnis war immer das glatte Gegenteil; die Arbeitslosigkeit und die Staatsschulden sind immer weiter angestiegen.
Die Steuer- und Abgabenlast bekommen Sie nicht herunter, sondern sie geht weiter nach oben. Das ist doch die Wahrheit.
Bei einer solchen Bilanz, meine Damen und Herren, braucht unser Land einen politischen Neuanfang. Wir brauchen eine neue Wirtschafts- und Finanzpolitik. Wir brauchen vor allen Dingen aber eine Politik, die begreift, daß sich die Welt nicht nur in betriebswirtschaftlichen Größen erfassen läßt, sondern daß Politik auch stets darauf zielen muß, die konkrete Situation des einzelnen Menschen zu verbessern. Wir sind bereit, dafür Verantwortung zu übernehmen.