530 000 Jugendliche sind ohne Arbeit. Zum erstenmal seit Jahrzehnten ist die Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen höher als die Gesamtarbeitslosigkeit. 530 000 junge Menschen! Die Mehrheit unseres Volkes erwartet, daß jeder ausgebildet wird, daß der gefährliche Nährboden ausgetrocknet wird, den die Jugendarbeitslosigkeit für die Gewalt von Jugendlichen darstellt.
Sie tun nichts. Wer die erschütternden Briefe, die manchmal ganz verzweifelten Hilferufe, liest, wer sich die vielen Briefe, die man erhält, und die vielen Gespräche, die man führt, ins Gedächtnis zurückruft, dem fällt auch wieder ein, daß Sie, Herr Bundeskanzler, 1996 gesagt haben - das war eine gewaltige Drohung, wie wir wissen -, es sei kein Platz mehr im Jet des Bundeskanzlers für solche, die nicht ausbildeten. 1997 sagt Herr Rüttgers - Sie beschließen es dann -, man wolle jetzt jene bevorzugen - wohlgemerkt: bei wirtschaftlich gleichwertigen Angeboten -, die wenigstens ausbildeten. Das sind nur hilflose Gesten. Das ist keine konzeptionell klare, kraftvolle, zukunftsweisende Politik. Das ist frei von Wirklichkeitssinn und Weitblick. Herr Bundeskanzler, Ihre Politik ist eine schwere Belastung für die Zukunft unseres Landes und die Zukunft seiner Jugend geworden. Das muß geändert werden.
Rhetorisch haben Sie diese Erkenntnis ja alle auch. Aber so, wie Ihre Haushaltslöcher den klaffenden Widerspruch zwischen Traum und Wirklichkeit zeigen, so zeigt eben auch jede dieser hilflosen Gesten, daß Sie nicht wirklich wollen oder mindestens nicht wirklich können.
Wir werden handeln. Wir werden dem, was beispielsweise Frau Süssmuth oder der Vorstandsvorsitzende von BMW oder viele andere in Interviews sagen, die notwendigen gesetzgeberischen Maßnahmen folgen lassen. Wer ausbildet, sorgt für die Zukunft der Jungen und die Zukunft unseres Landes. Wer ausbildet, verdient Hilfe, Ermunterung und finanzielle Entlastung. Das ist die logische Folge aus dieser allgemeinen Erkenntnis.
Wir werden handeln in Übereinstimmung mit der großen Mehrheit unserer Landsleute auch in einem Sofortprogramm gegen Jugendarbeitslosigkeit. Wir werden eigene Ideen und europäische Erfahrungen gleichermaßen nutzen.
Ich füge hinzu: Es gibt ein Recht, und es muß eine Garantie geben für die Ausbildung junger Menschen, für ihren Übergang ins Arbeitsleben. Diesem Recht, dieser Chance steht auch eine Verantwortlichkeit gegenüber, eine Verantwortlichkeit der Allgemeinheit und jedes einzelnen, wirklich Ausbildung zu wollen und wirklich Arbeit anzunehmen.
Das sage ich im Angesicht einer Regierung - Herr Bundeskanzler, Ihrer Regierung -, die wie nie zuvor Rechte und Verantwortlichkeiten, Chancen und Lasten auf eine ungerechte, wirtschaftlich unvernünftige, die Zukunft belastende Weise verteilt hat. Je stärker das Einkommen, je besser die Chancen, desto mehr Aufmerksamkeit widmen Sie den Menschen. Je schlechter die Chancen, je schwieriger die Lebenslage, desto eher klingt es unter dem Druck der Klientelpartei F.D.P. höhnisch durch die Öffentlichkeit: Die sollen sich selbst helfen, die sind selbst schuld, die sind selbst verantwortlich. Das ist eine unfaire, eigentlich auch unanständige Politik, die Sie da betreiben.
Rechte? Chancen? Ich bin sehr dafür, Leistungsträger zu fördern. Aber es müssen Leistungsträger sein. Leistungsträger und Elite, das entscheidet sich nach dem persönlichen Streben nach Glück und Erfolg, und es entscheidet sich danach, ob ein Mensch bereit ist, für den Fortschritt der Allgemeinheit und nicht nur für sich persönlich etwas zu tun. Das sind die Verantwortungs- und Leistungseliten unseres Landes.
