Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! DieSitzung ist eröffnet.Wir setzen die Haushaltsberatungen – Tagesordnungs-punkt 1 – fort:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über dieFeststellung des Bundeshaushaltsplans für dasHaushaltsjahr 2005
– Drucksache 15/3660 –Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschussb) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierungFinanzplan des Bundes 2004 bis 2008– Drucksache 15/3661 –Überweisungsvorschlag:HaushaltsausschussIch erinnere daran, dass wir am Dienstag für die heu-tige Aussprache neun Stunden und für morgen dreiein-halb Stunden beschlossen haben.RedeWir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums für Familie, Senioren, Frauen undJugend.Außerdem rufe ich die Tagesordnungspunkte 7 a und7 b sowie Zusatzpunkt 3 auf:7 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum quali-tätsorientierten und bedarfsgerechten Ausbau derTagesbetreuung und zur Weiterentwicklung derKinder- und Jugendhilfe
– Drucksache 15/3676 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen undInnenausschussFinanzausschussAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungtzungn 9. September 2004.00 Uhrb) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Maria Böhmer, Gerda Hasselfeldt, MariaEichhorn, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der CDU/CSUElternhaus, Bildung und Betreuung verzah-nen– Drucksache 15/3488 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
InnenausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaftAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschussZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten InaLenke, Klaus Haupt, Otto Fricke, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der FDPSolides Finanzierungskonzept für den Ausbauvon Kinderbetreuungsangeboten für unterDreijährige– Drucksache 15/3512 –textÜberweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
InnenausschussFinanzausschussAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschussDas Wort hat Bundesministerin Renate Schmidt.
Renate Schmidt, Bundesministerin für Familie, Se-n und Jugend:ter Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Ich bringe hier heute den Einzelplan 17 eine dies mit der ersten Lesung unseres Tages-Jugend
nioren, FraueSehr geehrKolleginnen!und verknüpfbetreuungsausbaugesetzes, TAG. Dafür bedanke ich
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Bundesministerin Renate Schmidtmich auch im Namen der Eltern und Kinder, die mehrund bessere Betreuung in Deutschland brauchen.
Lassen Sie mich in aller Kürze mit dem Haushalt undmeinem Ministerium, das in diesem Jahr das Zertifikat„familienfreundliche Behörde“ erhalten hat, beginnen.Wir haben größte Anstrengungen unternommen und dieZahl der Ausbildungsplätze in meinem Ministerium undim Bundesamt für den Zivildienst um 40 Prozent gestei-gert.
Wir erreichen damit einen Anteil von 7,7 Prozent der so-zialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze. Das ist einegute Nachricht für junge Menschen.Eine gute Nachricht ist es auch, dass wir trotz des not-wendigen Subventionsabbaus Programme im Kinder-und Jugendplan erhalten können. Subventionsabbau darfnämlich nicht bedeuten, dass wir bei Projekten für Kin-der und Jugendliche sparen,
seien es die Programme für benachteiligte Jugend-liche „Entwicklung und Chancen“ oder „Lokales Kapitalfür soziale Zwecke“ oder die neuen Jugendmigrations-dienste.
Unser Projekt „P – misch dich ein!“ steht für Partizi-pation und für unser Leitbild einer aktivierenden Jugend-politik. Mit „Jugend ans Netz“ schaffen wir die Vo-raussetzungen dafür, dass alle Jugendeinrichtungen inDeutschland zu vernünftigen Preisen online gehen kön-nen. Wir führen ferner das Aktionsprogramm „Jugendfür Toleranz und Demokratie“ wie geplant fort.
Das ist wichtig in diesen populistisch hochgeputschtenZeiten.Wir wollen und werden entsprechend den Vorschlä-gen der Kommission „Impulse für die Zivilgesellschaft“das Modellprogramm für einen generationsüber-greifenden Freiwilligendienst in diesem Jahr auf denWeg bringen. Es geht nämlich künftig darum, die Chan-cen des längeren Lebens für alle nutzbar zu machen: fürdie Älteren und für alle Generationen. Wir wollen dendemographischen Wandel nicht erdulden, sondern wirwollen ihn gestalten.
Der Fünfte Altenbericht, der im nächsten Jahr vorge-legt wird, befasst sich deshalb mit dem Thema „Poten-ziale des Alters in Wirtschaft und Gesellschaft“; dennAlter ist kein Synonym für Hilfsbedürftigkeit und Ge-brechlichkeit, sondern für Lebenserfahrung, Leistungs-bereitschaft und Leistungsfähigkeit bei der allergrößtenZahl der Menschen, und zwar bis ins höchste Alter.
Diejenigen allerdings, die im hohen Alter Unterstüt-zung brauchen, werden mit der notwendigen Hilfe rech-nen können. Ich habe gemeinsam mit Gesundheitsminis-terin Ulla Schmidt im vergangenen Jahr einen rundenTisch „Pflege“ ins Leben gerufen. Hier werden bis 2005Vorschläge erarbeitet. Unser Ziel ist die Entbürokratisie-rung der Pflege und die bessere Verzahnung der ambu-lanten, teilstationären und stationären Einrichtungen.Das ist umso notwendiger, als Pflegearbeit nach wie vorganz überwiegend in der Familie und von Frauen geleis-tet wird. Deshalb muss nicht nur die Betreuung vonKleinkindern, sondern auch die von älteren Angehörigenmit Erwerbsarbeit vereinbar sein; denn gerade weil sichFrauen für ihre Familien engagieren, sind sie im Berufs-leben nach wie vor benachteiligt.Wir wirken dem entgegen und setzen die gemeinsameArbeit mit den Wirtschaftsverbänden zur Gleichstellungvon Frauen und Männern in der Privatwirtschaft fort.Die deutsche Wirtschaft erkennt zunehmend – manch-mal noch etwas zögerlich –, wie wichtig Frauen für diesich wandelnde Arbeitswelt sind und dass sie in Füh-rungspositionen gehören und in der Selbstständigkeit un-terstützt werden müssen, wie zum Beispiel mit unserenProgrammen für Existenzgründerinnen.Das Berufswahlverhalten muss sich ebenfalls ändern.Mit dem Girls’ Day
versuchen wir das zu erreichen, genauso wie mit unserenIT-Programmen und dem neuen Internetportal „Berufund Karriere für Frauen“. Damit setzen wir den Old-Boys-Networks endlich Young-Women-Networks entge-gen.
2005 wird zudem das Gesetz zum Schutz vor Diskri-minierungen in Kraft treten. Von da an wird eine natio-nale Stelle diskriminierten Menschen zu ihrem Rechtverhelfen. Dies bedeutet dann weniger Benachteiligun-gen und mehr Gleichstellung.Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist nicht nurein wichtiges gleichstellungspolitisches Thema. Viel-mehr betrifft es die gesamte Gesellschaft, nicht zuletztdie Männer und insbesondere die Väter. Es ist das zen-trale Thema der Familienpolitik. Wir müssen versuchen,endlich die Kluft zwischen Lebenswünschen und Le-benswirklichkeiten – soweit Politik das kann – zu schlie-ßen. Einerseits bestehen bei 96 Prozent der BevölkerungWertschätzung der Familie sowie der Wunsch nach Fa-milie und einem Leben mit Kindern. Andererseits habenwir die niedrigste Geburtenrate in der Europäischen
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Bundesministerin Renate SchmidtUnion und die weltweit höchste Kinderlosigkeit. Das istnicht die Folge einer unzureichenden materiellen Förde-rung von Familien. Da sehen wir im europäischen Ver-gleich nämlich gut aus. Wir liegen hier insgesamt imoberen Drittel. 34 Milliarden Euro sind im Haushalt desFinanzministers für das Kindergeld sowie für die Aus-wirkungen der von mir durchgesetzten steuerlichen Re-gelungen insbesondere zugunsten der Alleinerziehendenvorgesehen. Hinzu kommen in meinem Haushalt Mittelfür den neuen Kinderzuschlag. All das lässt mich mei-nen Haushalt selbstbewusst vertreten; denn neue Kür-zungen für Familien gibt es nicht.
Die Änderungen betreffend das Erziehungsgeld kommen2005 voll zum Tragen und führen deshalb zu niedrigerenAusgaben bei diesem Titel, ebenso wie die niedrigen Ge-burtenzahlen.Damit bin ich bei dem zentralen Thema: In Deutsch-land werden zu wenige Kinder geboren. Die Herausfor-derungen für uns sind offensichtlich. Junge Menschenwollen mehr Kinder und wir brauchen sie; denn wenigerKinder bedeuten weniger Innovationsfähigkeit, wenigerWachstum, weniger Wohlstand und weniger soziale Si-cherheit, und zwar nicht irgendwann, sondern bereitsheute.
– Wunderbar! Es freut mich, dass Sie mir einmal zustim-men.
Frauen und insbesondere Mütter wollen erwerbstätigsein. Wir brauchen auch mehr erwerbstätige Frauen.
Wir brauchen eine bessere und vor allem frühe Erzie-hung und Bildung unserer Kinder, damit die Herkunft ei-nes Kindes nicht weiter wie bisher über seine Bil-dungschancen entscheidet. Wir brauchen eine deutlicheReduzierung von Familien- und Kinderarmut. Wir stel-len uns diesen Herausforderungen mit einer nach-haltigen Familienpolitik. Sie beruht auf folgenden dreiSäulen: erstens dem Ausbau der Infrastruktur für Fami-lien – denn der deutsche Weg einer vorrangig monetärenFamilienförderung ist im europäischen Vergleich eherwirkungsschwach, um es ganz vorsichtig auszudrü-cken –, zweitens deutlich mehr Familienfreundlichkeitin den Kommunen und vor allen Dingen in den Unter-nehmen und drittens zielgenauen finanziellen Leistun-gen dort, wo sie Eigeninitiative stärken und die Ent-scheidung für Kinder erleichtern, statt Leistungen nachdem Gießkannenprinzip. Alle drei müssen zusammen-kommen, damit eine effiziente Familienpolitik entstehenkann.Lassen Sie mich mit der dritten Säule beginnen. Erst-mals gibt es in Deutschland ein Instrument zur gezieltenBekämpfung von Armut bei Kindern. Zu diesem Schrittwaren Sie, meine sehr geehrten Herren und Damen vonder Opposition, in der Vergangenheit leider nicht in derLage, obwohl die Zahl der Kinder, die von Sozialhilfeleben, ebenfalls dramatisch hoch war.
Den Kinderzuschlag von bis zu 140 Euro erhalten El-tern, die wenig verdienen und neben ihrem eigenen Be-darf nicht auch noch den ihrer Kinder erwirtschaftenkönnen. 150 000 Kinder und ihre Familien werden damitab 2005 in einem ersten Schritt von Arbeitslosengeld IIunabhängig. Wir werden die Wirkung dieses neuenInstruments sorgsam prüfen und parallel an seiner Wei-terentwicklung arbeiten, mit dem Ziel, deutlich mehrKinder unabhängig vom Arbeitslosengeld-II-Bezug zumachen.
Auch eine Umgestaltung des heutigen Erziehungsgel-des zu einem einkommensbezogenen Elterngeld – dasist Teil der aktuellen Diskussion – kann dazu beitragen,dass sich Kinderwünsche häufiger erfüllen. Es würde zu-dem mehr Väter motivieren, sich an der konkreten Fami-lienarbeit zu beteiligen. Da kann uns die Steigerung von1,5 Prozent auf 5 Prozent wahrhaftig noch nicht zufrie-den stellen. Das müssen noch mehr werden, wenn wirwirklich gleiche Chancen für Frauen und Männer in die-sem Land erreichen wollen.
Übrigens stellt ein solches Elterngeld die Verkäuferin imVergleich zur heutigen Situation ebenso besser wie dieLehrerin oder die Ärztin.Ich bitte aber ganz herzlich darum, nicht immer einEntweder-oder zu diskutieren. Wir brauchen Kinderbe-treuung und familienfreundliche Arbeitsbedingungenund finanzielle Leistungen, die die Entscheidung für einKind erleichtern.
Ein guter Mix ist für Deutschland der Erfolg verspre-chende Weg. Ich lade zu einer offenen und konstruktivenDiskussion ein. Absolute Priorität haben für mich aberder Ausbau der Betreuung und eine familienfreundlicheUnternehmenskultur. Dafür, dass aus einem kinderent-wöhnten Land wieder ein kinderfreundliches Land wird,sind nämlich nicht die Politik und der Staat allein verant-wortlich, sondern die gesamte Gesellschaft.Damit bin ich bei der zweiten Säule, bei der Wirt-schaft, die eine besondere Verantwortung trägt. Deshalbhabe ich die Allianz für die Familie mit den vier Spit-zenverbänden der deutschen Wirtschaft und den Ge-werkschaften gegründet. Unser gemeinsames Motto ist:Familie bringt Gewinn. Ein wichtiges Aktionsfeld dieserAllianz sind die Lokalen Bündnisse für Familie. ÜberFamilienfreundlichkeit wird nämlich nicht in Berlin
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Bundesministerin Renate Schmidtentschieden, sondern vor Ort und darum muss dort etwaspassieren.
Seit dem Start dieser Initiative im Januar 2004 hat siesich schnell zu einer Erfolgsgeschichte entwickelt. Sohaben sich bislang 81 Bündnisse der Initiative fest ange-schlossen. An weiteren 131 Standorten werden Bünd-nisse mithilfe des Servicebüros meines Ministeriumsvorbereitet. In diesen 212 Kommunen oder kommunalenZusammenschlüssen leben rund 25 Millionen Men-schen. Es ist wirklich ein Erfolg, dass über Familie vorOrt jetzt regelmäßig nicht nur geredet, sondern im Inte-resse von Kindern und ihren Familien auch gehandeltwird.
Im Zentrum dieser lokalen Bündnisse steht dabei im-mer auch die Frage nach familienfreundlichen Arbeits-bedingungen – schließlich beteiligt sich dort die Wirt-schaft vor Ort – und nach besserer Betreuung. Zu dieserbesseren Betreuung leistet die Bundesregierung ihrenBeitrag. Dies ist die erste, die wichtigste Säule.Dies ist trotz Kinderzuschlag und trotz der Diskussionüber das Elterngeld ein Paradigmenwechsel in der Bun-desrepublik Deutschland: weg von der 30-jährigen über-wiegend monetären Förderung von Familien hin zu einerPolitik besserer Infrastrukturen für Familien, die sienämlich am dringendsten brauchen.
Außerdem ist es der dritte und überfällige Schritt zueiner Verbesserung der Tagesbetreuung. Im Jahr 1992wurde der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatzvon allen Fraktionen dieses Hohen Hauses beschlossen.1996 wurde er – unter erheblichem Protest der Kommu-nen; teilweise erinnern Sie sich vielleicht noch – gesetz-lich verankert. Die Kommunen fühlten sich damals näm-lich vom Bund finanziell vollkommen im Stich gelassen.2002 haben wir mit 4 Milliarden Euro in dieser Legis-laturperiode den Ausbau von Ganztagsschulen angesto-ßen. Nun wollen wir ab 2005 in Westdeutschland diemagere Quote von 2,7 Prozent Krippenplätzen und4,5 Prozent Tagespflegestellen für die unter Dreijährigenbis 2010 auf ein bedarfsgerechtes Niveau anheben und inOstdeutschland die gute Betreuungssituation erhalten.7 Milliarden Euro investiert der Bund damit allein indieser Legislaturperiode in Ganztagsschulen und Betreu-ung. Wir hätten uns viel Ärger ersparen können, wennwir diese 7 Milliarden Euro in die Rente gesteckt hätten.Damit hätten wir aber nicht in die Zukunft investiert.
Genau das wollen und müssen wir aber tun: in die Zu-kunft, in unsere Kinder und in deren bestmögliche undfrühe Förderung und Bildung investieren. Wir sind näm-lich nicht nur Schlusslicht bei der Geburtenrate inEuropa, sondern auch bei Betreuungs-, Bildungs- undErziehungseinrichtungen für Kinder. Die bisherige Ge-setzeslage reichte offensichtlich nicht aus, um einen be-darfsgerechten Ausbau zu gewährleisten.Mit dem TAG konkretisieren wir diesen Bedarf. Wirorientieren ihn am Kindeswohl und den Vereinbarkeits-bedürfnissen der Eltern. Dabei handelt es sich um einenMindestbedarf, aus dem nicht abgeleitet werden darf,dass die Kindertagesstättengesetze der ostdeutschenBundesländer verschlechtert werden können.Wir wollen mit dem Gesetz bis 2010 circa230 000 zusätzliche neue Plätze schaffen. Das Gesetz er-öffnet den Kommunen die Möglichkeit, die Umsetzungdieser Pflichtaufgabe – ich betone das – flexibel und amlokalen Bedarf orientiert vorzunehmen. Sie sind aber zueiner verbindlichen Ausbauplanung und jährlichen Bi-lanzierung des Fortschritts verpflichtet.Aber es geht nicht nur um Quantitäten, sondern vorallem auch um Qualität. „Betreuung, Bildung und Erzie-hung“ heißt die Trias, die auch von der OECD begrüßtwerden wird und die jetzt auch für die Kindertagespflegegilt. Dies wird unter anderem durch bessere Qualifizie-rung und bessere soziale Absicherung von Tagesmütternund Tagesvätern erreicht. Es ist aber nicht Aufgabe desBundes, Qualitäts- und Bildungskriterien detailliert zuregeln. Das wissen Sie genauso gut wie wir. Das wirdauch in Ihrem Antrag deutlich. Deshalb gehen die Vor-würfe, das TAG schreibe zu wenig zu Qualität und Bil-dung vor, ins Leere.Ich bin im Übrigen dankbar dafür, dass sich in derZwischenzeit alle Länder auf vorschulische Bildungs-ziele verständigt haben und dass unsere nationale Quali-tätsinitiative mit der Mehrzahl der Länder durchgeführtwird. Das ist eine Form von Föderalismus, die funktio-niert und die den Wünschen der Menschen entspricht:Der Bund gibt einen verlässlichen Rahmen vor und dieLänder füllen ihn aus, auch im Wettbewerb miteinander.Deshalb ist es im Interesse der Kinder in ganz Deutsch-land gut, dass das Kinder- und Jugendhilferecht in derZuständigkeit des Bundes liegt. Das muss auch so blei-ben.
Der Bedarf von zusätzlich mindestens 230 000 Plät-zen soll in dreifacher Weise gedeckt werden: über dasÖffnen der Kindertagesstätten für unter Dreijährige, überqualifizierte Tagespflege und, wo nötig, über neue Krip-penplätze. Auf dieser Basis haben wir die Kosten be-rechnet, und zwar jeweils zugunsten der Kommunen.Wir haben hohe Kosten pro Krippenplatz zugrunde ge-legt. Wir haben berücksichtigt, dass unter Dreijährige inKitas einen besseren Personalschlüssel brauchen und dieQualifizierung von Tagesmüttern nicht umsonst zu ha-ben ist. Wir können unsere Rechnung auf Euro und Centbelegen.Beginnend mit 400 Millionen Euro netto im Jahr2005 entstehen bis zum Jahre 2010 1,5 Milliarden Euro
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Bundesministerin Renate SchmidtBelastung für die Kommunen. Bis heute habe ich zwarvielfältige Äußerungen des Inhalts gehört, das reichenicht, aber keinen einzigen Beleg für höhere Kosten ge-sehen.
– Ich kann das belegen. Ich kann das offen legen. Siekönnen mich gern besuchen, Frau Lenke, und ich zeigeIhnen, was das kostet – bis ins letzte Detail.
Diese 1,5 Milliarden Euro sollen über das Zusam-menlegen von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe finan-ziert werden.
2,5 Milliarden Euro an Einsparungen der Kommunenwerden verbindlich – so steht es im Gesetz – entstehen.Die Einsparungen kommen bei den Ländern an – dasweiß ich wohl –, aber die haben sich verpflichtet, diesean die Kommunen weiterzugeben.
Sie sollen – auch das steht so im Gesetz – für Kinderbe-treuung und Investitionen eingesetzt werden.
Für die Erfüllung dieser Pflichtaufgabe der Kommu-nen – das ist außerhalb jeder finanziellen Verantwortungdes Bundes; vielleicht darf man das noch einmal sagen –
werden für ganz Westdeutschland in 2005 gerade einmal– ich habe es eben gesagt – 400 Millionen Euro netto be-nötigt. Dem stehen Entlastungen der Kommunen im sel-ben Jahr, 2005 – das ist nachrechenbar –, von 6,6 Mil-liarden Euro gegenüber, die auf den Bund zurückgehen.6,6 Milliarden Euro Entlastung!
Ich halte noch einmal fest: auf der einen Seite eine Ent-lastung in Höhe von 6,6 Milliarden Euro, auf der ande-ren Seite eine Belastung in Höhe von 400 Millionen imJahr 2005.
Wir müssen deshalb nicht an erster Stelle eine De-batte über Finanzen, sondern über die Setzung neuerPrioritäten zugunsten von Kindern und Familien führen.Diese muss in der Bundesrepublik Deutschland endlicheinmal stattfinden.
Wir in der Bundesregierung setzen diese Prioritäten underwarten dies auch von Ländern und Kommunen. Wirentlasten die Kommunen im Übrigen über die2,5 Milliarden Euro hinaus, und zwar dadurch, dass wirsechs von sieben Vorschlägen des Bundesrates, die vomFreistaat Bayern und vom Land Nordrhein-Westfalenkommen, aufgreifen, um Fehlentwicklungen in der Kin-der- und Jugendhilfe zu beseitigen. Das reicht vom stär-keren Heranziehen von einkommensstarken Eltern beider stationären Unterbringung ihrer Kinder bis zurStärkung der Jugendämter. Über deren Köpfe hinwegdürfen nicht länger Kosten verursacht werden, die siedann nur noch begleichen dürfen. Mit diesen Maßnah-men entlasten wir die Kommunen pro Jahr zusätzlich um220 Millionen Euro.Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, meine sehr geehr-ten Herren, meine sehr geehrten Damen, mit dem TAGerfüllen wir nicht alle Wünsche; das weiß ich. Manchemöchten mehr: mehr Bildung, Einbeziehung von nochmehr oder gar allen Kindern oder einen verbindlichenRechtsanspruch. Für andere ist das, was wir vorgesehenhaben, bereits viel zu viel. Ich meine, das TAG stellt einerealistische und finanzierbare Lösung dar. Das TAG stei-gert die Quantität und die Qualität von Kinderbetreuungund der Bund überschreitet mit diesem Gesetz nichtseine Kompetenzen. Die Zustimmung zu diesem Gesetz-entwurf in der Gesellschaft ist groß. Sie reicht von denKirchen über die Wirtschaftsverbände und den DGB bishin zu Wohlfahrtsorganisationen und dem Kinderschutz-bund, von Oberbürgermeisterinnen und Oberbürger-meistern von SPD und CDU bis hin zu Einzelpersonenwie Gesine Schwan, Rita Süssmuth oder SandraMaischberger. Wenn Sie eine Blockadehaltung gegendieses Gesetz einnehmen, werden Sie – das prophezeieich Ihnen – scheitern.
Wir sollten lieber gemeinsam dafür sorgen, dass diesesGesetz zu einem Erfolgsprojekt wird.Meine sehr geehrten Herren, meine sehr geehrten Da-men, mit dem Haushalt des Einzelplans 17 wird dafürgesorgt, dass Kinder- und Familienarmut abnimmt, es zumehr Familienfreundlichkeit kommt, die Gleichstellungvon Frauen und Männern gefördert wird und Kindernmehr Bildungschancen verschafft werden. Es ist einHaushalt für die Zukunft.
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Ich erteile das Wort Kollegin Maria Böhmer, CDU/
CSU-Fraktion.
Guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Wir haben soeben gehört, man dürfe beiKindern und Jugendlichen nicht sparen. Aber, FrauMinisterin Schmidt, genau das tun Sie mit diesem Haus-halt. Ihr familienpolitischer Haushalt sieht für das Jahr2005 ein Minus von 238 Millionen Euro vor. Das ist diezentrale Botschaft. Das ist ein Minus von 4,4 Prozent.Das ist die größte Kürzung bei allen Haushalten im Be-reich der Bundesregierung. Diese Negativbotschaft gehtvon diesem Haushalt aus.
Es kommt ein Zweites hinzu: Ich kann Ihnen nicht er-sparen, dieses zu erwähnen, auch wenn Sie auf Verbesse-rungen verweisen, die Familien, die von Sozialhilfe le-ben, zugute kommen. Die Lage der Familien inDeutschland hat sich nicht verbessert. Trotz steuerlicherVerbesserungen geht es den Familien in Deutschlandschlechter. Sie kämpfen täglich darum, wie sie ihre Aus-gaben bewältigen können, denn die Schieflage ist da.Die täglichen Ausgaben fressen die steuerlichen Entlas-tungen auf: die geringere Entfernungspauschale, die hö-heren Benzinkosten, mehr Ausgaben für Öl, Gas undMüll. Außerdem hat der rot-rote Senat in Berlin dieLernmittelfreiheit abgeschafft und die Kindergartenbei-träge sind in astronomische Höhen gestiegen – bis zu500 Euro pro Kind! –, was zur Folge hat, dass die Kindervom Kindergarten abgemeldet werden. Das ist die Reali-tät in Deutschland.
Wir brauchen eine neue Prioritätensetzung für Fa-milien, wohl wahr; wir brauchen aber die richtige Priori-tätensetzung. Schauen Sie in die unionsregierten Länder.Seit Jahren haben wir uns angestrengt und dafür ge-kämpft, dass der Ausbau der Kinderbetreuung voran-kommt. In den unionsregierten Ländern finden Sie diebesten Voraussetzungen für die Kinderbetreuung. Aberich sage auch ganz klar: Wir brauchen einen weiterenAusbau für die unter Dreijährigen und wir brauchenmehr Ganztagsangebote.
Wir haben hier nichts versäumt. Wir sind in Hessen undBayern mit Bildungsplänen vorangegangen. Das ist dieBotschaft der Union.
Zu dem, was in Ihrem Haushalt real geschieht, FrauSchmidt. Sie haben eben gesagt, die Kürzungen beim Er-ziehungsgeld seien die Kürzungen des vergangenen Jah-res. Aber sie schlagen dieses Jahr für die jungen Fami-lien voll durch. Die Einkommensgrenzen sind um40 Prozent gesenkt worden. 40 Prozent weniger! Dassoll Mut machen für Kinder? Die Botschaft geht genauin die andere Richtung; denn die Familien haben keineSicherheit und sie werden sich zögerlich verhalten, wennes um die Realisierung des Kinderwunsches geht.In dieser Situation verkünden Sie uns eine neue Leis-tung: das Elterngeld; es soll aus dem Dilemma heraus-führen. Wir haben Ihnen gestern gesagt, wir werden unsganz genau anschauen, was dieses Elterngeld bedeutet.Aber bis heute kennen wir nicht einmal ein Konzept. Siehaben selbst gesagt, Sie haben das noch nicht einmaldurchgerechnet. Ich sehe in den Reihen der SPD, dassSie hart damit ringen; denn Sie müssen sich dann von ei-nem ehernen Grundsatz der SPD verabschieden, nämlichdem Grundsatz, dass jedes Kind gleich viel wert ist. Wiewollen Sie in Ihren eigenen Reihen und wie wollen Siein Deutschland vermitteln, dass demnächst nicht mehrjedes Kind gleich viel wert ist?
Bei diesem Konzept kommt ein Punkt hinzu. Ichhabe, genau wie Sie, schon in den 80er-Jahren nachSchweden geschaut. Wir haben beide, wie viele anderein diesem Raum, genau betrachtet, was in anderen Län-dern geschieht, um eine bessere Vereinbarkeit von Fami-lie und Beruf herzustellen. In Schweden dient das El-terngeld hauptsächlich der Gleichstellung von Mann undFrau; es ist kein Instrument, um eine Steigerung der Ge-burtenrate zu erreichen. Die Sprache und die Botschaf-ten in Schweden sind eindeutig. Aus dem Jahr 2001 gibtes die Schlagzeile: Schweden sorgt sich um seine Gebur-tenrate. Es sorgt sich, weil die Geburtenrate von 1990mit 2,14 Kindern zunächst auf 1,5 Kinder und bis heuteauf 1,3 Kinder – das ist exakt die gleiche wie inDeutschland – zurückgegangen ist. Und Sie sprechen da-von, dass das Elterngeld zu einer Steigerung der Gebur-tenrate führen soll? Ich warne vor einem Irrweg und voreinem Ansatz, der nicht tragfähig ist.
Was Not tut, ist eine klar strukturierte Familienförde-rung. Wir haben derzeit in Deutschland Ausgaben voncirca 150 Milliarden Euro für 155 Maßnahmen und39 Stellen im familienpolitischen Bereich. Damit stehenwir vor einem familienpolitischen Dschungel. LiebeFrau Ministerin Schmidt, das ist ein Thema, dessen Siesich annehmen müssen: Licht in diesen Dschungel zubringen, für Transparenz und mehr Gerechtigkeit zu sor-gen. Das ist es, was Familien in unserem Land brauchen.
Ich nenne Ihnen zwei Wege. Der eine Weg ist: Schaf-fen Sie Transparenz. Wir wollen von Unionsseite die fa-milienpolitischen Leistungen in einer Familienkassebündeln. Es kann nicht mehr sein, dass nach dem Gieß-kannenprinzip viel gegeben wird. Wir brauchen einezielgerichtete Familienpolitik. Dazu gehört eine fami-lienfreundliche Steuerpolitik; denn Familien brauchenmehr Geld in der Tasche und nicht weniger, wie es der-zeit in Deutschland der Fall ist.
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Dr. Maria BöhmerDer zweite Weg wird in Frankreich gegangen. InFrankreich zahlt nur noch die Hälfte der HaushalteLohn- und Einkommensteuer, weil eine klare Entlastungder Familien mit Kindern existiert. Ab dem dritten Kindsind die Familien von der Steuer freigestellt.Mit unserem Steuerkonzept, das neben dem Arbeit-nehmerrfreibetrag von 1 000 Euro einen Grundfreibetragvon 8 000 Euro vorsieht, muss eine Familie mit zweiKindern bei einem Einkommen bis zu 33 000 Euronull Euro Steuern zahlen. Das ist die positive Botschaftfür Familien in Deutschland. Es gilt, dieses Konzept um-zusetzen.
An dieser Stelle sage ich Ihnen ganz deutlich: Es istfatal, dass Sie auch bei der Pflegeversicherung einenfalschen Weg eingeschlagen haben. Dadurch wird einefalsche Botschaft ausgesendet. Durch die Neuregelungder Pflegeversicherung erfüllen Sie nämlich nicht dasUrteil des Bundesverfassungsgerichts, Familien zu ent-lasten. Sie belasten vielmehr die Kinderlosen. Die Elternhaben null Euro Vorteil von dieser Regelung und bleibenauf der gleichen Belastung sitzen.
Dagegen führt der Kinderbonus, den wir einführen wol-len, zu einer Entlastung der Familien. Eine Alleinerzie-hende mit zwei Kindern und einem Einkommen von1 000 Euro wird zukünftig bei 5 Euro Kinderbonusnull Euro Beitrag zur Pflegeversicherung zahlen. Somuss man es machen: Entlastung der Familien, nicht Be-lastung der Kinderlosen.
Ihre Aktivitäten im Bereich der Gleichstellungspoli-tik: Fehlanzeige. Auch die Seniorenpolitik – unsere Ge-sellschaft wird immer älter; das ist eines der drängends-ten Probleme in unserem Land – tritt auf der Stelle. VomNationalen Aktionsplan zur Bewältigung der demogra-phischen Herausforderung, dem Kernstück Ihrer Politikfür ältere Menschen, ist nichts zu sehen: Fehlanzeige.Mit der Diskussion über das Tagesbetreuungsausbauge-setz blenden Sie derzeit alles andere aus.Für die Union sage ich klar und deutlich: Wir wollenden Ausbau der Kinderbetreuung. Wir wollen imGanztagsbereich und im schulischen Bereich sowohl mitder Betreuung der unter 3-jährigen Kinder als auch mitder Betreuung für alle anderen Kinder vorankommen.Die Botschaft ist klar: mehr Kinderbetreuung, mehrGanztagsplätze und mehr frühkindliche Förderung.
Aber es muss auch bezahlbar sein und solide finanziertwerden. Genau da liegt der Fehler in Ihrem Gesetz.
Frau Schmidt, Sie sind zurückgerudert. Sie habenheute gesagt, es solle 230 000 Betreuungsplätze geben.Das ist immerhin etwas. Aber Sie hatten ursprünglicheine 20-prozentige Versorgungsquote eingeplant. FrauDeligöz hat immer von einem Rechtsanspruch auch fürdie unter 3-Jährigen geträumt.
Das ist durchaus eine mögliche Zielvorstellung. FrauDeligöz, Sie haben jetzt dieses Gesetz als mutlos be-zeichnet. Da haben Sie Recht. Nicht nur dieses Gesetz,sondern die gesamte Familienpolitik dieser Bundesregie-rung ist mutlos. Wenn in diesem Land Mutlosigkeit aus-gestrahlt wird, ist die Anzahl der geborenen Kinder nichtso groß, wie wir uns das wünschen.
Hinzu kommt: Der Ausbau soll nicht bis 2006 erfol-gen, sondern erst bis zum Jahr 2010. Was machen dennEltern, deren Kind jetzt geboren wird? Denn bis es dieBetreuungsplätze gibt, ist das Kind schon in der Grund-schule. Das kann doch nicht die frohe Botschaft sein, dieSie hier verkünden wollen.Trotzdem, Frau Schmidt: Wir werden gemeinsam mitIhnen dafür kämpfen, dass es mehr Kinderbetreuungs-plätze gibt und dass es mehr und bessere Bildung gibt.Der qualitative Aspekt ist durchaus auch für den Bun-desgesetzgeber wichtig. Ich glaube, da sind wir uns ei-nig. Aber Sie haben eine Weichenstellung in Ihrem Ge-setz vorgenommen, die genau im Widerspruch dazusteht. Wenn Sie sagen, das Kriterium „bedarfsgerecht“wird festgemacht an der Erwerbstätigkeit der Eltern,dann halte ich das für falsch. Denn alle Eltern – egal obdie Mutter oder der Vater erwerbstätig ist – müssen dieMöglichkeit haben, ihr Kind in eine Kita – egal ob ineine Krippe oder in einen Kindergarten – zu schicken.Dieser Anspruch kann nicht an der Erwerbstätigkeit derEltern festgemacht werden.
Wir haben in Bayern und Baden-Württemberg diehöchste Frauenerwerbsquote. Dort gibt es mit 1,4 auchdie höchste Geburtenrate. Das hängt auch mit einer gu-ten wirtschaftlichen Entwicklung und mit einer besserenArbeitsmarktsituation zusammen. Die klare Botschaftist: Familien brauchen Sicherheit, auch Sicherheit durcheinen Arbeitsplatz. Das bedeutet: Wir müssen Deutsch-land in puncto wirtschaftlicher Entwicklung wiedervoranbringen und mehr Arbeitsplätze schaffen. Hinzukommen müssen dann noch mehr Kinderbetreuungs-möglichkeiten, eine bessere frühkindliche Erziehungund eine steuerliche Entlastung. Wir werden auch überdas Elterngeld reden müssen. Vielleicht werden wir dannin Deutschland eine Wende erreichen.Wir haben einen Antrag vorgelegt. In diesem Antraghaben wir deutlich gemacht, wie man Eltern nicht stän-dig belastet, sondern entlastet. Im Saarland ist man vorJahren den Weg gegangen, das dritte Kindergartenjahr
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Dr. Maria Böhmerfür Eltern kostenfrei zu stellen. Das ist ein Weg, den ichmir für ganz Deutschland wünsche.
Denn damit würden Eltern entlastet und bessere Bedin-gungen für Familien herbeigeführt.Mein Fazit lautet: Wir brauchen in der Familienpoli-tik einen Paradigmenwechsel; Frau Schmidt, Sie habenRecht. Wir dürfen nicht mehr in dem Gegensatz denken:entweder bessere Vereinbarkeit von Familie und Berufdurch Ausbau der Kinderbetreuung – wozu selbstver-ständlich auch die Wirtschaft gehört, die familienfreund-liche Arbeitsplätze schaffen muss – oder finanzielle För-derung. Beides muss zugleich geschehen!Was Familien in unserem Land aber wirklich brau-chen, ist ein Politikwechsel, ein Wechsel von Rot-Grünzur Union.
Denn dort, wo die Union regiert, geht es den Familienund den Kindern besser. Deshalb brauchen wir auch aufBundesebene einen Wechsel.Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Werte Frau Böhmer, mit Ihrer Rede haben Sie es ge-schafft, alles schlechtzureden. Ich werde gleich zeigen,dass das, was Sie im Hinblick auf die Familienpolitikgesagt haben, falsch war.
Der Einzelplan 17 leistet mit einer Kürzung um4,4 Prozent seinen Anteil an der Haushaltskonsolidie-rung; das ist wahr. Dies fällt uns nicht leicht. Aber wennSie sehen, dass bereits 66 Prozent des Bruttoinlandspro-dukts an Schulden aufgelaufen sind, müssen Sie zuge-ben, dass es zu diesen Einsparungen keine Alternativegibt. Das sind wir der nächsten Generation schuldig.Ich bin froh, Frau Böhmer, dass es im Wesentlichenkeine Leistungskürzungen gibt. Die Einsparungen resul-tieren – vielleicht haben Sie das gesehen – aus der An-gleichung des Zivildienstes an den Wehrdienst und ausder geringeren Inanspruchnahme des Erziehungsgeldeswegen rückläufiger Geburtenzahlen.Ich sage es noch einmal an die Adresse der CDU/CSU: Bei der Familienpolitik gibt es keine Abstriche.Der Bund wendet im Jahr 2005 insgesamt 60 MilliardenEuro für die Familien auf. 1998 lag dieser Betrag bei40 Milliarden Euro. Eine Steigerung um 50 Prozent insechs Jahren, das kann sich doch wohl sehen lassen! Esist sehr durchsichtig, warum Sie das immer schlecht-reden.
Ich komme zu einem Thema, bei dem manchmal un-terstellt wird, wir duckten uns weg. Ich meine das Thema„Frauen und die Auswirkungen von Hartz IV“. Wir wis-sen, dass es bei der Umsetzung Probleme gibt, zum Bei-spiel durch die verschärfte Anrechnung des Partnerein-kommens. Viele Frauen werden kein Arbeitslosen-geld II erhalten. Wir werden aber dafür sorgen, dass auchfür Nichtleistungsempfängerinnen zumindest ein be-stimmter Anteil am Integrationsbudget festgeschriebenwird. Ähnliches gilt für Berufsrückkehrerinnen. DerenZahl hat sich halbiert. Das dürfen wir nicht hinnehmen.
Die meisten Betroffenen sind hochmotivierte Frauen miteiner hohen Vermittlungschance. Hier brauchen wir eineVerpflichtung der Bundesagentur, die auch die Auszah-lung der ESF-Mittel für den Unterhalt beinhalten sollte.Es gibt weitere Verbesserungen – auch wenn Sie esnicht hören wollen –, über die wenig gesprochen wird.Ein Viertel aller Alleinerziehenden sind heute Sozialhil-feempfängerinnen und -empfänger. Sie erhalten ab 2005Arbeitslosengeld II und damit erstmals eine Einbezie-hung in die Sozialversicherung, ein Recht auf aktive Un-terstützung bei der Suche nach Arbeit sowie Hilfe beider Suche nach einer Kinderbetreuung.
Und noch etwas, was gar nicht oft genug gesagt wer-den kann: Jedem jungen Menschen bis zu 25 Jahrenwird ab 2005 verbindlich ein Aus- oder Weiterbildungs-bzw. ein Arbeitsplatz angeboten. Wann hat es das schoneinmal gegeben? Warum reden Sie das alles eigentlichklein?
Ein Wort zur Gleichstellungsbilanz der Bundesregie-rung; daran hat es ja heftige Kritik des von mir sonstsehr geschätzten Frauenrats gegeben. Er beklagt, dassder Anteil der Frauen an den Professuren nur 8 Prozentbeträgt, obwohl die Studienanfänger zu über 50 ProzentFrauen sind. Auch ich finde das beklagenswert, zumal esmit einem Anteil von 18 Prozent genügend habilitierteFrauen gibt. Aufgrund unseres Föderalismus kann derBund hier aber nicht regelnd eingreifen; da müssen dieLänder etwas tun.Dann beklagt der Frauenrat, dass nur jede zehnte Fraueine Führungsposition bekleidet. Dort, wo der Bund zu-ständig ist, gibt es aber seit 1998 enorme Verbesserun-gen. Ich erwähne hier nur die positive Einstellungsbilanzder Ministerien. Im Auswärtigen Amt sind von den seit1998 neu Eingestellten 67 Prozent Frauen, im Gesund-heitsministerium sind es 62 Prozent.
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Irmingard Schewe-GerigkNach meiner Überzeugung hätte ein Gleichstellungs-gesetz für die Privatwirtschaft die Situation vonFrauen verbessern können. Die Wirtschaft triumphiertnoch heute, dass sie ein solches Gesetz verhindert hat.Dies wird die Wirtschaft noch bereuen, ebenso wie sie esbereut hat, dass sie viele über 50-Jährige ausgemusterthat. Schon jetzt sieht sie den Schaden und gibt auch zu,dass ihr die Erfahrung der Älteren fehlt. Es ist eine Ab-wertung der Leistung älterer Menschen, für die es über-haupt keine Grundlage gibt. Wenn ich hier in die Rundeschaue, sehe ich viele über 50-Jährige, die, wären sie inder Wirtschaft, davon betroffen wären. Darum wird esZeit für ein arbeitsrechtliches und zivilrechtliches Anti-diskriminierungsgesetz.Meine Damen und Herren, ich habe mich sehr ge-freut, dass auch der Kanzler in seiner gestrigen Redeauf die ungeheure Herausforderung durch die alterndeBevölkerung hingewiesen hat. Hier müssen wir ganzschnell Konzepte entwickeln, damit es nicht zu demvon einigen proklamierten Krieg der Generationenkommt. Dazu brauchen wir eine neue Politik fürältere Menschen, die auch den Bedürfnissen der akti-ven 50- bis 80-Jährigen Rechnung trägt. Der Fünfte Al-tenbericht wird sich mit diesem Thema beschäftigen.Daneben muss es weitere Verbesserungen in derPflege gerade auch für Demenzkranke geben. Ich bin si-cher, dass der runde Tisch, den die Ministerin eingerich-tet hat, wertvolle Handlungsempfehlungen geben wird.Meine Kolleginnen und Kollegen, wir haben einegroße Verantwortung gerade für die Menschen, die aufunsere Hilfe angewiesen sind. Dieser Verantwortungwerden wir uns stellen.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Otto Fricke, FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! In Bezug auf die Grünen muss ich präzisieren:Meine lieben Kolleginnen! Männer sind bei dieser De-batte in Ihrer Fraktion wieder einmal nicht zu sehen.
– Ich weiß, dass Sie damit Probleme haben. Schauen Sieeinmal, wie viele Männer in der liberalen Fraktion sit-zen, die sich für dieses Thema interessieren.
Sie verlangen doch immer, dass Männer bei Familienpo-litik mitreden und sich für sie interessieren. Setzen Siedies einmal bei Ihren eigenen Männern durch! Dannkäme es auch nicht zu dieser einseitigen Sicht.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, Familienpo-litik, Seniorenpolitik und Jugendpolitik sind Politikbe-reiche, die sehr stark mit Emotionen zu tun haben. Hierhaben wir es mit Fragen zu tun, die unser gesamtes Le-ben betreffen: Wie plane ich mein Leben? Wohin führtmein Leben? Was sind die Ergebnisse? Hier geht es ganzentscheidend darum, wie man ein Leben mit Kindernso hinbekommt, dass man – das steht zwar so nicht inunserer Verfassung; aber wir alle wollen es – sein per-sönliches Glück verfolgen kann. Das schafft man nur, in-dem man in einer Partnerschaft beide dazu führt.In diesem Zusammenhang komme ich zu demElterngeld, das Sie, Frau Ministerin, mithilfe einer ge-zielten Öffentlichkeitsarbeit, begleitet von der Industrie– das ist auch sehr geschickt gemacht –, nach draußengebracht haben. Meine Fraktion unterstützt Ihre Absich-ten. Ob Ihre Fraktion es auch tut, weiß ich noch nicht.Wenn ich die kritischen Blicke von Herrn Münteferingsehe, komme ich zu dem Ergebnis, dass Sie hier noch ei-niges an Arbeit leisten müssen. Wir begrüßen dieses El-terngeld, weil die von Ihnen erwähnten bildungsnahenSchichten ein Kapital für alle in unserer Gesellschaftdarstellen. Dabei müssen diese bildungsnahen SchichtenVerantwortung für die gesamte Gesellschaft überneh-men, was eben auch bedeutet, Kinder zu haben und zuerziehen. Hier ist es für eine Frau ausschlaggebend, waspassiert, wenn sie sich für Kinder entscheidet. Es gehtalso um die Frage, wie man es hinbekommt, dass eineFrau und ihr Partner in eine Position kommen, in der sieKinder nicht als eine Bedrohung ihres gewohnten Le-bens, sondern als Teil ihres Lebens begreifen.
Nun komme ich aber zu einem Problem, das die Kol-legin gerade schon angesprochen hat: die Finanzierung.
Natürlich können Sie noch nicht genau sagen, wie Sie esfinanzieren. Wenn ich Herrn Diller sinnieren sehe, dannist mir schon klar, dass er große Probleme bei der Finan-zierung sieht. Eines müssen wir aber verhindern: Wirkönnen keine neuen Versprechungen in einem Bereichmachen, die zwar richtig sind, die wir aber nicht bezah-len können.
Wenn das passiert, gehen wir in die falsche Richtung.Wenn die zweite Analyse jedoch lautet – das mussman deutlich sagen –, dass die enormen finanziellenLeistungen, die von der jetzigen Regierung und vom jet-zigen System erbracht werden, nicht den erwarteten Ef-fekt haben, dann werden wir im Zweifel in Zeiten knap-per Kassen zu dem Schluss kommen, dass bestimmtedirekte Leistungen nicht mehr geeignet sind, die ge-wünschten Ergebnisse zu erzielen. Welche Maßnahmen
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Otto Frickewir dann ergreifen werden, will ich jetzt gar nicht aus-führen; denn immer dann, wenn man eine Leistung an-spricht, heißt es sofort, dort wolle man kürzen. Ich willhier auch niemandem etwas in die Schuhe schieben, aberwir werden den Bereich nennen müssen, in dem es viel-leicht wehtun wird.Lassen Sie mich noch einen Aspekt des Elterngeldesansprechen. Wahrscheinlich hat Frau Schewe-Gerigk inder Zwischenzeit alle Männer ihrer Fraktion angerufen,damit sie hierher kommen.
Im aktuellen Haushalt 2004 wurde die Bemessungs-grenze, bis zu der Erziehungsgeld geleistet wird, ge-senkt. Ihr Vorschlag zum Elterngeld weist in eine andereRichtung. Man muss klar sehen, dass hier ein gewisserWiderspruch besteht. Ehrlicherweise sollte man auch sa-gen, dass die Einsparungen im Haushalt 2004 natürlichfiskalisch bedingt waren und mit nichts anderem zu be-gründen sind.
Ich komme nun zu einem Punkt, der das Ministeriumimmer betrifft, der aber stets nur am Rande erwähnt wird,nämlich zum Zivildienst. Hartz IV und die 1-Euro-Jobsspielen in diesem Bereich eine nicht unwesentlicheRolle. Es wird immer deutlicher, dass es eine Wehrunge-rechtigkeit gibt. Ich bitte das Ministerium, genau zu prü-fen – das ist für meine Fraktion, die die Abschaffung derWehrpflicht bzw. die Aussetzung der Wehrpflicht for-dert, wichtig –, ob nicht die 1- und 2-Euro-Jobs ein An-satz dazu sind, dass Dienste, die bisher von den Zivil-dienstleistenden übernommen wurden und die wir unssonst gar nicht leisten können, so finanziert werden kön-nen. Damit könnte die menschlich nahe Betreuungfinanziert werden.Mein letzter Punkt: Haushälter, gerade die der Oppo-sition, werden immer dafür kritisiert, dass sie bei derÖffentlichkeitsarbeit streichen wollen. In zwei Jahren– da bin ich mir sicher – werden auch Sie, dann in umge-kehrter Weise, Streichungen bei der Öffentlichkeitsarbeitfordern.
Ich will Ihnen auch sagen, warum. Schauen Sie sich ein-mal an, was es im Internet Schönes zu finden gibt. Ichhabe hier das von der Ministerin aktuell vorgelegte Ge-setz.
Hier wird so getan, als wäre dieses Gesetz schon be-schlossen. Derjenige, der sich das im Internet anschaut,glaubt, das sei schon beschlossen. Die Parlamentariersind unwichtig, alles ist schon beschlossen. Ich gebeaber zu, dass es nicht ganz so ist. Auf der letzten Seitesteht: Das Gesetz soll Anfang 2005 in Kraft treten.Es wird nie und nimmer – Frau Ministerin, auch Sieglauben das sicher nicht – so in Kraft treten, wie es indieser Broschüre steht. Auch wir wollen das Gesetz,dazu wird Ihnen aber meine Kollegin Lenke besser alsich etwas sagen können. Sie dürfen aber nicht das Geldder Steuerzahler verwenden, um etwas zu verkaufen,was noch gar nicht existiert.Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort der Kollegin Christel Humme,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!Frau Böhmer, zum sechsten Mal in Folge bringen wir ei-nen rot-grünen Haushalt ein.
Ich bin froh, dass wir die Regierungsverantwortung tra-gen und diesen Haushalt einbringen, weil wir es trotzleerer Kassen, die wir von Ihnen geerbt haben, und trotzHaushaltskonsolidierung geschafft haben und schaffen,zu einer besseren und sozial gerechten Familienpolitikzu kommen.
Der Haushalt 2005 und die Finanzpolitik der letztenJahre spiegeln das eindeutig wider.Unsere Politik ist sozial gerecht für Familien, weilwir, Frau Böhmer, den Familien tatsächlich eine solidefinanzielle Grundlage bieten. Die Familien haben heuteim Vergleich zu Ihrer Regierungszeit rund 3 000 Euromehr im Portemonnaie.Sie, Frau Böhmer, haben den Vergleich mit Frank-reich angestellt. Ich bitte Sie, dann auch die Zahlen fürDeutschland zu nennen; denn eine Familie zahlt erst abeinem Einkommen in Höhe von 37 000 Euro Steuern.Das ist Fakt. Hier müssen Sie ehrlich bleiben.
Unsere Politik ist sozial gerecht für Familien, weil wirmit unseren Arbeitsmarktreformen neue Chancen aufErwerbsarbeit eröffnen.
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Christel HummeMit dem Kinderzuschlag – das ist wichtig – unterstüt-zen wir Familien, die wenig verdienen. Sie erhalten zu-sätzlich zum Kindergeld monatlich bis zu 140 Euro mehrpro Kind.Unsere Politik ist sozial gerecht, weil wir von Bun-desseite aus Verantwortung übernehmen und in Kinder-betreuung und Ganztagsschulen investieren.
Den ersten Schritt haben wir erfolgreich mit dem Pro-gramm zum Ausbau der Ganztagsschulen, das einVolumen von 4 Milliarden Euro hat, gemacht. Über1 000 zusätzliche Ganztagsschulen meldeten die Länderseit Beginn unseres Programms. Frau Böhmer, Sie habenvorhin behauptet, dass die CDU/CSU-regierten Länderauf diesem Gebiet vorne liegen. Dazu halte ich fest: InNordrhein-Westfalen bieten 703 Schulen Ganztagsbe-treuung an. Mit dem neuen Schuljahr kommen damit35 000 ganztagsbetreute Schulplätze hinzu.
In Bayern wurden nicht einmal halb so viele Ganztags-schulen aufgebaut. Was Sie vorhin gesagt haben, ist da-her nicht richtig.
Mit unserem Gesetz zum Ausbau der Ganztagsbetreu-ung unternehmen wir heute den zweiten Schritt. Wir hel-fen, die Betreuungsangebote für Kinder unter dreiJahren vor Ort zu verbessern. Familien brauchen undwünschen finanzielle Entlastung, neue Chancen zur Teil-habe am Erwerbsleben und den Ausbau von Ganztags-schulen und Kinderbetreuung. Das verstehen wir untermoderner Familienpolitik.Das kann in keiner Weise, so wie Sie es tun, FrauBöhmer, als Dschungel bezeichnet werden.
Wir haben ein schlüssiges Konzept. Bei Ihnen, meineDamen und Herren von der Opposition, vermisse ich einsolches Konzept. Alles, was Ihnen einfällt, ist Populis-mus. Nichts anders war die Äußerung des Generalsekre-tärs der CSU, Markus Söder, im Juli, so genannten Ra-beneltern Sozialhilfe und Kindergeld zu kürzen. SolcheVorschläge helfen Familien überhaupt nicht.
Deswegen bin ich sehr froh, dass wir jetzt in der Regie-rungsverantwortung sind.
Unsere Politik ist natürlich auch für Frauen sozialgerecht. Frauen haben zu Recht den Wunsch nachgleichberechtigter Teilhabe am Erwerbsleben. Dafürschaffen wir die Voraussetzungen, Herr Kampeter. Dennauch dazu brauchen die Frauen eine Ganztagsbetreuungfür ihre Kinder. Damit sie Familie und Beruf besser ver-einbaren können, haben wir ihnen bereits am 1. Januar2001 einen Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit einge-räumt. Dieses Gesetz, das im Zusammenhang mit derGleichstellungspolitik zu sehen ist, ist Teil eines sehrschlüssigen Konzepts.
Ein solch schlüssiges Konzept vermisse ich von derOpposition, Frau Böhmer. Ich gebe zu, dass ich etwas ir-ritiert bin. Sie verlieren sich in Widersprüchen: Einmalhaben Sie das Familiengeld, dann die Betreuung in denVordergrund gestellt. Andere in Ihren Reihen sagen, Be-treuung sei überhaupt nicht finanzierbar. Heute höre ichsogar etwas ganz Neues: die Kinderkasse. Alles in al-lem: Es liegt überhaupt kein Konzept vor, wie das insge-samt seriös gegenfinanziert werden soll.
Darum bin ich froh, dass wir in der Regierungsverant-wortung sind.
Last but not least ist unsere Politik auch sozial gerechtfür Kinder und Jugendliche, weil wir Kindern und Ju-gendlichen von Anfang an beste Bildungschancen bietenwollen, und zwar in Krippen, Kindertagesstätten undGanztagsschulen. Wenn Kinder und Jugendliche unserebesondere Unterstützung brauchen, muss sichergestelltsein, dass die Jugendhilfe vor Ort greifen kann. Dasheute vorgelegte Kinder- und Jugendhilfegesetz ist eineWeiterentwicklung. Es soll Bewährtes erhalten und Pra-xiserfahrungen einarbeiten. Wir wollen kein Gesetz, daseiner Jugendhilfe nach Kassenlage Tür und Tor öffnet.
Für die Zukunft ist es darum wichtig, dass das Kin-der- und Jugendhilfegesetz im Rahmen der föderalenNeuordnung in der Zuständigkeit des Bundes bleibt. Indiesem Zusammenhang unterstütze ich die Forderungvon Renate Schmidt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Jugendliche brau-chen von Anfang an Bildung und Chancengleichheit.Auch hierfür haben wir ein schlüssiges Konzept, das ichbei Ihnen völlig vermisse. Alles, was Ihnen dazu einfällt,sind Sparvorschläge nach der Rasenmähermethode.
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Christel HummeNichts anderes sind auch die Vorschläge Ihres KollegenStoiber,
den Haushalt pauschal um zusätzlich 5 Prozent zu kür-zen. Das würde für den Familienhaushalt bedeuten, dasszusätzliche Kürzungen in Höhe von 230 Millionen Euroerfolgen müssten.
Wollen Sie das wirklich? Wo wollen Sie streichen?Selbst wenn Sie alle freiwilligen Leistungen aus demKinder- und Jugendplan streichen würden, hätten Siezwar einen Kahlschlag betrieben
– das ist richtig –, aber noch nicht einmal die Hälfte der230 Millionen Euro erreicht. Deshalb bin ich froh, dasswir in der Regierungsverantwortung sind und die ent-sprechenden Weichenstellungen vornehmen.
Unser Tagesbetreuungsausbaugesetz ist ein gutesBeispiel für sozial gerechte Politik. Damit gehen wir einganzes Problembündel effizient an. Wir verbessern dieBildungschancen für Kinder und die Erwerbschancen fürFrauen. An dieser Stelle tun wir auch etwas für den Wirt-schaftsstandort Deutschland.Folgendes ist wichtig – das sage ich bewusst in Rich-tung FDP, die an dieser Stelle den entsprechenden An-trag gestellt hat –:
An Finanzierungsstreitigkeiten darf dieses Zukunftspro-jekt nicht scheitern.
– Frau Lenke, mit der Zusammenlegung von Arbeitslo-senhilfe und Sozialhilfe entlasten wir die Kommunen umjährlich 2,5 Milliarden Euro.
Ich denke, es ist unser gutes Recht, dass wir uns hier ein-mischen und von den Kommunen erwarten, in Zukunft1,5 Milliarden Euro jährlich in Betreuungsangebote fürunter Dreijährige zu investieren;
denn der Ausbau der Kinderbetreuung ist unser zentralesZukunftsprojekt.
– Hören Sie doch zu, Frau Eichhorn. Ich habe Ihnen ge-rade gesagt, woher das Geld kommt.
Jetzt ist es an Ihnen, zu zeigen, wie wichtig Ihnen derAusbau der Kinderbetreuungsangebote wirklich ist.Stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu und sorgen Siein den von Ihnen geführten Ländern und Kommunen fürseine Umsetzung: zum Wohle der Kinder, der Familienund unserer Zukunft in Deutschland.Danke schön.
Ich erteile das Wort der Kollegin Maria Eichhorn,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Nach sechs Jahren rot-grüner Familienpolitikkommt die größte gesellschaftspolitische Online-Um-frage „Perspektive-Deutschland“ zu dem Ergebnis, dassnicht nur Familien mit Kindern, sondern alle Befragtenmit der Situation von Familien mit Kindern inDeutschland sehr unzufrieden sind. 64 Prozent der Be-fragten fordern, Deutschland endlich familien- und kind-gerechter zu machen.
Meine Damen Vorrednerinnen, die Wahrnehmung derBevölkerung ist also eine ganz andere als die, die Sievorhin angeführt haben. Das ist die Wahrheit.
Familienpolitik konzentriert sich bei Rot-Grün seitMonaten ausschließlich auf die Kinderbetreuung derNull- bis Dreijährigen. Die Finanzierung haben Sie abernicht sichergestellt. Sie bauen diese auf Luftschlösseraus Hartz IV
und fordern die Kommunen auf, 1,5 Milliarden Euro inBetreuungsangebote für Null- bis Dreijährige zu in-vestieren. Ob, wann und in welcher Höhe die Einsparun-gen, die den Kommunen versprochen wurden, tatsäch-lich eintreten, weiß keiner.
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Maria EichhornZudem zeigen die Berechnungen der Spitzenverbändeder Kommunen, dass die von der Bundesregierung kal-kulierten 1,5 Milliarden Euro für einen qualitätsorien-tierten Ausbau der Betreuung nicht ausreichen. Die Ent-lastungen durch das KJHG, die Sie auf Druck derKommunen im TAG vorgesehen haben, sind gering. Siesind nicht einmal bereit, die gemeinsamen Vorschlägevon Nordrhein-Westfalen und Bayern mitzutragen. FrauMinisterin, das ist zu wenig.Die Wahlfreiheit der Eltern hinsichtlich der Verein-barkeit von Familie und Erwerbstätigkeit hat bei Ih-nen einen geringen Stellenwert. Der von Ihnen festge-legte Bedarf an Kinderbetreuungsangeboten orientiertsich nicht am Wohl des Kindes, sondern an arbeitsmarkt-politischen Erfordernissen. Sie vermitteln den Eindruck,dass alle Eltern eine Vollzeiterwerbstätigkeit anstrebenund eine Rundumbetreuung der Null- bis Dreijährigenwünschen.
Kollegin Eichhorn, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Hagedorn, SPD-Fraktion?
Bitte sehr.
Sehr geehrte Kollegin Eichhorn, ich hätte eine Frage
an Sie. Im Hinblick auf die Gegenfinanzierung der Kin-
derbetreuung im Rahmen von Hartz IV haben Sie davon
gesprochen, dass das in keinster Weise gesichert sei.
Dabei haben wir seit Ende Juni dieses Jahres Einverneh-
men mit dem Deutschen Städtetag und dem Deutschen
Städte- und Gemeindebund, die anerkannt haben, dass
ab 2005 pro Jahr 2,5 Milliarden Euro bei den Kommu-
nen verbleiben werden.
Das ist durch die Revisionsklausel auch gesichert. Neh-
men Sie dies bitte zur Kenntnis. – Es wäre schön, wenn
Ihre Kollegen mich ausreden lassen würden. – Es ist nur
ein kleiner Bruchteil – wie die Ministerin ausgeführt
hat – der tatsächlich von den Kommunen in die Kinder-
betreuung investiert werden muss.
Da Sie ja, wie man an Ihrem Akzent hören kann, eher
aus dem südlichen Teil unseres Landes kommen, fände
ich es sehr schön, wenn Sie Stellung dazu beziehen wür-
den, was Sie von dem Vorschlag von Herrn Stoiber hal-
ten, der die generelle Absenkung des Haushaltes um
5 Prozent gefordert hat.
Das würde für den Einzelplan 17 230 Millionen Euro be-
deuten, zusätzlich wohlgemerkt zu Koch/Steinbrück und
allem anderen. Würden Sie dazu Stellung nehmen, was
Ihrer Vorstellung nach im Einzelplan 17 zu streichen sei?
Sehr geehrte Frau Hagedorn, zum letzten Punkt kannich Ihnen sagen, dass die Kürzungen in Ihrem Haushaltbei 4,4 Prozent liegen. Wie viel Unterschied ist da zu5 Prozent? Ich kann Ihnen sagen, dass in Bayern gespartwird – aber nicht bei den Familien.
Im Gegenteil, das Erziehungsgeld in Bayern bleibt. Zu-dem ist ein Bildungsplan für die Kindergärten neu er-stellt worden. Das heißt, Bayern geht gerade in der Fa-milienpolitik mit einem sehr guten Beispiel voran.Machen Sie das im Bund nach, dann können wir mitei-nander diskutieren.
Zum Ergebnis des Vermittlungsausschusses: Ich weißnicht, ob wir auf unterschiedlichen Ebenen leben. Wennich mit Vertretern der Kommunen rede, dann sagen siemir alle, dass das, was im Vermittlungsausschuss verein-bart worden ist, gerade einmal der Ausgleich für das ist,was den Kommunen vorher genommen worden ist.
Von den 1,5 Milliarden Euro, die ihnen jetzt versprochenworden sind,
können sie diese Betreuung nicht finanzieren, denn siemüssen zunächst einmal die Kosten aus der Zusammen-legung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe tragen.
Die Kosten, die durch das Tagesbetreuungsausbaugesetzentstehen, sind hier noch nicht gedeckt. Lesen Sie ein-mal die Stellungnahme der kommunalen Spitzenver-bände nach, diskutieren Sie mit Oberbürgermeistern undmit Landräten, dann werden Sie zu der Erkenntnis kom-men, dass die Finanzierung nicht gesichert ist. Tun Sieetwas für die Finanzierung!
Nach den Hauptgründen befragt, warum Eltern auf einzweites Kind verzichten, antworten in der bereits zitier-ten Studie 68 Prozent der Eltern, sie würden deswegen
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Maria Eichhornauf ein zweites Kind verzichten, weil Kinder viel Geldkosten und sie sich das nicht leisten können, nur38 Prozent der Eltern gaben an, dass Kinderbetreuungs-möglichkeiten fehlen.
Das Statistische Bundesamt beziffert die Kosten fürein Kind, von der Geburt bis zum Ende der Ausbildung,auf rund 220 000 Euro. Nach dem Sechsten Familienbe-richt decken davon die staatlichen Fördermaßnahmenetwa ein Viertel ab. Für den Rest müssen die Eltern auf-kommen. Familien mit zwei Kindern verfügen über dieHälfte des Einkommens kinderloser Ehepaare. Immermehr Kinder und Jugendliche werden zu Sozialhilfe-empfängern: Im letzten Jahr ist die Anzahl der Kinder,die von Sozialhilfe abhängig sind, um 6 Prozent gestie-gen. Trotzdem setzen Sie überwiegend auf Betreuungs-angebote. Frau Ministerin, Tatsache ist, dass Sie mit denKürzungen beim Erziehungsgeld und mit den Plänen zurAbschaffung der Eigenheimzulage noch mehr Familienins Abseits stellen.Obwohl Sie keine verlässliche Finanzierungsgrund-lage für die Betreuung der unter Dreijährigen anbieten,versprechen Sie nun das Elterngeld. Von Finanzierungkeine Spur. Dieses Elterngeld wird aufgrund der hohenKosten und auch wegen dessen fehlender Wirksamkeitund Gerechtigkeit in Ihren eigenen Reihen in Zweifelgezogen, und zwar nicht nur von den Kabinettskollegen,sondern auch von der Vorsitzenden des Familienaus-schusses, Ihrer Fraktionskollegin Kerstin Griese.Sie wollen die Familienförderung von der Erwerbstä-tigkeit abhängig machen. Das widerspricht der Wahlfrei-heit, meine sehr geehrten Damen und Herren von SPDund Grünen. Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Be-ruf und Familie müssen und sollen entsprechend denWünschen der Eltern in eine ausgewogene Balance ge-bracht werden.
Deshalb ist ein qualitativer und bedarfsgerechter Ausbauder Kinderbetreuung notwendig; das wollen auch wir.Genauso notwendig sind aber auch eine angemessene fi-nanzielle Förderung, die eine echte Wahlfreiheit ermög-licht und nicht nur eine bestimmte Schicht von Elternfördert, und die Stärkung der Erziehungs- und Eltern-kompetenz.
Wie es besser gehen kann, macht Frankreich vor.Der Erfolg der französischen Familienpolitik, die zu ei-ner durchschnittlichen Geburtenrate von 1,9 führt, liegtin einer Vielzahl von Maßnahmen und Instrumenten zurUnterstützung der Familien.
In Deutschland werden meist nur die Betreuungsmög-lichkeiten genannt, die natürlich auch in Frankreich einTeil der Familienpolitik sind. Hinzu kommen aber – unddas ist besonders wichtig – eine Reihe von steuerlichenEntlastungen von Familien und die gezielte finanzielleFörderung französischer Familien. Deswegen ist der Er-folg der französischen Familienpolitik so groß.Nach einer Studie des BAT-Freizeit-Forschungsinsti-tuts ist die Familie die umfangreichste und beständigsteZukunftsvorsorge. Die Familie vermittelt Werte, bietetein verlässliches soziales Netz und fördert die Lebens-qualität für alte und junge Menschen sowie die Stabilitätder Beziehungen und Bindungen zwischen den Genera-tionen.Deutschland steht vor großen Herausforderungen. ZurBewältigung dieser vor uns liegenden Aufgaben benöti-gen wir leistungsbereite und starke junge Menschen,aber auch erfahrene Ältere.Die Jugendarbeitslosigkeit und das Problem fehlenderAusbildungsplätze sind Ihnen völlig aus dem Ruder ge-laufen. Ihre Programme „JUMP“ und „JUMP Plus“ blie-ben ohne Erfolg,
weil Sie damit keinen Einstieg in eine reguläre sozialver-sicherungspflichtige Beschäftigung oder in eine Ausbil-dung geboten haben. Eine Anhörung unserer Fraktionmit Experten und betroffenen Jugendlichen hat gezeigt,dass Sie die falschen Rezepte haben. Statt qualifizierteAusbildungs- und Arbeitsplätze für Jugendliche zuschaffen, haben Sie die Unternehmen und die Jugendli-chen durch Ihre Debatte um eine Ausbildungsplatzab-gabe verunsichert und viel Zeit verloren.Die CDU/CSU-Fraktion hat eine Berufsbildungsno-velle vorgelegt, durch die es den Betrieben erleichtertwird, Ausbildungsplätze zu schaffen. Durch sie erhaltenjunge Menschen wieder mehr Chancen auf dem Ausbil-dungs- und auf dem Arbeitsmarkt. Sie hat vor allem jeneJugendliche im Blick, die mehr praktisch begabt sind.Auch an diese Jugendlichen müssen wir denken.
Absolute Stiefkinder Ihrer Politik sind der Jugend-schutz und der Jugendmedienschutz.
Nach den Ereignissen von Erfurt haben wir das Jugend-schutzgesetz in der letzten Legislaturperiode hopplahoppgeändert. Bereits damals haben Ihnen die Experten ge-sagt, dass diese Änderung nicht helfen wird, die Gewaltan den Schulen einzudämmen. Leider hat sich diese Ein-schätzung als richtig erwiesen. Hätten Sie unsere Vor-schläge angenommen, dann könnte es heute etwas an-ders aussehen.Ein ganz trauriges Kapitel ist der Zivildienst. Dabeihaben Sie vor einem Jahr Entspannung angekündigt.Wenn Sie aber so weitermachen, werden Sie den Zivil-dienst kaputtsparen, bis er sich letztlich überhaupt nichtmehr lohnt.
Das ist die Wahrheit und wohl auch Ihre Absicht.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 2004 11205
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Maria EichhornSchon lange warten wir auf einen Vorschlag zum Auf-bau von Freiwilligendiensten zur Förderung der ehren-amtlichen generationenübergreifenden Arbeit. Das solljetzt endlich kommen. Sehen Sie sich an, welche Vorlagewir während unserer Regierungszeit mit den Senioren-büros erbracht haben. Bauen Sie darauf auf, dann habenSie eine gute Grundlage!
Lebensqualität ist nicht nur Erholung, Freizeit undRuhestand, sondern vor allem das Gefühl, gebraucht zuwerden. Wenn wir wissen, dass heute nur noch 39 Pro-zent der erwerbsfähigen Menschen zwischen 55 und64 Jahren in Arbeit sind, dann frage ich Sie: Was tun Sie,um ältere Arbeitnehmer wieder in Arbeit zu bringen?
Wer heute über 50 Jahre alt und arbeitslos ist, hat kaumnoch Chancen, wieder eine Stelle zu bekommen. Sie ha-ben keine Konzepte, um diesen älteren ArbeitnehmernPerspektiven zu geben.
Dringender Handlungsbedarf besteht auch im Bereichder Altenpflege. Bei der Novellierung des Heimgesetzeshatten wir Ihnen schon prophezeit, dass es zu einer er-heblichen Bürokratisierung kommen wird. Das ist jetzteingetreten. Frau Ministerin, Sie müssen etwas tun, da-mit wieder mehr Zeit für die Pflege bleibt und die Zeitder Pflegekräfte nicht mit Dokumentations- und Verwal-tungsaufgaben in Anspruch genommen wird.
Frauenpolitik? – Fehlanzeige! Sie haben schon lange dasAntidiskriminierungsgesetz angekündigt. Aber wo bleibtes denn? Darauf haben Sie keine Antwort.
Frau Ministerin, Ihre Halbzeitbilanz ist sehr dürftig.Der Etat Ihres Haushalts weist die stärksten Kürzungenunter allen Ministerien auf. Ihr Haushalt bietet keinerleiZukunftsperspektiven.Danke schön.
Ich erteile das Wort Ekin Deligöz, Bündnis 90/Die
Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Nach den Reden der CDU/CSU-Fraktion ist man schonein bisschen verwundert: Der Bundesrat befasst sichdemnächst auf Ihren Antrag hin zum dritten oder viertenMale mit Kürzungsmaßnahmen in der Jugendhilfe undhier tun Sie so, als ob Sie das Rad neu erfinden würden,und setzen sich vehement für die Kinderbetreuung ein.
Ich frage mich: Wo bleiben denn Ihre Anträge im Bun-desrat, wo Sie die Mehrheit haben, für mehr Kinderbe-treuung und den Ausbau der Kinder- und Jugendhilfe?
Wo sind Ihre Ansätze und Gestaltungsvorschläge?
– Aber im Bundesrat haben Sie die Mehrheit. Dort habenSie sehr wohl die Möglichkeit, Ihre Vorschläge einzu-bringen.
– Ja, Frau Kressl hat völlig Recht.Hier wurde mehrfach Bayern als positives Beispielangeführt. Ich komme aus Bayern und bekomme durch-aus mit, wie die Kinderläden, Kindergärten, Elternver-eine und -verbände um jeden Cent zittern.
Dort wird Folgendes gemacht: Da die Geburtenziffer zu-rückgeht, wird in absehbarer Zeit von sinkenden Ausga-ben ausgegangen.
Daher wird innerhalb der nächsten zehn Jahre bei derKinderbetreuung mit einer Kürzung von 9 000 Stellengerechnet.
Das ist eine verlogene und doppelzüngige Politik. Dasist CSU und nichts anderes.
Im Zentrum unseres Gesetzes steht die Kinderbetreu-ung und der Ausbau der Infrastruktur, wie wir es seit An-fang dieser Wahlperiode angekündigt haben.
Dieses Gesetz haben wir gemacht, weil sich insbeson-dere die heute CDU/CSU-regierten Länder und auchviele Kommunen geweigert haben, diese Aufgabe zu er-füllen.
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Ekin DeligözDiese Aufgabe, die schon im KJHG steht, ist nicht neu,aber passiert ist nichts. Schauen Sie sich einmal die Quo-ten an. Weil nichts passiert ist, ist es notwendig gewor-den, dass wir genauere Kriterien formulieren, die Siewiederum angreifen.
Weil nichts passiert ist, fordere ich für die Grünen, dasswir die Rechte der Eltern stärken. Wenn wir Eltern eineinklagbares Recht geben wollen, dann hat das nichtsdamit zu tun, dass ich der Ministerin nicht traue; dasmöchte ich dazusagen. Ich vertraue ihr voll und ganz.Sie kämpft in dieser Sache wirklich. Ich traue Ihnen undIhren Bürgermeistern vor Ort nicht, die nach wie vor dieMeinung vertreten, das Beste für das Kind ist, wenn dieMutter zu Hause bleibt und die Hausfrauenrolle über-nimmt.
Das ist Ihre Politik. Deshalb fordere ich die Stärkung derElternrechte, aus keinem anderen Grund.
Wir reden über ein Gesetz, von dem wir keine Wun-der erwarten. Wir haben eine Zeitschiene und müssennatürlich bedenken, dass die Kommunen in einerschwierigen Lage sind.
Wir reden aber auch darüber, dass die Kinderzahlen inDeutschland zurückgehen, Kapazitäten frei werden unddiese Kapazitäten wieder zugunsten der Eltern und ihrerKinder genutzt und keine Mittel eingespart werden sol-len. Darum geht es letztendlich, auch wenn wir über dieKindertagespflege reden. Es geht ferner darum, in ländli-chen Gebieten den Frauen Gleichberechtigungschancenzu bieten, damit sie wieder erwerbstätig werden können.
Ich verstehe nicht, was die Kritik soll, dass wir mit derReform nur auf die Gleichberechtigung abzielen. Wasdenn sonst, meine Damen und Herren? Genau das ist es,was wir machen müssen. Gleichberechtigung von Mannund Frau durchzusetzen, das ist unsere Aufgabe.
Die Diskussion über den Ausbau der Tagesbetreu-ung findet nicht im luftleeren Raum statt. Die Schwie-rigkeit ist auch, dass über uns wie ein Damoklesschwertdie Forderung von den CDU/CSU-regierten Ländernschwebt, das Kinder- und Jugendhilfegesetz von derBundeszuständigkeit in die Länderzuständigkeit zu über-führen. Unsere Befürchtung ist, dass es dann zu starkenEinschnitten zulasten der Kinder kommen wird. UnsereBefürchtung ist, dass genau diese Menschen, die wir ver-teidigen, auch die Jugendlichen, die Sie anscheinendebenfalls verteidigen wollen, die Opfer dieser Änderungsein werden. Deshalb ist unsere Forderung: Das Kinder-und Jugendhilfegesetz muss in der Zuständigkeit desBundes bleiben.
Die Debatte über die Kinderbetreuung zeigt, wie Rechtwir damit haben, diese Forderung weiterhin aufrechtzu-erhalten und dafür auch im Bundesrat zu kämpfen.
Vielen herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort Kollegin Ina Lenke, FDP-Frak-
tion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! FrauHumme, ich möchte zu Ihnen und zu Ihrem Schwer-punkt soziale Gerechtigkeit kommen. Wir wissen alle:Im Osten haben wir eine gute Kinderbetreuung, abereine hohe Arbeitslosigkeit, im Westen haben wir wenigBetreuung und weniger Arbeitslosigkeit. Frau Humme,Sie als SPD-Kollegin sprechen von sozialer Gerechtig-keit; ich spreche als Liberale von sozialer Gerechtigkeit.
Wo bleibt die denn bei 4,3 Millionen Arbeitslosen? Dasist heute hier überhaupt kein Thema. Wir sollten uns ein-mal um die Arbeitslosigkeit kümmern. Das gehört ge-nauso in den Einzelplan 17.
Nach sechs Jahren Regierungszeit hat die Bundesre-gierung endlich das Tagesbetreuungsausbaugesetz aufden Weg gebracht. Die FDP hat bereits sehr viele, sehrkonstruktive Vorschläge zur Verbesserung der Kinderbe-treuung gemacht. Denken Sie an unseren Antrag zurVerbesserung der Bedingungen für Tagesmütter oder un-seren Vorschlag, die Kinderbetreuung durch mehr Marktund Wettbewerb zu verbessern. Die Altersvorsorge fürTagesmütter und andere „Beipackprobleme“ haben Sieleider in diesem Gesetz nicht gründlich genug ange-packt. Davon steht nichts drin.Nun zu Ihrem TAG-Entwurf und dem FDP-Antrag„Solides Finanzierungskonzept für den Ausbau von Kin-derbetreuungsangeboten für unter Dreijährige“. Die FDPhat im Deutschen Bundestag wiederholt den bedarfsge-rechten Ausbau von Betreuungsplätzen und eine Quali-
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Ina Lenketätsoffensive von der Bundesregierung gefordert. Jetztendlich, nach den Wahlversprechen von 1998 und nachden Wahlversprechen von 2002, haben Sie begonnen.Ich finde es sehr diskriminierend und volkswirtschaftlichverheerend, wenn gut ausgebildete Frauen und an Fami-lienarbeit interessierte Väter heute immer noch keineChance haben, Erwerbs- und Familienarbeit miteinanderzu verbinden.Ein Pluspunkt, Frau Ministerin, in Ihrem Gesetz ist,dass qualifizierte Tagesmütter jetzt Krippen und Kitasgleichgestellt werden. Das ist sehr schön. Ich freue michdarüber, dass Sie sich dazu durchgerungen haben. Ichkann für meine Fraktion sagen, dass es uns freut, dassgerade der beharrliche Hinweis der Liberalen auf diemisslichen Rahmenbedingungen von Tagesmüttern jetztvon der Bundesregierung aufgegriffen wurde.
Was mich auch freut, sind die Verbesserungen hin-sichtlich der Familienkrankenversicherung und Unfall-versicherung für Tagesmütter. Die sind gut und das müs-sen wir zugeben. Das mache ich auch gerne. Die FDPhat sich, wie die Bundesregierung auch, für bundesweitepädagogische Mindeststandards eingesetzt.Wir müssen aber auch im Ausschuss über Weiteres dis-kutieren. Das Versprechen aus der Koalitionsvereinba-rung von 2002, nachfrageorientierte Finanzierungsinstru-mente zu prüfen, wird mit diesem Gesetz nicht eingelöst.Auch hier gibt es liberale Konzepte: Bildungsgutscheineoder Pro-Kopf-Zuweisungen, damit gezielt Kinder undnicht Einrichtungen gefördert werden. Darüber müssenwir im Ausschuss reden. Durch mehr Markt und mehrWettbewerb entstehen mehr Qualität und höhere Flexibi-lität. Deshalb muss neben kommunalen und freien Trä-gern auch die privatwirtschaftliche Kinderbetreuung indie Förderung mit einbezogen werden.
Meine Damen und Herren, alles, aber auch alles hängt– trotz Ihrer blumigen Reden – am seidenen Faden derFinanzierung. Die Bundesregierung will aus den Ein-sparungen bei Hartz IV das alles finanzieren. Die Kom-munen stellen die Berechnungen der Bundesregierungzu Recht infrage – als Kommunalpolitikerin kann ich Ih-nen das hier sagen. Obwohl die Ministerin, der Bundes-kanzler und Sie als rot-grüne Fraktionskollegen landauf,landab mehr Kinderbetreuung versprechen, haben Sieheute mit dem Entwurf des TAG keine Finanzierungmitgeliefert.
Das ist die mangelnde Qualität dieses Gesetzentwurfes.
– Herr Kollege aus Niedersachsen, Sie müssen sich et-was besser informieren.Wir haben einen Antrag mit zwei Forderungen vorge-legt. Erstens: Legen Sie ein solides und von Hartz IV un-abhängiges Finanzierungskonzept vor! Zweitens: Veran-kern Sie dabei das Prinzip „Wer bestellt, der bezahlt“!
Denn es kann nicht sein, dass die Bundesregierung denKommunen mehr Gesetze und Kosten aufdrückt und siebei der Finanzierung im Regen stehen lässt.
Herr Präsident, ich komme zum Schluss. Liebe Kolle-ginnen und Kollegen, wir sind uns sicher einig, dass die-ser Gesetzentwurf in einer öffentlichen Anhörung bera-ten werden muss. Die FDP will die Kinderbetreuung mitbundesweiten Standards. Die FDP will für Frauen undMänner mehr Chancen für die Vereinbarkeit von Familieund Beruf. Der wirkliche Pferdefuß von Hartz IV ist dieFinanzierung: Keiner weiß, woher das Geld kommensoll.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort der Kollegin Caren Marks, SPD-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Reden der Opposition haben eines immerwieder deutlich gemacht: Reden und Handeln liegen beiIhnen sehr weit auseinander.
Sie verdrehen Tatsachen, Sie operieren mit falschenZahlen – Frau Böhmer –
und Sie haben keine Konzepte vorzuweisen. Sowohl fürdie CDU/CSU als auch für die FDP trifft dies ganz deut-lich zu.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf den Anfangkommt es an. Der Ausbau der Betreuung für Kinderunter drei Jahren ist eines der wichtigsten gesellschaftli-chen Reformprojekte unserer Regierung in dieser Legis-laturperiode. Vorrangiges Ziel des Tagesbetreuungsaus-baugesetzes ist die Erziehung und Entwicklung einesjeden Kindes zu einer eigenverantwortlichen und ge-meinschaftsfähigen Persönlichkeit. Wir, die Bundesre-gierung und die Fraktionen der SPD und der Grünen,orientieren uns zuerst am Wohl des Kindes.
