Rede von
Dr.
Uwe-Jens
Heuer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(PDS)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (PDS)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Minister Kanther hat über geistige Erneuerung und Werte gesprochen. Nun kann man über geistige Erneuerung und Werte sehr verschiedener Meinung sein. Ich möchte über ein Thema sprechen, worüber es mehr Einverständnis geben kann, weil es einen eindeutigen Maßstab, das Grundgesetz, gibt, nämlich über das Verfassungsverständnis von Politikern dieses Landes.
Sie wissen, daß in den jährlichen Berichten des Bundesamtes für Verfassungsschutz wiederholt die PDS und auch einzelne Bundestagsabgeordnete unter der Rubrik Linksextremismus als Verfassungsfeinde genannt werden. Als Beleg reichte im Bericht 1995 in meinem Fall dafür die sicherlich in keiner Weise grundgesetzwidrige Äußerung „Wer Sozialismus will, kann an dem gescheiterten Sozialismusversuch nicht vorbeigehen ...". 1996 wurde zitiert, es sei eine notwendige Aufgabe, eine „sozialistische Alternative aus den heutigen Widersprüchen und gesellschaftlichen Problemen theoretisch abzuleiten und sie theoretisch zu rekonstruieren". Für die Aufdekkung solcher „Verschwörungen" werden Steuergelder verwandt.
Die faktisch gegebene uneingeschränkte Definitions- und Denunziationsmacht der Bundesregierung hinsichtlich der Frage der Verfassungsfeindlichkeit von Personen und Organisationen macht so etwas bis heute möglich.
Das Grundgesetz von 1949 war Ergebnis der verheerenden Niederlage des deutschen Faschismus. Es sollte ein neues demokratisches, sozial- und rechtsstaatliches Deutschland begründen, das der Aggressionspolitik abschwört.
Dieser „historische Kompromiß" ist heute tatsächlich bedroht, aber nicht durch die PDS, sondern aus der rechten Mitte heraus.
Das ist eine schwerwiegende Behauptung, aber ich meine, daß sie zu belegen ist.
Der Gesetzgeber engte 1993 das Asylrecht rigoros ein - Art. 16a.
Die Politik des Einsatzes der Bundeswehr im Ausland „zur Wahrnehmung deutscher Interessen" wurde 1994 mittels einer höchst fragwürdigen Auslegung des Grundgesetzes - Art. 87 - abgesegnet. Ignoriert wurde seit 1995 in immer schärferem Maße das So-
Dr. Uwe-Jens Heuer
zialstaatsgebot des Grundgesetzes - Art. 20 - als Barriere gegen den Sozialabbau.
Das Bundesministerium der Justiz versteht sich auch als „Verfassungsressort" der Bundesregierung. Tatsächlich aber betätigte sich der Bundesminister der Justiz selbst aktiv als Mittäter des Grundgesetzabbaus. Der große Lauschangriff, auf den sich kürzlich eine große Koalition von CDU/CSU, F.D.P. und SPD geeinigt hat, fand seine aktive Unterstützung. Damit ist Art. 13 des Grundgesetzes fällig. Noch vor dreieinhalb Jahren gab es einen entsprechenden Antrag zu Art. 13 des Grundgesetzes in der Gemeinsamen Verfassungskommission. Die SPD lehnte sofort kategorisch ab.
Auch der CDU war dieser Antrag offenbar peinlich. Damals wurden die Reformvorschläge der Opposition immer wieder mit der Erklärung, das Grundgesetz habe sich bewährt, vom Tisch gewischt.
Es war und bleibt ein Skandal der deutschen Justizgeschichte, daß der damalige Justizminister Klaus Kinkel auf dem 15. Deutschen Richtertag am 23. September 1991 an die anwesenden Richter und Staatsanwälte appellierte, es müsse der Justiz gelingen, „das SED-Regime zu delegitimieren" .
Wie verfuhr die unabhängige Justiz? Weil das rechtsstaatliche Prinzip „nulla poene, sine lege" aus Art. 103 des Grundgesetzes einer politischen Strafverfolgung der führenden Politiker der DDR im Wege stand, wurde es mit dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Oktober 1996 in bezug auf die Grenzordnung der DDR aufgehoben.
Ich meine, dieser Beschluß war verfassungswidrig. Am 25. August entschied das Landgericht Berlin im sogenannten Politbüroprozeß entsprechend. Im Gegensatz zum Kollegen Kolbe meine ich nicht, daß der Rechtsstaat hier seine Probe bravourös bestanden hat.
Die deutsche Einheit ist nicht zu realisieren, wenn die einen ein Grundrecht ganz haben und die anderen nur eingeschränkt.
Ich sehe es auch als ein Alarmzeichen an, daß vom rechten Spektrum der politischen und ökonomischen Elite grundsätzliche Aufforderungen ergehen, nun eine Systemveränderungsdebatte zu beginnen. Hans-Olaf Henkel, Präsident des BDI, möchte unter anderem die föderalistische Struktur der Bundesrepublik - Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes - zur Disposition stellen. Ihm ist auch laut „Spiegel", 30/1997,
das Konsensgesülze im System der Zusammenarbeit von Gewerkschaften und Unternehmen „zuwider". Ihm wird von den Kollegen Graf Lambsdorff und Schäuble sekundiert.
Wenn ich aus dieser Entwicklung ein Fazit ziehen kann, so meine ich, daß dies nicht besser geschehen kann als durch ein Zitat aus einem Artikel von Heribert Prantl in der „Süddeutschen Zeitung" vorn 9. August. Er schreibt:
1992/94 wurde das Grundgesetz quasi unter Denkmalschutz gestellt. Heute bedauern die Denkmalschützer von gestern die Schwierigkeiten, die sich jetzt beim Umbau des Hauses ergeben. Deshalb kommen sie nun mit der Abrißbirne. Ist das jetzt die große Wende, die Helmut Kohl 1982 angekündigt hat?