Dieses Prinzip haben Sie sträflich vernachlässigt.
Weitblick und Wirklichkeitssinn sagen uns: Jeder soll ausgebildet werden. Die Chance des Übergangs in Arbeit soll angeboten und fair sein. Aber dem steht auch eine Verantwortlichkeit gegenüber, wie es beispielsweise in Dänemark, in Großbritannien, in Frankreich und in anderen europäischen Ländern ja schon verwirklicht wird.
Neben diesen beiden bedrückenden Zahlen zu den fehlenden Ausbildungsmöglichkeiten und der wachsenden Jugendarbeitslosigkeit eine andere Zahl: Heute sind die Zeitungen voll von den rund 4,4 Millionen Menschen, die Arbeit suchen; das sind 470 000 mehr als im August des letzten Jahres. Herr Bundeskanzler, wo haben Sie da Schaden abgewendet?
Wessen Nutzen haben Sie da gemehrt?
Sie haben immer neue Programme aufgelegt: erst ein 10-Punkte-Programm, dann ein 20-Punkte-Programm, dann ein 50-Punkte-Programm. Ich frage mich: Wann kommt das 111-Punkte-Programm? Dies sind Beweise fortdauernder Hilflosigkeit. Sie können
Rudolf Scharping
nicht ordentlich regieren. Es fehlt Ihnen die Kraft, es fehlt Ihnen die Konzeption.
Die Mehrheit unserer Landsleute erwartet kraftvolles Handeln, und sie ist bereit, Verantwortung zu übernehmen. Es ist eine Illusion, zu glauben, die Mehrheit unserer Landsleute wollte das gewissermaßen im Sinne einer staatlichen Wohlfahrt, im Sinne einer Verteilungspolitik allein. Nein, die Mehrheit unseres Volkes ist auch bereit, Verantwortung zu übernehmen, wenn es fair, wenn es gerecht zugeht.
Herr Bundeskanzler, seit 1990, seit dem Glücksfall der deutschen Einheit, haben Sie zu keinem einzigen Zeitpunkt an die Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung angeknüpft. Nein, Sie haben das Gefühl für Anstand, Fairneß und Gerechtigkeit in diesem Land verletzt, wie es nie zuvor eine Regierung getan hat, seit es die Bundesrepublik gibt.
Die Belege für diesen Vorwurf sind Legion. Sie beginnen im Herbst 1990 mit dem ungewöhnlich leichtfertigen Versprechen der blühenden Landschaften im Osten und der Zusage, im Westen müsse niemand mehr zahlen, schon gar nicht gäbe es wegen der deutschen Einheit Steuererhöhungen. Sie enden mit dem leichtfertigen Zerschlagen des Angebotes der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, ihrer Gewerkschaften, für ein Bündnis für Arbeit.
Die Belege sind Legion. Nein, auch hier fehlt Ihrer Politik Weitblick und Wirklichkeitssinn.
Wir stellen drei Leitlinien dagegen.
Erstens: Die Weichen stellen auf ein dauerhaftes Wachstum, ein Wachstum, das, mit Blick auf die Lebensgrundlagen, Probleme löst, anstatt neue zu schaffen, ein Wachstum, an dem alle teilhaben können, nicht nur eine Minderheit, ein Wachstum, das in Deutschland hilft und nicht nur vom Export angetrieben wird.
Die zweite Leitlinie: Recht und Ordnung in der Wirtschaft durchsetzen. Es geht nicht darum, immer schön .zu predigen, sondern darum, wirklich etwas zu tun, wozu Ihre Regierung unfähig geworden ist.
Drittens: Neue Wege öffnen.
Ich sage Ihnen etwas zu den sicheren Rahmenbedingungen; das hat gestern schon eine Rolle gespielt und wird die politische Debatte der nächsten 12 Monate weiter prägen: Deutschland ist von allen Industrieländern das Land, das seine Arbeitsplätze und seine Arbeitseinkommen am stärksten belastet - mit Sozialabgaben, mit Steuern -, und das im Rahmen einer Steuerquote, die historisch so niedrig ist wie selten zuvor.
Es wäre wirtschaftlich vernünftig, ökologisch verantwortungsbewußt und sozial gerecht, in einem ersten Schritt wirklich durchzugreifen und die Lohnnebenkosten zu senken - im Interesse der Arbeit, der Arbeitsplätze, des Handwerks und des Mittelstands.