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Caren MarksDiesbezüglich unterstützen und ergänzen wir auch dieelterliche Erziehungskompetenz. Sie wird keineswegsersetzt, wie von der Opposition immer wieder gern be-hauptet.Bis 2010 ist schrittweise ein bedarfsgerechtes Betreu-ungsangebot für Kinder unter drei Jahren zu schaffen undder westeuropäische Standard endlich zu erreichen. Ins-besondere in Westdeutschland besteht hier ein extremesDefizit. Wir, meine Damen und Herren von der Opposi-tion, nehmen das nicht hin. Wir handeln. Beim Ausbauder Betreuungsplätze setzen wir auf ein differenziertesAngebot: in guter Qualität, zeitlich flexibel, bezahlbarund vielfältig. Durch die Formulierung von Bedarfskrite-rien konkretisieren wir in dem Gesetz die bereits beste-hende Pflichtaufgabe der Kommunen, ein bedarfsgerech-tes Angebot vorzuhalten.
Frau Lenke, die Verdoppelung der Zahl der Betreu-ungsplätze in Westdeutschland bis 2006, das heißt dieSchaffung von circa 60 000 Plätzen, ist ein realistischesZiel und mit 400 Millionen Euro keine finanzielle Über-forderung der Kommunen, die im Zuge von Hartz IV einzugesichertes Einsparvolumen von 2,5 Milliarden Europro Jahr haben.
Gute Kinderbetreuung und frühe Förderung ermögli-chen Kindern – unabhängig von ihrer sozialen Her-kunft – echte Chancengleichheit in Bildung und Erzie-hung. Die dringend benötigte Bildungsreform muss imKleinkindalter beginnen und nicht erst mit der Hoch-schulausbildung; denn dann ist es für viele bereits zuspät und dann sind Entwicklungschancen bereits vertan.Mit unserem Ansatz leisten wir einen wesentlichen Bei-trag zur Stärkung der Innovationsfähigkeit unseres Lan-des; denn, wie bereits gesagt, auf den Anfang kommt esuns an.Wissenschaftlich ist belegt, dass sich gerade bei denKleinkindern jeder eingesetzte Euro überdurchschnitt-lich rentiert. Motivierte und gut ausgebildete Mitarbeite-rinnen und Mitarbeiter sind ein Gewinn für jede Firma.Das Potenzial gut ausgebildeter junger Frauen und Män-ner ist gleichermaßen zu nutzen. Kinderbetreuung undfrühe Förderung sind ein Standortvorteil, und zwar so-wohl im kommunalen als auch im internationalen Ver-gleich. Das bedeutet Wirtschaftswachstum. Das ist ak-tive Wirtschaftspolitik, Frau Lenke. Meine Damen undHerren von der Opposition, im Gegensatz zu Ihnen hatdie Wirtschaft das bereits begriffen.
Ganztagsbetreuung bedeutet aber auch, Eltern bei derVereinbarkeit von Familie und Beruf zu unterstützen undihnen bei ihrer Lebensplanung wirkliche Wahlmöglich-keiten zu verschaffen. Das Armutsrisiko von Familienwird verringert und die eigenständige Lebensführungvon Müttern wird so erst ermöglicht. Auch Frau Kolle-gin Böhmer von der CDU/CSU stellte vor kurzem fest,dass ein besserer Ausbau der Kinderbetreuung vorrangigvor finanziellen Anreizen sei, um eine höhere Geburten-rate zu erreichen.
Ich begrüße diesen Sinneswandel ausdrücklich, FrauBöhmer. Unser Paradigmenwechsel – weg von einer mo-netären Familienpolitik hin zu einer Familienpolitikbesserer Infrastrukturen – ist nicht nur der richtigeWeg, sondern findet auch breite gesellschaftliche Unter-stützung.Ich bedanke mich ausdrücklich bei unserer MinisterinRenate Schmidt,
die durch die Initiativen „Allianz für Familie“ und „Lo-kale Bündnisse für Familie“ unterschiedliche Partner ausWirtschaft, von Verbänden, Vereinen, Gewerkschaften,Kirchen, freien Wohlfahrtsträgern und aus der Politikmit wirklich großem Erfolg zusammenführt. Erfolgrei-che Familienpolitik braucht breit angelegte Unterstüt-zung. Die Rahmenbedingungen für Familien werden soerst vielfältig optimiert.
Der Ausbau einer qualifizierten Tagesbetreuung fürKinder ist eine gemeinsame Aufgabe von Staat, Wirt-schaft und Gesellschaft. Das Wohl der Kinder muss unsam Herzen liegen. Doch damit ist es nicht getan. Wirmüssen vielmehr bereit sein, in die Zukunft unseres Lan-des, also in unsere Kinder, zu investieren. Kinder mitverpassten Chancen werden kein Verständnis dafür ha-ben, wenn wir einen verträglichen Subventionsabbauzuungunsten von Lobbyisten scheuen. Das Bestehen aufnicht mehr zeitgemäßen Subventionen wie der Eigen-heimzulage würde notwendige Investitionen in Bildung,Betreuung und Erziehung einschränken bzw. blockieren.
Die Oppositionsfraktionen rufen zwar häufig und gernenach Subventionsabbau, knicken aber immer wieder vorInteressenverbänden ein.
Ich wünschte mir, dass die Fürsprache für Kinder in denReihen der Opposition stärker ausgeprägt wäre.
Das bedeutende Reformprojekt der Bundesregierungund der Fraktionen von SPD und Grünen
– Frau Lenke, hören Sie zu; dann verstehen vielleichtauch Sie es –, der Ausbau von Betreuungsangeboten so-wie die Investitionen in Bildung, Betreuung und Erzie-hung sind von großer gesamtgesellschaftlicher Rele-vanz. Wir können es uns nicht leisten, darauf zu
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Caren Marksverzichten. Meine Damen und Herren von der Opposi-tion, wir haben Konzepte für die Zukunft unseres Lan-des. Wir gestalten die Zukunft sozial gerecht, familien-freundlich und innovativ.Ich bedanke mich ganz herzlich für Ihre Aufmerk-samkeit.
Nun hat Kollege Walter Link, CDU/CSU-Fraktion,
das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen hierim Deutschen Bundestag! Frau Bundesministerin RenateSchmidt, Sie haben sich in diesem Jahr gegenüber IhrerHaushaltsrede des letzten Jahres gesteigert; denn damalshatten Sie für die Seniorenpolitik nur einen Halbsatz;heute waren es mehrere Halbsätze.
Ich möchte Sie bitten, das in Zukunft ein bisschen erns-ter zu nehmen.Wann immer in der deutschen Seniorenpolitik übergute Ideen diskutiert wird, sagen Sie, Frau Schmidt: Dasist schon in der Pipeline. – Irgendwann muss aus dieserPipeline einmal etwas herauskommen, auch in der Senio-renpolitik.
So hat die von mir geleitete Enquete-Kommission„Demographischer Wandel“ bereits vor zwei Jahrenkonkrete Vorschläge zur Reformierung der Seniorenpoli-tik in Deutschland gemacht, unter anderem zusammenmit Herrn Rürup. Obwohl unsere Empfehlungen weit-gehend im fraktionsübergreifenden Konsens mit derdeutschen Wissenschaft beschlossen wurden, ist ihreUmsetzung bisher – jedenfalls bei Ihnen in der Bundes-regierung – auf der Strecke geblieben.So ist das groß angekündigte Rentenreformprogrammvon SPD und Grünen nur halbherzig darangegangen, dieLebensarbeitszeit zu verlängern. Weitere langfristigwirksame Reformen, die unser Land wieder zukunftsfä-hig machen sollten, sind – ebenfalls nach großartigenAnkündigungen – für die kommenden zwei Jahre bis2006 ausgesetzt worden. Jeder fragt, warum.Frau Ministerin, ich will dabei Ihre Aktivitäten – auchheute Morgen – nicht schlechtreden. Auch wir in derUnion sind für einen runden Tisch zur Verbesserung derPflegequalität und für den Abbau der Bürokratie; denndas ist im Sinne der deutschen Seniorinnen und Senio-ren. In den nächsten Jahren wird das Erwerbspersonen-potenzial stark abnehmen. Wenn wir es nicht schaffen,die – das ist heute Morgen schon ein paar Mal angespro-chen worden – gegenwärtig 45- bis 55-Jährigen im Be-rufsleben zu halten, werden wir in zehn Jahren massiveProbleme bekommen. Lebenslanges Lernen sollte nichtnur als Schlagwort gebraucht, sondern auch aktiv betrie-ben und gefördert werden.Außerdem fehlt es an Modellen eines verändertenÜbergangs von der Erwerbsarbeit in den dritten Lebens-abschnitt. Von solchen Modellen hat man nichts gehört.Während bei uns eine Erwerbsquote von 41,5 Prozentbei über 55-Jährigen besteht, haben wir in Japan erfah-ren – fraktionsübergreifend sind wir mit dem Ausschussdort gewesen –, wie mit differenzierten Modellen eineErwerbsquote von über 80 Prozent möglich ist. FrauKollegin, vielleicht können Sie das in die Regierungs-koalition einmal einbringen. Die hohe Quote dort liegtan speziellen Arbeitsförderungsprogrammen der Japanerfür ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. MehrFlexibilität und Abstimmung auf individuelle Leistungs-fähigkeit der älteren Menschen sind gefragt.Die Wirtschafts- und Haushaltspolitik von Rot-Grünwar in den letzten Jahren aber so miserabel, dass jetztkein Geld für wichtige, zukunftsorientierte Projekte vor-handen ist. Ihre Politik beschränkt sich nur noch aufFlickschusterei am Sozialsystem. Frau Ministerin, Siekönnen nicht sagen: Ich bin nicht für alles zuständig. DieZuständigkeiten müssen mit den anderen Ministerien ge-klärt werden. Da Sie nicht in der Lage waren, eine zu-kunftsfähige Reform zu beschließen, fehlt Geld in derRentenkasse. Das Zumuten von Nullrunden ist keineArt, wie man Menschen behandeln sollte.Fast ein Viertel der Menschen in Deutschland ist60 Jahre und älter. Erfreulicherweise sind die meisten äl-teren Menschen noch fit und gesund. Die verändertendemographischen Vorzeichen zwingen uns zum Um-denken. Sie trauen sich offensichtlich nicht zu, unsereSozialsysteme nachhaltig und zukunftsfähig umzugestal-ten. Die Solidarität zwischen den Generationen istextrem wichtig und muss im Rahmen einer Pflegereformgefördert werden.
Im Ausschuss haben wir uns gerade gemeinsam, alsofraktionsübergreifend, mit dem vierten Altenbericht be-fasst, der eine gute Aufarbeitung des Lebens ältererMenschen darstellt. Ich will durchaus einräumen, dassdieser Altenbericht viele gute Ansätze hat. Wir habenauch einen gemeinsamen Entschließungsantrag vorge-legt.Frau Ministerin, Sie machen genau das Gegenteil vondem, was notwendig ist, zum Beispiel dadurch, dass IhrMinisterium aus der Förderung des Deutschen Zen-trums für Alternsforschung in Heidelberg zum Jahres-ende aussteigt. Das las ich dieser Tage in der Zeitung.Warum wird dieser Weltruf genießende Lehrstuhl vonFrau Professor Lehr in diesem Jahr finanziell kaputtge-macht? Ich weiß, dass die Förderung des Zentrums inBerlin aufgestockt werden soll. Über diese Frage, FrauMinisterin, müssen wir uns im Ausschuss unterhalten;das will ich nicht heute Morgen hier im Parlament vor-tragen. Das ist ein Skandal. Die Forschung wird kaltge-stellt.
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Walter Link
– Frau Staatssekretärin, das machen wir im Ausschusszum Thema.Frau Ministerin, Sie haben mit Frau Süssmuth, FrauLehr und Frau Merkel große Vorgängerinnen gehabt, dieals Frauen in der CDU/CSU-FDP-Bundesregierung sa-ßen, sich durchsetzen konnten
und in den letzten Jahren dieser Regierung Pflöcke ein-geschlagen haben.
Kollege Link, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Niebel von der FDP-Fraktion?
Herr Präsident, Sie haben mir ständig Minuten abge-
zogen, aber ich gestatte, Herr Kollege, wenn Sie es kurz
machen.
Vielen Dank, Herr Kollege. Die Zwischenfrage wird
nicht auf die Redezeit angerechnet. Ich will es aber trotz-
dem kurz machen.
Ich möchte Ihre Ausführungen zum Zentrum für Al-
ternsforschung in Heidelberg aufgreifen. Stimmen Sie
mir darin zu, dass die Masse der Kompetenz in der deut-
schen Alternsforschung in diesem Heidelberger Zentrum
angesiedelt ist und dass es politisch unverantwortlich ist,
bei einer immer älter werdenden Bevölkerung in der
Bundesrepublik Deutschland die Mittel gerade in diesem
wichtigen Forschungsbereich zu kürzen?
Herr Kollege, ich habe es der Frau Ministerin gerade
sehr deutlich, glaube ich, gesagt. Das wird Thema bei
uns im Ausschuss sein. Sie sind herzlich dazu eingela-
den.
Zwar erhalten Sie, Frau Ministerin, oftmals die
öffentliche Unterstützung des Herrn Bundeskanzlers,
aber aus unserer Sicht kann das auch eine Bedrohung
sein. Seniorenpolitik spielt bei Rot-Grün und der amtie-
renden Bundesregierung nur noch eine untergeordnete
Rolle. Wir in der Union wollen eine zeitgemäße, an den
individuellen Bedürfnissen der älteren Generation aus-
gerichtete und zukunftsorientierte Seniorenpolitik. Wann
immer Sie, Frau Schmidt, die machen und nicht nur an-
kündigen, haben Sie unsere Unterstützung. Vor allem
wollen wir – ich wiederhole das – eine massive Qualifi-
zierung älterer Arbeitnehmer.
Ich widerspreche Ihnen auch nicht. Sie tragen oft
sympathisch vor – wie heute Morgen; überhaupt keine
Frage – und wenn man mit Ihnen irgendwo in der Dis-
kussion ist, ist das auch unwahrscheinlich nett. Der gute
Wille ist bei Ihnen da – überhaupt keine Frage –, aber
Sie gehören einer Regierung an, die nicht in der Lage ist,
das umzusetzen, was Sie tagtäglich verbreiten. So eine
Politik haben die Seniorinnen und Senioren, die unser
Land aufgebaut und zum Blühen gebracht haben, nicht
verdient. Darum werden wir alles daransetzen, dass die
Regierungsbank im Jahr 2006 anders besetzt wird.
Für eine Kurzintervention erteile ich Kollegin
Christel Riemann-Hanewinckel das Wort.
Herr Präsident! Lieber Kollege Walter Link, Sie wis-
sen sehr genau, denke ich, dass die Förderung für das
DZFA in Heidelberg nicht etwa deshalb verändert wer-
den soll, weil wir die Forschung nicht schätzen oder weil
wir wegen der Begründerin, Frau Lehr, etwas gegen die-
ses Institut haben; im Gegenteil. Sie kennen den Vor-
gang. Sie kennen den Briefwechsel. Sie wissen ganz ge-
nau, dass es nicht darum geht, bei diesem Institut die
Inhalte zu kritisieren. Der Bundesrechnungshof hat sehr
deutlich gemacht, dass unser Ministerium nicht mehrere
solcher Institute parallel fördern kann.
– Augenblick! Ich bin noch nicht fertig.
Sie wissen mit Sicherheit auch, dass verschiedenste
Kolleginnen und Kollegen daraufhin hier im Parlament
nachgefragt haben und klare und deutliche Antworten
bekommen haben. Sie wissen ferner, dass es Vereinba-
rungen mit dem Bundesland gibt, nach denen der Teil
der Förderung, der vonseiten des Bundesministeriums
schrittweise abgebaut wird, vom Land übernommen
werden soll, weil sehr deutlich ist, dass der größte Teil
der inhaltlichen Arbeit nicht auf Bundesinteresse hin
ausgerichtet ist. Deshalb soll vor allem das jeweilige
Bundesland – das gilt auch für andere Institute, nicht nur
für das DZFA – in die Förderung einsteigen.
Die Abschmelzung der Förderung geschieht auch
nicht von jetzt auf gleich, sondern ist über Jahre hinweg
geplant. Es gibt dazu entsprechende Vereinbarungen
zwischen dem Bundesministerium und dem zuständigen
Landesministerium. Deshalb finde ich es unfair, wenn
Sie das hier so darstellen, als würden wir dieses Zentrum
aus inhaltlichen Gründen nicht mehr finanzieren wollen.
Kollege Link, Sie haben das Wort.
Frau Staatssekretärin, wir kennen uns viel zu lange zugut. So wissen Sie, dass auch ich die Prozesse, die hier-bei im Ministerium abgelaufen sind, sehr genau kenne.Ich möchte sie aber jetzt nicht hier im Parlament und da-
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Walter Link
mit in der Öffentlichkeit darlegen. Das machen wir imAusschuss. Tatsache ist, dass das Land Baden-Württem-berg in den vergangenen Jahren – Jahrzehnten beinahe –wesentlich mehr finanziert hat als das Land Berlin. Sa-gen Sie bitte nicht, ich hätte etwas gegen Berlin; ich warein Befürworter des Berlin-Umzugs. Jetzt wird hier inBerlin mehr Geld in diese Sache hineingesteckt, als manin Baden-Württemberg benötigen würde. Auf dieseWeise wird dort ein weltweit anerkanntes Institut kaputt-gemacht. Das ist überhaupt keine Frage.
Das Wort hat nun Kollegin Jutta Dümpe-Krüger,Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ja, dieserHaushalt steht unter Sparzwang; alles andere wäretraumhaft. Unsere Aufgabe wird es sein, die vorhande-nen Mittel möglichst sozial, gerecht, effektiv und zu-kunftsweisend einzusetzen. Zwei Bereiche möchte ichhier besonders hervorheben: die Freiwilligendienste unddie Maßnahmen zur Bekämpfung des Rechtsextremis-mus.Den Freiwilligendiensten wird der Bund auch imkommenden Jahr die Mittel anteilig zur Verfügung stel-len, die sie zur Finanzierung ihrer Plätze benötigen. Wirvon Rot-Grün werden darüber hinaus unser Ziel verfol-gen, die Freiwilligendienste auszubauen.
Die Maßnahmen zur Bekämpfung des Rechtsextre-mismus in Deutschland müssen verstetigt werden. Dasswir hier – auch in Anbetracht der aktuellen Lage – nichtnachlassen dürfen, hat mein SPD-Kollege Edathy vor-gestern in einer, wie ich fand, sehr eindrucksvollen Redezum Einzelplan 06 deutlich gemacht.
Ich kann – das ist auch in seinem Sinn – die Union nurwarnen: Lassen Sie diesmal Ihre gewohnten Anträge, dieMittel zu streichen, wirklich in der Schublade; denn dagehören sie hin.
Meine Damen und Herren, mit dem TAG greift dieKoalition auch Neuregelungen zum KJHG auf. Wir wol-len ein starkes Kinder- und Jugendhilfegesetz, und zwardeswegen, weil es ein sattes Pfund und eine Investitionin die Zukunft unserer Kinder ist. Als positive Ände-rungsbeispiele möchte ich hier die Anpassung der Kin-der- und Jugendhilfestatistik ebenso wie die Stärkungder Steuerungskompetenz der örtlichen Jugendämternennen. Über die im Kabinettsentwurf gewählte Defini-tion des § 35 a, der Eingliederungshilfen für Kinder undJugendliche mit seelischen Behinderungen, werden wiruns im parlamentarischen Verfahren aber noch unterhal-ten müssen. Ich bin der Ansicht, dass wir an der jetzigenFormulierung des § 35 a festhalten müssen, der der Be-hindertenbegriff der WHO zugrunde liegt. Dafür gibt esgute Argumente:Wenn Kinder und Jugendliche einen Hilfebedarf ha-ben und ihnen dann nicht schnellstmöglich geholfenwird, wäre das nicht nur ein schwerer Schlag für die Be-troffenen, es wäre auch schädlich für den präventivenCharakter der Jugendhilfe. Denn das würde ja bedeuten,dass die Gefahr besteht, dass sich eine Behinderung erstmanifestieren müsste, bevor professionelle Hilfe ein-setzt. Das, denke ich, kann keiner von uns wollen.Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von derUnion, die Sie leider immer nur auf die finanzielle Seiteschielen
– das ist einfach so; das konnte man heute Morgen auchbeim Zuhören feststellen –, lassen Sie mich sagen: Esentstünde ein Mehrfaches an Kosten. Nach Experten-schätzung müssten wir für jeden Euro, den wir bei sol-chen Dingen einsparen, in demselben Ressort 2 bis3 Euro ausgeben, um die Schäden, die wir angerichtethaben, wieder gutzumachen, und das nicht erst, wennwir alle in Rente sind, meine Damen und Herren, son-dern vermutlich im Laufe von höchstens zehn Jahren.Ich denke, wir sollten uns das wirklich gut überlegen.Das muss Ihnen klar werden und muss auch bei denKämmerern vor Ort endlich einmal ankommen: Kinder-und Jugendhilfe erbringen keine Luxusleistungen, son-dern das absolute Unverzichtbare.
Es gibt natürlich Vorschläge, wie man die Qualitätdes KJHG beibehalten oder sogar noch steigern undtrotzdem die Kommunen entlasten kann. Zukunftswei-send wäre es zum Beispiel, wenn wir die Bereiche Qua-lifizierung von Pflegestellen und das Verfahren bei derKostenerstattung, das sich vereinfachen ließe, einmalunter die Lupe nehmen würden. Hier könnten wir einer-seits eine echte Qualitätsverbesserung erreichen und an-dererseits die Kommunen finanziell entlasten.Meine Damen und Herren, ich glaube, es ist deutlichgeworden: Jede Änderung des KJHG muss sorgfältig,zielführend und nach fachlichen Gesichtspunkten abge-wogen werden. Mir wird allerdings ganz anders, wennich sehe, was die unionsgeführten Länder über den Bun-desrat da schon wieder ausgebrütet haben. Das kom-plette TAG wird infrage gestellt; Sie fordern Eingliede-rungshilfen für junge Menschen nur noch vor dem18. Lebensjahr, die Verlagerung der Aufsichtspflicht fürEinrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe – wahr-scheinlich damit künftig jeder die Fachaufsicht über sichselbst führt – und dergleichen Unsinn mehr.Da kann man Ihnen wirklich nur sagen: Das ist einevöllig unfachliche Reise als Elefant durch den KJHG-Porzellanladen. Damit tragen Sie ein wirklich dickes
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Jutta Dümpe-KrügerDing auf dem Rücken unserer Kinder und Jugendlichenaus. Lernen Sie endlich, dass es uns allen in erster Liniedarum gehen muss, junge Menschen in ihrer individuel-len und sozialen Entwicklung zu fördern!
Hören Sie endlich damit auf, die Zukunft unserer Kinderimmer nur in schönen Sonntagsreden spazieren zu füh-ren; das nützt nichts. Beweisen Sie endlich einmal IhreAlltagstauglichkeit!Danke schön.
Ich erteile das Wort Kollegin Antje Tillmann, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Frau Ministerin Schmidt, es ist schon ge-schickt, die Diskussion über das TAG zeitgleich mit denHaushaltsberatungen hier ins Haus einzuführen. Dastäuscht darüber hinweg, dass die Finanzierung diesesGesetzes in Ihrem Etat jedenfalls nicht zu finden ist. DerHinweis, dass das verfassungsrechtlich nicht möglichsei, hat jedenfalls Ihrer Kollegin Bulmahn bisher nichtimponiert. Sie hat Ihnen mit dem Ganztagsschulpro-gramm vorgemacht, wie eine Idee des Bundes sehr wohlim Bundeshaushalt etatisiert werden kann.
Es ist auch ausgesprochen geschickt, das Elterngeldausgerechnet jetzt in der Presse zu lancieren, obwohldieser Vorschlag Ihnen schon im Oktober letzten Jahresvon Herrn Professor Rürup in einem Projekt vorstelltwurde. Zum damaligen Zeitpunkt waren Sie aber geradedamit beschäftigt, das Erziehungsgeld abzuschaffen
bzw. die Grenzen zu senken. Deshalb haben Sie seiner-zeit den Vorschlag zum Elterngeld von Professor Rürupin der gemeinsamen Presseerklärung einfach verschwie-gen. Jetzt passt es Ihnen in den Kram, denn jetzt müssenSie es nicht finanzieren; im Haushalt findet sich dazu je-denfalls kein einziger Euro.
All das soll darüber hinwegtäuschen, dass Ihr Etat aufdem Papier um 4,4 Prozent gekürzt wurde;
das ist die größte Kürzung nach dem Bauetat. Rechnetman auch noch die Mittel für den Kinderzuschlag he-raus, der, obwohl Sie das immer wieder behaupten, keinezusätzliche Leistung für die Familien ist – lesen Sie nurdie Begründung zum Gesetz; ganz überwiegend ist eseinfach ein Ausgleich für Sozialhilfe –, kommt man aufeine Kürzung des Familienetats von über 10 Prozent. Ichkann mir nicht vorstellen, dass das zu Ihren großen Plä-nen der Familienförderung passt, die Sie im Moment inder Presse verkünden.
Diese ganz massiven Einsparungen begründen Siegroßzügig mit Koch/Steinbrück. Die Mittel für denZivildienst sollen um 85 Millionen Euro gekürzt werdenund Sie entblöden sich nicht, zu behaupten, das sei einErgebnis des Koch/Steinbrück-Papiers. Interessanter-weise taucht der Zivildienst in diesem Papier überhauptnicht auf. Aber das Koch/Steinbrück-Papier wird ja zurgroßen Entschuldigung für alle Einsparmaßnahmen die-ser Regierung. Seien Sie gewiss: Wir werden Sie jeweilsdarauf hinweisen, wenn Sie da die Unwahrheit sagen.
Nun ist es schon schlimm genug, dass Sie den Zivil-dienst zusammenstreichen. Aber noch schlimmer ist,dass Sie in der Öffentlichkeit den Eindruck erwecken,der Zivildienst könne durch Freiwilligendienste ersetztwerden. In einer Vorversion des Berichtes der Kommis-sion „Impulse für die Zivilgesellschaft“, in der Sie erklä-ren lassen, dass die Freiwilligendienste die Lücken fül-len, sagt Ihr Haus – ich zitiere –:… selbst wenn eine Gesetzgebungskompetenz desBundes für neue … Freiwilligendienste bejaht wer-den könnte, … läge doch die Finanzierungsverant-wortung auf Seiten der Länder …
In der Endfassung dieses Berichtes steht das nicht mehr.Selbst wenn ich unterstelle, dass es sich hierbei nicht umAbsicht handelt, denke ich doch, dass es Ihnen sehr gele-gen kommt, wenn alle Träger der Freiwilligendienstedarauf warten, dass der Bund die Freiwilligendienste mitfinanziert. So richtig ehrlich ist das nicht. Sie machenGeschäfte zulasten Dritter, wie schon beim TAG und beiden Jugendprogrammen.
Ich kann nur alle Beteiligten davor warnen, zu glau-ben, dass der Bund ein flächendeckendes Netz an Frei-willigendiensten finanzieren könnte. Gerade in diesemHaushalt 2005 werden nämlich die Mittel für Freiwilli-gendienste und Ehrenämter wieder um fast 1 MillionEuro gekürzt.Nächstes Beispiel: Kinder- und Jugendplan. Hierbetragen die Kürzungen 5,6 Millionen Euro. Ich sageganz offen: Das ist ausnahmsweise einmal tatsächlichauf Koch/Steinbrück zurückzuführen. Diese Einsparungtragen wir dem Grunde nach mit. Interessant ist den-noch, welche Schwerpunkte Sie setzen und wie die Ver-teilung der Mittel aussieht.Sie haben jedes Jahr neue Ideen, lächeln auf Glanz-broschüren für neue Programme – ich gebe zu, Sie ma-
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Antje Tillmannchen das sehr charmant – und lassen sich für schickeProjekte feiern, so zum Beispiel bei der Beteiligungsbe-wegung oder beim Projekt „Wir hier und jetzt“, das frü-her „Jugend bleibt“ hieß. Wie gesagt, Sie legen Pro-gramme auf und lassen sich feiern. Aber sobald dasProjekt zu Ende bejubelt ist und die knochenharte Routi-nearbeit anfängt, verweisen Sie auf die eigentlich zu-ständigen Kommunen.
Das, verehrte Frau Ministerin, ist nicht sehr fair.
Wir sollten ehrlicherweise die Gelder nehmen, wie ich eshier im letzten Jahr schon vorgeschlagen habe, und dieArbeit von den Kommunen und Ländern sofort machenlassen. Dann kann man auf die Glanzbroschüren ver-zichten.Ich nenne als weiteres Beispiel das freiwillige kultu-relle Jahr. Die Festveranstaltung findet erst im Oktoberstatt, aber Sie lassen jetzt schon mitteilen, dass nach die-ser Festveranstaltung die Mittel für diese Projekte zu-sammengestrichen werden. Ich bin gespannt, ob dieStaatssekretärin diese Tatsache im Oktober den jungenMenschen und den Trägern mitteilt.
Frau Ministerin, im Rahmen von Projektbeteili-gungsbewegungen werden sehr bizarre Projekte finan-ziert, unter anderem der 100. Geburtstag der Sozialisti-schen Jugend. Darüber kann man sich ärgern. Aber ichsehe eine sehr viel größere Gefahr an dieser Stelle. Siegewöhnen einer ganzen Generation von Jugendlichenan, dass es nicht mehr ein Sinn an sich ist, Kröten zuschützen, alte Leute zu besuchen oder sich in der Schulezu engagieren. So richtig schlau ist Engagement nur,wenn man das passende Förderprogramm dazu findet. InDeutschland wird „Fußball gegen Rechts“ gespielt undgebastelt unter dem Motto „Demokratie heute“.
Graffitischmierereien werden aus dem Förderprogrammdes Bundes finanziert.Sie finanzieren Schülervollversammlungen, die anTausenden von Schulen ohne weiteres Aufsehen stattfin-den. Aber wird diese Versammlung „Schülermitbestim-mung als Open-Space“ genannt, bekommt man dafürFördermittel. Meine Generation muss ja bescheuert ge-wesen sein, all diese ehrenamtlichen Arbeiten gemachtzu haben, ohne erst nach einem Förderprogramm Aus-schau zu halten.
Frau Ministerin, ich halte es für gefährlich, wenn wirjungen Menschen anerziehen, dass man sich erst nachGeld umschauen muss, bevor man sich engagiert. Wirwerden jedes einzelne Programm in den Haushaltsbera-tungen darauf überprüfen.
Ich hoffe sehr, dass Sie bei dieser Überprüfung anwe-send sind.Ich hätte gerne weniger geschrieen. Aber dazu warenSie einfach zu laut.Ich danke Ihnen.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufDrucksachen 15/3676, 15/3488 und 15/3512 an die inder Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-gen. – Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das istnicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-schlossen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen nunzum Geschäftsbereich des Bundesministeriums fürWirtschaft und Arbeit.Außerdem rufe ich den Tagesordnungspunkt 8 sowieZusatzpunkt 4 auf:8 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPDund des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-brachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zurÄnderung des Dritten Buches Sozialgesetz-buch– Drucksache 15/3674 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
InnenausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für TourismusAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten DirkNiebel, Rainer Brüderle, Daniel Bahr ,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDPMöglichkeiten der privaten Arbeitsvermitt-lung durch marktgerechte Ausgestaltung derVermittlungsgutscheine verstärkt nutzen– Drucksache 15/3513 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
FinanzausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendHaushaltsausschuss
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Präsident Wolfgang ThierseIch erteile das Wort dem Bundesminister für Wirt-schaft und Arbeit, Wolfgang Clement.
Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaftund Arbeit:Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Erlauben Sie mir, einige kurze Bemerkungen zudem angekündigten Wechsel von Herrn StaatssekretärTacke aus dem von mir zu verantwortenden Ministeriumin die Wirtschaft zu machen, bevor ich über den Haus-halt spreche. Ich möchte dies tun, weil sein Name ges-tern in der Debatte gefallen ist und auch in der öffentli-chen Diskussion eine Rolle spielt.Erste Bemerkung. Ich sage in aller Klarheit, dass HerrTacke zu den Besten innerhalb der Bundesregierung ge-hört, wenn es um nationale und internationale Wirt-schaftspolitik geht. Zusammen mit vielen in dem vonmir zu verantwortenden Ministerium bedauere ich sehr,dass er sich zu diesem Wechsel entschlossen hat.Zweite Bemerkung. Ich kann gegen einen solchenWechsel wenig sagen, weil ich es für richtig halte, dasszwischen Wirtschaft, Gesellschaft und Politik ein Aus-tausch stattfindet.Ich selbst habe das in meinem Leben schon zweimalpraktiziert; es ist nicht immer ganz leicht. Ich glaube,dass solche Wechsel richtig sind und dass sie gelegent-lich – wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf –durchaus mehr Praxis verdienten.Dritte Bemerkung. Es ist hier ein Zusammenhang mitder Ministererlaubnis im Fall Eon hergestellt worden.Diese Entscheidung liegt zwei Jahre zurück. In Diskussio-nen im Ausschuss, die ich jetzt nicht darstellen kann,weil sie nicht öffentlich waren, ist, denke ich, deutlichgeworden: Es gibt nicht den geringsten Anhaltspunkt füreinen Zusammenhang zwischen der Ministererlaubniszum Fall Eon und dem beabsichtigten Wechsel – er ist janoch nicht vollzogen – von Herrn Tacke zum Unterneh-men Steag. Ich könnte Ihnen das im Einzelnen erläutern.Ich bitte Sie aber darum, zur Kenntnis zu nehmen, dasses hierfür keinen Anhaltspunkt gibt.Im Übrigen hat Herr Tacke, wenn die Entscheidunggefallen ist, die Absicht, um Entlassung aus dem öffent-lichen Dienst zu bitten. Das heißt, er scheidet ohne Ver-sorgungsbezüge und ohne rechtliche Beschränkungenaus. Er bleibt aber der Amtspflicht der Verschwiegenheitverpflichtet.Mit diesem Wechsel ist nichts Negatives zu verbin-den. Er ist ein hochangesehener, integrer Staatssekretär.
Ich bitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen und den beab-sichtigten Wechsel nicht zu zerreden.Ich möchte nichts zu den Diskussionen um einenEhrenkodex oder gesetzliche Regelungen, von denen ichhier und da gelesen habe, sagen. Selbst Karenzzeiten vonmehr als zwei Jahren sind auch sonst kaum vorgesehen.Unabhängig davon ist meine herzliche Bitte: Wenn Sieüber solche Fragestellungen diskutieren, was natürlichjederzeit möglich ist – ich selbst habe solche Diskussio-nen hinter mir –, sollten Sie dies nicht mit dem NamenTacke verbinden. Denn mit diesem Namen lässt sichkein Vorwurf und noch nicht einmal ein Verdachtsmo-ment der Befangenheit verbinden.Meine Damen und Herren, zum Haushalt. Diese De-batte findet in einer veränderten Lage statt, in einerLage, die unseren Kurs bestätigt, die es aber auch erfor-dert, unseren Kurs mit aller Konsequenz fortzusetzen.Die seit dem Jahr 2001 anhaltende Phase der wirtschaft-lichen Stagnation in Deutschland ist definitiv beendet.Die deutsche Wirtschaft hat sich in der zweiten Jahres-hälfte 2003 kräftig erholt und im Verlauf dieses Jahresweiter an Fahrt gewonnen. Das Bruttoinlandsprodukt istim Vergleich zum ersten Vierteljahr dieses Jahres imzweiten Vierteljahr real um 0,5 Prozent und damit um2 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gestiegen.Aktuell sind die Daten noch besser: Die deutsche In-dustrieproduktion läuft auf Hochtouren und befindet sichin der Spitze Europas. Das produzierende Gewerbe hatim Juni/Juli im Vergleich zum Vorjahr um 2,6 Prozentzugelegt. Im Vergleich zum Vorjahr stehen 7,7 Prozentmehr Aufträge in den Büchern der Unternehmen. Undnicht nur nebenbei bemerkt: In den Büchern der Unter-nehmen in den neuen Ländern steht ein Plus von15,3 Prozent.
Die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungensprechen für eine Fortsetzung des Aufschwungs in die-sem Jahr und darüber hinaus. Nach allem, was wir unddie Experten abschätzen können, wird der Welthandelweiter wachsen, wenn auch vermutlich nicht mehr mitdem Schwung der vergangenen Monate, weil der Öl-preisanstieg die Produktion verteuert, Kaufkraft bei unsund unseren Handelspartnern abzieht und die Binnen-nachfrage sowie die Exportdynamik überlastet.Die Lohnstückkosten werden auch in diesem Jahr vo-raussichtlich rückläufig sein und damit einen großenBeitrag zur Verbesserung der preislichen Wettbewerbs-fähigkeit deutscher Produkte leisten. Die kurz- und dielangfristigen Nominalzinsen sind weiterhin niedrig unddie Kerninflation ist nach wie vor gering.Das heißt, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungenin Deutschland sind so gut wie seit Jahren nicht mehr.Die Geschäftslage wird von den für die Erstellung desIfo-Geschäftsklimaindex befragten Unternehmen im Au-gust zuversichtlicher gesehen. Die Erwartungen habensich trotz des Rekordhochs des Ölpreises – dieses Re-kordhoch scheint inzwischen überwunden – nur gering-fügig eingetrübt. Die Exporterwartungen der deutschenUnternehmen sind sehr gut. Ihre Investitionsneigungnimmt zu. Die Nachfrage bei den Zeitarbeitsfirmen – siesind ein Frühindikator der wirtschaftlichen Belebungund der Belebung auf dem Arbeitsmarkt – steigt.Das alles spricht dafür, dass die Lage besser ist undbesser wird und dass wir gute Chancen haben, den Auf-
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Bundesminister Wolfgang Clementschwung zu einer Phase längeren, nachhaltigen Wachs-tums zu verstetigen, um 2005 endlich auch den Durch-bruch auf dem Arbeitsmarkt zu schaffen; denn darumgeht es.Hinter diesem, wie ich es empfinde, sehr erfreulichenPanorama einer kräftigen Erholung verbirgt sich aller-dings eine gespaltene Konjunktur. Das Wachstumspeist sich bei uns zurzeit fast ausschließlich aus derAuslandsnachfrage. Die Warenexporte liegen mittler-weile um stolze 16,1 Prozent über dem Vorjahresniveau.Die Stützen sind insbesondere die Exporte nach Chinamit einem Plus von 27,9 Prozent und nach Russland miteinem Plus von 18,9 Prozent. Demgegenüber sind derprivate Konsum und die Investitionen weiterhin dieAchillesferse der Konjunktur. Wir haben eine schwacheBinnennachfrage. Die Ursachen dafür liegen in den wei-terhin rückläufigen Bauinvestitionen, darin, dass dieAusrüstungsinvestitionen noch nicht angesprungen sind,sowie in einer außerordentlichen Kaufzurückhaltung, ei-ner Stagnation der privaten Konsumausgaben. Das Fazitdieser Situation: Wir haben eine hochgradig wettbe-werbsfähige Exportwirtschaft mit höchstem Produktivi-tätsniveau, müssen andererseits aber eine immer noch zugeringe Dynamik auf den Heimatmärkten, also in dennicht exportorientierten Sektoren, registrieren, auf dieetwa 60 Prozent der Arbeitsplätze im Handel, im Bau, inden lokalen Diensten, im Hotel- und Gaststättenbereich,im öffentlichen Dienst, im klassischen Handwerk und inanderen Bereichen entfallen.
Die konjunkturelle Belebung hat deshalb denArbeitsmarkt bisher auch nur an den Rändern erreicht.Dies macht sich bei den Minijobs, bei den Ich-AGs undbei der Zeitarbeit bemerkbar. Es zeigt sich, dass es rich-tig war, dass wir auf diesen Gebieten Veränderungenherbeigeführt haben; hier ist die Belebung spürbar. ImKernsegment der Erwerbstätigkeit, der sozialversiche-rungspflichtigen Beschäftigung, ist es bisher nur gelun-gen, den Beschäftigungsabbau zu bremsen und aktuellfast zu stoppen. Wir stehen also ganz offensichtlich kurzvor einer Trendumkehr zum Beschäftigungsaufbau; er-reicht haben wir ihn aber noch nicht.
– Ich sage Ihnen bei dieser Gelegenheit gleich, dass dieZahl der Unternehmen im Handwerk aufgrund unsererHandwerksreform um 16 000 gestiegen ist. Dies zeigtdie Richtigkeit unserer Reformen.
Wenn wir auf dem Arbeitsmarkt Wirkung erzielenwollen, dann muss der Exportfunke endlich auch auf dieBinnennachfrage überspringen. Dann werden wir esauch schaffen, die Menschen in Deutschland, die arbei-ten können und wollen, in Arbeit zu bringen. Was istdazu erforderlich?Als Erstes brauchen wir mehr Investitionen, meineDamen und Herren. Dass auch hier das Feuer schonglimmt, zeigt der jüngste Ifo-Investitionstest, der endlicheinen Anstieg der Investitionen in der Industrie und demverarbeitenden Gewerbe von 6 Prozent signalisiert. Jetztgeht es vor allen Dingen darum – ich unterstreiche, wasder Vorsitzende der SPD-Fraktion, Franz Müntefering,gesagt hat –, dass auch die Kommunen auf Grundlageder erheblichen Verbesserungen der Gemeindefinanzen– sie werden sich im nächsten Jahr um rund 7 MilliardenEuro verbessern – von den sich daraus ergebenden Mög-lichkeiten Gebrauch machen und so viel wie möglich in-vestieren.
Damit kann und wird es gelingen, meine Damen undHerren, den Investitionsattentismus zu brechen, der un-ser Land sonst ökonomisch lähmen könnte.Als Zweites müssen wir die Bremsen lockern. Ichnenne dafür zwei Beispiele: In den USA wie in Großbri-tannien spielt ein boomender Häuser- und Immobilien-markt gesamtwirtschaftlich eine wesentliche Rolle. Erist eine Triebfeder des Wachstums. Daran muss man dieFrage anschließen, warum es bei uns nicht so ist: Warumist Bauen bei uns so teuer? Warum schaffen wir es nochnicht, eine konsequente Liberalisierung der Märkte fürGüter und Dienste durchzusetzen? Dies müssen wir etwadurch Bürokratieabbau auf allen Ebenen – beim Bund,bei den Ländern sowie bei den Städten und Gemein-den –, durch eine Vereinfachung des Baurechts unddurch eine Reform des Vergaberechts erreichen,
aus meiner Sicht auch durch eine Reform der Honorar-ordnung für Architekten und Ingenieure. Die Bremsenmüssen auf allen Ebenen weg: nicht nur im Handwerks-recht, sondern in vielen Bereichen, in denen wir gesetzli-che Bremsen eingebaut haben.Ich füge hinzu – ich sage dies ganz persönlich –, dassdie Bremsen auch weg müssen, wo es um Forschung,Entwicklung und die Anwendung der Forschungsergeb-nisse in Deutschland geht. Dies gilt beispielsweise fürdie Bio- und Gentechnologie, für die Grüne wie die RoteBiotechnologie, aber etwa auch dafür, dass wir dieStammzellenforschung in Deutschland unbegrenzt zu-lassen
und dass wir auch unter humanen Aspekten über dieseForschung und die Anwendung ihrer Ergebnisse inDeutschland noch einmal diskutieren.
Denn wir werden Forschung auf all diesen Sektoren nurdann erhalten, wenn wir ihre Ergebnisse auch bei uns an-wenden.
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Bundesminister Wolfgang ClementIch sage für mich persönlich: Das gilt unter humanen,sozialen und ethischen Gesichtspunkten auch für dieStammzellenforschung.Es geht um ein Drittes, es geht darum, dass wir dieSteuer- und Abgabenlast in Deutschland weiter verrin-gern. Deshalb ist es so wichtig und richtig, dass zum1. Januar 2005 die nächste Stufe der Steuerreform folgt.Sie ist und bleibt sicher und es wird dadurch zu einerEntlastung der Wirtschaft und der Bürgerinnen und Bür-ger von 6,8 Milliarden Euro kommen.
Deshalb ist es wichtig, den Prozess der Senkung derLohnnebenkosten voranzutreiben. Deutschland in Arbeitzu bringen ist mein Bild. Deutschland in Arbeit zu brin-gen, muss ein gemeinsames verbindliches Ziel werden.Das beinhaltet, Verantwortung wahrzunehmen, verant-wortlich zu handeln und Gruppeninteressen zurückzu-stellen und zu überwinden.Die Politik hat gehandelt, jetzt heißt es, dazu im Inte-resse des Landes zu stehen. Damit ich nicht nur abstraktbleibe, sage ich: Die Krankenkassen müssen jetzt dieChancen, die durch die Gesundheitsreform eröffnet wor-den sind, nutzen, um die Beiträge, so weit es geht, zusenken. Wir brauchen das auch im Interesse der Wirt-schaft. Hier geht es um Gesamtverantwortung.
In ebensolcher Klarheit sage ich an die Adresse derEnergieversorgungsunternehmen: Wir können inDeutschland nicht nur über Lohnnebenkosten und diesozialen Lasten reden, wir müssen auch über alle sonsti-gen Kosten reden. Dazu gehören in ganz besondererWeise die Energiekosten als Schlüsselelement.
Ich sage auch von hier aus, dass die Ankündigungenvon Preis- und Tariferhöhungen, die vonseiten der Ener-gieversorgungsunternehmen vorgenommen worden sind,auf den ersten Blick alles andere als überzeugend sind.Sie sind nicht angemessen. Ich appelliere von hier aus andie Unternehmen, ihrer Verantwortung für die gesamt-wirtschaftliche, für die gesamtindustrielle Entwicklungin Deutschland gerecht zu werden, also die angekündig-ten Tariferhöhungen so nicht vorzunehmen.
– Darüber reden wir, Herr Kollege Austermann, in allerOffenheit und Klarheit.Die politischen Lasten und Aufgaben, die wir mit denEnergiepreisen verbinden, machen 40 Prozent der Ener-giepreise aus,
aber 60 Prozent sind im Markt gestaltete Preise. Hierstellen sich die Fragen: Sind die angekündigten Preis-und Tariferhöhungen in diesem Segment angemessenoder nicht? Sind sie missbräuchlich? Wenn sie miss-bräuchlich sind, werden sie entweder so oder mithilfedes Kartellamtes und später der Regulierungsbehördezurückzunehmen sein.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich sagen: Ich höre ausvielen Ländern die Kritik, dass wir keine Ex-ante-Regulierung in dem Entwurf vorgesehen haben. Wirwerden darüber im Einzelnen noch zu diskutieren haben.Als jemand, der bereits Wirtschaftsminister in einemBundesland war und als solcher auch für die Tarifgeneh-migungsbehörde für den privaten Stromverbrauch ver-antwortlich war, weiß ich, dass es dort eine Ex-ante-Genehmigung gibt. Die Ex-ante-Prüfung durch alleWirtschaftsministerien der Länder – von dort höre ichviele Erwartungen – hat die Strompreisentwicklung inDeutschland für die Bürgerinnen und Bürger jedenfallsan keiner Stelle aufgehalten. Ich warne vor der Vorstel-lung, dies sei das Heilmittel für alles. Ich plädiere klarfür eine sehr harte, durch nationale und internationalePreis- und Tarifvergleiche gestützte Missbrauchsaufsichtdurch eine Regulierungsbehörde, die sich bei der Postund Telekommunikation bewährt hat. Das ist die Regu-lierungsbehörde in Bonn, sie sollte die Regulierungsauf-gaben in den Bereichen Strom und Gas ebenfalls über-nehmen.
Wir brauchen eine klare Missbrauchsregelung. Wirhaben es in diesem Sektor mit 1 700 Anbietern zu tunund die Vorstellung, die Preise ex ante, also im Vor-hinein, prüfen und regulieren zu wollen, halte ich fürziemlich anspruchsvoll, um es vorsichtig auszudrücken.Wir werden zu jeder Zeit darüber diskutieren, aber neh-men Sie die Erfahrungen zur Kenntnis, die mit dieserPrüfung bisher erzielt worden sind.Wichtiger ist mir aber, die Unternehmen in die Ver-antwortung zu nehmen, damit sie jetzt die angekündig-ten Preiserhöhungen zurückziehen. Nur so können wir ineine vernünftige und ruhige Diskussion eintreten, undzwar auch über die Frage der künftigen Preis- und Tarif-regulierung.
In meinem Ressort spielen die Arbeitsmarktrefor-men eine herausragende Rolle. Wir stehen jetzt vor derRealisierung der wichtigsten Stufe der Arbeitsmarktre-formen. Sie kennen das: Es geht um Fördern und For-dern. Es geht um Vermitteln in Arbeit statt Administrie-ren von Arbeit. Es geht um eine soziale Grundsicherungstatt zweier, unabhängig voneinander nebeneinanderher,teilweise gegeneinander laufender staatlicher bzw. kom-munaler Fürsorgesysteme.Dabei ist klar: Das Gesetz wird keine Arbeitsplätzeschaffen, aber das Gesetz wird wie noch nie in der Ge-schichte der Bundesrepublik Bewegung in den Arbeits-
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Bundesminister Wolfgang Clementmarkt bringen. Die Vorläufer dieser Bewegung kann je-der und jede bereits jetzt beispielsweise anhand derErkenntnisse der Zeitarbeitsfirmen feststellen.Das Gesetz ist auch notwendig. Ich respektiere dieDemonstrationen, die Proteste, die Kritik, soweit sie sichim Rahmen des demokratisch Zulässigen bewegen. Ichsage aber an alle gerichtet, die dort demonstrieren undkritisieren: Nicht die Reform ist der Skandal. Der Skan-dal ist die in Deutschland seit Jahr und Tag ständig an-steigende Langzeitarbeitslosigkeit. Sie ist inzwischenfast die höchste in Europa. Sie ist die längst dauerndeund sie steigt und steigt. Das ist der eigentliche Skandal,und das zeigt in aller Deutlichkeit, dass wir den Weg,den wir bisher gegangen sind, nicht fortsetzen dürfen,sondern hier zu einer grundlegenden Korrektur kommenmüssen.
Die Koalitionsfraktionen werden jetzt gesetzlicheKlärungen herbeiführen. Sie beziehen sich – wie Siealle wissen; ich brauche das hier nicht weiter zu erläu-tern – auf die Auszahlungstermine. Diesbezüglich ist– entgegen dem Vorschlag, den ich gemacht habe – Klä-rung hergestellt worden. Sie beziehen sich außerdem aufden Kinderfreibetrag, der völlig außerhalb der Diskus-sion steht. Es wird keinerlei bürokratischen Umgang mitKindersparbüchern, Kinderausbildungsversicherungenund Ähnlichem geben. Es wird eine Klärung hinsichtlichder Vermittlungsgutscheine sowie über die AB-Maßnah-men geben, um dort zu entbürokratisieren. Bei der Ich-AG, die ich nach wie vor für richtig halte – die bisheri-gen Erkenntnisse, auch wenn sie noch nicht umfassendsind, sprechen dafür, das fortzusetzen, weil es ein ver-nünftiges Instrument ist –, werden wir im Rahmen derGewährung des Arbeitslosengeldes I – denn darum gehtes – eine Tragfähigkeitsprüfung vorsehen.Zu vielen Einzelfragen brauche ich jetzt keine Stel-lung zu nehmen, denn über vieles ist diskutiert worden.Ich glaube, inzwischen ist viel Klarheit hergestellt wor-den. Die viele – meist berechtigte – Kritik, die an meineAdresse gerichtet worden ist, und die damit verbundeneheftige Auseinandersetzung haben den Vorteil, dassrechtzeitig, bevor die Reform in Kraft tritt, alles disku-tiert worden sein müsste, was zu diskutieren ist.
Ich habe gestern noch einmal beim Zentralverbanddes Deutschen Handwerks die Gelegenheit gehabt, deut-lich zu machen, dass beispielsweise die öffentlichen Ar-beitsgelegenheiten weder rechtlich so angelegt nochsonst dazu angetan sind, Beschäftigungen oder geradekleine und mittlere Unternehmen sowie Handwerksun-ternehmen in den Kommunen zu beseitigen oder zu ge-fährden. Das ist auch von Gesetzes wegen anders vorge-sehen.Wir brauchen solche öffentlichen Arbeitsgelegenhei-ten, weil ab dem 1. Januar 2005 – das wird vielfach garnicht gesehen – fast 1 Million Menschen, die bisher So-zialhilfe bezogen haben, als erwerbsfähig gelten, weil siemehr als drei Stunden pro Tag arbeiten können. Diesewerden in die Arbeitsvermittlung aufgenommen. Jederund jede von uns weiß, dass eine Vermittlung in den ers-ten Arbeitsmarkt nicht auf Anhieb gelingen kann, son-dern dass wir Einstiegsmöglichkeiten benötigen. Diesesind sehr unterschiedlich. Das reicht beispielsweise vonTrainingsprogrammen wie Sprachenprogrammen oderauch Lohnkostenzuschüssen, die mindestens gleichwer-tig sind, weil sie vielleicht schneller zu einer Vermittlungin den ersten Arbeitsmarkt führen können, bis hin zu öf-fentlichen Arbeitsgelegenheiten.Die örtlichen Arbeitsagenturen entscheiden. Nicht wirwollen von hier aus entscheiden, wie jemand vermitteltwird und welche Hilfe er bekommt. Das muss vor Ortentschieden werden. Das ist auch von allen Seiten gesagtworden. Das Ziel derer, die vor Ort entscheiden, wird dieVermittlung in den ersten Arbeitsmarkt sein. Niemanddort hat den Auftrag, Lohndumping zu betreiben, Men-schen in möglichst schlecht bezahlte Jobs zu vermitteln,und niemand dort wird sich so verhalten. Ziel ist dererste Arbeitsmarkt. Wir brauchen aber Instrumente, ummöglichst viele Menschen dorthin zu führen. Dazu gehö-ren die öffentlichen Arbeitsgelegenheiten.Gestern habe ich beim Zentralverband des DeutschenHandwerks gesagt: Natürlich wird man sich vor Ort– möglicherweise in Form eines Beirates oder einerähnlichen Konstruktion – etwa mit einem Vertreter derIndustrie- und Handelskammer, einem Vertreter derHandwerkskammer, einem Vertreter der Gewerkschaftenund einem Vertreter der Kommune zusammensetzen, umüber die Einrichtung öffentlicher Arbeitsgelegenheitenvor Ort zu sprechen und zu verhindern, dass das zulastendes Handwerks oder der kleinen und mittleren Unterneh-men geht.
Frau Kollegin Merkel, Sie haben sich gestern dieChance nicht entgehen lassen, unter anderem über dieFragebögen zu sprechen. Es ist ja auch zu schön, überFragebögen zu sprechen. Dieses Thema hat die Literaturschon häufig beschäftigt und das wird sicherlich auchmit diesen Fragebögen geschehen. Dazu will ich zweiDinge bemerken: Wie viele antworten, ist regional sehrunterschiedlich. Neulich war ich in Ludwigshafen. Dortsind bereits 40 Prozent der Fragebögen eingegangen.Das schlechteste Ergebnis hat Leipzig. Dort waren es zu-letzt 4 Prozent.Die Qualität der beantworteten Fragebögen, die ein-gehen, ist hervorragend. Die Bearbeitungszeit dieserFragebögen beträgt in der Agentur, die dafür eingerichtetwurde, ein Drittel der geschätzten Arbeitszeit. Es zeigtsich also, dass gar nicht alles so weit daneben liegt.Weil ich verschiedene Boykottaufrufe gehört habeund zur Kenntnis nehmen musste, dass Menschen aufge-fordert werden, diese Fragebögen nicht auszufüllen,muss ich in aller Deutlichkeit sagen: Bitte lassen Sie sich
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Bundesminister Wolfgang Clementvon einem solchen Unsinn und von solchen Abwegig-keiten nicht beeinflussen. Das richte ich an die Adressederer, die diese Fragebögen ausfüllen müssen.Einen Anspruch auf öffentliche Unterstützung kannman natürlich nur dann bekommen, wenn man diese Fra-gen beantwortet, die Fragebögen ausfüllt und einen ent-sprechenden Antrag stellt. Das sage ich in aller Ernsthaf-tigkeit und in alle Richtungen in der Bundesrepublik,damit hier kein Irrtum entsteht. Meine Bitte ist, dassdies, wenn irgend möglich, unterstützt wird.
Frau Merkel, Sie haben gestern das Thema Subven-tionen im Niedriglohnsektor angesprochen. Ich ver-stehe Sie immer so – so habe ich auch die Diskussionmit der Union verstanden –, dass Ihr Vorschlag auf eineflächendeckende Subvention niedrig entlohnter Jobs hi-nausläuft. Um das klar zu sagen: Das halte ich für falsch.
Richtig ist: Es werden in Ostdeutschland wie in West-deutschland Subventionen getätigt, wenn sie sinnvollsind: entweder in Form von Lohnkostenzuschüssen oderals Leistungszulagen, die der einzelne Fallmanager ver-geben kann und über die er selbst entscheidet. In diesenFällen werden diese Zuschüsse gezahlt, damit die Men-schen nach Möglichkeit in den ersten Arbeitsmarkt ge-langen. Flächendeckend so zu verfahren, würde abereine „Subventionitis“ sein. Es würde zu Lohndumping inden Unternehmen führen und den Rest hätte der Staat zuzahlen. Das kann nicht richtig sein. Dieser Kurs, derbeide Nachteile gleichzeitig mit sich bringen würde– Subventionen in einer unglaublichen Größenordnungund niedrigstmögliche Löhne –, kann nicht vernünftigsein.
Zum Thema Ostdeutschland möchte ich darauf hin-weisen, dass genau 41,8 Prozent der Eingliederungsmit-tel von nahezu 10 Milliarden Euro dorthin fließen wer-den; nicht weil es sich um Ostdeutschland handelt,sondern weil die Belastungen auf dem Arbeitsmarkt dortam größten sind. Frau Merkel, eines möchte ich bei die-ser Gelegenheit sagen: Sie haben hier eine andere Sicht-weise. Ich möchte in aller Klarheit sagen: Meine Wahr-nehmung Ostdeutschlands als jemand, der dort zurzeitviel lernt, ist eine sehr differenzierte.Ich kann nur hoffen, dass wir es nach und nach schaf-fen, nicht mehr in unserem Bild von West- und Ost-deutschland zu verharren. Wir müssen uns von diesemBild lösen. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass es inden verschiedenen Regionen sehr unterschiedliche Ent-wicklungen und einen sehr unterschiedlichen Status gibt.Eine Stadt wie Jena hat einen Arbeitsmarkt wie dieUniversitätsstadt Göttingen. Im Umfeld Berlins ist dieArbeitsmarktsituation besser als beispielsweise in mei-ner Heimat, dem südlichen – nicht dem nördlichen –Ruhrgebiet. Ich könnte – Sie kennen das – genauso gutdurch Ostdeutschland gehen und Ihnen zeigen, wo dortganz unterschiedliche Entwicklungen stattfinden. Mansollte das alles nicht auf Dauer zusammenbündeln, alsseien wir wirklich zwei getrennte Etwas.
Wenn man zueinander kommen will, dann gehört dazuein differenziertes Bild, zu dem wir kommen müssen.
Neulich habe ich es gewagt, zu sagen, dass ich gerneeine an die Adresse junger Leute gerichtete Kampagnedurchführen würde, um sie aufzufordern, entweder nachOstdeutschland zurückzukehren oder überhaupt nachOstdeutschland zu kommen; denn vielfach sind die Bil-dungs-, Ausbildungs- und Hochschuleinrichtungen dortmindestens genauso gut wie im Westen. Aber dort kannman – im Gegensatz zu den überfüllten Hochschulen inWestdeutschland – wenigstens noch einen Professoroder eine Professorin sehen und sie sprechen.
Herr Bundesminister, entschuldigen Sie, dass ich Sie
unterbreche. Erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Hinsken?
Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaft
und Arbeit:
Gerne, ja.
Bitte schön, Herr Hinsken.
Herr Minister, Sie haben soeben die Lohnkosten-
zuschüsse angesprochen und gesagt, sie seien ein un-
taugliches Mittel.
Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaft
und Arbeit:
Bitte?
Sie haben gesagt, sie seien ein untaugliches Mittel,um der Arbeitslosigkeit vor allen Dingen in struktur-schwachen Bereichen zu begegnen.
Daher möchte ich folgende Frage an Sie richten: IstIhnen bewusst, dass gegenwärtig, gerade im grenznahenBereich, Tausende von Arbeitsplätzen in die neuen mit-telosteuropäischen Mitgliedstaaten der EU abwandern?Wie sieht Ihre Alternative dazu aus? Wie wollen Sie dembegegnen? Denn zum Beispiel zwischen Tschechien undDeutschland besteht ein Lohnunterschied im Verhältnisvon eins zu sechs; zwischen Polen und Deutschland ister noch etwas höher. Dem kann doch nur mit neuen Re-zepturen begegnet werden. Aber in dieser Angelegenheithabe ich noch nichts von Ihnen gehört. Bisher warte ichvergebens.
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Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaftund Arbeit:Herr Kollege Hinsken, zum Ersten: Ich habe nichtLohnkostenzuschüsse als untaugliches Mittel bezeich-net, sondern als taugliches Mittel; sie sind ausdrücklichvorgesehen bei den Eingliederungsmitteln, eines derwichtigsten Elemente.
Nur bin ich dagegen, sie flächendeckend einzusetzen.Zum Zweiten: Ich verstehe die Fragestellung, die Siehaben; es ist eine sehr wichtige. Allerdings ist das Instru-ment der Lohnkostenzuschüsse aus meiner Sicht nichtgeeignet. Was wir mit den Beitrittsstaaten natürlich dis-kutieren müssen – aber tunlichst in einem ruhigeren Pro-zess –, ist, wie dort in Zukunft das Instrumentarium zumFördern, durch Strukturfördermittel und beispielsweiseSteuerentlastungen, gehandhabt wird. Zwischen den al-ten und den neuen Ländern in Deutschland haben wirdas ja auch nach einer Übergangsphase hinbekommen,nämlich so, dass Übersiedlungen und Standortverlage-rungen von Westdeutschland nach Ostdeutschland nurim Einvernehmen zwischen den Ländern stattfinden.Man wird das zwischen uns und den Beitrittsländernjetzt so noch nicht erreichen, aber wir brauchen solcheruhigen Gespräche, um mit diesem Thema umzugehen.Dass die Menschen und die Unternehmen in den un-mittelbaren Grenzregionen in Bayern, insbesondere inOstbayern, im Verhältnis zur Tschechischen Republikzurzeit erhebliche Standortprobleme haben, ist richtig.Es gibt dazu kein generelles Instrument; ich habe da-rüber schon viele Diskussionen geführt. Wir brauchenDiskussionen vor Ort und müssen unter Hinzuziehungder Kreditwirtschaft, der KfW und all derer, die dazubeitragen können, dazu kommen, dass wir den Unterneh-men in diesem Übergang helfen, soweit es geht mitStrukturfördermitteln und soweit es geht mit ebensol-chen Instrumenten, wie ich sie angesprochen habe.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Entwurfdes Einzelplans 09 für das nächste Haushaltsjahr, überden ich spreche, sieht Ausgaben in Höhe von 34,3 Mil-liarden Euro vor. Man muss sehen, dass 85 Prozent derAusgaben in unserem Einzelplan Ausgaben für den Ar-beitsmarkt sind. Ich meine, dass wir da mittelfristig eineVeränderung erreichen müssen und dass wir diese Inves-titionen in den Arbeitsmarkt vor allen Dingen durch Ef-fizienzgewinne sehr rasch zu lohnenden Investitionenmachen müssen. Dann wird sich auch die Struktur desvon mir vertretenen Haushaltes wieder verändern. DerSchwerpunkt wird – das ist das Ziel – dann nicht mehrbei den Ausgaben infolge der Arbeitslosigkeit liegen,sondern bei der zukunftsorientierten Stärkung derWachstums- und Innovationskräfte.Unter dem Strich trägt das Ministerium für Wirtschaftund Arbeit trotz der notwendigen Investitionen in denReformprozess an anderen Stellen erheblich zur Konso-lidierung des Bundeshaushalts bei, beispielsweise mitden Erlösen im Zusammenhang mit der vorgesehenen,noch im Einzelnen zu diskutierenden Übertragung desERP-Sondervermögens auf die KfW, beispielsweisedurch den Subventionsabbau im Rahmen der Vorschlägevon Koch/Steinbrück, beispielsweise durch die Reduk-tion der finanziellen Förderung der Steinkohle. Nichtzuletzt dank dieser Einsparungen werden wir die Haus-haltsstruktur verbessern und gezielt Impulse für zu-kunftsgerichtete und investive Maßnahmen setzen. DerSchwerpunkt liegt dabei in der Förderung von For-schungs- und Technologievorhaben und in der Steige-rung der Innovationskraft kleinerer und mittlerer Unter-nehmen.Die Regionalförderung durch die Gemeinschaftsauf-gabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“wird mit rund 700 Millionen Euro für die neuen Länderund die Förderregionen in den alten Ländern ausgestat-tet. Sie wird in den Folgejahren auf diesem Niveau wei-tergeführt; die Länder erhalten auf diese Weise die ge-wünschte Planungssicherheit. Mit den komplementärenLandesmitteln und den Mitteln der Europäischen Unionstehen im nächsten Jahr 1,7 Milliarden Euro zur Förde-rung neuer Investitionen zur Verfügung.Der Erfolg der Regionalpolitik – damit bin ich nocheinmal bei dem, was Herr Kollege Hinsken angespro-chen hat – hängt aber nicht nur vom Mittelvolumen ab,sondern insbesondere auch vom intelligenten Einsatz derFördermittel durch die Landesregierungen. Sie haben dieMöglichkeit, zielgenaue Investitionsanreize zu gebenund die Entwicklung von Spitzenstandorten oder vonwirtschaftlichen Clustern, etwa in Ostdeutschland, nocheffizienter zu unterstützen.Die GA-Förderung ist Teil des Solidarpakts II für dieneuen Länder, der ab 2005 wirksam wird. Er umfasst einVolumen von, wie wir schon gehört haben, 156 Milliar-den Euro, verteilt auf die Jahre bis 2019. Das ist das si-chere finanzielle Fundament für die Fortsetzung desAufbaus Ost. Ich bin überzeugt, dass wir auf diesemFundament weiterhin erfolgreich, wenn auch nicht dieWelt von heute auf morgen verändernd, arbeiten. Aberes verändert sich die Situation in Ostdeutschland. Werdies wahrnimmt, ohne geblendet zu sein, mit realisti-schem Blick, auch gestützt auf Erfahrungen in anderenRegionen Deutschlands, wird diese Ansicht teilen müs-sen.Meine Bitte ist natürlich – ich sage das auch etwaspolemisch, einmal ausnahmsweise an die Adresse vonHerrn Ministerpräsidenten Milbradt: Nicht demonstrie-ren ist gefragt für einen Ministerpräsidenten, sondernmitarbeiten vor Ort.
Mitarbeiten vor Ort – das heißt beispielsweise, dass manin den Städten und Gemeinden dafür sorgt, dass erstensdie Gelder wirklich dort ankommen, dass zweitens dieseGelder möglichst investiv eingesetzt werden und dassdrittens die Arbeitsagenturen vor Ort bzw. die Kommu-nen, falls sie optieren, konkret arbeiten und in Gangkommen. Es kommt darauf an, dass alle mitmachen.
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Bundesminister Wolfgang ClementEs geht ja darum, die Menschen in Deutschland in Ar-beit zu bringen: Deutschland in Arbeit. Das heißt, wirmüssen Erwartungen an all diejenigen richten, die inDeutschland Verantwortung tragen:Erstens erwarten wir von den Unternehmen, dass siejetzt investieren, dass sie die Standorte sichern anstatt siezu verlagern, wenn das aus Kostengründen nicht andersgeboten ist, und dass sie vor allen Dingen etwas für dieAusbildung tun. Wir müssen das Ausbildungsproblem inDeutschland lösen und den Ausbildungspakt einlösen.
Ich bin unverändert davon überzeugt, dass das möglichist.Ich werde gleich mit dem Regierenden Bürgermeistervon Berlin in Gesprächen mit Unternehmen wieder fürsolche Ausbildungsplätze werben. Es ist möglich undmit dem Ausbildungspakt ist bei den Industrie- und Han-delskammern sowie bei den Handwerkskammern schonErhebliches erreicht worden. Die Aktivität, die dort ent-faltet worden ist, ist teilweise sehr beeindruckend.Die Nachvermittlungsaktion, die zum ersten Mal ge-regelt und vereinbart wurde, wird am 1. Oktober 2004beginnen. Ich bin davon überzeugt, dass es möglich ist,unser Versprechen, das eingehalten werden muss, auchwirklich einzuhalten: Jeder, der will und kann, muss ei-nen Ausbildungsplatz, eine andere adäquate Einstiegs-qualifikation oder Ähnliches erhalten.Zweitens appelliere ich an die besondere Verantwor-tung der Energiewirtschaft. Sie ist eine strategischeBranche und hat insbesondere in dieser Phase Einflussauf die weitere Entwicklung in der BundesrepublikDeutschland. Deshalb: Nehmen Sie die angekündigtenPreis- und Tariferhöhungen zurück! Davon kann undsollte jetzt kein Gebrauch gemacht werden.
Drittens appelliere ich an die Banken und an dasKreditgewerbe. Über 40 Prozent der Manager in mittel-ständischen Unternehmen klagen heute immer noch überProbleme beim Erhalt von Krediten und beim Eigen-kapital. Ich appelliere an das Kreditgewerbe, alles zutun, um diese Probleme zu überwinden.
Durch die KfW werden Haftungserleichterungen undHaftungsentlastungen für das Kreditgewerbe organisiertund ermöglicht. Davon muss mehr und intensiv Ge-brauch gemacht werden,Viertens habe ich die Erwartung an die Gewerk-schaften, sich so besonnen wie in der Tarifpolitik in denletzten Jahren auch gegenüber der Agenda 2010 und denProtesten zu verhalten.Fünftens habe ich die Erwartung an die Arbeit-suchenden, die Herausforderungen anzunehmen undneue Chancen zu sehen. Wer bedürftig ist, dem wirdgeholfen. Ich habe das schon so oft gesagt: In diesemProzess der Umgestaltung unserer Arbeitswelt wird nie-mand abstürzen. Aktives Mitwirken ist besser als passi-ves Sich-verwalten-Lassen. Darum geht es, wenn wir dieArbeitsmarktreform jetzt vollziehen.Die Ziele, die wir uns setzen, werden erreicht sein,wenn bei künftigen Haushaltsberatungen nicht mehrüber Vergangenheitsinvestitionen contra Zukunftsinves-titionen diskutiert wird, sondern wenn wir darüber strei-ten, wem in Zukunft unsere ganze Aufmerksamkeit gilt.Diese muss der Existenzförderung, der Forschung undInnovation und der Bildung und Weiterbildung gelten.Auf diesen Wettbewerb, den wir erreichen müssen,freue ich mich. Erst recht werde ich mich natürlichfreuen, wenn er in diesem Hause stattfindet.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Kollege Friedrich Merz von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Lassen Sie mich aus unserer Sicht zunächst eineVorbemerkung zum Wechsel Ihres Staatssekretärs in diePrivatwirtschaft machen. Der Wechsel ist in Ordnung.Sie verlieren einen der besten Beamten der Bundesregie-rung. Ich teile Ihre Einschätzung, dass es gut wäre, wennwir in Deutschland einen Wechsel zwischen Wirtschaft,Wissenschaft und Politik in alle Richtungen etwas häufi-ger erleben würden.
– Herr Müntefering, dass Sie hier bleiben, empfindenwir eher als Drohung. Aber es ist ja auch eine Frage derVerwendungsfähigkeit an anderer Stelle.
Ich begrüße es ausdrücklich, Herr Clement, dass Sieunsere Nachfragen hierzu nicht kritisiert haben; denndass heute Morgen eine Sondersitzung des Wirtschafts-ausschusses auf unseren Antrag und den der FDP statt-gefunden hat, ist begründet gewesen. Es ist unsereAufgabe nachzufragen. Die Antworten auf unsere Nach-fragen haben keinerlei Anlass zu Kritik gegeben. Inso-fern begleiten Herrn Tacke unsere guten Wünsche aufseinem Weg in eine neue berufliche Aufgabe.
Wir sprechen über Wachstum und Beschäftigung inDeutschland. Herr Clement, Sie haben erneut eine relativoptimistische Prognose für das laufende Jahr und insbe-
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Friedrich Merzsondere für das Jahr 2005 gewagt. Als ich Sie gehörthabe, habe ich gedacht: Das kommt mir bekannt vor.Wenn man es nachschauen würde, könnte man feststel-len, dass Sie im letzten und auch im vorletzten Jahr etwaum diese Zeit fast wortgleich ähnlich optimistische Pro-gnosen über Wachstum und Beschäftigung abgegebenhaben. Ich sage ganz ausdrücklich: leider. Dies sage ichauch an Ihre Adresse, Herr Müntefering, weil Sie gesternBemerkungen in dem Sinne gemacht haben, wir würdenein Interesse daran haben, dass die Krise in Deutschlandfortbesteht. Ich erkläre ausdrücklich: Leider sind diesePrognosen der letzten zwei Jahre von Ihnen, HerrClement, bis heute nicht eingetreten. Ich halte sie – offengestanden – auch für das Folgejahr für zu optimistisch.Wir haben in der Tat in Deutschland ein geringesWachstum. Wir haben möglicherweise im nächsten Jahrein etwas höheres Wachstum. Aber diese Wachstums-zahlen – der Hinweis ist zutreffend – beruhen nicht aufeiner zunehmenden Belebung der Inlandsnachfrage, son-dern sind ganz wesentlich dem Export geschuldet. DerExport aber ist jedenfalls zu einem beträchtlichen Teilmittlerweile eine statistische Größe geworden; denn erspiegelt sich nicht in inländischer Wertschöpfung wider.Diesen Zusammenhang will ich einmal aufzeigen.Wir haben es hier mit Wertschöpfungsketten zu tun,die so auseinander genommen werden, dass größereTeile dessen, was produziert wird, nicht mehr inDeutschland entstehen, etwa in der Automobilindustrie,sondern Vorleistungen aus dem Ausland nach Deutsch-land importiert, in hochmodernen Montagewerken zuFahrzeugen montiert und dann exportiert werden. Dergesamte Wert eines solchen Fahrzeuges findet sich in derExportstatistik wieder, aber eben nicht mehr die Wert-schöpfung in Deutschland. Das ist das eigentliche Pro-blem.
Deswegen kann ich nur davor warnen, Herr Clement,die Behauptung zu wiederholen, es sei doch wunderbar,dass wir Exportweltmeister seien. Bei Licht betrachtetist dies immer mehr – ich sage nicht: ausschließlich –eine statistische Größe im Hinblick auf die Exportstatis-tiken und findet sich nicht in inländischer Wertschöp-fung und inländischen Arbeitsplätzen wieder.
Die Arbeitsplätze werden in den osteuropäischen Län-dern geschaffen. Sie entstehen mittlerweile auch zuneh-mend in den südeuropäischen Ländern. Abwanderungenvon Unternehmen in die Schweiz und nach Österreichsind keine Abwanderungen in Billiglohnländer oderNiedrigsteuerländer, sondern Abwanderungen in Länder,die offensichtlich ein wesentlich stabileres und vertrau-enswürdigeres politisches System haben als die Bundes-republik Deutschland. Das hat nicht nur etwas mit Kos-ten, sondern auch mit Stabilität und Vertrauen zu tun, dasan diesen Standorten größer ist.
Sie haben auf Ihren Etat Bezug genommen unddurchaus kritisch den Hinweis gegeben, 85 Prozent des-sen, was in Ihrem Etat, dem Einzelplan 09, an Steuermit-teln ausgegeben wird, werde für die Arbeitsmarkt-politik zur Verfügung gestellt. Das ist das eigentlicheProblem. Die Arbeitsmarktpolitik in Deutschland redu-ziert sich weitgehend auf die Bewirtschaftung der Ar-beitslosigkeit. Dies ist mittlerweile in einem Umfanghaushaltswirksam, dass zeitgleich der Anteil der Investi-tionen auch aus Ihrem Etat auf einen Tiefstand zurück-gefahren werden musste. Wenn ein Land wesentlichmehr für die Bewirtschaftung der Arbeitslosigkeit als fürInvestitionen in die Zukunft ausgibt, dann hat die Volks-wirtschaft dieses Landes ein fundamentales Problem.
Dieses fundamentale Problem ist nicht kleiner gewor-den, sondern es ist in Ihrer Amtszeit, Herr Clement, lei-der größer geworden. Nun reden wir hier abstrakt übergroße Zahlen. Ich will sie einmal auf den einen oder an-deren Sachverhalt herunterbrechen, der mit den Hartz-Gesetzen in Verbindung steht. Ich will nur drei Sachver-halte aufgreifen: PSA, Ich-AG und Jobfloater. Sie habenzwar gesagt: keine Vergangenheitsbewältigung – in Ord-nung –; aber dass wir zur Halbzeit der Wahlperiode ein-mal nachfragen, was aus dem geworden ist, was vorzwei Jahren, wenige Wochen vor der Bundestagswahl,mit großem propagandistischen Aufwand der Öffentlich-keit vorgestellt worden ist, gehört zu unserer Aufgabeund interessiert auch große Teile der Öffentlichkeit.Ich habe noch sehr gut in Erinnerung, wie Herr Hartz,für den kein Raum in Berlin gut genug war – manmusste sogar in eine säkularisierte Kirche gehen, um denInhalt einer kleinen CD-ROM vorzustellen –, die Pro-gnose stellte, innerhalb von drei Jahren 2 Millionen neueJobs in Deutschland zu schaffen.Wie sieht die Lage heute aus, zwei Jahre danach? Siehaben mit den Personal-Service-Agenturen 350 000 so-zialversicherungspflichtige Jobs pro Jahr angekündigt.Das heißt, wir müssten heute ungefähr 700 000 haben.Tatsache ist, dass wir 15 000 haben, davon 4 200 im Os-ten. Insgesamt haben Sie dafür aus Ihrem Etat 340 Mil-lionen Euro ausgegeben. Das heißt, jeder Job, der ent-standen ist, hat über 20 000 Euro gekostet. EinFacharbeiter muss lange arbeiten, um die Steuern aufzu-bringen, die dafür bezahlt werden müssen. Es sind hierRandbereiche des Arbeitsmarktes gefördert worden. Mitdem eigentlichen Arbeitsmarkt hat das nichts zu tun.
Ich-AG: 500 000 Existenzgründungen pro Jahr sindangekündigt gewesen. Es sind 180 000. In der Tat ist das– jedenfalls vordergründig betrachtet – zunächst ein Er-folg, aber nur jede zehnte Gründung einer solchen Ich-AG überlebt das erste Jahr ihrer Existenz. Neun vonzehn werden nicht älter als ein Jahr. Die Insolvenzrate istüberproportional hoch. Im laufenden Jahr müssen Sie für
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Friedrich Merzdie Ich-AGs aus Ihrem Etat bzw. aus dem der Bundes-agentur für Arbeit 850 Millionen Euro ausgeben, damitdiese so genannten Ich-AGs bestehen können.
Ganz absurd wird es nun beim Jobfloater. Dass Siedieses Thema nicht mehr angesprochen haben, kann ichverstehen, obwohl Sie noch vor zwei Jahren mit großerEmphase diesen Begriff in die deutsche politische Spra-che eingeführt und erklärt haben, das sei die Ideeschlechthin, um auf diese Art und Weise eine Brückevon der Arbeitslosigkeit in die Beschäftigung zu bauen.240 000 sozialversicherungspflichtige Jobs sollten mitdiesem so genannten Jobfloater entstehen. Das ist dergrößte Jobflop geworden, den wir jemals in der Arbeits-marktpolitik der Bundesrepublik Deutschland erlebt ha-ben.
In Zahlen ausgedrückt: 120 000 Jobs pro Jahr sollten essein. Bis heute hätten es also 240 000 sein müssen. Essind ganze 12 800 entstanden. Dafür hat die Kreditan-stalt für Wiederaufbau in einem Programm 925 Millio-nen Euro ausgegeben. Das sind pro Job über72 000 Euro. Herr Clement, wenn wir an dieser Stellesagen, dass Steuergelder verschwendet werden und diefalsche Politik gemacht wird, dann lässt sich das auch insehr griffigen Zahlen ausdrücken, die nicht nur etwasmit Milliardenbeträgen zu tun haben, sondern mit Beträ-gen, bei denen jedermann sofort einsieht, dass man soArbeitsmarktpolitik in Deutschland nicht machen kann.
Nun haben Sie erneut – der Bundeskanzler hat es ges-tern getan und Frau Merkel in ihrer Erwiderung auf denBundeskanzler auch – Hartz IV angesprochen. Ich willaus meiner Sicht noch einmal sehr deutlich sagen: Wirstehen dazu, dass wir der Zusammenlegung vonArbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zugestimmt haben.Das war richtig. Ich selbst habe von dieser Stelle ausdiese Forderung mehrfach erhoben. Es ist richtig, dasswir Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe als steuerfinan-zierte soziale Transferleistung zu einem einheitlichenSystem zusammenfügen. Trotzdem reißen die Debattenüber dieses Thema nicht ab. Dies hat nicht parteipoliti-sche Gründe, sondern das hat sehr objektive Gründe. Ichwill Ihnen zwei nennen.Wir bleiben fundamental unterschiedlicher Auffas-sung darüber, wer in Zukunft die Verantwortung über dieVerwendung der Mittel und die Vermittlung der Lang-zeitarbeitslosen übernehmen soll. Herr Clement, Sie ha-ben eben in Ihrer Rede selbst das beste Beispiel dafür ge-geben, dass das, was Sie jetzt planen, nämlich dieZuständigkeit einer zentralistisch geführten Bundesbe-hörde, nicht erfolgreich sein kann. Sie selbst haben völ-lig zu Recht darauf hingewiesen, dass wir nicht mehrzwischen Ost und West unterscheiden dürfen, dass sichdie Arbeitsmärkte in Deutschland höchst unterschiedlichentwickeln, und zwar nicht zwischen Ost und West, son-dern im Osten wie im Westen. Aber gerade weil das soist, muss Arbeitsmarktpolitik dezentral organisiert wer-den.