Und, Herr Bundeskanzler, weil dieses Thema auch in Europa noch eine Rolle spielen wird: Wie eigentlich will diese Regierung mit ihrer hilflosen, phantasielosen und konzeptionslosen Politik einen europäischen Beschäftigungsgipfel bestreiten? Wie soll das im Gespräch mit den Nachbarn, in gemeinsamer Anstrengung, im gegenseitigen Lernen voneinander mit dieser Regierung gehen? Nein, Sie taumeln entschlossen dahin.
Wenn Sie zupacken, ist das immer wie in Watte gegriffen. In diesem Bundestag haben Sie ein Gesetz beschlossen, das die öffentlichen Haushalte um neue Löcher bereichert, um eine Lücke von 45 Milliarden DM. „Bereichert" kann man eigentlich gar nicht sagen.
Jetzt, in diesen Tagen, kommt der Kollege Solms und sagt: Nein, das ist gar nicht so gemeint mit den 45 Milliarden. Es sollen 30 sein, so wie Sie es ja immer für sich reklamiert haben. Das wirft die Frage auf: Wie schließen wir denn die Lücken zwischen diesen 45, die Sie beschlossen haben, und jenen 30, die Sie eigentlich erreichen wollen?
Sie sagen: Das ist gar nicht so gemeint. Dann kommt Herr Repnik und sagt: Nein, es kommt ein ganz neues Angebot. Es könnten auch 10 bis 15 Milliarden sein, also nur die Hälfte vom eigentlich reklamierten Ziel. Schließlich höre ich von Herrn Schäuble, man könne sich auch in einem ersten Schritt, in einer ersten Stufe gewissermaßen Aufkommensneutralität, also null, vorstellen. Jetzt können wir uns alle überlegen, was Sie denn wirklich meinen. Was ist wirklich ernstgemeint?
Können wir uns in dieser Zeit eine solche Regierung leisten? Nein, wir können nicht. Wir brauchen klare, verläßliche Politik; Politik, die mit Weitblick und Wirklichkeitssinn ein realistisches Ziel des wirtschaftlichen Wachstums, der steuerlichen Entlastung und der Gerechtigkeit miteinander verknüpft. Das tun Sie nicht.
Ich sage Ihnen auch hier von diesem Pult: Es wird leider wenig Sinn machen, miteinander um ein Ergebnis zu ringen, wenn einem ein Gesprächspartner gegenübersitzt, der sagt, eigentlich sollten es 45 Milliarden sein, wenn der nächste sagt, es sollten vielleicht 30 sein, der dritte von 10 bis 15 und der vierte von null spricht. Eine Regierung, die selbst nicht weiß was sie will, die herumtaumelt, anstatt einen graden Weg zu gehen, eine solche Regierung ist selbst eine schwere Belastung für die Gegenwart
Rudolf Scharping
und für die Zukunft unseres Landes. Ihre Politik, Ihre
Unehrlichkeit, Ihre Konzeptionslosigkeit ist am Ende.
Es bleibt bei dem Angebot, das wir Ihnen unterbreitet haben. Sorgen Sie dafür, daß Sie vielleicht bis Sonntagabend zu einer gemeinsamen Linie kommen. Dann wäre das erste, nämlich sichere Rahmenbedingungen für Investoren, für die Wirtschaft, für die großen wie für die kleinen Unternehmen, erreicht. Und - im übrigen -: Stabile und, wenn es geht, niedrige Zinsen, eine gemeinsame Verantwortung der Bundesregierung, aller öffentlichen Haushalte, der Bundesbank und der am Wirtschaftsleben Beteiligten.
Von Stabilität, von Klarheit und von Verläßlichkeit in Ihrer Finanzpolitik kann keine Rede sein. Jede Woche, Herr Bundeskanzler, seit Ihrem Amtseid haben Sie im Schnitt 1,5 Milliarden DM neue Schulden gemacht. Das ist ein unverantwortlicher Kurs. Er bedeutet enorme Risiken.
Zu sicheren Rahmenbedingungen gehören im übrigen nicht nur sinkende Lohnnebenkosten, gehört nicht nur ein gerechtes und wirtschaftlich vernünftiges Steuersystem, gehören nicht nur stabile Finanzen und damit auch möglichst niedrige Zinsen, sondern auch eine gemeinsame europäische Währung, der Abbau von Bürokratie und - was häufig vergessen wird - die Teilhabe der Menschen am gemeinsamen wirtschaftlichen Fortschritt.