Weil nur mit dezentraler Arbeitsmarktpolitik erfolgrei-che Arbeitsmarktpolitik gemacht werden kann, hättenwir uns gewünscht,
dass Sie die Städte und die Kreise in Deutschland in dieVerantwortung genommen hätten, und zwar nicht mit ei-ner Optionsklausel, sondern flächendeckend. Es wärerichtig gewesen, die Städte und Kreise in Deutschlandmit dieser Aufgabe zu betrauen.Ich bleibe bei meiner Kritik. Ich werde gleich noch et-was zum Bürokratieabbau sagen. Sie haben dazu er-staunlicherweise kaum etwas gesagt. Das, was jetzt zumJahreswechsel 2004/2005 mit der Übertragung der Zu-ständigkeit an die Bundesagentur für Arbeit geschieht,also auf die regionale Arbeitsverwaltung, wird ein büro-kratisches Monstrum werden. Die örtlichen Arbeitsver-waltungen werden ein riesiges Problem haben, diesesThema wirklich zu schultern, was die Sozialämter inden Städten und in den Kreisen längst hätten machenkönnen und in der Vergangenheit erfolgreich gemachthaben. Deswegen ist es so kritisch gewesen und es bleibtaus unserer Sicht auch so kritisch.Es gibt einen zweiten Grund, der insbesondere für denOsten zutrifft. Es ist, wie ich finde, nach wie vor ein be-dauernswerter Zustand, dass wir erstmalig ein Gesetz imBundesrat verabschiedet gesehen haben, dem der ge-samte Westen zugestimmt hat und das der gesamte Ostenabgelehnt hat. Das ist, wenn ich mich richtig erinnere,das erste Gesetz nach der Wiedervereinigung – –
– Herr Müntefering, hören Sie mir zu, bevor Sie Zwi-schenrufe machen. – Ich sage, es ist ein bedauernswerterZustand, dass dies ein Gesetz ist, das – sozusagen ent-lang der alten Demarkationslinie – im Osten abgelehntworden ist und dem im Westen zugestimmt worden ist.
Ich stehe zu der Zustimmung. Ich sage Ihnen nur: Diekritischen Anmerkungen, die der MinisterpräsidentMilbradt aus Sachsen hier zu machen hat, haben an einerwesentlichen Stelle eine sehr gute, nämlich eine in IhremHaushalt aufgeschriebene Begründung. Herr Milbradtweist völlig zu Recht darauf hin, dass mit diesem Gesetzder Druck auf Arbeitslose erhöht wird, sich eine Be-schäftigung zu suchen und auch eine Beschäftigung an-zunehmen.
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Friedrich MerzNur, meine Damen und Herren, wenn keine Beschäfti-gung entsteht, wenn keine Jobs da sind, dann nützt auchder beste Druck nichts, den Sie jetzt auf die Arbeitslosenausüben.
Jetzt sage ich Ihnen ganz konkret, was das mit IhremHaushalt zu tun hat. Wir haben hier vor einem Jahr eineso genannte Koch/Steinbrück-Liste zum ThemaSubventionsabbau diskutiert.
In dieser Diskussion sind auch die Mittel für die Ge-meinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirt-schaftsstruktur“ behandelt worden. Wir haben verabre-det, dass diese Mittel einmalig gekürzt werden und dasssie dann auf dem alten Plafond fortgesetzt werden. Ab-weichend von dieser Vereinbarung kürzen Sie jetzt dieseMittel auch und besonders wirksam für den Osten, auchin den nächsten Jahren, also den Jahren 2005, 2006 und2007.
Insgesamt kürzen Sie die Mittel entgegen unserer Verab-redung um rund 300 Millionen Euro, davon 260 Millio-nen Euro im Osten.
Gleichzeitig erhöhen Sie entgegen unserer Verabredungdie Subventionen für die Steinkohle. Damit kein Miss-verständnis entsteht: Ich bin davon überzeugt, dass dieSteinkohle in Deutschland Zukunft haben muss, jedochauf einem wesentlich niedrigeren Niveau als gegenwär-tig.
– Das habe ich immer so gesagt, dazu werden Sie keineandere Äußerung von mir finden. – Sie haben aber nacheiner Zusage des Bundeskanzlers beim Deutschen Stein-kohletag die Subventionen für die deutsche Steinkohleim selben Zeitraum, in dem die GA-Mittel gekürzt wer-den, noch einmal um 800 Millionen Euro erhöht. Daspasst nicht zusammen.
An dieser Stelle ist die Kritik von Herrn Milbradt völliggerechtfertigt. Sie können nicht die Basis für Investitio-nen im Osten entziehen und gleichzeitig Subventionenim Westen erhöhen, weil es dort vielleicht einer gewis-sen Klientel gefällt und nicht zuletzt weil es Ihnen imHinblick auf Wahlergebnisse des nächsten Jahres so inden Kram passt.
Das ist eine Politik, die voller Widersprüche ist. Deswe-gen, Herr Clement, kann ich Ihnen die Kritik nicht erspa-ren: Hier machen Sie einen schweren Fehler, der ver-meidbar gewesen wäre.
Sie haben die Energiepolitik angesprochen. Ich willauch dazu eine Anmerkung machen. Uns liegt der Ent-wurf eines neuen Energiewirtschaftsgesetzes vor, der inden nächsten Wochen und Monaten beraten wird. DerVersuch der letzten Tage, Energiepreiserhöhungendurchzusetzen, hat in der Tat den Beigeschmack, als obmonopolähnliche Strukturen versuchen, Preise durchzu-setzen. Darüber, wie man dies in den Griff bekommt,müssen wir reden. Wenn Sie hier allerdings das lobens-werte Beispiel Post und Telekommunikation anführenund sich gleichzeitig gegen die Ex-ante-Regulierungwehren, dann ist das ein Widerspruch. Über die Auflö-sung dieses Widerspruchs unterhalten wir uns im Herbst.Nur, meine Damen und Herren, ein wesentlicher Teilder Energiepreiserhöhungen in Deutschland hat mit denMonopolstrukturen nichts zu tun; vielmehr sind sie dieFolge politisch gewollter Steuer- und Abgabeerhöhun-gen, die diese Bundesregierung in den letzten sechs Jah-ren massiv zulasten der privaten Haushalte und der Be-triebe in Deutschland durchgesetzt hat.
Die letzte Strompreiserhöhung hat wenig mit Monopolund sehr viel mit dem novellierten Energieeinspeisege-setz zu tun. Insgesamt hat diese Bundesregierung in denletzten sechs Jahren die Belastung der Strompreiskundendurch Steuern und Abgaben mehr als verfünffacht. Siehaben innerhalb von sechs Jahren die Belastung desStromes mit Steuern und Abgaben von 2,5 MilliardenEuro auf über 12 Milliarden Euro gesteigert. Das ist einwesentlicher Grund dafür, dass Deutschland im interna-tionalen Vergleich zu hohe Energiepreise und insbeson-dere zu hohe Strompreise hat.
Damit sind wir bei der Steuer- und Abgabenpolitik.Das Ressort des Bundeswirtschaftsministers umfasstauch – wie ich meine: richtigerweise – die Arbeitsmarkt-politik. Aber er hat natürlich eine weit darüber hinausge-hende Verantwortung für die Wirtschaftspolitik insge-samt. Zu einer guten Wirtschaftspolitik eines Landesgehört natürlich ein Steuersystem, das angenommenwird und das als Standortfaktor positive Wirkungen ent-faltet. Ich hätte mir deswegen gewünscht, dass Sie, HerrClement, wenigstens einen Satz zur steuerpolitischenDebatte in Deutschland gesagt hätten. Uns liegt seit eini-gen Wochen eine Untersuchung von der Harvard-Uni-versität und dem Weltwirtschaftsforum über die Effizi-enz und die Transparenz der Steuersysteme auf dieserWelt vor. 102 Staaten sind untersucht sowie über5 000 Unternehmen und Fachleute befragt worden. Dasist wahrscheinlich die breitest angelegte Untersuchung,die es jemals über Effizienz und Transparenz der Steuer-systeme auf dieser Welt gegeben hat. Auf Platz eins dererstellten Bestenliste liegt Hongkong, dicht gefolgt von
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Friedrich MerzEstland, einem neuen Mitgliedstaat der EuropäischenUnion, auf Platz vier. Dann folgen viele andere Staaten.Herr Bundeswirtschaftsminister, ich bin nicht sicher, obSie wissen, auf welchem Platz Deutschland liegt. In die-ser Untersuchung liegt Deutschland auf Platz 102, alsoauf dem letzten Platz.
– Vielen Dank für den Zuruf. Vielleicht geben Sie ihnnoch einmal zu Protokoll.Ich möchte Ihnen ein paar der Länder nennen, die voruns liegen: Trinidad und Tobago, Ghana, Sambia, Ma-lawi, Haiti, Angola, Nicaragua, Bangladesch. All dieseLänder liegen vor uns, natürlich nicht was die Höhe derSteuersätze betrifft!
– Sie können froh sein, dass die meisten Ihrer Zurufenicht so verständlich sind, dass sie die Fernsehzuschauermitbekommen oder dass sie Eingang in das Protokollfinden. Seien Sie froh, dass die meisten Ihrer Zurufenicht protokolliert werden! Sie sind an Dummheit undDämlichkeit nicht mehr zu überbieten.
Ich führe dieses Thema deswegen in die Debatte ein,weil wir es uns nicht leisten können, auf Dauer ein sokomplexes, kompliziertes und intransparentes Steuersys-tem in Deutschland beizubehalten. Herr Clement, Sie ha-ben von Bürokratieabbau gesprochen. Ich nenne Ihnenzwei große Bereiche, in denen Bürokratieabbau wirklichnotwendig ist. Der eine ist die Arbeitsmarktpolitik. Dortmachen Sie das glatte Gegenteil von Bürokratieabbau.Sie bauen dort zusätzlich eine riesengroße Bürokratieauf. Der andere ist die Steuerpolitik. Die Steuerverwal-tung in Deutschland weiß selbst nicht mehr, wie dieSteuergesetze der rot-grünen Bundesregierung vollzogenwerden sollen. Deswegen ist Deutschland auf dem letz-ten Platz der erwähnten Liste. Wenn Sie darüber lachen,empfehle ich Ihnen, einen mittelständischen Betrieb zubesuchen und den Betriebsinhaber und die Betriebsrätezu fragen – diese werden Ihnen sicherlich ein paar Taktedazu sagen können –, wie die Betriebe in Deutschlandmittlerweile das Steuerrecht anwenden. Es ist eigentlichdie Aufgabe des Bundeswirtschaftsministers, darauf auf-merksam zu machen, dass wir aus dem bestehendenSteuerchaos herausmüssen und dass wir ein wirklich ra-dikal vereinfachtes Steuerrecht in Deutschland brauchen.Wir haben dazu Vorschläge gemacht.
Sie haben vor Jahr und Tag den Masterplan „Bürokra-tieabbau“ mit großem propagandistischem Aufwand undgroßen Ankündigungen, jetzt endlich werde mit Büro-kratieabbau in Deutschland ernst gemacht, auf den Weggebracht. Herr Clement, die Weltbank hat gestern eineStudie über Bürokratieabbau auf dieser Welt veröffent-licht. Sie kann man heute in vielen Zeitungen nachlesen.Danach sind 89 große Reformen zum Bürokratieabbauauf der Welt identifiziert worden, davon 36 in den Staa-ten der Europäischen Union. Aber keine einzige ist inDeutschland identifiziert worden. Wörtliches Zitat:Im Jahre 2003 ist in Deutschland zum Thema Büro-kratieabbau nichts geschehen.Das ist die traurige Bilanz Ihrer großen Ankündigungen.Mit vielen Ankündigungen und wenigen Taten, insbe-sondere beim Bürokratieabbau, geht die Reise in eineandere Richtung.Abschließend zu der von Ihnen angesprochenen Re-form der sozialen Sicherungssysteme: Wir alle streitenhierüber. Es geht um äußerst schwierige Sachverhalte,die jeden Bürger in Deutschland in seinem Kernbereichberühren. Deswegen möchte ich jenseits aller Details,über die wir uns noch im kommenden Herbst zu streitenhaben, eine allgemeine Bemerkung machen. Die ent-scheidende Frage ist, ob es uns gelingt, die deutsche Be-völkerung zu einem Wandel der Mentalität zu veranlas-sen.
Wir brauchen in Zukunft eine fundamentale Neuabgren-zung zwischen Eigenverantwortung und Solidarität.Ein Ereignis der letzten Tage ist symptomatisch fürDeutschland. Der eine oder andere von Ihnen wirdgleich schreien und es als an den Haaren herbeigezogenbezeichnen.
In der Nacht von Donnerstag auf Freitag – Herr Schmidt,vielleicht haben Sie noch gar nicht registriert, dass daspassiert ist – ist die Anna-Amalia-Bibliothek in Wei-mar abgebrannt, weswegen große Teile ihres Bestandesvernichtet worden sind.
Wie reagiert Deutschland auf einen solchen Sachver-halt? Die Staatsministerin im Bundeskanzleramt stelltinnerhalb weniger Stunden, also fast sofort, einen Betragvon 4 Millionen Euro zur Verfügung. Das ist gut ge-meint. Aber sind wir uns eigentlich darüber im Klaren,was das für Wirkungen hat? Große Teile der Bevölke-rung haben doch das Gefühl: Also, wenn die das Gelddahaben, dann ist das damit erledigt.
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Friedrich MerzIn vielen anderen Ländern hätte der Staat gesagt: Jetztetwas zu tun ist in erster Linie gar nicht unsere Aufgabe.Dort hätten die Repräsentanten des Staates – der Bun-deskanzler, der Staatsminister für Kultur und andere –gesagt: Das ist jetzt die Stunde des großen bürgerschaft-lichen Engagements für ein Weltkulturerbe, für das sichalle Menschen in Deutschland interessieren und begeis-tern lassen müssen.
Was dort geschehen ist, ist ein typisches Beispiel dafür,wie in Deutschland politisch gedacht und gehandeltwird: Der Staat tritt sofort in Vorlage, statt zu sagen:Dies ist jetzt die Stunde der Bürger und des ehrenamtli-chen Engagements.Wir können uns das ganze Gerede über Bürgergesell-schaft, über Engagement und über Eigenverantwortungsparen, wenn der Staat schon an einer solchen Stelle so-fort wieder in Vorlage tritt und den Bürgern sozusagendas Signal gibt: Wir sind für alles zuständig und die Bür-gerinnen und Bürger müssen nur weitgehend auf denStaat vertrauen.
Dies ist der entscheidende Punkt, über den wir unspolitisch auseinander setzen müssen. Wenn wir bürger-schaftliches Engagement und Eigenverantwortung wol-len, dann müssen wir es fördern und nicht im Keim ersti-cken. Wenn Sie die Probleme in unserem Lande lösenwollen, dann sind wir auch bereit, mit Ihnen zusammen-zuarbeiten. Wir haben unsere Bereitschaft dazu in denletzten Monaten doch gezeigt.Herr Müntefering, eines ist doch klar: Wenn Sie undwir und alle, die hier sitzen, nicht in kürzester Zeit einenSilberstreif am Horizont aufzeigen können, der andeutet,dass dieses Land aus seiner Krise herauskommt, dannwerden wir uns über Jahr und Tag nicht mehr nur übereine ökonomische Krise, sondern über eine fundamen-tale Sinn- und Akzeptanzkrise der gesamten demokrati-schen Ordnung unterhalten.
Sie sollten uns mit Ihren Redebeiträgen von dieserStelle aus nicht unterstellen, dass wir sozusagen aufBaisse spekulieren, dass wir also versuchen, aus derKrise politisches Kapital zu schlagen. Wir sind über denZustand dieses Landes tief besorgt.
– Ihr Gefeixe spricht Bände über die Ernsthaftigkeit, mitder Sie sich über diese Themen zu unterhalten bereitsind.
Wenn man in Ihre Gesichter schaut, dann erkennt man:Ihr Gefeixe spricht Bände.Wir sind über den Zustand dieses Landes tief besorgt.Sie tragen als Regierungsfraktionen hier die Verantwor-tung. Wir bieten Ihnen an, dabei mitzuhelfen, dass diesesLand aus der Krise herausfindet.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Thea Dückert vom Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Merz, ich will aus Ihrem Themenhopping nur ei-nige Punkte herausgreifen; alles werde ich hier nicht be-handeln können. Es ist schon erstaunlich, wie Sie bei-spielsweise versuchen, aus der positiven Tatsache, dassDeutschland Exportweltmeister ist, eine Negativbot-schaft abzuleiten.
Es ist erstaunlich, wie Sie hier darstellen wollen – daskommt nicht an; das sage ich Ihnen auch –, dass notwen-dige Arbeitsmarktreformen mit von uns geschaffenenneuen Instrumenten angeblich nicht greifen. Auch Siewissen – Ihr Hinweis auf die Binnenkonjunktur war rich-tig –, dass eine positive Konjunktur die Voraussetzungfür eine positive Entwicklung des Arbeitsmarktes ist unddass die neuen Instrumente, beispielsweise Zeitarbeitund Ähnliches, erst dann wirken können, wenn sich dieKonjunktur belebt.Herr Merz, schauen Sie doch hin! Der Minister hat esgesagt und er hat auch die Zahlen genannt: Die Indika-toren zeigen Positives. Wir können das beobachten. Wirsehen mittlerweile auch – vorsichtig, vorsichtig –, dassdie neuen Instrumente greifen. Ich nenne nur eines: dieZeitarbeit. Wir können nachweisen, dass wir gerade indiesem Bereich in den letzten Wochen einen enormenEntwicklungsschub gemacht haben.Was machen Sie hier? Ob das Export ist, ob das Ar-beitsmarkt ist, ob das binnenkonjunkturelle Entwicklungist, Sie suchen sich das heraus, was Ihnen passt, um dieEntwicklung schlecht zu reden. Das ist Ihr Ansatz.
Sie wissen offensichtlich überhaupt nicht, worüberSie reden. Sie haben als nächsten Punkt die Hartz-Reformen thematisiert. Sie sagen, die Reformen müss-ten durchgesetzt werden. Prima! Ich habe heute Morgenauch gelesen, dass Herr Koch, der noch vor ein paar Mo-naten die Kommunen zum Boykott der Hartz-Reformenaufgerufen hat, jetzt sagt: Man muss dazu stehen.
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Dr. Thea DückertGleichzeitig aber machen Sie sich hier einen schlan-ken Fuß, Herr Merz; denn Sie reden über etwas, was garnicht Inhalt dieser Reform ist. Sie sprechen von einembürokratischen Moloch und fordern Dezentralität ein.Der Kern dieser Reform ist Dezentralität. Wir machenmit dieser Reform Folgendes – das wird am 1. Januar2005 losgehen –: Wir geben den Kommunen, den Regio-nen vor Ort ein umfassendes Handwerkszeug und auchGeld in die Hand, damit vor Ort mit den regionalen Trä-gern, mit den Akteuren, mit der Wirtschaft, mit den Ge-werkschaften zusammen eine Arbeitsmarktpolitik betrie-ben werden kann, die an den Individuen orientiert ist unddie die dezentralen Strukturen nutzt.Herr Merz, Sie stellen die Frage der Option als eingroßes Problem dar. Es ist richtig: Nicht alle Kommunenkönnen optieren. Herr Merz, Sie sind im Vermittlungs-ausschuss mit dicken Backen aufgetreten und habenviele, viele Optionen gefordert. Ich nenne nur ein Bei-spiel: Baden-Württemberg. Dort sind sechs Optionenmöglich. Fünf sind jetzt beantragt. Dort ist die CDU inder Regierung!
Ich habe am Sonntag mit dem Ministerpräsidenten vonNiedersachsen gesprochen. Auch er sagte mir: Wir kom-men damit gut aus. Vermutlich werden weniger Kommu-nen optieren.
Meine Damen und Herren, blasen Sie sich hier alsonicht so auf für eine Reform, die Sie durch die Hintertürdoch wieder schlecht machen wollen.
Wir machen im Bereich Sozial- und Arbeitsmarkt-politik sicherlich gerade die größten Reformen in derGeschichte der Bundesrepublik. Wir machen sie deshalberst so spät, weil Sie sich, alle, wie Sie da sitzen, vonFDP bis CDU/CSU, in den 90er-Jahren an diese unbe-quemen Reformen nicht herangewagt haben. Sie habensich weggeduckt. Von Herrn Merz ist die geschickteForm des Wegduckens wiederum vorgeführt worden. Siein der Union sind, was den Mut anbelangt, eine Reformauch umzusetzen und durchzusetzen, ein Duckmäuser-verein. Ich will Ihnen das auch zeigen.
Hinter verschlossenen Türen feiern die Hardlinerfröhliche Urständ. Da wird dann zum Beispiel gefordert,die Leistung zu reduzieren. Öffentlich wird eine andereMelodie gespielt. Wir haben es hier gehört und wir hörenes jeden Tag. Rüttgers will eine Generalrevision der Re-form. Milbradt will verschieben, Schonvermögen he-raufsetzen. Böhmer will beim Zuverdienst etwas ma-chen. Söder hat unter Tränen beklagt, was mit denKindersparbüchern passiert.Sie spielen hier mit gezinkten Karten. Sie haben imVermittlungsausschuss durchsetzen wollen, dass dieLeistungen niedriger sind. Sie wollten keine Kinderzu-schüsse für Leute mit geringem Einkommen, die verhin-dern, dass sie in die Sozialleistung abrutschen. Sie woll-ten Verschärfung der Sanktionen. Sie haben esdurchgesetzt, dass die Zuverdienstmöglichkeiten – zumBeispiel bis 400 Euro – erheblich schlechter sind, als wirdas wollten. Dort machen Sie also eine Politik, die Ver-schärfung zum Inhalt hat. Auf der Straße spielen Sie eineandere Melodie. Meine Damen und Herren, das ist un-redlich.
Wir müssen jetzt, hier und heute, die Reformen angehen;dabei steht die Umsetzung im Vordergrund. Deshalbmacht es keinen Sinn mehr, noch hier und da Verände-rungen zu fordern. Wir werden den Umsetzungsprozess,der am 1. Januar 2005 beginnt, sehr genau beobachten.Diese Reform ist deshalb so notwendig, weil sie eineEtappe markiert: Wir verabschieden uns jetzt von einerPolitik, die von Ausgrenzung und Alimentierung geprägtwar, und treten in eine Politik ein, die Integration in denersten Arbeitsmarkt zum Ziel hat. Es geht darum, ernstzu nehmen, dass Langzeitarbeitslosigkeit eine derschlimmsten Geißeln für die Betroffenen und übrigensauch für die Ökonomie ist. Wir haben in Deutschlandeine überdurchschnittlich hohe Dauer der Arbeitslosig-keit; im Schnitt beträgt sie 32 Wochen. Das ist schlimmfür die Betroffenen. Wir müssen ihnen helfen, da schnel-ler wieder herauszukommen. Das ist das Ziel dieser sehrschwierigen und unbequemen Arbeitsmarktreform.Das ist, wie ich glaube, noch nicht überall angekom-men, beispielsweise auch nicht bei unseren Freundenvom DGB. Herr Sommer hat letztens – ich glaube, eswar vor zwei Wochen – gesagt, mit der Reform werdedie Würde der Beschäftigten angegriffen. Ich entgegnedarauf: Langzeitarbeitslosigkeit greift die Menschen-würde an. Deswegen, meine Damen und Herren, müssenwir diese Politik weiter verfolgen, auch gegen den vonIhnen organisierten Widerstand.Wir können nicht akzeptieren, dass es in Deutschlandzwei Klassen von Langzeitarbeitslosen gibt: die einen inder Arbeitslosenhilfe, die anderen in der Sozialhilfe. Da-bei haben die, die von Sozialhilfe leben, so gut wie keineChance, wieder in den Arbeitsmarkt hereinzukommen,da sie keinen Zugang zu den Mitteln der aktiven Arbeits-marktpolitik haben. Das ist ein ganz wesentlicher Be-standteil der Reform. Gegen diese Neuorientierung hinauf Integration wird jetzt von außen mit Ihrer Unterstüt-zung – ich nenne beispielsweise Herrn Milbradt –
vorgegangen und Wind gemacht.Vor diesem Hintergrund möchte ich noch einmal andie Adresse all derjenigen, die jetzt auf Montagsdemons-
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Dr. Thea Dückerttrationen oder anderswo falsche Parolen gegen diesesGesetz in Umlauf bringen,
Folgendes zur Klarstellung sagen: Es ist schlichtwegfalsch, dass die Leute, wie es beispielsweise die PDS un-ermüdlich behauptet, massenhaft ihre Wohnungen ver-lassen müssten. Sie haben vielmehr die Möglichkeit, inihren Wohnungen zu bleiben. Angemessener Wohnraumwird zugestanden. Auch andere Dinge sind übrigens ver-bessert worden; so werden sogar die Zinsen für Darlehenweiter gezahlt, wenn es sich um eine Eigentumswoh-nung handelt.Die Menschen, die das neue Arbeitslosengeld II be-ziehen, werden alle sozialversichert sein. Es handelt sichum eine Verbesserung für all diejenigen, die vorher Sozi-alhilfeempfänger waren.Denjenigen, die immer wieder das Prinzip „Fördernund Fordern“ problematisieren, sage ich: In diesemGesetz wurde eine richtige Balance zwischen Fördernund Fordern gefunden. Ich nenne beispielsweise dieMaßnahmen für Jugendliche. Jugendliche haben erst-mals Anspruch auf eine elternunabhängige Leistung.Das wollten Sie von der Union übrigens nicht. Ab 1. Ja-nuar haben sie auch einen Rechtsanspruch auf ein Ar-beits- oder Ausbildungsangebot. Dem steht gegenüber,dass ihnen, wenn sie Angebote nicht annehmen, dieLeistungen für eine bestimmte Frist gestrichen werden.Ich glaube, meine Damen und Herren, dass diese beidenPunkte, nämlich auf der einen Seite das neue Angeboteiner Unterstützung in Form einer eigenständigen Leis-tung und auf der anderen Seite die Forderung nach eige-ner Aktivität, in guter Weise beschreiben, was dieses Ge-setz will, nämlich fördern und fordern. Wir werden inZukunft speziell auf das Fördern unser Augenmerk rich-ten.Das Gesetz hat Schwächen. Für viele dieser Schwä-chen sind Sie von der Opposition verantwortlich.
Ich nenne nur zwei Beispiele. Das eine Beispiel ist dieVerschärfung der Zumutbarkeitsregelungen. Allen Kriti-kerinnen und Kritikern, die uns anmailen und von unsfordern, diesen Punkt zu ändern, sage ich: Schickt eureBeschwerden bitte zielgerichtet und direkt an die CDU/CSU und an die FDP; denn die haben uns diese Regelun-gen im Gesetz eingebrockt.
Wir werden natürlich eine Debatte über das ThemaLohndumping führen müssen. Wir werden beobachtenmüssen, ob es zu Lohndumping kommt, und eventuellMaßnahmen dagegen ergreifen müssen. Eine Maßnahmekann durchaus ein branchenbezogener Mindestlohn sein,wenn die Tarifautonomie dadurch gewahrt bleibt. Es gibtaber auch andere Möglichkeiten. Wir brauchen auf jedenFall eine Debatte, denn wir wollen nicht das Lohn-dumping, das Sie durchgesetzt haben.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss. Aber ich möchte an dieser
Stelle noch auf einen fundamentalen Unterschied in un-
seren arbeitsmarktpolitischen Ansätzen hinweisen.
Frau Kollegin – –
Das ist wirklich der letzte Satz, Herr Präsident.
Frau Merkel hat gestern den flächendeckenden
Niedriglohnsektoren, mit viel Geld staatlich subventio-
niert, das Wort geredet, übrigens ohne Gegenfinanzie-
rungsvorschlag. Wir wollen eine Arbeitsmarktpolitik,
die für das Individuum, für den Langzeitarbeitslosen
Brücken in den Arbeitsmarkt baut, finanziert durch
Lohnkostenzuschüsse, durch eine ganze Reihe von An-
geboten. Wir sehen keine Möglichkeit, den Menschen in
Deutschland in irgendeiner Weise durch einen flächen-
deckenden Niedriglohn zu helfen; das wäre auch ökono-
misch fatal.
Wir können mit Tschechien nicht konkurrieren, meine
Damen und Herren.
Das Wort hat jetzt der Kollege Rainer Brüderle von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Mi-nister Clement, auch ich will mit einer Bemerkung zuHerrn Tacke beginnen. Es ist unbestritten, dass Herr Ta-cke ein hoch qualifizierter, verdienter Staatssekretär ist.Es ist auch völlig unbestritten, dass ein Wechsel zwi-schen Politik und Wirtschaft wünschenswert ist. Aberfür mich ist und bleibt es schlechter politischer Stil,wenn ein Staatssekretär, der kurz vor der Bundestags-wahl eine höchst umstrittene Ministererlaubnis gegendas Kartellamt und gegen die Monopolkommissiondurchgezogen hat und damit die Fusion von Eon undRuhrgas mit einem Marktanteil von 85 Prozent – das sollmir einer erläutern, dass man in einer sozialen Markt-wirtschaft einen Marktanteil von 85 Prozent braucht –ermöglicht hat
– was haben Sie bis hin zum Regierungssprecher in die-ser Geschichte nicht alles verkündet; heute sind Sieschön ruhig –, anschließend bei einem wesentlich vonEon Ruhrgas bestimmten Unternehmen Vorstandsvorsit-zender wird. Ich empfehle Ihnen dringend, einen Ehren-kodex zu entwickeln, in dem wenigstens eine Schamfrist
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Rainer Brüderlefixiert wird. Es geht nicht um eine Rechtsfrage; das hatder Ausschuss heute geklärt. Beamtenrechtlich ist nichtszu beanstanden, denn er scheidet aus dem öffentlichenDienst aus. Aber guter politischer Stil ist das für michnicht; es dient nicht dazu, das Ansehen der Politik in derBevölkerung zu stärken.
Wir befinden uns im vierten Jahr der Stagnation derBinnenwirtschaft. Kernbereich wirtschaftlicher Bele-bung ist der private Konsum. Fast 60 Prozent des Sozial-produkts entstehen durch den Konsum. Dort kommenwir im vierten Jahr in Folge nicht voran. Heute hat dasKieler Institut seine Wachstumsprognose für das nächsteJahr auf 1,2 Prozent gesenkt. Sie kennen die Risikendraußen. Wir profitieren – ich füge hinzu: Gott seiDank – von Boomregionen wie China und Teilen Ameri-kas. Der Export ist davon abhängig; er ist in der Tat einStück geborgte Wertschöpfung – Herr Kollege Merz hatdazu Ausführungen gemacht –; denn vieles, was als Sie-mens-Produkt verkauft wird, beinhaltet China. Das istalles begrüßenswert. Aber die Risiken – die Überhitzungin China, die Entwicklung in Amerika – sind sehr groß.Das Entscheidende ist: Der Transmissionsmechanis-mus, das Überspringen der Exportimpulse auf dieBinnenkonjunktur, funktioniert nicht mehr. Das hatseine Ursache. Es liegt an der tiefen Verunsicherung derVerbraucher und von Teilen unserer Wirtschaft, insbe-sondere des Mittelstands. Deshalb birgt Ihr Haushaltgroße Risiken. Mein Kollege Niebel wird zu den Wa-ckelpositionen bei der Finanzierung der Arbeitslosigkeitspäter noch detailliert Stellung nehmen. Ihre Inkonsis-tenz und die fehlende Klarheit der Politik verstärken dieVerunsicherung in der Bevölkerung und deshalb kom-men wir nicht voran.Herr Bütikofer erklärt gestern, die Erbschaftsteuermüsse erhöht werden; das betrifft zu zwei Dritteln dieBetriebsübergänge. Frau Simonis will die Mehrwert-steuer erhöhen. Dadurch wird die Verunsicherung stän-dig vergrößert. Es ist ein natürlicher Reflex, sein ange-spartes Geld zurückzuhalten, wenn man nicht weiß, obman einen Job bekommt oder seinen Job behält. DieSparquote hat eine Rekordhöhe von über 11 Prozent er-reicht. Eine hohe Sparquote ist aber nicht hilfreich in ei-ner Situation, in der die Binnenkonjunktur anspringenmuss. Denn sie macht 60 Prozent des Bruttosozialpro-dukts aus.
Da hilft uns der Export allein nicht weiter und der Staatkann eh nicht eingreifen.Die Situation in Europa hat sich verschärft. Mit demBeitritt von zehn weiteren Ländern zur EuropäischenUnion sind Länder wie Estland und Slowenien hinzuge-kommen, in denen es eine Flat Tax gibt. Das heißt, biszu einer bestimmten Grenze gilt Steuerfreiheit und diemaximale Besteuerung liegt bei unter 20 Prozent. Eswird den Firmen und Holdings bald relativ egal sein, obsie ihren Sitz in Tallin oder in Ljubljana bzw. in Düssel-dorf oder Berlin haben. Der Unterschied liegt darin: Hierzahlen sie mehr als 50 Prozent Steuern und dort wenigerals 20 Prozent.Wir haben Niedriglohngebiete auf dem gemeinsa-men Binnenmarkt. Die Relation der Facharbeiterlöhnezwischen Deutschland und Polen beträgt eins zu zehn biseins zu zwölf. Die IG Metall hat bei den großen Konzer-nen kapiert – die können ihren Standort nämlich schnellverlagern –, dass sich etwas tun muss. Dort akzeptiert sieNullrunden. Wir brauchen aber auch einen Spielraumbeim Mittelstand. Denn im Mittelstand entstehen dieJobs und nicht in den großen Konzernen.
Im Mittelstand haben wir Zehntausende von Arbeitsplät-zen verloren. Eine Gewerkschaftspolitik, die sich auf dieGroßkonzerne konzentriert, ist falsch angelegt.Man muss in diesem Zusammenhang folgendes Ta-buthema ansprechen. Die paritätische Mitbestimmungin Deutschland ist eine Fehlentwicklung. Ich weiß sehrgut, wie sie entstanden ist. Das ist die Gedankenwelt derWirtschaftsdemokratie: Es war die Zeit der Gemeinwirt-schaft, der Neuen Heimat und der Bank für Gemeinwirt-schaft – die kennt gar keiner mehr; dort wurden viele Ar-beitergroschen versenkt. Damals entstand die Idee, dassman etwas anderes dazwischen erfinden müsste, eine ArtRätesystem.Dieses System ist zunehmend ein Standortnachteil.Andere werben inzwischen damit, die Holdings nachHolland oder in die Schweiz zu verlagern, weil es dortsolche Regelungen nicht gibt. In der Diskussion, ob dieDeutsche Bank mit einem anderen großen europäischenBankinstitut zusammengeht, war immer klar, dass derStandort in Luxemburg oder in London sein würde, weiles dort andere Regelungen gibt. Man muss offen darüberreden, dass sich ein Mechanismus entwickelt hat, der einStandortnachteil geworden ist. Dieses Thema kann mannicht einfach tabuisieren und fortschreiben; darübermuss ein Dialog stattfinden.
Nächster Punkt: Energiegipfel. Ich bin froh, dass derBundeskanzler unsere Anregung aufgegriffen hat undjetzt zu einem entsprechenden Gipfel eingeladen hat.Aber ein bisschen zwiespältig ist es schon. Diese Bun-desregierung hat den Konzentrationsprozess am Gas-markt – 85 Prozent Marktanteil – zugelassen und wun-dert sich jetzt, dass die Gaspreise steigen.
Wettbewerb ist der beste Schutz vor überzogenen Prei-sen. Deshalb gilt es, den Wettbewerb zu stärken. Die Re-gulierungsbehörde kommt nicht in die Pötte. Ich bin keinFreund der Regulierungsbehörde. Es wäre besser, dieKompetenzen wären bei einer Wettbewerbsbehörde,dem Kartellamt, konzentriert. Die Regulierungsbehördefunktioniert nicht, weil Sie keine vernünftigen Regelun-gen hinbekommen. Wahrscheinlich haben die Grünennoch einen Postenwunsch.
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Rainer BrüderleSie kriegen die Energiewirtschaftsgesetzverordnungnicht hin. Da besteht seit einem Jahr Unsicherheit; sie istimmer noch nicht in Kraft. Das verunsichert natürlichdie Energieunternehmen.Sie senden falsche Signale aus. Sie sollten überden-ken, ob das ERP-Sondervermögen, das einen Symbolge-halt für den Mittelstand hat, verkauft und der KfW alsEigenkapitalhilfe übertragen werden soll. Das soll wahr-scheinlich deshalb gemacht werden, damit Herr Eichelseine Telekom- und Postaktien besser platzieren kann.
Denn es handelt sich um Aktien mit einem Kursrisiko,das durch Eigenkapital abgedeckt werden muss. Das istder falsche Ansatz.Herr Clement, Sie sind so etwas wie der letzte Mohi-kaner der Marktwirtschaft in dieser Regierung.
Die anderen roten Brüder haben sich schon längst in dieBüsche geschlagen. Sie träumen wahrscheinlich davon,wie sie in der Opposition Marterpfähle wie Bürgerversi-cherung und Steuererhöhungen, mit denen die deutscheVolkswirtschaft getroffen werden soll, errichten können.
Was Sie zur Forschung gesagt haben, unterschreibeich alles. Man muss an das Thema Biotechnologie he-rangehen. Auf diesem Gebiet gibt es im Moment nochEntwicklungshemmnisse in Deutschland.Warum gehen Sie nicht wirklich glaubwürdig an denBürokratieabbau heran? Wir diskutieren seit Jahrzehn-ten – auch mein Verein – über den Abbau von Bürokra-tie. Ich sehe nur einen Weg, wie wir es schaffen können:Sie müssen die kommunale Selbstverwaltung und damitden Föderalismus in den Wettbewerb einbeziehen. Las-sen Sie doch beispielsweise die Ostländer Gesetze außerKraft setzen! Lassen Sie Kommunen den Spielraum, Ge-setze außer Kraft zu setzen! Nur wenn wir den Wettbe-werb innerhalb der kommunalen Selbstverwaltung unddes föderalen Systems nutzen – wer Arbeitsplätzeschafft, Investitionen anzieht und wer eine geringere Re-gelungsdichte hat, hat den attraktiveren Standort –, kom-men wir voran. Sonst fördern wir nur die Auswanderungaus Deutschland. 120 000 Spitzenkräfte in Forschung,Wirtschaft und Wissenschaft verlassen Deutschland je-des Jahr. Kaum einer kommt zurück. Kapital wandertaus, weil die Situation bei uns so schwierig ist und weilwir keine Beweglichkeit und Flexibilität hinbekommen.Da liegen Sie zwar im Ansatz richtig; aber mehr errei-chen Sie nicht.
Ich will nicht wiederholen, was Kollege Merz richti-gerweise angesprochen hat. Sie haben auf die Energie-preise permanent Belastungen geknallt. Die damalige Li-beralisierung hat eine Entlastung von 18 Milliarden DMgebracht. Die ist voll geschluckt worden. Damit werdendie Windrädchen der Grünen finanziert. Diese sollen einDrittel der Kernenergie ersetzen.Ich halte es übrigens für falsch, dass wir aus dieserTechnologie ausgestiegen sind. Wir sollten uns sehrwohl überlegen, diese Technologie weiterzuentwickelnund die Restlaufzeiten der Kernkraftwerke zu verlän-gern.
Wir werden noch große Probleme bekommen. Lieberdeutsche Ingenieure als verrückte Derwische in Nahostals Garanten unserer Energieversorgung! Sie haben ei-nen falschen Ansatz gewählt.Wir brauchen das Vertrauen der Bevölkerung. Es istnicht vorhanden, weil es keinen klaren Kurs gibt.Schauen Sie einmal die Ergebnisse im Saarland und dieUmfragen in Sachsen an! Das Schlimme im Saarland ist:Rund 10 Prozent der jungen Wähler bis 25 Jahre habenNPD gewählt. Die Wähler der NPD sind keine altenNazis, sondern junge Leute. Wir alle haben nur ein be-grenztes Zeitfenster, um notwendige Veränderungen zuvollziehen; ansonsten werden alle Parteien verlieren.Schauen Sie einmal über die Grenzen unseres Lan-des! Ich bin in der Südpfalz aufgewachsen. Das Elsassist eine wohlhabende Region. Dort ist kein Militär ein-marschiert; dort waren keine Panzer. Bei der letzten Re-gionalwahl hat der Front National, die DVU Frank-reichs, mehr als 30 Prozent der Stimmen erhalten.Schauen Sie nach Italien! Da gibt es im Grunde keineSozialdemokratie und keine liberale Partei. Die Demo-crazia Cristiana ist eine Splitterpartei, die 1 Prozent derStimmen erhält. Dort gibt es völlig andere politischeStrukturen, wobei ich nicht glaube, dass wir mit diesenStrukturen glücklicher wären.Deshalb ist es höchste Zeit. Was zu tun ist, wissenwir. Dies steht jedes Jahr im Gutachten des Sachverstän-digenrats. Es ist in Veröffentlichungen der Bundesbankund des IWF nachlesbar. Die Europäische Kommissionmahnt Deutschland, endlich glaubwürdige, mit Prinzi-pien und Charakter versehene Reformen durchzuziehen.Warum tun wir das nicht? Warum verharren wir vorder-gründig bei Detailpunkten, während das Land weiter vorsich hindümpelt? 6 Millionen Arbeitslose sind 6 Millio-nen Schicksale, die nach Veränderung schreien.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Ludwig Stiegler von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie alleJahre wieder: Herr Brüderle bläst Trübsal und lässt die
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Ludwig StieglerWelt untergehen. Herr Merz teufelt schneidig aus demHandtäschchen von Frau Merkel,
und zwar mit herzlich wenig Kenntnissen versehen.
Alle seine Prognosen sind am unteren Rand. Ernimmt nicht zur Kenntnis, was die Fachleute sagen, weiler ansonsten nicht mehr anklagen könnte. Er ist ein ge-lehriger Schüler von Franz Josef Strauß: nur anklagen.
Was er zum Export erzählt, ist Unsinn. Wir haben mitder internationalen Arbeitsteilung in der Wertschöp-fungskette der Exportindustrien Erfolg gehabt. Wir ha-ben mehr Arbeitsplätze als vorher, auch wenn die eineoder andere Arbeitsteilung notwendig war und notwen-dig bleiben wird.
Man sollte zumindest die Zahlen zur Kenntnis neh-men und man sollte froh sein, dass Deutschland in derWelt von morgen und insbesondere in einer Zeit, in dersich der Schwerpunkt der Weltwirtschaft in RichtungAsien bewegt, eine starke Exportnation ist und bleibt.Wir sollten alles dafür tun, dass wir an dieser Stelle starkbleiben, und sollten uns nicht mit Mäkeleien aufhalten.
Was Herr Merz über die PSA sagt, ist pure Mäkelei.
Was er über die Ich-AGisten sagt, ist im Grunde völligdaneben. Noch nicht einmal ein Jahr wirkt das Instru-ment und schon weiß Herr Merz, dass nur 10 Prozentüberleben.
Sie plaudern nur die Dampfplaudereien von HerrnPhilipp nach. Dieser will keine Ich-AGs. Sie wollten dieIch-AGisten von vornherein nicht haben. Darum muss-ten Sie sie schon von vornherein zum Untergang verur-teilen.Herr Clement geht den richtigen Weg. Wir unterstüt-zen die Ich-AGs jetzt mit Qualifizierungen und mit Busi-nessplänen. Wir sollten den Menschen Mut machen undnicht sagen; jeder Zehnte wird scheitern.
Besonders unsinnig waren die Bemerkungen zumJobfloater. Es hörte sich an, als hätten wir Geld in einerZeit weggegeben, in der die Kreditwirtschaft den Mittel-stand hat verhungern lassen. In dieser Situation hat derJobfloater der KfW dazu beigetragen, dass Investitionenwieder in Gang gekommen sind. Es waren keine Zu-schüsse, sondern Kredite, mit denen Arbeitsplätze ge-schaffen worden sind. Dafür muss sich niemand ent-schuldigen. Wäre Herr Merz auf der Höhe der Zeit – alsVerwaltungsratsmitglied der KfW müsste er es eigent-lich sein –, wüsste er, dass die Jobfloater längst in dieKategorie Unternehmerkredit weiterentwickelt wordensind und dass die KfW daraus ein wirklich Wachstumschaffendes Finanzierungsinstrument gezaubert hat.Dies alles erfolgte, wie gesagt, in einer Zeit, in der dieBanken ihrer Aufgabe nicht gerecht geworden sind.
Einen besonderen Pappkameraden stellen seine An-merkungen zu Hartz IV dar. Er beklagt die fehlendeDezentralisierung, obwohl das ganze Konzept auf De-zentralisierung angelegt ist. Wir haben immer gesagt,dass im Gegensatz zu Ihrer Zeit, als Herr Stingl und an-dere das Sagen hatten, nicht mehr der Wasserkopf inNürnberg alles entscheiden darf, sondern die vielen krea-tiven Köpfe vor Ort die notwendigen Entscheidungentreffen sollen. Schauen Sie doch wenigstens einmal insGesetz hinein, bevor Sie polemisieren! Es wäre dann imHinblick auf die politische Kommunikation vielleichtleichter.Meine Damen und Herren, um das, was er heuchle-risch – –
– Vielleicht auch nicht. Ich nehme das Wort Krokodils-tränen; das klingt etwas neutraler. – Hinsichtlich dessen,was er zur Ost-West-Spaltung gesagt hat, muss ich sei-nem Gedächtnis ebenfalls nachhelfen. All das, was mo-mentan bestritten wird, haben die Herren Ministerpräsi-denten aus den neuen Ländern kurz vor Weihnachten mitverabschiedet. Heute geht es nicht um das, wogegen sieim Juli gestimmt haben; für die Frage der kommunalenOption hat sich bei den Montagsdemonstrationen keinMensch interessiert. Die Grundentscheidung ist mit derZustimmung von Herrn Milbradt im Dezember gefallen.Damals hat er die 349 Millionen Euro gerne mitgenom-men.
Auch das, was Sie zum Haushalt der GA sagten, istfalsch. Meine Damen und Herren, wir haben bei der GAnachgebessert.
Dort, wo es um ein paar aktuelle Dinge am Rand geht,werden wir es auch noch hinbekommen.
– Entschuldigung, es ist bei den Haushaltssperren undden Verpflichtungsermächtigungen nachgebessert wor-den. Inzwischen können die Länder über den größtenTeil der Mittel verfügen. Jetzt geht es noch um ein Delta,
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Ludwig Stieglerweil die Baransätze für die Folgejahre mit den Verpflich-tungsermächtigungen noch nicht hundertprozentig über-einstimmen. Auch dies werden wir noch hinbekommen.Das ist eine Folge der Verabredungen von Koch undSteinbrück.
Daran, dass Mittel nicht vorhanden sind, wird jedenfallskeine Investition scheitern.
– Das werden Sie nicht erleben. Das würden Sie zwargern beklagen; das werden Sie aber nicht erleben.Was der Bierdeckelexperte dann zu Steuern und Ab-gaben im internationalen Gefüge sagte, folgte der Me-thode: Ich glaube nur der Statistik, die ich selber ge-fälscht habe. Inzwischen habe ich mir von Karl Dillersagen lassen, dass der von Herrn Merz zitierte famoseProfessor auf Malta so viele Unternehmen wie inDeutschland befragt hat. Sie haben sich hier also auf einverdammt „repräsentatives“ System bezogen. Bevorman hier über das komplexe Steuersystem in Deutsch-land redet, sollte man lieber über Berater reden, die dieKommunen und den Staat um ihren gerechten Anteil amUnternehmensertrag bringen wollen.
Unser Steuerrecht ist nur deshalb so komplex geworden,weil viele den stillen Gesellschafter Staat um seinen An-teil bringen wollen, gleichzeitig aber beklagen, dass zuwenig in Infrastruktur oder Bildung investiert werde.Herr Austermann, Sie mit Ihren Zahlenprognosensind ohnehin kein guter Kronzeuge.
Herr Merz sollte sich mehr um Herrn Rüttgers kümmern.Er hätte genug damit zu tun, wenn er seinen Rückwärts-und Vergangenheitsminister nach vorne holte.
Meine Damen und Herren, niemand kann davon ab-lenken, dass die Erholung der Wirtschaft in Gangkommt. Niemand kann davon ablenken, dass die Exportebrummen und Marktanteile in der Weltwirtschaft errun-gen worden sind.Auch wenn Sie sich noch so sehr in Ihrem Bärenstallsuhlen wollen, auch wenn Ihnen der Sumpf noch so sehrgefällt, der Sonnenstrahl des Optimismus wird IhrenSumpf des Pessimismus austrocknen. Es wird dort zu-nehmend ungemütlich.
Die Rahmenbedingungen stimmen. Wenn die deut-sche Wirtschaft zu Ihrer Regierungszeit solche Rahmen-bedingungen gehabt hätte, wie sie heute bestehen, hättesie Feste gefeiert, gegen die der Tanz um das GoldeneKalb ein kleiner Event gewesen ist. Das muss man Ihnenimmer wieder entgegenhalten. Noch nie waren die Steu-ern für die Untenehmen so niedrig wie heute. Die Lohn-nebenkosten sinken und die Gesundheitsreform wirkt.Mit der Gesundheitsreform war das auch so eine Sa-che. Als wir sie mit Ihnen zusammen ausgearbeitet ha-ben, hat sich Horst Seehofer feiern und fotografieren las-sen und von der glücklichsten Nacht seines Lebensschwadroniert. Mancher hat damals gezweifelt, ob ernoch nichts Anständiges erlebt hat.
Dann ist er davongelaufen und wollte die Verantwortungdafür nicht übernehmen. Jetzt hat Ulla Schmidt das Kindgroßgezogen, jetzt würde er sich wieder gern mit demTöchterchen fotografieren lassen.
Diese Art und Weise kann weiß Gott nicht angehen. DieGesundheitsreform erzielt gerade erste Wirkungen unddie Arbeitsmarktreformen schaffen bei den Beteiligtenneues Vertrauen in die Handlungsfähigkeit dieses Lan-des.Schauen Sie sich doch an, was wir zur Vereinbarkeitvon Familie und Beruf und im Bereich der Schulen ge-leistet haben. Damit wollen wir die künftige Erwerbstä-tigkeit von Frauen und die Vereinbarkeit von Familieund Beruf erleichtern. Das ist eine Riesenaktion für diewirtschaftliche Zukunft unseres Landes. Wir wollen da-mit das Potenzial der Frauen für dieses Land voll nutzbarmachen und gleichzeitig die Chancengleichheit verbes-sern.
Schauen Sie sich an, was wir für die Kommunen tun:Die Steuerreform hat gegen Ihren Widerstand Verbesse-rungen für die Kommunen gebracht; 2,5 Milliarden Eurowerden durch die Arbeitsmarktreform freigesetzt,
das heißt, das Handwerk kann wieder auf kommunaleInvestitionen bauen. Wir fordern die Innenminister derLänder von dieser Stelle aus auf: Lockert den Schulden-deckel in den Städten und Gemeinden, die noch unterKuratel stehen. Die Steuersenkungen und die Entlastun-gen durch Hartz IV sind nicht beschlossen worden, umSchulden von einem Titel auf den anderen zu buchen,sondern sie sind beschlossen worden, um wieder Investi-tionen in den Kommunen zu finanzieren. Darüber solltenwir uns miteinander unterhalten. Hier müssen alle Chan-cen genutzt werden. Dann lacht auch Ernst Hinsken wie-der.
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Ludwig Stiegler
Auch der Haushalt trägt dazu bei, und zwar in derFassung, in der wir ihn vorgelegt haben. Wir gehen nichtvor wie Herr Stoiber, der hier mit seiner 5-Prozent-Ra-senmähermethode alles durcheinander bringt, oder wieHerr Austermann, der von der Hälfte des Preises spricht.Das ist übrigens wieder typisch Union: Die einen singendas Lied „Spart!“ und die anderen singen das Lied „Gebtmehr aus!“. Das ist die reinste Kakophonie. ModerneMusik ist im Vergleich zu dem, was Sie hier aufführen,ein Ohrenschmaus. Sie müssen die Konsequenzen zie-hen und deutlich machen, was Sie eigentlich wollen.
Wollen Sie, dass der Haushalt seinen Beitrag zur Sta-bilisierung der Konjunktur leistet, oder möchten Sie lie-ber alles abwürgen? Wenn Sie Letzteres wollen, könntendie Pessimisten unter Ihnen wieder klagen. Wir werdenihnen diese Gelegenheit aber nicht geben.
Hören wir auf, den Aufbau Ost schlecht zu machen!Auch im Osten ist das Glas mehr als halb voll. Wenn ichdie von Ihnen zu verantwortende Überhitzung der Bau-wirtschaft – Sie haben durch Ihre Abschreibungsmodelleeine Fehlinvestitionswelle im Osten ausgelöst, die jetztabebben muss – außer Acht lasse, kann ich feststellen: Inder gewerblichen Wirtschaft kommt der Aufbau Ostvoran und wir sollten niemandem erlauben, das mies zumachen.Schauen Sie nach Dresden! Was haben der Bundes-wirtschaftsminister und Edelgard Bulmahn in Dresdengeleistet! Wir können darauf stolz sein, dass sich die IT-Region so entwickelt hat. Bedanken Sie sich dafür, stattalles mies zu machen!
– Was heißt „Herr Milbradt“? Ohne das Geld vonEdelgard Bulmahn hätte Herr Milbradt auf Demonstra-tionen mit dem Fähnchen hinterherlaufen, aber nicht in-vestieren können.
Das konnte überhaupt nur mit dem Geld der Bundesre-gierung gehen.
Es gehört zum Grundanstand, einen gemeinsam errunge-nen Erfolg auch gemeinsam zu feiern und nicht zu versu-chen, die Partner zu betrügen.
Der Aufbau Ost kommt voran. Die I-Zulage ist si-chergestellt und die letzten Ungereimtheiten der Ge-meinschaftsaufgabe werden so beseitigt, dass im Ostenkeine Investitionen verloren gehen werden.
– Im letzten halben Jahr ist eine Menge passiert.
Wir sagen den Mitbürgerinnen und Mitbürgern im Ostenaber auch: Wir brauchen mehr Mut zur Selbstständig-keit. Wir werden den Schwerpunkt auf die Gründungneuer Unternehmen setzen müssen. Es kann keiner da-rauf warten, dass ihm gebratene Tauben in Form von In-vestitionen aus dem Westen ins Land fliegen. Wir müs-sen hier Hilfe zur Selbsthilfe organisieren.Dafür hat diese Koalition mit der Mittelstandsfinan-zierung eine Menge getan.
Wir haben die Steuern deutlich gesenkt. Wenn der Auf-schwung kommt, kann wieder Eigenkapital aufgebautwerden.
Die Mittelständler haben ganz erhebliche Probleme. Wirhaben aber mit der Restrukturierung der Mittelstands-bank des Bundes die Voraussetzungen dafür geschaffen,dass der Mittelstand Beteiligungskapital bekommt, ohnean die Börse gehen zu müssen, dass er in den Genuss derMezzanininstrumente sowie der Nachrangdarlehenkommt. In diesem Herbst werden die entsprechendenGründungsfonds, die Dachfonds, eingerichtet, was derBundeswirtschaftsminister eingeleitet hat und wofür wirdie steuerlichen Voraussetzungen geschaffen haben.Das Hauptproblem war, dass sich die hier gestern vonMichael Glos so bedauerten Banken mit ihren Invest-mentbankern an den internationalen Börsen verspeku-liert und Geld in der Größenordnung von zwei bis dreiBundeshaushalten verloren haben. Sie haben dann denMittelstand nicht mehr mit Krediten versorgt, sodassselbst der normale Geschäftsbetrieb nicht aufrechterhal-ten werden konnte. Hier haben Wolfgang Clement undHans Eichel mit der KfW dem Mittelstand mit neuenProgrammen unter die Arme gegriffen und dafür bin ichdankbar.
Jetzt fängt selbst die Deutsche Bank an, über den Kre-ditkanal zu klagen, obwohl sie früher selbst zu denSchlimmsten gehört hat. Fragen Sie einmal die Mittel-ständler in den Flächenstaaten, wie die Bank mit ihnenumgegangen ist! – Herr Präsident, der Kollege Hinskenmöchte meine Redezeit verlängern.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 2004 11233
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Herr Kollege Stiegler, ich wollte Sie gerade fragen,
ob Sie die Zwischenfrage zulassen wollen.
Immer.
Bitte schön, Herr Hinsken.
Herr Kollege Stiegler, Sie haben eben das Hohelied
des Mittelstands gesungen und darauf verwiesen, dass es
gilt, Existenzen zu sichern und neue Existenzen zu
schaffen. Meine Frage lautet deshalb: Worauf führen Sie
es zurück, dass allein in den letzten zwei Jahren in der
Bundesrepublik Deutschland 80 000 Betriebe in Kon-
kurs gegangen sind und diese Zahl in letzter Zeit leider
wieder steigt und somit zu befürchten ist, dass es in die-
sem Jahr sogar einen neuen Konkursrekord in der Bun-
desrepublik Deutschland gibt?
Ich empfehle die Studie der Creditreform. Ihr kannman entnehmen, dass die Gründe dafür sind: 75 Prozenteigene Schuld, kein Controlling, keine Unternehmens-planung, zu einem großen Teil fehlendes Eigenkapital.
Unsere Maßnahmen zielen genau auf diese Punkte: DerBeratungsetat wird entsprechend erhöht. Es gibt auchverstärkt die Möglichkeit, Beteiligungskapital zuzufüh-ren. Hinzu kommt, dass viele Banken in den letzten Jah-ren aufgrund ihrer eigenen Krise den Kredithahn zu frühzugedreht und dadurch Zehntausende von Unternehmenruiniert haben, die eigentlich hätten überleben können.Das habe ich in meiner Region immer wieder erlebt.Jetzt, da die KfW und auch die Landesförderbanken zurUnterstützung bereit sind, gibt es wieder Überbrü-ckungsdarlehen und auch Kredite für Sanierungen.Aber der Mittelstand muss sich auch Kenntnisse übermoderne betriebswirtschaftliche Instrumente aneignen.Die Hosentaschenbuchhaltung hat ein Ende. Eine mittel-fristige Finanzplanung gehört ebenfalls dazu. Man kannnicht immer sagen, die bösen Rahmenbedingungen hät-ten den Mittelstand ruiniert.
Gerade als Handwerksfunktionär muss man sich aucheinmal an die eigene Nase fassen und fragen, wer viel-leicht mit Schuld hat. Das sind nicht immer der Staat unddie Rahmenbedingungen. Man muss sich fragen, ob manalles getan hat, was man heute für eine kaufmännischeUnternehmensführung braucht.
Meine Damen und Herren, zum Thema Beteiligunggehört auch die Mitarbeiterbeteiligung. In Zukunftwerden wir Mitarbeiter in zunehmendem Maße ermuti-gen müssen, sich an den Unternehmen, in denen sie ar-beiten, zu beteiligen. Hier besteht noch die Notwendig-keit, gesetzgeberisch tätig zu werden. Die Mitarbeiterwerden nicht dem reinen Shareholder-Value-Denkenverfallen, sondern gerade in Zuliefererbetrieben und inländlichen Regionen zur Stabilität ihrer Unternehmenbeitragen. Wir haben die Weichen in Richtung Wachs-tum des Sozialprodukts und nicht nur in Richtung Vertei-lung des Sozialprodukts gestellt. Es wird eine großeAufgabe sein, nun eine neue Kultur der Selbstständigkeitzu begründen. Dazu gehören die Qualifikation und dienotwendige Finanzierung.Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang einerBranche Dank sagen, die sehr viel für unsere Arbeits-und Ausbildungsplätze tut, dem Tourismus. Sie hat inden letzten Jahren weiß Gott einen großen Beitrag ge-leistet. Wir wünschen dem Tourismus, gerade demDeutschlandtourismus, durch die Weltmeisterschaft Er-folge. Ich danke dem Bundeswirtschaftsminister, dassdie Zuschüsse an die Deutsche Zentrale für Tourismusstabil geblieben sind, sodass wir den Incoming-Touris-mus entsprechend fördern können.
– Im letzten Jahr gab es in diesem Bereich einen Zu-wachs an Ausbildungsplätzen. Ich denke, wir werdenhier auch in Zukunft vorankommen. Jedenfalls müssenwir alles dafür tun, dass diese Branche ihren Beitrag leis-tet.Zur Energiepolitik hat Wolfgang Clement alles ge-sagt. Aber ich warne Sie vor kurzatmigem Populismus,wenn Sie meinen, jetzt über die Unternehmen herfallenzu können. Sie kriegen die Prügel, die sie brauchen. WerLuftballonpreiserhöhungen ankündigt und sich dann,wenn auf diese Luftballons geschossen wird, zurück-zieht, der ist nicht sonderlich seriös. Grundsätzlich istaber klar: Wir werden die Rahmenbedingungen so ge-stalten, dass Versorgungssicherheit und stabile Netze ge-währleistet sind. Ich möchte das Geschrei hören, solltedas eines Tages anders sein.Es zeigt sich auch angesichts der Entwicklung imEnergiebereich, dass die Politik nach dem Motto „wegvom Öl“ richtig war. Herr Brüderle, Ihre Rückkehr zurAtomwirtschaft, ohne dass die Entsorgung gewährleistetist, bleibt ein alter Irrtum. Hören Sie endlich mit IhrerAtommeilerei auf! Wenn Sie den Dreck selbst zu sich indie Pfalz nehmen, dann können wir miteinander reden.Aber zu glauben, dass die Entsorgung in anderen Regio-nen stattfindet und Sie den Nutzen haben, das haut nichthin.
Die Stagnationskrise ist überwunden. Die Innovatio-nen kommen voran. Sie wollen zwar, wie auch ProfessorSinn, Herr Milbradt und andere, Niedriglöhne einführen,aber diesen Weg gehen wir nicht mit. Nein, dieses Land
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Ludwig Stieglersoll eine hoch qualifizierte Volkswirtschaft sein und blei-ben. Dazu gehören die Erneuerung der Bildungskette,die Qualifikation, der Technologietransfer und nicht zu-letzt der Ausbildungspakt. Denn unsere Zukunft hängtdavon ab, dass jeder junge Mensch in das Wirtschaftsle-ben integriert wird. Dafür schaffen wir mit Hartz IV dieVoraussetzungen. Erstmalig wird jeder junge Mensch abdem 1. Januar 2005 einen Rechtsanspruch auf eine Ar-beit, eine Arbeitsgelegenheit, eine Ausbildung oder eineQualifikation haben. Helfen Sie dabei mit! Das ist diebeste Zukunftssicherung. Aber hören Sie mit Ihrem Pes-simismus auf!Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dagmar Wöhrl von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!20 Minuten Ludwig Stiegler haben zwar einen großenUnterhaltungswert, aber leider wenig Inhalt.Seit sechs Jahren erleben wir jedes Jahr im Septemberdasselbe Trauerspiel:
In einer unwahrscheinlichen Dreistigkeit wird uns einFantasieprodukt unter die Nase gehalten, von dem wirwissen, dass es das Papier, auf dem es gedruckt ist, nichtwert ist.
Alle sechs Jahre legen Sie Zahlen zugrunde, die sichnicht halten lassen, und jedes Mal wissen Sie, dass Sievor einem Haushaltsfiasko stehen. Sie bringen keinerleiIdeen, wie Sie den Haushalt wieder in die richtige Rich-tung lenken können, wie Sie die Staatsschulden in denGriff bekommen wollen, wie Sie die Ausgaben unterKontrolle bekommen wollen und wie Sie wenigstensmittelfristig die Finanzen des Staates auf eine seriöse,solide und berechenbare Grundlage stellen wollen.Das allergrößte Defizit Ihrer Haushaltsplanung ist derVertrauensverlust, den Sie verursachen,
der Vertrauensverlust bei der Bevölkerung und auch beiden Unternehmen vor Ort.
Sie wissen ganz genau, dass dieser Vertrauensverlust dergrößte Wachstumskiller ist, den wir haben. Auch wennHerr Eichel sich hier hinstellt und sagt, das wäre dieKonsolidierung – von dieser Regierung wird keine Kon-solidierung betrieben. Das zeigt die Tatsache, dass es al-lein 26 Milliarden Euro Mehrausgaben gegenüber 1998gibt.Wenn man sich andere Länder anschaut, Irland, Spa-nien, Dänemark oder Finnland, stellt man fest: DieseLänder haben es geschafft, in der Krise mit dem Sparenanzufangen, und zwar mit Erfolg. Sie haben gezeigt,dass es keine Diskrepanz gibt zwischen Sparen undWachstum. Wir haben ein anderes Problem mit demSparen, nämlich bei unserer Bevölkerung. Warum spartunsere Bevölkerung, warum wächst unsere Sparquote?Das ist ein Angstsparen aufgrund der Politik, die Siepraktizieren. Die Sparquote kann nicht sinken, solangedie Menschen nicht wissen, wie Sie in der Zukunft fürdie Schulden des Staates aufkommen wollen, und so-lange sie das Gefühl haben, dass Sie die Zukunft ihrerKinder verfrühstücken: mit Ihrer Schuldenmacherei,durch das Verscherbeln des letzten Tafelsilbers
und durch Ihren fehlenden Sparwillen. Sie machen wirk-lich eine Politik nach dem Motto „Nach mir die Sint-flut“.
Von Nachhaltigkeit, die Sie immer wieder anzubrin-gen versuchen, findet man in Ihrer Politik, durch alleRessorts hindurch, nicht das Geringste.
Unsere Situation verschlechtert sich von Jahr zu Jahr.Immer mehr Unternehmen verlassen fluchtartig dasLand. Wieso wollen denn inzwischen 43 Prozent derUnternehmen abwandern? 2003 waren es erst 38 Pro-zent. Was kam denn bei der Umfrage des DIHK heraus?Ausländische Standorte stellen also zunehmendeine echte Alternative zur heimischen Produktion …dar.Das ist die Realität. Das kann man doch nicht leugnen.Es ist nicht mehr wie früher, als es nur die Großindustriewar, die ins Ausland gegangen ist. Inzwischen sind esdie kleinen und mittleren Betriebe, die die Flucht ergrei-fen, um wirtschaftlich überleben zu können.Deutschland ist wegen seiner Sozialbeiträge einesder teuersten, wenn nicht sogar das teuerste Produktions-land der Welt. Die Kostendifferenzen betragen bis zu80 Prozent. Der Satz, den man früher immer im Mittel-stand gesagt hat – „lebenslang Deutschland“ –, giltschon lange nicht mehr.Unser Problem ist ein ganz anderes: Wir haben eineneue Art der Verlagerung. Inzwischen sind es die kapi-tal- und wissensintensiven Unternehmensteile – Verwal-tung, Forschung, Entwicklung –, die ins Ausland gehen.In der Elektrobranche, in der chemischen Industrie, imMaschinenbau wird zukünftig in Breslau und in Bratis-lava entwickelt, geforscht und investiert, nicht mehr in
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Dagmar WöhrlBaden-Württemberg und Berlin, wie es vorher gewesenist. Die Folge ist, dass hier immer mehr Arbeitsplätzegestrichen werden, dass Arbeitsplätze nicht mehr hiergeschaffen werden, sondern in Polen, Tschechien undUngarn. Wir werden es erleben, dass allein dieses Jahr50 000 neue Arbeitsplätze im Ausland geschaffen wer-den, und zwar von deutschen Unternehmen. Das bedeu-tet netto einen Beschäftigungsverlust für Deutschland.Das ist das, was uns zu denken geben sollte. Unser beto-nierter, überregulierter Arbeitsmarkt schafft es nicht, dieverlagerten Arbeitsplätze durch neue zu ersetzen; diesesProblem müssen wir angehen.
Herr Stiegler, Sie können sich hier hinstellen undnochmals das Hohelied des Exportweltmeisters bringen.Exportweltmeister kann man auch ohne Wertschöpfungsein.
Es stimmt nicht, dass die Wertschöpfung bei uns zu-nimmt. Nehmen Sie allein die Automobilindustrie: Inder Automobilindustrie haben wir in Deutschland inzwi-schen nur noch eine Wertschöpfung von 20 Prozent.
Wir verlieren nicht nur Fertigungstiefe, wir habenauch das weitere Problem, dass hier nicht mehr so inves-tiert wird wie früher. Inzwischen sind die Auslandsin-vestitionen unserer Unternehmen genauso hoch wie dieInvestitionen hier in Deutschland. Wie Umfragen erge-ben haben, verschieben 40 Prozent aller kleineren undmittleren Unternehmen ihre Investitionen. Zudem haltensie Investitionen in einer Höhe von 15 Prozent desJahresumsatzes zurück. Rechnen Sie das einmal gesamt-wirtschaftlich hoch! Investitionen in Höhe von 15 Pro-zent des Jahresumsatzes werden zurückgehalten. Das be-deutet längerfristig, dass die Wachstumsrate um5 Prozent niedriger ausfällt. In unserer jetzigen Situationwürden wir uns die Finger lecken, wenn wir eine solcheSteigerung hätten. Das ganz große Problem ist: Wo sindIhre Antworten auf diese wirklich drängenden Fragen?
Herr Stiegler, um die Haushaltslöcher zu stopfen, tunSie etwas, bei dem Ihnen das Herz bluten müsste. Unserbester Mittelstandstopf, den wir seit vielen Jahrzehntenhaben, das ERP-Sondervermögen, wird für 2 Milliar-den Euro cash an die KfW weggegeben, sozusagen ver-schenkt. Das Eigenkapital dieses Mittelstandstopfes be-trägt 12,7 Milliarden Euro. Seine Bilanzsumme beläuftsich auf 32,9 Milliarden Euro. Ein solches Vorgehen istgesetzlich eigentlich gar nicht zulässig, weil wir ein Sub-stanzerhaltungsgebot bezüglich des ERP-Sondervermö-gens haben. Diese Mittel werden aber an die KfW flie-ßen. Dadurch wird dieser Förderungstopf, der zentraleBaustein der Mittelstands- und der Existenzgründungs-politik, 2 Milliarden Euro weniger enthalten.Dieser Topf hat eine Erfolgsbilanz ohnegleichen: Al-lein seit 1949 wurden 111 Milliarden Euro zur Wirt-schaftsförderung eingesetzt. Mit ihm wurden gut8 Millionen neue Arbeitsplätze gefördert und wurdedazu beigetragen, Arbeitsplätze zu sichern. 1,7 Millio-nen Betriebe haben davon profitiert.
Frau Kollegin Wöhrl, erlauben Sie eine Zwischen-
frage der Kollegin Barnett?
Ja.
Bitte schön, Frau Barnett.
Vielen Dank, Kollegin Wöhrl. Sie singen hier das Ho-
helied des Arbeitsplatzabwanderns und sagen, dass nicht
abgebaut, sondern alles vernichtet wird. Ich nehme an,
dass Sie die KfW nicht als einen Klickerverein, sondern
als eine Institution betrachten, deren Arbeit auf fundier-
ten Daten beruht.
– Ach so, ob sie richtig oder falsch arbeitet, hängt davon
ab, wer gerade an der Regierung ist. Ich verstehe.
Wie stehen Sie zu der Aussage, die in der September-
ausgabe des „Wirtschaftsbarometers“, herausgegeben
von KfW-Research, steht? Ich zitiere:
Die im Juli von der KfW-Bankengruppe geförder-
ten Mittelständler wollen im Gefolge des finanzier-
ten Investitionsprojekts ihre Arbeitsplatzzahl um
5,9 Prozent erhöhen, genauso viel wie im Monat
zuvor.
Gut, Sie müssen natürlich auch sagen, in welchemBereich erhöht werden soll. Wenn Sie sich die DIHK-Umfragen, die Kammerumfragen und viele andere Um-fragen anschauen, dann erkennen Sie, dass es im Mo-ment vor allem im industriellen Bereich einen immensenArbeitsplatzabbau gibt.Unser ganz großes Problem momentan ist, dass unserindustrieller Bereich schrumpft, während andere Länder,die die gleichen weltwirtschaftlichen Rahmenbedingenwie wir haben, ihre Industriebereiche ausbauen. Ohnedie Industriebereiche werden aber auch die Dienstleis-tungsbereiche nicht wachsen, sodass dort keine weiterenArbeitsplätze entstehen. Deswegen bezweifle ich diehier angeführte Aussage, dass das für alle Bereiche zu-trifft.Der Kollege Hinsken hat vorhin die Zahl der Insol-venzen angesprochen. Diese werden in diesem Jahr aufüber 40 000 wachsen. Damit ist der Verlust von Arbeits-plätzen verbunden. Daran sehen wir, dass es keinen Ar-beitsplatzaufbau gibt. Wie könnte es sonst sein, dass wir
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Dagmar Wöhrlinnerhalb von zwei Jahren über eine Million weniger Be-schäftigte haben
und dass die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Be-schäftigten jeden Tag um 1 600 sinkt? Die Zahlen wür-den ja nicht stimmen, wenn in diesem Bereich ein Ar-beitsplatzzuwachs gegeben wäre.
Lassen Sie mich auf unseren Mittelstandstopf zurück-kommen. Diesen Topf, der unabhängig vom Haushaltexistiert und den wir immer als etwas ganz Wertvollesund Wichtiges gehütet haben, entziehen Sie dem Ein-fluss des Parlaments. Das Parlament kann zukünftignicht mehr über die Programme zur Mittelstandsförde-rung entscheiden. Es kann nicht mehr – darüber habenwir bisher entscheiden können – den Nachteil des Mittel-stands gegenüber den Großunternehmen, die von denBanken immer leichter Geld bekommen als die kleinenUnternehmen, ausgleichen, weil Sie in einem Jahr kurz-fristig Ihre Haushaltslöcher stopfen wollen. Sie singenzwar immer das Hohelied des Mittelstands, aber bei denFakten versagen Sie kolossal.
Da Sie von den Energiepreisen gesprochen haben,möchte auch ich dieses Thema aufgreifen. Der Energie-preis ist nicht irgendeine Variable der Volkswirtschaft.Er ist ein immens wichtiger Standortfaktor, mit dem un-heimlich viele Arbeitsplätze verbunden sind. Es ist fürmich schon erstaunlich, mit welch populistischem Pa-thos die Preistreiberei einiger Stromkonzerne – es sind janicht alle – vollkommen zu Recht angeprangert wird. Esist wirklich unverschämt, sozusagen am Vorabend derRegulierung noch einmal richtig Kasse zu machen. Ichglaube, auch Sie, Frau Hustedt, stimmen mir da zu. Aberwäre das Wirtschaftsministerium in der Lage gewesen,die EU-Richtlinie rechtzeitig umzusetzen, nämlich biszum 1. Juli eine Regulierungsbehörde einzurichten,wäre das gegenwärtige Vakuum gar nicht erst entstan-den.
Noch etwas muss man sehen: Es ist schamlos, in die-sem Zusammenhang den Versuch zu unternehmen, zuverschleiern, wie diese Regierung dazu beigetragen hat,dass sich die Energiepreise in den letzten sechs Jahrenerhöht haben. Allein für die Kunden waren das40 Prozent; denn 40 Prozent des Strompreises hat diePolitik zu verantworten. Die 2,3 Milliarden Euro, die derVerbraucher 1998 an den Staat, nicht an die Energiever-sorgungsunternehmen zahlen musste, sind inzwischenauf 12,3 Milliarden Euro im letzten Jahr gestiegen. Überdie Benzinpreise, bei denen über 18 Milliarden Euroüber die Ökosteuer abkassiert werden, will ich über-haupt nicht reden. Es gäbe noch viele andere Beispiele.Immer nur auf den anderen zu zeigen, um nicht selbstdie Verantwortung zu übernehmen, ist die falsche Poli-tik.In unserem Land leben 82 Millionen Menschen, da-von 26,4 Millionen Sozialversicherungspflichtige, denenüber 20 Millionen Rentner gegenüberstehen. Die Zahlder registrierten Arbeitslosen beträgt 4,5 Millionen. Wieviele es in Wirklichkeit sind, darüber möchte ich garnicht erst mutmaßen. Statistikänderung lässt grüßen!Das bedeutet, dass de facto jeder Beschäftigte inzwi-schen seinen eigenen Transferbezieher hat, den er ausseinem Arbeitseinkommen mitfinanziert. Das Missver-hältnis zwischen denen, die mit ihrer Arbeit durch sozi-alversicherungspflichtige Beschäftigung zum Wohl-stand aktiv beitragen, und denen, die die Wertschöpfungkonsumieren, wird immer größer.Ich habe vorhin schon angesprochen, dass bei uns dieZahl der Beschäftigten rückläufig ist, während es euro-paweit einen Zuwachs an Beschäftigung von 0,25 Pro-zent gibt. Dadurch kommen wir in die Situation, dass dieSozialbeiträge unter Druck geraten. Niemals in der deut-schen Geschichte ist der Faktor Arbeit mit derart hohengesetzlich fixierten Lohnzusatzkosten so verteuert wor-den wie unter Rot-Grün. Das ist ein Fakt. Auf den Job-floater und die anderen falschen Subventionen, die aufden Weg gebracht wurden, will ich gar nicht näher ein-gehen. Man muss sich das aber einmal vorstellen:72 000 Euro pro Arbeitsplatz für den Jobfloater. EinPSA-Arbeitsplatz wird mit 38 000 Euro pro Jahr subven-tioniert. – Angesichts dieser Zahlen fragt man sichschon: Wird hier das Geld richtig angelegt? Wie Sie sichvorstellen können, bezweifeln wir das.
Die Wahrheit ist – das wissen Sie –, dass man in unse-rem Land mit Ende vierzig nur sehr schwer eine Arbeitfindet und dass die 1,7 Millionen Langzeitarbeitslosenvon Maßnahme zu Maßnahme gereicht werden, ohne jewieder einen wettbewerbsfähigen Arbeitsplatz zu be-kommen. Über 50 Milliarden Euro geben wir in diesemLand inzwischen für die Arbeitslosigkeit aus, fast dieHälfte davon für aktive Arbeitsmarktmaßnahmen.
Frau Kollegin Wöhrl, bitte.
Kein Land auf der Welt – danke, Herr Präsident – be-treibt mehr aktive Arbeitsmarktpolitik als wir und keinLand ist so erfolglos wie wir. Das kann man nur damitbegründen, dass von Rot-Grün bei der Arbeitsmarktpoli-tik und in vielen anderen Bereichen ein falscher Wegeingeschlagen worden ist. Man versucht immer, den Ku-chen zu verteilen, der vorhanden ist, aber man versuchtnie, den Kuchen zu vergrößern. Man geht Arbeits-marktreformen nicht an,
man bringt kein modernes Kündigungsschutzgesetz aufden Weg, man fördert den Niedriglohnsektor nicht –
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Frau Kollegin Wöhrl, bitte.
– und viele andere Dinge mehr.
Arbeit ist vorhanden, aber sie ist nicht bezahlbar, Herr
Stiegler. Die Schattenwirtschaft mit einem Volumen von
400 Milliarden Euro spricht für sich.
Wir haben ein Problem, wir haben eine Verunsiche-
rung, die Menschen haben keine Hoffnung mehr. Die
Hoffnung braucht Träger und die sind Sie ganz bestimmt
nicht.
Das Wort hat jetzt der Kollege Fritz Kuhn vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die hochverehrte Frau Wöhrl hat gerade dasWort Angstsparen gebraucht. Wenn man eine Rede wiedie Ihre hört, dann kommt Angstsparen erst richtig auf.
Das ist doch logisch. Sie machen nichts anderes, als IhreRedezeit mit Aussagen darüber zu füllen, wie mies undelend es in Deutschland ist.
Wer dies an den Fernsehschirmen hört, der muss denken,er sei der letzte Idiot, wenn er überhaupt noch einenEuro ausgibt. Das ist die Wirkung Ihrer Reden. Ich bitteSie, in einer ruhigen Minute – das müssen Sie nicht jetzttun – darüber einmal nachzudenken.
Wir haben eine Haushaltsdebatte. Dazu haben Sieauch eine Bemerkung gemacht. Darauf will ich kurz ant-worten. Ich habe mir die Reden gestern und vorgesternangehört, auch das, was Sie gesagt haben. Ich stelle Fol-gendes fest: Sie werfen der Regierung a) vor, sie gebe zuviel aus, und Sie werfen ihr b) vor, sie gebe zu wenigaus, zum Beispiel für Investitionen. Das ist ein bisschenwidersprüchlich, aber Sie und auch Herr Austermann ha-ben bislang keine Sparliste vorgelegt, auf der steht, wodie Union einsparen will. Der einzige Vorschlag ist dieEinsparung von 5 Prozent nach der Rasenmähermethodevon Herrn Stoiber. Ich bin mir sicher, dass niemand vonIhrer Fraktion diese Forderung in der letzten Konse-quenz durchhält, weil wir sonst bei entscheidenden Zu-kunftsinvestitionen sparen müssten. Das heißt, Sie erhe-ben Kritik, haben aber in diesem Parlament in keinerWeise gesagt, wie Sie das insgesamt machen wollen.Deswegen ist die Kritik billig und in der Weise auchnicht zu rechtfertigen.
Herr Merz, ich will etwas zum Standort Deutsch-land sagen, weil Sie darauf eingegangen sind. Es istdoch völlig klar, dass wir positive Seiten haben und dasswir noch Schwächen haben. Nur in diesem Bewusstseinkann man eine vernünftige wirtschaftspolitische Debatteführen. Lasst uns zu unseren Stärken stehen und lasstuns an unseren Schwächen arbeiten!Ich will zwei Punkte aufgreifen, weil Frau Wöhrl ge-sagt hat, wir hätten keine Arbeitsmarktreform. Erstens.Frau Wöhrl, der Chefökonom der Allianz, MichaelHeise, hat vor zwei Wochen in den Medien gesagt, mitdiesen Reformen, die wir gerade machen, nämlichHartz IV und den anderen Hartz-Gesetzen, würden wirdie Beschäftigungsschwelle in Deutschland, die bei ei-nem Wirtschaftswachstum von 2 Prozent liegt, auf 0,8bis 1 Prozent senken können. Das heißt, in einiger Zeitkann es gelingen, dass wir bei viel geringerem Wachs-tum als in der Vergangenheit neue Jobs schaffen. Sieaber stellen sich hier frohgemut, wie Sie nun einmalsind, hin und sagen, uns fehle eine Arbeitsmarktreform.Gehen Sie doch nach München und informieren Sie sich,wie das dort gesehen wird!Zweitens. Lesen Sie das Augustheft der DeutscheBank Research. Darin werden klare Prognosen für denStandort Deutschland gemacht. Danach steigen die Aus-rüstungsinvestitionen im Jahr 2004 um 3 Prozent undim Jahr 2005 um 6,5 Prozent. Das heißt, wir haben beieinem entscheidenden ökonomischen Indikator, den dieAusrüstungsinvestitionen darstellen, einen Zuwachs. DieGesamtinvestitionen inklusive Bau wachsen – so dieAussage – im Jahr 2004 um 3 Prozent und im Jahr 2005um 4,5 Prozent. Eine weitere Zahl aus dieser Untersu-chung betrifft die Lohnstückkosten, Herr Merz. Diesesind vom Jahr 2000 bis heute im EU-Raum ohneDeutschland um 9,25 Prozent gestiegen, in der Bundes-republik im selben Zeitraum um 2,25 Prozent. Das heißt,beim entscheidenden Indikator für das produzierendeGewerbe haben wir durch die Kombination einer gutenLohnentwicklung und Produktivitätssteigerungen einepositive Entwicklung. Dieses muss man an der Stelle derDebatte auch einmal sagen.
Sie versündigen sich am Standort Deutschland, wennSie aus politischem Kalkül heraus die Zahlen nicht zurKenntnis nehmen wollen. Deswegen will ich sie hier inaller Deutlichkeit nennen.Nachdem ich gestern Frau Merkel und andere aus derUnion gehört habe, habe ich folgenden Eindruck: Sie sa-gen, die Reformen müssten schon sein. Sie stehen zuHartz; denn Sie wissen genau, dass diese Reformen not-wendig sind, damit in Deutschland wieder mehr Be-schäftigung entsteht. Das heißt, die Reformen nehmenSie gerne in Kauf, Sie wollen aber dafür sorgen, dass dieStimmung in Deutschland schlecht bleibt. Die Struktur-reformen soll die Regierung machen und die schlechte
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Fritz KuhnStimmung heizen Sie aus billigem politischen Kalkül an.Ich kann Ihnen nicht ersparen, hier ganz klar darauf hin-zuweisen. Anders kann man die Doppelstrategie ja nichterklären: Milbradt mosert in Sachsen und will amMontag demonstrieren und Sie sagen hier im Parlament,dass Hartz IV notwendig ist. Die schlechte Stimmungsoll verstärkt werden. Aber das Positive, was die Regie-rung leistet, sacken Sie schon einmal ein; denn man kannja vernünftigerweise nicht dagegen sein. Das ist einedoppelzüngige, scheinheilige Politik, die die Union hiermacht. Sie macht diese Politik zulasten der Arbeitslosen;denn die Schlechtrederei, die Sie hier betreiben, FrauWöhrl – Sie reden das Kaputtsparen ja herbei –, geht na-türlich zulasten der Arbeitslosen. Es ist doch völlig klar,dass die Situation auf dem Binnenmarkt schlecht aus-sieht und dass wir sie verbessern müssen.
Herr Merz und Frau Wöhrl haben beide das Argumentgebracht, unsere Exportstärke sei im Wesentlichen eineBasarökonomie, das heißt, wir hätten gar nicht die Wert-schöpfung, die in der Bundesrepublik notwendig wäre,da wir anderswo vorproduzieren ließen. Herr Merz, dieBetrachtung, die Sie da angestellt haben, ist falsch.Schauen Sie sich das in den einzelnen Branchen einmalan. Wir haben in der Automobilindustrie ganz klar undeindeutig mehr Arbeitsplätze, weil wir in Billiglohnlän-dern vorproduzieren.
Das können Sie jederzeit feststellen. Dass der Produkti-onswert und die Wertschöpfung nicht gleich laufen unddass es da eine Lücke gibt, hat ganz andere Gründe, diezum Beispiel mit Statistik zu tun haben. Da viele Be-triebe in Deutschland ihre Dienstleistungskomponentenund die produktionsnahen Dienstleistungen ausgelagerthaben – und zwar im Binnenmarkt –, steigt die Wert-schöpfung in diesen Bereichen nicht mehr; sie steigt abernatürlich bei den ausgelagerten Firmen. Herr Merz,schauen Sie sich, ehe Sie das Argument von Herrn Sinnwiederholen, noch einmal in Ruhe an, wie sich inDeutschland die Dienstleistungen – auch die produk-tionsnahen Dienstleistungen – entwickelt haben. Dannkommen Sie, glaube ich, zu einem anderen Urteil. AberSie wollen politisch ja etwas anderes erreichen.Auch die Exportstärke Deutschlands – wir können sa-gen, das ist ein aktives Pfund unserer Wirtschaft – sollschlecht geredet werden. Ihr Argument ist natürlich:Auch die gesteigerte Wertschöpfung bei den ausgelager-ten Unternehmen taugt nichts; denn sie sind ja nur vor-gelagert. Da liegen Sie falsch. Noch einmal, Frau Wöhrl:In der Automobilindustrie ist es anders, in der chemi-schen Industrie ist es anders; bei der Elektrotechnik hatHerr Merz Recht; beim Maschinenbau hat er wiederumnicht Recht, vor allem weil der Maschinenbau mittel-ständisch geprägt ist und deswegen Wertschöpfung undProduktionswert nicht so auseinander laufen.Jetzt komme ich zum Abschluss zu der Diskussionüber die Energiepolitik, die Sie aufgemacht haben. FrauHustedt wird dazu nachher noch einiges ausführen. Ichwill Ihnen nur sagen: Die Polemik von Herrn Merz, diewir gehört haben, es liege alles nur am Erneuerbare-Energien-Gesetz und an der Energiepolitik, ist wirklichKappes. Im letzten Jahr hat die Menge des eingespeistenStroms aus erneuerbaren Energiequellen in Deutschlandnicht zugenommen. Dennoch sagt RWE, dass die Kostensteigen würden und man jetzt so unsittliche Preiserhö-hungen machen müsse. Ich glaube, diese Tour zieht ein-fach nicht. Eine Betrachtung der Zahlen gibt das nichther, was Sie da darstellen.
Im Übrigen, Herr Merz, müssten Sie einmal erklären,warum die Ministerpräsidenten der Länder dem Erneuer-bare-Energien-Gesetz im Bundesrat zugestimmt haben,oder Sie müssen den Wählerinnen und Wählern erklä-ren, ob Sie es abschaffen wollen. Ganz konkret: WollenSie das Erneuerbare-Energien-Gesetz abschaffen? Dannsagen Sie es ganz deutlich! Sagen Sie dann auch den130 000 Menschen, die in diesem Bereich seit 1998 neueArbeitsplätze gefunden haben, dass Sie das Gesetz ab-schaffen möchten. Das wäre doch eine interessante Bot-schaft aus einer solchen Debatte: Der Großökonom Merzwill 130 000 Arbeitsplätze in der Wind- und Solartech-nik gefährden. Prost Mahlzeit, Herr Merz, da haben Sieeine tolle Aussage geliefert!
Ich muss zum Schluss kommen und will noch daraufhinweisen, Herr Minister, dass wir, auch wenn vieles po-sitiv läuft, mit den Befunden beim Bürokratieabbaunicht zufrieden sind. Nach der Studie der Weltbank müs-sen wir uns nach meiner Überzeugung noch einmal hin-setzen und die Frage stellen, in welchen Bereichen wirzusätzlich etwas erreichen können. Ich finde, dass wirdarauf umgehend reagieren sollten. Der Masterplan istzwar in Ordnung. Aber angesichts der jetzt vorliegendenDaten sollten wir uns erneut fragen, was wir darüber hi-naus noch tun können. Herr Brüderle hat Recht: DasGanze hat viel mit einer Föderalismusreform zu tun. Ichmeine, dass es des Schweißes der Edlen wert ist, sich da-rum zu kümmern.Damit komme ich zum Schluss.
Aber jetzt ganz schnell!
Ich bin eigentlich schon am Schluss, aber nicht am
Ende.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dirk Niebel.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Leider ist es schon Tradition geworden, dass unshier ein Haushalt vorgelegt wird, der das Jahr nicht über-stehen wird. Das gilt auch für den Haushalt des Bundes-wirtschafts- und -arbeitsministers. Sein eigenes Institut,das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, IAB,kommt in einer neuen Studie zu dem Ergebnis – HerrClement, Sie hätten sich das heute Morgen um 6.50 Uhrausdrucken können –: Die neuen Daten bergen auch Ri-siken im Hinblick auf den erwarteten Jahresdurchschnittder Zahl der Bezieher von Arbeitslosengeld II sowie beiden vorgegebenen Budgets für Personal, Verwaltung undEingliederung sowie in der Kalkulation von Betreuungs-schlüsseln und Pro-Kopf-Sätzen.
– Das ist fein. Vielen herzlichen Dank. Das werde ichmir nachher durchlesen.Ihr eigenes Forschungsinstitut sagt also, dass es alleinim Bereich des Arbeitslosengeldes II Risiken in Bezugauf die Anzahl der betroffenen Personen und des benö-tigten Personals – wir wissen, dass es eine Aufblähungder Bundesagentur für Arbeit geben wird – sowie andereFaktoren der wirtschaftlichen Entwicklung gibt. In die-sem Jahr sind in den Bundeshaushalt 5,2 Milliar-den Euro für den Bundeszuschuss eingestellt. Das wirdnicht reichen, weil das Defizit schon im August4,8 Milliarden Euro betrug. Aber Sie gehen in IhremHaushaltsansatz für das kommende Jahr von einem Bun-deszuschuss in Höhe von 3,5 Milliarden Euro aus. Dasist nicht sonderlich realistisch, wenn wir ehrlich sind.Herr Clement, ich habe die Sorge, dass Ihre Ansätzeim Endeffekt auch Auswirkungen auf die tatsächlicheArbeitsmarktpolitik haben. Sie haben einen Haushaltvon 34,3 Milliarden Euro. Davon sind insgesamt24,4 Milliarden Euro für die neue Grundsicherung, dasArbeitslosengeld II, vorgesehen. Ein weiterer großerPosten mit gut 1,7 Milliarden Euro sind die Steinkohle-subventionen. Wir diskutieren also in diesem Jahr – dastrifft auch auf die Haushalte in den vorangegangenenJahren zu – über einen Haushalt für Grundsicherung undSteinkohlesubventionen, aber nicht über einen Haushalt,der Impulse für neue Arbeitsplätze und Wirtschafts-wachstum setzt und der die Chancen der Arbeitslosenverbessern hilft, wieder in Arbeit zu kommen.
Im Bereich der Arbeitsmarktpolitik ist der Haushaltder Bundesagentur für Arbeit eigentlich viel interes-santer. Er hat in diesem Jahr ein Volumen von 57 Mil-liarden Euro. Auf diesen Haushalt hat aber das Parla-ment keinen Zugriff.
Er wird aufgestellt vom Vorstand – das ist Herr Weise –,festgestellt von der Selbstverwaltung – das ist FrauEngelen-Kefer – und genehmigt von der Bundesregie-rung. 57 Milliarden Euro! Allein der Eingliederungstitelliegt bei über 20 Milliarden Euro. Das ist fast so viel wieder gesamte Haushalt des Bundesverteidigungsminis-ters. Trotzdem hat das deutsche Parlament keinen Zu-griff. Das ist ein Skandal. Wir brauchen dringend eineRedemokratisierung der Arbeitsmarktpolitik.
Eine Redemokratisierung muss mit einer Dezentrali-sierung der Arbeitsmarktpolitik einhergehen. Wir allewissen – das konnte man auch den Worten des KollegenMerz entnehmen –, dass die Bundesagentur für Arbeit,die mit 90 000 Mitarbeitern versucht, 4,5 Millionen Ar-beitslose zu vermitteln – das kann sie bestenfalls mehrschlecht als recht –, überfordert sein wird, wenn sie zu-sätzlich die arbeitsfähigen Sozialhilfeempfänger und de-ren Bedarfsgemeinschaften betreuen soll. Deshalb habenwir im Dezember letzten Jahres vereinbart – wir habendas trotz unserer unerfüllten Wünsche mitgetragen –, zu-mindest den Kommunen, die sich das zutrauen, eineChance zum Optieren zu geben. Das haben Sie aber kon-terkariert, indem Sie in dem kommunalen Optionsgesetz– das hat die FDP-Bundestagsfraktion als einzige abge-lehnt – dafür gesorgt haben, dass bundesweit nur69 Kommunen überhaupt die Chance erhalten, zu optie-ren. Statt einen Wettbewerb um die besten Vorschlägezur Integration von Langzeitarbeitslosen zwischenBundesagentur und den kommunalen Trägern der So-zialhilfe in Gang zu setzen, haben Sie einen Wettbewerbder Kommunen untereinander um die Chance kreiertüberhaupt optieren zu dürfen. Das ist mit Sicherheit derfalsche Weg.
Ich möchte jetzt auf Hartz IV eingehen. Nach einerUmfrage von Infratest-dimap haben sich in den letztenTagen bundesweit 58 Prozent der Bevölkerung persön-lich mit diesem Thema beschäftigt. Das ist also ein sehrvirulentes Thema. Ich sage ausdrücklich: Die FDP-Bun-destagsfraktion war und ist für die Zusammenlegung vonArbeitslosen- und Sozialhilfe, weil es sinnvoll ist – dashaben wir schon vor Jahren beantragt –, zwei steuerfi-nanzierte Transferleistungen für den gleichen Sachver-halt zusammenzulegen. Es ist auch eine Frage derWürde der Betroffenen, ob sie sich in Bezug auf ihre in-timsten Daten vor zwei unterschiedlichen Behörden odernur vor einer entkleiden müssen. Aber da hören die Ge-meinsamkeiten dann auch schon auf.Herr Kuhn hat sich hier hingestellt und von Doppel-züngigkeit und von Heuchelei gesprochen. Dazu möchteich anmerken, dass er, was den sächsischen Ministerprä-sidenten Milbradt angeht, Recht hat. Als wir im Vermitt-lungsverfahren gesagt haben: Hinzuverdienst muss sichlohnen – nach unserem Konzept sollen 50 Prozent desHinzuverdienstes anrechnungsfrei gelassen werden –,saß er dort mit einem Taschenrechner und hat uns ent-gegnet: Das ist zu teuer.Aber auch die Grünen sind doppelzüngig und schein-heilig. Der grüne Verdi-Vorsitzende, Herr Bsirske, dersich in seiner Funktion als Aufsichtsratsmitglied derLufthansa selbst bestreikt hat, heizt doch die Stimmung
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Dirk Niebelin Ostdeutschland an. Herr Ströbele geht auf Montagsde-monstrationen, die von den ehemaligen SED-Kadernmissbraucht werden. Das müsste einen eigentlich wirk-lich zur Weißglut bringen. Natürlich muss man dieÄngste der Betroffenen aufnehmen. Erst jetzt lassen SieIhre Propagandamaschine mit 11 Millionen Euro anlau-fen. Das ist viel zu spät. Man hätte viel schneller infor-mieren müssen und man hätte viel mehr dafür sorgenmüssen, dass die handwerklichen Fehler, die zu befürch-ten waren, nicht eintreten.Sie haben vorhin als letzten Punkt den Rücklauf derAnträge angesprochen. Vielleicht sind es in Ludwigsha-fen 40 Prozent. Sie sagten, in Leipzig seien es 4 Prozent.Nach Auskünften der Bundesagentur sind bundesweitbisher nur 10 Prozent der ausgegebenen Anträge zurück-gekommen. Das bedeutet in der Konsequenz nicht nureinen Antragsstau und Verwaltungsaufwand, sondernauch, dass die EDV, die noch nicht getestet ist, nicht dienötigen Daten hat, um sie tatsächlich im Echtlauf zu prü-fen. Das heißt, dass es dort weitere Gefahrenpunkte gibt.Wir müssen diese Reform, wenn sie denn nicht funk-tionieren sollte, zumindest verschieben. Denn wenn sienicht funktioniert, werden wir die Reformbereitschaftder deutschen Bevölkerung auf Jahre hinaus verloren ha-ben.
Herr Kollege Niebel.
Das ist ein ganz großes, staatsgefährdendes Risiko.
Das sollten Sie nicht eingehen, Herr Clement.
Es gab den Wunsch nach einer Zwischenfrage.
Ja, gerne, selbstverständlich. Ich wäre ja sowieso fer-
tig gewesen.
Sie waren fertig. Ich bitte Sie, nur die Frage zu beant-
worten und danach nicht in Ihrer Rede fortzufahren.
Jawohl.
Bitte schön, Frau Pau.
Es tut mir Leid, dass wir uns nicht schon vorher ver-
ständigen konnten.
Sie haben gerade noch einmal dargestellt, dass Sie im
Prinzip für all die mit Hartz IV getroffenen Regelungen
– jenseits der Optionsregelung – sind. Außerdem haben
Sie aufgezählt, wer sich wie zu den Protesten verhält.
Ein Rätsel treibt mich seit meinem letzten Besuch in
Sachsen vor zwei Wochen um. Was meint Ihre Partei mit
den Wahlkampfplakaten in Sachsen, auf denen der Slo-
gan „Herz statt Hartz“ steht?
Das kann ich Ihnen problemlos erklären, liebe Kolle-
gin. Ich habe eben angeführt, dass die FDP im Rahmen
des Vermittlungsverfahrens, was die Möglichkeit, etwas
hinzuzuverdienen, anbetrifft, der Ansicht war: 50 Pro-
zent des Hinzuverdienstes sollten anrechnungsfrei gelas-
sen werden, damit – wie in Sonntagsreden immer wieder
gefordert – derjenige, der arbeitet, mehr in der Tasche
hat als derjenige, der nicht arbeitet.
Wir waren im Vermittlungsverfahren der Ansicht,
dass es nicht sein kann, dass derjenige, der sein Geld ein
Leben lang versoffen hat, besser dasteht als derjenige,
der Eigenvorsorge betrieben hat. Deswegen waren wir
der Ansicht, dass nachweislich für die Altersvorsorge
bestimmtes Kapital, zum Beispiel eine Lebensversiche-
rung, die nach dem 60. Lebensjahr ausgezahlt wird, an-
rechnungsfrei bleiben muss.
– Herr Kuhn, Sie waren beim Vermittlungsverfahren lei-
der nicht dabei; deswegen können Sie das nicht wissen.
Wir waren der Ansicht, dass es sinnvoll ist, für die
Ausbildung der Kinder vorzusorgen, und dass die ent-
sprechenden Freibeträge deswegen höher sein müssen.
Wir waren diejenigen, die mit Herzblut dafür gekämpft
haben, den Menschen die Möglichkeit zu geben, in den
Arbeitsmarkt zu kommen. Leider hatten wir im Vermitt-
lungsverfahren nur eine Stimme. Das reicht manchmal
nicht.
Aber vom Grundsatz her ist diese Reform richtig und
notwendig. Alle die, die Panikmache betreiben, verhal-
ten sich staatspolitisch in höchstem Maße gefährlich.
Das gilt ganz besonders für die PDS, für die NPD und
für die anderen Splittergruppen, die versuchen, die
Ängste der Menschen in Ostdeutschland zu instrumenta-
lisieren.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Brandner.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle-ginnen und Kollegen! Der Tenor der Reden der Opposi-tion und die Konjunkturentwicklung stehen aus meinerSicht in diametralem Widerspruch.Beispiel eins: Sie klagen über die fehlende Wirt-schaftsdynamik. Die Realität: Gestern hat das Institut fürWeltwirtschaft seine Wachstumsprognose für diesesJahr auf 1,9 Prozent angehoben.
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Klaus Brandner
Beispiel zwei: Herr Glos jammert über den Ausver-kauf der deutschen Wirtschaft und über die Standortver-lagerung deutscher Unternehmen. Die Realität: Die Di-rektinvestitionen nach Deutschland waren in 2002 nettomit gut 29 Milliarden Euro und im letzten Jahr mit gut9 Milliarden Euro im positiven Bereich. Das heißt, dasausländische Kapital kommt nach Deutschland. Dahintersteht auch: Das Ausland nimmt wahr, dass Deutschlandauf Modernisierungskurs ist. Dafür steht diese Bundes-regierung. Dafür steht diese Koalition. Miesmache,meine Damen und Herren, schadet dem Land. Verun-sicherung hemmt die Kauflust der Menschen. Sie dürfenruhig fröhlicher und mit größerer Zuversicht durch dasLand ziehen. Damit helfen Sie den Menschen mehr alsmit Ihrer dauernden Miesmacherei.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Abgeordneten Brüderle?
Bitte, Herr Brüderle.
Herr Kollege Brandner, können Sie mir darin zustim-
men, dass Ihnen ein Fehler unterlaufen ist? Das Kieler
Institut hat seine Wachstumsprognose, wie ich vorhin
ausführte, von 1,9 Prozent auf 1,2 Prozent zurückge-
nommen. Wenn Sie mir das nicht glauben: Ich habe ei-
nen schriftlichen Beleg dabei.
Herr Brüderle, die Institute insgesamt – nicht nur das
Kieler Institut – haben die Wachstumsprognosen in den
letzten Wochen und Monaten eher angehoben als nach
unten korrigiert.
Insofern ist in diesem Land mehr Zuversicht angesagt.
Darauf sollten wir auch bauen.
Ich finde es wichtig, dass eine Partei wie Ihre, die sich
als wirtschaftsnah versteht, dabei mithilft, nicht nur
positive Stimmung in diesem Land zu verbreiten, son-
dern auch die positiven Fakten zu nennen, weil das am
ehesten dazu beiträgt, dass sich die Wirtschaft positiv
entwickelt.
Zur Verunsicherung haben wir aus meiner Sicht keinen
Grund.
Es ist bedauerlich, dass insbesondere führende Per-
sönlichkeiten der CDU/CSU massenhaft zur Verunsiche-
rung in diesem Land beitragen. Herr Milbradt ist mehr-
fach erwähnt worden. Erst stimmt er dem Hartz-Gesetz
zu, wie wir alle wissen, dann will er von alledem nichts
mehr wissen und dann lässt er auch noch offen – um das
klar zu sagen –, ob er Arm in Arm mit der PDS und der
NPD, mit den Populisten also, bei den so genannten
Montagsdemonstrationen mitmacht.
Das zeigt nur, wie Verantwortungslosigkeit und böse
Stimmungsmache zusammenkommen. Das ist etwas,
was wir aufs Schärfste verurteilen.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Bitte.
Ich würde sagen: Das sollte ein bisschen zurückhal-
tender geschehen. Der Kollege kommt gar nicht zu sei-
ner Rede. – Bitte, Herr Kollege Bergner.
Herr Kollege, da Sie so auf den Kollegen Milbradt
schimpfen und auf seine angebliche Bereitschaft, bei den
Demonstrationen mitzulaufen, frage ich Sie: Wie beur-
teilen Sie es eigentlich, dass bei der so genannten Mon-
tagsdemonstration in Halle in der letzten Woche Ottmar
Schreiner Chefredner war, dass das, was er gesagt hat,
keinesfalls eine Loyalitätsadresse an Ihre Politik gewe-
sen ist und dass diese Montagsdemonstration maßgeb-
lich von einem Hallenser Sozialdemokraten organisiert
wird? Sind Sie nicht mit mir der Meinung, dass Sie erst
einmal vor der eigenen Tür kehren sollten, ehe Sie ost-
deutsche Ministerpräsidenten kritisieren?
Sehr geehrter Herr Abgeordneter, meine Kritik richtetsich in allererster Linie an diejenigen, die in diesemLand zur Unglaubwürdigkeit und zur Verunsicherungdadurch beitragen, dass sie in ihrem Auftreten nicht eh-renhaft sind. Gerade Herr Milbradt als Person
hat im Vermittlungsausschuss, im Bundesrat offensivstständig Verschärfungen der Hartz-Gesetze verlangt.Er konnte an Schärfe kaum überboten werden. Dass sich
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Klaus Brandnerdiese Person, die in Ihren Reihen durchgesetzt hat, dasserhebliche Verschärfungen eingefordert worden sind, an-schließend auf die Seite der Protestler schlägt und sagt,mit denen könne sie gemeinsam gegen die Politik derBundesregierung demonstrieren, ist etwas, was ich ver-urteile und was ich als nicht charakterfest bezeichne.
Herr Schreiner – um es deutlich zu sagen – hat immergegen die Hartz-Gesetze gestimmt. Er ist offen aufgetre-ten. Wir sind eine demokratische Partei. Wir als SPD ste-hen mit großer Mehrheit geschlossen hinter dem Re-formkurs. Diese Unterscheidung will ich ganz deutlichmachen.
– Herr Milbradt hat den Hartz-Gesetzen zugestimmt, lie-ber Abgeordneter Kampeter. Im Dezember hat HerrMilbradt im Bundesrat den Gesetzen zugestimmt. Wirhaben im Juli dieses Jahres nichts anderes mehr be-schlossen, als im Rahmen der Experimentierklausel dieOptionsmöglichkeit zuzulassen. Dem – um das ganzdeutlich zu sagen – hat Herr Milbradt nicht zugestimmt.Insofern bitte ich hier einfach um Ehrlichkeit und Klar-heit. Darum ging es mir. Das musste hier einmal gesagtwerden.
Jetzt möchte auch noch der Kollege Laumann eine
Zwischenfrage stellen.
Mit Blick auf die Uhr denke ich, dass mit Zwischen-
fragen jetzt Schluss sein sollte.
Eben dies wollte auch ich sagen. Ich werde auch
keine weitere Zwischenfrage außer dieser mehr zulas-
sen.
Na gut.
Kollege Brandner, auch Sie haben ja jetzt in Ihrer
Rede wieder erwähnt, Milbradt und andere von der
Union – das ist ja zurzeit eine durchgehende Argumenta-
tion bei Ihnen –
hätten Verschärfungen im Vergleich zu Ihren Vorstellun-
gen in das Gesetz gebracht.
Deshalb möchte ich folgende Fragen stellen:
Ist es richtig, dass Rot-Grün bei Hartz I beschlossen
hat, den Freibetrag an Geldvermögen, den Arbeitslo-
senhilfebezieher behalten dürfen, von 500 auf 200 Euro
pro Lebensjahr herabzusetzen?
Ist es richtig, dass die B-Länder und unsere Fraktion
schon damals sehr stark dafür geworben haben, nicht Le-
bensalter, sondern Beschäftigungsjahre zu zählen, und
dass wir entsprechende Anträge in den entsprechenden
Ausschüssen des Deutschen Bundestages vorgelegt ha-
ben, wodurch höhere Vermögen hätten behalten werden
dürfen?
Ist es richtig, dass die von Ihnen gewählte Lösung
dazu führt, dass ein 55-Jähriger, der mit 44 Jahren nach
Deutschland gekommen ist, neun Jahre lang in einem
Beschäftigungsverhältnis stand und jetzt arbeitslos wird,
18 Monate Arbeitslosengeld beziehen kann und ihm der
höhere Vermögensfreibetrag für Ältere – Sie haben ihn
ja zur Schonung des Vermögens Älterer eingeführt – zu-
gestanden wird, während ein Mensch, der mit 14 Jahren
in die Lehre gegangen ist, 31 Jahre lang Beiträge und
Steuern gezahlt hat, diesen Schutz bei Ihnen nicht hat?
Nachdem Sie die entsprechenden Anträge von uns, in
denen das geändert werden sollte, niedergestimmt ha-
ben, sollten Sie ein wenig vorsichtiger argumentieren
und nicht pauschal behaupten, wir hätten alles ver-
schärft. Richtig ist – dazu stehen wir auch –, dass wir be-
züglich der Zumutbarkeitsregelungen einen Vorschlag
aufgenommen haben, der aus dem Ministerium von
Herrn Clement kam. Nachdem er von Ihrer Fraktion ver-
wässert worden war, haben wir da den ursprünglichen
Zustand wieder hergestellt.
Kollege Laumann, Sie brauchen gar nicht so laut zusprechen. Wir können jedes Argument Stück für Stückzusammen durchgehen.Das Erste ist, dass wir im Rahmen der Arbeitsmarkt-gesetze, nicht erst jetzt im Zusammenhang mit Hartz IIIund Hartz IV, sondern viel früher, die Freibetragsgrenzefür Arbeitslosenhilfebezieher von 520, nicht 500 Europro Lebensjahr auf 200 Euro gesenkt haben. Zusätzlichhaben wir, ohne dass es einen entsprechenden Antragvon Ihrer Seite gab, einen Vermögensfreibetrag von200 Euro für die Altersversorgung eingeführt. Sie wer-den kein Beispiel anführen können, wo Sie in Ihren An-trägen höhere Freibeträge für die Betroffenen geforderthaben, als diese rot-grüne Koalition schließlich durchge-setzt hat. Ich sage ganz klar: Wir sind bereit, hierfür je-derzeit den Beweis anzutreten.Zwischenzeitlich haben wir dadurch – und das wissenSie –, dass auch für jedes Kind ein Freibetrag in Höhevon 4 100 Euro angerechnet wird, einen riesigen Freibe-
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Klaus Brandnertrag vorgesehen, den Sie sich selbst in Ihren besten Zei-ten nicht erträumt hätten. Sie können sich dieser Leis-tung nicht rühmen, weil wir die Vermögensfreibeträge indieser Größenordnung organisiert haben. Sie können,wenn Sie übers Land ziehen, den Menschen nicht eineneinzigen verlässlichen Beleg vorzeigen, aus dem hervor-geht, dass Sie diejenigen gewesen wären, die das Schon-vermögen vergrößert hätten. Sie haben es reduziert, Siehaben es gekürzt und im Kern gefordert, dass im Rah-men der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe undSozialhilfe das Sozialhilferecht auf beide Gruppen, so-wohl auf die Arbeitslosenhilfebezieher als auch auf dieSozialhilfebezieher, angewendet wird.
Genau das bedeutet, dass es für Kinder nur einen Freibe-trag von 256 Euro und für den Ehepartner nur einenFreibetrag von 680 Euro und für den Haushaltsvorstandeinen Freibetrag von 1 556 Euro geben würde.Der zweite Punkt, den Sie angesprochen haben, wardie Dauer der Versicherungsleistungen. Sie geben mirdamit die Gelegenheit, deutlich zu machen, dass es sichhierbei um zwei Systeme handelt. Im Bereich der Ar-beitslosenversicherung besteht ein Versicherungssystem,wobei letztlich die Versicherung für einen bestimmtenZeitraum ein Risiko abdeckt.
In den Debatten der Vergangenheit haben Sie gesagt,man müsste für die Dauer der Abdeckung dieses Risikosvielleicht einmal andere Bemessungsgrundlagen einfüh-ren, also längere Versicherungszeiten anders bewerten.Ihre Parteivorsitzende hat auf die Rede des Bundeskanz-lers am 14. März letzten Jahres gesagt: Wir sind bereit,den Versicherungszeitraum auf ein Jahr festzulegen,nicht mehr. Im Gegensatz dazu hat die Koalition einenbesseren Vorschlag gemacht und eine Abstufung zwi-schen zwölf und 18 Monaten vorgenommen.
Dann zu dem, was Sie zur Ausdehnung der Versiche-rungsleistungen gesagt haben. Die Versicherungsleistun-gen waren ja wohl keine Wohltat, sondern Sie wolltendamit seinerzeit arbeitsmarktpolitisch korrigierend ein-greifen und verhindern, dass von der IG Metall die Ar-beitszeitverkürzung durchgesetzt wird und die Vorruhe-standsregelung zulasten der Versichertengemeinschafterfolgt. Das haben Sie unterstellt. Sie haben damit denProzess ausgelöst, dass in Deutschland massenhaft Früh-verrentungen auf Kosten der Versichertengemeinschaftdurchgeführt worden sind.Ich dachte, wir wären einvernehmlich zu dem Ergeb-nis gekommen, diese Fehlsteuerung gemeinsam zu been-den. Das würde im Übrigen ein Stück weit das Vertrauenin diesem Land fördern. Es wäre anständig gewesen,wenn wir uns darauf gemeinsam verständigt hätten, eineerkannte Fehlsteuerung, die so nicht mehr finanzierbarund arbeitsmarktpolitisch so nicht gewollt war, zu durch-brechen.Man kann sagen, was man will; es ist einfach so, dasssich die Opposition einen schlanken Fuß machen will.Herr Rüttgers ruft: Verschiebung um ein Jahr! General-revision! Ihr CDA-Bundesvorsitzender fordert einenVermögensanrechnungsfreibetrag von 1 000 Euro proLebensjahr. Ich habe mich gefragt: Wann haben Sie dasjemals hier im Parlament beantragt? Herr Merz will denKündigungsschutz im Prinzip völlig abschaffen. Kol-lege Laumann sagt, über den Kündigungsschutz könneman mit ihm reden, ebenso über das Schleifenlassen derbetrieblichen Bündnisse und der Tarifautonomie. In die-sen Fragen ist man sich recht nahe, bei manchen Dingenim sozialpolitischen Bereich nicht. Ich sage an diesemPunkt gern, dass der Kollege Karl-Josef Laumann be-züglich der Umsetzung von Hartz IV in der Öffentlich-keit klare Worte gefunden hat, im Unterschied zu dem,was er den Arbeitnehmern bei der Tarifautonomie unddem Kündigungsschutz zumuten will.Frau Wöhrl beklagt das mangelnde Ansparen; Kol-lege Kuhn hat schon etwas dazu gesagt. Wie soll denndie Wirkung aussehen, wenn dauernd verunsichert wird?Wer wird denn konsumieren, wenn eine Politik der Ver-unsicherung betrieben wird? Herrn Brüderle kann manin der Richtung nur Recht geben, wenn er sagt, wirmüssten die Linie halten, Charakterstärke zeigen und dieReformen durchführen. Aber wenn die Opposition in derÖffentlichkeit so uneinheitlich auftritt und sich nicht mitRuhm bekleckert, dann kann in diesem Land kein Ver-trauen für den notwendigen und von den im Bundestagvertretenen Fraktionen ansonsten gemeinsam getragenenGrundkurs geweckt werden, sondern dann muss Un-sicherheit entstehen.Unabhängig von dieser Verunsicherung – lassen Siemich das klar sagen – ist die konjunkturelle Entwick-lung in Deutschland positiv. Alle wichtigen Forschungs-institute und internationalen Organisationen haben, wieich bereits angesprochen habe, ihre Schätzungen korri-giert; ein Wachstum von 2 Prozent ist gegebenenfallsmöglich. Die positiven Indikatoren will ich, KollegeBrüderle, auch mit einigen anderen Fakten belegen.Der Auftragseingang der Industrie lag im Juli diesesJahres um 3 Prozent höher als im Juni, die Industriepro-duktion hatte im Juli eine Steigerung von 1,6 Prozentgegenüber Juni zu verzeichnen und auch die Einzelhan-delsumsätze sind in demselben Monatsvergleich um1,1 Prozent gestiegen. Die Informations- und Telekom-munikationsindustrie als Barometer für die Investitions-attraktivität rechnet in ihrem Bereich mit einem Wachs-tum von 2,5 Prozent in diesem Jahr und für das nächsteJahr sogar mit einem Umsatzplus von 3,7 Prozent.Der Aufschwung wird in den nächsten Monaten auchneue Arbeitsplätze schaffen, wenn das Land nicht wei-terhin mit solcher Wucht mit einer Verunsicherungsstra-tegie überzogen wird. Die Arbeitsmarktreformen – ei-nige Vorredner haben es angesprochen – führen zueinem kräftigeren Beschäftigungszuwachs, als es früherbei einem Konjunkturaufschwung der Fall war. Alle
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Klaus BrandnerExperten gehen davon aus, dass die Beschäftigungs-schwelle deutlich sinken wird und schon bei einem ge-ringeren Wachstum arbeitsmarktpolitische Erfolge sicht-bar und zählbar gemacht werden können.Zu den Konjunkturrisiken gehört ohne Frage, dass diehohe Abhängigkeit von der internationalen Entwicklungund natürlich auch die von vielen angesprochenen hohenÖlpreise im Auge behalten werden müssen. Als Grundfür die Ölpreisentwicklung kann man zum einen durch-aus die zusätzliche Nachfrage aus China auf diesemMarkt angeben. Zum anderen ist die Preisentwicklungaber auch ein Indikator für die Endlichkeit der Energien.Im Kern ist es die Bestätigung dafür, dass wir unserenachhaltige Energiepolitik zugunsten der erneuerbarenEnergien und zugunsten des Einsparens von Energiefortsetzen müssen. Wir müssen vorsorgen. Die Ölpreis-erhöhungen sind zum großen Teil spekulativer Natur. In-sofern ist es richtig, dass wir auf größere Unabhängig-keit in diesem Bereich setzen.Ich will an dieser Stelle ganz klar sagen: Es ist unver-ständlich, dass die großen Energieunternehmen in dieserlabilen Situation unverfroren Energiepreiserhöhungenankündigen. Auch Energieoligopolisten tragen eine Ver-antwortung für die Konjunktur. Ich begrüße deshalb aus-drücklich die Aktivitäten des Bundeskartellamtes in die-ser Angelegenheit.Der Standort Deutschland ist nicht so schlecht, wieihn so mancher Oppositionspolitiker, auch in der Haus-haltsdebatte, darstellt.
– Ich möchte über die 16 Jahre Ihrer Regierungszeit keinReferat halten. Ich will nur sagen, dass es wirklich keineglanzvollen Ergebnisse gab.
Genau das erleben wir jetzt von Unionspolitikern: An-statt zu helfen, gemeinsam den notwendigen Kurs einzu-schlagen – nämlich mehr Spielräume für Innovationenzu erreichen –, wird die alte Leier angestimmt.
Die Zuwächse im Export zeigen die hohe Wettbe-werbs- und Innovationsfähigkeit. Es ist im Übrigenunsere tiefe Überzeugung, dass eine bessere Wettbe-werbsfähigkeit nicht durch einen Lohnsenkungswettbe-werb und durch einen radikalen Abbau der Arbeitneh-merrechte zu erreichen ist. Der Umbau wird am ehestengelingen, wenn sich das Investitionsklima noch weiterverbessert, wenn es mehr öffentliche Investitionen gibtund wenn mehr Effizienz auf den Güter- und Dienstleis-tungsmärkten erreicht wird. Für mich ist klar: Deutsch-lands Stärke ist die Innovationskraft. Damit das sobleibt, müssen wir bessere Produkte herstellen, effizien-tere Produktionsverfahren entwickeln und eine schnel-lere Umsetzung von Forschungsergebnissen in den Un-ternehmen erreichen.Mehr Investitionen – das ist ein weiterer Punkt – feh-len uns gerade im Bereich der Kommunen. DurchHartz IV eröffnen wir den Kommunen größere finan-zielle Spielräume. Durch die Anhebung der Gewerbe-steuerumlage wird die Finanzausstattung der Kommu-nen verbessert. Für den Abbau des Investitionsstaus derKommunen müssen aber nach Berechnungen des Deut-schen Instituts für Urbanistik in diesem Jahrzehnt insge-samt 685 Milliarden Euro veranschlagt werden.Ein weiteres Stichwort ist ÖPP. Öffentlich-privatePartnerschaften sind sicherlich eine gute Möglichkeit,zusätzliche Investitionen auf kommunaler Ebene schnel-ler durchzuführen.
Internationale Erfahrungen bestätigen: Mit ÖPP könnenöffentliche Leistungen früher, schneller und kostengüns-tiger bereitgestellt werden. Deshalb ist es sinnvoll – daswill ich ganz deutlich sagen –, dass der Aufbau vonKompetenznetzwerken gefördert wird, wie er beispiels-weise in Nordrhein-Westfalen schon in vorbildlicherWeise erfolgt. An diesem positiven Beispiel sollte mananknüpfen und dafür sorgen, dass diese Maßnahme inder Fläche schneller umgesetzt wird und von diesem In-strument Gebrauch gemacht werden kann.Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Deutschlandbefindet sich in einem weit gehenden Modernisierungs-prozess, den viele Nachbarländer schon längst hintersich haben. Große Veränderungen verunsichern vieleMenschen. Sie suchen Stabilität und glauben gern an dieVersprechungen so genannter Problemlöser. Alle demo-kratischen Kräfte haben in diesen Monaten die Aufgabe,sachlich zu informieren. Wir müssen gemeinsam denSpaltern und Brandstiftern entgegentreten. Dies müssenwir tun, um auch die Glaubwürdigkeit der Politik zu be-wahren. Das wird eine wichtige Aufgabe der nächstenWochen und Monate sein.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Joachim
Fuchtel.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Gestatten Sie mir, dass ich nach dieser Gesundbetereides Kollegen Brandner einige nüchterne Bemerkungenzur Haushaltslage in diesem Land mache.
Dieser Haushaltsentwurf ist nach dem Motto aufge-stellt: Nach uns die Sintflut. Normalerweise tun sich dieHaushaltslöcher am Ende eines Haushaltsjahres auf. AmAnfang des Jahres werden die Haushaltslöcher versteckt.
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Hans-Joachim FuchtelAber noch nicht einmal dazu ist die Regierung fähig. DieHaushaltslöcher treten vielmehr offenkundig zutage; sodramatisch ist die Haushaltslage in diesem Jahr.
Herr Minister Clement, in Ihrem Haushalt ist bereits,gesetzlich definiert, eine Lücke von 2,8 Milliarden Euround prognostisch von 4,5 Milliarden Euro festzustellen.Darüber sind sich alle Fachleute einig. Das sind 8 bzw.13 Prozent Ihres gesamten Haushaltes. Ich kann dazunur sagen: Der Minister sitzt hier mit abgeschnittenenHaushaltshosen.
Er hat kein Wort dazu gesagt, wie auch alle anderen vonder Koalition heute kein einziges Wort dazu gesagt ha-ben, wie sie das Problem lösen möchten. Daran erkennenwir, dass keine Kompetenz vorhanden ist. Wahrschein-lich versuchen Sie wieder, dieses Problem durch globaleMinderausgaben zu lösen. Aber davor kann im Wirt-schaftsförderungsbereich – da bin ich mit dem KollegenBrüderle völlig einig – nur gewarnt werden.Ihre heutige Rede lässt vermuten, dass Sie, Herr Su-perminister, noch keine Zeit gehabt haben, die von Ihrentüchtigen Beamten zur Vorbereitung der Berichterstatter-gespräche verfassten Papiere zu lesen. Damit die Öffent-lichkeit endlich einmal mitbekommt, wie groß der Un-terschied zwischen dem ist, was in Ihrem Haus gedachtwird, und dem, was Sie uns hier erzählen, möchte ichexemplarisch den Kommentar der Beamten zu Seite 20der Haushaltsvorlage zur globalen Minderausgabe fürdas Jahr 2005 vortragen. Dort heißt es, zunächst bezogenauf das Jahr 2004 – ich zitiere –:Die Umsetzung dieser Einsparauflagen erforderte,dass zu Jahresbeginn rd. 20 % der Ansätze mit freiverfügbaren Mitteln nicht zur Bewirtschaftungübertragen werden konnten. In der Konsequenzkonnten bereits veröffentlichte Förderaktivitätennicht oder zumindest nur verspätet begonnen wer-den.Es heißt weiter:Die politische Glaubwürdigkeit insbesondere in zu-kunftsorientierte Programmbereiche und Mittel-stand hat dadurch gelitten.Das schreiben Ihnen Ihre Beamten auf. So ist es. Daglaubt doch niemand mehr an eine verlässliche Mittel-standspolitik.
Das ist eben der Unterschied zu dem, was eine bür-gerliche Regierung machen würde. Eine bürgerliche Re-gierung würde diese psychologische Frage anders be-handeln, mit der Folge, dass dann wieder mehr Vertrauenentsteht und aus diesem Vertrauen ein Klima, in demwieder Arbeitsplätze entstehen. Das ist der Unterschiedzwischen Rot-Grün und dem bürgerlichen Lager in die-ser Frage.
Ich zitiere weiter – jetzt wird es besonders wichtig –,was Ihre Beamten – es sind gute deutsche Beamte; diewissen, dass sie der Sache verpflichtet sind – schreiben:Dieses Szenario wird sich 2005 möglicherweisewiederholen.Natürlich wird es sich wiederholen! Wenn Sie schonjetzt eine Haushaltslücke in Höhe von 2,8 MilliardenEuro haben und diese nicht stopfen können, dann wer-den Sie diese Verunsicherung weiter betreiben, mit derFolge, dass im Mittelstand keine Arbeitsplätze entste-hen. Man muss die Leute verstehen, die sich auf einesolche Politik nicht verlassen.
Meine Damen und Herren, die rot-grüne Regierunghat, seitdem sie im Amt ist, für Zuschüsse an die Bun-desagentur und für die Arbeitslosenhilfe Schulden inHöhe von 114,3 Milliarden Euro – das ist fast eine Vier-tel Billion D-Mark – gemacht. Aber sie bringt noch nichteinmal die paar 100 Millionen Euro auf, die nötig sind,um eine vernünftige Mittelstandsförderung zu betreiben.Hier sieht man das Ungleichgewicht, das verändert wer-den muss. Wenn es verändert wird, dann tut sich auchwieder etwas zum Wohle aller – und hoffentlich vor al-lem in Ostdeutschland.
Stattdessen gibt es ideologische Spielwiesen, Berater-verträge, Dialogprogramme, Aktionismus. Ich sage: Sonicht!
Ohne ein mittelstandsfreundliches Wirtschaftsklimawird es auf dem ersten Arbeitsmarkt keinen Erfolg ge-ben. Daher werfen wir Ihnen besonders vor, dass Siekeine Perspektiven für die Menschen eröffnen. Wennman schon von jedem Einsparungen verlangt, dann brau-chen die Leute auch Perspektiven. Man muss sonst ver-stehen, dass sie sich aggressiv gebärden und auf dieStraße gehen. Das haben Sie zu verantworten. Dabeigeht es nicht um Hartz IV, sondern um die Tatsache, dasses 4,3 Millionen Arbeitslose gibt. Das und die Verspre-chungen, die Sie 1998 und 2002 im Französischen Domgegeben haben, als es hieß: „Wir fahren die Arbeitslosig-keit durch Hartz zurück“, treiben die Menschen auf dieStraße.
Meine Damen und Herren, ich vermute, dass man Sie einzweites Mal in den Französischen Dom einlädt.
Bei diesem zweiten Mal werden Sie eingeladen, umBuße zu tun und sich beim deutschen Volk für Ihre Un-kenntnis zu entschuldigen. Das wäre wohl das Wich-tigste, was man mit Ihnen machen müsste.
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Hans-Joachim FuchtelSie haben genug Geld gehabt, um Ihre Konzeptionenöffentlichkeitswirksam herüberzubringen. Sie haben30 Millionen Euro für die Agenda 2010 verplempert, in-dem Sie an den Themen vorbei argumentiert haben. DasVolk will nicht wissen, wer der Schönste im Lande ist,sondern es will wissen, wo es sachlich entlang geht. Eswill nicht, dass Sie vor lauter Aktionismus von einemFettnäpfchen ins nächste stolpern.
– Ich muss mich ja gegen diese Oberschreier wehren.Deswegen müssen Sie verstehen, dass es auch von mei-ner Seite etwas lauter dröhnt.
Meine Damen und Herren, Sie haben 11 MillionenEuro allein für Hartz eingeplant.
Sie haben 42 Millionen Euro bei der Bundesagentur fürArbeit deponiert. Geld haben Sie genug. Trotzdem ge-schieht nichts. Das ist auch ganz klar: Die Leute könnenbei einer Politik, die wie ein Fass ohne Boden ist und inder alles Mögliche probiert, aber nichts Vernünftigesdaraus gemacht wird, natürlich auch nicht an die Wer-bung glauben. Sie können nicht erwarten, dass die Men-schen darauf reinfallen. Sie haben von der Schönwetter-politik genug, die Sie auch heute wieder vorgetragenhaben: Es wird alles besser! Seit ich mit Ihnen hier imParlament zusammenarbeiten darf, erzählen Sie dieselbeStory vom lahmen Gaul. Dass diese Story nicht besserwird, muss dann wohl an Ihnen liegen. Daher sollten SieKonsequenzen ziehen.
Meine Damen und Herren, einige konkrete Beispiele,warum so manches nicht läuft. Jeder weiß über denPflegenotstand Bescheid. Sie legen kein Programm auf,mit dem Sie einmal 50 000 Pflegekräfte ausbilden. Nein,Sie halten an unwirtschaftlichen Programmen wie Jumpplus fest und verstecken sie jetzt in den Sozialgesetz-büchern. So kann es nicht funktionieren. Sie müssen al-les auf den ersten Arbeitsmarkt ausrichten und dürfennicht im zweiten Arbeitsmarkt verharren. Auch dieswerden wir anders machen, wenn wir wieder an der Re-gierung sein werden.
Zum Thema Vermittlungsgutscheine: Es ist dochunsinnig, dass es nicht möglich ist, dass ein Langzeitar-beitsloser durch einen Vermittlungsgutschein ins Aus-land vermittelt wird. Das heißt, lieber lange Zeit arbeits-los im Lande als irgendwo draußen in Europa in Brotund Arbeit. Dies ist ein Unsinn sondergleichen, der ge-ändert werden muss. Es muss doch unterstützt werden,wenn es jemand auf sich nimmt, im Ausland zu arbeiten.
Meine Damen und Herren, ein weiteres Beispiel stelltdas Betreuungspersonal im Zusammenhang mitHartz IV dar. Gestern hat der Herr Bundeskanzler selbstganz sang- und klanglos versucht, das Verhältnis 1 : 75,von dem in allen Papieren die Rede war, in 1 : 140 zumodifizieren. Hier geht es um 16 000 Stellen. Wir wer-den in den Haushaltsgesprächen ganz genau kontrollie-ren, was es damit auf sich hat. Hier schleicht sich eineManipulation sondergleichen im Nachhinein in dasHartz-IV-Gesetzgebungsverfahren hinein. Wir werdennicht akzeptieren, dass Sie auf dieser Basis versuchen,sehr viel Geld für Kampagnen auszugeben, sich aber dereigentlichen Aufgabe, der Betreuung und Vermittlungder Menschen, nicht richtig widmen. Wir werden diesesThema mit Ihnen im Haushaltsausschuss ganz ernst dis-kutieren; darauf können Sie sich verlassen.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Michaele Hustedt.
Verehrte Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eswurde hier schon mehrmals gesagt, wie doppelzüngigund widersprüchlich die Politik der Opposition ist. Hartzzuzustimmen und dann auf der Straße zu polemisierenoder wie Herr Rüttgers sogar eine Generalrevision zufordern ist in der Tat verlogen.
Wenn ein Haushälter hier Sparen einfordert, aber nichteinen einzigen Vorschlag dazu macht, wie tatsächlichgespart werden kann, ist das unsolide und unlautere Poli-tik.
Die Menschen im Land beobachten das zunehmendund auch aus diesem Grunde verschlechtern sich dieUmfrageergebnisse für die CDU/CSU. Ich halte einesolche unlautere, doppelzüngige und verlogene Politikfür eine riesige Gefahr; denn sie führt dazu, dass die Po-litikverdrossenheit größer wird, und treibt die Leute infundamentalistische Positionen. Ich möchte Sie daherbitten, Ihre Position genau zu überdenken.Dieselbe doppelzüngige Politik betreiben Sie auch imEnergiebereich, vor allem dann, wenn es um die hohenEnergiepreise geht. Sie empören sich über die hohenEnergiepreise und fordern lautstark eine stärkere Regu-lierung. Überraschend ist das, was hier passiert, abernicht. Ich möchte daran erinnern, dass wir seit Jahren da-vor warnen, dass die Selbstverpflichtung oder die Selbst-regulierung der Industrie bei der Preisfestsetzung nichtfunktioniert. Deshalb fordern wir schon seit Jahren eineWettbewerbsbehörde.Als die rot-grüne Regierung diesen starken Schieds-richter am Markt beschlossen und sich an die Umsetzungder Novellierung des Gesetzes begeben hatte, war vonder Opposition – von der FDP wie von der CDU/CSU –
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Michaele Hustedtnur zu hören, dass die Selbstregulierung der Stromkon-zerne doch der bessere Weg sei.Ich bin sehr froh, dass auch Sie inzwischen bei derrot-grünen Politik angekommen sind. Ich hoffe, dass wirim kommenden Gesetzgebungsverfahren das Gesetznoch einmal verbessern können. Tun Sie aber nicht so,als hätten Sie die Stromkonzerne an ihrem Vorgehen hin-dern wollen. Die rot-grüne Regierung hat bereits Konse-quenzen gezogen.
Auch bezüglich der erneuerbaren Energien ist IhrePolitik doppelzüngig. Auf der einen Seite stimmen Sieim Bundesrat zu – das wurde hier bereits gesagt –, aufder anderen Seite sagt Herr Merz hier, dass die erneuer-baren Energien die Preistreiber seien. Er entschuldigt diePreiserhöhung der Stromkonzerne am Anfang des Jahresmit dem Verweis auf die erneuerbaren Energien. Daszeigt: Herr Merz ist auf einem Auge blind.
Fakt ist: Die Stromkonzerne haben im letzten Jahrmehr auf die Strompreise umgelegt, als tatsächlich ein-gespeist wurde. Ursache dafür war der heiße Sommer.Die Stromkonzerne hätten die Strompreise also am An-fang des Jahres mit dem Hinweis auf das EEG senkenund nicht erhöhen müssen. Dass Herr Merz das Verhal-ten der Stromkonzerne entschuldigt, zeigt, dass er auf ei-nem Auge blind ist. Statt die Stromkonzerne anzugreifenund sie an ihre Pflicht zu erinnern, schiebt er alles nurauf die erneuerbaren Energien. Das ist keine richtige Po-litik.
Was macht Herr Stoiber? Er führt als Erstes den Mi-nisterpräsidenten Chinas durch eine Biogasanlage, dienur gebaut werden konnte, weil ein rot-grünes Gesetz esermöglicht hat, sie zu betreiben.
Er schmückt sich mit Lorbeeren unserer Politik, stehtaber nicht dazu, dass diese Politik etwas kostet.
Das nenne ich: Wasch mir den Pelz, aber mach michnicht nass. Das ist eine unsolide, eine verlogene Politik.
Die wahren Preistreiber sind die Stromkonzerne. Wirhaben die höchsten Durchleitungspreise in Europa. DieInvestitionen sind aber seit 1995 um 30 Prozent gesun-ken. Die staatlichen Auflagen – um es Ihnen ganz klar zusagen – sind seit 2000, also seit vier Jahren, konstant ge-blieben. Jetzt kündigen die Stromkonzerne weitere Erhö-hungen an, obwohl in den letzten drei Jahren bei allengroßen Stromkonzernen wie RWE und Vattenfall die Ge-winne mehr als verdoppelt wurden. Ich bin froh, dass in-zwischen nicht nur bei uns, sondern bei allen Parteienangekommen ist, dass die Selbstregulierung nicht funkti-oniert, sondern wir einen starken Schiedsrichter amMarkt brauchen.Wir werden in den Verhandlungen sehen, ob Ihre An-kündigungen wirklich ernst gemeint sind. Ich nehmegern die Anregung auf, über eine Form der Anreizregu-lierung zu sprechen. Ich finde den Vorschlag, den HerrClaassen von EnBW gemacht hat, sehr interessant. Densollten wir uns genau anschauen. Ich möchte dann aberauch sehen, dass Sie dazu stehen und sich nicht wiedervom Acker machen, wenn es ernst wird. Ich freue michauf die Gespräche.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Kurt Rossmanith.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren Kollegen! Der erste Fakt ist, Frau KolleginHustedt, dass 40 Prozent des Energiepreises, den dieVerbraucher heute zu zahlen haben, von dieser Bundes-regierung aufoktroyiert wurden und daher zu verantwor-ten sind.
Der zweite Fakt ist – was hier bereits des Öfteren darge-legt wurde –, dass wir in dieser Woche einen Haushalts-entwurf in erster Lesung beraten, der von Hause aus un-seriös und mit so vielen Risiken behaftet ist, dass er imEndeffekt gar nicht beratungsfähig ist.Ich brauche überhaupt nicht zum Beispiel auf die„Berliner Morgenpost“ zurückzugreifen, in der Graf vonHohenthal von einem „Witz“ spricht, „wenn der Bundes-finanzminister noch von seinem Konsolidierungskursspricht“. Ich werde auch hier im Hause fündig. Die Mit-berichterstatterin für das Bundesministerium für Wirt-schaft und Arbeit, die Kollegin Anja Hajduk vom Bünd-nis 90/Die Grünen, hat gestern im „Inforadio“ zu denerwarteten Privatisierungserlösen – es sind immerhin15 Milliarden Euro als Einnahmen eingesetzt worden –gesagt:Die können ausfallen. Aber es ist doch wichtig,dass wir die Verfassung einhalten.
Wir legen bei diesem Haushaltsplan vor, dass wirdazu Privatisierungserlöse in einem hohen Maßebrauchen.Sie sagt also selber nicht, dass diese Erlöse erzielt wer-den, sondern sie sagt einfach: Die setzen wir ein, damitdie Bilanz ausgeglichen ist. Dazu fällt mir nur ein: Ent-weder hat sie eine Anleihe am damaligen österreichi-schen Kaiserreich genommen, wo man in derartigen
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Kurt J. RossmanithSituationen zu sagen pflegte: „Die Lage ist hoffnungs-los, aber nicht ernst“ – das ist eigentlich das, was dieKollegin zum Ausdruck gebracht hat –, oder sie wartetauf einen Deus ex Machina, der kommen soll, um dieseKoalition mit ihrer Finanzmisere aus dem Untergang zuretten.
– „Vor“. Ich bedanke mich, Herr Kollege Kuhn, für dieseKorrektur.
– Es ist immer gut, wenn man hier als Allgäuer Unter-stützung hat. Es wäre gut, wenn das in anderen politi-schen Positionen auch der Fall wäre. Aber der KollegeKuhn ist sicherlich noch lernfähig.
Ich glaube, grammatikalisch geht beides.
Ich will den Versuch unternehmen, den mit circa34,3 Milliarden Euro vorgesehen Haushaltsentwurf desBundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit anhandeiniger Beispiele, insbesondere mit Blick auf Anspruchund Realität, zu durchleuchten.Heute wurde wieder mehrfach von der Koalition rich-tigerweise gesagt, welch große Bedeutung der Mittel-stand für die wirtschaftliche Entwicklung hat. In der Tatsind laut neuester Statistik im mittelständischen Sektorvon 1996 bis 2003 1,5 Prozent zusätzliche Arbeitsplätzegeschaffen worden, während in den Großkonzernen imgleichen Zeitraum 15 Prozent der Arbeitsplätze abge-baut wurden.Aber, Herr Bundesminister Clement, in diesem Haus-haltsentwurf lassen Sie den Mittelstand schlicht und ein-fach links liegen.
Lassen Sie mich hierzu ein Faktum nennen: den Bereich„Förderung der Leistungs– und Wettbewerbsfähigkeitkleiner und mittlerer Unternehmen der gewerblichenWirtschaft sowie freier Berufe“. Auch hier beschreibenSie in Ihren Erläuterungen die Wichtigkeit des Mittel-standes, also kleiner und mittlerer Betriebe. Aber dieFakten und Zahlen, die Sie in Ihrem Haushaltsentwurfanführen, um diese Aussage zu untermauern, sprecheneine ganz andere Sprache. Trotz Lehrstellenmisere wer-den die überbetrieblichen Lehrgänge im Handwerk ge-kürzt. Bei der Modernisierung und Ausstattung vonüberbetrieblichen Fortbildungseinrichtungen wird sogardrastisch gekürzt, um 7,5 Millionen Euro.Von der Meisterausbildung, lieber BundesministerClement, verabschieden Sie sich gänzlich. Ich glaube,Sie hätten gut daran getan, im Sommer einmal bei HansSachs nachzulesen, der schreibt: „Verachtet mir dieMeister nicht, und ehrt mir ihre Kunst!“ Weiter heißt es:„Ehrt eure deutschen Meister! Dann weckt ihr gute Geis-ter.“ Aber mit diesem Haushalt, lieber Herr Bundes-minister, wecken Sie keine guten, sondern sehr schlechteGeister. Denn Sie wissen, dass gerade die Meisterausbil-dung ein ganz wesentlicher Faktor für die Selbstständig-keit ist und dass durch sie Arbeitsplätze und Lehrstellengeschaffen werden. Aber Sie sagen: „Damit will ichüberhaupt nichts mehr zu tun haben.“Im vergangenen Jahr haben Sie noch ganz groß dieAußenwirtschaftsinitiative gepriesen; es wurde ja schoneiniges dazu gesagt, dass wir Exportweltmeister sind.Aber wie sieht die Wirklichkeit aus? Die Bundesregie-rung will die Mittel für Auslandsmessen um weitere1,5 Millionen Euro kürzen,
sodass für Auslandsmessen, die insbesondere für kleineund mittlere Unternehmen – genau für diese Unterneh-men, nicht etwa für die großen – eine Hilfe sind, imnächsten Jahr nur noch 34,5 Millionen Euro zur Verfü-gung stehen sollen.Ich hoffe, dass wir in der Berichterstatterrunde nocheiniges hiervon korrigieren können. Denn, Herr Bundes-minister, Sie wissen so gut wie ich: Allein durch dieMesseförderung, also dadurch, dass kleine und mittlereUnternehmen an Messen teilnehmen können und die ent-sprechenden Hilfen bekommen, werden zusätzlich Ex-portumsätze in Höhe von 3,6 Milliarden Euro erwirt-schaftet.
20 000 Arbeitsplätze werden dadurch gesichert. Steuer-einnahmen von über 170 Millionen Euro werden er-reicht; allein für den Bund sind es über 77 MillionenEuro. Das ist ein Betrag, der doppelt so hoch ist wie IhreAnschubhilfe. Ich muss sagen: Jeder Kaufmann, derdiese Rechnung sieht, würde seinen Einsatz erhöhen undnicht absenken, damit die Steuereinnahmen noch stärkerfließten.Auf der einen Seite lässt der Bundeskanzler der Stein-kohlenindustrie – das hat er in einem Nebensatz ge-sagt – für den Zeitraum von 2006 bis 2012 noch einmal16 Milliarden Euro zukommen.
– Doch, so war es. Er hat Sie ja nicht einmal gefragt,sondern Sie, Bundesminister Clement, haben hinterherin der Zeitung lesen können, was er dort zugesagt hat. –Auf der anderen Seite sagen Sie, dass Sie im Steinkohle-bereich, dem Sie im kommenden Jahr nur noch 1,6 Mil-liarden Euro zur Verfügung stellen, doch kürzen. Auchhier erkennt man die Unseriosität dieses Haushalts.Denn eigentlich handelt es sich um 2 Milliarden Euro,aber Sie haben gleich gesagt: „Lieber Kollege Müller,die restlichen 400 Millionen Euro bekommst du erst imJanuar 2006, damit unser Haushalt einigermaßen in Ord-nung ist.“ Offiziell sind es also 1,6 Milliarden Euro, aber
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Kurt J. Rossmanithim „Kleingedruckten“ steht, dass im folgenden Jahr400 Millionen Euro hinzukommen.
Eines will ich am Schluss noch sagen. Der KollegeStiegler war vorhin noch da. Entschuldigung, da ist er ja.Er hatte nur den Platz gewechselt. Er ist jetzt dahin ge-gangen, wohin er gehört: nach ganz links außen. Respektund Anerkennung für diese auch nach außen hin sicht-bare Standortbestimmung. Lieber Kollege Stiegler, Siehaben davon gesprochen, die Bundesregierung habe beider Gemeinschaftsaufgabe nachgebessert.
Herr Kollege, Sie sehen, dass Ihre Redezeit abgelau-
fen ist.
Mein letzter Satz, Frau Präsidentin. – Was unwahr ist,
muss man richtig stellen. – Ich will diesem Hohen Hause
und der Bevölkerung sagen, was diese Bundesregierung
unter Nachbesserung versteht: Seit 1998 werden 1 Mil-
liarde Euro weniger an Bundesleistung bereitgestellt; das
sind insgesamt 2 Milliarden Euro, einschließlich der
Ländermittel. Von diesem Jahr, 2004, zum nächsten Jahr,
2005, werden die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe
überdies um weitere 200 Millionen Euro zurückgeführt.
Das sind die Fakten, und da spricht die große derzeitige
Regierungsfraktion von „Nachbesserung“. Das kann
nicht angehen. Hier werden wir in den Haushaltsbera-
tungen, die vor uns liegen, den Finger auf die Wunde le-
gen, auch wenn wir nicht alles korrigieren können. An
sich müsste dieser Haushalt sofort wieder im Papierkorb
verschwinden. Er ist das Papier nicht wert, auf dem er
steht.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Pau.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Finanzminister Eichel hat vorgestern vorsichtigen Opti-mismus versprüht: Die Wirtschaft springe an, die Ex-porte boomten und vielleicht, so der Minister, gesundealsbald auch der Binnenmarkt. Dann lobte er Hartz IV.Genau das hätte er nicht tun sollen. Denn kommt HartzIV, dann – so haben die Wirtschafts- und Arbeitsministeraller neuen Bundesländer hochgerechnet – geht allein inden neuen Bundesländern 1 Milliarde Euro an Kaufkraftverloren. Anders gesagt: Der Binnenmarkt wird ge-schwächt, kleinen und mittleren Betrieben drohen Kon-kurse und die Arbeitslosigkeit wird eher zu- als abneh-men. Das ist ein Grund, warum die PDS Hartz IVablehnt.
„Hartz“ wurde mit dem Versprechen präsentiert, binnenzwei Jahren werde die Arbeitslosigkeit halbiert. Davonist längst nicht mehr die Rede. Die jüngste Arbeitslosen-statistik sagt ohnehin etwas anderes und hinzu kommt:Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist deutlich gestiegen.Zugleich ist die Zahl der Arbeitsplätze spürbar gesun-ken.Aber es geht in diesen Debatten nicht nur umHartz IV. Sie machen eine Steuerreform, bei der Groß-verdiener gewinnen, und Sie machen eine Arbeits-marktreform, bei der die Schwachen verlieren. Sie neh-men also denjenigen, die konsumieren, und Sie gebendenjenigen, die spekulieren. Für die Grünen, die neuePartei der Besserverdiener, mag das ja inzwischen nor-mal sein, aber sozialdemokratisch ist das, was Sie hier anPolitik abliefern, nie und nimmer.
Die Wirkungen von Hartz betreffen übrigens allestrukturschwachen Regionen, auch die im Westen. Des-halb ist es ein schnödes Ablenkungsmanöver, wennHartz IV und die Proteste dagegen in einen Ost-West-Konflikt umgedeutet werden. Meine Generalthese istvielmehr: Die Agenda 2010 insgesamt ist der Gegenent-wurf zu einem modernen sozialen Rechtsstaat.
Nun ist ja viel von Populismus die Rede, auch heutewieder, und der Vorwurf wird mit Vorliebe gegen diePDS geschleudert. Ich finde das wenig souverän. Sie ha-ben in Ihrem Wahlprogramm versprochen – ich zitiere –:Deswegen wollen wir im Rahmen der Reform derArbeitslosen- und Sozialhilfe keine Absenkung derzukünftigen Leistungen auf Sozialhilfeniveau.Bei den Grünen heißt es:ArbeitslosenhilfebezieherInnen sollen nicht schlech-ter gestellt werden als bisher.Deshalb behalten Sie bitte Ihre Populismusvorwürfe fürsich. Übrigens keinen Deut besser sind die Ministerprä-sidenten Milbradt und Böhmer: Sie suggerieren immernoch, sie hätten im Dezember gegen Hartz IV gestimmt.Etwas anderes war der Fall.
Dagegen ist der Wirtschaftsminister Clement übrigenseine ganz ehrliche Haut. Er kämpft für Hartz IV, zwarmit bitterböser Miene, aber ich finde, das ist dem Gesetzdann auch angemessen.
Ein letzter Punkt. Sie – von CDU bis zu den Grünen –haben die PDS mehrfach mit der NPD in einen Topf ge-worfen. Ich finde, diejenigen, die das getan haben, soll-ten sich schämen und entschuldigen. Nicht nur, dass siedamit Antifaschisten, die der Folter im KZ knapp ent-ronnen sind und heute in der Nähe der PDS stehen,schlimm beleidigen. Sie verharmlosen mit diesem Vor-wurf auch die NPD, die mit nationalistischen und rassis-tischen Parolen durchs Land zieht. Ferner gefährden Sie
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Petra Paumit dieser absurden Gleichsetzung das gesellschaftlicheBündnis gegen rechts und für Toleranz. Ich finde, sokurzsichtig darf man auch im Wahlkampf nicht denken.
Es kommt immer die Frage nach den Alternativen derPDS. Ich finde, wir brauchen Reformen, allerdings wirk-liche. Erstens wollen wir eine andere Steuerpolitik, eine,die von oben nach unten umverteilt und nicht anders he-rum. Zweitens wollen wir eine andere Sozialpolitik,eine, die gerecht ist und solidarisch wirkt. Drittens wol-len wir mehr Demokratie und keine „Basta-Politik“.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christoph
Bergner.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Es ist auf den Tag genau zwei Monate her, dass der Bun-desrat über das Kommunale Optionsgesetz zu Hartz IVentschieden hat. Die ostdeutschen Ministerpräsidentenhaben einheitlich gegen dieses Gesetz votiert. Ichglaube, dass wir als Deutscher Bundestag bei einem soakzentuierten Minderheitenvotum unserer Länderkam-mer die Pflicht haben, uns etwas seriöser mit den Be-weggründen zu beschäftigen, als das hier mit manchemplatten Populismusvorwurf geschehen ist.
Nun kann ich schlecht für Mecklenburg-Vorpommernoder Berlin und ihre rot-roten Koalitionen sprechen.Frau Pau ist da möglicherweise kompetenter. Ich binaber bereit, hier um Verständnis und Unterstützung fürdie Motive der CDU-Ministerpräsidenten zu werben.
Die Ministerpräsidenten haben nie einen Zweifel da-ran gelassen, dass die Zusammenlegung von Arbeitslo-senhilfe und Sozialhilfe auch unter den sehr viel schwie-rigeren Bedingungen in den neuen Bundesländernrichtig und notwendig ist.
Deshalb haben sie am 19. Dezember 2003 für dasGrundsatzgesetz zu Hartz IV gestimmt. Das sollten Sieihnen nicht zum Vorwurf machen.
Sie haben dann allerdings gehofft – das habe ich auchgetan –, dass es im Zusammenhang mit den Beratungenzum Kommunalen Optionsgesetz zu Lösungen kommt,in denen eine einfache Tatsache besser berücksichtigtwird, als es bisher geschehen ist, nämlich die Tatsache,dass wir in der Bundesrepublik Deutschland einen tiefgespaltenen Arbeitsmarkt haben,
sodass man also mit Instrumenten, die im Main-Taunus-Kreis sehr leicht anwendbar sind, in den Bereichen Vor-pommerns oder Ostsachsens auf Schwierigkeiten stößt.
Es ist aus meiner Sicht ein Zeichen von Verantwor-tungsbewusstsein gegenüber der eigenen Bevölkerung,dass man sein Votum im Bundesrat dafür nutzt, für wei-tere Verbesserungen im Sinne einer Spezifizierung fürRegionen mit hoher Arbeitslosigkeit einzutreten. Genaudarum geht es.
Herr Minister Clement, auch wenn die Abstimmun-gen stattgefunden haben und Sie jetzt sagen, dass42 Prozent der Eingliederungsmittel in den Osten kom-men sollen, ist das Thema noch nicht erledigt. Denn dasGrundproblem ist folgendes: Mit Hartz IV erhöhen Sieden Druck auf Langzeitarbeitslose. Dort aber, wo keineArbeitsplätze sind, können Sie denen, auf die Sie einenverstärkten Druck ausüben, keine Option bieten. Danützt auch die größere Zahl an Fallmanagern nichts.Dies bedeutet nichts anderes, als wollten Sie einen Nah-rungsmangel durch eine höhere Zahl an Brotverkäufernbeheben. Es muss darum gehen, dass an der Substanz et-was geändert wird.
Friedrich Merz hat hier einiges zur Gemeinschafts-aufgabe gesagt. Ich möchte noch auf weitere Änderungs-notwendigkeiten hinweisen.Sie erzeugen also Druck, für den es nur noch wenigAusweichmöglichkeiten gibt. So wird es zu einer Fluchtin die 1-Euro-Jobs kommen. Herr Minister Clement, ichsehe mit großer Sorge, wie diese Situation – ich habeversucht, sie kurz zu beschreiben – dazu führt, dass es inden neuen Bundesländern zu einem, wie ich meine, un-gesunden Druck im Zusammenhang mit den so genann-ten 1-Euro-Jobs auf reguläre Beschäftigungsverhältnissekommen wird. Ich kann sehr gut verstehen, wenn Vertre-ter privater Pflegedienste – um nur ein Beispiel zu nen-nen – vor dem, was jetzt auf sie zukommt, Sorgen undBefürchtungen haben. Ich kann Sie nur auffordern, imRahmen der Monitoringgruppe und bei anderen Gele-genheiten alle Möglichkeiten zu nutzen, damit wir mög-lichst viele zusätzliche arbeitsmarktkonforme Beschäfti-gungsverhältnisse für Langzeitarbeitslose finden. Auchauf die Gefahr hin, Widerspruch zu wecken – ich saßnicht mit im Vermittlungsausschuss, Frau Dückert –:
Ich bin dafür, die Zuverdienstmöglichkeiten im Niedrig-lohnbereich zu erweitern und zu verbessern, da Sie nicht
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Dr. Christoph Bergnerbereit waren, die Lohnergänzungsleistungen in der ge-forderten Weise zu ermöglichen.
Einen zweiten Punkt kann ich nur schematisch anrei-ßen; Stichwort: 58er-Regelung. Gegenüber diesen Leu-ten, die Ihre Behörde, Herr Minister, überzeugt hat, dasssie der Arbeitsvermittlung nicht mehr zur Verfügung ste-hen sollen, haben Sie Wortbruch begangen. Man musssich etwas einfallen lassen, wie man mit dieser Bevölke-rungsgruppe umgeht.Einen dritten Punkt kann ich leider ebenfalls nur sehrkurz anreißen. Ich kann nur mit Verwunderung vermer-ken, wie immer auf Einsparungen bei den Kommunenals Folge von Hartz verwiesen und gesagt wird, dieseGelder könne man für Tagesstätten und Investitionennutzen.
– Einschließlich der zusätzlichen Zuweisungen. Ich habean Ihr Haus eine Anfrage über die Höhe der Einsparun-gen bei den Kommunen einschließlich der zusätzlichenZuweisungen in den einzelnen Bundesländern gerichtet.Die Antwort ist ernüchternd. Daraus ergibt sich, dasshinsichtlich der Einsparungen die Stadtstaaten am bestendastehen. Die Hansestadt Bremen hat pro Einwohnereine Entlastung von 171 Euro, Hamburg von 107 Euro,der Freistaat Bayern von 5 Euro und der Freistaat Thü-ringen von 16 Euro.
– Berlin ist zwar ein Stadtstaat, aber ich habe keinen An-lass, für Berlin zu sprechen.
Sie werden doch eines zugeben müssen, Herr Clement:In der vorherigen Debatte haben die Redner Ihrer Frak-tion diese Einsparungen als die Finanzierungsquelle fürdas Tagesbetreuungsausbaugesetz bezeichnet. Bei einerVerteilung der Einsparungen aufgrund von Hartz IVkommen Sie zwar bundesweit auf eine Summe von2,5 Milliarden Euro, zu denen Sie durch die Revisions-klausel verpflichtet sind. Die Tatsache, dass unterschied-liche Beträge in den Ländern ankommen und dass Unter-schiede innerhalb der Länder durch kommunaleAusgleichsgesetze ausgeglichen werden müssen, wirdjedoch zu Ungerechtigkeiten führen. Das wird auch inder Zukunft nichts bringen.Mit der gegenwärtigen Gesetzeslage können wir dieProbleme nicht lösen. Ich fordere die Bereitschaft ein,für Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit weiter um krea-tive Lösungen zu ringen, um zu passgenauen Konzeptenzu gelangen. Genau deshalb sollte man den ostdeutschenMinisterpräsidenten keine ungerechten Vorwürfe ma-chen, am wenigsten übrigens Herrn Milbradt, der heutevon der „Wirtschaftswoche“ als „Ministerpräsident desJahres“ ausgezeichnet wurde.
Vielen Dank.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 15/3674 und 15/3513 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dannsind die Überweisungen so beschlossen.Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-sicherheit. Das Wort hat zunächst der Herr Bundesmi-nister Jürgen Trittin.Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit:Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vorsechs Jahren hat die Koalition von SPD und Grünen denumweltpolitischen Stillstand unter Helmut Kohl undAngela Merkel beendet.
– Das ist so. – Wir haben seitdem eine umfassendeEnergiewende eingeleitet, wir haben weltweit den Kli-maschutz vorangebracht, wir haben eine neue Flusspoli-tik umgesetzt, wir haben den Naturschutz auf eine neueGrundlage gestellt, wir haben die Abfallwirtschaft zurKreislaufwirtschaft fortentwickelt
und wir haben zum Beispiel mit der Novelle zur Strah-lenschutzverordnung den Schutz der Bürger vor Strah-lungen und gefährlichen Chemikalien verbessert. Mit ei-nem Wort: Wir haben die ökologische ModernisierungDeutschlands umfassend vorangetrieben.Unsere Politik findet dabei die Zustimmung der Be-völkerung. Anfang des Jahres gab es eine Umfrage, nachder 66 Prozent der Bevölkerung mit dem Schutz derUmwelt durch die Bundesregierung zufrieden sind. Üb-rigens, liebe Frau Homburger, sogar 80 Prozent derFDP-Wähler.
Dies ist – ich traue mich kaum, das zu sagen – der ambesten bewertete Bereich der Bundesregierung.
Übrigens haben wir das, liebe Vertreter des Finanzminis-teriums, mit 0,3 Prozent des Gesamthaushalts erreicht.
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Bundesminister Jürgen Trittin
Was aber entscheidender ist: Wir haben in diesen Jahrendie Zustimmung zur Umweltpolitik kontinuierlich stei-gern können. Gegenüber dem Jahr 2000 ist die Zustim-mung um 9 Prozent gestiegen. Wenn etwas von dieserRegierung in der Umweltpolitik erwartet wird, dann istes nicht etwa, dass sie weniger, sondern, dass sie mehrtut. Aber diese Erwartungshaltung, meine Damen undHerren von der Union, können Sie kaum als Legitima-tion für Ihre Arbeit nehmen. Denn während in diesemZeitraum beispielsweise das Vertrauen in die Umweltpo-litik der Grünen parteiübergreifend noch einmal um3 Prozent auf 43 Prozent gesteigert wurde, sank das Ver-trauen in die Umweltpolitik der Union von imJahre 2000 immerhin noch 23 Prozent auf 17 Prozent.Die Zahlen für die FDP will ich hier lieber nicht nennen.
Sie von der Union sollten sich einmal fragen, worandieser Einbruch in der Zustimmung zu Ihrer Politik liegt.Ich will eine Vermutung äußern: Meine Vermutung ist,
dass Sie noch meilenweit von dem entfernt sind, wasIhre Partei- und Fraktionsvorsitzende gestern hier soleichtfertig ausgerufen hat,
nämlich die so genannte neue Union, die angeblich einePolitik aus einem Guss macht. Nach sechs Jahren imAmt kann ich nur sagen: In der Umweltpolitik, meineDamen und Herren von der Union, stehen Sie eher alsbegossene Pudel da.
Wollen Sie Beispiele hören? Ihr Grundproblem ist, dassSie es mit notorischer politischer Amnesie zu tun haben,dass Ihre Handlungsmaxime ist: Was schert mich meinGeschwätz von gestern? Sie selber haben das Dosen-pfand eingeführt, heute sind Sie aber nicht einmal in derLage, einen geschlossenen Kompromiss im Bundesratzu Ende zu bringen.
Nehmen wir die Energiepolitik, einen der zentralenFaktoren für die ökologische Modernisierung. Wir allewissen, dass wir weg vom Öl müssen. Diese Koalitionhat auf mehr erneuerbare Energien, mehr Energieeffi-zienz und mehr Energieeinsparungen gesetzt und hat dasmit erheblichen Haushaltsmitteln unterlegt. Wir wissen,dass die erneuerbaren Energien ein wichtiger Faktor zurSchaffung von Arbeitsplätzen sind, gerade für die struk-turschwachen Regionen an der Küste und im Osten.Gestern erst haben wir zusammen mit der Firma Shellden weltgrößten Solarpark in Espenhain bei Leipzig er-öffnet. Der Boom alleine in der Solarwirtschaft hat indiesem Jahr 5 000 neue Arbeitsplätze geschaffen.
Heute arbeiten 120 000 Menschen im Bereich der erneu-erbaren Energien. Im Jahr 2020, wenn wir die 20 Pro-zent erreichen, können es bis zu 400 000 sein.
Was fällt der Union in Gestalt des bayerischen Minis-terpräsidenten zu dem Thema „weg vom Öl“ ein? Dereinzige Satz, der ihm dazu einfällt, ist, dass er die Ver-längerung der Laufzeit von Atomkraftwerken will. Eineshabe ich aber weder von Herrn Stoiber noch von HerrnTeufel gehört, nämlich dass sie den dann zusätzlich an-fallenden Atommüll bei sich gerne lagern möchten.
Im Gegenteil: Ich bekomme im 14-Tage-Abstand vonHerrn Kauder ein Schreiben, in dem er sich besorgt äu-ßert über die Pläne der Schweiz, Atommüll in Benken zulagern. Ich bekomme Schreiben aus dem Südwesten, indenen man sich über den maroden Zustand von Fessen-heim, und aus Bayern, in denen man sich über den maro-den Zustand von Temelin Sorgen macht. Aber die glei-chen Leute, die diese Briefe schreiben, treten dafür ein,dass die Laufzeiten von altersschwachen Reaktoren wieBiblis und wie Neckarwestheim verlängert werden sol-len. Das ist die doppelte Moral; das ist der Widerspruch,unter dem Ihre umweltpolitische Glaubwürdigkeit leidet.
Ich sage Ihnen in aller Deutlichkeit: Wir teilen die Sorgeum Fessenheim; wir teilen die Sorge um Temelin. Aberwir sind vor diesem Hintergrund nicht bereit, die altenMöhren bei uns 60 Jahre lang von einer Panne zur nächs-ten laufen zu lassen. Denn was in Biblis zurzeit passiert,können Sie ja nicht mehr als Betrieb bezeichnen; das istsozusagen immer nur die Zwischenphase bis zur nächs-ten Abschaltung. Das ist überhaupt kein Unterschied zuTemelin.
Deswegen gehen wir diesen Weg weiter. Wir legennächstes Jahr, im Frühjahr 2005, Obrigheim still. Im Julinächsten Jahres enden die Transporte in die Wiederauf-arbeitung. Damit wird endlich Schluss gemacht mit derPlutoniumwirtschaft in Europa.Ein anderes Beispiel: Herr Stoiber hat plötzlich ge-merkt, dass die Energiekonzerne die Preise erhöht ha-ben. Das einzige, was ihm dazu einfällt, ist: Schuld seiendas Erneuerbare-Energien-Gesetz, die Ökosteuer und dieKraft-Wärme-Kopplung. Meine Damen und Herren, Siewissen es besser.