Sie haben immer etwas verkündet, allerdings nie etwas getan. In Deutschland ist alleine das Vermögen in Geld auf 5 000 Milliarden DM gewachsen, in den letzten Jahren um fast 20 Prozent. 8 Prozent der Bevölkerung besitzen 52 Prozent dieses Vermögens. Das hat etwas zu tun mit wirtschaftlicher Vernunft, mit einer Idee von Fairneß und Gerechtigkeit. Wenn Sie das Reklamieren von Fairneß, Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Vernunft immer erneut als Neidkampagne denunzieren, dann zerstören Sie ein Element, das diese Bundesrepublik Deutschland trägt, nämlich den Willen, jedem Menschen eine anständige Chance und eine gleichberechtigte Teilhabe am Fortschritt zu geben.
Deshalb sagen wir: Teilhabe am Haben und am Sagen und an den Möglichkeiten, Wohlstand zu erwerben und ihn klug und verantwortungsbewußt zu nutzen. Wenn denn dieser Aufschwung kommt - was wir sehr hoffen -, sollte er eine innere Kraft entfalten und für alle Menschen nützlich sein und sollte nicht wieder an den Arbeitsmärkten vorbeigehen wie in der Vergangenheit.
Ich habe Ihnen eine zweite Leitlinie genannt, nämlich Recht und Ordnung in der Wirtschaft durchzusetzen. Steuerhinterziehung wäre zu nennen. Der Bund der Steuerzahler sagt, es handele sich um Milliardenbeträge. Korruption wäre zu nennen, übrigens
auch eine Folge des wachsenden Einflusses illegal erworbenen Geldes, aber nicht nur eine Folge dieses Einflusses. Beispielhaft wäre zu nennen, was jetzt in Nordrhein-Westfalen zur Bekämpfung solcher Mißstände beschlossen worden ist. Illegale Arbeit wäre zu nennen. Herr Bundeskanzler, in Deutschland arbeiten vermutlich 800 000 bis 1 Million Menschen illegal, so die Hinweise aus der Arbeitsverwaltung und aus vielen anderen sachkundigen Stellen. Die Mehrheit unserer Landsleute aber erwartet, daß wir eine Regierung haben, die nicht Mißstände duldet oder über sie hinwegsieht, sondern entschlossen dagegen vorgeht. Sie tun nichts, absolut nichts.
Es ist aber ganz unverantwortlich, wenn in Deutschland mit heute 4,4 Millionen registrierten Arbeitslosen zugleich der Mißstand geduldet wird, daß viele hunderttausend Menschen vermutlich illegal arbeiten.
Genauso schlimm ist die Tatsache, daß Sie auf der einen Seite wieder und wieder nicht nur unter Verweis auf die Niederlande beklagen, in Deutschland gebe es zu wenige Personen, die teilzeit arbeiten wollen, und daß auf der anderen Seite in den Arbeitsverwaltungen über 330 000 Menschen gemeldet sind, die eine Teilzeitarbeit suchen, aber keine finden können. Sie werden auch keine finden können, solange diese Regierung duldet, daß große Handelsketten und viele andere statt Teilzeitarbeit versicherungsfreie Arbeit anbieten. Das ist ein eklatanter Mißstand, der beseitigt werden muß.
Das schlimmste ist: Sie sehen ja nicht nur darüber hinweg; einige in Ihrer Koalition ermuntern sogar zu diesem flächendeckenden Mißbrauch gesetzlicher Möglichkeiten, verteidigen das offensiv, behaupten, das sei wirtschaftlich notwendig. Aber ich sage Ihnen eines: Wer die Stabilität des wirtschaftlichen Fortschrittes dauerhaft mit sozialem Konsens und sozialer Sicherheit verknüpfen will, der muß diesen Mißstand beseitigen, weil er auch selbständige Existenzen kaputtkonkurriert und weil er unfairen Wettbewerb bedeutet.
Ich will Ihnen eines sagen: Vor zwei Tagen rief mich eine Einzelhändlerin an und sagte: Herr Scharping - -
- Daß Sie keinen Kontakt zum Leben der Menschen mehr haben, das ist ja das Elend Ihrer Politik; daß Sie nicht mehr wissen, was in Deutschland los ist, das ist ja das Elend Ihrer Politik.
Rudolf Scharping
Daß Sie Menschen nur noch in Zahlen und Statistiken wahrnehmen, das ist ja das Elend Ihrer Politik.
Diese Frau sagte mir: Früher konnte man einen bestimmten Teil der Arbeit mit der Ausbildung verknüpfen; das ist auch von den Kosten her gegangen. Heute geht das nicht mehr. Sie hat dann weiter gefragt: Was soll ich denn tun? Ich muß mich der Konkurrenz der großen Ketten und anderer erwehren; deshalb setze ich meine Teilzeitkräfte vor die Tür und schließe 610-DM-Verträge ab. - An diesem einen praktischen Beispiel können Sie die Folgen Ihrer Politik in Deutschland sehen. Wenn Sie darüber lachen: Ich kann nicht darüber lachen, daß 6 Millionen Frauen aus der sozialen Sicherheit herausgedrängt werden und daß Sie das noch verteidigen.
Wenn Ihnen jede Empörung darüber abgeht, wie Menschen in Deutschland behandelt werden, wenn Ihnen jede Leidenschaft abgeht, das zu ändern, dann ist das Ihr Problem. Ändern Sie das endlich! Es ist skandalös, was Sie dulden.
Wenn Ihnen angesichts solcher Mißstände nur noch das Lachen kommt, dann kommt mir nun wirklich die Galle hoch vor Wut und Empörung darüber, daß wir eine Regierung haben, die sich christdemokratisch nennt und gleichzeitig Menschlichkeit nur noch als Kostenfaktor wahrnimmt. Es ist wirklich zum Heulen!
Sichere Rahmenbedingungen zu schaffen, Recht und Ordnung in der Wirtschaft durchzusetzen, verknüpfen wir mit neuen Wegen in die Zukunft. In diesem Jahr, meine Damen und Herren, werden pro Einwohner 1 057 DM für Zinsen ausgegeben. Pro Einwohner werden 172 DM für Forschung und Entwicklung ausgegeben. Nichts kennzeichnet den fehlenden Weitblick, den fehlenden Wirklichkeitssinn, die fehlende Zukunftsfähigkeit Ihrer Politik mehr als diese beiden Zahlen: 1 057 DM pro Jahr und Einwohner für Zinsen, 172 DM, weniger als ein Sechstel davon, pro Jahr und Einwohner für Forschung und Entwicklung. Das sind die Zahlen Ihres Bundesfinanzministeriums: 1 057 DM für Zinsen; 172 DM für die Zukunft, nämlich für Forschung, Entwicklung und anderes.
Sie haben uns immer vorgeworfen, wir würden blockieren.
Im Zusammenhang mit den Hochschulen zeigt sich aber, daß jedenfalls ein bescheidener Konsens möglich werden könnte - so wie übrigens auch in anderen Feldern. Es geht nicht darum, daß hier irgend etwas blockiert wird; sondern es geht darum, daß verantwortungsbewußte Wege in die Zukunft geöffnet werden.
1994, Herr Bundeskanzler, haben Sie nach Ihrem Amtseid, nach der selbst eingegangenen Verpflichtung, Schaden abzuwenden und Nutzen zu mehren, hier in diesem Bundestag gesagt: Wir werden die Aufwendungen für Bildung und Wissenschaft, Forschung und Entwicklung überproportional steigern. Das war eine Lüge. Das war nichts anderes als eine Lüge.
Sie haben systematisch sowohl den Anteil der Aufwendungen für Bildung und Wissenschaft, Forschung und Entwicklung am Gesamthaushalt als auch die Höhe der Aufwendungen gesenkt.
Wo Wahrhaftigkeit fehlt, können auch Weitblick und Wirklichkeitssinn nicht greifen. Wettbewerb zwischen Hochschulen, Wettbewerb als ein Suchprozeß für die Besten, die besten Möglichkeiten und die besten Verfahren - das wäre ein Punkt.
Sehen Sie bitte nicht daran vorbei, daß Ihre Politik mittlerweile auch dazu führt, daß jungen Existenzgründern, solchen, die eine Chance suchen und ein Wagnis eingehen, eher britisches, eher amerikanisches als deutsches Kapital zur Verfügung gestellt wird. Das ist ebenfalls ein weit unterschätztes und für die Zukunft außerordentlich bedeutsames Risiko.