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Bundesminister Jürgen Trittin
– Da sagt doch einer „Stimmt ja“; er demonstriert sozu-sagen die eigene Unkenntnis. Manche Unkenntnis, dievorsätzlich herbeigeführt wird, pflegt man als Ignoranzzu bezeichnen, lieber Kollege.Stromintensive Aluhütten unterliegen im Erneuer-bare-Energien-Gesetz einer Härtefallregelung. Das pro-duzierende Gewerbe ist von der Kraft-Wärme-Kopp-lungs-Umlage ausgenommen. Die Ökosteuer entlastetdie deutsche Industrie um 17 Milliarden Euro Rentenbei-träge.
Das ist das größte Entlastungsprogramm, das es bei denLohnnebenkosten gibt.
Zu diesen 17 Milliarden Euro kommen noch 4,2 Milliar-den Euro an steuerlichen Subventionen durch die redu-zierten Beiträge hinzu. Wenn es also etwas gibt, was dieStrompreise in Deutschland nach oben treibt und dieWettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie infragestellt, dann ist das die Politik von Monopolisten wieRWE und Vattenfall, die ihre Marktposition schamlosausnutzen.
Meine Damen und Herren, ich lege – weil das zustim-mungspflichtig ist – großen Wert darauf, festzustellen,dass auch Sie in der Verantwortung sind, dass zum 1. Ja-nuar tatsächlich Wettbewerb in den Netzen herrscht, dassder Regulierer seine Arbeit aufnehmen kann und dassSie nicht auch in diesem Fall wieder auf Blockieren,Verhindern und Verzögern setzen; denn das wäre in derTat ein Anschlag auf die Wettbewerbsfähigkeit der deut-schen Industrie.
Man kann jeden Bereich der Umweltpolitik nehmen;Sie werden immer das Gleiche erleben: Der von mir per-sönlich sehr geschätzte Kollege Paziorek wird versu-chen, mich anzutreiben, mehr Umweltpolitik zu machen.Dann kommt die Industrielobby bei der Union, bremstihn aus und am Ende beschließt die Union das Gegenteil.Nehmen Sie – willkürlich ausgesucht – ein weiteres Bei-spiel: Nächste Woche Montag findet die Verbändeanhö-rung zum Fluglärmgesetz statt. Ich habe mehrere Anfra-gen von Ihnen bekommen, wann die Novelle endlichkomme. Ich weiß genau, dass Ihre Landesverkehrsminis-ter alles tun werden, diese Novelle, die die Anwohnervon Flughäfen vor Lärm besser schützen wird, zu blo-ckieren.
Entscheiden Sie sich für das eine oder für das andere!Aber hören Sie auf, hier „Umweltpolitik!“ zu rufen undin der Realpolitik die Blockade von Umweltpolitik zubetreiben!
Letzte Bemerkung. Manchmal nimmt das ganz skur-rile Züge an. Im Juni 2003 schreibt mir der sächsischeStaatsminister Flath einen Brief, in dem er schreibt: HerrTrittin, Sie müssen etwas gegen die Belastung der Be-völkerung mit Radon – einem radioaktiven Gas – tun;schaffen Sie eine bundesgesetzliche Regelung. Im Julidieses Jahres veröffentlichte die Strahlenschutzkommis-sion einen Bericht im Bundesanzeiger – das kann jedernachlesen –, in dem festgestellt wird, dass die Belastungmit Radon, wenn sie 150 Becquerel pro KubikmeterRaumluft überschreitet, ein signifikant höheres Lungen-krebsrisiko zur Folge hat. Im August des gleichen Jahreshabe ich den Ländern einen Entwurf für eine bundesge-setzliche Regelung geschickt. Wer nun glaubt, dass derErste, der mir applaudiert hat, Herr Flath gewesen wäre,der irrt. Herr Milbradt, sein Ministerpräsident, hat das al-les für überflüssig erklärt und hat auf dem anschließen-den Parteitag dem Ganzen die Krone aufgesetzt, indemer mich in das Erzgebirge einlädt und sagt, dort könneich merken, wie gesund Radonstrahlung sei.
Die Bayern haben das übrigens noch einmal getoppt.Der bayerische Umweltminister hat als Vorsorge gegenRadonbelastungen im Haushalt einen ganz einfachenRatschlag: Lüften!Sie haben seit 18 Jahren nichts dazugelernt. Wer Ra-dioaktivität für gesundheitsförderlich und Lüften füreine Strahlenschutzmaßnahme hält,
der ist noch immer auf dem Niveau von vor 18 Jahren.Damals hat ein bayerischer Minister der Bevölkerungempfohlen – empfohlen! –, von tschernobylverseuchterMolke zu essen. Solange dies so ist, so lange dürfen Siesich nicht wundern, dass Ihre Glaubwürdigkeit in derUmweltpolitik immer weiter abnimmt, und so langemüssen wir als Regierung damit leben, dass es eine um-weltpolitische Opposition in diesem Lande nicht gibt.Aber ich verspreche Ihnen eines: Trotz dieses Handicapswerden wir unseren Weg der ökologischen Modernisie-rung fortsetzen. Das führt zu mehr Umweltschutz und zumehr Beschäftigung und ist deswegen vernünftig.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. KlausLippold.
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11254 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 2004
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr MinisterTrittin hat gerade eine Statistik angeführt, die äußerst in-teressant ist. Er hat den wesentlichsten Punkt dieser Sta-tistik weggelassen, nämlich dass Minister Trittin von denBundesdeutschen die schlechteste Note aller Minister imKabinett erhält.
Wer weiß, wie dieses Kabinett insgesamt bewertet wird,der kann sich vorstellen, welch eine schallende Ohrfeigedas für ihn ist.Es gelingt ihm gelegentlich – das muss ich zugeben –,über Sachverhalte hinwegzutäuschen. Ein erstes Bei-spiel: Er hat in letzter Zeit die Klimaschutzpolitik he-rausgestellt und groß getönt, dass bis zum Jahr 202040 Prozent der CO2-Emissionen eingespart würden. Ermacht das, weil er darüber hinwegtäuschen will, dass ernicht in der Lage war, die von der damaligen Oppositionimmer als zu gering angesehene Vorgabe der Union ein-zuhalten, bis 2005 die CO2-Emissionen um 25 Prozentzu reduzieren.
Weil Sie, Herr Trittin, dort ganz eklatant versagt haben,kommt nun das klassische Ablenkungsmanöver, das wirbei der Bundesregierung immer erleben: Wenn Sie in derGegenwart versagen, versprechen Sie mehr für die Zu-kunft.
Ich habe beispielsweise das letzte Mal zu Herrn Clementgesagt, dass er zum 25. Mal eine wirtschaftliche Erho-lung angekündigt hat – in dieser Haushaltsdebatte ist siezum 26., 27. und 28. Mal angekündigt worden –, dass sieaber nicht eingetreten ist. Es gibt weniger Beschäftigungals jemals zuvor.Das ist aber nicht alles. Herr Minister Trittin, Sie ha-ben auf die Energiekonzerne geschimpft. Sie haben zwarin Teilen Recht. Aber Sie verschweigen – damit täu-schen Sie auch hier –, dass Sie mit Ihrer Energiepolitikzu der momentanen Preistreiberei ganz erheblich beige-tragen haben.
Um es deutlich zu sagen: Ich finde es unanständig, mitdem Finger auf andere zu zeigen, wenn man selbst ander Entwicklung einen nicht ganz unerheblichen Anteilhat.
Wenn schon die Wahrheit, dann bitte die ganze Wahrheitund nicht nur teilweise. Wenn, dann bitte richtig!Herr Trittin, Sie haben auf die Kreislaufwirtschaftverwiesen. Aber was haben Sie dort bislang geleistet?Null, gar nichts! Das Chaos, das Sie beim Dosenpfandangerichtet haben, jetzt noch als Vorzeigestück Ihrer Po-litik zu präsentieren ist schon eine Unverschämtheit.
Die Arbeitsplätze, die dadurch verloren gegangen sind,gehen auf Ihr Konto. Aber Sie sind ja auch der einzigeMinister dieser Regierung, der den Verlust von Arbeits-plätzen mit Sektempfängen feiert. So war es im FallStade. Das ist eine Unverschämtheit, die auch einmal er-wähnt werden muss.
Herr Trittin, es lohnt sich nicht, darüber zu grinsen; denndie Menschen, die dadurch ihre Arbeitsplätze verlorenhaben, haben ein schweres Schicksal. Darüber hilft auchdas Grinsen eines bundesdeutschen Ministers nicht hin-weg.
Wir haben mit der Nutzung von regenerativen Ener-gien begonnen. Wir werden diesen Weg fortführen. Dasist gar keine Frage. Aber wir werden Ihre Fehler in derEnergiepolitik insgesamt nicht mitmachen. Zu diesenFehlern, Herr Trittin, gehört der Ausstieg aus der Kern-energie, wie Sie ihn planen. Wir werden ihn rückgängigmachen.Sie stehen mit diesem Ausstieg weltweit völlig alleinauf weiter Flur: Die Chinesen planen 40 weitere Kern-kraftwerke, die Inder planen 20 weitere Kernkraftwerkeund in Finnland wird gerade ein neues Kernkraftwerkgebaut. Nur der überkluge Minister der BundesrepublikDeutschland sagt: Das ist eine Auslaufenergie. Mankann das zwar so machen; aber das wird Ihnen bei derBeurteilung des Gesamtsachverhalts nicht weiterhelfen.Wenn wir einen erfolgreichen Klimaschutz wollen, dannsind wir auch auf Kernenergie angewiesen.
Herr Minister, Sie haben auch versucht, das Instru-ment Emissions Trading – es ist im Grunde ein guter An-satz – zu missbrauchen, um die Entwicklung der Kohle-energie negativ zu beeinflussen. Wie sähe denn diedeutsche Energiewirtschaft aus, wenn wir, erstens, aufKernenergie verzichteten und wenn wir, zweitens, aufKohle verzichteten? Das kann man doch mit regenerati-ven Energien gar nicht ausgleichen, erst recht nicht zuwettbewerbsfähigen Preisen.Diese Regierung hat seit Jahren versprochen, ein ge-schlossenes Energiekonzept vorzulegen. Sie müssten da-ran einen ganz maßgeblichen Anteil haben. Bis heute istaußer dem Ausstieg aus der Kernenergie nichts passiertund Sie haben kein geschlossenes Energiekonzept vor-gelegt, was Ihnen von allen Seiten angekreidet wird.
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Dr. Klaus W. Lippold
Sie wissen doch, dass wir ein solches Konzept auf jedenFall brauchen, um in der Zukunft wettbewerbsfähig zusein.In Bezug auf den Vorwurf der Preistreiberei kommtnatürlich noch eines hinzu – das will ich ganz deutlichmachen –: Wir warten auf eine Studie, die von der Bun-desregierung in Auftrag gegeben worden ist und unterMitwirkung der Wirtschaft zustande kommt: Ich meinedie so genannte DENA-Studie zu den regenerativenEnergien und ihren Kosten. Herr Minister Trittin, weilIhnen die Ergebnisse dieser Studie nicht passen, ver-schieben Sie ihre Vorlage jetzt schon um Monate. Das,was Sie hier vorgaukeln, ist im Licht der Ergebnisse die-ser Studie nicht haltbar.
Man kann regenerative Energien, insbesondere im Off-shorebereich, nicht so einsetzen, wie Sie es vortäuschen.Sie belügen die Bevölkerung. So geht es nicht, Herr Mi-nister.Wir haben übrigens noch andere Anhaltspunkte, auchGutachten aus dem Wirtschaftsministerium, zur Frageder Beschäftigungssicherung durch regenerative Ener-gien, die Sie hier so groß herausgestellt haben. DieseAnhaltspunkte haben Sie ganz einfach verschoben, un-terschlagen, nie vorgelegt, weil Ihnen die Ergebnissenicht passen und weil sie Ihre Politik widerlegen. Auchso kann man Politik machen: Täuschen, wissenschaft-liche Ergebnisse unterschlagen und dann behaupten, Sieseien der Größte und der Schönste. Das sind Sie nunweiß Gott nicht.
– Herr Kollege, das war das Stichwort: Lang ist er; abergroß ist er noch lange nicht.
Herr Loske, das ist beim besten Willen so nicht darstell-bar.Es gibt Punkte, wo Sie ganz einfach hätten handelnkönnen; aber nicht gehandelt haben. Die Energieeinspa-rung im Altbaubestand ist einer dieser Punkte. Sie ha-ben unseren Vorschlag in Ihr Regierungsprogramm über-nommen, dafür steuerliche Erleichterungen vorzusehen.Allerdings haben Sie das bis heute nicht realisiert.
– Das ist etwas anderes. Sie sprechen jetzt von Zinszu-schüssen. Wenn Sie nicht unterscheiden können, dassdas Gewähren von Zinszuschüssen etwas anderes ist, alsAnreize bei der Besteuerung zu setzen, dann verstehenSie auch nicht, warum das eine Instrument auf ganz an-deren Feldern wirkt als das andere. Lassen Sie es sichvon Herrn Loske einmal erklären.Es handelt sich um einen Kernpunkt. Dazu sage ichganz deutlich: So ist das nicht aufrechtzuerhalten. DiePunkte, wo wir wirklich noch enormen Handlungsspiel-raum haben, lassen Sie beiseite. Außerdem vernachlässi-gen Sie aus meiner Sicht ganz deutlich die Energie-einsparungen. Sie haben auf diesem Felde vielversprochen, aber nichts geleistet. Die CO2-Vermei-dungskosten bei Energieeinsparungen sind deutlich ge-ringer als alles andere, was im Moment zur Diskussionsteht. Sie haben hier ein weites Feld; aber Sie nutzen esnicht. Auch hier versagen Sie und das ist sehr bedauer-lich. Sehen Sie: Man muss nicht schreien, um solcheFehler deutlich zu machen.Es gibt einen weiteren Punkt, der erwähnt werdenmuss und der uns sehr nachdenklich macht: Das ist dieChemiepolitik, die derzeit in der Europäischen Unionkonzipiert wird. Diese Chemiepolitik ist nicht nur fürChemieunternehmen selbst wichtig, sondern ist in glei-chem Maße für den Gesamtbereich Wirtschaft wichtig,insbesondere aber für kleinere und mittlere Unterneh-men sowie für die Innovation. Diese Chemiepolitikdroht im Moment zu einem ganz erheblichen bürokrati-schen Hemmnis zu werden und Arbeitsplätze nicht nurin Deutschland, sondern auch in Europa insgesamt zugefährden.Was tun Sie? In einer beispiellosen Anzeigen-kampagne loben Sie diese Politik uneingeschränkt undfordern eine Verschärfung. Das ist eine Politik, von derRezzo Schlauch – ein Kollege von Ihnen nicht nur ausder Bundesregierung, sondern auch aus Ihrer grünenPartei – ganz deutlich sagt, sie müsse so korrigiert wer-den, dass sie nicht zum Schaden der Menschen in derBundesrepublik Deutschland werde. Sie fordern eineVerschärfung. Ihr Kollege Rezzo Schlauch sagt, siemüsse korrigiert werden. Ich will an diesem Beispieldeutlich machen, wie widersprüchlich die Aussagen derBundesregierung sind.
Für unanständig halte ich – Herr Trittin, ich kann eswiederum nicht anders bezeichnen –, dass Sie AnzeigenDritter finanzieren, in denen der Chemieindustrie nichtbelegbare und nicht haltbare Vorwürfe gemacht werden.Sie und das Umweltbundesamt finanzieren mit Steuer-geldern solche Anzeigen und schreiben dann noch hi-nein, dass Sie für den Inhalt der Anzeige und die Aussa-gen keine Gewähr übernehmen. Das ist unanständig.
Dafür, dass Sie andere mit Dreck werfen lassen, dasGanze noch finanzieren und dann sagen: „Aber dafürübernehme ich nicht die Verantwortung“, werden wir Sieschon zur Verantwortung ziehen. So lassen wir Sie nichtdavonkommen.Es gibt darüber hinaus eine ganze Reihe von Punkten,Herr Minister, die wir für wichtig halten, zum Beispielden Schutz und die Erhaltung der Wälder, insbeson-dere den Schutz der tropischen Regenwälder. Wir alsUnion haben unendlich viel dafür geleistet, weil es hier-bei nicht nur um den Tropenwaldschutz geht, sondern
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Dr. Klaus W. Lippold
weil das auch ein ganz zentraler Ansatz für die Artener-haltung ist. Die Artenvernichtung, die in tropischen Re-genwäldern geschieht, ist ein ganz zentrales Problem.Davon haben Sie nicht gesprochen.Sie haben auch nicht vom Armutsbegriff gesprochenund davon, was Armut weltweit für Umweltschutz be-deutet. Sie haben nicht über die Bedeutung von Wassergesprochen, nicht darüber, was wir weltweit realisierenmüssen, damit die Menschen sauberes Trinkwasser ha-ben, damit sie nicht aufgrund vergifteten oder verseuch-ten Wassers unter Gesundheitsschäden leiden.Das alles haben Sie elegant ausgeklammert, weil Siein Ihrer Themensicht verengt sind. Es wäre gut, wennSie diese verengte Themensicht aufgeben würden, wennSie sich in Zukunft etwas mehr an die Wahrheit haltenwürden und wenn Sie gleichzeitig sehen würden, wohinweltweite Entwicklungen tatsächlich laufen. Mit IhrerBrille, die nur einen verengten Blick erlaubt, ist das nichtdrin.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Herr Kollege Ernst Ulrich von
Weizsäcker.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine verehrtenDamen und Herren! Wie Herr Minister Trittin geradeschon richtig gesagt hat: Es ist ein sehr kleiner Haushalt.Man könnte jetzt natürlich über die Zahlen im Einzelnenreden. Dabei würde herauskommen, dass diese 0,3 Pro-zent des gesamten Bundeshaushalts ganz erstaunlicheffizient eingesetzt werden. Die Umweltpolitik ist wie-der da – und das mit einem sehr geringen Finanzauf-wand. Ich finde all das, was der Herr Minister gesagt hat,sehr überzeugend, insbesondere mit Blick darauf, dassman das Thema in der Bevölkerung und auch in der In-dustrie im Gegensatz zu der Zeit vor, sagen wir einmal:zehn Jahren wieder wirklich ernst nimmt.Ich werde jetzt nicht über all die einzelnen Haushalts-titel reden, zum Beispiel den Baufortschritt beim LangenEugen, dem UNO-Zentrum in Bonn, aber ich will dochwenigstens zwei umweltpolitisch wichtige Haushaltstitelerwähnen, bei denen trotz der enormen Sparsamkeit– ein Minus von insgesamt 2,6 Prozent – eine erheblicheSteigerung zu verzeichnen ist.Bei dem einen Titel geht es um die Stärkung der För-derung der Nichtregierungsorganisationen, die imUmweltschutz tätig sind. Da sind Millionen junger undalter Menschen im Land bereit, ihre Freizeit für ein idea-listisches Ziel zu opfern. Ohne diese – häufig stille –idealistische Arbeit wäre es um die Umwelt und auch umdie Umweltpolitik im Land viel schlechter bestellt. Ichkenne kaum einen Haushaltstitel, in dem die Mittel sokosteneffizient eingesetzt werden wie hier diese 4,5 Mil-lionen Euro. Jeder Effizienzberater in der Wirtschaft– McKinsey, Roland Berger oder wer auch immer –kann nur vor Neid erblassen angesichts dieser Art vonKosteneffizienz. Das sollte man in einer Haushaltsde-batte doch auch einmal erwähnen.
Der zweite Punkt, bei dem wir eine ganz erheblicheSteigerung erlebt haben – das begrüße ich sehr –, ist dieFörderung der erneuerbaren Energien: einerseitsüber das Marktanreizprogramm, das eine Größenord-nung von 20 Millionen Euro umfasst, und andererseitsüber verstärkte Forschung auf dem Gebiet der erneuer-baren Energien. Von diesen 20 Millionen Euro stehen5 Millionen noch unter dem Vorbehalt, dass der Bundes-rat dem Abbau der Subventionen für den Eigenheimbauzustimmt. Das ist in einer Zeit ja ganz besonders ver-nünftig, wo unausgesetzt leer stehende Häuser abgeris-sen werden. Das kann man also auch aus anderen Grün-den gutheißen und nicht nur deswegen, weil es in diesemFall die erneuerbaren Energien fördern würde.
Marktanreizprogramm und verstärkte Forschung aufdem Gebiet der erneuerbaren Energien stehen im Zu-sammenhang mit der deutschen Innovationsoffensive.Bei einem Arbeitsfrühstück gestern, an dem auch einigeaus der Opposition teilgenommen haben, haben wir vonder DENA gehört, dass China als mit Abstand größterAbsatzmarkt für erneuerbare Energien ganz eindeutigauf Deutschland als Partner setzt, weil wir auf diesemGebiet die technologische Führerschaft haben.
Damit zeigt sich, dass die deutsche Exportinitiative fürerneuerbare Energien von ihrem internationalen Erfolgund von ihrer nationalen Arbeitsplatzwirksamkeit heraußerordentlich vernünftig ist.
Herr Kohler hat übrigens bei dieser Gelegenheit dieVeröffentlichung der DENA-Studie bis Jahresende inAussicht gestellt. Wir könnten zwar eventuell noch et-was aus der Studie lernen, ich habe aber das Gefühl, dasssie heute, da wir über die Haushaltsansätze für das Jahr2005 reden, vergleichsweise irrelevant ist. Denn das,was wir mit der Verabschiedung des Haushaltes be-schließen, ist auf jeden Fall richtig. Herr Kohler würdedas mit Sicherheit auch so sehen.Überhaupt ist die Umwelttechnologie weiterhin undin verstärktem Maße ein Exportschlager. Die Exporter-folge bestätigen unsere führende Stellung. Vor ein paarJahren war es ja in konservativen Kreisen noch ein we-nig üblich, Umweltschützer als Miesmacher, Müsliesseroder in ähnlicher Weise zu diskreditieren. Heute ist esberechtigt, in den Umweltschützern die Wegbereiter zuneuem Optimismus in Wirtschaft und Gesellschaft zu se-hen. Die Identifikation etwa mit den erneuerbaren Ener-gien ist in der breiten Bevölkerung und auch in Wirt-schaftskreisen sehr hoch, und das trotz reißerischer
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Dr. Ernst Ulrich von WeizsäckerArtikel in einem Nachrichtenmagazin oder mancher ge-lehrter Kalkulationen aus der Wissenschaft, in denenman diese Frage offensichtlich nur auf kurze und nichtauf lange Sicht betrachtet hat.
Dieser Optimismus in der Branche freut mich besonders,denn in der Wirtschaft und beim Einwerben von Kapitalhaben natürlich Optimisten durchweg bessere Karten alsMiesmacher.Zu dem Stichwort Miesmacher fällt mir auch noch ei-niges ein, was in dieser Haushaltsdebatte im HohenHause gelaufen ist. Zum Beispiel hat sich Herr Glos inseiner Eröffnungsrede gestern darüber beklagt, dass nunamerikanische Aufkäufer durchs Land zögen und zu Bil-ligpreisen deutsche Aktien einkauften.
– So hat er es gesagt.
– Es handelt sich um Amerikaner und zum Teil auch umBanken. – Auf jeden Fall ist die Begründung dafür jaganz offensichtlich.Die amerikanischen Finanziers schätzen den Wert unddie Ertragsfähigkeit der deutschen Wertpapiere viel hö-her ein als wir.
– Wir wissen doch aus den Wirtschaftsseiten der Zei-tung, was da alles eingekauft wird, wie in DAX-Werteund andere deutsche Werte investiert wird. Bei unsscheint es so zu sein, dass man erst einmal das Landmiesredet, sich dann ärgert, dass sich die Kurse nicht sorecht erholen, und schließlich schimpft, dass wir zu ei-nem Land für Schnäppchenjäger geworden sind. Dasheißt, die wirtschaftspolitische Logik des Miesmachensist unvernünftig. Demgegenüber ist der Umweltschutzheute ein ausgesprochener Hoffnungsträger. Das sollteauf die Wirtschaft abfärben.
Im Übrigen müssen selbst die, denen, aus welchenpolitischen Gründen auch immer, nicht nach Optimis-mus zumute ist, Umweltschutz proaktiv, in die Zukunftgerichtet, betreiben. Unsere Enkel werden über die par-teipolitischen Streitereien des Jahres 2004 nicht sehr vielwissen; aber sie werden wissen, ob wir ihnen eine in-takte Umwelt hinterlassen haben.
In diesem Zusammenhang ist langfristig natürlich dieKlimapolitik das wichtigste Thema. Herr Lippold hatvöllig Recht mit der Aussage, dass die Weichen dafürzur Zeit der Regierung von Herrn Dr. Kohl gestellt wor-den sind. Frau Dr. Merkel war selber in Kioto und hatdas Kioto-Protokoll unterschrieben. Das heißt, darübergibt es überhaupt keinen Streit. Unsere Regierung hatdie Umsetzung des Kioto-Protokolls konsequent fortge-setzt, allerdings in dem Bewusstsein, dass das Kioto-Protokoll nicht ausreicht, sondern wir darüber hinausge-hen müssen.Ich bin, und zwar gerade im europäischen Vergleich,sehr froh darüber, dass es uns, der Bundesregierung unddem Bundestag, gelungen ist, mit der Verabschiedungdes TEHG und des nationalen Zuteilungsplanes die Initi-ative zu ergreifen und zu zeigen, dass wir als Deutschean vorderster Front der Modernisierung und zugleich desUmweltschutzes stehen. Klimaschutzpolitik ist ja gleich-zeitig Modernisierungspolitik. Das sieht man etwa beider jetzt anstehenden Modernisierung der Kraftwerke inNiederaußem. Wenn die gegenwärtigen veralteten Blö-cke abgeschaltet und durch neue ersetzt werden, werdenwir damit den noch fehlenden Anteil zur Erreichung desKioto-Ziels erbringen. Das ist ein hervorragendes Sym-bol dafür, dass uns die Modernisierung im Klimaschutzvoranbringt.Die Situation in Niederaußem steht symbolisch fürdas, worauf wir achten müssen. Es geht darum, durchModernisierung und Effizienzgewinne den Kohlenstoff-einsatz zu vermindern, und das so frühzeitig, dass wirdie Technologieführerschaft nicht ans Ausland abgebenmüssen. Das ist das Motto, das sich durch alle Branchenziehen sollte, nicht nur durch die der Kraftwerksbauer:Umweltschutz als Modernisierung und Effizienzgewinn.Insofern muss man als Umweltschützer nicht unbe-dingt traurig sein, wenn der Umwelthaushalt einmal ineinem Jahr nicht ansteigt und wenn er, prozentual gese-hen, auf einem niedrigen Niveau ist. Es kommt immerdarauf an, was man aus den zur Verfügung stehendenMitteln macht, und ich finde, das wird hier außerordent-lich effizient gemacht.Vielen Dank.
Danke schön. – Das Wort hat jetzt die Abgeordnete
Birgit Homburger.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich möchte an das anknüpfen, was der Vorredner, derHerr Kollege von Weizsäcker, hier gerade gesagt hat.Herr von Weizsäcker, wir streiten uns hier ja nicht überdie Frage des Ziels. Ich glaube, kein Mitglied des Deut-schen Bundestages, egal aus welcher Partei, wirdabstreiten, dass wir uns alle dafür einsetzen, den nachfol-genden Generationen eine intakte Umwelt zu hinterlas-sen. Die Frage ist nur, wie das gemacht wird: effizient
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Birgit Homburgeroder ineffizient? Das ist doch der Kern des Streits, denwir hier haben.
In den Erläuterungen des BMU-Haushalts heißt es,der Staat habe den marktwirtschaftlichen Rahmen fürumweltgerechtes Verhalten zu schaffen. Genau das istrichtig, Herr Minister Trittin. Der Haushalt selber sagtnur wenig über die Umweltpolitik aus. Aber Ihre Redespricht Bände. Bei allen Punkten, die Sie hier genannthaben, geht es immer nur nach dem Motto: bevormun-den, verhindern und regulieren. Wir sagen Ihnen ganzklar: Wenn wir eine vernünftige Umweltpolitik wollen,die bezahlbar und effizient ist und mit der man die Zieleerreichen kann, dann brauchen wir Wettbewerb imUmweltschutz. Wir stehen für Wettbewerb. Sie und dieGrünen dagegen stehen für Staatsinterventionismus.
Sie reden von einer umfassenden Wende in derEnergiepolitik. Aber Sie haben bisher überhaupt nochkein entsprechendes Gesamtkonzept vorgelegt, in demauch die Versorgungssicherheit berücksichtigt wird. Ichsage Ihnen einmal, wo wir heute stehen. Als die FDPnoch an der Regierung beteiligt war, haben wir die Libe-ralisierung des Energiemarktes durchgesetzt und einge-leitet. Dadurch wurde das Ziel der Preissenkung erreicht.Sie dagegen haben es geschafft, dass der staatliche An-teil an den Energiekosten wieder auf über 40 Prozentgestiegen ist. Und dann erklären Sie, man müsse einenEnergiegipfel abhalten! Wir befürworten zwar diesenGipfel, aber Sie müssen sich endlich einmal bewegenund zugeben, dass ein großer Anteil an den Energieprei-sen politisch bedingt ist.
Wenn Ihre Ankündigungen nicht nur Aktionismussein sollen, müssen Sie deutlich erklären, dass Sie vonder Ökosteuer weggehen.
Der Emissionshandel wurde jetzt beschlossen. Die Öko-steuer hat doch nichts mit Ökologie zu tun. Wir rasen fürdie Rente; denn Sie brauchen das Geld aus der Öko-steuer für die Rentenversicherung. Das ist doch der ent-scheidende Punkt.
Herr Müller, die Ökosteuer ist nichts anderes als Etiket-tenschwindel.Die Dreifachförderung im Bereich der Kraft-Wärme-Kopplung ist nichts anderes als die Bedienung IhrerKlientel.
Auch beim Erneuerbare-Energien-Gesetz rücken Sienicht vom Dirigismus ab,
sondern Sie geben weiterhin staatlicherseits Technik undPreis vor. Dadurch entsteht ein hoher Finanzaufwand.Dem setzen wir die Förderung erneuerbarer Energiendurch ein wettbewerbliches Modell entgegen. Deshalb:Wenn wir jetzt über die hohen Energiepreise sprechen,müssen wir vor allem über die verfehlte Energiepolitikdieser Bundesregierung reden. Solange Sie von Ihrer Po-sition nicht abrücken, so lange ist der Energiegipfelnichts anderes als der Ausdruck der Hilflosigkeit vonKanzler und Kabinett.
In der Erläuterung zum Haushalt des BMU steht, diewichtigste Veränderung im Vergleich zum Jahr 2004liege darin, dass der Ansatz für die Forschung im Be-reich der erneuerbaren Energien um 5 Millionen Euro er-höht werde. Natürlich sagen Sie nicht dazu, dass dieseFörderung unter dem Vorbehalt steht, dass die Eigen-heimzulage abgeschafft wird.
Sie verschweigen auch, dass Sie dieses Spiel in mehre-ren Einzelplänen betreiben. Alles Mögliche wollen Siedurch Einsparungen bei der Eigenheimzulage finanzie-ren; in der Summe wollen Sie ungefähr 150 MillionenEuro zusätzlich ausgeben. Die Abschaffung der Eigen-heimzulage bringt aber nur 95 Millionen Euro, HerrMüller. In diesem Punkt erkennt man, dass dieser Haus-halt eine einzige Luftbuchung ist.
Dasselbe gilt für das Thema Kreislaufwirtschaft.
Wo haben Sie, Herr Minister Trittin, denn nur annäherndetwas für die Kreislaufwirtschaft getan? Wir haben dasentsprechende Gesetz 1994 beschlossen. Seitdem ist beiIhnen nicht viel passiert.
Zum Zwangspfand – dieses Thema ist in diesen Ta-gen durch die Beratungen im Bundesrat wieder aktuellgeworden – kann man nur sagen: Erkennen Sie dochendlich die Ergebnisse neuerer Studien an! Sie wissenganz genau, dass wir zwischenzeitlich eine andere Situa-tion haben als vor zehn, 15 Jahren. Das Zwangspfand istökologisch und ökonomisch unsinnig. Deswegen brau-chen wir eine neue Konzeption. Dieser verweigern Siesich aber. Sie machen eine Politik, die auf Zwangserzie-hung der Menschen in diesem Land setzt. Wir wollenWettbewerb und freiheitliche Bedingungen auch in derUmweltpolitik.
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Birgit Homburger
Ganz besonders unerträglich finde ich, was Sie zumThema altersschwache Reaktoren gesagt haben. Ihre Be-hauptung war, man wolle die Laufzeit altersschwacherReaktoren verlängern. Dazu kann ich nur sagen: Wir ha-ben in Deutschland eines der höchsten Sicherheitsre-gimes im Bereich der Reaktorsicherheit, und zwar zuRecht. Daran halten wir auch fest. Ein Reaktor, der die-sen Sicherheitsbestimmungen nicht entspricht, kann indiesem Land nicht weiterbetrieben werden.
Herr Minister Trittin, was Sie hier gemacht haben, istdoch nichts anderes als eine Brandrede, die emotionali-siert und Angst schürt. Es geht Ihnen doch überhauptnicht um die Umweltpolitik. Wenn die Reaktoren wirk-lich so gefährlich wären, wie Sie es sagen, dann müsstenSie diese sofort abschalten. Es ist doch scheinheilig, wasSie da machen!
Schauen wir uns einmal die Entsorgung radio-aktiver Abfälle an; auch Sie haben dies angesprochen.Hier handeln Sie absolut verantwortungslos. Sie ver-schieben dieses Problem auf die zukünftigen Generatio-nen. Sie haben einen AkEnd, den Arbeitskreis Endlager,eingesetzt. In den Erläuterungen zum Umwelthaushaltschreiben Sie – ich zitiere –:Die Entwicklung der Kriterien ist auf wissenschaft-licher Basis sachorientiert, unvoreingenommen undohne Ausschluss relevanter Aspekte erfolgt.Bei dieser Gelegenheit, Herr Minister Trittin, verschwei-gen Sie, dass Sie dem Arbeitskreis Endlager schlicht undergreifend vorgegeben haben, dass er nicht erarbeitendarf, was eigentlich sachlich richtig wäre: ein Zwei-Endlager-Konzept, das bisher die Grundlage unsererArbeit war. Im Bericht des AkEnd steht vielmehrunter „Vorbemerkungen“: „BMU-Vorgabe ‚Ein-Endla-ger-Konzept‘ …“
Auf der gleichen Seite steht unten ganz klar, dass dieVerfolgung des Ein-Endlager-Konzepts der öffentlichenHand beträchtliche Mehraufwendungen bringen wirdund wesentliche sicherheitsrelevante Kompromisse ge-schlossen werden müssen, also Gefahren damit verbun-den sind. Sie aber erklären uns in dieser Haushaltsde-batte, Sie hätten völlig unvoreingenommen gehandelt.Das Gegenteil ist der Fall, Herr Minister Trittin. Daswerden wir Ihnen deshalb nicht durchgehen lassen.
Sie werfen den Oppositionsparteien weiter vor – dasist im Übrigen eine Neuerung in den Haushaltserläute-rungen –, dass wir uns im Hinblick auf die Einsetzungeiner weiteren Arbeitsgruppe verweigert hätten. Siemüssen den Menschen in diesem Land aber bitte schöndazusagen, dass wir uns nicht für ideologische VorgabenIhrerseits missbrauchen lassen.
Wir sind jederzeit gerne bereit, an einer Konzeption mit-zuarbeiten, die zu einem vernünftigen Ergebnis bei derEndlagerung führt und an einer fachlichen und wissen-schaftlichen Basis orientiert ist. Wir sind aber nicht be-reit, an dem mitzuarbeiten, was Sie uns hier vorlegen.Das verdeutlicht beispielsweise auch der entspre-chende Bericht des Bundesrechnungshofes, der unszwischenzeitlich vorliegt. Das Bundesministerium fürBildung und Forschung und das Bundesministerium fürWirtschaft und Arbeit haben im Gegensatz zu Ihnennicht nur erklärt, dass das Ein-Endlager-Konzept finan-zielle Risiken berge, sondern darüber hinaus auch er-klärt, dass sicherheitstechnische Vorteile für ein Mehr-Endlager-Konzept sprechen würden. Das ist die Realität.Sie sind sich innerhalb der Regierung nicht einig unddeswegen haben Sie bisher noch keine Lösung vorge-legt.
In dem Bericht des Bundesrechnungshofes werden diefinanziellen Risiken ganz klar aufgezeigt. Ich weise zu-sätzlich auf die Rückforderungen der Wirtschaft hin, dieauf Sie bzw. den Bundeshaushalt zukommen werden,wenn wir den Schacht Konrad nicht entsprechend wei-terbetreiben. Das heißt, dass von unabhängiger Seite einklares Urteil gefällt wurde.Herr Minister Trittin, Sie sind ein wandelndes Haus-haltsrisiko. Der Umweltsachverständigenrat hat AnfangMai die umweltpolitische Zurückhaltung der rot-grünenBundesregierung in heftigen Worten kritisiert. An diesenAusführungen zeigt sich ganz klar: Ihnen geht es nichtum den Umweltschutz, sondern um eine Instrumentali-sierung der Ökologie für ideologische Zwecke. Das hatman heute sehr deutlich an Ihrer Rede gesehen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Winne Hermann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKollegin Homburger, Sie haben Ihre Rede damit begon-nen, dass Sie gesagt haben: Wir alle wollen doch ge-meinsam das Gute; wir unterscheiden uns nur im Weg.Sie haben Ihre Rede damit beendet, dass Sie festgestellthaben, dass der Umweltminister selber auf gar keinenFall etwas Gutes will, sondern nur ein Ideologe ist. Ichfinde, das ist kein besonders guter kommunikativer Stil;damit kommen wir nicht weiter.
Meine Damen und Herren, in Haushaltsdebatten wirdbisweilen entweder grundsätzlich kritisiert und der
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Winfried HermannHaushalt an sich vergessen oder es wird nur haushalte-risch kritisiert. Ich will versuchen, beide Elemente, denHaushalt und die grundsätzliche Politik, miteinander zuverbinden.Diese Haushaltsberatungen stehen wie auch die Bera-tungen der letzten Jahre unter dem schwierigen Vorzei-chen, dass wir Haushaltskonsolidierung betreibenmüssen. Egal, welcher Couleur wir angehören, wir müs-sen uns Gedanken um die Frage machen, wo und wie ge-spart wird und ob an der richtigen Stelle gespart wird.Mir ist wichtig, aus Sicht der Grünen deutlich zu ma-chen, dass eine Verschärfung beim Sparen insofern ausdem Subventionsabbaupapier von Koch und Steinbrückherrührt, als jetzt pauschal gekürzt werden muss, wobeies egal ist, ob es sich um sinnvolle ökologische Zu-kunftsinvestitionen handelt – ich nehme an, dass auchSie nicht abstreiten werden, dass es solche sinnvollenFördermaßnahmen gibt – oder ob es sich um Subventio-nen in alte Strukturen oder für eine alte Klientel handelt.Aus grüner Sicht ist es notwendig, hier zu differenzieren.Wir müssen auch bei der Haushaltspolitik deutlich ma-chen, dass man hier unterscheiden kann. Nur wenn wirdies schaffen, können wir auch in Haushaltsfragen eineökologische Debatte eröffnen.
Kollege von Weizsäcker hat darauf hingewiesen, dassder Umweltetat relativ klein und bescheiden ist. Ent-scheidend ist aber, dass es uns Umweltpolitikern inzwi-schen gelungen ist, wirklich massiv in zahlreiche andereEtats einzugreifen, Vorschläge zu machen, wie was ge-ändert wird, und Programme aufzulegen, die ökologi-sche Zukunftsfähigkeit fördern. So gibt es beispiels-weise im Haushalt des Bundesministeriums für Bildungund Forschung ein Großprogramm für Nachhaltigkeit.Ferner gibt es Projekte im Umfang von fast 700 Millio-nen Euro im BMZ, in denen es im Wesentlichen umnachhaltige Entwicklung, um Wasserversorgung undWasserreinigung usw. in Entwicklungsländern geht. ImHaushalt des Finanzministeriums findet sich die Finan-zierung der Altlastensanierung, im Wirtschaftsministe-rium die Energieeffizienzförderung. Bei all diesen Maß-nahmen, die der nachhaltigen Entwicklung dienen, gehtes stets um Beträge von mehreren 100 Millionen Euro.
Kollege Lippold, Sie bringen in fast jeder Debatte dasArgument von der Altbausanierung. Das muss ich Ih-nen doch einmal vorrechnen. Die letzte CDU-geführteBundesregierung hat in ihrem Etat gerade einmal20 Millionen für Altbausanierung ausgewiesen.
– Ja, 20 Millionen DM. – Wir haben im Jahre 2004360 Millionen Euro; das ist das 36fache. Außerdem ste-hen 2,2 Milliarden Euro bei der Kreditanstalt für Wie-deraufbau an Krediten für ökologische Haussanierungoder den Neubau von Energiesparhäusern zur Verfü-gung. Dies ist in der Summe weit mehr als das, was Siegetan haben. Von daher empfinde ich es als vollkommendaneben und auch als ziemlich ungeschickt von Ihnen,diesen Punkt anzusprechen. Hier stehen wir wirklichbestens da.
Wir haben in diesem Etat einige Akzente gesetzt undtrotz der Notwendigkeit des Sparens versucht, not-wendige Modernisierungsmaßnahmen und Zukunftsin-vestitionen im Haushalt zu verankern. Das Marktanreiz-programm für erneuerbare Energien wird auf 193 Mil-lionen Euro erhöht. Wir hatten einmal 200 MillionenEuro anvisiert. Unter den gegebenen Bedingungen istdas, was wir erreicht haben, schon ziemlich viel; es wirduns mächtig voranbringen. Dies zeigt sich an den vielfa-chen Formen der Umsetzung. Fahren Sie heute durchDeutschland und schauen auf die Dächer oder in dieLandschaft, dann erkennen Sie, dass überall dieEnergiewende praktiziert wird. Dies haben wir demMarkteinführungsprogramm, den Forschungsbemühun-gen, die ebenfalls gefördert werden, und dem Erneuer-bare-Energien-Gesetz zu verdanken.
FDP und CDU haben uns erneut den Vorwurf ge-macht, wir hätten kein geschlossenes Gesamtkonzeptim Energiebereich.
Das von Ihnen zu hören ist putzig. Immerhin haben wirschon ein Klimaschutzprogramm, eine ganze Reihe vonenergiegesetzlichen Maßnahmen als Bausteine und einAtomausstiegsgesetz vorgelegt. Das alles zusammen istein weit entwickeltes und in Ihrer Sprache ein fast schongeschlossenes Bild.
Es fehlen noch ein paar Mosaik- bzw. Bausteine; aberwir arbeiten weiter daran.
In all diesen Jahren haben Sie kritikasterhaft mal ge-gen das eine und mal gegen das andere geredet, ohneauch nur in einem einzigen Punkt konsistent gewesen zusein. Vielleicht ist es der Einzelne bei Ihnen. Aber wennman mit den verschiedenen Flügeln – den Mittelständ-lern, den Marktwirtschaftlern oder den Ökologen – re-det, bekommt man jeweils eine andere Antwort.
Sie erwarten von uns ein Gesamtkonzept, aber: Wo istIhr Energiekonzept? Sie haben doch in keinem einzigenBereich der Energiepolitik ein Konzept, geschweigedenn eines aus einem Guss.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 2004 11261
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Winfried HermannWir haben uns der Herausforderung verschrieben,vom Öl wegzukommen. Wir wollen das nicht nur, son-dern machen auch konkrete Schritte in diese Richtung,wir machen Programmvorschläge und entwickeln Strate-gien, um Schritt für Schritt von dieser Abhängigkeit los-zukommen. Diese Zukunftsinvestitionen werden sichdoppelt rechnen: ökologisch, weil wir weniger Kohlen-stoff verbrennen und weniger CO2 ausstoßen, und öko-nomisch, weil wir angesichts der Verteuerung von Gasund Öl gottfroh sein können, dass wir in Teilbereichen
unseres Energieverbrauchs nicht mehr vom Öl abhängigsind,
weil es dank der Effizienzsteigerung auch gelungen ist,weit weniger Energie als bisher zu verbrauchen.
In der Summe kann ich Ihnen sagen: Wir haben schoneiniges getan. Dass das Konzept noch nicht ganz ge-schlossen ist, mögen Sie verzeihen. Angesichts der Tat-sache, dass Sie gar kein Konzept haben, sehen wir schonziemlich gut aus. Wir sorgen für Zukunftsinvestitionen,weil wir wissen, dass wir all das, was heute nicht getanwird, was heute nicht in Zukunftsfähigkeit investiertwird, morgen bitter bezahlen müssen.
Das Wort hat nun die Kollegin Doris Meyer, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! „Echte Verantwortung gibt es nur da, wo es wirk-lich Antworten gibt.“ Dieses Zitat des PhilosophenMartin Buber führt uns zu einem der Hauptprobleme vonMinister Trittin: fehlende Antworten auf drängende Fra-gen.
Viele Antworten ist die rot-grüne Bundesregierung bis-her schuldig geblieben, Antworten beispielsweise aufdie Frage nach der Zukunft der Energiepolitik.Herr Hermann, bereits vor einem Jahr habe ich an die-ser Stelle ein zukunftsweisendes geschlossenes Energie-gesamtkonzept angemahnt,
passiert ist immer noch nichts. Die Bundesregierung hältsich mit Vorschlägen vornehm zurück. Stattdessen re-agiert sie auf die vielen offenen Fragen mit einem Mehran Öffentlichkeitsarbeit. Keine Frage: Gute Öffentlich-keitsarbeit ist für die Politik wichtig. Mit immer mehrÖffentlichkeitsarbeit aber fehlende Konzepte, handwerk-liche Fehler und Schnellschüsse im Gesetzgebungsver-fahren zu kaschieren ist reines Blendwerk.
Es ist Blendwerk gegenüber den Bürgerinnen undBürgern, die ihre Steuergelder beispielsweise im Fall derStilllegung des Kernkraftwerks Stade oder in SachenDosenpfand in großformatigen Anzeigen wiederfindenmussten. Eine Zahl möchte ich Ihnen nicht vorenthalten:Fast 1 Million Euro wurden von Juni 2001 bis Mitte2004 für Dosenpfandwerbung ausgegeben.
Lassen Sie uns nun einen kritischen Blick auf denHaushalt 2005 werfen. Er wurde weiter abgespeckt,nach 2004 sollen auch 2005 nominal rund20,6 Millionen Euro weniger ausgegeben werden. Soweit, so gut, könnte man meinen. Sparen und wenigerausgeben ist ja prinzipiell ganz in Ordnung. Man mussaber genau hinsehen: Der Haushalt ist zwar insgesamtkleiner geworden, aber das Ministerium selbst, die Bun-desämter für Naturschutz und für Strahlenschutz und dasUmweltbundesamt wollen trotz Umschichtungen fast100 neue Stellen schaffen. Die Verwaltung wird größer.Ob das auch dem Umwelt- und Naturschutz zugutekommt, bezweifele ich ernsthaft.
Ein Mehr an Verwaltung hat nur selten etwas gebracht.Trotz der Aufstockung des Personals in der Verwal-tung kam es in Ihrem Hause zu Versäumnissen bei derAusübung der Bundesaufsicht über die Landessammel-stellen für radioaktive Abfälle. Dieser Fehler kann denBund nach dem Bericht des Bundesrechnungshofes rund7 Millionen Euro kosten. Das sind 7 Millionen Euro, diedem Umwelthaushalt dann anderswo fehlen werden.Umwelt? Richtig, da war doch etwas im Haushalts-entwurf und diese Woche in der Zeitung zu lesen. ZurErfüllung seiner Verpflichtungen aus dem Afrikanisch-Eurasischen Wasservogel-Übereinkommen benötigt Mi-nister Trittin fast 140 000 Euro. Was man mit diesemGeld alles machen könnte!
Es gäbe sicherlich sinnvollere Einsatzmöglichkeiten wiebeispielsweise die Förderung von Forschungsprojektenim Bereich der Energieeffizienz, der Energieeinsparung,der Brennstoffzellentechnik und der Speichertechnolo-gie. Hier muss Deutschland schneller vorankommen.Unsere Unternehmen müssen diese Technik exportieren.Das ist die Chance für unsere Wirtschaft.Externer Sachverstand in Form von Beratern wirdauch im nächsten Jahre wieder in steigendem Maße zu-gekauft; das Ergebnis sieht man. Trotzdem keine ausge-feilten Konzepte!
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Doris Meyer
„Echte Verantwortung gibt es nur da, wo es wirklichAntworten gibt.“ – Das gilt auch für Ihr so genanntesEndlagerkonzept; denn „Konzept“ kann es wahrlichnicht genannt werden.
Im jüngsten Bericht des Bundesrechnungshofes wur-den Ihre Vorstellungen gerügt. Die Arbeit Ihres Hausesin diesem Bereich sei „nicht zielgerichtet, unwirtschaft-lich und wenig transparent“. Kurz nach dem Regierungs-wechsel 1998 haben Sie sich von dem Zwei-Endlager-Konzept für unterschiedlich stark strahlende Abfälleverabschiedet. Sie haben all das achtlos und noch imSiegestaumel der gewonnenen Wahl über Bord gewor-fen. Sie wollten und wollen noch immer einen Sonder-weg beschreiten und favorisieren ein einziges Endlager.Große Teile der Bevölkerung, auch die in meinerschwäbischen Heimat beim Kernkraftwerk Gundrem-mingen, sind in Sorge, dass es kein zentrales Endlagergeben wird, sondern die Zwischenlager zu dezentralenEndlagern werden. Diese Sorge, meine Damen und Her-ren, kann ich gut nachvollziehen. Wir, aber vor allemSie, Herr Minister, müssen diese Sorgen ernst nehmenund sie so weit als möglich ausräumen. Wie aber soll dasgehen, wenn Ihre Regierung unverdrossen an ihren Plä-nen festhält?Minister Trittin hat der Union vorgeworfen, sie habedie Endlagersuche blockiert. Dies entspricht nicht denTatsachen. Tatsache ist vielmehr, dass die Union nochvor der Sommerpause einen Antrag in den DeutschenBundestag eingebracht hat, in dem Sie, Herr Trittin, auf-gefordert werden, eine Lösung für die Entsorgung nu-klearer Abfälle zu finden und dies nicht weiter zu verzö-gern. Was aber macht die Bundesregierung? Nichts.Herr Minister Trittin, Sie ignorieren. Sie ignorieren inunverantwortlicher Weise mehrere Gutachten. Darinsind die Nachteile des Ein-Endlager-Konzepts aufgelis-tet. Sowohl unter Sicherheits- als auch unter Kostenas-pekten schneidet die Ein-Endlager-Lösung schlecht ab.Fachleute, die nicht regierungskonform argumentieren,werden einfach von den weiteren Beratungen ausge-schlossen.
Das ist auch eine Art und Weise, die eigene Ideologie zupflegen und möglichst unangetastet zu lassen.
Wie sich derartige Vorgänge mit den Grundsätzen unse-rer Demokratie vereinbaren lassen, sei dahingestellt.Für die Union hatte und hat die technische Sicherheitbei der Endlagersuche stets absoluten Vorrang.
Wir von der CDU/CSU werden diesen Standpunkt im In-teresse der bundesdeutschen Bevölkerung auch in Zu-kunft nicht aufgeben.
Wegen des bis heute fehlenden Bundestagsbeschlus-ses zu einem Wechsel vom Zwei- zum Ein-Endlager-Konzept sowie der fehlenden Berechnungen dazu sindRisiken in Milliardenhöhe zu befürchten. Je länger dieEntscheidungsfindung dauert, umso höher wird dasfinanzielle Risiko.Es sieht düster aus: mit der Bundesregierung sowiesound leider auch mit der Energieversorgung in Deutsch-land. Die erneuerbaren Energien allein können das nichtleisten. Hier müssen wir realistisch sein. Das wissen Sieso gut wie ich. Ich hoffe nur, dass Ihre energiepolitischenÜberlegungen – ich nenne sie nicht „Konzept“; denn esist weit und breit kein Konzept zu sehen –
nicht ideologisch verunstaltet sind. Mit Ideologie lässtsich weder heizen noch Strom erzeugen.
Ihre Regierungszeit neigt sich langsam, aber ganz si-cher dem Ende zu. Trotzdem möchte ich Sie – ich bin jaOptimistin – nochmals auffordern: Legen Sie endlichschlüssige, zielgerichtete, zukunftsweisende und vor al-lem finanzierbare Konzepte auf den Tisch. Wenn Sieschon Steuergelder verbrauchen, dann wenigstens fürSinnvolleres als für afrikanisch-eurasische Wasservögel.Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile dem Kollegen Ulrich Kelber, SPD-Frak-
tion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Debatten leben auch davon, dass man aufeinandereingeht. Deswegen, Frau Meyer, möchte ich auf Ihr rhe-torisch geschickt gewähltes Beispiel der afrikanisch-eu-rasischen Wasservögel eingehen. Wie Sie, wenn Sie re-cherchiert haben, wahrscheinlich wissen, handelt es sichdabei um einen Teil der Verpflichtungen Deutschlandszur Erfüllung der UN-Konvention zur Erhaltung derwandernden wild lebenden Tierarten. Sie haben vor kur-zem dort drüben am Brandenburger Tor ihr zehnjährigesJubiläum gefeiert.
– Nein, die Konvention.
Sie wurde vor zehn Jahren ratifiziert und die damaligeUmweltministerin hieß Angela Merkel. Daher sage ichIhnen vielen Dank dafür, dass Sie die Erfüllung von Ver-pflichtungen, die Angela Merkel eingegangen ist, kriti-siert haben.
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Ulrich Kelber
Zurück zum Haushalt des Umweltministeriums. DerHaushalt des Umweltministeriums setzt klare Schwer-punkte bei den erneuerbaren Energien, der Energieeffizi-enz und beim Weg „Weg vom Öl“. Die Mittel für dasMarktanreizprogramm für die erneuerbaren Energienund die Fördergelder für die Forschung im Bereich dererneuerbaren Energien sind erhöht worden. Der Bundhat in diesen Bereichen einige äußerst erfolgreiche Kre-ditprogramme der Kreditanstalt für Wiederaufbau finan-ziert. Wenn Sie von der CDU/CSU sich die Mühe ma-chen würden, sich einmal die Zahlen zu besorgen, wieviele Förderanträge bei der Kreditanstalt für Wiederauf-bau für Projekte in Ihren eigenen Wahlkreisen geneh-migt worden sind, würden Sie sehen, dass diese Pro-gramme mit einem Zinssatz von nur knapp über2 Prozent vor Ort sehr gut greifen.Wir haben in diesem Jahr die Novelle des Erneuer-bare-Energien-Gesetzes beschlossen, mit der Steuerbe-freiung für Biotreibstoffe begonnen und anderes mehr.Diese Koalition hat 1998 eine Politik begonnen, dienicht nur die richtige Antwort auf Daueraufgaben wieKlimaschutz ist, sondern die, wie wir vor allem in die-sem Jahr sehen, auch die einzige wirklich wirksame Per-spektive ist, um unabhängiger von Ölimporten unddamit von den sprunghaften Preisentwicklungen für Pri-vathaushalte und die Wirtschaft in Deutschland zu wer-den.
Das kann man ganz einfach in zwei Punkten festhal-ten: Erstens. Es gibt keine bessere Versicherung gegensteigende Energiepreise als eine höhere Energieeffizienzund den Ausbau der erneuerbaren Energien. Zweitens.Es gibt keinen besseren Weg, Arbeitsplätze zu schaffen,als Geld in den Ausbau erneuerbarer Energien und ineine höhere Energieeffizienz statt in hohe Ölrechnungenzu investieren.
Wir sind mit dieser Politik auf dem richtigen Weg.Die Erfolgsmeldungen kommen in immer dichteren Ab-ständen. Dafür nenne ich Ihnen vier Beispiele.Erstes Beispiel. Seit wenigen Wochen wissen wir,dass die erneuerbaren Energien erstmals in der Neuzeitwieder mehr als 10 Prozent zur deutschen Stromerzeu-gung beitragen. Das ist ein sehr stolzes Zwischenergeb-nis. Wir sind klar Weltmeister beim Ausbau der erneuer-baren Energien.Diese 10 Prozent erinnern mich wiederum an FrauMerkel, diesmal allerdings in einer anderen Angelegen-heit. Als sie Umweltministerin war, sollte sie eine Ab-schätzung abgeben, wie hoch das Potenzial für erneuer-bare Energien in Deutschland sei. Dazu sagte sie Mitteder 90er-Jahre: Auch auf mittelfristige Sicht höchstens6 Prozent.
Derzeit liegen wir bei 10 Prozent. Dazu sage ich nur:Willkommen in der Wirklichkeit!
Wenn Frau Homburger bzw. die FDP sagt, dass siemarktwirtschaftliche Ausschreibungsmodelle will, stel-len wir immer eine Frage, die uns aber nie beantwortetwird: In welchem Land, das Ausschreibungsmodelle fürerneuerbare Energien durchführt, gibt es Erfolge, diewenigstens einen Bruchteil der deutschen Erfolge aus-machen? – In keinem.In einem der Vorreiterländer auf dem Gebiet der er-neuerbaren Energien, in Dänemark, wurde einmal dasdeutsche System angewendet. Unter einer konservativenRegierung ist man dann zu einem Ausschreibungsmodellübergegangen. Jetzt können wir lesen, dass man diesenSchritt in Dänemark wieder rückgängig macht und zudem richtigen Modell zurückkehrt, weil das Ausschrei-bungsmodell keinen Erfolg hat.
Sie beenden es also. Aber Sie wollen das, was unsereNachbarländer probiert haben und was dort versagt hat,in Deutschland einführen.
Zweites Beispiel. Auf der großen internationalen Re-gierungskonferenz Renewables 2004, die im Juni inBonn stattgefunden hat, wurde nicht nur das erste Akti-onsprogramm für den Ausbau der erneuerbaren Ener-gien, sondern auch eine entsprechende Aufmerksamkeitfür deutsche Technologie und deutsche Politik erreicht.Eine sinnvolle Fortsetzung der Renewables wäre jetztdie konsequente Umsetzung des Bundestagsbeschlusseszur Schaffung von IRENA, also einer internationalenRegierungsagentur, die diese internationale Regierungs-konferenz fortsetzt. Herr Minister Trittin, bitte agierenSie hier genauso engagiert wie bei der Renewables 2004,damit wir diese Agentur auch einführen können.
Erlauben Sie mir an dieser Stelle die Bemerkung: Bonnwäre ein guter Standort für die Agentur.Drittes Beispiel. Erneuerbare Energien made in Ger-many sind nicht nur im Inland erfolgreich. Seit einigenTagen wissen wir auch, dass fast ein Viertel aller außer-halb von Deutschland aus erneuerbaren Energien er-zeugten Leistung aus Anlagen stammt, die deutsche Un-ternehmen errichtet haben; das ist ein beeindruckenderWeltmarktanteil und eine beeindruckende Exportquotein so kurzer Zeit.Genauso kennen wir seit einigen Tagen eine genaueAnalyse des Arbeitsplatzeffektes der erneuerbarenEnergien: 118 700 Menschen arbeiten in Unternehmen
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Ulrich Kelberder Erneuerbare-Energien-Branche, davon 53 200 in derWindenergiebranche. Das sollte man im Hinterkopf be-halten, wenn man versucht, sein politisches Süppchengegen die Windenergie zu kochen.
29 000 Menschen arbeiten im Bereich der Biomasse.Was für eine Perspektive für den ländlichen Raum! Ichnenne Ihnen ein Beispiel im Zusammenhang mit der Li-beralisierung des Zuckermarktes: Anstatt sich jetzt überHofstilllegungen zu unterhalten, wie wir das in der Ver-gangenheit hatten, bemühen sich die Rübenbauern unddie entsprechenden Unternehmen, dafür zu sorgen, dasshier vom Landwirt zum Energiewirt umgesattelt wird,das heißt, wir haben einen Strukturwandel, der gleichzei-tig mit guter Umweltpolitik verbunden ist. Das ist docheinmal eine Perspektive für den ländlichen Raum!
Die Zahlen stammen übrigens vom Deutschen Institutfür Wirtschaftsforschung und spiegeln den Beschäfti-gungsstand Ende 2002 wider. Seitdem haben wir einenweiteren deutlichen Aufbau.Viertes Beispiel. Die Kapazitäten deutscher Unter-nehmen in den Erneuerbare-Energien-Branchen wach-sen rapide, besonders in der Photovoltaik, aber nicht nurdort. Für das Bonner Unternehmen Solarworld – ich darfdas als Bonner Abgeordneter betonen – produzieren al-lein in Sachsen über 500 Menschen Photovoltaikmodule.
Diese Produktion soll in den nächsten Jahren vervier-facht werden – unter Schaffung entsprechender Arbeits-plätze. Mit dieser Erfolgsmeldung schmückt sich auchdie CDU-Landesregierung in Dresden. Die dafür not-wendigen Fördergesetze sind aber von allen sächsischenBundestagsabgeordneten der CDU abgelehnt worden.
– Von allen sächsischen CDU-Bundestagsabgeordne-ten! – Das heißt, diese Arbeitsplätze sind entstanden, alsRot und Grün die sächsische CDU-Regierung an dieserStelle zu ihrem Glück gezwungen haben.
Das gespaltene Verhältnis von CDU und CSU zu denerneuerbaren Energien ist zunehmend absurd. Ich kannIhnen da noch ein weiteres Beispiel nennen, auch ausmeiner Heimatstadt: Da wird die CDU-OB-Kandidatinam Wochenende eine Photovoltaikanlage einweihen.Das Unternehmen, das diese baut, möchte weiter Gelddamit verdienen. Ich habe ihr viele Dinge auf den Weggegeben, unter anderem, sie möge doch Frau Merkelschreiben, dass sie zurücknimmt, dass nach einem even-tuellen Wahlsieg von CDU und CSU 2006 das Förder-modell, das dem Bau dieser Photovoltaikanlage zu-grunde lag, wie Sie es angekündigt haben, auslaufensoll.
– Ich beantworte Ihnen die Frage, obwohl Sie keine Zwi-schenfrage gestellt haben: Natürlich wird der Zuschusszur gebauten Anlage behalten werden dürfen; das fälltunter den Bestandsschutz. Aber dieses Unternehmenwill Menschen einstellen, um Photovoltaikanlagen beianderen zu bauen. Sie wollen in Arbeitsplätze investie-ren und sie wollen natürlich wissen: Gibt es die Förder-bedingungen, zu denen heute weitere Menschen einge-stellt werden sollen, auch 2006 und 2007 noch? Odermacht die rechte Seite des Parlaments wirklich Ernst da-mit, die erfolgreiche Förderung der erneuerbaren Ener-gien in Deutschland zu beenden? Diese Fragestellungbeschäftigt den Handwerker von dieser Firma und dieMenschen, die bei ihm arbeiten wollen.
Da wir über die Studien der DENA reden, Herr Lippold:Die DENA hat diese Woche zu einem energiepolitischenFrühstück eingeladen. Ich habe Sie dort nicht gesehen,aber man hat ja auch andere Verpflichtungen, dasstimmt.
Dort ist nach der Studie gefragt worden und dort hat derChef der DENA Antwort gegeben. Ich hätte schon er-wartet, dass Sie diese Antwort einmal lesen, bevor Siehier gegenüber der Regierung Falschaussagen zu dieserStudie treffen.
– Da von einer Kollegin von der CDU/CSU gefragtwurde, hätten Sie es vielleicht weitergeben können, oderman hätte bei der DENA zumindest einmal nachfragenkönnen, bevor man eine Behauptung aufstellt.Zurück zum aktuellen Thema der Energiepreise. Vorallem aus den Reihen der CDU/CSU gibt es täglich po-pulistische Vorschläge dafür, was man dort tun kann. Ichhabe gelesen, dass man das ex ante regeln sollte. Es gehtdabei um alle 1 700 Stromunternehmen, die bis zum1. Januar 2005 eine Entscheidung über ihren Antrag ha-ben wollen. Ich bin gespannt, wie viele Mitarbeiter derRegulierer einstellen soll, um im Dezember 1 700 An-träge durchgängig zu prüfen.Ohne jegliche Antwort darauf, wie das finanziert wer-den soll, werden Steuersenkungen gefordert. Damitwürde das Problem nur um einige Jahre in die Zukunftverschoben. Wer Energie heute künstlich verbilligt, derwird die Menschen in zwei Jahren vor viel größere Pro-bleme stellen. Die beste Versicherung ist es, den Ver-brauch von Öl und Gas in diesem Land zu reduzieren,
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Ulrich Kelberweil das die Höhe der Rechnungen senkt. Darin müssenwir investieren.
Für diesen Weg – weg vom Öl und hin zu einer umwelt-verträglichen und kostenstabilen Energieversorgung –setzen wir mit dem Haushalt die richtigen Schwer-punkte.Leider geht es bei Haushaltsdebatten nicht immer nurum Schwerpunkte, sie sind oft auch mit ätzendenRitualen gespickt. Eines dieser Rituale ist, dass sich dieCDU/CSU und auch die FDP immer hier hinstellen undsagen, dass wir eigentlich zu wenig für den Umwelt-schutz tun und zu wenig Geld dafür ausgeben. Eigentlichmöchten Sie das besser machen. Ich befürchte, es gibtsogar einige Journalisten und Bürger, die das glauben.Diese lade ich ein, in den Umweltausschuss zu kommenund persönlich nachzuprüfen, wie die Umweltpolitikvon CDU/CSU und FDP wirklich aussieht.Herr Lippold hat vorhin gesagt, wir würden die CDU/CSU-Klimaschutzziele nicht erreichen. Im Umweltaus-schuss haben Sie vor wenigen Wochen gefordert, dassDeutschland im Jahre 2007 mehr Treibhausgase emittie-ren können soll als 2004. Das wäre die Beendigung desKlimaschutzes. Jeder kann im Umweltausschuss persön-lich nachprüfen, wie die echte Umweltpolitik aussieht.
Manchmal hört man fast das Zähneknirschen von wirk-lich engagierten CDU/CSU-Politikern, wie zum Beispielder Kollegin Meyer, der ich das zubillige, wenn die Vor-turner an dieser Stelle so etwas fordern.Ich könnte an dieser Stelle einige weitere Beispieleaufzählen, aber meine Redezeit beträgt noch genau nullSekunden. Mit dieser Opposition ist in diesem Staat keinUmweltschutz zu machen. Es gibt keine Alternative zudem Weg, den wir eingeschlagen haben.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Peter
Paziorek das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kelber hat gerade eine Aussprache und Diskussion
in einer der letzten Sitzungen des Umweltausschusses zi-
tiert. Es ging um die Frage, wie viel CO2 gemäß dem na-tionalen Zuteilungsplan in der ersten Zuteilungsperiode
bis Ende 2007 in Deutschland reduziert werden soll.
Herr Kelber hat das gerade so dargestellt, als ob die
CDU/CSU nur ein Interesse daran hätte, einen ehrgeizi-
gen Plan zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes zu boy-
kottieren und zu hintertreiben. Herr Kelber, das, was Sie
gesagt haben, war falsch. Sie haben die Diskussion im
Umweltausschuss völlig verfälscht wiedergegeben.
Im Umweltausschuss ging es um die Frage, ob wir
das Ziel der CO2-Reduktion, zu dem wir uns völker-rechtlich gemeinsam verpflichtet haben, im Jahre 2012
erreichen oder ob wir es in der Form, die Sie vorgeschla-
gen haben, weitgehend bereits im Jahre 2008 erreichen
müssen. Wir als Union haben vorgeschlagen, den gesam-
ten Zeitraum zu sehen und die Phasen gegenseitig zu ge-
wichten. Daneben haben wir deutlich gemacht, dass wir
schon eine Reduktion von fast 19 Prozent – insgesamt
werden 21 Prozent angestrebt – erreicht haben. Wir ha-
ben vorgeschlagen, die noch fehlenden 2 Prozent nicht
in der ersten Phase bis 2008 übermäßig stark anzustre-
ben, sondern die Erreichung dieses Ziels praktisch auf
beide Phasen zu verteilen und den Anteil für die zweite
Phase bis 2012 zu erhöhen.
Das hätte den Vorteil gehabt, dass die deutsche Wirt-
schaft schrittweise in den Emissionshandel hineingeführt
worden wäre und dass der Wettbewerb zwischen den na-
tionalen Volkswirtschaften nicht zulasten des deutschen
Standortes beeinträchtigt worden wäre. Dennoch hätten
wir das gemeinsame Ziel bis 2012 erreichen können.
Dafür und nicht dafür, sich von einer CO2-Politik zuverabschieden, haben wir plädiert.
Kollege Kelber zur Erwiderung.
Herr Kollege Paziorek, Sie haben gerade eigentlichnur das bestätigt, was ich gesagt habe. Ich habe zwei Sa-chen unterschieden:Erstens habe ich gesagt, dass sich die CDU/CSU inForm von Herrn Lippold hier hingestellt und gesagt hat,wir hätten das 25-Prozent-Ziel eigentlich erreichen müs-sen, was etwa 100 Millionen Tonnen CO2 weniger gewe-sen wären.Zweitens. Bei den Verhandlungen über den Klima-schutz in den letzten Wochen, bei denen es um zweiZeiträume geht, 2005 bis 2007 und 2008 bis 2012, alswir vorgeschlagen haben, bis 2007 nicht um 100 Millio-nen, sondern um 2 Millionen Tonnen zu reduzieren, ha-ben Sie erklärt, dass das nicht machbar sei. Zu dem Ziel,bis 2012 von 505 Millionen auf 499 Millionen Tonnenfür die Energiewirtschaft und die Industrie herunterzuge-hen, haben Sie sich gar nicht geäußert, sondern sind ganzstill gewesen. Als wir vorgeschlagen haben, von505 Millionen auf 503 Millionen Tonnen zu reduzieren– der CDU-Vorschlag von 1990 lag bei knapp über400 Millionen Tonnen –, hieß es, diese 2 Millionen Ton-nen Reduktion seien nicht zu erreichen.Bei diesem Verhalten ist es unehrlich, heute zu sagen,wir haben von euch 100 Millionen Tonnen Reduktion
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Ulrich Kelbergefordert, die ihr aber nicht erreicht. Dabei waren Siedoch nicht einmal bereit, uns bei 2 Millionen Tonnenentgegenzukommen.
Nach meinem Eindruck hatte sowohl derjenige, der
die Kurzintervention machen wollte, wie auch derjenige,
der darauf reagieren darf, Gelegenheit, das zu tun.
Nun können wir dem nächsten Redner lauschen. Das
ist der Kollege Albrecht Feibel für die CDU/CSU-Frak-
tion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Wir sprechen heute über den Haushaltsplan 2005. HerrKelber, Sie sind eine ganz wichtige Antwort schuldig ge-blieben. Natürlich sind neue Arbeitsplätze im Bereichder erneuerbaren Energien wünschenswert.
– Von mir aus sind es gut 100 000. Aber was diese Ar-beitsplätze kosten, haben Sie hier nicht vorgetragen. Dasist dann eine unredliche Diskussion über neue Arbeits-plätze.
Der Kollege von Weizsäcker hat davon gesprochen,dass es ein Haushalt der Kosteneffizienz sei, der vomUmweltminister vorgelegt wurde. Wer genau hinschaut,sieht viele Möglichkeiten der Einsparungen, die vorge-nommen werden können. Selbst wenn der Haushalt mitrund 750 Millionen Euro eher klein ist, so wissen wirdoch, dass die großen Ausgaben in Milliardenbeträgenaußerhalb dieses Haushaltes stattfinden. Deshalb müssenwir das Gesamtpaket betrachten und dazu Einsparvor-schläge machen.Der Bund ist in einer außerordentlich schwierigen Si-tuation, weil er seit etlichen Jahren etwa 200 Milliar-den Euro einnimmt und rund 250 Milliarden Euro aus-gibt und diese Lücke von 40 bis 50 Milliarden Euro imWesentlichen immer wieder durch Neuverschuldungabgedeckt werden muss. Das heißt, wenn wir eine ver-antwortungsvolle Haushaltspolitik machen wollen, ist esdringend notwendig, dass diese Lücke reduziert wird.Deshalb muss in allen Einzelplänen gespart werden.Vor einer Politik, wie sie im Moment gemacht wird,hat der Bundeskanzler vor einem Jahr in Berlin gewarnt.Er hat gesagt: Wir dürfen heute nicht all das aufessen,wovon diese morgen auch noch leben wollen. – Ichnehme an, dass er mit „diese“ die nächsten Generationenmeint. Das sei künftigen Generationen gegenüber nichtfair, so der Bundeskanzler.Betrachten wir einmal den Einzelplan 16. Er zeugtnicht gerade von Rücksichtnahme auf künftige Genera-tionen. Unter der Überschrift „Wir tun etwas für die Um-welt“ kann man vieles entschuldigen. Man kann erklä-ren, dies seien im Rahmen des Umweltschutzeszwingende Investitionen. Aber das Haushaltsgebarendes Einzelplans 16 ist weder fair, wie es der Bundes-kanzler gefordert hat, noch verantwortungsbewusst.Deshalb nützt es auch nichts, wenn der Kanzler fest-stellt: Der Bundesfinanzminister hat damit begonnen,den Haushalt erfolgreich zu konsolidieren. Bei einer Lü-cke von 40 bis 50 Milliarden Euro im Jahr kann man dassicher nicht sagen. Eine erfolgreiche Konsolidierung be-steht bei dieser Regierung in einer hohen Neuverschul-dung. Das kann nicht das Ziel der Haushaltspolitik sein.Wer wie diese Bundesregierung von den BürgernSparsamkeit verlangt, der muss auch selbst ein gutesBeispiel geben. Selbst wenn das erwartete bescheideneWirtschaftswachstum den Haushalt sicher nicht verfas-sungsgemäß und auch nicht den Maastricht-Kriterienentsprechend werden lässt, müssen wir daran gehen, indem Einzelplan des Umweltministers nach Einspar-möglichkeiten zu suchen.Es gibt eine ganze Reihe von Möglichkeiten, insbe-sondere im konsumtiven Bereich. Da sind die Personal-ausgaben. Der Finanzminister fordert von jedem Minis-ter jährlich Einsparungen von 1,5 Prozent. Dem kommtder Umweltminister rein formal auch nach, indem er dieregulären Personalkosten um 1,5 Prozent kürzt, aller-dings parallel dazu – dies auch wieder im Jahr 2005 –Hilfskräfte und Mitarbeiter mit Zeitverträgen beschäf-tigt. Das ist ein Nullsummenspiel, aber keine Einspa-rung. Wenn wir genau hinschauen, könnte im Bereichder Hilfskräfte und der Mitarbeiter mit Zeitverträgeneine Summe von mindestens 6 Millionen Euro einge-spart werden.
Der nächste Punkt. Für internationale Zusammen-arbeit und internationale Organisationen sieht der Ein-zelplan des Umweltministers 32,5 Millionen Euro vor.Da sind sicher die größten Beträge nützlich angelegt.Daran gibt es überhaupt keinen Zweifel. Trotzdem binich der Auffassung, dass auch dort Einsparmöglichkeitengegeben sind. Ich denke an eine Summe von etwa5 Millionen Euro.
– Nicht alles sind Zusagen. Schauen Sie sich den Haus-halt genau an! Sie werden feststellen, dass da noch aller-hand Luft ist.In Zeiten knapper Kassen müssen die Ausgaben fürÖffentlichkeitsarbeit, Dokumentation und Dienstrei-sen reduziert werden. Diese Ausgaben machen annä-hernd 12 Millionen Euro aus. Ich gehe von einem Ein-sparvolumen von mindestens 5 Millionen Euro aus. Indiesem Zusammenhang ist auch die Kritik des Bundes-rechnungshofes zu sehen, der im Zusammenhang mit derverschwenderischen Brasilienreise davon gesprochenhat, dass es immer noch ein ungenügendes Reisema-nagement im Ministerium gibt.
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Albrecht FeibelMehr als 260 Millionen Euro sollen auch imJahr 2005 für die Förderung erneuerbarer Energienausgegeben werden. Das ist sicher in Ordnung. Wir wol-len das auch. Aber ich bin der Meinung, dass man auchdiese Ausgaben auf den Prüfstand stellen muss, um zusehen, ob es Einsparmöglichkeiten gibt. In diesem Zu-sammenhang noch ein Wort zur Einspeisevergütung. Esist nicht zu leugnen, dass 40 Prozent der Stromkostenvom Staat bestimmt werden. Wenn die Preise so hochsind wie in diesen Tagen, was kritisiert wird, und dieWettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft gefährdet ist,dann muss man diesen Anteil von 40 Prozent ebenfallsunter die Lupe nehmen.Ein leidiges Thema sind die enormen Kosten fürSachverständige, Berater, Gutachten und Fachbeiräte.Deren Sinnhaftigkeit muss man einmal überprüfen. DasBundesumweltministerium verfügt über ausgezeichneteFachkräfte oder wollten Sie das bestreiten, Herr Minis-ter? – Er hört überhaupt nicht zu. Deshalb sollte es nur inAusnahmefällen auf die Beschäftigung Externer zurück-greifen. Auch da gibt es ein erhebliches Einsparpoten-zial. Ich gehe davon aus, dass man hier mindestens50 Prozent – sprich: 2 Millionen Euro – einsparen kann.Die letzte ergiebige Position für Einsparungen liegtbei der Zwischen- und Endlagerung von radioaktivenAbfällen, die chaotisch ist. Ich möchte hier keine Wer-tung über die Kernenergie abgeben. Das haben Sie undandere schon gemacht. Es ist lediglich die Betrachtungund die Kritik des Haushälters, der sich um Sparsamkeitund Wirtschaftlichkeit im Umgang mit den Steuergel-dern sorgt. Da werden Gutachten für viel Geld in Seriebestellt, Kommissionen beschäftigt und Projektgruppenberufen, deren Beratungsergebnisse den Minister über-haupt nicht interessieren.
Offensichtlich ist er deshalb nicht interessiert, weil dievorgeschlagenen Lösungen nicht seinen Vorstellungenentsprechen.
In Wirklichkeit will der Minister mit diesen Gutachtern,Projektgruppen und Kommissionen nur eine Verzöge-rung der Problemlösung herbeiführen. Der Bundesrech-nungshof hat in seinem Bericht vom 31. August 2004eine vernichtende Kritik hinsichtlich der Endlagerungatomarer Abfälle in der Verantwortung des Bundesum-weltministers abgegeben. Der Konzeptwechsel vomMehr- zum Einendlager birgt nach Auffassung des Bun-desrechnungshofes Risiken für den Bundeshaushalt inHöhe mehrerer Milliarden Euro. Diese Risiken wachsenmit der Dauer der Entscheidungsfindungsprozesse, HerrMinister. Sie sind kräftig dabei, diese Entscheidungsfin-dungsprozesse in die Länge zu ziehen.Wir schließen uns der Aufforderung des Bundesrech-nungshofes an, der Sie, Herr Trittin, auffordert, endlichdie Ihnen vorliegenden Erkenntnisse auszuwerten, eineBilanz aus den bisherigen Untersuchungen zu ziehenund auf der Grundlage einer ordnungsgemäßen Wirt-schaftlichkeitsuntersuchung zügig eine Entscheidungherbeizuführen, um die finanziellen Risiken für denBundeshaushalt zu beherrschen. Das schreibt Ihnen derBundesrechnungshof ins Stammbuch.Im Übrigen sollten Sie bedenken, dass in keinem an-deren Staat auf dieser Erde bisher das Ziel einer gemein-samen Entsorgung aller radioaktiven Abfälle in einemeinzigen Endlager verfolgt wurde. Das sollte eigentlichzum Nachdenken führen. Handeln Sie ohne ideologischeScheuklappen, damit Sie dem ohnehin gebeutelten Steu-erzahler nicht noch höhere Stromrechnungen, noch hö-here Kosten und noch höhere Haushaltsdefizite zumu-ten.Danke.
Nächster Redner ist der Kollege Michael Müller,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es istnoch gar nicht so lange her, da hörte man überall, dasJahrzehnt der Ökologie sei vorbei. In der Zwischenzeithat uns die Wirklichkeit eingeholt, und zwar härter, alsviele geglaubt haben. Man muss sich nur die Entwick-lung auf den Rohstoff- und Energiemärkten anschauen.Das entscheidende Problem, mit dem wir es heute zu tunhaben, ist ein ökologisches Problem. Es ist nicht so, dassdieses Thema abgeschrieben ist; im Gegenteil: Wenn wirjetzt die Weichen falsch stellen, dann wird uns sowohleine ökonomische Krise als auch eine ökologische Kriseeinholen. Insofern muss man sich jetzt genau anschauen,wie die langen Linien unserer Politik aussehen sollen.Das ist wichtiger denn je.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich das an ei-nem Punkt verdeutlichen: Seit der industriellen Revolu-tion, also seit 1850, ist die entscheidende Grundlage desindustriellen Wachstums der Einsatz von Ressourcen.Er ist inzwischen auch ein entscheidender Motor derGlobalisierung, aber gerade auch die Schwäche der Glo-balisierung. Wir kommen an der einfachen Feststellungnicht vorbei: Das heutige Energie- und Rohstoffsystemist auf 1 Milliarde Menschen ausgerichtet. Selbst diese1 Milliarde Menschen überfordert das System bereits.Wir haben aber 5 bis 6 Milliarden Menschen auf derErde, die dieses System nutzen wollen. Deshalb kannman das bisherige Energie- und Rohstoffsystem nichtfortsetzen. Das ist der entscheidende Punkt, um den esgeht.
Wir müssen einfach begreifen: Wenn nicht einige In-dustrieländer Vorreiter sind bei der Neuordnung in Rich-tung Energieeffizienz und Solarwirtschaft, dann wirdgenau das eintreten, was uns eigentlich seit Ende der60er-Jahre alle prognostizieren, nämlich dass wir keine
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Michael Müller
friedliche Zukunft haben. Das ist der Punkt, um den esgeht.Frau Homburger, wenn Sie von Freiheit reden, dannmuss ich Ihnen auch einmal sagen: Es gibt keinen nen-nenswerten wichtigen Philosophen der Moderne, derFreiheit nur individuell definiert hat – was Sie perma-nent tun.
Es ist immer so gewesen, dass es eine Wechselwirkungzwischen Verantwortung für die Gemeinschaft und in-dividueller Freiheit gegeben hat. Das ist die Grundlageder Moderne, nicht Ihr verengtes und meines Erachtensauch sehr verklemmtes Verständnis von Freiheit.
Auch Joseph Schumpeter, der InnovationstheoretikerNummer eins, hat es immer abgelehnt, Markt nur als in-dividuelle Freiheit zu definieren; er hat ihn immer imZusammenhang mit den öffentlichen, mit den gemein-schaftlichen Gütern, wie er es genannt hat, definiert.