Es müßte endlich gelingen - auch das sage ich in Übereinstimmung mit der großen Mehrheit unserer Landsleute -, die Arbeitsmarktpolitik lokal zu verankern, Verantwortung zu bündeln. Über eine Million Arbeitslose sind allein deshalb entstanden, weil Sie die Instrumente einer aktiven Arbeitsmarktpolitik zerschlagen und praktisch auf Null gebracht haben.
Im Osten Deutschlands erfahren die Menschen auf eine ganz erschreckende Weise, daß Sie mißachten, was ihre Zukunftshoffnungen und ihre Bereitschaft zur Verantwortung eigentlich darstellen, welches große Kapital dort ruht. Deshalb sage ich: Ihr fortdauerndes Herunterfahren der Forschungs- und Bildungsausgaben ist exakt dasselbe, was in Agrargesellschaften das Aufessen des Saatgutes wäre, exakt dasselbe.
Daß die Arbeitsmarktpolitik nicht lokal verankert wird, ist Verweigerung von Verantwortung, Blockade über Bürokratie. Es wäre wirklich sinnvoll, die vielen Erfahrungen zu nutzen, die in vielen deutschen Städten schon gemacht werden. Auch durch lokale Arbeitsmarktpolitik, mitverantwortet von den Tarifpartnern, könnten unter Nutzung der Mittel sowohl der
Rudolf Scharping
Arbeitsverwaltung wie der Sozialhilfe Chancen und Verantwortlichkeiten zusammengebracht werden, anstatt Verantwortlichkeiten immer nur hin und her zu schieben.
Meine Damen und Herren, Politik hat die Aufgabe, Sicherheit zu schaffen und Freiheit zu schützen. Sie tun das nicht. Mit der großen Mehrheit unseres Volkes erwarten wir - und wir werden es durchsetzen -, daß soziale Sicherheit wieder zum Partner der wirtschaftlichen Stabilität wird,
daß soziale Sicherheit nicht - wie von Ihnen - ruiniert wird. Wir wehren uns mit der breiten Mehrheit unseres Volkes gegen die Ökonomisierung aller Lebensbereiche, gegen eine Politik, die das Christdemokratische beansprucht und jeden Teil unseres Lebens nur noch in Zahlenstellen, Kostenkolonnen und betriebswirtschaftlichen Kategorien denkt. Das ist verhängnisvoll; denn es mißachtet Menschen.
Es mißachtet das Wort der Kirchen. Es mißachtet das Engagement der Ehrenamtlichen. Es mißachtet die Bereitschaft zur Verantwortung. Bei vielen Menschen, auch bei Behinderten, wächst der Eindruck, am Ende werde sogar Menschlichkeit, werde Zuwendung nur noch zur Kostenstelle. Dabei wäre es die vornehmste Aufgabe einer aktiven, einer kraftvollen, einer zukunftsfähigen Bundesregierung, sozialen Schutz, wirtschaftliche Verantwortung und den Respekt vor Freiheit und Sicherheit des einzelnen Menschen miteinander zu verknüpfen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist viele Jahre her, da hat ein Mann mit Namen Mahatma Gandhi gepredigt gegen gesellschaftliche Sünden. Wer sich hier im Deutschen Bundestag eines buddhahaften Gemütes rühmt, wird nichts dagegen haben, wenn man einen Menschen aus diesem Kulturkreis zitiert.
Diese gesellschaftlichen Sünden seien: Politik ohne Prinzipien, Geschäft ohne Moral, Reichtum ohne Arbeit, Erziehung ohne Charakter,
Wissenschaft ohne, Menschlichkeit und Genuß ohne Gewissen. - Ich will damit nicht sagen, daß Deutschland diesen Zustand erreicht hätte. Aber Sie sind hier 1982 angetreten mit den Sätzen - ich zitiere -:
Es geht darum, unser Land aus der schwersten Wirtschafts- und Finanzkrise seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland herauszuführen.
Zerrüttete Staatsfinanzen, Firmenzusammenbrüche, steigende Massenarbeitslosigkeit und deren harte Folgen für Millionen unserer Mitbürger dürfen und wollen wir nicht hinnehmen. Es muß ein neuer Anfang gemacht werden.
Jawohl, Sie haben recht: Es muß ein neuer Anfang gemacht werden, nachdem Sie Ihren Ansprüchen selbst dauernd ins Gesicht geschlagen haben.