Sie haben bis heute nicht verstanden, dass in einer zu-sammenwachsenden Welt das Prinzip der Gegenseitig-keit wichtiger denn je wird, und zwar nicht nur Gegen-seitigkeit der heute lebenden Generation, sonderngleichzeitig auch der künftig lebenden Generationen.Meine Damen und Herren, es gehört zum Verständnisvon Freiheit, dass man auch die Verantwortung über-nimmt. Genau das tun wir. Es ist natürlich einfach, zu sa-gen: Wir versprechen billige Energie. Nur, es ist eineLüge; denn niemand kann dieses Versprechen einhalten.Insofern geht es um preiswerte Energie. Es wird in Zu-kunft aber keine billige Energie mehr geben; denn dieVerhältnisse haben sich grundlegend geändert. Deshalbmüssen wir alles tun, um vor allem Energie einzusparenund neue Energietechnologien zu entwickeln. Man darfnicht, wie Sie das tun, glauben, die Lösung liege darin,dass man einfach das Energieangebot ausweitet.Die Atomkraft, die Sie favorisieren, ist jedoch keineLösung. Würden die Ausbaupläne, über die momentanin vielen Ländern diskutiert wird, umgesetzt, dann wür-den die Uranressourcen nach Untersuchungen desVDEW – das sollten Sie wissen – in 20 bis 25 Jahren er-schöpft sein. Wollen Sie in diese Falle laufen oder – daswäre dann die Alternative – wollen Sie die Plutonium-wirtschaft? Sie sollten hier die Wahrheit sagen.
Tatsache ist: Wir erleben zum ersten Mal im indus-triellen Zeitalter, was es bedeutet, mit Grenzen umgehenzu müssen. Das ist die Herausforderung, der wir uns stel-len müssen. Man kann ja beispielsweise über die Öko-steuer oder das EEG denken, was man will. Aber wer be-streitet, dass damit tendenziell eine Wende in derEnergiepolitik eingeleitet wurde, der hat nichts begriffenoder will die Fakten nicht zur Kenntnis nehmen. Seit derÖlpreiskrise Anfang der 70er-Jahre sinkt zum ersten Malder Kraftstoffverbrauch in Deutschland, und zwarnicht unter Krisenbedingungen. Es gibt eine massiveSteigerung der Energieproduktivität. Das Wachstumliegt in diesem Bereich bei 2 Prozent. In den vergange-nen Jahrzehnten haben wir selten mehr als 1 Prozent er-reicht. Es gibt hier auch einen Aufwuchs an Arbeitsplät-zen.
Natürlich ist das ein schwieriger Weg. Aber glauben Sieim Ernst, dass alles automatisch geregelt wird, wenn wires dem Markt überlassen? Warum ist es dann aber in derVergangenheit nicht passiert? Es bedarf politischer Rah-mensetzungen.
Dazu muss man sich bekennen. Das tun wir. Ich findedas auch richtig.In einer sehr weitsichtigen Rede vor der Wirtschafts-kammer von Madrid hat John Maynard Keynes 1933gesagt – das haben die Keynesianer, die nur über dasDeficit-spending reden, bestimmt nie gelesen; ich finde,dass das einer der interessantesten Punkte ist –:Die zentralen Zukunftsfragen werden sein: techno-logische Arbeitslosigkeit und die Verwerfungenzwischen Geldanlagen und Produktivität im inter-nationalen Bereich.Genau das tritt heute ein. Interessanterweise ist auch hierÖkologie ein entscheidender Punkt, um das Problem zulösen. In Zukunft wird es nicht mehr möglich sein, Pro-bleme in der Beschäftigungspolitik ausschließlich überden Faktor Arbeit zu lösen. Deutschland braucht geradeals Exportland eine hohe Produktivität. Das können wirnur über mehr Materialeffizienz, Energieeffizienz undRessourceneffizienz erreichen. Das ist der entscheidendeWeg. Auch hier liegt Rot-Grün richtig, nicht Sie.
Was Verantwortung der Politik bedeutet, möchte ichan drei Punkten deutlich machen. Erster Punkt. Wir ma-chen eine Energiepolitik der Effizienz und der solarenWende, weil wir nicht wollen, dass die Zukunft von Res-sourcenkriegen bestimmt wird. Wenn man sich in derWelt genau umschaut, dann weiß man, dass das bereitsreal ist. Was erleben wir denn momentan? Ein Teil derEnergiepreissteigerungen ist darauf zurückzuführen,dass jetzt große und sich industrialisierende Schwellen-länder das Gleiche tun, was wir in der Vergangenheit ge-macht haben. Deshalb explodiert beispielsweise der Erd-ölpreis im Nahen Osten. Es ist eine Illusion, zu glauben,dass diese Entwicklung allein auf den Terrorismus zu-rückgeht. Vielmehr entwickelt sich eine ganz andereNachfragestruktur. Das kann man nicht einfach hin-nehmen. Man muss vielmehr einen intelligenteren Um-gang mit Energie entwickeln. Das ist die Antwort darauf.
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Michael Müller
Der zweite Punkt betrifft die Klimagefahren. NehmenSie als Beispiel nur die letzte Studie der EuropäischenUmweltagentur. Was dort vor allem im Hinblick auf dieVeränderung der Meeressysteme festgestellt wird, istdramatisch. Wir nehmen das viel zu wenig zur Kenntnis.So hat sich der Druckwirbel im Nordatlantik beispiels-weise in den letzten 15 Jahren um ungefähr 25 Prozentverringert. Was dies in Konsequenz für das gesamteeuropäische Klima bedeutet, kann man sich gar nichtausmalen.
Auf jeden Fall wird es verhängnisvoll sein. Andere Bei-spiele sind die Veränderung des Salzgehaltes in denOzeanen und das immer häufigere Auftreten des Henry-Effektes, also des Abbrechens großer polarer Eisschich-ten. All das sind Phänomene, deren Bedeutung wir beieiner kurzfristigen Betrachtungsweise überhaupt nichterfassen können. Auch hier hat die Politik die Verant-wortung, in langen Zeiträumen zu denken. Das bedeutet„Energiewende“.Dritter Punkt. Die technologische Arbeitslosigkeitwird – ich habe es schon einmal angesprochen – nicht zubeseitigen sein, sofern wir den gesamten Rationalisie-rungsdruck in reifen Ökonomien nur über den Faktor Ar-beit organisieren. So wird dieses Problem nicht gelöst.Wir brauchen einen anderen, einen intelligenteren Um-gang mit Produktivität.Sie müssen sehen: Die Ressourcenproduktivität istim Vergleich zur Arbeitsproduktivität nur um etwa einViertel, wenn nicht sogar nur um ein Fünftel gestiegen.Steigende Arbeitsproduktivität heißt: Es wird immermehr Arbeitskraft durch Technik ersetzt. Warum fördernwir nicht eine Produktivitätssteigerung, die im Grundegenommen die Natur und die Ressourcen schont? Auchdas ist möglich und es schafft Arbeit. So sieht ein ande-res, ein zukunftsweisendes Denken aus, wie wir es wol-len und wie es unserer Linie entspricht.
Ich glaube, dass die Ökologie wieder eine zentrale,eine viel größere Bedeutung bekommt, als wir es uns imMoment vorstellen; denn in Zukunft wird in einer zu-sammenwachsenden Welt die stoffliche Seite des Wirt-schaftens von zentraler Bedeutung sein. Jetzt können wirdie Weichen stellen: Entweder wir bleiben bei derVerschwendungswirtschaft – wir müssen sie dann unterInkaufnahme immer größerer Konflikte absichern; logi-scherweise werden wir dann zur Nutzung von Atom-energie und vielem anderen zurückkehren – oder wir be-greifen, dass Zukunftsverantwortung für uns heißt: Wirmüssen versuchen, mit möglichst wenig Energie und mitmöglichst wenig Rohstoffen auszukommen.Herr Paziorek, Anfang der 90er-Jahre haben wir dieIdee der Kreislaufwirtschaft entwickelt. Doch leider istdiese Idee – das ist mein Vorwurf – Papier geblieben.
– Doch, es ist Papier geblieben. – Ich erinnere beispiels-weise an Ihr, wie ich finde, fast nur noch karikierendesVerhalten gegenüber dem Dosenpfand. Wenn man genauhinschaut, erkennt man: Das Dosenpfand war ein Pfeilerdes Kreislaufwirtschaftsgesetzes. Da kann ich nur sagen:Ihr ganzes Denken ist: Überschriften setzen, aber bittekeine Konsequenzen daraus ziehen. Das geht nicht.
Wer Verantwortung will, muss auch einmal Konfliktedurchstehen.
Unser Land und vor allem Europa haben in einer glo-balisierten Welt wirklich die große Chance, die ökologi-sche Modernisierung zum Markenzeichen eines neuen,verträglichen Fortschritts zu machen.
– Ich war immer dafür. Mein Problem war, dass ich da-mals gegen Sie kämpfen musste.
– Aber Entschuldigung. Ich erinnere mich doch noch andie Debatte Anfang der 90er-Jahre. Damals hat die SPD-Fraktion – Stichwort Grüner Punkt – eine Abgabe ver-langt und Sie haben genau das Gegenteil durchgesetzt.Wir haben es doch heute mit Ihrem und nicht mit unse-rem Gesetz zu tun.
Wo sind wir denn? Verdrehen Sie doch nicht die Tatsa-chen.Lassen Sie uns gemeinsam für diese große Zukunfts-chance kämpfen! Die ökologische Modernisierung istEuropas Chance. Wenn wir da versagen, dann ist dasmehr als nur eine parteipolitische Frage.
Letzter Redner zu diesem Geschäftsbereich ist der
Kollege Professor Bietmann, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Werter Kollege Müller, es war unbestreitbar sehr interes-sant, Ihnen zuzuhören.
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Dr. Rolf Bietmann
Aber Ihre Ausführungen über den Rohstoffeinsatz unddie Entwicklung der Weltbevölkerung können nicht da-rüber hinwegtäuschen, dass es heute um den Bundeshaus-halt des Jahres 2005 von Herrn Trittin geht. Ich denke,damit sollten wir uns auch beschäftigen. Ich sage das,obwohl ich eingestehen muss, dass insbesondere dieAusführungen von Herrn Kollegen von Weizsäcker sehrinteressant waren.Es ist sicherlich unbestreitbar, dass die Bewahrung ei-ner aktiven, lebenswerten Umwelt zu den großen politi-schen Herausforderungen der Gegenwart zählt. In Kon-sequenz dieser Erkenntnis haben von der Union geführteBundesregierungen ein auf Naturschutz und Umweltbe-lange ausgerichtetes Ministerium geschaffen. Ziel dieserPolitik war es, Umweltschutz eben nicht nur als Quer-schnittsaufgabe zu akzeptieren, sondern die Umwelt-schutzaufgaben des Bundes in einem spezifisch dafüreingerichteten Ministerium zu konkretisieren und damitklare Verantwortlichkeiten zu schaffen.Schaut man sich das heute, sechs Jahre nach der Re-gierungsübernahme durch Rot-Grün, an, dann stellt manfest, dass davon nicht viel übrig geblieben ist.
Von den im Bundeshaushalt 2005 vorgesehenen Um-weltschutzausgaben in Höhe von insgesamt 4,1 Milliar-den Euro entfallen lediglich 769 Millionen Euro, alsonur rund 19 Prozent, auf das Bundesumweltministerium.81 Prozent der umweltschutzrelevanten Ausgaben wer-den durch die Bundesregierung auf andere Ressorts ver-teilt. Dies ist mit Sicherheit kein Vertrauensbeweis fürSie, Herr Trittin.
Für mich ist überhaupt nicht nachvollziehbar – HerrKollege Hermann, ich habe mir das sehr genau ange-sehen –, dass beispielsweise für Forschung im Haushaltdes Umweltministeriums lediglich 21 Millionen Euro,im Haushalt der Bundesbildungsministerin für Grundla-genforschung zum Umweltschutz aber 604 MillionenEuro zur Verfügung stehen. Wer wirklich wirksamenUmweltschutz in Deutschland will, der muss auch dieorganisatorischen Voraussetzungen für eine zielgerich-tete Umweltpolitik schaffen. Ein vielfach bedeutungslosgewordenes Umweltministerium können wir uns in die-sem Land nicht erlauben.
Natürlich kann man für das am Haushalt ablesbareMisstrauen gegenüber dem Umweltminister Verständnishaben. Hier ist mehrfach der Bericht des Bundesrech-nungshofes über das Endlagerkonzept dieses Ministerszitiert worden. In ungewöhnlich krasser Form wird des-sen Politik gerügt. Der Rechnungshof spricht gar vonBeratungsresistenz Trittins und wirft ihm vor, aus reinideologischen Erwägungen die Bundesrepublik Deutsch-land mit finanziellen Risiken in Milliardenhöhe zu über-ziehen.Diese schonungslose Kritik immerhin des Bundes-rechnungshofes
wird auch durch einen Blick in den Haushalt 2005 bestä-tigt. Die Zahlen, die wir dort lesen, dokumentieren denSchaden, der durch die politisch gewollte Verzögerungder Endlagerlösung entsteht. Allein für die Offenhaltungdes Standortes Gorleben werden 26,6 Millionen Eurovorgesehen. Für das Endlager Schacht Konrad sindweitere 20 Millionen Euro veranschlagt. Rechnet mandie Kosten, die nur für die Offenhaltung der beiden End-lagerstandorte angesetzt worden sind, für die Dauer desMoratoriums zusammen, so ergeben sich allein hierausMehrkosten in dreistelliger Millionenhöhe. Dabei blei-ben die Erforschungs- und Ausbaukosten in Milliarden-höhe unberücksichtigt.Der Genehmigungsbescheid für den Schacht Konradals Endlager für schwach und mittelradioaktive Abfälleliegt bereits seit dem 5. Juni 2002 vor. Wir brauchen die-ses Endlager dringend. Schwach und mittelradioaktiveAbfälle fallen in großer Zahl an, insbesondere im medi-zinischen Bereich, aber auch im Forschungsbereich.Die baden-württembergische Landesregierung haterst vor wenigen Wochen Herrn Trittin darauf aufmerk-sam gemacht, dass rund zwei Drittel aller schwach undmittelradioaktiven Abfälle in Deutschland in der For-schungsanlage Karlsruhe oberirdisch gelagert werden –mit erheblichem Gefährdungspotenzial für die Bevölke-rung.Die Endlagerung dieser Abfälle im eigens dafür vor-gesehenen Schacht Konrad ist im Interesse des Schutzesder Bevölkerung unverzichtbar.
Es ist höchste Zeit, dass diese verantwortungsloseVerzögerungspolitik in Sachen Endlager gestoppt wird.Darum fordern wir den Sofortvollzug der Genehmigungfür den Schacht Konrad und die Beendigung des Mora-toriums für Gorleben.Stattdessen werden die Energieversorgungsunterneh-men verpflichtet, das gesamte Bundesgebiet mit ober-irdischen Zwischenlagern für hoch radioaktive Stoffezu überziehen. Die hierdurch bedingte, politisch ge-wollte Mehrung von atomarem Gefährdungspotenzial istunverantwortbar.Ich muss Ihnen sagen, Herr Trittin: Ihr Auftritt heutein Sachen Atomkraft war meines Erachtens nur peinlich.Dass sich ein Bundesumweltminister hier hinstellt, dasKernkraftwerk Biblis mit Temelin vergleicht, dann nochsagt, das seien – wörtlich – alte Mühlen,
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Dr. Rolf Bietmannund damit in der Bevölkerung Unsicherheit und Angstschürt – als Mittel der politischen Auseinandersetzung –,
ist des Amtes eines Umweltministers der Bundesrepu-blik Deutschland wahrhaft nicht würdig.
Natürlich haben Sie sich auch zu den Energiekostengeäußert; das haben wir nicht anders erwartet. Gemäßder Devise „Schuld sind immer die Unternehmen“ habenSie den Versuch gestartet, von eigenem Versagen abzu-lenken. Fest steht aber, dass in den Jahren der rot-grünenRegierungsverantwortung der auf den Staat entfallendeAnteil in den Stromkosten um mehr als 20 MilliardenEuro gestiegen ist.Plötzlich erkennt man in der rot-grünen Regierung,dass hohe Energiekosten zum Standortnachteil fürDeutschland werden, dass sie für die Abwanderung vonUnternehmen und damit den Verlust von Arbeitsplätzenmit ursächlich sind. Die Union hat diese Preisspirale be-reits bei Einführung der Ökosteuer vorhergesagt. HerrTrittin war es ja, der dem seinerzeit entgegengehaltenhat, Energiepreise könnten gar nicht hoch genug sein, dahierdurch ein Anreiz zum Energiesparen geschaffenwerde.Vor diesem ideologischen Hintergrund wurde dieÖkosteuer eingeführt und fortlaufend erhöht. Wenn danngleichzeitig noch eine KWK-Abgabe und eine EEG-Umlage den Stromkunden tangieren, dann wird ver-ständlich, warum die Bundesrepublik Deutschland heuteeuropäischer Spitzenreiter bei den Stromkosten ist.Natürlich sind die erneuerbaren Energien – da gebeich Ihnen ausdrücklich Recht – weder alleiniger nochwesentlicher Preistreiber. Wir von der Union wollen undwerden erneuerbare Energien fördern. Wer jedoch wiedie Union ein klares Bekenntnis zu erneuerbaren Ener-gien und deren Förderung ablegt, der kann nicht gleich-zeitig die Einführung einer umweltpolitisch wirkungslo-sen Ökosteuer befürworten, die dann auch noch Jahr fürJahr kräftig erhöht wird. Diese Rechnung geht nicht auf.
Der Verlust von Tausenden Arbeitsplätzen ist das Ergeb-nis.Meine Damen und Herren, der vorliegende Haus-haltsentwurf ist insgesamt nicht nur Dokument einer zu-nehmenden haushaltspolitischen Bedeutungslosigkeitdes Umweltministers, er zeigt gleichzeitig auch völligunvertretbare Schwachstellen rot-grüner Umweltpolitikauf. CDU und CSU treten angesichts der internationalenHerausforderungen insbesondere im Bereich des Klima-schutzes für ein starkes Umweltministerium ein. Um-weltschutz ist für uns eine Kernaufgabe zukunftsorien-tierter Politik. Der werden wir uns auch in den nächstenJahren engagiert annehmen.
Weitere Wortmeldungen zu diesem Geschäftsbereichliegen nicht vor.Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bun-desministers für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen.Außerdem rufe ich die Tagesordnungspunkte 9 a und9 b auf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zurÄnderung des Autobahnmautgesetzes fürschwere Nutzfahrzeuge– Drucksache 15/3678 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaftAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für TourismusHaushaltsausschussb) Beratung des Antrags der Abgeordneten DirkFischer , Eduard Oswald, Dr. Klaus W.Lippold , weiterer Abgeordneter undder Fraktion der CDU/CSUMautbefreiung für humanitäre Hilfstrans-porte– Drucksache 15/3489 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
InnenausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeHaushaltsausschussIch eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächstder Bundesminister Manfred Stolpe.Dr. h. c. Manfred Stolpe, Bundesminister für Ver-kehr, Bau- und Wohnungswesen:Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Verkehr, Bau- und Wohnungswesen und derAufbau Ost sind drei Arbeitsfelder, die – ich darf das sosagen – mit über Deutschlands Zukunft entscheiden wer-den.
Es sind mittel- und langfristige Aufgaben, die unser allerAnstrengungen brauchen. Für Schnellschüsse sind sieschlecht geeignet. Es handelt sich um Arbeitsfelder, beidenen wechselseitige Polemik wenig hilft, aber Kon-senssuche und Ehrlichkeit der Sache und vielleicht sogardem Ansehen der Politik helfen können.
Langfristig muss eine ausreichende Finanzierung die-ser drei Arbeitsfelder gesichert werden. Daran besteht si-cherlich kein Zweifel in diesem Haus. Kein Zweifel be-steht sicher auch darin, dass Haushaltskonsolidierungalternativlos ist. Deshalb tragen wir die Beschlüsse desBundestages und des Bundesrates zum Subventions-abbau mit, aber in der Erwartung, dass die nötigen
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Bundesminister Dr. h. c. Manfred StolpeSonderhilfen für Ostdeutschland davon unberührt blei-ben, und in der Überzeugung, dass Verkehrsinfrastruk-turinvestitionen keine Subventionen sind – weder beiStraßen noch bei Wasserstraßen noch bei Schienenwe-gen.
Diese Lebensadern müssen gestärkt werden, um dasTransitland Deutschland und seine Wirtschaft zukunfts-sicher zu machen.In dieser Spannung zwischen hohem Finanzbedarfund Zwang zum Sparen gehen wir in unserem Ministe-rium neue Wege zur Sicherung unserer Aufgaben. ImBereich des Bauwesens und des Städtebaus setzen wirunsere konsequente Innovationspolitik fort. Das neueBaugesetzbuch vereinfacht das Planen und Bauen undgibt die Möglichkeit, neue, moderne Ziele wie das Pro-gramm „Soziale Stadt“, das in das Gesetz integriertwurde, zu handhaben. Die Taskforce Public Private Part-nership hat ihre Arbeit aufgenommen; sie sorgt damit fürmehr Vielfalt bei den Investitionsmöglichkeiten.Der Stadtumbau West tritt neben den Stadtumbau Ost.Wir helfen den Städten massiv bei der Überwindung derProbleme, die Globalisierung, demographischer Wandelund Schrumpfung mit sich bringen. Die Stiftung „Bau-kultur“ wird im nächsten Jahr ihre Arbeit aufnehmenkönnen. Mit aufgestockten Beträgen zur Altschulden-hilfe unterstützen wir sehr wirksam die ostdeutscheWohnungswirtschaft.Gut aufgestellt sind wir auch in der Verkehrspolitik.Der Bundesverkehrswegeplan und die Ausbaugesetzewurden verabschiedet. Die Investitionen in die Verkehrs-infrastruktur konnten wir auf hohem Niveau fortsetzen.
Trotz Konsolidierungsnotwendigkeiten verbleibt die In-vestitionshöhe deutlich über dem Stand von 1998.
Die Vernetzung der unterschiedlichen Verkehrsträger,die Entwicklung neuer Technologien und Kraftstoffe,unsere erneute Kampagne zur Verkehrssicherheit, all dasgibt der Verkehrspolitik ein modernes, zukunftsfähigesGesicht.Die Mitfinanzierung der Verkehrswegeinvestitionendurch eine Maut für Lastkraftwagen wird mit an Sicher-heit grenzender Wahrscheinlichkeit am 1. Januar 2005starten.
Der Weg war lang und nicht einfach. Sieben Verkehrsmi-nister vor mir haben an diesem Projekt gearbeitet. Nunwerden unsere Auftragnehmer Daimler-Chrysler, Tele-kom und Cofiroute mithilfe von Siemens das modernsteGebührenerfassungs- und -berechnungssystem betreibenkönnen. Zur Vergangenheitsbewältigung hinsichtlich derMautausfälle haben wir inzwischen das vereinbarteSchiedsverfahren eingeleitet.Voranbringen werden wir auch die stärkere Einbezie-hung privater Investoren bei Straßeninvestitionen. Diegesetzlichen Voraussetzungen sind geschaffen und In-vestoreninteresse ist vorhanden. Wir werden dadurchnoch schneller mehr Straßen bauen können.
Meine Damen und Herren, beim Aufbau Ost habenwir Halbzeit. Es war im Juni 2001 die richtige Entschei-dung des Bundes und aller Länder, für teilungs- und ver-einigungsbedingte Sonderfinanzierungen einen Zeitraumbis 2020 vorzusehen.
Jetzt stehen wir beim Aufbau Ost vor zwei Aufgaben:Wir müssen erstens die wachsende Differenzierung be-rücksichtigen. Osten ist eben nicht mehr gleich Osten, sowie Westen kein anderer Ausdruck für Paradies ist. Wirmüssen Wachstumskerne stärken und die Chancen peri-pherer Regionen unterstützen.
Zweitens müssen wir die ostdeutsche Realität, Enttäu-schung, Unzufriedenheit und Zukunftssorgen, berück-sichtigen. Das bedeutet ehrliche Problembeschreibung,breite Einbeziehung der Menschen in Problemlösungenund Kooperation von Bund, Ländern und Kommunen.Die Angleichung der Lebensbedingungen in Ost undWest ist eine vorrangige nationale, ja europäische Auf-gabe, die gemeinsam gelöst werden kann und gelöstwerden muss.Ostdeutschland ist kein Fass ohne Boden. Die ganzüberwältigende Mehrheit der Menschen in Ostdeutsch-land trägt aktiv dazu bei, dass unser Land wieder inSchwung kommt.
Sie arbeiten in Unternehmen und Verwaltungen, sindSelbstständige oder Wissenschaftler. Ganz genauso wiealle Deutschen zahlen sie Steuern, mit denen Kommu-nal- und Landeshaushalte, aber auch der Bundeshaushaltbestritten werden. Aber viele, viel zu viele können nichtdabei sein. Oft sind sie seit Jahren ohne Arbeit und aufUnterstützung angewiesen. Das ist sicher eine Wurzelvon Unzufriedenheit und Protest.Am 1. Januar 2005 beginnt mit dem Solidarpakt IIdie zweite Phase des Aufbaus Ost. Bis Ende 2019 stehenFördermittel in Höhe von 156 Milliarden Euro zur Ver-fügung. Im so genannten Korb I erhalten die ostdeut-schen Länder vom Bund insgesamt 105 Milliarden Eurounmittelbar. Die neuen Länder sind gefordert, diese Mit-tel zum Abbau des infrastrukturellen Nachholbedarfsund zum Ausgleich unterproportionaler kommunaler Fi-nanzkraft einzusetzen. Für die Verbesserung der Wettbe-werbsfähigkeit der Unternehmen, die Förderung der In-
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Bundesminister Dr. h. c. Manfred Stolpenovationskraft und der Beschäftigung sowie den Ausbauder Infrastruktur und der ländlichen Entwicklung stelltder Bund im so genannten Korb II 51 Milliarden Eurobereit. Das wären im Durchschnitt bis 2019 jährlich etwa3,4 Milliarden Euro.Um der Entwicklung in den neuen Ländern jetzt einenkräftigen Schub zu geben, wird der Bund mit seinemHaushalt 2005 diesen Betrag deutlich überschreiten undmehr als 5 Milliarden Euro ausgeben.
Die vier großen Förderressorts Wirtschaft und Arbeit,Bildung und Forschung, Verkehr, Bau- und Wohnungs-wesen sowie Verbraucherschutz, Ernährung und Land-wirtschaft können damit den Aufbau Ost weiter gezieltvoranbringen und wichtige Impulse für mehr Wachstumund Beschäftigung in den neuen Ländern geben. DasKooperationsangebot dieser vier Ministerien liegt denneuen Ländern vor. Mit ihnen werden wir die Gesprächedarüber fortsetzen. Wir werden mit ihnen auch über dieMöglichkeiten des Korbs II konkret reden.Eine bedeutende Rolle spielt in diesem Zusammen-hang auch die Gemeinschaftsaufgabe zur Förderung derregionalen Wirtschaftsstruktur. Ich bin stolz, dass es unstrotz bestehender Sparzwänge gelungen ist, diese sehrwichtige Förderung auf hohem Niveau fortzusetzen. Zu-dem konnten wir die Investitionszulage für die gewerbli-che Wirtschaft über das Jahr 2004 hinaus um weiterezwei Jahre verlängern.
Deutschland hat eine starke Infrastruktur, das dich-teste und beste Verkehrsnetz Europas. Das dürfen wirnicht schlechtreden.
Auf dieses Verkehrsnetz können wir alle stolz sein.Denn es ist das Ergebnis eines jahrzehntelangen Bemü-hens auch in diesem Hause.Nach meiner Überzeugung ist heute die zentrale Auf-gabe die Erhaltung. Es war diese Bundesregierung, dieden stetigen Rückgang der Mittel für die Erhaltung ge-stoppt und umgekehrt hat. Das spiegelt sich auch imHaushalt 2005 wider. Die Finanzmittel für 2005 und diefolgenden Jahre sind umfangreich; weit umfangreicher,als manch einer prophezeit hat. Der Gesamthaushaltsinkt zwar von 24,7 Milliarden auf 23,2 Milliarden Euro.Aber dabei muss berücksichtigt werden, dass fast 1 Mil-liarde Euro auf die Umsetzung der Wohngeldansätzezum Wirtschafts- und Arbeitsministerium zurückzufüh-ren ist. Der reale Rückgang um 2,3 Prozent ist moderatund noch vertretbar.
Unser Ziel ist die Konzentration auf Erhalt und Mo-dernisierung des Bundesfernstraßennetzes. Das sind In-vestitionen von rund 4,5 Milliarden Euro in 2004 undrund 4,6 Milliarden Euro in 2005. Schwerpunkte sinddabei die Ausfinanzierung aller laufenden Maßnahmen,die Realisierung der Vorhaben des Anti-Stau-Programmsund der Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ sowie dieRefinanzierung privat vorfinanzierter Bundesfernstra-ßenabschnitte.Zum Auf- und Ausbau der Schienenwege stehen fürErsatzinvestitionen im bestehenden Netz mittelfristig Bun-desmittel von rund 2,5 Milliarden Euro pro Jahr bereit. Da-mit kann auch nach Einschätzung der Bahn der Bedarf fürErhaltung und Modernisierung des Bestandsnetzes voll-ständig gesichert und ein Bestandsverzehr vermieden wer-den. Darüber hinaus verfügbare investive Bundesmittel voninsgesamt bereits gesicherten rund 3,1 Milliarden Eurowerden zur Realisierung eines bedarfs- und leistungsge-rechten Aus- und Neubaus der Bundesschienenwege ein-gesetzt.
Damit können die aus verkehrlicher Sicht wichtigstenVorhaben, wenn auch in Baustufen, realisiert werden.Trotz der Festlegung, dass Bedarfsplanvorhaben vor-erst in Baustufen realisiert werden, ist es weiter gemein-same Zielsetzung, dass auch die anschließenden Aus-baustufen realisiert werden müssen. AufgetreteneUnklarheiten in der Durchführung, die viele Fragen imLande ausgelöst haben, werden von unserem Ministe-rium mit der Bahn geklärt.Ich möchte noch einige einzelne Bahnprojekte nen-nen, die wegen ihrer überregionalen Bedeutung hier her-vorgehoben werden sollen.Erstens. Im größten Ballungsraum Europas werdenwir die Schieneninfrastruktur deutlich stärken und dieinfrastrukturellen Voraussetzungen für den Rhein-Ruhr-Express schaffen.Zweitens. Wir stehen zum Transrapid. Die BayerischeStaatsregierung hat zugesagt, zügig ein Gesamtfinanzie-rungskonzept vorzulegen. Ich habe in Gesprächen mitder Staatsregierung dargelegt, dass die zugesagten Mitteldes Bundes auch weiterhin zur Verfügung stehen.
Drittens. Wir müssen Berlin-Schönefeld zu einemleistungsstarken Luftverkehrsstandort machen. Das be-inhaltet die Anbindung an das Straßen- und Schienen-netz.Schließlich müssen wir unsere auf den maritimenKonferenzen gemachten Zusagen zur Verbesserung derHinterlandanbindung der deutschen Seehäfen umsetzen.
Das bedeutet übrigens ganz konkret, die Mittel für denBau der Autobahn 20 bereitzustellen.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung setztbei den Investitionen in die Infrastruktur Schwerpunkte.Sie ist in der Lage, das Notwendige zu finanzieren. Aber
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Bundesminister Dr. h. c. Manfred Stolpeder Haushalt des Ministeriums hat mehr zu bieten. Beivielen Projekten unterstützen wir zusammen mit der For-schung oder auch der Industrie konkrete Innovationsvor-haben. So steht Deutschland zum Beispiel bei der Ent-wicklung alternativer Kraftstoffe weltweit mit an derSpitze. Vor wenigen Wochen ist es gelungen, zusammenmit der chinesischen Regierung und den beteiligten Un-ternehmen einen Lenkungsausschuss für die deutsch-chinesische Zusammenarbeit im Rahmen der Kraft-stoffstrategien zu gründen.
Wir fördern Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffi-zienz von Gebäuden. Das verbessert die Qualität desWohnraums, schützt das Klima und sichert Arbeits-plätze.Unsere drei Felder sind viel weiter, als es hier be-schrieben werden kann. Wir sind in der Lage – das ist diewichtigste Aussage für mich –, mit dem Haushalt 2005das Nötige zu tun. Über die Arbeit in Bezug auf die Be-reiche Verkehrsinfrastruktur, Bau, Wohnen und AufbauOst muss weiter diskutiert werden. Sie braucht auchkonstruktive Kritik und darauf freue ich mich.
Und nun will der Kollege Eduard Oswald für die
CDU/CSU-Fraktion dem Minister sicher diese Freude
machen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Bundesminister Stolpe, bei Ihrer liebevollen undsanften Art fällt es nun wirklich schwer, zur Faktenlagein diesem Lande zurückzukehren. Aber wenn Sie schonvon uns konstruktive Kritik hören wollen, dann will ichdas gerne tun. Denn Sie, die Koalition, tragen mit demMinisterium für Verkehr, Bau- und WohnungswesenVerantwortung für drei Aufgabenbereiche von gesell-schafts-, wirtschafts-, umwelt- und arbeitsmarktpolitischhohem Rang. Dies sind nicht nur drei Politikfelder, son-dern ist auch dreimal eine Bilanz des Versagens rot-grü-ner Politik.
Erstens. Die ehemals vorbildliche deutsche Ver-kehrsinfrastruktur droht zu verkommen. Umfang undZustand des Verkehrsnetzes werden schon den heutigenMobilitätsanforderungen nicht mehr gerecht.
Nicht das Verkehrsaufkommen und den für die wirt-schaftliche Entwicklung notwendigen Bedarf für den In-frastrukturausbau haben Sie zum Ordnungsmaßstab fürdie Gestaltung des Verkehrsetats herangezogen, sonderneinzig und allein Ihre Kassenlage.Zweitens. Den Baubereich haben Sie in all den Jah-ren Ihrer Regierungsverantwortung sträflich vernachläs-sigt.
Die deutsche Bauwirtschaft ist unter den von Ihnen vor-gegebenen Rahmenbedingungen in die schwerste Kriseder Nachkriegsjahre geraten.
– Ich sage Ihnen: Je lauter die linke Seite hier ist, destoklarer ist, dass ich mit meinen Feststellungen Rechthabe.
Wir haben dem Herrn Minister ganz diszipliniert zuge-hört. Aber dass hier Unruhe entsteht, darüber brauchtman sich nicht zu wundern. Wer ein schlechtes Gewissenhat, wird laut.
Drittens. Im Wohnungsbau ignorieren Sie den Be-darf an neuen, bezahlbaren Wohnungen. Sie ignorierenden Wunsch großer Teile der Menschen nach den eige-nen vier Wänden. Für die Opposition halte ich fest: Werin Deutschland eine Diskussion wie „Bildung statt Be-ton“ oder „Bildung statt Eigenheimzulage“ zulässt, hatfür das Bau- und Wohnungswesen nichts übrig.
Das ist reinster Populismus und so realitätsfern wie dierot-grüne Investitionspolitik insgesamt.
– Parlamentarische Geschäftsführer werden für ordent-liche Arbeit und nicht für dumme Zwischenrufe bezahlt.
Wir brauchen beides: Bauinvestitionen sind ebensoZukunftsinvestitionen wie Bildung oder Forschung. DerBau braucht Perspektiven.
Die Bauwirtschaft leidet ganz besonders unter den ge-samtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Sie müssendie Lösung der Probleme ernsthaft anpacken. Oder wol-len Sie den Kollaps einer so wichtigen Wirtschaftsbran-
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Eduard Oswaldche in Kauf nehmen? Der Wohnungsbau in unseremLande befindet sich im freien Fall; hier haben sich dieAussichten auf eine Stabilisierung weiter verringert. WerBauen auf Beton verkürzt, versteht nichts von der Bau-branche. Bauen von heute ist Innovation, Bauen ist Zu-kunftsvorsorge. Deshalb braucht der Bau unsere Unter-stützung.
Dies ist keineswegs als Selbstzweck zu verstehen.Dem Wohnungsbau wie dem Verkehrsbereich muss drin-gend wieder neuer Schwung gegeben werden. Genausowichtig wie die Schaffung von Wohnraum ist die Siche-rung von Mobilität. Die Politik hat dazu die notwendi-gen Voraussetzungen zu schaffen; denn Infrastruktur-politik ist ein elementarer Bestandteil modernerWirtschaftspolitik. Gute Verkehrsanbindungen und dieSicherstellung reibungsfreier Verkehrsflüsse sind unver-zichtbare Voraussetzungen für eine funktionierendeWirtschaft.
Mehr Mobilität darf aber nicht zu weniger Sicherheitführen; wenigstens sind wir uns in dieser Frage einig.Deshalb müssen Verkehrserziehung und Verkehrsaufklä-rung hohe Priorität genießen.Meine Damen und Herren, erstens müssen Sie beimRegierungshandeln die Investitionen in die Verkehrs-wege als Zukunftsinvestitionen begreifen. Zweitensmüssen Sie die im Fernstraßen- und Schienenwegeaus-baugesetz zügig vorgesehenen Projekte zügig umsetzen.Und drittens sollten Sie unsere Vorschläge für notwen-dige weitere Neu- und Ausbauvorhaben nicht selbstherr-lich zurückweisen.
Die Landesverkehrsminister haben Ihnen längst dieDefizite Ihrer Politik einmütig vorgerechnet.
Denken Sie an dieses einmütige Votum aller Landesver-kehrsminister aus allen Parteien.
Ein Land, das die Anpassung seines Verkehrswege-netzes an den aktuellen Bedarf verzögert oder gar unter-lässt, gefährdet die Wettbewerbsfähigkeit des Standortesund damit den Wohlstand der Bürger.
Das nach Ihrem Bundesverkehrswegeplan zum Ausbauder Verkehrswege für erforderlich gehaltene Investi-tionsvolumen von jährlich 10 Milliarden Euro wird mitdem in der mittelfristigen Finanzplanung vorgesehenendurchschnittlichen Betrag von 7,7 Milliarden Euro deut-lich unterschritten.Dies ist eine Besorgnis erregende Entwicklung. Hinzukommt, dass sich auch der Verfall der deutschen Infra-struktur längst zur Wachstumsbremse ausgeweitet hat.Wir dürfen uns von den Entwicklungen in Europa nichtabkoppeln. Das ist unsere Sorge.
Dabei muss sich Deutschland auch seiner Verantwortungals europäische Verkehrsdrehscheibe stärker bewusstsein.Ohne eine Kurskorrektur hin zu höheren Investitio-nen werden wir mit zunehmenden Staus auf Schiene undStraße zu einem weiteren Stau in der Gesamtwirtschaftkommen. Wo der Haushalt an Grenzen stößt, ist die For-cierung von Projekten der Public Private Partnership dereinzige Weg, um den Stau bei den öffentlichen Investi-tionen aufzulösen. Alles, was Sie hier bisher getan ha-ben, geht viel zu langsam.Die 12 Milliarden Liter Kraftstoff, die in Deutschlandjährlich im Stau vergeudet werden – man höre: 12 Mil-liarden Liter Kraftstoff werden jährlich im Stau vergeu-det –, entsprechen rund 18 Prozent des Gesamtver-brauchs im Straßenverkehr.
Sie müssen daher doch auch erkennen, wie wichtig eineweitgehend staufreie Verkehrsabwicklung ist. Dafürbrauchen wir ein leistungsfähiges Straßennetz.In den kommenden zehn Jahren sind allein 40 Prozentder Fahrbahndecken im Fernstraßennetz erneuerungsbe-dürftig. Rund 5 000 Brücken und Tunnel befinden sichschon heute in einem kritischen Bauwerkszustand. Dasist doch die Realität in Deutschland! Darum sage ich:Wo investiert wird, gibt es Zukunft. Wo Investitionenunterlassen werden, lebt man von der Substanz und ver-spielt Zukunft.
Auch wenn die Straße Verkehrsträger Nummer einsist, brauchen wir jeden unserer Verkehrsträger: die Bin-nenschifffahrt, die Seeschifffahrt, den Luftverkehr undauch die Bahnen. Lassen Sie Ihren Erklärungen über denherausgehobenen Stellenwert des Systems Schiene end-lich Taten folgen. In Ihrem Haushaltsentwurf fährt dieBahn aufs Abstellgleis.
Wenn Sie der Bahn bis 2008 insgesamt 3,5 MilliardenEuro weniger für den Netzausbau zur Verfügung stellen,als noch vor einem Jahr geplant,
dann ist die Sorge der Bahnindustrie berechtigt, die voneiner regelrechten Investitionskrise spricht.
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Eduard Oswald
Die Bahn beziffert den Bedarf für die Schieneninfra-struktur auf jährlich mindestens 4,2 Milliarden Euro,davon 1,7 Milliarden Euro allein für die Realisierung desBedarfsplans, das heißt für Neu- und Ausbauten. Tat-sächlich werden aber nach Angaben der DB AG selbstab 2005 jährlich insgesamt nur etwa 3 Milliarden Eurozur Verfügung stehen. Das heißt im Klartext, dass zurAbarbeitung des Schienenwegeausbaugesetzes jährlichnur noch 500 Millionen Euro vorgesehen sind. Das istein Engpass mit fatalen Folgen.
Hierzu kommt, dass auch die Deutsche Bahn AG beiihren Investitionen zunehmend zurückhaltend ist. DieErlangung der Kapitalmarktfähigkeit – ich sage Ihnendas wohlformuliert –
darf nicht zu einem Verzicht auf notwendige Investitio-nen führen.
Wo es Baustopp gibt, wird nicht nur Mobilität ausge-bremst, sondern es werden Baubetriebe in die Insolvenzgetrieben.Beim angestrebten Börsengang sind alle verkehrs-,finanz- und haushaltspolitischen Chancen und Risikengründlich zu prüfen. Bei den verschiedenen Möglichkei-ten für eine Privatisierung der Deutschen Bahn AG isteine Vorfestlegung auf ein bestimmtes Modell nicht ziel-führend. Mein Rat, Herr Bundesminister, lautet: Sorgfaltvor Geschwindigkeit.Das gesamte Verkehrsgewerbe, also die Bahn wieauch die Unternehmen der anderen Verkehrsträger, müs-sen für den Wettbewerb in Europa fit gemacht werden.Wir brauchen faire Bedingungen, damit sich unsere Un-ternehmen auf dem größer gewordenen europäischenVerkehrsmarkt besser behaupten können. Unser Zielmuss sein, Deutschland gesamtwirtschaftlich wiedernach vorne zu bringen.Wir fordern Sie auf, das Bauwesen in unserem Landenicht weiter zu vernachlässigen, dem Wohnungsbau, beidem auch die Eigenheimzulage ihre Berechtigung hat,neuen Schwung zu geben, zu einer am volkswirtschaftli-chen Bedarf ausgerichteten Verkehrswegeplanung zukommen, den Investitionsanteil an den Gesamtausgabendes Bundeshaushaltes zu steigern, mit einer solidenHaushaltsplanung langfristig für Finanzierungssicherheitbei Schiene, Straße und Wasserstraße zu sorgen, dieMauteinnahmen zweckentsprechend für die Verkehrsin-frastruktur zu verwenden, und zwar genau so, wie dasseinerzeit im Vermittlungsverfahren vereinbart wordenist.
Ich sage Ihnen: Beim Thema Maut müssen Sie unsschon eine besondere Sensibilität zugestehen. Nachdemdie Einnahmen entgegen den Absprachen im Haushalt2005 untergegraben werden sollen, wollen Sie jetzt mitdem Gesetz zur Änderung des Autobahnmautgesetzesdie Länder umgehen. Die mit Zustimmung des Bundes-rates einst erlassene Rechtsverordnung mit dem Termindes Mautstarts halten Sie – wortwörtlich – für ver-braucht. Dabei nennen Sie vorsorglich keinen konkretenTermin. Ich hoffe, Sie sind sich nicht selbst unsicher, obes denn nun zum 1. Januar 2005 wirklich klappt. Wirwünschen uns das. Wir wollen einen Erfolg des deut-schen Systems und damit auch den Erhalt und die Siche-rung deutscher Arbeitsplätze.
Geregelt wird nun endlich auch die Inkassoberechti-gung des Mautbetreibers. Das hatten Sie in der vorheri-gen Rechtsetzung schlichtweg vergessen. Das war wirk-lich keine handwerkliche Glanzleistung.Zu beraten haben wir heute auch über einen Antragzur Mautbefreiung für humanitäre Hilfstransporte. Ichgehe davon aus, dass Sie die Notwendigkeit einer sol-chen Freistellung einsehen und sich nicht auch hier unse-ren Vorschlägen verweigern.Meine Damen und Herren, mit Ihrer Politik befindenSie sich auf der falschen Spur. Nur wenn Sie schnell um-steuern, können Sie den Crash vermeiden. Nutzen Siejetzt die Möglichkeiten bei den anstehenden Haushalts-beratungen.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Albert Schmidt,Bündnis 90/Die Grünen.
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Voreinem Jahr hing der Haushaltsentwurf zum Einzel-plan 12 an einem seidenen Faden. Heute hängt er an ei-nem dicken Tau.
Damit will ich sagen: Wir haben jetzt das Mautdebakel– ich hoffe, definitiv – hinter uns. Wir haben das Koch/Steinbrück’sche Schlachtfest mit Blessuren überstanden.Das neue Management bei Toll Collect, ein wesent-lich stringenteres Controlling – durch das Management,aber auch durch das Ministerium und seine nachgeord-neten Behörden – und auch die erfolgreichen bisherigentechnischen Tests geben Anlass zu Optimismus.
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Albert Schmidt
– Ich sage gleich etwas dazu. – Aber Gewissheit – dassage ich Ihnen ganz ehrlich – haben wir erst am1. Januar. Von daher bleibt bei mir ein Rest Misstrauen.Wir haben zu viel und zu oft Versprechungen gehört.Das eigentliche Risiko scheint mir aber derzeit darinzu bestehen, dass schlicht und einfach zu wenig On-Board-Units in LKWs eingebaut sind. Das birgt das Ri-siko kilometerlanger Rückstaus an den Terminals zurmanuellen Einbuchung. Ich will in aller Deutlichkeit sa-gen: Wer mit dem Gedanken spielt, durch verzögertenEinbau von On-Board-Units den Projektstart vielleichtdoch noch einmal um zwei, drei Monate hinausschiebenzu können, um noch ein paar Monate gebührenfrei aufDeutschlands Autobahnen fahren zu können, der wirdwegen dieser kilometerlangen Staus kein Verständnisfinden, weder bei den PKW-Fahrern noch bei sonstigenTeilen der Bevölkerung. Deswegen kann ich nur sagen:Jetzt die On-Board-Units einbauen, in die Werkstättengehen! Die Kapazitäten sind da. Die Geräte liegen aufHalde. Man muss nur hingehen und sie einbauen lassen.Man sollte nicht länger glauben, man könne die Sachenoch irgendwie aussitzen.
– Es sind 165 000. Sie müssen sich ein bisschen kundigmachen.In diesem Verkehrsetat sind 10,8 Milliarden Euro anVerkehrsinvestitionen vorgesehen. Das ist sogar ge-ringfügig mehr als im laufenden Haushaltsjahr. Das ist,finde ich, angesichts der allgemein schwierigen Haus-haltssituation, die niemand bestreitet, eine erstaunlicheLeistung.
Der verehrte Kollege Oswald hat die Bahn angespro-chen. Im letzten Jahr, 2003, wurden nahezu 4,5 Mil-liarden Euro an Bundesmitteln für Investitionen in dieSchieneninfrastruktur überwiesen und ausgegeben.Das zeigt den Stellenwert, den der Schienenbau in die-sem Lande für Rot-Grün hat. Ich will aber hinzufügen:Im aktuellen Haushaltsjahr, 2004, stehen nur noch3,7 Milliarden Euro zur Verfügung und im nächsten Jahrwird es wieder exakt dieser Betrag sein. Das ist deutlichweniger und liegt für mich nicht nur an der unterstenGrenze, sondern schon an der Schmerzgrenze, also da,wo es aufhört, Sinn zu machen. Dennoch bin ich bereit,diesen Entwurf mitzutragen. Er ist gerade noch vertret-bar. Aber unser mittelfristiges Ziel muss die 4 vor demKomma bei den Schieneninvestitionen bleiben.
Das eigentliche Problem nämlich ist die Absenkungder Mittelfristlinie. Dass in den Jahren ab 2006 nurnoch 3,3 Milliarden, 3,2 Milliarden und am Ende nurnoch 2,x Milliarden Euro zur Verfügung stehen, kommtmit Bündnis 90/Die Grünen nicht infrage.
Einen solchen Haushalt werden wir, sollte es dazu kom-men, nicht mittragen können. Da muss sich eine ganzeMenge bewegen.
– Das können Sie zu Protokoll nehmen. – Ich bin sehrdankbar, dass im Kabinett eine Protokollnotiz aufge-nommen wurde: 1 Milliarde Euro zusätzlich für denBahnbau in den nächsten Jahren. Wir müssen das abernoch mobilisieren. In der Tasche haben wir das nochlange nicht.Liebe Kolleginnen und Kollegen, viele von uns be-trachten mit allergrößter Sorge, was sich derzeit bei derDeutschen Bahn abspielt: Ende Juli wurde ein Ausga-benstopp verhängt. Selbst bereits beschlossene Investi-tionsprojekte müssen neu beantragt werden. Die Auf-träge im Bahnbau brechen um 32 Prozent ein. Insolven-zen und Arbeitsplatzverluste drohen. 1 500 Stellen fallenbei DB Projektbau weg, 1 500 Stellen bei privaten Inge-nieurbüros. Ein Planungsstopp gilt für Projekte, die be-reits zwischen Bund und Bahn verabredet waren. Bei-spiele können Sie heute in der Zeitung nachlesen: dieGrunderneuerung von drei Berliner S-Bahn-Linien, dieVerbindung zum Flughafen Schönefeld, dessen Bedeu-tung der Minister gerade noch einmal herausgestellt hat,und die Franken-Sachsen-Magistrale usw. Ich will garnicht alles aufzählen.Das Ganze ist so, obwohl der Bund im Jahre 2001460 Millionen Euro extra als Planungsreserve zur Verfü-gung gestellt hat.
Das Ganze ist so, obwohl nach meiner Kenntnis bei derVerkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft verfügba-re Investitionsmittel in Höhe von 780 Millionen Eurobereit liegen, von denen bis zur Stunde aber nur 250 Mil-lionen Euro von der Deutschen Bahn AG abgerufen wor-den sind. Das Ganze ist so, obwohl die Mittel für das Be-standsnetz in Höhe von 2,5 Milliarden Euro im Wesent-lichen gar nicht strittig sind.
Ich kann nur sagen: Eine Vernachlässigung des Be-standsnetzes wird zu Langsamfahrstellen und zu Un-pünktlichkeit führen.
Auch die aktuellen Zahlen zur Pünktlichkeitsquote – siebeträgt nur noch 82 Prozent statt der eigentlich ange-strebten 95 Prozent – verheißen nichts Gutes.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Neueste, waswir mit Erstaunen hören, ist, dass offenbar zum
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Albert Schmidt
15. Dezember dieses Jahres eine zweifache Fahrpreis-erhöhung geplant ist:
indirekt bzw. verdeckt durch eine Ausdünnung von IC-und EC-Verbindungen zugunsten von ICE-Verbindun-gen, damit die Fahrgäste in diese teureren Züge einstei-gen, und direkt durch eine Erhöhung um generell3,5 Prozent pro Fahrkarte, wie im Gespräch ist.Ich sage ganz offen: Ich mische mich – auch ausÜberzeugung – nicht gerne in die Preisgestaltung vonprivatisierten Unternehmen ein. Da mag auch in bilan-zieller Hinsicht alles logisch kalkuliert sein, aber ver-kehrspolitisch gesehen wird dadurch genau das falscheSignal gesetzt.
Statt auf mehr Fahrgäste zu setzen und mit lukrativenAngeboten zu werben, werden die verbliebenen Fahr-gäste umso mehr abkassiert.
Die Energiepreise mögen ein Grund dafür sein; da-rüber muss man nachdenken. Aber im letzten Jahr warendie Energiepreise moderat und trotzdem wurden imFernverkehr Miese in Höhe von 600 Millionen Euro ge-macht.
Daran allein kann es also nicht liegen. Hier bestehen tiefsitzende strategische Probleme wie das missglückte neueFahrpreissystem.
Das hat Vertrauen gekostet. Um dieses Vertrauen mussbei den Kunden wieder geworben werden.Investitionsstopp, Arbeitsplatzabbau, Fahrpreiserhö-hungen – wenn auf Biegen und Brechen eine schwarzeNull als bilanzielles Betriebsergebnis herausgepresstwerden soll, um einen schnellen Börsengang der Deut-schen Bahn AG zu begründen, dann ist das ein schädli-cher Brachialkurs, den wir politisch nicht ohne Weiteresdecken können.
Die aktuellen Beratungen zeigen, dass sich im Bun-destag nach wie vor alle einig sind: ein prinzipielles Jazur Öffnung des Staatskonzerns Deutsche Bahn AG fürprivate Kapitalbeteiligungen, aber kein überstürztes Vor-gehen. Wir stellen Bedingungen, die auch der Gutach-ter, Morgan Stanley, gestellt hat. Die erste Bedingung ist,dass die Performance im Unternehmen stimmen muss.Der erste Lackmustest im ersten Halbjahr 2004 ist nichtbestanden worden. Die zweite Bedingung ist eine ver-tiefte Untersuchung anderer Modelle der Teilprivatisie-rung, zum Beispiel unter Verbleib des Netzeigentums beider öffentlichen Hand.Wir wollen – um dieses Schlagwort aufzugreifen –keine Zerschlagung des Konzerns herbeiführen, sondern,dass die Bewirtschaftung der Infrastruktur durch DBNetz innerhalb der Holding des DB-Konzerns erfolgenkönnte. Das muss gutachtlich geprüft werden.Die dritte Bedingung lautet zusammengefasst: Gründ-lichkeit vor Eile. Wir wollen nicht unter Zeitdruck einemöglicherweise nicht verantwortbare Entscheidung tref-fen, die uns am Ende, siehe LKW-Maut – und sei es inder nächsten Legislaturperiode –, auf bittere Weise ein-holt.
Ich will zum Schluss kommen. Licht und Schatten lie-gen nah beieinander, übrigens auch im Haushalt zum Be-reich Bauen und Wohnen. Wir sehen gute Ansätze, dieverstetigt worden sind: die Programme „Soziale Stadt“und „Stadtumbau Ost“, das Gebäudemodernisierungs-programm zur CO2-Minderung und aktuell auch das Pro-gramm „Stadtumbau West“, das wir sehr begrüßen. Dassind Schritte in die richtige Richtung und die richtigenAntworten auf die Strukturprobleme unserer Städte.Herr Kollege Oswald, meine letzte Bemerkung: Dienotwendige Antwort auf die Strukturprobleme unsererStädte ist doch nicht, mit der Eigenheimzulage eineüberholte Subvention zu pflegen.
Diese zielen auf Strukturprobleme von gestern, die nurin München, sonst in keiner einzigen MetropoleDeutschlands, vielleicht noch vorhanden sind. Jetzt gehtes darum, die 6 Milliarden Euro, die jedes Jahr aus öf-fentlichen Kassen für etwas aufgewendet werden, wasgar nicht mehr gebraucht wird, nämlich für zusätzlichenWohnungsbau, endlich dort zu verwenden, wo wir siewirklich brauchen: –
Herr Kollege Schmidt, achten Sie auf Ihre Redezeit.Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):– zum Beispiel für die Sanierung in ost- und west-deutschen Städten und für Bildung und Forschung. So-lange Sie dazu nicht bereit sind, haben Sie kein Recht,hier über Baupolitik zu schwadronieren.
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Herr Kollege Schmidt, wenn deutlich nach Über-
schreiten der Redezeit ein letzter Satz angekündigt wird,
wäre es schön, wenn es auch bei diesem einen bliebe.
Nun hat der Kollege Friedrich für die FDP-Fraktion
das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
war wirklich erstaunt, Herr Minister, wie Sie Ihren
Haushalt heute vertreten und begründet haben. Man
könnte dies unter der Überschrift zusammenfassen: Seid
zufrieden, es hätte noch viel schlimmer kommen kön-
nen! Im Prinzip hieß es, man solle die Infrastruktur nicht
schlechtreden, es sei ja alles gut, man müsse nach vorne
schauen.
Gleichzeitig würde konstruktive Kritik eingefordert. Die
kam dann teilweise auch vom Kollegen Albert Schmidt.
Aber man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, Herr
Minister, dass Ihre Aufforderung, diese Politik müsse se-
riös begründet werden, weil sie nicht für Schnellschüsse
geeignet ist, bei Ihnen immer mit dem Eindruck des
hoch gelobten Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Bran-
denburg einhergeht, der einmal gesagt hat:
Es ist dem Untertanen untersagt, den Maßstab sei-
ner beschränkten Einsicht an die Handlungen der
Obrigkeit anzulegen.
Sie fordern zwar Kritik ein, aber Sie sind offensicht-
lich nicht bereit, sie umzusetzen. Wie sonst könnten Sie
einen Haushalt aufstellen, der von vornherein Planungs-
risiken gigantischen Ausmaßes hat? Das sagt nicht nur
die Opposition. Das sagen auch fast alle Wirtschaftsver-
bände; ich will nur das DIW nennen. Sie kommen in Ih-
rem Haushalt insgesamt nur deshalb auf verfassungsmä-
ßige Zahlen, weil Sie Privatisierungserlöse von fast
16 Milliarden Euro einstellen. In den letzten Jahren wa-
ren es einmal 5 oder 6 Milliarden Euro, aber noch nie-
mals 16 Milliarden Euro. Ich sage Ihnen voraus: Das
sind Luftnummern; ich will gar nicht auf die Maut einge-
hen.
Wenn das alles nicht eintrifft, Herr Minister, dann
werden sich natürlich die Zahlen Ihres Haushaltes ent-
sprechend verändern. Das ist bei einem Haushalt, der die
Investitionen insgesamt bei ungefähr 9 Prozent deckelt,
aber für soziale Ausgaben fast 34 Prozent vorsieht, na-
türlich sehr schmerzhaft. Die Verfassungsmäßigkeit des
Haushalts gelingt Ihnen ja nur dadurch, dass die Investi-
tionen höher sind als die Neuverschuldung. Bei der Ver-
schuldung – das, glaube ich, kann man mittlerweile sa-
gen – hat sich Herr Eichel in den letzten Jahren aber
immer verrechnet, und zwar zu seinen Ungunsten und
nicht zu seinen Gunsten. Wenn sie noch höher wird, sehe
ich große Probleme.
Dann ist es schon fast eine Frechheit, wenn Sie zum
Haushalt sagen, Sie hätten die Investitionen gegenüber
dem Haushalt 2004 gesteigert. Das ist ja theoretisch
richtig, aber das ist schlicht mathematisch bedingt: Wenn
die Investitionen weniger stark zurückgehen als der Ge-
samthaushalt, ist die Basis für das Verhältnis von Inves-
titionen zur Haushaltssumme eine andere. Wenn dadurch
ein etwas höherer Prozentwert herauskommt, dann ist
das kein Erfolg, sondern eher ein Eingeständnis Ihrer
Hilflosigkeit, was die Investitionen angeht. Das wird
auch nicht dadurch besser, Herr Minister, dass Sie sagen,
Sie hätten im letzten Jahr und auch in diesem Jahr deut-
lich höhere Ansätze als wir in unserem letzten
Regierungsjahr 1998. Numerisch ist das richtig. Sie ha-
ben ungefähr eine halbe Milliarde Euro mehr zur Verfü-
gung. Das ist traumhaft. Sie vergessen allerdings zu er-
wähnen, dass Sie dem deutschen Autofahrer in Ihrer
Regierungszeit dafür zusätzlich 15 Milliarden Euro ab-
knöpfen. Wo sind die denn geblieben?
Sie nehmen ja noch nicht einmal Ihre eigenen Aussa-
gen, die Sie zur Infrastruktur gegenüber dem Rech-
nungsprüfungsausschuss gemacht haben, als Realität. Da
erklärt die Frau Kollegin Angelika Mertens, Parlamenta-
r
Um langfristig zumindest den derzeitigen Qualitäts-standard auf Bundesstraßen zu halten und für Auto-bahnen leicht zu verbessern, sind nach der Pro-gnose insgesamt 34,4 Milliarden Euro bis 2015, dasheißt, 5,6 Milliarden Euro jährlich, notwendig, undzwar zusätzlich.Das heißt, kurzfristig wäre eine Steigerung ab 2004 von700 Millionen Euro jährlich für den Infrastrukturerhaltnotwendig. Wo sind die denn in Ihrem Haushalt? Ichsehe nicht, dass Sie das, was Sie selbst aufgeschriebenhaben, unbedingt ernst nehmen.Auch wenn der Kollege Küster meint, damit würdenwir die Situation schlechtreden, muss doch erwähnt wer-den, dass wir in Deutschland im Schnitt bestenfalls noch70 Prozent der Infrastruktur uneingeschränkt nutzenkönnen. Der Rest ist bereits nicht mehr oder nur nocheingeschränkt nutzbar. Der Verfall geht konzentriert undstetig weiter. Je weniger schnell Sie reagieren, desto zü-giger wird der Verfall vonstatten gehen.Das ist ja nicht das Einzige. Durch den Anstieg desVerkehrs, der durch die EU-Osterweiterung ja nicht we-niger, sondern eher mehr geworden ist, weisen30 Prozent unserer Autobahnen in Deutschland mittler-weile eine tägliche Verkehrsdichte von 65 000 Fahrzeu-gen auf. Dies bedingt eine Durchschnittsgeschwindig-keit von unter 60 Stundenkilometern. Rund 20 Prozent
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Horst Friedrich
der deutschen Autobahnen weisen bereits eine täglicheVerkehrsdichte von über 80 000 Fahrzeugen auf. Dasheißt, hier geht nichts mehr. Trotzdem sagen Sie, mansolle die deutsche Verkehrsinfrastruktur nicht schlechtre-den. Herr Minister, ich glaube, Sie haben die Zeichen derZeit nicht erkannt.Das gilt genauso für die Bahn. Eigentlich kann mandas, was der Kollege Schmidt ausgeführt hat, nur unter-streichen. Aber wer lässt denn das Ganze zu?
Wer sitzt denn an den Schaltstellen? Wer kritisiert dennandere, wenn sie sagen, dass sich entgegen der Meinungin der Geschäftsführung der Bahn an der Positionierungam Markt etwas ändern muss? Was ist denn, wennjemand wie die FDP kommt und endlich auch Wettbe-werb auf der Schiene fordert? Das wird ja krampfhaftverhindert.
Wenn der deutsche Eisenbahnfahrer nur die Wahlzwischen der Deutschen Bahn und der Deutschen Bahnhat, dann wird sich nichts ändern.Es nützt dann auch nichts, dass sich der KollegeSchmidt hier hinstellt und auch im Hinblick auf die Bau-industrie von dem Untergang der Bahnwelt spricht. DieCharts haben wir ja alle. Im Übrigen, Herr Minister: Beiden der Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaftin diesem Jahr zur Verfügung gestellten Geldern für dieBahn – es sind knapp 800 Millionen Euro – hatten wirbis Mitte des Jahres einen Mittelabfluss von Null.
Im Juli betrug er auch Null. Es kann ja vielleicht nochbesser werden. Mit einem Mittelabfluss von Null kannman aber weder Schienen bauen noch Arbeitsplätze inder Bauindustrie erhalten. Insofern hat der KollegeOswald völlig Recht.Vor diesem Hintergrund wurde gestern erklärt, dassdas Ausbauziel für die Eisenbahnstrecke von Mannheimnach Basel bis 2008 zu erreichen sei, weil die Bahn bis2008 480 Millionen Euro an Eigenmitteln zusätzlichhineingeben wird. Nach dem, was der Kollege Schmidtgesagt hat, kann man eigentlich nur fragen, wo die dennherkommen sollen. Gibt es hier eine wundersame Geld-vermehrung oder habe ich irgendetwas versäumt?Entgegen den Aussagen der Bahn – sowohl von HerrnMehdorn als auch von Herrn Sack – wird auch bei denInvestitionen gespart. Es ist ja nicht so, wie es in der Zei-tung steht, nämlich dass die Investitionen weiterhin getä-tigt werden. Nein, jede einzelne Investitionsentschei-dung muss genehmigt werden. Alle Budgets wurdengedeckelt und die freie Verfügbarkeit über diese wurdegestoppt. Wer bei der Bahn derzeit Geld ausgeben will,muss sich das in jedem Einzelfall vom Bahnvorstandhöchstpersönlich genehmigen lassen. Dieser hat nur einZiel: Er möchte am Jahresende 2004 – koste es, was eswolle, und unter Inkaufnahme aller Probleme – bewei-sen, dass die Bahn börsenfähig ist.Am meisten ärgert mich, dass die Mehrzahl derBauauftragnehmer in Deutschland – das sind gut168 kleine und mittelständische Unternehmen mit knapp11 000 Mitarbeitern, die bisher familiär und hoch quali-tativ geführt worden sind – am Jahresende nur deshalbvor dem Konkurs steht,
weil die Bahn nicht bereit ist, das Geld, das selbst dieseBundesregierung ihr gegeben hat, tatsächlich auszuge-ben. Das sehe ich bei diesem Thema als wirklichenSkandal an.
Ich komme zum Thema Transrapid, der unendlichenGeschichte. Herr Stolpe, mit großer Freude habe ich ge-hört, dass Sie zu Ihren Verpflichtungen gegenüber derBayerischen Staatsregierung stehen und endlich dieFertigstellung der Strecke auf den Weg bringen wollen.Sie haben in Ihren Haushaltsreden mehrfach angedeutet,dass für die Einführung dieser Technik in Deutschland2,2 Milliarden Euro zur Verfügung stehen werden. Wennich es richtig in Erinnerung habe, ist das Projekt, mitdem sich Bayern die Mittel teilen sollte, der Metrorapidin NRW, auf Wunsch der Landesregierung in Nordrhein-Westfalen eingestellt worden. Was hindert Sie eigentlichdaran, Herr Minister, das für diese Technik insgesamtzur Verfügung stehende Geld, welches man damals imEinvernehmen mit der Magnetschwebebahnindustrienach dem Ende der Strecke Berlin–Hamburg bereit-gestellt hat, auf eine Strecke zu konzentrieren, damitDeutschland tatsächlich einmal in der Lage ist, Innova-tionen auch auf diesem Sektor umzusetzen?
Es ist doch relativer Nonsens, wenn Frau Bulmahn er-klärt, wir müssten Forschung fördern, und zwar mit demblöden Schlagwort „Bildung statt Beton“, wenn gleich-zeitig eine Realisierung einer in der Welt federführendenTechnik, über die wir verfügen, verhindert wird. ImZweifel laufen wir Gefahr, dass wir diese Technik ir-gendwann aus dem Ausland zurückkaufen zu müssen.
Wie hoch qualifiziert die deutsche Bahnindustrie ist, ha-ben wir gerade beim Wettbewerb in China gemerkt.
– Die Chinesen haben vielleicht eine intelligentere Stra-tegie, Herr Kollege Schmidt; das muss nicht jeder nach-vollziehen. Ich schließe aber nicht aus, dass die Chine-
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Horst Friedrich
sen Industrie und technisches Know-how aus aller Weltkaufen, auswerten und dann irgendwann drohen: Wennihr uns die Netzpläne und alles, was dazugehört, nichtliefert, dann kaufen wir von euch nichts mehr. – Daskönnte dann bedenklich werden. Dazu möchte ich abernicht weiter ausführen.Ich bleibe dabei, Herr Minister: Investitionen sind inDeutschland ein Schicksalsthema.
Wer will, dass der Osten einen Aufschwung erlebt, dassArbeitsplätze in Deutschland bleiben, dass sich Bil-dungsinvestitionen lohnen, dass sich auch Investitionenvon privaten Eigentümern in Wohnungen und in denStädtebau lohnen, der muss auch in die Verkehrswegeinvestieren.
Nur Investitionen sichern die Zukunft der Menschen.Wer auf den Verzehr von Substanz setzt, der kann dasnur so lange machen, bis die Substanz aufgebraucht ist.Wenn sie weg ist, ist sie weg. Es geht vordergründignicht um den Umsatz in der Bauwirtschaft oder um Auf-träge für die Hersteller in der Bahnindustrie.
Es geht darum, dass durch die Verweigerung von Rot-Grün das Gegenteil von dem erreicht wird, was Sie an-streben. Sie setzen vollmundig auf neue Arbeitsplätzeund beschließen Gesetze wie die Hartz-IV-Reform, mitdenen neue Arbeitsplätze entstehen sollen. Aber mit Ih-rer Politik im investiven Bereich und im Verkehrswege-bau machen Sie das genaue Gegenteil: Sie sabotieren dieVoraussetzungen für den Verkehrswegebau. Diesen Wegwerden wir nicht mitgehen.
Nun hat die Kollegin Faße für die SPD-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Herren von CDU/CSU und FDP, Horrorszenarienlösen keine Probleme.
Das muss man Ihnen heute wohl klar und deutlich sagen;denn auch Sie tragen in vielen Punkten Verantwortung.Das betrifft auch die Instandhaltungsquote. Ich glaubenicht, dass Sie behaupten können, der Vorgabe der In-standhaltung der Straßen in den 16 Jahren Ihrer Regie-rungszeit gerecht geworden zu sein. Der Zustand derStraßen ist ja nicht plötzlich schlecht geworden. Dashängt auch mit der Historie zusammen.
Der Einzelplan 12 ist besser, als Sie ihn versuchendarzustellen. Ihre Kritik ist überzogen. Ihre andauerndeForderung nach mehr Geld ist unrealistisch. Auch wirfänden es schön, wenn es Goldstücke regnen würde. Dasist aber nicht der Fall. Von daher sind Ihre überzogenenForderungen völlig daneben.
Die Umsetzung der Koch/Steinbrück-Vorschlägeund die Vorgaben der globalen Minderausgabe findensich auch im Einzelplan 12 wieder. Ich muss wohl daranerinnern, dass die Opposition den Sparmaßnahmen ausdem Koch/Steinbrück-Papier zugestimmt hat. Das schei-nen Sie nämlich manchmal zu vergessen.
Mit knapp 23,22 Milliarden Euro ist und bleibt dieserHaushalt der viertgrößte Einzelhaushalt, und das obwohlgegenüber dem bereinigten Soll 2004 im Einzelplan 12für das Jahr 2005 rund 1,57 Milliarden Euro weniger zurVerfügung stehen. Dieses Minus – darauf muss auchnoch einmal hingewiesen werden – ist überwiegenddarauf zurückzuführen, dass durch die Umsetzung vonHartz IV das Wohngeld aus dem Einzelplan heraus-genommen wurde, und zwar ohne eine Kürzung desWohngeldes an sich. Wir haben also ein Minus von2,3 Prozent zu verkraften.Der größte Investitionshaushalt des Bundes – ich sagedas noch einmal klar und deutlich – bleibt unser Haus-halt. Das ist auch richtig so und wichtig. Uns ist wichtig:Die Kontinuität der Investitionen auf hohem Niveaumuss Planungssicherheit für die Verkehrsträger und fürdie Industrie schaffen. Wir haben hier unsere Hausaufga-ben gemacht.
Zur Erinnerung: Zu der Zeit, als Sie die Regierungstellten, lagen die Verkehrsinvestitionen zuletzt bei9,5 Milliarden Euro, und das zu einer Zeit, in der dieKonjunktur mit der heutigen überhaupt nicht zu verglei-chen ist.
Wir wissen: Infrastrukturinvestitionen sind Zukunfts-investitionen in den wirtschaftlichen, sozialen und ge-sellschaftlichen Standort Deutschland. 1 Milliarde Euroschaffen und sichern 25 000 Arbeitsplätze. UnsereInvestitionsschwerpunkte für das Jahr 2005 liegen imErhalt und in der Modernisierung des Bestandsnetzesvon Schiene, Straße und Wasserstraße. Hier gilt es Prio-ritäten zu setzen. Dazu gehören die Weiterführung derlaufenden Vorhaben, die Verkehrsprojekte „Deutsche
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Annette FaßeEinheit“ und die Vorhaben zur Bewältigung der Ver-kehre im Zusammenhang mit der Erweiterung der Euro-päischen Union.Wir sehen in der Mitveranschlagung der eingeplantenMittel aus der LKW-Maut kein Risiko.
Wir alle wissen, wie schwierig es war, haushaltsmäßigzu klären,
wie die nicht erfolgte rechtzeitige Einführung der Mautauf den Haushalt gewirkt hat. Aber wir stellen hier einSystem um und das wird uns zum 1. Januar 2005 gelin-gen. Wir wissen aus den Zwischenberichten, dass allespositiv gelaufen ist. Ich finde, wir sind gemeinsam in derVerantwortung. Heute habe ich im Frühstücksfernsehengesehen, welche Horrorszenarien ein Kollege der CDUgezeichnet hat. Das halte ich für unverantwortlich. Siesollten mit dem Gewerbe und dem Verband darauf drän-gen, dass endlich die On Board Units, die vorhandensind, bestellt werden. Dann brauchen wir uns auch keineGedanken über Schlangen an den Tankstellen zu ma-chen.
Zur Bahn ist einiges gesagt worden. Der KollegeWeis wird detailliert darauf eingehen. Ich sage ganz klar:Die 2,5 Milliarden Euro, die wir der DB AG für die Er-satzinvestitionen zur Verfügung gestellt haben, wurdenvon der DB AG als ausreichend betrachtet. Aber – darinsind wir uns alle einig – die DB AG muss dieses Geldauch abrufen.
Sie muss Planungs- und Bauaufträge vergeben und darfnicht die eigenen Planungskapazitäten zurückfahren. Esist richtig, dass wir oft darüber diskutieren, dass die Mit-tel nicht abfließen. Wir haben extra Gelder für Planungs-kapazitäten freigestellt. Wir haben unsere Hausaufgabengemacht. Wir sehen die DB AG und den Vorstand in be-sonderer Verantwortung. Wir, die Regierung und die Ab-geordneten, lassen uns nicht den Schwarzen Peter zu-spielen, um das deutlich zu sagen. Auch Herr Mehdornträgt Verantwortung für die Arbeitsplätze in unseremLand.
Wir sind weiterhin davon überzeugt, dass die Wasser-straßen im integrierten Verkehrssystem unverzichtbarsind.
Die investiven Mittel in Höhe von rund 625 MillionenEuro werden auf Projekte konzentriert, die für den Erhaltund die Steigerung der wirtschaftlichen Leistungsfähig-keit des Wasserstraßennetzes von besonderer Bedeutungsind und einen hohen verkehrswirtschaftlichen Nutzenversprechen.
Mein persönlicher Wunsch und der Wunsch des Ge-werbes wäre es, eine Aufstockung der Mittel zu errei-chen. Aber ich möchte auch darauf hinweisen, dass dieInfrastruktur auf den Wasserstraßen nicht das einzigeProblem unserer Binnenschifffahrt ist. Um die Problemezu lösen, haben wir ein Gutachten vorgelegt und das Fo-rum „Binnenschifffahrt und Logistik“ gegründet. Am20. September wird ein erster Zwischenbericht vorgelegtwerden. Ich bin zuversichtlich, dass wir dem Gewerbehelfen können.
Meine Damen und Herren, auch das Maritime Bünd-nis liegt mir natürlich ganz besonders am Herzen. Wirstehen zum Maritimen Bündnis. Das zeigt sich auch da-ran, dass wir wieder 44,8 Millionen Euro an Bundes-zuwendungen in den Haushalt eingestellt haben. Wirsichern damit Arbeitsplätze deutscher Seeleute an Bordund die Ausbildung des seemännischen Nachwuchses.Wir halten Wort und gehen davon aus, dass die Reederdies auch tun. Wir erwarten Rückflaggungen im dreistel-ligen Bereich. Sollten wir über den zugesagten mindes-tens 100 liegen, dann müssten wir uns allerdings die mit-telfristige Finanzplanung noch einmal genau ansehen.Wir stehen zu dem Versprechen, das wir gegeben haben.Auf diese Bundesregierung ist Verlass.
Jetzt komme ich zu dem schon angesprochenenThema Transrapid. Wir bleiben dabei, dass der Magnet-schwebetechnik in Deutschland eine Chance zu gebenist. Wir sagen auch ganz klar und deutlich: Dies ist einLandesprojekt. Der Bund unterstützt dieses Projekt,
aber Voraussetzung dafür, dass die derzeitige Sperre– sie ist auch im Haushalt 2005 wieder vorgesehen – be-seitigt werden kann, ist ein tragfähiges Gesamtfinanzie-rungskonzept des Landes Bayern, nichts anderes.
Das Land hat das vorzulegen. Wir sollten hier auch kei-nen Hoffnungen Raum geben, dass das Geld, das NRWzugestanden hätte, jetzt einfach Bayern bekommen wird.
Man hat Bayern eine Summe zugesagt, zu der wir ste-hen. Mehr, meine Damen und Herren, wird nicht passie-ren. Der Ball liegt bei Bayern und nicht bei uns.
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Annette Faße
Positiv zu bewerten, liebe Kolleginnen und Kollegen,ist die Entwicklung im kombinierten Verkehr. Hier ha-ben wir Gelder zur Verfügung gestellt, deren Einsatzsich positiv ausgewirkt hat. Viele haben gesagt, derKombiverkehr werde weiter langsam abnehmen undsterben. Das ist nicht der Fall: Er hat positive Zahlen zuvermerken. Ich muss auch sagen, dass ich mich bei ei-nem Besuch des Hafens in Braunschweig sehr gefreuthabe: VW verlegt Transporte aufs Wasser, Ikea verlegtTransporte aufs Wasser.
Auch die Industrie merkt also, wie sinnvoll die Nutzungunserer Wasserstraßen ist.Wir haben auch keine Kürzungen in dem für unswichtigen Bereich der Verkehrssicherheit vorgenommen.Dieser Bereich liegt uns weiterhin sehr am Herzen. Wirhaben einen Rückgang bei der Zahl der Verkehrstoten zuvermelden. Das zeigt, dass wir auf dem richtigen Wegsind. Wir werden gemeinsam mit den Verbänden weiteran einer Verbesserung der Verkehrssicherheit arbeiten.
Wir haben in diesem Haushalt zum ersten Mal dreiStellen, an denen gesondert Mittel für Radwege bereit-gestellt werden: an den Bundesfernstraßen, an den Bun-deswasserstraßen und 2 Millionen Euro zur Umsetzungdes Nationalen Radverkehrsplanes. Ich meine, dass dasein deutliches Zeichen dafür ist, dass wir auch diesenVerkehrsträger nicht vergessen; wir berücksichtigen ihnund werfen entsprechende Studien nicht einfach in denPapierkorb, sondern setzen sie konsequent um.Lassen Sie mich zum Schluss zu einem Thema Stel-lung nehmen, über das ich mich bei meinen Recherchengefreut habe: Das ist die Situation der Ausbildungs-plätze in unserem Ministerium.
Meine Anfrage hat dazu beigetragen, dass wir schon imJahr 2004 unser Ausbildungsplatzangebot von 7 Prozentder sozialversicherungspflichtig Beschäftigten zur Ver-fügung stellen. Das reicht so aber nicht aus: Auch dasMinisterium übernimmt Verantwortung und stellt zusätz-liche Ausbildungsplätze zur Verfügung. Die Zahl derAusbildungsverhältnisse soll von zurzeit 1 177 auf1 429 erhöht werden. Das ist ein gutes Zeichen für diejungen Menschen in unserem Land.
Es ist jetzt Sache der Abgeordneten, im Fachaus-schuss über den vorliegenden Haushaltsentwurf zu bera-ten. Ich bin gespannt, welche Anträge von Ihnen kom-men werden. Wenn es – wie bei den Anträgen zumBundesverkehrswegeplan – wieder um die Zahlen geht,dann wissen Sie, was damit passiert. Aber vielleicht kön-nen wir uns bei einigen Änderungsanträgen auch eini-gen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Norbert Königshofen,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!80 Prozent der Bürger haben kein Vertrauen in dieFinanzpolitik der Bundesregierung. Mit dieser Feststel-lung, dem Ergebnis einer Emnid-Umfrage, habe ich inder letztjährigen Haushaltsdebatte meine Rede begon-nen. Nun, meine Damen und Herren von der Koalition,mit der Vorlage des Haushalts 2005 dürften Sie auch dasVertrauen der übrigen 20 Prozent verspielen.
Denn aus Ihren vollmundigen Ankündigungen, Deutsch-land fit für die Zukunft zu machen, ist wieder nichts ge-worden. Der Haushalt 2005 ist ein Dokument nicht ge-haltener Versprechen und ein Dokument des Scheiterns.Das gilt auch und besonders für den Verkehrsbereich, zudem Sie, Herr Minister Dr. Stolpe, gerade in Ihrer Redefeststellten, dass er über Deutschlands Zukunft ent-scheide. Ich frage Sie: Was ist aus Ihrem Zukunftspro-gramm Mobilität geworden? Was ist aus Ihrer zukunfts-orientierten Investitionspolitik geworden? Was ist ausIhren Zusagen und Versprechen geworden? Die Antwortlautet schlicht und einfach: Nichts, gar nichts!
Nehmen wir als Beispiel die LKW-Maut. Mit ihrerEinführung sollte bekanntlich zweierlei erreicht werden:Zum einen sollten die Wettbewerbsverzerrungen zulastendes deutschen Güterkraftgewerbes gemindert werden.Zum anderen sollten zusätzliche Mittel für Verkehrsin-vestitionen mobilisiert werden. Beide Versprechen habenSie von Rot-Grün gebrochen. Die Erfüllung des erstenVersprechens scheiterte daran, dass Sie sich in Brüsselviel zu spät und dann nicht hart genug für das deutscheGüterkraftgewerbe eingesetzt haben. Es ist daher keinWunder, dass die Verhandlungen bis jetzt ohne positivesErgebnis geblieben sind.
– Die Maut ist zwar gesenkt worden, aber für alle. Da-durch sind die Wettbewerbsverzerrungen nicht beseitigt,mein lieber Kollege.Schlimmer aber als die Nichteinlösung des Verspre-chens, 600 Millionen Euro als Ausgleich zu zahlen, istder Bruch des zweiten Versprechens. Hier geht es ja umzusätzliche Milliardeninvestitionen in den Verkehrsbe-reich. So heißt es beispielsweise nach der Vereinbarung
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Norbert Königshofendes Vermittlungsausschusses vom 21. März 2003 in§ 11 des Mautgesetzes – ich darf das zitieren –:Das verbleibende Mautaufkommen wird zusätzlichdem Verkehrshaushalt zugeführt und in vollem Um-fang zweckgebunden für die Verbesserung der Ver-kehrsinfrastruktur, überwiegend für den Bundes-fernstraßenbau, verwendet.Davon kann im vorliegenden Haushaltsentwurf keineRede sein.
Genauso wie im letzten Jahr senken Sie die steuer-finanzierten Investitionen. Die dafür eingesetztenMauteinnahmen gleichen das noch nicht einmal aus. Dasheißt, es fließt nicht mehr, sondern weniger Geld in dieVerkehrsinfrastruktur. Das ist eine klare Verletzung desMautgesetzes. Dabei ist noch keineswegs sicher, dassdie für 2005 in den Haushalt eingestellten Mauteinnah-men in Höhe von 1,5 Milliarden Euro für Investitionenzur Verfügung stehen. Nicht nur für den Finanzexpertendes Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung,Vesper, ist völlig offen, ob das Mautsystem 2005 endlichfunktionieren wird. Herr Minister, wir haben ja diesbe-züglich unsere schmerzhaften Erfahrungen. Ich hoffe,dass Sie mit Ihrem Optimismus Recht haben; denn wirbrauchen das Geld dringend. Aber wir haben ja unsereErfahrungen gemacht. Wie oft sind wir da vertröstetworden!Doch selbst wenn die Mauteinnahmen pünktlich flie-ßen, fehlen im Vergleich zu 2004 rund 542 MillionenEuro, im Vergleich zu 2003 sogar 800 Millionen Euro.Insgesamt reicht die mangelnde Investitionsbereit-schaft nicht einmal aus, den schleichenden Substanzver-lust auf Deutschlands Autobahnen und Bundesstraßenaufzuhalten, und das, obwohl der Staat durch Steuernund Abgaben im Bereich Straßenverkehr – nehmen wireinmal die Mineralölsteuer – zurzeit circa 50 MilliardenEuro pro Jahr einnimmt.
Herr Minister, das ist schlichtweg ein Skandal. Es istzu befürchten, dass das noch nicht einmal das Ende derFahnenstange sein wird. Am Ende der Haushaltsberatun-gen wird, so fürchte ich, noch weniger zur Verfügungstehen.
Doch nicht nur die Straßenbauinvestitionen kommenbei Ihnen stiefmütterlich weg. Das Gleiche gilt für dieSchiene, eigentlich ein Lieblingskind der rot-grünen Ko-alition. Herr Kollege Oswald hat überzeugend dargelegt,dass die Entwicklung auf diesem Gebiet negativ seinwird. Wohin das Ganze führt, konnte man in der „FAZ“am Montag nachlesen: Die Deutsche Bahn wird ihr Per-sonal wegen der sinkenden Bundesmittel für die Schie-neninfrastruktur für die Planung von Investitionsvorha-ben reduzieren, und zwar um 1 500 Stellen; von5 400 Stellen fallen 1 500 weg und auch die externenPlanungsbüros bekommen weniger Aufträge.
– Nein, das steht in der „FAZ“.
Ich glaube gar nicht, dass das Propaganda ist; dennselbst Herr Kollege Schmidt von den Grünen hat das be-krittelt.Ich muss hinzufügen: Herr Schmidt nimmt hier eineganz eigenartige Rolle ein. Er spielt so ein bisschenOpposition in der Koalition. Man überlässt der SPD dasUnangenehme – für die Grünen ist das angenehm – undselbst stellt man sich als Retter der Entrechteten dar. Dasmüssen Sie natürlich intern klären. Meine Damen undHerren von der SPD, was ich vorgetragen habe, ist nichtnur eine Behauptung der „FAZ“, sondern es wird selbstvon Ihrem Koalitionspartner behauptet.
– Das ist die Realität.Nachdem ich das alles gehört habe, weiß ich nicht,Herr Minister, woher Sie Ihren Optimismus in Bezug aufden Rhein-Ruhr-Express nehmen.Wie es Frau Faße eben erst getan hat, wird für dieseKahlschlagpolitik gern das Koch/Steinbrück-Papierherangezogen. Das Koch/Steinbrück-Papier ist aber eineListe von Vorschlägen zum Subventionsabbau und keineListe mit Vorschlägen zu Investitionskürzungen.
– Nein. – Die beiden Ministerpräsidenten, also auch IhrMinisterpräsident Steinbrück, SPD, haben in einemBrief vom 25. März an Herrn Dr. Stolpe klargestellt– Frau Faße, ich zitiere das gern –:Unsere Vorschläge bewirken einen Subventionsab-bau auf breiter Front. Dabei ist aber stets darauf ab-gestellt worden, dass es keine Verwechslungen zwi-schen Infrastruktur-Investitionen und Subventionengeben kann und darf. Schon gar nicht haben wirVorschläge zur Kürzung von Investitionen des drin-gend benötigten weiteren Ausbaus der Bundesfern-straßen gemacht. Deshalb ist Ihre Begründung derKürzung von Investitionen unter Berufung auf un-sere Vorschläge schlicht falsch.So die beiden Ministerpräsidenten. Sie können es jagerne nachlesen.
– Alles andere ist Geschichtsklitterung und -fälschung.
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Norbert KönigshofenSie können sich nicht auf das Koch/Steinbrück-Papierberufen. Es ist Ihre politische Entscheidung, zu kürzen.Sie haben den Verkehrshaushalt nämlich immer alsSteinbruch zur Finanzierung anderer Maßnahmen ge-braucht. Sie verwechseln gern Investitionen und Sub-ventionen. Solche Verwechslungen haben bei Ihnen jaTradition. Ich brauche nur daran zu erinnern, dass HerrScharping einst brutto und netto verwechselt hat.
– Nein, das ist Ihre Tradition, Herr Kollege!
Der Entwurf des Einzelplans 12 belegt, dass die rot-grüne Koalition ihrem Anspruch, die Mobilität inDeutschland zu fördern, nicht gerecht wird. Von daherlehnen wir den von Ihnen, meine Damen und Herren,vorgelegten Entwurf – jedenfalls in dieser Fassung – ab.
Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Spanier,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen! LiebeKollegen! Herr Königshofen, doch noch einmal zur Klar-stellung und Erinnerung: Im Koch/Steinbrück-Papier warsehr wohl eine massive Kürzung von Investitionen, näm-lich im Bereich Schiene, vorgesehen.
– Und Wasserstraßen. – Wir haben das anders aufgeteilt,nämlich entsprechend dem normalen Anteil der Investi-tionen für Schiene, Straße und Wasserstraße. Ich darf Sievon der CDU, Sie von der CSU und Sie von der FDP da-ran erinnern – das tue ich hier schon zum wiederholtenMale –, dass wir alle gemeinsam hier im DeutschenBundestag das Ergebnis des Vermittlungsausschusses innamentlicher Abstimmung angenommen haben
und damit auch dieser Kürzung der Investitionen, mitanderer Aufteilung, zugestimmt haben. Wenn Sie es lie-ber hätten, dass 600 Millionen Euro ausschließlich beider Bahn gekürzt werden, können Sie das gern hier in al-ler Öffentlichkeit sagen.
Zu Herrn Oswald. Sie spielen in dieser Woche wiedereinmal das übliche Spiel. Sie sagen: natürlich keineSteuererhöhungen, natürlich eine weitere Begrenzungder Verschuldung. Aber gleichzeitig fordern Sie deutli-che Steigerungen der Ausgaben, diesmal allerdings ohneMilliardensummen zu nennen.
Dieses Spiel müssen wir leider jedes Jahr erleben.Sie setzen noch eins drauf. Ihre Zukunftspläne sindSteuersenkung und Kopfpauschale; Gesamtkosten rund100 Milliarden Euro. Da verfahren Sie nach dem Motto:Was soll es? Man kann ja viel versprechen. – Das ist nunwirklich unseriös.
Dass wir die Realität in unserem Land unterschiedlicheinschätzen und beschreiben, gehört auch mit zu demSpiel. Die Bürgerinnen und Bürger werden sich manch-mal wundern, weil sie ein eigenes Bild von der Wirklich-keit haben.
Zur Wirklichkeit im Bereich des Wohnens gehört: DerWohnungsmarkt ist weithin ausgeglichen. In den Bal-lungszentren gibt es allerdings Engpässe; das ist richtig.In den letzten zwölf Monaten ist ein Anstieg der Mieteninklusive Nebenkosten von nur einem einzigen Prozentzu verzeichnen. Er liegt deutlich unter dem Anstieg desIndexes für die Lebenshaltungskosten.
Es gibt allerdings schon jetzt – das will ich hier aus-drücklich unterstreichen – erste Anzeichen für eineAnspannung im preiswerten Wohnungssegment. Diesewerden sich zukünftig sicherlich noch verstärken. Preis-werte Wohnungen werden knapp, nicht nur in den Bal-lungszentren.
Deswegen darf ich uns alle daran erinnern – das sage ichan dieser Stelle mit allem Ernst –, welch hohe Bedeu-tung das Wohngeld hat, und zwar ein ungekürztes Wohn-geld.
– Zum Eigentum komme ich gleich.Herr Oswald, Sie fordern hier eine Ankurbelung desMietwohnungsbaus. Ich weiß nicht, wo Sie die Wohnun-gen bauen wollen,
in Hoyerswerda, in Wilhelmshaven, in Duisburg oder beimir zu Hause, in Herford. Das wäre doch völlig am Be-darf vorbei. Wir können uns in diesem Land solche staat-lich geförderten Investitionsruinen ansehen. Diesen Feh-ler sollten wir nicht noch einmal begehen.
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Wolfgang Spanier
Gerade in unserem Bereich, in der Städtebau- undWohnungspolitik, kommt es auf die langen Linien derPolitik an. Wir müssen wirklich mittel- und langfristigdenken und uns rechtzeitig – es handelt sich nämlich umlanglebige Investitionen – auf die Auswirkungen des de-mographischen Wandels einstellen. Wir haben diesenParadigmenwechsel in der Städtebau- und Wohnungs-politik bereits vollzogen, Sie noch nicht ganz; aber einegewisse Lernfähigkeit unterstelle ich Ihnen heute ein-fach mal.Wir können hier diskutieren, wie wir wollen, und for-dern, was wir wollen: Die Finanzlage der öffentlichenHand – Bund, Länder und Kommunen – ist nun einmalso, wie sie ist. Wenn Sie in die Länderhaushalte schauen,auch in die von CDU-regierten Ländern, dann werdenSie sehen, dass die Länder ebenfalls nicht um massiveKürzungen und Einsparungen herumkommen. Sie habenebenfalls weder den Verkehrsetat noch den Etat für Städ-tebau und Wohnen ausgenommen.Zur Eigenheimzulage: Da sind wir uns einig. Siemüssen einem Ostwestfalen nicht erklären, welche Be-deutung das Eigenheim für die Menschen hat.
Wir haben eine hohe Eigentumsquote. Aber darum gehtes überhaupt nicht. Herr Oswald, Sie wissen, dass HerrStoiber – Ihnen bekannt –, Herr Faltlhauser – Ihnen be-kannt, zur Information der anderen: bayerischer Finanz-minister und ehemaliger Staatssekretär –,
Herr Merz und viele weitere – ich könnte die schwarzeListe fortsetzen – öffentlich die Streichung der Eigen-heimzulage gefordert haben. Da wundere ich mich, wel-che Position Sie heute einnehmen.
– Das ist so. Ich könnte es Ihnen nachweisen. Sie wissen,dass ich solche Dinge nicht leichtfertig sage, schon garnicht in aller Öffentlichkeit. – All die Genannten forderndie Abschaffung und wollen das Geld für einen anderenZweck – entschuldigen Sie diesen platten Ausdruck –verbraten, nämlich für die von Ihnen als Fata Morganabeschworene massive Steuersenkung,
die insbesondere die Senkung des Spitzensteuersatzesauf 36 Prozent umfasst. Ich kann Ihnen das nachweisen.Das ist schlicht und einfach so. Deswegen sind wir aufdie Diskussionen der nächsten Wochen gespannt.Wir müssen also einfach angesichts der demographi-schen Entwicklung einsehen, dass Neubau zunehmendeine geringere Rolle spielen muss, vor allen Dingen,wenn er öffentlich gefördert wird. Jede andere Annahmewäre unvernünftig. Wir müssen – auch mir fällt dasmanchmal schwer – Prioritäten anders setzen und da, wowir Subventionen geben, schauen, dass sie möglichstsinnvoll und möglichst zukunftsweisend eingesetzt wer-den. Der Vorschlag der Bundesregierung geht genau indiese Richtung. Das verlangt von uns Wohnungspoliti-kern zwar einfach ein Stück weit auch Umdenken, aberich glaube, dass wir das nachvollziehen können.Es findet eine Umschichtung in Richtung Bildung undForschung statt, aber auch eine Umschichtung in Rich-tung Städtebauförderung. Von den Mitteln, die wirdurch die gemeinsam beschlossene 30-prozentige Kür-zung der Eigenheimzulage freigesetzt haben – so viel sageich noch einmal zu Ihren glühenden Bekenntnissen –,
werden 25 Prozent für die unterschiedlichen Haushalts-positionen der Städtebauförderung verwendet.
Das Stadtumbauprogramm ist uns also sehr wichtig. Wirhalten uns hierbei an die verabredete Finanzierung. Füruns ist es auch sehr wichtig, dass wir jetzt endlich dasStadtumbauprogramm West starten können. Uns ist auch– das haben wir ja übrigens gemeinsam im Baugesetz-buch verankert – das Programm „Soziale Stadt“ sehrwichtig.
Wir sind froh, dass wir hier das finanzielle Niveau ver-stetigen konnten.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Faße?
Natürlich, klar. Es wird zwar behauptet, sie sei be-
stellt, aber ich bin gespannt, was sie fragt.
Herr Kollege Spanier, ich möchte gerne auf das Stich-
wort „Soziale Stadt“ eingehen und nachfragen, ob Ihnen
bekannt ist und, wenn ja, wie Sie es bewerten, dass das
Land Niedersachsen den Anteil, den es für dieses Pro-
gramm im Jahr 2005 zu tragen hätte, vollkommen gestri-
chen hat.
Wir alle waren uns politisch einig, dass das Programm„Soziale Stadt“ an der richtigen Stelle ansetzt. Deswe-
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Wolfgang Spaniergen gibt es ja auch weit über 250 Projekte in Deutsch-land, verteilt auf alle Bundesländer. Es wäre natürlicheine schlimme Sache, wenn eine Signalwirkung vondem Verhalten Niedersachsens ausginge, sich die Ländermöglicherweise wie bei einem Dominoeffekt Schritt fürSchritt von der Mitfinanzierung verabschiedeten und da-mit das Programm, das wir alle politisch gewollt haben,kaputtmachten. Ich bitte deshalb die Kolleginnen undKollegen von der Union, vielleicht doch noch einmal mitdem niedersächsischen Finanzminister und dem nieder-sächsischen Ministerpräsidenten darüber zu sprechen, obsie an dieser Stelle wirklich eine richtige Entscheidunggetroffen haben. Wir halten sie für völlig falsch.
Angesichts der extrem schwierigen Finanzlage ist eseine gute und richtige Sache, dass die Mittel für die Alt-schuldenhilfe im Zusammenhang mit dem Stadtumbaunoch einmal um 200 Millionen aufgestockt werdenkonnten. Das Finanzvolumen beträgt jetzt insgesamt1,1 Milliarden DM.
Die Bundesregierung hat das vorgeschlagen. Wir habenWort gehalten, was nur Schritt für Schritt möglich war,aber wir haben es geschafft. Das ist ein ganz wichtigerSchritt nach vorne und ein gutes Signal für die neuenBundesländer.
Die soziale Wohnraumförderung beträgt 2005 und inden Folgejahren 202 Millionen Euro. Das ist mir persön-lich zu wenig, das sage ich Ihnen ganz offen, vor allemangesichts dessen, was ich gerade zum preiswertenWohnungsbestand gesagt habe. Aber hier hat Koch/Steinbrück zugeschlagen. Wir alle haben das gemeinsambeschlossen. Auch hier geht es um Investitionen. Den-ken Sie bei Investitionen nicht immer nur an die Straße;auch hier werden Investitionen angereizt. Das ist woh-nungs- und städtebaupolitisch nicht besonders gut gelun-gen. Darüber werden wir möglicherweise in den kom-menden Jahren noch einmal neu nachdenken müssen.
Es gibt Haushaltspositionen, die zwar im Finanzvolu-men klein, in der Bedeutung aber durchaus wichtig sind.Ich freue mich, dass es gelungen ist, 1,5 Millionen Eurofür die Bundesstiftung „Baukultur“ bereitzustellen.
Da geht es nicht nur um die Qualität des Bauens, son-dern sie ist auch hilfreich in Bezug auf internationaleMarktchancen unseres Planungs- und Bauwesens. Des-wegen unterstützen wir diesen Vorschlag der Bundes-regierung mit allem Nachdruck.
– Sie auch; da sind wir uns einig. Wir sind uns wahr-scheinlich in mehr Punkten einig, als die Brandredenvon Herrn Oswald, Herrn Königshofen und HerrnFriedrich vermuten lassen.Eine weitere Position, die im Volumen klein ist: Für2005 und 2006 werden 2,2 Millionen Euro für Pilotpro-jekte des genossenschaftlichen Wohnens bereitgestellt.Ich glaube – das hat auch die Expertenkommission aus-drücklich bestätigt; lesen Sie bitte einmal deren Bericht –,dass gerade das genossenschaftliche Wohnen unter denveränderten gesellschaftlichen Bedingungen besondereZukunftschancen für ältere Menschen, aber auch fürjunge Familien mit Kindern bietet. Dass hier ein ersterSchritt getan werden konnte, halte ich für überaus er-freulich und richtig.
Meine Damen und Herren, in der Politik kommt esnicht immer nur darauf an, welche Summen man zu be-stimmten Haushaltsstellen nachweisen kann. Dennochist es erfreulich, dass wir für die Städtebauförderung– bei der wir die Weichen dafür gestellt haben, Städte-bau- und Wohnungspolitik zu verzahnen und uns auf dendemographischen Wandel einzustellen – 522 MillionenEuro zur Verfügung stellen und damit das Finanzvolu-men auf einem hohen Niveau verstetigen konnten.Entscheidend ist aber die Qualität der politischen Ent-scheidungen. Ich denke, dass wir mit dem Programm„Soziale Stadt“, mit dem Rahmengesetz zur sozialenWohnraumförderung, übrigens auch mit den Moderni-sierungsprogrammen, die wir aufgelegt haben, mit demStadtumbau Ost und, zunehmend wichtig, mit demStadtumbau West die Weichen richtig gestellt haben.Ich habe – das möchte ich zum Schluss sagen, FrauPräsidentin – in den letzten Jahren manchmal vermisst,dass Sie sich an der inhaltlichen Diskussion um den Pa-radigmenwechsel in der Städtebau- und Wohnungspoli-tik beteiligen. In der Fachwelt wird diese Diskussion seitJahren geführt und auch wir in der Koalition führen sie.Nur Sie haben sich bisher auf die Position beschränkt,die Situation zum Beispiel in der Bauwirtschaft zu be-klagen, weil zu wenig Geld da sei. Diese Politik warvielleicht in den 50er- und 60er-Jahren richtig; aber inder heutigen Zeit bedeutet das – ich drücke mich vor-sichtig aus – ein Sich-Enthalten jeglicher politischenMitgestaltung.
Das bedaure ich. Lassen Sie uns die kommenden Wo-chen nutzen, über den Haushalt zu reden und nicht nurdarüber zu jammern, dass da oder dort die Summe zuniedrig ist,
und uns über die Inhalte unserer Städtebau- und Woh-nungspolitik zu verständigen. Mit den Ländern klappt
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Wolfgang Spanierdas, da wird das doch vielleicht auch mit der Oppositionim Bundestag klappen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Magdalena Strothmann,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!Deutschland ist geprägt von Mobilität, auch wenn vielevon uns diesen Sommer wieder in langen Staus gestan-den haben und einen völlig anderen Eindruck hatten. Be-weglichkeit und Flexibilität stellen keinen Luxus dar,sondern sind Voraussetzungen für eine moderne Gesell-schaft. Wer sich dies zu Eigen macht, erkennt, dassInvestitionen in unsere Verkehrswege für eine aktive,agile und vor allen Dingen leistungsfähige Gesellschaftwichtig sind. Die Grundaussage Ihres Haushaltsentwurfsjedoch lautet: weniger Investitionen. Stillstand im Stauund Stillstand in der Verkehrspolitik ist Ihre Linie.
Ein Haushalt mit nachvollziehbaren und klar formu-lierten Zielen strahlt Glaubwürdigkeit aus und erzeugteine Aufbruchstimmung, das oft geforderte Signal fürWirtschaftswachstum und Wirtschaftskraft. Davon istIhr Entwurf weit entfernt.
Woher sollen unsere Betriebe den Mut für Investitio-nen und für die Schaffung neuer Arbeitsplätze nehmen,wenn der Staat Stagnation zelebriert?
Seit sechs Jahren ist es das erklärte Ziel dieser Bundesre-gierung, Wachstum und Arbeitsplätze zu schaffen. Wirerinnern uns an das Ziel des Kanzlers, die Arbeitslosen-zahlen zu halbieren.
Das Ergebnis dieser Politik ist: Wachstum ist in weiterFerne, die Arbeitslosigkeit bleibt hoch und die Zahl derErwerbstätigen nimmt ständig ab.Nun liegt in schlechter Tradition ein Haushaltsent-wurf jenseits der Verfassung vor, da die angesetzte Neu-verschuldung auch in diesem Jahr nicht ausreichenwird.
Dieser Haushalt ist nicht „auf Kante genäht“, wie derFinanzminister immer stolz meint, sondern er ist wie einausgefranster Saum. Ich glaube, vom Nähen verstehe ichein bisschen mehr als er.
Die Finanzierung des Haushalts ist einfach unsolide.Es ist waghalsig, von Privatisierungserlösen in dieserHöhe auszugehen und diese Wahnsinnssummen auchnoch im Voraus auszugeben. Das wird wieder zulastender Steuerzahler gehen. Der Börsengang der Post hatschließlich gezeigt, wie zurückhaltend der Kapitalmarktderzeit ist und welchem Druck man bei der Preisgestal-tung ausgesetzt ist.
Wie schon beim Bundesverkehrswegeplan stelltsich auch beim Verkehrshaushalt Unbehagen ein.
Der unseriöse Finanzierungsansatz verursacht das schaleGefühl, der Bundesverkehrswegeplan sei schon jetzt dasPapier nicht mehr wert, auf dem er gedruckt ist.
Wie sollen 4,6 Milliarden Euro für Bundesfernstraßenreichen, wenn der Bedarf im Bundesverkehrswegeplanauf 5,2 Milliarden Euro festgelegt wurde und der tat-sächliche Bedarf noch höher liegt? Investitionen werdengnadenlos gekürzt und außerdem werden schließlichnoch weitere Einschnitte durch die globale Minderaus-gabe folgen.Dazu stellt sich immer wieder die spannende Frageder Maut. Gibt es eigentlich etwas Neues von TollCollect, zum Schadenersatz oder zum angestrebten Ter-min?
Es ist so verdächtig ruhig. Das muss man feststellen,auch wenn der Minister etwas anderes sagt.
Warum zögern eigentlich unsere Spediteure, die Ge-räte in die LKWs einbauen zu lassen? Die Unternehmensind nämlich nicht vom Erfolg der Aktion überzeugt undbefürchten, dass auch das neue System wieder nichtfunktioniert und weitere Kosten für die Betroffenen ver-ursacht. Für die Verunsicherung der Betriebe tragen Siedie Verantwortung.Auch die Harmonisierung ist dem Gewerbe verspro-chen worden, liegt aber auf Eis. Außerdem rate ich: ImEU-Verkehrsministerrat sollten Sie sich für eine Zweck-bindung der Mauteinnahmen einsetzen und nicht § 11des Mautgesetzes unterwandern. Die Maut wäre in demFall nichts anderes als eine Steuer. Ich sage es noch ein-mal: Eine Akzeptanz beim Gewerbe ist nur mit klarerZweckbindung zu erreichen.
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Lena StrothmannAber das Kind ist bereits in den Brunnen gefallen.Man muss sich das einmal auf der Zunge zergehen las-sen: Sie produzieren Haushaltslöcher, um sie dann mittheoretischen Mauteinnahmen zu stopfen.
Das ist für mich ein Haushalt mit Luftbuchungen.Die Kürzungen sind eindeutig. Im Straßenbau liegensie bei 10,5 Prozent, mit der Maut immer noch bei5,3 Prozent. Bei der Schiene ist es das Gleiche. Die Kür-zungen betragen dort 12,4 Prozent und mit der Maut im-mer noch 6,7 Prozent.
Sie sind dennoch immun gegen jegliche Ratschläge undEmpfehlungen. Sie ignorieren sogar einhellige Forde-rungen der Landesverkehrsminister.Die Verkehrsminister und -senatoren der Länder ha-ben ausdrücklich beschlossen, dass die Mauteinnahmenzusätzlich und nicht im Austausch gegen wegfallendeHaushaltsmittel für die Verkehrsinfrastruktur zur Verfü-gung stehen müssen.
Investitionen sind der Weg in die Zukunft.
Das war neben allen Sparbemühungen auch eine wich-tige Erkenntnis von Koch/Steinbrück. Steinbrück ist üb-rigens ein Ministerpräsident aus Ihren Reihen. Ein Er-gebnis des Vermittlungsausschusses wurde allerdingsvon Ihnen in sein Gegenteil verkehrt. Das war nicht nurverkehrspolitisch, sondern auch ökonomisch falsch.Sie behandeln die Straße wie ein ungeliebtes Stief-kind. Insbesondere bei der Maut handeln Sie konsequentzum Nachteil der Straße. Im neuen Haushaltsjahr rech-nen Sie mit hohen Mauteinnahmen. So weit, so gut.Aber leider wenden Sie dann erneut einen Verteilungs-schlüssel an, bei dem die Mittel für den Straßenbau pro-zentual am geringsten wachsen. Bei der Schiene ist einPlus von 14,3 Prozent, bei den Wasserstraßen von12,85 Prozent und bei der Straße nur von 11,75 Prozentzu verzeichnen.
Aber als Betroffene erwarten die Mautzahler zu Rechteine deutlich verbesserte Straßensituation.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden unsweiter auf ein intensives Wachstum des Verkehrs aufunseren Straßen einzurichten haben. Die Mobilität steigt.Die EU-Osterweiterung zeigt ihre Auswirkungen undder Güterverkehr nimmt immer mehr zu. Die Vertriebs-strukturen und die globalisierte Weltwirtschaft insge-samt sind weitere Ursachen. Man kann nicht einerseitsdie Einigung Europas vorantreiben oder Global Playersein und andererseits die Verkehrs- und Warenströmeeinfach ignorieren. Das verdeutlicht den Bedarf an ver-besserten und in jedem Fall auch zusätzlichen Verkehrs-achsen. Die Straße wird hieran einen entscheidendenAnteil haben. Ob politisch nicht gewollt oder verteufelt,dies bleibt eine Tatsache.Die Maxime muss also lauten: Ausbau statt einesnotdürftigen Erhalts! Im Haushaltsentwurf steht genaudas Gegenteil.
Dort steht, dass die Mittel für den Bundesstraßenerhaltum 29 Prozent steigen, die Mittel für den Bundesstra-ßenneubau aber um 41 Prozent sinken. Im Vergleich zu2003 ist dies ein Minus von 78,3 Prozent.
Hinzu kommt, dass die Kosten für die laufendenMaßnahmen die Gelder größtenteils auffressen. Für neueBaumaßnahmen ist nicht mehr genügend Geld übrig.Das nenne ich unseriöse Finanzplanung und das kommteinem Offenbarungseid gleich.
Das ist ein Witz; man hätte sich die Haushaltsberatungensparen können.Weitere falsche Prioritätensetzungen können wir unsnicht länger leisten. Das Straßennetz hat für die Bürgerund die Wirtschaft eine große Bedeutung. IHK-Umfra-gen belegen, dass die Erreichbarkeit von Betrieben dieStandortentscheidung maßgeblich mitbestimmt. Die Er-reichbarkeit rangiert als zweitwichtigster Standort-faktor direkt nach der Gewerbe- und Grundsteuer.Was bedeutet das? Die Verkehrssituation hat direktenEinfluss auf die Betriebe und somit auf die Sicherungund Schaffung von Arbeitsplätzen. Darum betonen wirimmer wieder, dass zukunftsorientierte Investitionen imVerkehrs- und Baubereich positive Folgen haben – bishin zu höheren Einnahmen für die Steuer- und Sozial-kassen und weniger Kosten für die Arbeitslosigkeit. DieBekämpfung der Arbeitslosigkeit – ich glaube, da warenwir uns alle einig – ist die wichtigste Aufgabe in unse-rem Land und nicht etwa das Umsiedeln von Hamsternund Fledermäusen, das oft mehr kostet als eine Ortsum-gehung.Der volkswirtschaftliche Schaden in Deutschland auf-grund von Verkehrsstaus beläuft sich auf 80 Millionenbis 100 Millionen Euro. Verkehrspolitik muss alsoStrukturpolitik sein und sich an Bedürfnissen und Ent-wicklungen orientieren. Sie orientieren sich aber stur aneinem korsettartigen Finanzrahmen, der keinen Blick fürdas Notwendige zulässt.Wir fordern von unseren Arbeitnehmern und Arbeits-losen Flexibilität und Mobilität. Als Folge nimmt dieZahl der Pendler ständig zu. Allein nach Bielefeld, einerStadt mit 328 000 Einwohnern, pendeln täglich
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Lena Strothmann50 000 Personen. Gerade in meiner Heimat kann dieSchiene nur noch bedingt zur Entlastung beitragen, undzwar weder im Personenverkehr noch im Güterverkehr.Dennoch ist eines sicher: Der Gütertransport wirdweiterhin seinen Schwerpunkt auf der Straße haben. Ausdem Wirtschaftsleben sind LKWs nicht mehr wegzuden-ken. Das deutsche Transportgewerbe kann im Wettbe-werb jedoch nur mithalten, wenn wir die Bedingungenverbessern.Ändern Sie also Ihre verkehrspolitischen Prioritäten!Sorgen Sie endlich für eine funktionierende und wettbe-werbsfähige Verkehrsinfrastruktur! Eine Finanzierungist trotz aller Sparzwänge möglich.
Frau Kollegin, Sie müssen an Ihre Redezeit denken.
Ich bin gleich am Schluss. – Wir werden im Verlauf
der Beratungen konkrete Vorschläge machen und Alter-
nativen aufzeigen.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Reinhard Weis, SPD-Frak-
tion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich gebezu, dass ich zum ersten Mal seit langer Zeit mit – wennauch verhaltener – Freude zum Thema LKW-Mautsprechen kann. Ich fasse den aktuellen Stand der Situa-tion für die Kollegin Strothmann, die ja keinen richtigenÜberblick hatte, noch einmal zusammen.
– Sie hat doch selber gesagt, dass ihr die Informationenfehlen.Vor einem Jahr hat Toll Collect mit dem verpasstenStart der LKW-Maut zum 31. August 2003 ein techni-sches K. o. in der ersten Runde erlitten. Niemanden wirdes daher wundern, dass wir mit einer gewissen Skepsisauf die zweite Runde geblickt haben, die mit dem Be-ginn der Mauterfassung am 1. Januar 2005 enden soll.
Dies ist eine wichtige Voraussetzung für die Abwicklungunseres Haushalts; das ist richtig.Diese zweite Runde läuft und diesmal hat Toll Collectdie Technik offensichtlich im Griff. Uns liegen zurFunktionsfähigkeit und zum Stand der Einbauten der OnBoard Units inzwischen Berichte von Toll Collect, vomVerkehrsministerium und von Gutachtern vor. Diese In-formationen werden durch Gespräche ergänzt, die wirselber mit Spediteuren und den Verbänden führen.All diese Berichte gipfeln in unserer Erwartung, dassdie Maut pünktlich starten kann. Ich will nicht alles wie-derholen, was meine Vorredner gesagt haben, aber dieBotschaft muss klar sein: Die Mauterhebung kommt. Siewird komfortabel über die vorgesehene Technik der OnBoard Units oder umständlicher über das manuelle Ein-loggen erfolgen. Der Start des Mautsystems hängt vonder funktionierenden Technik und nicht von der Zahl dereingebauten On Board Units ab.Jeder Spediteur, der auf weitere Verzögerungen setzt,handelt deshalb riskant. Wer immer noch glaubt, durchgezielte Verschleppung der Mauterfassung zu entgehen,sitzt einem bösen Irrtum auf. Man wird sich allenfallsden Zorn der sonstigen Autofahrer zuziehen, wenn dieLKWs an Tankstellen oder Autobahnauffahrten den flie-ßenden Verkehr behindern, um sich manuell einzulog-gen. Wer dort sein Firmenlogo platziert, macht keinegute Werbung für sich.
Auch die Verbände des Güterkraftverkehrsgewerbeshaben das erkannt. Wir begrüßen ganz ausdrücklich dieVerbändeerklärung vom 27. August dieses Jahres, mitder alle Spediteure eindringlich aufgefordert wurden,sich rechtzeitig um den Einbau der On Board Units in ih-ren Fuhrpark zu kümmern.Insgesamt bin ich sehr froh, dass die Debatte um dieMauterhebung mehr Sachlichkeit bekommen hat. DieseRuhe und Sachlichkeit haben wir alle nicht zuletzt derBesonnenheit unseres Bundesministers zu verdanken. Erhat sich allen Schwierigkeiten zum Trotz nicht zu fal-schem Aktivismus treiben lassen, sondern ruhig seinZiel verfolgt, die Maut zu realisieren. Wie wir heute se-hen, war dies wohl der richtige Weg. Das Konsortiumhat seine Lektion gelernt und ist heute ganz anders auf-gestellt. Wir begegnen Transparenz in der Entwicklungund Offenheit in der Information. Auch dies kann manan dieser Stelle würdigen.Mit dieser gebotenen Sachlichkeit wende ich michnun dem zur Debatte stehenden Antrag der CDU/CSU-Fraktion zu. Sie fordert in ihrem Antrag, den wir heutemit beraten, die Befreiung von der LKW-Maut auch aufhumanitäre Hilfstransporte auszudehnen. Ich sage Ih-nen ganz ehrlich, dass ich viel Sympathie dafür habe.
Ich könnte Ihnen zwar entgegnen, dass Sie bei der Ein-führung der Vignette in Ihrer Amtszeit humanitärenHilfstransporten auch keine Befreiung eingeräumt ha-ben.
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Reinhard Weis
Deswegen könnten wir es uns mit Ihren eigenen Argu-menten sehr einfach machen, indem wir darauf hinwie-sen, dass Sie heute etwas fordern, was Sie in Ihrer Ver-antwortung selber nicht getan haben. Aber sovordergründig möchte ich nicht reagieren.Allerdings ist es sicher richtig, dass Sie in Ihrer Zeitdafür Gründe hatten, die heute noch genauso gelten.Darüber werden wir im Ausschuss reden müssen.
Das Hauptproblem wird in der Durchführung undKontrolle der Mautbefreiung liegen. Es darf nicht zuMissbrauchs- oder Mitnahmeeffekten kommen. Wiekann man sicherstellen, dass wirklich nur humanitäreHilfstransporte von der Maut befreit werden? Muss dannjede Fahrt vorher geprüft und freigestellt werden? SollenVerbände generell freigestellt werden? Soll es hinterhernach Prüfung eine Erstattung geben? Sie haben damalsgesehen, dass die Beantwortung dieser Fragen ein Pro-blem darstellt; wir sehen das heute genauso. Aber ichsage Ihnen auch zu, dass wir Ihren Antrag nicht rund-heraus ablehnen, sondern uns in Zusammenarbeit mit Ih-nen um eine praktikable Lösung kümmern werden.
Wir können heute – ich muss noch einmal darauf hin-weisen – keine Haushaltsdebatte führen, ohne dasThema Schieneninvestitionen bzw. den Abfluss der be-reitgestellten Bundesmittel anzusprechen. Ich sprechejetzt also nicht über den Haushalt 2005, sondern geheauf den Vollzug des Haushalts des Jahres 2004 ein. Esfließt bis heute zu wenig von unserem bereitgestelltenInvestitionsgeld ab.
– Danke, Horst. – Darüber klagen Bahn- und Bauindus-trie zu Recht.Die Ursache für den Baustopp sind nicht fehlendeBundesmittel oder fehlende Finanzierungsvereinbarun-gen. Die Ursachen sind ein verordneter Baustopp durchden Bahnvorstand, die Verschleppung der Abrufungfreier Mittel für das Bestandsnetz und die Verschleppungvon Bauterminen.
Ich habe hier eine ganze Liste mit Beispielen vorliegen.Ich sage das so deutlich, weil der Bahnvorstand in Pres-severöffentlichungen den Eindruck vermittelt, gekürzteoder fehlende Mittel des Bundes seien die Ursache fürdiesen Baustopp. Das ist nicht zutreffend.
Zutreffender sind die Meldungen, dass der Bahnvor-stand bereits fest vereinbarte Schienenbauprojekte aufEis legt und Planungen bzw. Bauaufträge streicht oderverzögert.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Friedrich?
Bitte, Horst.
Herr Kollege Weis, Sie haben dankenswerterweise
auf den Grund für den verzögerten Mittelabfluss seitens
der Bahn hingewiesen. Was halten Sie in dem Zusam-
menhang von einer Presseerklärung der Staatssekretärin
beim Bundesumweltminister Frau Margareta Wolf, die
bekanntermaßen Mitglied im Aufsichtsrat der Bahn ist,
dass das, was Sie jetzt sagen, eine Kampagne der Stra-
ßenlobby gegen den Zugang der Bahn zum Kapitalmarkt
sei? Teilen Sie diese Aussage?
Nein, Kollege Friedrich, ich teile diese Aussage nicht.Wie wir alle wissen auch Sie, dass wir bei der Verwen-dung der Investitionsmittel darauf achten, dass eine be-stimmte Quote zwischen den Verkehrsträgern eingehal-ten wird. Wir werden nicht zulassen, dass durch dieDiskussionen, die heute geführt werden, ein verfälschterEindruck entsteht.
Ich will wenigstens einige Beispiele von der Liste derBauvorhaben nennen, die verzögert oder gestrichenwerden, damit Sie sehen, wie regional breit gefächert dieKonsequenzen sind: Es geht um die Verschiebung vonTeilmaßnahmen an der Ausbaustrecke München–Ingol-stadt–Nürnberg südlich von Ingolstadt. Auf der StreckeDüren–Aachen an der Grenze zu Belgien gibt es einesechsmonatige Verzögerung der Sanierung des Busch-tunnels wegen verspäteter Ausschreibung. Auf der Stre-cke Berlin–Rostock gibt es eine Bauverzögerung vonzwei Jahren, weil die DB AG die Planung zu spät aufge-nommen hat. Zahlreiche Maßnahmen zur Grunderneue-rung der S-Bahn in Berlin, für die es Finanzierungsver-einbarungen mit dem Bund gibt, werden aufgegebenoder auf Jahre hinaus verschoben. Zahlreiche wichtigeKreuzungsmaßnahmen werden nicht mehr realisiert,weil die DB AG die Planungskosten, die über 10 Prozentder Bausumme hinausgehen, nicht mehr finanzierenwill. Das ist deshalb bemerkenswert, weil die eigentli-chen Baukosten für Kreuzungsbauwerke staatlich finan-ziert werden und keine Eigenmittel der DB erfordern.Auf die Bahn- und die Bauindustrie hat diese neue Li-nie bereits sehr negative Auswirkungen. Die Aufträgefür die Bahnindustrie im Bereich der Infrastruktur sindim ersten Halbjahr 2004 im Vergleich zum Vorjahr ummehr als 50 Prozent zurückgegangen. In diesem Zeit-raum sind dadurch rund 1 800 Arbeitsplätze verloren ge-gangen. In der Bauindustrie sieht die Situation nichtbesser aus. Einer Reihe von hoch spezialisierten Schie-nenbauunternehmen droht das Aus, wenn der Bahnvor-stand seine Investitionspolitik nicht kurzfristig ändert.
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Reinhard Weis
Wir können in der sensiblen konjunkturellen Lage inDeutschland nicht akzeptieren, dass der Volkswirtschaftvorhandene öffentliche Investitionsmittel durch das Ver-halten der DB AG vorenthalten werden.
Ich kann nur dringend an den Vorstandsvorsitzenden derDB AG appellieren, mit der Realisierung baureifer Vor-haben zu beginnen und, soweit es noch erforderlich ist,auch die Baufreigaben durchzusetzen; das heißt, denverordneten Investitionsstopp aufzuheben. Die Mittelstehen zur Verfügung. Sie können beim Bund abgerufenwerden. Ansonsten könnte sich der Verdacht erhärten,dass man mit dem intern verordneten Investitionsstoppwomöglich ganz andere Ziele verfolgt, dass die Bahn dieveranschlagten Eigenmittel einsparen will, um in diesemJahr doch noch die schwarze Null zu erreichen, mit derdas Signal für den Börsengang auf grün gestellt werdensoll.
Investitionsentscheidungen sind nicht allein Sacheder Bahn. Der Bund trägt nach unserer Verfassung dieVerantwortung für den Bestand und den Ausbau desSchienennetzes. Diese Infrastrukturverantwortung neh-men wir sehr ernst. Die Haushaltsansätze stehen dafür.Wir stellen unsere Steuermittel, die Steuermittel der Bür-ger, dafür zur Verfügung. Es ist Aufgabe des Bahnvor-standes und liegt auch im Interesse des Unternehmens,diese Mittel tatsächlich für das Netz einzusetzen.
Ein einmaliges positives Geschäftsergebnis für 2004wird niemanden in diesem Hause von der Sinnhaftigkeiteines Börsenganges überzeugen, wenn es auf dem Wege,den ich eben geschildert habe, zustande kommt.
Das ist auch eine Frage der Verantwortung der Verkehrs-politik.Die Bahn hat nur dann eine Chance, auf dem Ver-kehrsmarkt mit Erfolg zu bestehen, wenn es ihr gelingt,die Qualität ihrer Verkehrsangebote deutlich zu ver-bessern. Einsparungen bei der Instandhaltung und beiErsatzinvestitionen ins Schienennetz, wie sie der Bahn-vorstand verordnet hat, sind da kontraproduktiv.
Sie führen zwangsläufig zu Verspätungen und damit zuRückgängen bei den Fahrgastzahlen und zu Einnahme-verlusten. Das verhindert das Erreichen der selbst ge-steckten Ziele. Unseren gemeinsamen verkehrspoliti-schen Zielen ist es ebenfalls abträglich.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Klaus Minkel, CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Der Finanzminister verblüfft uns jedes Jahr aufs Neue.Er hat nämlich die Gabe, auf einen stets schlechtenHaushalt immer noch einen schlechteren Haushalt drauf-setzen zu können.
Der Haushalt des Jahres 2005 ist durch Notverkäufeim Umfang von 15,5 Milliarden Euro gekennzeichnet.Diese Einnahmen werden nicht etwa für zusätzliche In-vestitionen eingesetzt, von denen vielleicht auch etwasfür die Not leidende Bauwirtschaft abfallen könnte. Siewerden auch nicht zur Schuldentilgung verwendet, dieunserer jungen Generation zugute käme. Nein, all dieMehreinnahmen versinken in Eichels Schuldensumpf.Das sind alles schlechte Voraussetzungen für denWohnungsbauhaushalt, über den wir hier zu sprechenhaben. Die Ausgabenansätze in Kap. 12 25 gehen von4 342 Millionen auf 3 125 Millionen Euro
zurück. Dieser Rückgang ist ganz wesentlich durch dieAusgliederung des Wohngeldes gekennzeichnet. Auch indiesem Bereich hat der Bauminister nichts mehr zu sa-gen. Zukünftig werden dort andere den Takt angeben.Aber auch die Mittel für die Investitionen, die eigent-lich steigen müssten, sinken: von 1 475 Millionen auf1 325 Millionen Euro.
Besonders groß ist der Mittelrückgang bei der sozialenWohnraumförderung. Die Haushaltsmittel gehen von450 Millionen auf 338 Millionen Euro zurück. Dieserstarke Rückgang – Herr Spanier, lassen Sie sich das voneinem altgedienten Kämmerer sagen – hat nichts mitdem Koch/Steinbrück-Papier zu tun, sondern ist dieAuswirkung der vorangegangenen Haushaltsjahre. Auch
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Klaus Minkelin den vorangegangenen Haushaltsjahren hat diese rot-grüne Koalition ja bewiesen, dass sie mit der sozialenWohnraumförderung nichts mehr am Hut hat.
Die Haushaltsmittel für die Städtebauförderung, dietatsächlich ausgegeben werden können – nicht die Pro-grammmittel, Herr Spanier –, gehen auch zurück, undzwar von 520 auf 515 Millionen Euro. Dabei sind dieMittel der Städtebauförderung ganz besonders beschäfti-gungswirksam einsetzbar. Es ist bedauerlich, dass wirauch hier weniger Geld zur Verfügung haben.Die Mittel fließen überwiegend in die neuen Bundes-länder, was sehr zu begrüßen ist. Die Bundesregierungbleibt aber aufgefordert, die alten Bundesländer nicht zuvernachlässigen. Hier baut sich nämlich ein großer Sa-nierungsstau auf. In Nordrhein-Westfalen sind die För-dermittel um das Siebenfache überzeichnet. Wenn sichder Bauminister nicht bald etwas einfallen lässt, dannwerden wir in wenigen Jahren im Westen städtebaulicheMissstände haben, wie wir sie aus der alten DDR ge-wohnt sind.
Die Mittel für die Altschuldenhilfe scheinen im Augen-blick auszureichen. Allerdings geschieht der Vollzugnicht schnell genug.
Im Übrigen werden im Wohnungsbauhaushalt die be-kannten Finanzierungsprogramme der Kreditanstalt fürWiederaufbau abfinanziert. Große neue Initiativen desBauministers sind in diesem Haushalt nicht erkennbar.Der Bauminister geht offensichtlich nach der Devisevor: Wer nichts macht, macht auch nichts verkehrt.
Das ist aber verkehrt, weil es im Lande genug zu tungibt.
Eine Statistik, die einen ausgeglichenen Wohnungs-markt ausweist, sagt nichts über die Qualität des Wohn-raums aus. Es gibt viele Millionen Familien in unseremLande, die sich hinsichtlich ihres Wohnraums verbessernmöchten. Vor allen Dingen gibt es viele Millionen Fami-lien in unserem Lande, die sich den Lebenstraum vomeigenen Haus, vom eigenen Heim noch erfüllen wollen.
Für all diese Menschen wird vom Ministerium nichtmehr in ausreichendem Maße gesorgt. Es ist sogar so,dass wichtige Entwicklungen am Hause Stolpe vorbeige-hen.
Ich nenne Beispiele. Umweltminister Trittin hat dieÜberschwemmung in Sachsen als Vorwand benutzt, umin der Bundesrepublik flächendeckend einen verschärf-ten Hochwasserschutz durch absolute Bauverbotszoneneinzuführen.
Ich halte es, wie übrigens auch die Mehrheit des Bundes-rates und viele Kommunen, für einen großen Fehler,dass man die wirtschaftliche Entwicklung und die Bautä-tigkeit in unserem Lande künftig von den Zufällen des100-jährigen Hochwassers abhängig machen will.
Wenn man auch in der Vergangenheit so verfahren wäre,dann wäre Deutschland nie das Land geworden, als dases Ihnen vererbt worden ist.Die Holländer können übrigens froh sein, dass HerrTrittin hier und nicht dort zu Hause ist. Bekanntlich ist inder Hälfte des Landes häufig Land unter. Wenn HerrTrittin dort wäre, würde er sicherlich als Erstes verord-nen, dass sich die Holländer, wenn sie sich zum Schlafenniederlegen, einen Rettungsring um den Bauch binden.
Ein weiterer Punkt ist die Diskussion über den so ge-nannten Flächenverbrauch. Hierbei handelt es sich umeinen politischen Kampfbegriff, ein Unwort, wenn nichtsogar ein Lügenwort; denn die Flächen des Landes sind,wenn man von höchst seltenen Sturmfluten einmal ab-sieht, grundsätzlich unverbrauchbar. Es gibt höchstenseine veränderte Flächeninanspruchnahme. Aber mir hatnoch kein Mensch erklären können, warum ein artenrei-cher Hausgarten unter ökologischen Gesichtspunktenschlechter sein soll als eine artenarme Monokultur in derLandwirtschaft
oder warum ein wohnungsferner Schrebergarten einesMieters besser sein soll als ein Hausgarten eines Hausei-gentümers.
Deshalb gibt es keinen vernünftigen Grund, unsere Be-völkerung am Wohnungsbau zu hindern;
denn unsere Bevölkerung muss sowieso genug unter Re-glementierungen leiden.
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11294 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 2004
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Klaus MinkelEin weiterer Angriff auf die Wirtschaft und vor allenDingen auf die Bautätigkeit und die Zukunftspläne jun-ger Familien ist in dem Entwurf eines „Gesetzes zurfinanziellen Unterstützung der Innovationsoffensive“– bis hier klingt es gut, aber jetzt wird es schlecht –„durch Abschaffung der Eigenheimzulage“ zu sehen.Bei diesem hochtrabenden Gesetzesnamen handelt essich um nichts anderes als um den ganz ordinären Brucheines Wahlversprechens, das sowohl der Bundeskanzlerals auch SPD und Grüne vor der letzten Bundestagswahlgegeben haben.
Sie haben damals nämlich den Bestand der Eigenheim-zulage garantiert. Dafür gibt es schriftliche Belege,
die schon bei anderer Gelegenheit vorgetragen wordensind.
Das wäre auch ein Betrug an der jungen Generation.Wenn Sie dieses Gesetz nämlich jetzt abschafften, dannhätte die junge Generation noch auf zehn Jahre die altenBewilligungen durch ihre Steuerzahlungen abzufinan-zieren.
Ich schließe mit folgendem Satz: Die Union steht füreine Politik, die Wohlstand für alle anstrebt.
Mit uns ist eine herzlose Schröder/Eichel-Politik nichtzu machen. Auch die einfachen Leute in diesem Landehaben Anspruch auf ein eigenes Heim, nicht nur IhrArbeiterführer Oskar Lafontaine in seinem Palast der so-zialen Gerechtigkeit.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Werner Kuhn.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Glücklicherweise herrscht in diesemHause Konsens, dass eine gut ausgebaute Verkehrsinfra-struktur die Grundvoraussetzung für die Wettbewerbsfä-higkeit des Wirtschaftsstandorts Deutschland ist. Ichdenke, es war eine epochale Aussage des Herrn Minis-ters, dass Investitionen keine Subventionen sind. Dasrechtfertigt doch unsere Kritik, dass immer versuchtwird, uns einzureden, dass die Herren Ministerpräsiden-ten Koch und Steinbrück sogar die Baulastträgerschaftdes Bundes anzweifeln und dort Investitionen kürzenwollten. Da fasst man sich doch an den Kopf!
In vorauseilendem Gehorsam hat die Bahn sofort dieMittel im investiven Bereich und im personellen Bereichum dreimal 4 Prozent gekürzt, so wie das Koch undSteinbrück vorgesehen haben. Sie, Herr Minister, habendann unter dem Druck des Finanzministers diese Investi-tionskürzungen einfach auf Straße und Wasserstraße ver-teilt. Das ist die eigentliche Krux und damit können wiruns einfach nicht einverstanden erklären.
Hier muss einfach die Wahrheit gesagt werden.Quell- und Zielverkehre müssen durch die Verkehrs-adern aufgenommen und zu den Zielpunkten geleitetwerden. Aber auch die Linienführung ist von ganz ent-scheidender Bedeutung; denn hierbei ist die Erschließungdes Raumes eine ganz wichtige Aufgabe. Ich sage als einAbgeordneter, der aus einem strukturschwachen Landkommt: Das gibt es in Ost wie in West. Wir dürfen danicht immer nur nach dem Nutzen-Kosten-Faktorschauen, sondern es ist auch notwendig, dass man dortwirtschaftliche Entwicklung ermöglicht. Die Grundvo-raussetzung dafür ist, Verkehrsinfrastruktur zu schaf-fen. Es war eine harte Aufgabe nach der Wiedervereini-gung unseres Vaterlandes. Damals war die schwarz-gelbeRegierung unter Führung von Helmut Kohl so weise, diebeiden sich auseinander entwickelt habenden Verkehrs-systeme mit dem Verkehrsprojekt „Deutsche Einheit“wieder zusammenzuführen.
Die Wirtschaftssysteme in Ost und West hatten sich in40 Jahren natürlich unterschiedlich entwickelt und aus-gerichtet.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 2004 11295
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Werner Kuhn
Die traditionellen Verkehrsströme in den Verflechtungs-gebieten konnten mit der Wirtschaftsentwicklung end-lich wieder in das angestammte Bett zurückkehren.
Davon haben letztendlich alle Bundesländer profitierenkönnen, die auf beiden Seiten, in Ost und West, an deralten Demarkationslinie lagen. Milliarden wurden indiese Verkehrssysteme hineingesteckt – ich denke: zuRecht –, aber man muss auch konstatieren, dass dortnicht die Erfolge eingetreten sind, die wir uns gemein-sam vorgestellt haben. Was die Wirtschaftsentwicklungbetrifft: Wettbewerbsfähige ostdeutsche Firmen sindletztendlich nur punktuell entstanden. Ein Journalist hatmich gefragt: Sie haben so viel investiert und dennochist die Zahl der Arbeitsplätze so stark zurückgegangen,die Arbeitslosigkeit liegt bei 20 Prozent. Wie können Siemir das erklären? – Wenn wir nichts investiert hättenund auf dem Niveau der damaligen DDR, die 40 Jahrevon der Substanz gelebt hat, geblieben wären, dann hät-ten wir ein noch größeres wirtschaftliches Chaos. Des-halb waren die Entscheidungen von damals völlig rich-tig. Glücklicherweise hat auch diese Bundesregierungden Investitionsfaden bei Infrastruktur nicht ganz abrei-ßen lassen. Trotzdem muss ich an dieser Stelle sagen:Sie hatten in den Jahren 1998 bis 2000 einen enormenDurchhänger. Ich denke an die SchienenprojekteVDE 8.1 und VDE 8.2, also an die ICE-VerbindungErfurt–Nürnberg. Mit Rücksicht auf den grünen Koali-tionspartner haben Sie sie zwei Jahre lang auf Eis gelegt.Das waren zwei verlorene Jahre für Deutschland und fürden Aufbau Ost. Es kann doch nicht sein, dass man mehrals acht Stunden benötigt, um über eine ICE-Streckezwischen den beiden großen Ballungsgebieten Berlinund München hin- und herzufahren. Das sind doch keinewirtschaftlichen Entwicklungen, wie wir sie uns für dieZukunft vorstellen.
Der Anschluss der A 20 an die A 1 bei Lübeck istletztendlich professionell über die Bühne gebracht wor-den. Das Reizwort dabei ist die Wakenitz-Brücke. Nachdem Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz – esgab eine höchstrichterliche Entscheidung – hätte es dortsofort ein ganz klares Bauziel geben können. Sie habenes vor sich herdümpeln lassen. Die Leute fahren nun ei-nen Umweg von insgesamt 60 Kilometern, wenn sie vonMecklenburg-Vorpommern in Richtung Schleswig-Hol-stein und Hamburg und wieder zurück wollen. Das be-deutet zusätzliche Abgase, nämlich CO2, NOx und wasSie von den Grünen sonst noch definieren.
Wenn Sie das als Umweltschutz betrachten, dann liegenSie völlig falsch.
Ich komme zur Thüringer-Wald-Autobahn. Dort gabes eine ewige Verzögerung. Es ist toll, wenn der längsteTunnel Deutschlands eingeweiht wird, in dem sich hochtechnisierte Anlagen befinden. Dabei kann man sich na-türlich wunderbar in die erste Reihe stellen und Regie-rungspolitik präsentieren. Auch dort waren es aber ver-lorene Jahre für Deutschland und den Aufschwung Ost.Das können Sie auch nicht durch Ihr Anti-Stau-Programm wieder wettmachen, das Sie als Feigenblattetabliert haben.
Die Verkehrsminister der Länder haben im März 2004konstatiert, dass wir für den Ausbau der Bundesfernstra-ßen jährlich mindestens 5,8 Milliarden Euro und für dieBundesschienenwege jährlich 4 Milliarden Euro brau-chen. Das wurde schon von verschiedenen Rednern dar-gestellt. Wenn Sie sich anschauen, was im Ansatz desEinzelplans 12 steht, dann wissen Sie, dass es bei denBundesfernstraßen eine Unterdeckung von 1,5 Milliar-den Euro und bei den Bundesschienenwegen eine Unter-deckung von 1,9 Milliarden Euro gibt.Herr Minister Stolpe, es ist wirklich an der Zeit, dassdie Einnahmen endlich zweckbestimmt für die Ver-kehrsinfrastruktur eingesetzt werden.
Schauen Sie sich an, wo wir Einnahmen haben, wo alsodie Nutzer der Verkehrssysteme zur Kasse gebeten wer-den. Ich habe das heute schon von verschiedenen Seitengehört: Durch die Kfz-Steuer werden mindestens20 Milliarden Euro pro Jahr eingenommen. Danebengibt es noch die Mineralölsteuer. Wenn Sie das alleshochrechnen, kommen Sie auf 51 Milliarden Euro jähr-lich. Wir wissen, was Rot-Grün beschlossen hat und da-mit auch, wohin dieses Geld fließt.Die Maut für schwere LKWs ist bis jetzt ein reinerAusfall. Wir hoffen, dass sie am 1. Januar nächsten Jah-res eingeführt wird. Herr Stolpe, Sie müssen sich endlichgegen den Finanzminister durchsetzen, der beim Ein-bringen seines Haushaltes nicht einmal seine zehn Ein-nahme- und seine zehn Ausgabepositionen vernünftigdarstellen konnte, sondern stundenlang darüber geredethat, wann wer was wo über Zahnersatz gesagt hat. Daskann doch nicht der Hauptbuchhalter der größten NationEuropas sein.
– Herr Schmidt, ich denke, dieses Argument tut weh.
Wir kommunizieren nur das, was draußen reflektiertwird.Wie wollen Sie das Vertrauen des Speditionsgewerbesfür die Einführung der Maut zum 1. Januar 2005 erhal-ten? Natürlich stehen die On Board Units in den Ver-tragswerkstätten zur Verfügung. Kein einziger Spediteur
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11296 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 2004
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Werner Kuhn
lässt sie sich aber einbauen. Diesen Zinnober hat er näm-lich schon einmal erlebt. Er hat sich eine On Board Uniteinbauen lassen, das einschließlich der Kabelsätze230 Euro gekostet hat. Was ist dabei herausgekommen?Er fährt jetzt gebundenes Kapital herum. Die Maut kanner immer noch nicht darüber abrechnen.Die Spediteure werden sagen: Wir haben ein Jahr langganz gut damit gelebt, dass die Maut nicht gekommenist. Wir brauchten ja nicht zu zahlen. – Das kann abernicht die Politik sein, mit der man im Bereich der Infra-struktur zukunftsweisend für den WirtschaftsstandortDeutschland arbeitet.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wichtig istnatürlich, dass Sie dabei beachten, dass gerade in denneuen Bundesländern eine Wirtschaftsförderung not-wendig ist. Der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur alleinreicht hier nicht. Sachsen ist das einzige Land, das dieGA-Mittel in der Kofinanzierung vernünftig bedienenkann. Die anderen neuen Bundesländer – das sage ichdurchaus kritisch – sehen darin nur die Möglichkeit, ihreDefizite im konsumtiven Bereich auszugleichen. Hiermuss eine Kontrolle her. Das müssen wir gemeinsam inAngriff nehmen.Leider bleibt mir als letztem Redner die wenigste Re-dezeit. Heute haben wir einen historischen Tag. Vor15 Jahren wurde in der damaligen DDR die Bürgerbe-wegung „Neues Forum“ gegründet, ein mutiger und imDDR-Regime sehr gefährlicher Schritt. Wir waren nurdie Türöffner für eine bessere Zukunft, sagen BärbelBohley und ihre Mitstreiter. Die Politik machen jetzt an-dere.Wir in diesem Hohen Hause haben eine verantwor-tungsvolle Aufgabe, die sich aus unserer Verfassung er-gibt: Einigkeit und Recht und Freiheit für ein gemeinsa-mes Deutschland. Aber in allererster Linie sind diegewählten Vertreter der Exekutive und die sie tragendenParteien gefragt. Sie haben den Osten in Ihrer Regie-rungszeit sträflich vernachlässigt. Deshalb ist die Situa-tion in den neuen Ländern jetzt so prekär. Darüber kön-nen wir so viel diskutieren, wie Sie wollen.
Herr Kollege, Sie müssen jetzt wirklich zum Schluss
kommen.
Ich komme sofort zum Schluss. – Gerade von Ihnen,
Herr Minister Stolpe, erwarten wir erneute Anstrengun-
gen. Es bewahrheitet sich nämlich der Satz: Auch den
Aufbau Ost macht man nicht mit links.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 15/3678 und 15/3489 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dannsind die Überweisungen so beschlossen.Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bun-desministeriums für Verbraucherschutz, Ernährungund Landwirtschaft. Das Wort hat zu Beginn die FrauMinisterin Renate Künast.Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucher-schutz, Ernährung und Landwirtschaft:Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren Abgeordnete! Wir stehen vor der Aufgabe, derersten Generation des 21. Jahrhunderts neue Chancen zubieten, statt ihr immer mehr neue Schulden aufzubürden.Wenn wir in dieser Art und Weise Verantwortung für dieZukunft übernehmen, heißt das logischerweise, dass wiruns immer um die Konsolidierung der öffentlichenHaushalte bemühen müssen. Voraussetzung dafür isteine strikte Ausgabendisziplin. Wenn man für die JugendEntwicklungsmöglichkeiten schaffen und erhalten will,ist es notwendig, Subventionen und Steuervergünstigun-gen abzubauen und Investitionen in zukunftsfähige Inno-vationen zu ermöglichen.Wenn wir in diesem Dreiklang übereinstimmen, dannwerden Sie auch meinem nächsten Satz zustimmen: Vondiesen Maßnahmen kann die Landwirtschaft nicht aus-genommen werden. Deshalb hoffe ich, dass wir heutesachlich diskutieren werden.
– In dem Fall war ich im letzten Jahr vielleicht auf eineranderen Veranstaltung. Ich kann mich an viel populisti-sches Getöse um diese Rasenmähermethode erinnern –das ist meine Umschreibung der Koch/Steinbrück-Vor-schläge. Später, als es darauf ankam, hat man gekniffen.
Sie haben viel davon gesprochen, die Ausgaben nach derRasenmähermethode zu kürzen, um so Gelder für Inno-vationen und Bildung zu ermöglichen, sich dann aber imVermittlungsverfahren zum Haushaltbegleitgesetz 2004der Diskussion entzogen, sich vom Acker gemacht undgefordert, den Agrarbereich von Kürzungen auszuneh-men. So geht es nicht, meine Damen und Herren.
Ich glaube – diesen Eindruck hatte ich zumindest aufder Delegiertenversammlung des Deutschen Bauernver-bandes –, dass die Landwirte Sie nicht mehr ernst neh-men. Sie wissen mittlerweile, dass sie ihren Teil dazubeizutragen haben, zumal sie oft selbst Kinder haben.Diese Kinder werden nicht alle ihr Auskommen in der
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Bundesministerin Renate KünastLandwirtschaft finden. Daher ist den Landwirten einegute Bildung und Ausbildung ihrer Kinder wichtig.Es ist nur ehrlich, den Agrarbereich von den Kürzun-gen nicht auszunehmen, sondern auch hier den solidari-schen Beitrag zu verlangen. Mittlerweile ist das für dieBauern selbstverständlich.
Das heißt, dass wir auch bei dem bedeutsamsten Teil desEinzelplanes 10, der Agrarsozialpolitik, um Kürzungennicht herumkommen. Wir müssen an dieser Stelle vor-sichtig sein. Wir wollen Vorzüge abbauen. Deshalb sol-len in Zukunft auch die Landwirte einen Teil der Kostender älteren Generation tragen, wie das sonst in der GKVüblich ist. Wir müssen also in der Krankenversicherungder Landwirte durch eine Regelung im Übergangsrechtden Bundeszuschuss im Finanzplanungszeitraum sen-ken. Das sind 82 Millionen Euro.Wir haben das auch im Zusammenhang mit demAgrardiesel diskutiert. Im letzten Jahr hatten wir hiereine intensive Debatte, als es darum ging, eine betriebli-che Obergrenze zu setzen und einen Selbstbehalt festzu-legen. Das ist die Lösung des regionalen Ausgleichs.Wenn man nämlich die Entscheidungen zum Agrardieselund zur Agrarsozialpolitik im Zusammenhang betrach-tet, dann kommt man zu dem Ergebnis, dass die Kombi-nation beider Vorschläge regionale Unterschiede und un-terschiedliche Betriebsgrößen berücksichtigt. Deshalbhalte ich dieses Modell nach wie vor für die gerechtesteund solidarischste Lösung. Ich glaube, dass die Land-wirtschaft akzeptieren kann, dass innerhalb der Land-wirtschaft Solidarität herrschen muss. Deshalb habenwir das im Haushaltsbegleitgesetz 2005 erneut aufge-griffen.Allen, die das kritisieren möchten, sage ich eines: Ichnehme Kritik nur auf und setze mein Gehirn nur dann inGang, wenn Sie sich gleichzeitig von Edmund Stoiberdistanzieren, der zusätzlich zu dem Entwurf der Bundes-regierung noch einmal eine 5-prozentige Kürzung, auchfür die Landwirtschaft, gefordert hat.
Dann müssen Sie hier sagen, dass Sie dagegen sind.
Erst wenn Sie Edmund Stoiber kritisiert haben – das giltnicht für die FDP –, können Sie über das reden, was wirinhaltlich vorlegen.
– Die trauen sich nicht. Die Vermutung habe ich auch.Wir haben mit der Agrarwende einen großen Schrittgetan. Wir haben mit den Reformen, die ab dem1. Januar nächsten Jahres wirken, einen Schritt getan,mit dem wir mehrere Dinge erreicht haben. Er hat mehrGerechtigkeit im Agrarbereich auf nationaler Ebene ge-bracht. Wir haben auf europäischer Ebene mit denReformen einen Beitrag dazu geleistet, dass die EU am31. Juli ein WTO-Rahmenabkommen abschließenkonnte. Das wird letztendlich auch positiv für die Ent-wicklung in Deutschland sein. Wir alle haben gelernt,sektorenübergreifend zu denken.Wir können sagen, dass wir unsere Bäuerinnen undBauern für die neue europäische Agrarpolitik vorbereitethaben, weil wir die Ergebnisse frühzeitig antizipiert ha-ben. Wir haben am 9. Juli die Regelung im Bundesratumgesetzt und wir haben an vielen anderen Stellen dieReformen umgesetzt, etwa bei der GAK. Wir werdenebenso die Reformen für den Bereich Zucker und zurAbsicherung unserer Zuckerrübenanbauer machen. Ichglaube, dass nur das verlässliche Politik ist. Es gehtnicht, bis zum letzten Augenblick Nein zu sagen, sichdann zu wundern, dass Entscheidungen getroffen wer-den, und den deutschen Landwirten erst fünf nach zwölfdie Möglichkeit zu geben, ihre betrieblichen Entschei-dungen auf die neue Situation auszurichten. Ich glaube,dass wir richtig liegen, denn unsere Bauern können früh-zeitig beginnen, sogar früher als manche andere inEuropa.
Wir haben mit der Modulation mehr Mittel für dieländliche Entwicklung zur Verfügung. Wir alle wissen,dass mittelständische Unternehmen dort, auf 80 Prozentder Fläche in der Bundesrepublik Deutschland, Arbeits-plätze schaffen. Wir wollen den Übergang von der reinagrarischen Produktion zu Dienstleistungen, zu Energie-erzeugung und zu mehr Wertschöpfung auf dem Lande.Wir alle wissen und gerade der Osten weiß, dass diesesbitter nötig ist, wenn wir Arbeitsplätze im ländlichenRaum haben wollen, die über die Landwirtschaft hinaus-gehen.
Ich glaube, dass wir damit einen Zukunftspunkt ange-packt haben. Das betrifft auch die Gemeinschaftsaufgabe„Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschut-zes“. Damit geben wir bundesweit sehr effektiv und un-bürokratisch Linien vor, die wir in Brüssel notifizierenlassen können. An der Stelle habe ich eine Frage hin-sichtlich der weiteren Gestaltung der Politik. Ich würdegerne wissen, ob sich dieses Haus zur Gemeinschafts-aufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küs-tenschutzes“ bekennt. Ich höre in der Föderalismuskom-mission von der CDU/CSU immer das Gegenteil.
Wenn die Union nicht zur Gemeinschaftsaufgabe steht,möchte ich wissen, wie sie sich zum Haushalt verhält.Man kann nicht Kürzungen kritisieren, wenn man inWahrheit die gesamte Gemeinschaftsaufgabe „Verbes-serung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“streichen will. Das vertritt die CDU/CSU in der Födera-lismuskommission.
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Bundesministerin Renate Künast
Ich möchte, dass wir hier brillante Kofinanzierungsmit-tel für die europäischen Töpfe haben. Ich meine nicht,dass wir unterstützen sollten, dass das Geld anderswo inEuropa verteilt wird. Ich möchte hier Kofinanzierungs-mittel; ich weiß, dass wir so in Ost und West die Zukunftauf dem Lande sichern können.Ich glaube, diese Dinge verbinden sich gut mit derFörderung nachwachsender Rohstoffe, die ebenfalls imHaushalt enthalten ist. Ich will, dass Biokraftstoffe einenbedeutenden Platz in der nationalen Kraftstoffstrategieeinnehmen. Wir haben an dieser Stelle die Möglichkeit,vorne zu sein und diese Technologie weiter zu entwi-ckeln – auch für die Automobilindustrie.
Ich will, dass die Landwirte erkennen – andere habenes eigentlich längst erkannt –, wo unser Platz auf demMarkt ist. Für die Landwirtschaft hier bedeutet das eineOrientierung auf Qualität, Qualität, Qualität und aufnachwachsende Rohstoffe, stofflich und energetisch ge-nutzt. Aufgrund der Möglichkeit, die Eigenheimzulagezu streichen und die frei werdenden Mittel auch für For-schungs- und Entwicklungsmaßnahmen im Bereich derLandwirtschaft zu nutzen, bringt das Innovationen fürden ländlichen Raum. Daraus kann man für die ZukunftArbeitsplätze schaffen. Dieses Ziel werden wir alle hierwohl vertreten wollen.Meine Damen und Herren, dieser Haushaltsentwurfenthält natürlich auch andere Bereiche, etwa die Berei-che des gesundheitlichen und des wirtschaftlichenVerbraucherschutzes. Wir alle wissen, dass wirtschaft-liche Verbraucherpolitik – wir finanzieren die StiftungWarentest und die VZBV – wichtig ist. Wir wollen dennachhaltigen Konsum fördern, weil wir alle wissen, dasswir in allen Bereichen Verantwortung tragen. Wir wollenund werden weiter die Verbraucheraufklärung im Ernäh-rungsbereich finanzieren; denn wir wissen, dass dieserTeilbereich einen wichtigen Aspekt der Gesundheit dar-stellt. Alle Gruppen der Bevölkerung, auch die aus derUnterschicht, müssen hier Chancen haben.
Ich glaube, dass dies ein runder Budgetentwurf ist,der alle Zukunftsthemen anpackt.Danke.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ilse Aigner.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Bevor ich zum Einzelplan 10, also demHaushalt des Ministeriums für Verbraucherschutz, Er-nährung und Landwirtschaft komme, erlaube ich mir einpaar allgemeine Anmerkungen zum Haushalt insgesamt.Nach sechs Jahren rot-grüner Regierung müssen wirfeststellen, dass vieles anders, aber leider nichts bessergeworden ist.
Zum dritten Mal in Folge brechen wir in diesem Jahr denMaastricht-Vertrag, und zwar sowohl was die Neuver-schuldung als auch was die Gesamtverschuldungsgrenzebetrifft. Zum wiederholten Male liegt ein Haushaltsent-wurf vor, der wirklich nur auf dem Papier nicht verfas-sungswidrig ist. Das Hauptproblem, nämlich dieArbeitslosigkeit oder – besser gesagt – die geringe Be-schäftigungszahl, hat sich wesentlich verschärft. Ichmöchte an dieser Stelle daran erinnern, dass sich derBundeskanzler eigentlich irgendwann an der Lösungdieses Problems messen lassen wollte.In den ersten Jahren von Rot-Grün hat es ja immer ge-heißen, wir, also die frühere Bundesregierung, seien da-für zuständig gewesen.
Nachdem der allerletzte Journalist das nicht mehr ge-glaubt hat, war es dann irgendwann die Weltwirtschaft,die dafür zuständig war. Aber, sehr geehrte Kolleginnenund Kollegen, der Export läuft ja interessanterweise re-lativ gut; bloß die Binnenkonjunktur lahmt etwas.Ich erinnere mich, dass Finanzminister Eichel in sei-ner Einbringungsrede verzweifelt in irgendeiner Tabelle– sie ist offensichtlich genauso chaotisch gewesen wiedie Regierungspolitik – nach einem Beleg dafür gesuchthat, dass die Bürgerinnen und Bürger durch die Maßnah-men von Rot-Grün unter dem Strich angeblich mehrGeld in der Tasche haben. Aber wenn das so ist, dannmuss es ja irgendeinen anderen Grund dafür geben, dassdie Leute weniger konsumieren. Entweder vertrauen sieoffensichtlich der Regierung nicht und konsumieren undinvestieren deshalb auch nicht oder sie haben wirklichnicht mehr in der Tasche. Ich vermute, dass letzteresSzenario das realistischere ist. Beides ist schlimm genug.Der Dreh- und Angelpunkt ist das geringe Wirtschafts-wachstum, ist die hohe Beschäftigungsschwelle und sinddie fehlenden Arbeitsplätze.Warum weise ich eigentlich auf dieses Problemhin? – Weil wir aus genau diesem Grund so hohe Ausga-ben für den Arbeitsmarkt haben und weil aufgrund dergeringen Beschäftigung natürlich auch der Zuschuss zurRentenkasse deutlich steigt. Das drückt natürlich auf denHaushalt insgesamt. Als Folge muss in anderen Berei-chen massiv eingegriffen werden. Dann sucht man sichnatürlich, wenn es irgend geht, Einsparmöglichkeiten beieiner Klientel, die einem nicht so nahe steht.Jetzt muss ich Ihnen erst einmal
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Ilse Aignervorrechnen, wie die Entwicklung des Gesamthaus-halts im Vergleich zur Entwicklung des Einzelplans 10gewesen ist. Die Ausgaben des Gesamthaushaltes sindseit 1998 von 233 Milliarden Euro auf heute 258 Milliar-den Euro gestiegen – ein Plus von 11 Prozent. 1998 lagder Etat des Landwirtschaftsministeriums – damals nochohne Verbraucherschutz – bei 5,9 Milliarden Euro.Heute liegt er einschließlich Verbraucherschutz bei5,1 Milliarden Euro. Das entspricht einer Kürzung von15 Prozent. Dabei ist, wie gesagt, noch nicht berücksich-tigt, dass der Verbraucherschutz inzwischen hinzuge-kommen ist. Daran kann man schon erkennen, dass of-fensichtlich doch größere Einsparungen im Bereichder Landwirtschaft vorgenommen worden sind, dassdie Landwirtschaft also schon teilweise Vorleistungenerbracht hat. Allein die Mittel für die von Ihnen ange-sprochene Gemeinschaftsaufgabe „Agrarstruktur undKüstenschutz“ sind seit 1998 um 22 Prozent – ohne Be-rücksichtigung der globalen Minderausgabe – gekürztworden. Ich persönlich stehe zur Gemeinschaftsaufgabe.Ich bin mir sicher, dass die gesamte Unionsfraktion zurGemeinschaftsaufgabe steht.
Unter diesen Voraussetzungen ist die Union im letztenJahr in die Verhandlungen im Vermittlungsausschuss ge-gangen. Weil sie genau wusste, welche Vorleistungen dieLandwirtschaft bereits in den letzten Jahren erbrachthatte, hat sie gesagt: Bei der Landwirtschaft wird jetztnicht noch einmal gekürzt!
Aber Sie kündigen jetzt den im Vermittlungsausschusserzielten Kompromiss einseitig auf. Sie brechen sozusa-gen einseitig einen Vertrag. Ich kann mir in diesem Zu-sammenhang nicht verkneifen, darauf hinzuweisen, dassSie das auch in anderen Bereichen gemacht haben, aller-dings zugunsten anderer Gruppen. Das kann ich Ihnennicht ersparen: Koch und Steinbrück haben vorgeschla-gen, im Bereich der Steinkohleförderung 175 MillionenEuro einzusparen. 175 Millionen Euro!
Es ist aber im Rahmen der Haushaltsberatungen mit ein-facher Mehrheit beschlossen worden, dies auf die glo-bale Minderausgabe des gesamten Einzelplans zurück-zuführen.Zurück zum Haushaltsentwurf: Die ausgewiesene Ge-samtkürzung der Ausgaben von 1,7 Prozent täuscht;denn die Bezugsbasis 2004 ist nicht korrekt. Sie hattenschließlich schon Ihre gewünschten Kürzungen einge-rechnet. Wenn man das Jahr 2003 als Basis nimmt, dannkommt man zu folgendem Ergebnis: Der Sollansatz derAusgaben lag damals bei über 5,6 Milliarden Euro. Derjetzige Regierungsentwurf weist für 2005 aber nur noch5,1 Milliarden Euro aus. Dies entspricht einer Kürzungvon fast 10 Prozent in zwei Jahren. Man kann wirklichnicht behaupten, dass das zu wenig ist.Es ist keine Frage, dass dies auch nicht an der land-wirtschaftlichen Sozialpolitik vorbeigeht. In diesemBereich gibt es – genauso wie in der Knappschaft – de-mographische und strukturbedingte Probleme. Immerweniger aktiven Landwirten stehen immer mehr Alten-teiler gegenüber, und zwar wegen des Strukturwandelsin einem wesentlich schlechteren Verhältnis als bei derallgemeinen Kranken- bzw. Rentenversicherung. DiesesProblem wird durch Ihr Haushaltsbegleitgesetz weiterverschärft. Über die Konsequenzen haben wir schon inder Anhörung am letzten Montag gesprochen. Aber ichmöchte hier – das ist meine Prognose der zukünftigenEntwicklung – nochmals darauf hinweisen. Durch dieKürzungen werden die Beiträge natürlich steigen. DieFrage wird nicht sein, ob, sondern, wie viele und wieschnell freiwillig Versicherte die Krankenversicherungverlassen werden. Dadurch werden die Beiträge erneutsteigen. Irgendwann wird es eine Verfassungsklage ge-gen eine Krankenversicherung geben, die die Beiträgeerhöht, die man aber im Gegensatz zur allgemeinenKrankenversicherung nicht verlassen kann; denn dort hatman jederzeit die Möglichkeit, zu wechseln, wenn dieBeiträge steigen. Aber das ist hier nicht möglich.
Sie wissen genau, dass der Vergleich mit der allge-meinen Krankenversicherung hinkt, wenn man nur dieBeiträge in Prozent heranzieht; denn bei Prozentsätzenhat man immer das Problem, dass sie sich auf eine be-stimmte Basis beziehen. Man kann nicht einfach einegleiche Bemessungsgrundlage zwischen der allgemeinenKrankenversicherung und der landwirtschaftlichenKrankenversicherung herstellen. Das ist der eigentlicheGrund, warum die landwirtschaftliche Krankenversiche-rung bisher nicht in den Risikostrukturausgleich einbe-zogen worden ist. Ich prophezeie Ihnen, dass keine all-gemeine Krankenversicherung jubeln würde, wenn dielandwirtschaftliche Krankenversicherung eingegliedertwerden müsste; denn das, was die landwirtschaftlicheKrankenversicherung aus dem Risikostrukturausgleicherhalten würde, wäre wesentlich höher als der Zuschussaus dem Bundeshaushalt. Deshalb wird das wohl nichtstattfinden. Sie verweigern der landwirtschaftlichenKrankenversicherung im Prinzip die gleiche Behandlungwie sie beispielsweise die knappschaftliche Krankenver-sicherung genießt.
– Das ist keine glatte Frechheit. Das wissen Sie ganz ge-nau, Frau Wolff.Ein anderes Beispiel für die Benachteiligung derLandwirtschaft ist die Mineralölsteuerbefreiung fürAgrardiesel. Auch hier gibt es einseitige Einschnitte.Ich hätte von einer deutschen Ministerin erwartet, dasssie irgendwann in Brüssel die am letzten Montag ange-sprochene First-best-Lösung – die Angleichung auf eu-ropäischer Ebene – durchsetzt. Stattdessen sieht dasHaushaltsbegleitgesetz – im Vergleich zu Frankreich –künftig einen siebenfach höheren Steuersatz auf Agrar-diesel vor. Wie kann man denn bei höheren Umwelt-schutzauflagen, höheren Tierschutzauflagen und höhe-ren Steuersätzen von der deutschen Landwirtschafterwarten, dass sie mit den Landwirtschaften in den
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Ilse AignerNachbarstaaten auch nur ansatzweise konkurriert? Dasmüssen Sie mir einmal erklären.
Es gäbe im Rahmen dieser Haushaltsberatungen nochsehr viel dazu zu sagen, was sonst alles gekürzt wurde.Aber die Kollegen und Kolleginnen des Haushaltsaus-schusses haben im Herbst mit Sicherheit viele Gelegen-heiten, über die einzelnen Titel zu sprechen. Ich kannIhnen schon heute versprechen: Wir werden viele Ein-sparungsvorschläge machen,
die Ihnen allerdings nicht gefallen werden.
– Nein, leider habe ich nicht mehr so viel Zeit. Ich kannIhnen, Frau Wolff, und den Kolleginnen und Kollegenversprechen, dass ich mit Sicherheit eine sehr konstruk-tive Rolle spielen werde. Ich werde nicht nur Erhö-hungsanträge, sondern – ganz im Gegenteil – sehr vieleKürzungsanträge stellen, selbstverständlich im Einver-nehmen mit meiner Fraktion.
Wie gesagt, wir werden uns nicht einig werden. Aberes gibt Alternativen zu den Vorschlägen, die Sie gemachthaben. Diese Alternativen werden wir aufzeigen.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Jella Teuchner.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren undDamen! Als das Kabinett den Haushaltsentwurf be-schlossen hat, haben Sie, liebe Kolleginnen und Kolle-gen von der Union, mit zehn Pressemitteilungen reagiert.In dreien werfen Sie uns den Marsch in den Schulden-staat vor; in sieben kritisieren Sie konkrete Sparvor-schläge und werfen Sie uns vor, wir sparten das Landund insbesondere die Landwirtschaft kaputt. Das Glei-che haben wir am Montag in der Anhörung im Haus-haltsausschuss erlebt. Das Gleiche erleben wir jetzt inden Haushaltsberatungen. Ich frage Sie: Halten Sie ei-gentlich selbst Ihre Positionen für ein stringentes Kon-zept? Oder ist Ihnen nicht vielmehr selbst bewusst, dassSie einfach keine Ahnung haben, wie auf die Haushalts-situation zu reagieren ist?