Wir beraten hier das letzte Finanzwerk dieser Koalition.
Es trägt Züge eines Erbes, das die Kinder lieber nicht antreten würden.
Hier werden regierungsamtlich Ausplünderungen vorgenommen. Sie plündern die Gegenwart, und Sie plündern die Zukunft.
Es gibt leider viele Beispiele dafür. Nur, wir sind in einer anderen Rolle: Wir werden und wir wollen dieses Erbe antreten, damit es gewandelt und gebessert werden kann mit der Mehrheit unserer Landsleute, für die Zukunft unserer Kinder, für die Zukunft unseres Landes,
für seine wirtschaftliche Stärke und seine soziale Verantwortung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Politik, die wieder weitblickend und mutig, realistisch und ohne Illusion ist, Kooperation statt Konfrontation, Aufklärung statt Angstmache, Leistungseliten und Verantwortungseliten fördert,
Sicherheit schafft und Gerechtigkeit verwirklicht, neue Wege öffnet - eine solche Politik wird sehen, daß die Globalisierung eine Chance und eine Herausforderung darstellt zur Schaffung einer friedlicheren Welt und daß diese Chance nur von allen gemeinsam verwirklicht werden kann, durch gemeinsame Zusammenarbeit, durch Verständigung auf gemeinsame Regeln und Ziele und durch Ausgleich von Interessen.
Eine neue Politik sieht, daß die Bundesrepublik Deutschland gute Möglichkeiten hat, einen eigenständigen, gemeinsam mit den europäischen Partnern verabredeten Weg zu gehen und den großen Fähigkeiten, der großen Bereitschaft unserer Bürger zur Verantwortung in Wirtschaft und Gesellschaft Rechnung zu tragen.
Rudolf Scharping
Eine neue Politik wird die Motivation der Menschen ernst nehmen und sie an der Demokratie, am wirtschaftlichen Leben umfassend beteiligen. Unterordnung fordert die Menschen nicht, sondern verunsichert sie und läßt sie gleichgültig werden. Ihrer Politk fehlen Richtung und gemeinsames Ziel. Die Union hat die soziale Seite ihrer Geschichte zu den Akten gelegt.
Ludwig Erhards Vorstellungen vom gemeinsamen Fortschritt, von einer Verbindung ökonomischer Kraft und sozialer Verantwortung haben bei Ihnen keinen Platz mehr. Die CSU ist eine Stammtischpartei und die F.D.P. eine Klientelpartei.
Wir wollen mit der Mehrheit unserer Landsleute ein neues gesellschaftliches Bündnis schmieden: die soziale und solidarische Zivilgesellschaft. Wir wollen die Menschen nicht allein fit für den Weltmarkt machen, sondern wir wollen umgekehrt die Kräfte von wirtschaftlichem und technologischem Fortschritt nutzen, um das neue Jahrhundert menschenwürdiger zu gestalten.
Wir wollen einen Weg stoppen: den Weg, den Sie von der sozialen Konsensgesellschaft in eine Konfrontationsgesellschaft gegangen sind, einen Weg der Ausgrenzung, der - jedenfalls unter Jugendlichen und manchmal andernorts - nicht nur Ungerechtigkeit, sondern hier und da sogar Gewaltbereitschaft provoziert. Wir wollen einen neuen Weg gehen, der Zusammenhalt, Chancengerechtigkeit und Solidarität miteinander verknüpft.
Andere Länder in Europa haben das erkannt, verwirklichen diesen Weg, und sie haben verstanden, was in Deutschland noch nicht genug verstanden worden ist und von dieser Regierung komplett ignoriert wird: Es geht hier um mehr als nur um einen ökonomischen Wettbewerb. Es geht darum, eine gemeinsame Vorstellung vom menschenwürdigen Zusammenleben, von der europäischen Zivilisation neu zu begründen und unter neuen Bedingungen neu zu behaupten.
Zu diesem Neuanfang kann die Bundesregierung einen konstruktiven Beitrag leisten. Es ist ja erstaunlich, aber auch ganz offenkundig: Es gibt nur einen einzigen konstruktiven Beitrag, den Sie, Herr Bundeskanzler, dazu leisten können. Machen Sie den Weg zu dieser neuen Politik endlich frei! Das wäre wenigstens ein guter Abschluß Ihrer Arbeit.