Was Sie hier machen, ist eine Politik nach Dr. Jekyllund Mr. Hyde: Der vermeintlich gute Dr. Jekyll will nie-mandem wehtun und lehnt alle Sparmaßnahmen ab,während der vermeintlich böse Mr. Hyde ruft: Sparen,sparen, sparen! – Dr. Jekyll ist daran zerbrochen, dass erseine beiden Egos nicht unter einen Hut bringen konnte.Auch Sie werden keinen Erfolg haben, wenn Sie nichtendlich sagen, was Sie eigentlich wollen. Auch die Men-schen wollen von Ihnen Antworten.
In der Anhörung im Haushaltsausschuss wurde unsständig vorgeworfen, wir machten eine unanständige Po-litik, weil wir auch im Haushalt des BMVEL kürzen.Wissen Sie, was unanständig ist? Unanständig ist es,ständig das Sparen zu fordern, es aber gleichzeitig zuverhindern. Nichts anderes machen Sie.
Sie prangern die Staatsverschuldung an und sorgen da-für, dass wir neue Schulden machen. Das ist auch IhrePolitik hier im Bundestag.Auch heute war wieder festzustellen, dass Sie sich umkonkrete Vorschläge eigentlich herumdrücken. Das hateinen guten Grund: Auch Sie kämen nicht umhin, imHaushalt des BMVEL zu sparen.
Der bayerische Ministerpräsident hat angeboten, imBund 5 Prozent zu sparen. Herr Austermann hat Vor-schläge angekündigt, die Kürzungen von 3 Prozent vor-sehen. Er hat es zwar angekündigt, aber bis heute nichtsvorgelegt. Wie aber wollen Sie denn das überhaupt um-setzen? Haben Sie eigentlich überhaupt irgendwelcheVorstellungen? Wenn ja, dann legen Sie sie endlich aufden Tisch und dann können wir darüber reden.
Hören Sie endlich damit auf, so zu tun, als ob mansparen könnte, ohne weniger Geld auszugeben! Das gehtnicht. Das können auch Sie nicht und das glaubt Ihnenauch niemand.
Wie gesagt, Sie haben keine Vorschläge vorgelegt.Das ist auch logisch; denn sonst müssten Sie zugeben,dass auch Sie schmerzhafte Maßnahmen durchsetzenmüssten, auch in der Landwirtschaft. Ein Blick in dieLänder zeigt es doch: 3,2 Prozent hat Edmund Stoiber inBayern eingespart, 4 Prozent pro Jahr hat Roland Kochgemeinsam mit Peer Steinbrück vorgeschlagen.Die Landwirtschaft können beide nicht ausnehmen.Im Gegenteil: Die Bayerische Staatsregierung hat imNachtragshaushalt 2004 im Bereich des Landwirt-schaftsministeriums mit 7,5 Prozent deutlich überpro-
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Jella Teuchnerportional gekürzt. Das ist die Realität dort, wo Sie regie-ren. Es wäre gut, wenn Sie diese Realität auch hier imBundestag wahrnehmen würden.
Wir kennen die wirtschaftliche Situation in der Land-wirtschaft. Auch ein Edmund Stoiber kennt sie. Ich kannIhnen sagen, dass wir genau prüfen, in welchen Berei-chen Kürzungen vorgenommen werden müssen undkönnen. Wir stellen fest: Die Landwirtschaft profitiertweiterhin wie kaum ein anderer Wirtschaftszweig vonsteuerlichen Sonderregelungen und Subventionen. ImAgrarbericht 2003 sind 6,8 Milliarden Euro an EU-Mit-teln, 5,3 Milliarden Euro an Bundesmitteln und 2,6 Mil-liarden Euro an Landesmitteln ausgewiesen. Das machtlaut Agrarbericht 21 254 Euro pro Haupterwerbsbetrieboder 11 279 Euro pro Arbeitskraft aus.
11 279 Euro an Direktzahlungen und Zuschüssen wer-den für jede Arbeitskraft in einem Haupterwerbsbetriebausgegeben. Das ist – das müssen Sie zugeben – eineMenge Geld. Auch mit dem vorgelegten Haushalt wer-den die Landwirte noch kräftig unterstützt.Heute Morgen haben die Bauern vor dem Reichstagdemonstriert. Wir wissen – da gibt es kein Drumherum-reden –, dass wir mit dem Haushalt 2005 die Bauernbelasten werden. Wir alle wissen aber auch, dass ein-schneidende Reformen notwendig sind, die alle Bürge-rinnen und Bürger unseres Landes betreffen. Angesichtsdessen können wir die Landwirtschaft nicht komplett au-ßen vor lassen. Uns allen wäre es lieber, wir müssten imEinzelplan 10 nicht sparen. Wir würden auch gern in al-len anderen Einzelplänen genauso viel ausgeben wie bis-her. Wir haben aber das Geld nicht dazu. Deswegenmuss gespart werden. Auch Sie müssten genauso sparen.Die Bauern haben darauf hingewiesen, dass die Land-wirte in Dänemark – das ist eben auch schon angespro-chen worden – nur 3 Cent Steuern für den Agrardieselbezahlen. Sie haben in der Anhörung zum Haushaltsbe-gleitgesetz eine Grafik des Ifo-Instituts verwendet, diedies auch deutlich zeigt. Interessant ist, dass das Ifo-In-stitut in dieser Studie nicht nur die Dieselbesteuerung inEuropa, sondern auch alle Steuern auf Produktionsmittelvergleicht. Schaut man sich diese Steuern an, dann stelltman fest, dass die dänischen Bauern, gemessen am Ge-winn, doppelt so stark belastet werden wie die deut-schen.
Die Wettbewerbsbedingungen hängen nicht nur vomPreis für Agrardiesel ab und das wissen Sie auch. Wa-rum argumentieren Sie dann nicht auf der Grundlage Ih-res Wissens?
Wir brauchen eine Agrarpolitik, die dafür sorgt, dasssich die Landwirte am Markt ausrichten können. Mit derUmsetzung der EU-Agrarreform haben wir dafür dierichtigen Weichen gestellt.
Wir brauchen eine Agrarpolitik, die besondere Leistun-gen von Landwirten fördert und damit Perspektivenschafft. Hier haben wir im ökologischen Landbau eini-ges erreicht. Durch die Förderung der nachwachsendenRohstoffe haben etliche Landwirte ein zusätzliches wirt-schaftliches Standbein bekommen.Vor der Sommerpause haben wir die Novelle des Er-neuerbare-Energien-Gesetzes beschlossen. Der Bauern-verband hat diese Novelle begrüßt, weil sie eine Per-spektive für etliche Landwirte schafft. Die Union hatdagegengestimmt. Das ist Ihre Politik für die Landwirte:Sonntagsreden halten, die dann bei der Abstimmung imBundestag nichts mehr wert sind.
Wir haben in diesem Haushalt – das ist auch von derMinisterin angesprochen worden – wieder einenSchwerpunkt beim Verbraucherschutz gesetzt. Das istfür die Landwirte wichtig. Sie leben davon, dass die Ver-braucherinnen und Verbraucher Vertrauen in ihre Pro-dukte haben. Das ist aber vor allem für die Verbrauche-rinnen und Verbraucher wichtig. Wir sorgen dafür, dasssie notwendige Informationen bekommen, dass ihre Ge-sundheit und ihre wirtschaftlichen Interessen geschütztsind und dass sie im Zweifel auch ihre Rechte durchset-zen können. Dafür stehen wir. Das lässt sich auch amHaushalt ablesen.Der Haushalt 2005 ist ein Konsolidierungshaushalt.Dies ist notwendig. Genauso notwendig ist es – daranführt kein Weg vorbei –, dass auch die Landwirtschafteinen Beitrag leistet. Umso mehr ist es notwendig, dasswir die Weichen für eine auch wirtschaftlich nachhaltigeLandwirtschaft stellen. Das heißt, dass trotz der Sparvor-gaben gezielt Schwerpunkte zu setzen sind. Das heißtauch, dass wir dafür sorgen müssen, dass die Landwirteihre Produktion an den Märkten ausrichten können.Wir haben mit der Umsetzung der EU-Agrarreformdie richtigen Schritte unternommen. Wir stärken dieländlichen Räume und eröffnen den Landwirten Spiel-räume für unternehmerische Entscheidungen. Geradediese Ausrichtung an den Märkten, die wir durchgesetzthaben, bringt deutliche Chancen für die Landwirte. Werjetzt nur jammert, der verspielt diese Chancen. Es gehtdarum, diese Chancen zu nutzen. Dafür stellen wir dieWeichen – mit dem Haushalt und auch sonst mit unsererPolitik.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-MichaelGoldmann.
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Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Frau Ministe-rin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man, wäh-rend man so dasitzt, aufgefordert wird, sachlich zu sein,aber dann das hört, was Sie eben vorgetragen haben,Frau Teuchner, wähnt man sich im falschen Film. Werbehauptet, dass dieser Haushalt gegenüber der Agrar-wirtschaft und der Ernährungswirtschaft fair und gerechtist und ihnen Marktchancen eröffnet, der hat noch nie inden Haushalt hineingeschaut.
Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen, ich verstehe das ir-gendwo nicht mehr. Man wird zu einer sachlichen Dis-kussion aufgefordert und im gleichen Atemzug sagenSie, der Agrarhaushalt sei ausgewogen, gerecht und zu-kunftsorientiert, obwohl Sie ganz genau wissen, dassdies der Bereich des Gesamthaushaltes ist, der am meis-ten blutet, da er ungefähr ein Drittel von den bisherigen1,5 Milliarden Euro Zuwendungen, die er aus dem natio-nalen Haushalt bekommen hat, verliert. Ich denke, sokann man mit diesem Bereich nicht umgehen, manmüsste fairer und verantwortungsbewusster sein. IhrHaushalt ist aber nicht fair und nicht verantwortungsbe-wusst.
Bei der Agrarreform waren wir uns weitgehend einigund haben relativ viel – aus meiner Sicht fachlich be-gründet – kollegial auf den Weg gebracht. Einig warenwir allerdings auch, dass viele Landwirte in Deutschlandvor einer großen Herausforderung stehen.Gestern kam der nächste Hammer: Wir stimmen dochmit Ihnen darin überein, dass im Zusammenhang mit derReform des Zuckermarktes etwas passieren muss.Nur, die Reform des Zuckermarktes kostet ebenso wiedie eigentliche Agrarreform jede Menge Unternehmenund landwirtschaftliche Betriebe in Deutschland Geld,bringt eine Gefährdung von Arbeitsplätzen und damitvon Zukunftsperspektiven in diesem Bereich mit sich.Das wissen Sie doch.
Sie aber reden von Gerechtigkeit und davon, dass alle ei-nen Beitrag leisten müssen.Sie wissen ganz genau, dass der niedersächsischeLandwirt aus dem Emsland beim Agrardiesel wesent-lich stärker besteuert wird als sein niederländischer Kol-lege. Aber der deutsche Kollege muss seine Kartoffelnauf einem harmonisierten europäischen Markt zum glei-chen Preis wie der niederländische oder der französischeKollege verkaufen. Sie behaupten trotzdem, Sie würdenin diesem Bereich die Weichen für die Zukunft stellen.Nichts, absolut nichts tun Sie.Wissen Sie, Frau Teuchner, was ich daran so hinter-fotzig finde – diesen Begriff darf man doch, glaube ich,noch verwenden, oder?
– Darf man nicht mehr sagen? Okay, dann will ich Ihnensagen, was ich gemein finde: dass Sie sich beim Ökobe-reich völlig anders verhalten. Hier rollen Sie einen rotenTeppich nach dem anderen aus und pusten an jeder StelleGeld hinein: bei Sachverständigengutachten, bei Pro-grammen, bei Hilfen, bei Stützen, bei Subventionen. Alsdie FDP letztes Jahr Vorschläge machte, in diesem Be-reich zu kürzen, sagten Sie: Oh, ihr Bösen von der Op-position! Nein, auf keinen Fall! – Zugleich kürzen Sieaber in dem Bereich, wo intensive Landwirtschaft betrie-ben wird, wo Landwirte Arbeitsplätze vorhalten, unsereWeltmarktstellung im Agrarbereich und in der Lebens-mittelwirtschaft sichern und unsere Qualitätsstandardsso hoch halten, dass man davon reden kann, dass wir indiesem Bereich noch in der ersten Liga spielen. DurchIhr Hereinschlagen in diesen Bereich vernichten Sie Ar-beitsplätze. Das finde ich nicht in Ordnung und halte ichnicht für fair.
Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Das tut auch weh.Nun habe ich von Ihnen, Frau Künast, eben den Ver-weis auf nachwachsende Rohstoffe vernommen. Ichkomme aus Papenburg. Da haben wir schon vor zehnJahren nachwachsende Rohstoffe erprobt. Dafür gibt eseinen Markt. Das ist gar keine Frage; das bestreite ichnicht. Wenn Sie aber glauben, durch Aufbau eines Mark-tes für nachwachsende Rohstoffe den Verlust an Arbeits-plätzen, an Wirtschaftskraft und an Investitionen aus-gleichen zu können, den Sie mit diesem Haushaltverursachen, dann sind Sie falsch gewickelt.
Was in diesen Bereichen verloren geht, kann man in denBereichen, die Sie angesprochen haben, nach meinertiefsten Überzeugung nicht ausgleichen.Ich will noch auf etwas anderes hinweisen, weil darander ganze Charakter Ihrer Politik deutlich wird. Ich alsGrüner würde mich schämen.
Noch 2002 haben die Grünen vor der Bundestagswahlwörtlich zur Agrardieselbesteuerung versprochen:Mit wettbewerbsverzerrenden nationalen Regelun-gen in diesem Bereich muss endlich Schluss sein.Ja, tun Sie es!
Warum wählen Sie hier in diesem Bereich wieder denWeg des nationalen Alleingangs? Das wird wieder dazuführen, dass unsere Bauern an den Pranger gestellt wer-den und ihnen der Absatzmarkt unter den Füßen wegge-schlagen wird. Wir sind in dieser Frage so grundsätzlichanderer Auffassung, dass uns das schon wehtut.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 2004 11303
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Hans-Michael Goldmann– Nein, Frau Teuchner, Sie haben keine Ahnung vonLandwirtschaft. Sie haben von mir aus Ahnung von Ver-braucherschutz. Ich will Ihnen gar nicht absprechen,dass Sie sich Mühe geben, aber das reicht nicht.
– Nein, Sie haben schlicht und ergreifend keine Ahnung.
Sie kennen zum Beispiel nicht die Wirtschaftskompe-tenz der Ernährungswirtschaft insgesamt. Sie wissennicht, dass die Ernährungswirtschaft in Niedersachsender zweitgrößte Arbeitgeber ist.
Sie wissen nichts von der Wertschöpfung. Die Sozial-demokraten wissen nichts von der Wertschöpfung derAgrar- und Ernährungswirtschaft im ländlichen Raum.Nur deshalb können Sie hier solche Positionen vertreten.
– Nein, Frau Teuchner, da ist der Spaß am Ende, dasmuss ich Ihnen ganz ehrlich sagen. Sie lassen sich anverschiedenen Stellen alles Mögliche einfallen, zum Bei-spiel Bauernspione, die Sie im Haushalt für Nachfor-schungen verankern.
– Natürlich! Sie denken über zusätzliche Steuern nach,Sie diskriminieren Lebensmittel, indem Sie sie in ge-sunde und ungesunde einteilen, und Sie wissen alles. Siewissen, was für die Verbraucher gut und was schlecht ist,gießen das in Gesetze und wundern sich dann, dass dasnicht klappt.Die Tabaksteuer ist das jüngste Beispiel dafür: Dahatten Sie die glorreiche Idee, den Preis kräftig zu erhö-hen, damit die Raucher aufhören zu rauchen,
dann aber stellen Sie voller Erstaunen fest, dass Ihnendie Einnahmen wegbrechen. Das hätte ich Ihnen vorhersagen können.Genau in diesem Sinn machen Sie Politik. Sie ist un-ausgewogen, unklug und wird dem Bereich der Ernäh-rungs- und Agrarwirtschaft nicht gerecht. Wir werdenwieder unsere Änderungsanträge stellen. Letztes Malhaben wir damit 200 Millionen Euro auf den Weg ge-bracht. Sie haben die Gelegenheit, unseren alternativenVorschlägen zuzustimmen. Ihren Vorschlägen werdenwir auf keinen Fall zustimmen.
Das Wort hat jetzt der Kollege Friedrich Ostendorff.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Es ist ja niemals eine besonders dankbare Auf-gabe, Sparmaßnahmen in einem Haushalt zu vertretenund zu verteidigen, auch dann nicht, wenn sie notwendigund unvermeidbar sind wie dieses Mal. Noch schwererist es, wenn man diese unmittelbar im eigenen Betriebund bei den Kolleginnen und Kollegen der Nachbar-schaft erlebt.Die Einsparungen im Bereich des Agrardiesels undder landwirtschaftlichen Sozialversicherung werdeneinschneidend sein, keine Frage. Ich denke, wir sind esden Betroffenen schuldig, dies in aller Deutlichkeit zusagen.
Wir müssen aber auch sagen: Die Gesundheitsreform hatim letzten Jahr 5 bis 15 Prozent Beitragsentlastung fürunsere landwirtschaftlichen Betriebe gebracht und wirdin diesem Jahr über 30 Millionen Euro Entlastung brin-gen.
Außerdem haben die Kassen noch 60 Millionen EuroRücklagen für schlechte Zeiten, die jetzt genutzt werdenmüssen.Natürlich müssen wir dafür sorgen, dass Lasten ge-recht verteilt werden. Dafür werden wir in diesen Haus-haltsberatungen kämpfen. An Sie, Frau Aigner, sei alsHaushälterin gesagt: Hier werden wieder die Bauerngegen die Bergleute ausgespielt. Aber der Bundeszu-schuss für die Bundesknappschaft betrug 2002 7,4 Mil-liarden Euro, in diesem Jahr beträgt er 7 Milliarden Euround im nächsten Jahr wird er 6,9 Milliarden Euro betra-gen. Wer hier sagt, nur die Bauern würden herangenom-men, der lügt.
Die Bäuerinnen und Bauern aus Brandenburg habenheute Morgen vor dem Reichstag zu Recht gefordert,auch die Subventionierung von Flugbenzin undSchiffsdiesel endlich abzubauen.
Natürlich kann ich das nur unterstützen. Aber wir brau-chen dafür auch Mehrheiten in Europa; das wissen Sieganz genau.
Natürlich ist es ebenso unverständlich, dass wir noch dieMehrwertsteuersubventionierung von Hunde- und Kat-zenfutter finanzieren. Aber daran arbeiten wir; das wirdsich noch ändern. Was den Treibstoff angeht, so wollenund werden wir der Landwirtschaft helfen, vom Erdölunabhängiger zu werden; das hat die Ministerin betont.
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11304 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 123. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 2004
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Friedrich OstendorffMeine Damen und Herren von der Opposition, hütenSie sich vor leeren Versprechungen. Versprechen Sie denLandwirten nicht weiterhin blühende Landschaften; Siewissen doch sehr genau um die Lage der öffentlichenHaushalte. Trotzdem versuchen Sie hier mit Ihrer Gum-mistiefelrhetorik
den Bäuerinnen und Bauern weiszumachen, dass das al-les nur Bosheiten seien und eigentlich alles bleibenkönne, wie es ist. Sie erzählen draußen ständig, wir wür-den einseitig die Landwirtschaft zur Kasse bitten. Das istnicht wahr und das wissen Sie. Die Einsparungen, diejetzt im Haushaltsbegleitgesetz anstehen, waren bereitsim letzten Jahr auf der Tagesordnung und schon damalsgab es von Ihnen keinen einzigen Antrag, weder zumAgrardiesel noch zur Krankenversicherung. Aber dannkam ja Herr Stoiber, der dafür sorgte, dass das Thema imVermittlungsausschuss von der Sparliste kam. Natürlichwusste auch er, dass Sparmaßnahmen nicht zu vermei-den sind und dass sie dieses Jahr wieder auf die Tages-ordnung kommen. Aber das war egal. Es war ihm wich-tiger, für sich ein paar Punkte zu machen, als den Bauernund Bäuerinnen reinen Wein einzuschenken. Aber IhrWein ist nicht rein, sondern gepanscht, und für die Kopf-schmerzen wollen Sie dann uns verantwortlich machen.
Das haben Sie bei der Agrarreform genauso versucht.Was macht die FDP? Sie versucht beim Haushalt, dieBauern gegeneinander auszuspielen, indem sie widerbesseres Wissen behauptet, man müsse nur beim Öko-landbau ordentlich sparen, dann würden alle anderenverschont bleiben. Ökobauer gegen Bauer in der kon-ventionellen Landwirtschaft – Herr Goldmann, Sie wis-sen doch selbst, was das für ein Unsinn ist. Sie betreibenleider eine rein ideologische Haushaltspolitik.
Mit Ihrer Politik erweist die Opposition der Landwirt-schaft einen doppelten Bärendienst. Erstens lassen Siedie Bäuerinnen und Bauern im Unklaren darüber, woraufsie sich einzustellen haben. Zweitens: Haben Sie sich ei-gentlich schon einmal gefragt, wie es kommt, dass dieLandwirtschaft bei vielen Menschen als Erstes mit Sub-ventionen in Verbindung gebracht wird? Haben Sie sichschon einmal klar gemacht, dass dieses Image vielleichtnicht unbedingt ein gesellschaftliches Klima schafft,welches die Verteidigung berechtigter Ansprüche derLandwirtschaft erleichtert?Ihr Gedröhne, Herr Carstensen und Herr Goldmann,mag an den Stammtischen ankommen. Aber ich glaubenicht, an vielen.
Beim Rest der Gesellschaft bestätigt es aber Vorbehalteund den Eindruck, Landwirtschaft sei etwas Überholtes,das keine Unterstützung verdiene. Mit Ihren Spanferkel-weisheiten
werden Sie in den Großstädten keine Solidarität mit derLandwirtschaft gewinnen, meine Herren. Wir erlebengerade in Schleswig-Holstein, wie die Unterstützung ab-nimmt. Ihr Getöse findet noch nicht einmal bei Ihren ei-genen Wirtschaftsleuten Unterstützung.In diesem Sinne betrachte ich als Bauer Bundesminis-terin Künast als einen echten Glücksfall für die Land-wirtschaft.
Wer sonst könnte die Brücke zwischen Landwirtschaftund Gesellschaft bauen, die wir so dringend brauchen?Darum geht es doch für uns Bauern und Bäuerinnen:nicht Schlachten von gestern mit Sprüchen von vorges-tern zu schlagen und dabei jeden Kredit zu verspielen,sondern den gesellschaftlichen Konsens über die Stel-lung der Landwirtschaft zu suchen und damit das Geldzu sichern, das zurecht in die Landwirtschaft fließt.
Ich muss zugeben, dass ich den Begriff „Gummistie-
felrhetorik“ vorher noch nie gehört habe.
Das ist eine neue Sprachschöpfung.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ursula Heinen.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Lieber Kollege Ostendorff, von einem Glücksfall für dieBauern kann man wohl erst dann reden, wenn PeterHarry Carstensen in Schleswig-Holstein die Wahlen fürsich entscheidet und dort bald Ministerpräsident wird.
Das wäre ein echter Glücksfall. Ich glaube, dass FrauKünast für die Bauern und Landwirte eher ein Problem-fall ist. Es wäre auf jeden Fall ein Glück, wenn PeterHarry Carstensen im Norden dieses Landes an die Re-gierung käme.
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Auch das gehört zur Wahrheit und Klarheit.Ich komme jetzt zu einem echten grünen Lieblings-kind, nämlich zur Verbraucherpolitik. Da der Kollegeeben gesagt hat, dass im Haushalt nicht einseitig bei denLandwirten gespart wird, muss ich feststellen, dass beidiesem Lieblingskind des Ministeriums die TitelgruppeVerbraucherpolitik im Gegenteil noch aufgestockt wor-den ist. Es scheint doch zu gehen, dass dem einen ge-nommen und dem anderen gegeben wird. Aber dabeihandelt es sich nur um Projekte der Öffentlichkeitsarbeitund der Medienwirksamkeit.
Es gibt aber eine positive Meldung – das muss ehrli-cherweise gesagt werden –, nämlich dass die Ausstat-tung der Verbraucherzentrale Bundesverband und derStiftung Warentest gleich geblieben ist. Diese Ent-scheidung ist richtig. Das haben wir die ganze Zeit ge-fordert und unterstützt. Den Bundesländern muss manallerdings sagen: Wenn sie diesem Beispiel gefolgtwären, dann wäre der Insolvenzantrag der Verbraucher-zentrale Mecklenburg-Vorpommern mit all den sichanschließenden Schwierigkeiten wie Auffanggesel-lschaften etc. erspart geblieben. Insofern kann man nursagen, dass es eine vernünftige Entscheidung war, beider Ausstattung nicht zu kürzen. Mein Appell an dieBundesländer ist, diesem Beispiel zu folgen.
Das war es aber auch schon an positiven Aspekten.Ansonsten lässt dieser Haushalt in Bezug auf die Ver-braucherpolitik schlüssige Konzepte und deutliche Im-pulse vermissen. Es gibt zum Beispiel die Innovations-offensive der Bundesregierung, für die auch in diesemHaushalt 5 Millionen Euro vorgesehen sind. Es ist er-freulich, dass das so ist. Nur, was unter Innovationen undunter Innovationsförderung in diesem Haushalt verstan-den wird, ist schon relativ abenteuerlich. Da geht esnämlich beispielsweise um den Tierschutz, tiergerechteHaltungsverfahren, den Ökolandbau oder aber um – ichzitiere jetzt eine Überschrift aus den Unterlagen zumEinzelplan 10 – „Lebensmittel der Zukunft“. Darunterfallen Projekte zur „Entwicklung dem Lebensstil ange-passter Lebensmittel“ – Stichwort: ausgewogene Ener-giebilanz –
oder die „Untersuchung ausgewählter Stoffe auf gesund-heitsfördernde Wirkung“.Was heißt das ganz konkret? Wollen Sie der Milchin-dustrie mit 1,5 Millionen Euro – so viel nämlich wollenSie dafür zur Verfügung stellen – bei der weiteren Ent-wicklung von Joghurts helfen? Die wird das sicherlichbegrüßen. Aber ist es Aufgabe des Staates, sich um Le-bensmittel der Zukunft zu kümmern? Gibt es nicht,wenn Sie schon sagen, dieser Forschungsbereich werdevom Staat begleitet, beispielsweise Bundesforschungs-anstalten, die diese Aufgabe übernehmen könnten? Oderverbirgt sich hinter dem entsprechenden Titel doch nurdie Förderung des Ökolandbaus?Damit zeigt sich für uns ganz klar, wo Ihre Prioritätenliegen. Sie sind keine Ministerin aller Verbraucher, son-dern nur eine Ministerin bestimmter Verbraucher, näm-lich der Verbraucher, die an ökologischen Produkten in-teressiert sind. Sie wollen allen Verbrauchern in diesemLand Ihre Politik aufs Auge drücken
und ihnen sagen: Ihr müsst diese Produkte kaufen; an-dere Produkte dürft ihr nicht kaufen.Ich nenne ein anderes Beispiel: Im Rahmen der Inno-vationsoffensive gibt es das Vorhaben „Verbraucherin-nen und Verbraucher als Innovationsmotor“. Dafür wol-len Sie 2 Millionen Euro zur Verfügung stellen. Dabeigeht es um Maßnahmen, die „den Verbraucher als akti-ven Gestalter eigenverantwortlicher Vorsorgemärkte“unterstützen sollen oder „neue Märkte durch Verbrau-chervertrauen stärken sollen“. Was sind denn dieseneuen Märkte? Sind das auch wieder Ökomärkte?Ich bin froh – das habe ich schon meiner Kollegin IlseAigner gesagt –, dass alle Ausgaben unter einem Sperr-vermerk stehen und der Haushaltsausschuss darüber ge-sondert abstimmen muss. Denn ansonsten, glaube ich,würden wir hier mit verdammt viel Unsinn überzogen.Gerade in Zeiten knapper Kassen sollte dieses Geld eherfür innovative Produkte ausgegeben werden.
Darunter könnte man – unabhängig davon, wie mandazu steht – beispielsweise auch Innovationen in denGentechnikbereich verstehen. Es wäre durchaus sinn-voll, auch dafür den einen oder anderen Euro auszuge-ben statt immer nur für Ihre Lieblingsprodukte und IhreLieblingsvorhaben.
– Da kann ich Ihnen schon jetzt 5 Millionen Euro nen-nen, wenn sie in der Form ausgegeben werden sollen,wie sie im derzeitigen Haushaltsentwurf stehen.
Ich komme jetzt zu einem anderen Bereich, zur Ver-braucheraufklärung. Er umfasst fast ausschließlich dieBereiche Ernährung und nachhaltigen Konsum. Derwirtschaftliche Verbraucherschutz kommt – ich habe dasschon im vergangenen Jahr kritisiert – so gut wie gar
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Ursula Heinennicht vor. Es wird zurzeit eine Diskussion über die Ener-giepreise geführt. Auch darum könnte sich das Verbrau-cherschutzministerium einmal kümmern.
Wenn heute die Präsidentin des Bundesverbandes Ver-braucherzentrale fordert, mit am Tisch der Energierundebei Bundeskanzler Schröder zu sitzen, wäre das durch-aus eine Sache, die Sie, Frau Künast, besonders unter-stützen könnten; denn von den hohen Energiepreisensind ja in der Tat diesmal alle Verbraucherinnen und Ver-braucher und nicht nur eine kleine Gruppe betroffen.
Medien- und öffentlichkeitswirksame Themen sindder Ministerin bzw. der Bundesregierung in diesemHaushalt anscheinend die liebsten. Damit diese auch sorichtig vermarktet werden können, werden – abgesehenvon in anderen Titeln versteckten Ausgaben – für dieseBereiche ähnlich hohe Mittel wie schon in den Haus-haltsentwürfen der vergangenen Jahre zur Verfügung ge-stellt.Unserer Forderung, die wir in den letzten Haushalts-beratungen schon mehrfach gestellt haben, nämlichdiese Mittel zu senken, sind Sie erneut nicht nachgekom-men. Es ist noch immer nicht klar, was Sie mit der – soheißt es in den Begründungen – „gleich bleibenden ho-hen Nachfrage zu Informationsmaterial“ konkret meinenund wer diesen gleich bleibend hohen Nachfragedrucküberhaupt hat. Ich frage mich immer wieder, wozu wirdie in diesem Bereich bestehenden vielen Institutionenund Forschungsanstalten haben. Was den Ernährungsbe-reich angeht, so haben wir darüber noch vor der Som-merpause diskutiert: Es gibt die Deutsche Gesellschaftfür Ernährung und den Deutschen Landfrauenverband,die sich durchaus um diese Fragen kümmern. Es gibt dieverschiedensten Organisationen, die Unterlagen zur Ver-fügung stellen. Aber nein, auch das Ministerium musshier noch einmal Mittel bereitstellen. Das dient aus-schließlich der Selbstdarstellung der Grünen und istnicht zum Nutzen unserer Verbraucherinnen und Ver-braucher.
Angesichts der vielen Kritikpunkte drängt sich erneutdie Frage auf, ob dieser Haushaltsentwurf wirklich demAnspruch des Verbraucherschutzes als Querschnittsauf-gabe entspricht. Ich habe den wirtschaftlichen Verbrau-cherschutz genannt; der rechtliche Verbraucherschutz istebenfalls ein ganz wichtiges Thema, das zu kurz kommt.Die Antwort auf die eben gestellte Frage lautet Nein.Wir erwarten, dass in den Haushaltsberatungen währendder nächsten Wochen Nachbesserungen vorgenommenwerden und die Verbraucherinteressen wirklich ausge-wogen berücksichtigt werden. Es geht um alle Verbrau-cher und nicht um eine bestimmte grüne Klientel.Recht herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Manfred Zöllmer.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Gestatten Sie mir eine Vorbemerkung zu dem, was derKollege Goldmann eben in seiner Rede gesagt hat.
Lieber Herr Goldmann, nach meinem Eindruck habenSie mit Ihrer Rede nur versucht, mit operativer Hektikdie geistige Windstille liberaler Politik zu verschleiern.
Die Haushaltsdebatte, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, die wir in den vergangenen Tagen und auch jetzt beidiesem optimistisch stimmenden Spätsommerwetter füh-ren, belegt einmal mehr, dass wir vor großen Herausfor-derungen stehen, die wir politisch meistern müssen.
Zu Recht werden daher von der Politik Ehrlichkeit, Ein-deutigkeit und Glaubwürdigkeit verlangt. Leider wirdvielen Menschen im Moment auf Straßen und Plätzen,auf denen sie ihre Besorgnis über manche Teile der Re-formpolitik zum Ausdruck bringen, Sand in die Augengestreut.
Dies gilt nicht nur für die rechten und linken Ränder despolitischen Spektrums. Auch bei manchen Äußerungender Opposition in den Medien oder hier im Bundestag– wir haben es in dieser Woche erlebt – muss man sichfragen, wo ihre Ehrlichkeit der Bevölkerung gegenübergeblieben ist und wie es eigentlich um die Glaubwürdig-keit der Opposition bestellt ist.
Deutschland verändert sich, weil sich die Welt verän-dert hat.
Wir leben in einer Welt, die immer mehr zusammen-wächst, in einer Welt mit offenen Grenzen, im Europader 25 mit immer stärkeren Handelsbeziehungen. AlsExportweltmeister haben wir ein besonderes Interessedaran, die laufende Welthandelsrunde zu einem Erfolgzu machen, unsere Grenzen zu öffnen und damit vor al-lem den Entwicklungsländern faire Handels- und Ent-
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Manfred Helmut Zöllmerwicklungschancen zu geben. Dies hat offensichtlichauch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion so gesehen undin einem Antrag im Deutschen Bundestag gefordert – ichzitiere jetzt wörtlich aus der Drucksache 15/1567 –, „aufdie Öffnung der Agrarmärkte, den Abbau produktions-stimulierender Subventionen … hinzuwirken“. Hört,hört! So stand es wörtlich in einem Antrag der CDU/CSU-Fraktion.
– Drucksache 15/1567.Um dieses Ziel zu erreichen, war eine umfassendeReform der gemeinsamen Agrarpolitik notwendig.Diese haben wir gemeinsam mit den CDU-regiertenLändern beschlossen.
Dies ist ein echter Paradigmenwechsel, der, wie wir wis-sen, der Landwirtschaft viel abverlangt. Er war aber not-wendig; so ist es, wenn man den Stillstand Ihrer Regie-rungszeit überwinden muss.
Viele Politikerinnern und Politiker der Opposition ha-ben konstruktiv mitgewirkt. Ausnahmen waren der Frei-staat Bayern und die Agrarpolitiker der CDU/CSU-Frak-tion.
– Es ist klar, dass Sie so aufheulen. Das kann ich ange-sichts Ihres schlechten Gewissens verstehen.Deshalb lassen Sie mich zum Stichwort „Glaubwür-digkeit“ einfach einmal fragen, wie glaubwürdig eineOpposition eigentlich ist, die in einem Antrag im Bun-destag die Öffnung der Agrarmärkte fordert, dies in je-dem Einzelfall durch ihre Agrarpolitiker bekämpft unddiffamiert, sich aber zugleich – bis auf Bayern – im Bun-desrat im Grunde konstruktiv an der Umsetzung dieserReform beteiligt.
Wie glaubwürdig ist eigentlich eine Opposition, die hierdie Einkommenssituation der Landwirte beklagt, aber imBundesrat mit der Blockade des EEG verhindert, dassdie Landwirte sich nun neue Einkommensquellen er-schließen können? Wie glaubwürdig ist eigentlich eineOpposition, die öffentlich immer wieder Subventionsab-bau fordert, gleichzeitig aber haben wir zur Kenntnisnehmen müssen, dass Ministerpräsident Stoiber im Ver-mittlungsausschuss klar und vollmundig erklärt hat, dasses nicht 1 Cent Kürzungen im Bereich der Landwirt-schaft geben soll? Selbst die Umsetzung der gemeinsamvereinbarten Koch/Steinbrück-Liste hat er verhindert.Derselbe Ministerpräsident aber kürzt in seinem Land imBereich der Landwirtschaft kräftig.Wie glaubwürdig ist eigentlich die Oppositionspolitikim Agrar- und Verbraucherschutzbereich, wenn die vonder Bundesregierung vorgeschlagenen Kürzungen hiermassiv kritisiert werden – wir haben es von Ihren Redne-rinnen und Rednern gehört –, Edmund Stoiber für dieUnion aber anbietet, 5 Prozent des Haushaltes insgesamtpauschal zu kürzen? Das sind für diesen Bereich Kür-zungen in Höhe von 255 Millionen Euro und bedeutetnichts anderes als deutliche Einschnitte im Bereich derlandwirtschaftlichen Sozialpolitik und in anderen Fel-dern, die Sie hier beredt kritisiert haben.Was sollen wir, was soll die Öffentlichkeit nun glau-ben? Bedeutet es, die Union erkennt die Notwendigkeitzu Einsparungen und zum Subventionsabbau auch imBereich der Agrarpolitik an, oder ist es alles gar nicht sogemeint? Wollen Sie einfach nur nach Bedarf allen allesversprechen?
Die „Wirtschaftswoche“ – gewiss nicht eine regierungs-nahe Zeitung – hat es bezogen auf Frau Merkel so for-muliert – ich zitiere wörtlich –: „Feste Überzeugungenkönnen da hinderlich sein, gefragt sind griffige Positio-nen, die Stimmen bringen.“ Das ist aus der „Wirtschafts-woche“ vom 2. September dieses Jahres. Auch wenn esvöllig an der Realität vorbeigeht, auch wenn es völligunbezahlbar ist, das ist die Politik der CDU/CSU-Oppo-sition hier im Deutschen Bundestag.
Wir wissen, dass wir für unsere Reformpolitik auchim Agrarbereich derzeit von den Wählerinnen und Wäh-lern nicht gerade auf Händen getragen werden. Aber imGegensatz zu Ihnen haben wir eine klare Linie. Wir sa-gen den Menschen, dass die Reformen im Agrarbereichnotwendig und richtig sind, dass es auch im Bereich derLandwirtschaft einen Strukturwandel gibt, dass dieserunvermeidlich ist und dass auch die Landwirtschaft zurKonsolidierung des Haushaltes beitragen muss.
Wenn man von der Landwirtschaft spricht, kann manehrlich feststellen, dass es nur wenige Wirtschaftszweigein Deutschland gibt, die von einer derart hohen staatli-chen Eingriffsintensität und einem derart hohen Produ-zentenschutz gekennzeichnet sind wie die Landwirt-schaft. Mit unserer Agrarreform stellen wir allerdingsdie Weichen auf eine sehr viel stärkere Marktorientie-rung der Landwirtschaft.Lieber Kollege Goldmann, Wettbewerbsanalysenhaben längst belegt, dass die deutschen Betriebe im eu-ropäischen Vergleich mithalten können.
Zuletzt auf der Akademietagung des Deutschen Bauern-verbandes in Bonn in diesem Jahr haben ProfessorPetersen und Professor Isermeyer deutlich zum Aus-druck gebracht, dass die anstehenden Veränderungen imAgrarsektor von der deutschen Landwirtschaft zu
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Manfred Helmut Zöllmerbewältigen sind. Sie ist wettbewerbsfähig. Das solltenSie zur Kenntnis nehmen, statt immer wieder neueSchwarzmalereien in die Welt zu setzen. So ist das.
Diese Koalition nimmt den Schutz der Verbrauche-rinnen und Verbraucher in unserem Land ernst. Dabeisind Transparenz und Informationen die schärfsten Waf-fen wirksamer Verbraucherpolitik. Dies wird durch denHaushaltsentwurf der Bundesregierung an mehrerenPunkten deutlich. Frau Kollegin Heinen hat dies dan-kenswerterweise bestätigt. Im Bereich der wichtigenVerbraucherinstitutionen – ich nenne Stiftung Warentestoder VZBV – werden die Ansätze insgesamt gehalten.Ich kann nur unterstützen, was Kollegin Heinen hierzugesagt hat: Es wäre schön, wenn die Unterstützung derVerbraucherzentralen in allen Bundesländern gegebenwäre; sie sind extrem wichtig und müssen flächende-ckend erhalten bleiben.
Diese Koalition setzt die richtigen Schwerpunkte,zum Beispiel beim Kampf gegen das Übergewicht vonKindern. Wir müssen dafür sorgen, dass Kinder und Ju-gendliche in unserem Land sich bewusst ernähren undausreichend bewegen. Die Initiative „Plattform Ernäh-rung und Bewegung“, die im September in Berlin ihrenGründungskongress durchführt, ist ein hervorragenderAnsatz.
Die von der WHO zur Bekämpfung des Übergewichtsangesagte Strategie, alle gesellschaftlichen Gruppen aneinen Tisch zu holen, wird damit umgesetzt.Wenn wir uns berechtigt über unsere vielen überge-wichtigen Kinder sorgen, dann müssen wir in dieser ge-teilten Welt auch über die sprechen, die viel zu wenighaben und Hunger leiden. Im Jahre 2000 waren diesweltweit 448 Millionen Kinder unter fünf Jahren. Des-halb ist es sehr zu begrüßen, dass trotz der schwierigenHaushaltslage die Mittel für die bilaterale Zusammenar-beit mit der FAO gleich bleiben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Bundesregie-rung ergreift die Initiative, setzt klare Schwerpunkte undhandelt. Und wie sieht es mit der Opposition im Bereichdes Verbraucherschutzes aus?
Ich will hier die Novelle des UWG als Beispiel nehmenund das Stichwort „Telefonmarketing“ darstellen.Wir haben die so genannte Opt-in-Lösung im Gesetzfestgeschrieben. Sie verhindert eine unzumutbare Beläs-tigung der Verbraucherinnen und Verbraucher durch Te-lefonwerbung. Gegen diese Regelung ist die CDU hierSturm gelaufen, munitioniert von den einschlägigenWirtschaftsverbänden. Sie wollten die Opt-out-Lösung,die sehr viel wirtschaftsfreundlicher ist, aber dazu führt,dass die Verbraucherinnen und Verbraucher zu Hausebelästigt und mit ungewollten Werbebotschaften traktiertwerden.Die Frage ist: Warum haben Sie hier den Pfad desVerbraucherschutzes einfach verlassen? Wir müssen lei-der feststellen: Wenn es mit dem Verbraucherschutzernst wird, knicken Sie sofort ein und verfolgen nichtmehr die Interessen der Verbraucherinnen und Verbrau-cher, sondern die reinen Wirtschaftsinteressen. Die CDUbetreibt eine Politik nach dem Motto: Als Krokodil ge-startet, als Eidechse gelandet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland mussfit und zukunftsfähig gemacht werden. Der Einzel-plan 10 lässt einen der wichtigsten gesellschaftlichenBereiche nicht außer Acht: den Bereich der Innova-tionen. Wir können Deutschland nur dann modern undzukunftsfähig gestalten, wenn wir überkommene Sub-ventionen zugunsten von Zukunftsaufgaben abbauen.Der Einzelplan 10 leistet seinen Beitrag zur Haus-haltskonsolidierung. Er sieht schmerzliche, aber notwen-dige Kürzungen vor. Er stärkt die aktive Verbraucherpo-litik –
Herr Kollege, Ihre Zeit!
– und sichert die Zukunft der Landwirtschaft.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Christel Happach-
Kasan, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Kollege Zöllmer, ich weiß, dass Sie in den meisten De-batten dabei sind, körperlich jedenfalls. Aber geistig sindSie doch in der Regel weggetreten, wie ich Ihren Wortenentnehme.
Sparen ist eine Daueraufgabe. Wir sind verpflichtet,die Gelder der Steuerzahler ordentlich auszugeben undeffizient zu nutzen. Das ist nichts Neues. Aber wer der
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Dr. Christel Happach-Kasangesamten Etatdebatte gefolgt ist, weiß auch: Sparenreicht nicht.Wir brauchen Wirtschaftswachstum. Wirtschafts-wachstum werden wir nur dann haben, wenn wir unserenBetrieben faire Wettbewerbsbedingungen geben
und alle nationalen Alleingänge vermeiden, egal in wel-chem Bereich: nicht nur beim Agrardiesel, sondern auchbei der Umsetzung von EU-Verordnungen. – Das ist daseine.Das andere ist: Wir brauchen Innovationen. Frau Mi-nisterin, Ihr Innovationstitel von 5 Millionen Euro klingtnett, ist aber letztlich nichts weiter als ein Feigenblatt.
Denn wirklich innovative Techniken kommen dabeinicht vor.
Kanzler Schröder hat das Jahr der Innovation aufge-rufen. Minister Clement fordert gerade heute:Die Bremsen müssen auf allen Ebenen weg …Das gilt beispielsweise für die Bio- und Gentechno-logie, für die Grüne wie die Rote Biotechnologie …Richtig gesprochen, Herr Minister! Völlig in Ordnung!Aber bei dem heutigen Vorgespräch für den Vermitt-lungsausschuss hieß es, beim Gentechnikgesetz sollenichts geändert werden – und das obwohl die Bioregio-nen deutlich gemacht haben, dass dies eine falsche Wei-chenstellung ist, und obwohl die EU-Kommission gesagthat, dass dies absolut neben der Spur und keine ordentli-che Umsetzung ist. Auch dies ist eine Fehlentwicklung.
Sie alle wissen: Innovationen finden im Labor statt. Siestammen nicht vom Museumsbauernhof. Deswegen istdas, was Sie machen, falsch.
Es ist sehr deutlich, dass bei Ihnen die Linke nichtweiß, was die Rechte tut. Im Haushalt des Forschungs-ministeriums werden Genomprojekte auch weiterhin ge-fördert; das ist auch gut so und in Ordnung. Aber, FrauMinisterin Künast, durch Ihre Öffentlichkeitsarbeit ver-hindern Sie, dass das, was in diesem Bereich erdacht undentwickelt wird, in Deutschland überhaupt zur Anwen-dung kommt. Was ist das? Das, was Sie da machen, isteine doppelte Verschwendung von Steuergeldern.
Diese Regierung ist keine Regierung für das ganzeVolk, sondern eine Regierung für Verbandsvertreter undBesserverdienende.
Denn angesichts unseres niedrigen Wirtschaftswachs-tums weiß man ganz genau, dass sich die Ökoprodukte,die Sie so gerne hätten, bald niemand mehr leisten kann.Insofern sind auch die Ökobetriebe in einer ausgespro-chen schlechten Situation.
Die Mittel für den Bereich nachwachsender Roh-stoffe werden gegenüber dem Istzustand des Jahres 2003nahezu verdoppelt.
Ich bin durchaus für nachwachsende Rohstoffe. Aberkann man sie realisieren, wenn man die Grüne Gentech-nik total ausbremst? Ich meine nein; das wird nicht reali-sierbar sein.Die Mittel für die Holzcharta haben Sie auf200 000 Euro festgesetzt; auch das ist eine sinnvolleMaßnahme. Aber wird sie angesichts der Vorstellungen,die Sie hinsichtlich der Novellierung des Bundeswaldge-setzes und der weiteren Drangsalierung von Waldbesit-zern haben, überhaupt zum Tragen kommen? Ich glaube,das ist nicht der Fall.Kollege Zöllmer, Sie haben die Initiative „Ernäh-rung und Bewegung“ genannt; das ist völlig in Ord-nung. Jeder weiß: Wer sich zu wenig bewegt, nimmtzu. – Es gibt ja ein paar Kollegen, bei denen das mög-licherweise der Fall gewesen sein kann. –
Aber ich verstehe ehrlich gesagt nicht, warum das Pro-jekt des Landfrauenverbandes mit dem Titel „Kochenaus dem Schulgarten“ nicht auch aufgenommen wurde.Ich glaube, dass Sie manchmal auf einem Auge fürchter-lich blind sind, und zwar zum Schaden des gesamtenVolkes.Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Cornelia Behm,
Bündnis 90/Die Grünen.
Danke. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrteDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
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Cornelia BehmViel Geld auszugeben, wie Sie das aus Ihrer Regierungs-zeit gewohnt sind, ist leicht. Aber mit wenig Geld viel zuerreichen, das ist die Aufgabe, vor die uns der Agrar-haushalt für das Jahr 2005 stellt.
Diese Aufgabe werden wir lösen. Dabei werden wir unsauf unsere mittel- und langfristigen Entwicklungsziele
einer nachhaltigen Landwirtschaft und eines lebendigenländlichen Raumes konzentrieren.Die rot-grüne Bundesregierung ist dabei, die Agrar-politik Schritt für Schritt auf die Zukunft auszurichten.
Wir setzen den Rahmen für die Landwirtschaft in einerglobalisierten Welt
– denken Sie nur an die Zucker-Debatte – und wollenmehr Umweltgerechtigkeit und Tierschutz erreichen.
Zur Stärkung der ländlichen Räume fördern wir regio-nale Wirtschaftskreisläufe, indem wir auf nachwach-sende Rohstoffe und erneuerbare Energien sowie aufWeiterverarbeitung und Direktvermarktung von land-wirtschaftlichen Erzeugnissen setzen; denn ländlicheRäume können längst nicht mehr nur von der Landwirt-schaft leben. Deshalb haben wir die Förderung der länd-lichen Entwicklung, wie im Übrigen auch auf EU-Ebenegeschehen, auf eine integrierte Förderung umgestellt.Diesem Ziel dienen auch die Modulation der Direkt-zahlungen und die neuen Fördergrundsätze der Gemein-schaftsaufgabe „Agrar- und Küstenschutz“. Aus meinerSicht sind gerade die Gemeinschaftsaufgaben „Agrar-und Küstenschutz“ und „Regionale Wirtschaftsförde-rung“ für die Entwicklung der ländlichen Räume von he-rausragender Bedeutung. Ohne sie – davon bin ich festüberzeugt – bekämen die Regionen viel weniger Förder-mittel. Denn die Länderfinanzminister wären erheblichschwerer davon zu überzeugen, Mittel bereitzustellen,wenn sie damit nicht gleichzeitig auch Bundesmittel fürihr Land erhalten könnten.Zwar muss auch bei der GAK gespart werden – dieskritisiert die Opposition, mir will es im Übrigen auchnicht gefallen –, aber wenn gleichzeitig mehrere CDU-Ministerpräsidenten in der Föderalismuskommission dieAbschaffung der GAK fordern, finde ich diese Kritik derOpposition schon ziemlich verlogen.
Meine Damen und Herren, Rot-Grün setzt in diesemHaushalt einen Schwerpunkt bei den nachwachsendenRohstoffen. Denn für die ländliche Entwicklung werdenAnbau und Verarbeitung nachwachsender Rohstoffe zu-künftig eine ganz zentrale Rolle spielen. Derzeit entstehtdank der Regelungen zur Einspeisevergütung für Ener-gie aus Biomasse eine blühende Biogaswirtschaft, imÜbrigen gänzlich ohne Haushaltsmittel.
Diese Regelungen sichern vielen Bauern ein zusätzlichesStandbein. Somit trägt die von Ihnen abgelehnte EEG-Novelle dazu bei, die flächendeckende Landwirtschaft inDeutschland zu erhalten. Wenn Landwirte zu Energie-und Rohstoffwirten werden, sichert das nicht nur dieLandwirtschaft, sondern durch die Ansiedlung des verar-beitenden Gewerbes und den Bau und Betrieb dezentra-ler Verarbeitungsanlagen werden zusätzliche, moderneArbeitsplätze im ländlichen Raum geschaffen. Deswe-gen begrüße ich, dass die Haushaltsmittel für For-schungs- und Entwicklungsvorhaben sowie für dieMarkteinführung in diesem Bereich wieder auf über43 Millionen Euro erhöht werden.
Besondere Beachtung verdient aus meiner Sicht das imRahmen der Innovationsoffensive neu geschaffene Inno-vationsprogramm „Ernährung, Verbraucher, Land-wirtschaft“. Dieses Programm soll dazu dienen, neueTechnologien zu entwickeln oder deren Praxisreife vo-ranzubringen. Ich bin davon überzeugt, dass wir gerademit diesem Programm den jungen Landwirten Brückenin die Zukunft bauen können. Dieses Programm ist aberauch dafür geeignet, die Charta für Holz, die MinisterinKünast am 3. September dieses Jahres vorgestellt hat,mit Leben zu erfüllen.Mit wenig Geld möglichst viel zu erreichen, das isteine schwere Aufgabe. Aber wir können sie mit diesemAgrarhaushalt 2005 lösen. Ich hätte mich über bessereVorschläge von Ihrer Seite gefreut – bisher habe ichkeine gehört. Sogar die kreativen Wortschöpfungen ka-men heute ausschließlich vonseiten der Koalition.
Das Wort hat die Kollegin Marlene Mortler, CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Die Frau Ministerin hat zwar Sach-lichkeit angemahnt und der Vortrag von Frau Behm istauch durchaus als sachlich einzustufen, aber der Inhalt,liebe Frau Behm, war alles andere als sachlich.Ich komme auf den Dezember des Jahres 2003. Wir,die CDU/CSU und die unionsgeführten Länder, habenim letzten Jahr im Vermittlungsausschuss Einschnitte imHaushalt bei der Besteuerung von Agrardiesel und beimZuschuss für die landwirtschaftliche Krankenversiche-
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Marlene Mortlerrung verhindert. Die Bäuerinnen und Bauern haben sichauf diese Vereinbarung verlassen.
Die bittere Erkenntnis heute ist, dass auf Rot-Grün keinVerlass ist. Das Verlässlichste an Ihnen ist noch, dassman sich auf Sie wirklich nicht verlassen kann.
Sie sind 1998 angetreten, nicht alles anders, aber vie-les besser zu machen. Sechs Jahre lang haben Sie Zeitgehabt, eine bessere, eine wachstumsorientierte Wirt-schafts- und Finanzpolitik zu gestalten. Unsere Bäuerin-nen und Bauern sollen nun diese Misswirtschaft der letz-ten sechs Jahre ausbaden. Sie führen einen Beutezuggegen diesen Wirtschaftszweig, obwohl Sie schon imAgrarbericht 2003 und im Agrarbericht 2004 einen mas-siven Einkommensrückgang von dramatischen 20 Pro-zent eingestehen mussten und auch für das soeben abge-laufene Wirtschaftsjahr einen weiteren Einkommens-rückgang prognostizieren. Im Gegenteil: Sie geben imHaushaltsplan 2005 und im so genannten Haushaltbe-gleitgesetz Vollgas, und das, obwohl Sie wissen, dassviele Bauern mit ihrem Einkommen bereits unter denHartz-IV-Sätzen liegen.
Meine Damen und Herren, das Landwirtschaftsgesetzvon 1955 ist noch heute aktuell. Jeder Minister hatte bis-her den Auftrag, in dem Agrarbericht seine Vorschlägevorzulegen, durch die die Einkommen der Landwirte imVerhältnis zu der Entwicklung der Einkommen der übri-gen Bevölkerung gesichert werden können. Frau Künastkümmert sich aber schon seit Jahren nicht mehr um die-sen Gesetzesauftrag. Sie missbraucht die Agrarberichtegesetzeswidrig zur Propaganda für ihre unausgegorenenverbraucherpolitischen Vorstellungen.
Durch unzählige Ökoprogramme haben Sie die Ab-hängigkeit der Landwirte sogar vergrößert. Mit IhremZiel, dass die ökologische Landwirtschaft in Deutsch-land einen 20-prozentigen Anteil erreicht, haben Sie die-ser gut funktionierenden Nische massiv geschadet.
Der Unwissende glaubt auch noch, dass das Biosiegelweiterhin auf Erfolgskurs ist, wie Sie das in der letztenWoche geschrieben haben. Das ist pure Heuchelei; denndie Anzahl ausländischer Bioprodukte, die unter demdeutschen Biosiegel angeboten werden, steigt täglich.Das Angebot steigt, während die Nachfrage und die Bio-preise sinken.
Frau Ministerin, dass Sie von der Praxis keine Ah-nung haben, zeigen Sie auch dadurch, dass Sie nun demAgrardiesel wieder an den Kragen gehen. Dabei ist dieSteuervergünstigung beim Agrardiesel bereits jetzt sehrniedrig. Sie sollten auch wissen, dass die Ökobetriebe ei-nen höheren Aufwand für den Agrardiesel haben als ihrekonventionell wirtschaftenden Kollegen. Unsere wich-tigsten Mitbewerber in Europa liegen hier bei der Steuer-belastung ganz unten, während wir ganz oben sind. Das,was Sie hier vorhaben, ist nichts anderes als eine ver-steckte Steuererhöhung und eine Wettbewerbsverzerrungzulasten unserer Bauern.
Pro Hektar ergeben sich im Schnitt 30 Euro an Mehr-belastung. Hinzu kommt, dass Sie gerade die kleinen Be-triebe bis zu einer Größe von 17 Hektar mit dem so ge-nannten Selbstbehalt belasten wollen. Sie wollen denvollen Dieselsteuersatz von 47 Cent pro Liter erheben.Sehr geehrte Frau Ministerin, Ihre PR-Arbeit ist wirk-lich exzellent, wenn es ums Tarnen und Täuschen geht.
Gefragt ist aber eine wirkliche Sachpolitik, die unsereLandwirtschaft insgesamt stärkt und nicht weiterschwächt.Schauen Sie doch einmal zu unseren österreichischenNachbarn. Sie sind nicht nur bei der Maut spitze. Siewerden ihre Steuer für den Agrardiesel im nächsten Jahrvon 30 auf 10 Cent senken.Liebe Frau Wolff,
Ihr Auftritt heute Morgen bei der Demo der brandenbur-gischen Bauern war nicht sehr glücklich. Sie haben näm-lich gesagt, die Rückerstattung der Agrardieselsteuerlasse sich ohnehin nicht mehr lange halten. Das warwirklich alles andere als ermutigend für die Bauern. Daswar Motivation pur im negativen Sinne.
Wenn man realistisch ist, erkennt man, dass sich dieZahl der Betriebsaufgaben in der Landwirtschaft seitder so genannten Agrarwende massiv erhöht hat. AuchNichtlandwirte begreifen inzwischen, dass Sie die Land-wirte in die Irre geführt haben. Ist der Ruf erst ruiniert,dann kürzt es sich gänzlich ungeniert.
Ich komme zur nächsten Baustelle, nämlich zu denKürzungen der Leistungsaufwendungen im Bereich derAltenteiler in der LKV. Die massive Folge, nämlichenorme Beitragserhöhungen, ist angesprochen worden.Ich halte es für unanständig, zu sagen, die aktiven Land-wirte müssten hier einen noch höheren Beitrag leisten.Die Betriebsmittel und Rücklagen sind zu 100 ProzentGelder der Bauern, die im Laufe der Jahre für schlech-tere Zeiten zurückgelegt worden sind.
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Marlene MortlerDie Bundesregierung macht sogar das Gegenteil: Sieversucht, sich von der so genannten Solidarhaftung zuentbinden, und ist dabei, dieses System insgesamt zumEinsturz zu bringen, ohne dabei ein tragfähiges eigenesKonzept zu haben.Ich darf noch kurz weitere Knüppel, die Sie uns mitdem Haushaltbegleitgesetz zwischen die Beine werfenwollen, ansprechen: die Kürzungen im Bundeshaushaltbei der Unfallversicherung, aber auch bei der Gemein-schaftsaufgabe. Hier geht es um Investitionsförderung.Wir sollten zur Kenntnis nehmen, dass diese Investi-tionsförderung der landwirtschaftlichen Betriebe wegenIhrer unsicheren Politik in den letzten Jahren schon zu-rückgefahren worden ist. Alleine im Jahr 2003 ist sie imVergleich zum Vorjahr um 64 Prozent gesunken. Im Mo-ment haben wir einen Tiefstand von 1 600 Euro pro Be-trieb an Investitionen erreicht. Der einzige Lichtblickzurzeit ist die diesjährige gute Ernte. Aber sie ist nureine Momentaufnahme und verträgt kein Schönreden.Man kann mit marktwirtschaftlichen Instrumentenviel erreichen. Aber gute marktwirtschaftliche Instru-mente werden bei Rot-Grün mit planwirtschaftlichen In-strumenten überlagert und so wieder kaputtgemacht.
Es ist eben nicht so, dass der Bauer immer nur nach demStaat und nach mehr Geld ruft. Der Bauer will Unterneh-mer sein.
Er will aber unter guten Rahmenbedingungen wirtschaf-ten können.
Noch eines: Unsere Bauern in Deutschland habensich den Herausforderungen im Zusammenhang mit derEU-Osterweiterung längst gestellt. Sie haben ihre Ar-beitszeit erhöht und damit ihre Lohnkosten gedrückt.Sie haben sich beim Tierschutz, beim Umweltschutz undbei der Lebensmittelsicherheit immer wieder neuestenwissenschaftlichen Erkenntnissen angepasst. Wir kön-nen auch immer wieder von seriösen Instituten, zuletztvom Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicher-heit in Erlangen hören: Unsere in Deutschland erzeugtenProdukte sind die sichersten auf der Welt.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Liebe Frau Künast, seien Sie so ehrlich und so fair,
dies in der Öffentlichkeit zu betonen, sonst sind Sie für
mich keine Verbraucherschutzministerin, sondern eine
Verbrauchertäuschungsministerin.
Frau Kollegin, Sie müssen wirklich zum Ende kom-
men.
Ja. – Sie hätten wirklich vieles wieder gutzumachen.
Ich erwarte von Ihnen einen besseren und weniger
schlafmützigen Einsatz bei der Korrektur dieses Haus-
halts und bei der Umsetzung der EU-Agrarreform.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist deutlich überschrit-
ten.
Machen Sie endlich Schluss mit Ihren nationalen Al-
leingängen.
Frau Kollegin, ich drehe Ihnen ungern das Mikrofon
ab, aber Sie haben Ihre Redezeit jetzt deutlich über-
schritten und achten nicht auf meine Hinweise. Deswe-
gen bitte ich Sie, zu Ihrem letzten Satz zu kommen.
Nur dort, wo die eigenen Bauern ernst genommen und
nicht schikaniert werden, werden sie auch in Zukunft
eine Chance haben.
Das Wort hat die Kollegin Waltraud Wolff, SPD-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Auch ich hatte mir vorgestellt, wir würden hiereine sachliche Diskussion führen.
Frau Mortler hat die angebliche Misswirtschaft derletzten sechs Jahre von Rot-Grün angesprochen. In die-sem Zusammenhang frage ich Sie, Frau Mortler: Wer hatdenn Reformen der landwirtschaftlichen Sozialversiche-rung verhindert? Schuld waren 16 Jahre Kohl-Regierungund nichts anderes.
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Waltraud Wolff
Sie haben sich doch an die Reform der Unfallversiche-rung gar nicht herangetraut. Sie haben Ihre Klientel nichtbelasten wollen, davor hatten Sie doch Angst.
Außerdem haben Sie, Frau Mortler, hier eine ausgespro-chen gute Planwirtschaftsrede gehalten. Das muss icheinmal sagen. Ich dachte, ich sei in der DDR groß ge-worden, aber das, was Sie hier vom Stapel gelassen ha-ben, lässt darauf schließen, dass Sie Staatsunternehmerhaben wollen.
Meine Damen und Herren der Opposition, was glau-ben Sie eigentlich?
Glauben Sie, dass man die Menschen im Lande nichternst nehmen muss, dass man sie anlügen kann, dassman ihnen Sand in die Augen streuen kann?
Polemik vom Feinsten haben Sie nicht nur heute de-monstriert, sondern schon die ganze Woche gemacht.
Das ist sehr unredlich.
Sie haben mehrfach die Demo von heute Morgen an-gesprochen. Natürlich habe ich keinen Ruhm geerntet,natürlich hat man mir keinen Beifall geklatscht, undzwar deshalb, weil ich den Menschen die Wahrheit ge-sagt und darauf hingewiesen habe, wie schwierig die Si-tuation ist.
Das nutzen Sie aus. Sie sind an dieser Stelle polemischund stellen sich auf die Seite der Bauern, obwohl Siewissen, dass man das nicht ändern kann.
CSU): Wer hat uns in diese Lage gebracht?)Ich könnte auch anders fragen. Wie kommen Siedazu, die Bundesregierung bei der Haushaltseinbringungam Dienstag zu attackieren und zu sagen, die Einspar-summe des Bundes sei bei weitem nicht hoch genug, undanschließend nach dem Motto vorzugehen: „Was inte-ressiert mich mein Geschwätz von gestern“? Bei jederEinzelplandebatte – das haben wir vorhin beim Verkehrerlebt und erleben es jetzt wieder – sagen Sie, die kon-kreten Einsparungen seien viel zu hoch und träfen dieMenschen über alle Maßen. Sie kündigen zwar Ange-bote an, aber es kommt nichts außer Gemecker. FrauAigner war hierfür das allerbeste Beispiel.
Das passt nicht zusammen. Schenken Sie den Menschenreinen Wein ein und hören Sie auf, sich selber zu wider-sprechen.
Erinnern wir uns doch einmal an das vergangene Jahr.Die Ministerpräsidenten Koch und Steinbrück haben da-mals ein gemeinsames Papier vorgelegt. Beide Minister-präsidenten waren sich einig, dass auch Einsparungen imAgraretat notwendig sind.
Warum machen das wohl zwei Ministerpräsidenten, ei-ner von der SPD und einer von der CDU? Warum ma-chen die wohl einen solchen Vorstoß?
Weil sie wissen, wie die Situation in Deutschland ist,und weil sie wissen, dass es gilt, die Bundesländer, denBundesrat, den Bundestag und die Bundesregierunggleichermaßen zu erreichen.
Natürlich bin ich der Auffassung, dass das Parlamentund die Bundesregierung eigene Akzente setzen müssen,aber die Grundlinie war – so hatte ich das jedenfalls seitdem letzten Jahr verstanden – die Vorgabe von Koch/Steinbrück.Die Vorschläge von Koch/Steinbrück galten für dieCDU schon bei den letzten Haushaltsberatungen nichtmehr.
Durch die Blockade – Sie haben das hervorragend her-ausgestellt – sind die Einsparungen im letzten Jahr nichtmöglich gewesen. Es ist doch völlig absurd zu glauben,dass wir das vergangene Jahr komplett ausblenden kön-nen. Es ist doch auch logisch, dass wir durch die er-zwungene Nullrunde im letzten Jahr im Jahr 2005 stär-ker betroffen sind.
Ich möchte mich nur auf zwei wichtige Punkte imHaushalt beziehen, deren Darstellung von mir erwartetwird. Zum einen geht es um das agrarsoziale Siche-rungssystem. Unser Ansatz sieht vor, dass die Landwirte
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Waltraud Wolff
erstmals auch an den Leistungskosten für Altenteilerbeteiligt werden sollen. Die Unternehmer kommen bis-her nicht für die Leistungen, sondern explizit nur für dieentstehenden Verwaltungskosten auf. Wie ist das eigent-lich in der gesetzlichen Krankenversicherung? Circa30 Prozent der Beiträge der Versicherten – auch von denLeuten auf der Besuchertribüne – werden für Leistungs-und Verwaltungskosten bei den Rentnern aufgebracht.Das war nicht immer so. Auch in der GKV ist dieser An-teil in den letzten Jahren immens gewachsen.
Mit den Änderungen durch das Haushaltbegleitgesetzwerden wir bis 2008 das Kosten-Leistungs-Verhältnis inder Krankenversicherung der Landwirtschaft an die Be-dingungen der gesetzlichen Krankenversicherung an-gleichen. Es geht also nicht, wie die Opposition immerwieder darstellt, um eine unzumutbare Belastung, son-dern um ein Angleichen der Verhältnisse an die gesetzli-che Krankenversicherung.
: Es geht um sachgerechte Lösungen!)
Außerdem muss man an dieser Stelle festhalten: Dielandwirtschaftliche Krankenversicherung wurde 1972eingeführt. Es ist doch logisch, dass es in 32 Jahren land-wirtschaftlicher Krankenversicherung Entwicklungen inder Bevölkerung gibt und dass sich die Bedingungen än-dern. Diese Veränderungen muss man begleiten könnenund man muss auch Reformen vornehmen können; damuss man neu nachdenken.
Dass Sie dies 16 Jahre lang nicht getan haben, ist aller-dings bezeichnend für Ihre Politik.
Bei der Anhörung zum Haushaltbegleitgesetz habendie Experten ganz deutlich gemacht, dass genau derWeg, den wir eingeschlagen haben, in die richtige Rich-tung geht.
Ich bin der festen Überzeugung, dass das System derlandwirtschaftlichen Sozialversicherung auf absehbareZeit das Beste ist, was wir den Landwirten geben kön-nen. Es muss aber allen klar sein: Die landwirtschaftli-che Sozialversicherung ist nicht am Ende der Reformen,wenn sie auch künftig bestehen will. Nur wenn man dieVerwaltungskosten weiter senkt, nur wenn die Beitrags-maßstäbe in der Krankenversicherung und in der Unfall-versicherung modernisiert werden und nur wenn Sonder-vergünstigungen, die der Allgemeinheit nicht zu erklärensind, abgebaut werden,
dann hat das System aus meiner Sicht auch eine Zukunft.Es ist wichtig, dass man dies den Vertretern der landwirt-schaftlichen Sozialversicherung klar macht und dass siedies einsehen.Die Botschaft heißt also: Beweisen Sie, dass Sie zusolchen Reformen in der Lage sind. Ich stehe Ihnen– wie in der Vergangenheit – als Partnerin gerne zurSeite. Nur ein modernisiertes Sozialversicherungssystemfür die Landwirte wird eine echte Chance haben.
Nun zum zweiten Punkt, einem weiteren wichtigenPosten des Haushaltbegleitgesetzes, der hier auch mehr-fach angesprochen worden ist: dem Agrardiesel. Andersals bei der Krankenversicherung – ich meine, auch an-ders als bei der Unfallversicherung; das muss man ein-fach eingestehen – handelt es sich beim Agrardiesel umeine echte Subventionierung. Keine Frage: Eindeutig po-sitiv für die Landwirte ist, dass durch die Agrardiesel-rückerstattung die Energiekosten gesenkt werden unddass im Blick auf die europäischen Nachbarn eine ge-wisse Verhältnismäßigkeit gewahrt ist.
Durch die Agrardieselrückerstattung gibt es aber – dasmüssen wir ehrlich zugeben – nicht genügend Anreize,um weiter energiesparender zu wirtschaften oder auf re-generative Energien umzusteigen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Opposition und Be-rufsstand führen immer wieder die erheblichen Energie-kosten für die Landwirtschaft auf – was ja berechtigtist – und geben hierfür eine Ifo-Studie an. Auch ichmöchte mich auf diese Studie beziehen; denn ich finde,es geht nicht an, hier nur die halbe Wahrheit zu sagen.Bei diesem länderübergreifenden Belastungsvergleichkommt nämlich noch etwas ganz anderes heraus, näm-lich dass die gesamten Produktionskosten, wenn manalso auch die Steuern auf Düngemittel, Pestizide usw.einbezieht, für die deutschen Bauern etwa halb so hochsind wie für dänische Bauern. Das haben auch schon an-dere Kollegen gesagt.
Eine etwa vergleichbare Belastung gibt es bei den nie-derländischen, den österreichischen – Frau Mortler, soweit zu den österreichischen Berufsgenossen – und denschwedischen Bauern. Der Agrardiesel ist wichtig, keineFrage. Aber er ist nicht alles.Liebe Kolleginnen und Kollegen, man verliert natür-lich ungern lieb Gewonnenes, das ist verständlich. Beialler Kritik wird aber leider außer Acht gelassen, was dierot-grüne Bundesregierung für die Landwirtschafterreicht hat. Ich will nur ein paar Beispiele nennen. Ers-tens: Die Befreiung von der Mineralölsteuer für Bio-
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Waltraud Wolff
kraft- und -heizstoffe verbessert die Wettbewerbssitua-tion der nachwachsenden Rohstoffe gegenüber denfossilen Kraftstoffen. Zweitens: Mit der Verabschiedungdes Erneuerbare-Energien-Gesetzes haben wir denLandwirten den Weg freigemacht, sich ein neues Stand-bein zu eröffnen. Drittens: Mit der EU-Agrarreform wer-den die Prämien von der Produktion abgekoppelt. Dieregionalisierte einheitliche Flächenprämie eröffnet end-lich – das wollten auch die Bauern – die Möglichkeit,sich am Markt zu orientieren und zu produzieren, wasgefragt ist. Da ist endlich Innovation möglich.
Meine Damen und Herren, der von der Bundesregie-rung eingeschlagene Weg ist eine Chance für die Land-wirtschaft. Viele sehen das auch so. Ich werde beispiels-weise häufig von Landwirten angesprochen,
die gerade die Umorientierung zur unternehmerischenVerantwortung begrüßen.Deshalb kann ich nur sagen: Liebe Kolleginnen undKollegen von der Opposition, verunsichern Sie dieseMenschen nicht länger!
Seien Sie ehrlich zu sich selbst und zur Bevölkerung!Wir befinden uns in einem Zeitalter der globalisiertenMärkte. Subventionsabbau und Stärkung von Einkom-mensalternativen sind der Weg, den wir im internationa-len Kontext gehen müssen und auch gehen werden.Danke schön.
Letzter Redner ist der Kollege Dr. Peter Jahr, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrteFrau Künast, ich denke, Landwirte sind sehr einsichtigeZeitgenossen. Sie sind es gewohnt, hart zu arbeiten. Siedenken an die Zukunft und an die ihrer Kinder. DieGeburtenrate auf dem Lande ist übrigens doppelt sohoch wie in der Stadt.
Das sollte man ruhig einmal bemerken, wenn es um Zu-kunftsaussichten geht. Der demographische Wandelwäre viel schlimmer, wenn wir die Landbevölkerungnicht hätten. Dort gibt es noch nachhaltige Wertvorstel-lungen. Zur Zukunft gehören ganz einfach Kinder. OhneKinder gibt es keine Zukunft. Auf dem Land hat man dasnoch begriffen.
– Ich habe vier. Ich denke, wenn es um die Kinderzahlgeht, sieht es in unserer Arbeitsgruppe gar nicht soschlecht aus.Auch die Landwirte stellen sich natürlich den gesell-schaftlichen Anforderungen. Aber sie wollen gerecht be-handelt werden. Wenn sie ungerecht behandelt werden,dann werden sie böse. Von der Bundesregierung werdensie ungerecht behandelt. Landwirte wollen Unternehmersein, wollen im Rahmen einer gemeinsamen Agrarpoli-tik unternehmerisch tätig sein.Meine Damen und Herren von den regierungstragen-den Fraktionen, Sie sagen immer, es seien nun einmalschlechte Zeiten und man habe kein Geld. Aber mankann doch zuerst mit den Dingen beginnen, die keinGeld kosten. Wettbewerbsgleichheit bedeutet für diedeutsche Landwirtschaft: keine Sondersteuern, keineSonderauflagen und gemeinsames Wirtschaften; denndie deutschen Landwirte müssen die von ihnen produ-zierten Produkte auf einem gemeinsamen europäischenMarkt verkaufen. Umweltstandards und Sonderhaltungs-bedingungen kosten kein Geld,
sondern nur politischen Willen und Durchsetzungsver-mögen auf europäischer Ebene. Genau daran fehlt es Ih-nen.
Es war vorhin ziemlich interessant, zu beobachten, dasssich die Grünen im Hinblick auf die Besteuerung desAgrardiesels ein bisschen einsichtiger gezeigt haben.Sie haben eingeräumt, dass Kerosin für Flugzeuge nor-malerweise in gleichem Maße besteuert werden müsste,dass das irgendwann auch geschehen werde, dass siesich aber im Moment in Europa nicht durchsetzen könn-ten. Offenbar wollen sie sich deshalb zuerst einmal anunseren Landwirten vergreifen und sie richtig zur Kassebitten.
Da wir uns heute gegenseitig Sachlichkeit gelobt ha-ben,
möchte ich auf die Hauptindikatoren Ihrer Politik zusprechen kommen. Um deutlich zu machen, wie es umdie Prosperität in Ihrem Verantwortungsbereich bestelltist, habe ich mir die Kennzahlen für die Entwicklung derEinkommen, der Marktanteile und der Beschäftigtenzahlin der deutschen Landwirtschaft herausgegriffen. DieseZahlen kann man nicht dividieren. Auf sie hat auch derEuro keinen Einfluss. Sie bleiben so, wie sie sind.
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Dr. Peter JahrIm Verlauf Ihrer Regierungszeit sank das Jahresein-kommen plus der Ausgaben für Personalaufwand in derLandwirtschaft von 19 900 Euro 1999/2000 auf mittler-weile unter 18 000 Euro pro Arbeitskraft und Jahr, Ten-denz sinkend. Ein solches Jahreseinkommen bietet dendeutschen Landwirte keine echten Chancen. Eine erfolg-reiche Agrarpolitik sieht anders aus. Die Kollegin, dievorhin darauf hingewiesen hat, dass man mit einem sol-chen Einkommen nicht weit von Hartz IV entfernt ist– das sollte wirklich jeder nachrechnen; Landwirte kön-nen jedenfalls rechnen –, hat Recht. Es darf nicht sein,dass die Landwirte für ihre Einsichtigkeit und dafür, dasssie jeden Morgen aufstehen und in den Stall gehen, letzt-endlich beim Einkommen bestraft werden.
Betrachten wir die Marktanteile: Im Zeitraum von1999 bis 2003 reduzierte sich die Fleischerzeugung inDeutschland von 6,2 Millionen Tonnen auf 5,3 Millio-nen Tonnen, also um ungefähr 15 Prozent. Somit gab esauch dort einen drastischen Rückgang. Weniger Einkom-men und weniger Produktion lassen für die Situation derBeschäftigten wenig Gutes erahnen.Interessant ist allerdings die Statistik: Zwischen 1995und 1999 – da waren Sie noch nicht an der Regierung;ich sage es bloß einmal zur Erinnerung;
manchmal gewöhnt man sich so an Regierungszeitenund denkt, sie gingen nie zu Ende – stieg die Anzahl derlandwirtschaftlichen Arbeitskräfte von 1,409 Millio-nen auf 1,437 Millionen an. Das war zwar nicht viel, be-deutete aber, dass die Anzahl der Beschäftigten im Jah-resdurchschnitt um 6 800 stieg. In Ihrer Regierungszeit,also im Zeitraum von 1999 bis 2003, verringerte sich dieAnzahl landwirtschaftlicher Arbeitskräfte von 1,437 Mil-lionen auf 1,305 Millionen. Das heißt, in Ihrer Regie-rungszeit wurden jährlich 33 000 landwirtschaftliche Ar-beitskräfte abgebaut.
– Es wäre schön, wenn sie nur in Rente gegangen wären.Ich habe zuvor bewusst die anderen Kennzahlen ge-nannt.Auf sinkende Einkommen pro Arbeitskraft und aufeinen sinkenden Marktanteil muss man natürlich be-triebswirtschaftlich reagieren, indem man, ganz einfachgesagt, effektiver wirtschaftet und indem man mehr Ar-beitskräfte abbaut, um halbwegs rentabel zu bleiben.Durch die von Ihnen gesetzten Rahmenbedingungenbaut unsere Landwirtschaft mehr Arbeitskräfte ab, als ei-gentlich notwendig ist.
Dank Ihrer Politik wurden in zwei Jahren so viel Ar-beitskräfte abgebaut, wie der Freistaat Sachsen insge-samt hat.
Auf der anderen Seite preist der Wirtschaftsministerdie 1-Euro-Jobs in dem Bemühen an, dass dadurch ir-gendwie Beschäftigungsverhältnisse entstehen. Dazusage ich ganz einfach: Vernachlässigen Sie nicht diedeutsche Agrarpolitik! Betrachten Sie die deutscheAgrarpolitik endlich als Wirtschaftspolitik! Denken Siedaran: Auch in der Landwirtschaft bestehen ordentlicheBeschäftigungs- und Arbeitsverhältnisse.
Sie setzen ganz einfach die falschen Rahmenbedingun-gen. Weniger Einkommen und weniger Produktion heißtauch weniger Beschäftigung.
Wenn man nur diese wenigen Zahlen betrachtet, mussman im Endeffekt feststellen, dass Ihre so genannteAgrarwende gescheitert ist.
Dabei war Ihre Argumentation bei der Agrarwende da-mals ziemlich einfach. Sie haben gesagt: Höhere Aufla-gen bedeuten höhere Qualität, das bedeutet höherePreise. Es gibt nur ein Problem: Diese Politik hat nichtfunktioniert. Offenbar ist der Verbraucher nicht bereit,die höheren deutschen Standards zu bezahlen.Dabei sitzt die Hauptkonkurrenz der deutschen Land-wirte nicht in Übersee, sondern in der unmittelbarenNachbarschaft: Holland, Frankreich und Österreich.
Sie haben schon gehört, wie die Wettbewerbsbedingun-gen dort aussehen. Die Österreicher haben es begriffen.In Österreich werden die Landwirte in diesem Jahr ent-lastet, um die österreichische Landwirtschaft wettbe-werbsfähig zu machen und um dort möglichst vieleMarktanteile und möglichst viel Beschäftigung zu si-chern.
Was macht die zuständige Ministerin in dieser Situa-tion? Sie erhöht zum Nachteil der deutschen Landwirtedie Dieselbesteuerung, getreu nach dem Motto: BeimSpitzenverdiener Landwirt – er hat ein Einkommen vonimmerhin 18 000 Euro pro Jahr – ist noch Luft. Was Sievorhaben, ist eine Frechheit. Für mich ist das ein gesell-schaftspolitischer Skandal.
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Dr. Peter Jahr
– Ich wollte Sie bloß ausreden lassen. Ich bin nämlichgut erzogen und meine Sekundärtugenden kommenmanchmal durch. Ich dachte: Wenn sich erwachseneMenschen unterhalten, dann sollst du nicht dazwischen-reden.Ich kann Ihnen versprechen, dass wir uns in den nunfolgenden Haushaltsberatungen intensiv einmischenwerden. Sie werden von uns Verbesserungsvorschlägehören. Wir werden nicht zulassen, dass Sie die wirt-schaftliche Situation und die Wettbewerbssituation derdeutschen Landwirtschaft weiter verschlechtern. Dage-gen – dessen können Sie gewiss sein – gibt es unserenenormen Widerstand.Danke schön.
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor.
Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesord-
nung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 10. September 2004,
9 Uhr, ein.
Ich wünsche allen hier im Hohen Hause einen schö-
nen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.