Gesamtes Protokol
Schönen guten Morgen! Herzlich willkommen! Ichdarf Sie bitten, Platz zu nehmen. – Die Sitzung ist eröff-net.Wenn man bedenkt, welche Ereignisse es in dieserStunde gibt, dann ist die Besetzung in diesem HohenHause sehr groß. Darum lade ich Sie herzlich ein zu ei-ner wunderbaren Debatte.Wir setzen also die Haushaltsberatungen – Tagesord-nungspunkt 1 – fort:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über dieFeststellung des Bundeshaushaltsplans für dasHaushaltsjahr 2013
– Drucksache 17/10200 –Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschussb) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierungFinanzplan des Bundes 2012 bis 2016– Drucksache 17/10201 –Überweisungsvorschlag:HaushaltsausschussFür die heutige Aussprache haben wir gestern insge-samt eine Debattenzeit von acht Stunden beschlossen.Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeitund Entwicklung, Einzelplan 23.Das Wort als Erster in unserer Aussprache hat Bun-desminister Dirk Niebel. Bitte schön, Herr Bundesminis-ter.
Dirk Niebel, Bundesminister für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung:Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich vordrei Jahren mein Amt antrat, lautete der damalige Be-fund von OECD-DAC: Die deutsche Entwicklungszu-sammenarbeit boxt nicht in ihrer eigentlichen Gewichts-klasse.Seitdem haben wir die größte Strukturreform in derGeschichte der deutschen Entwicklungszusammenarbeitdurchgeführt. Der Aufbau der Deutschen Gesellschaftfür Internationale Zusammenarbeit ist abgeschlossen.Wir werden in den nächsten Wochen das neue Evaluie-rungsinstitut offiziell eröffnen. Die deutsche Entwick-lungszusammenarbeit stellt sich damit erstmals einer un-abhängigen Kontrolle. Außerdem haben wir die Listeder Kooperationsländer nochmals gestrafft. Das allessind Maßnahmen, durch die unsere Arbeit wesentlich ef-fizienter wird; denn Entwicklungszusammenarbeit istVerantwortung – Verantwortung durch Deutschland inder Welt, aber auch Verantwortung für Deutschland beiuns zu Hause.Mit dem Auswärtigen Amt findet jetzt wieder einerichtige Zusammenarbeit statt. Wir reiten keine rotenRessortrivalitäten mehr, sondern Guido Westerwelle undich bringen gemeinsam wichtige Projekte voran. Wir ha-ben zwischen unseren Häusern endlich Klarheit bei derhumanitären Hilfe geschaffen, und wir haben das BMZgestärkt durch eine größere Präsenz in unseren Koopera-tionsländern. Wir wollen die Kraft nicht verschwendenim Gerangel zwischen Ministerien, sondern wir wollenalle Kraft einsetzen für eine Steigerung der Wirksamkeitunserer Entwicklungszusammenarbeit.
Kurzum: Mit mir hat die deutsche Entwicklungszusam-menarbeit den Aufstieg in die höchste internationaleSpielklasse geschafft.
In dieser Klasse kämpfe ich weiter für mehr Demokratie,mehr Bildung, mehr Engagement, mehr Wirtschaft,mehr Sichtbarkeit und mehr Wirksamkeit.Mit dem Haushalt 2013 behalten wir diese Prioritä-tensetzung des Koalitionsvertrags bei. Mit Ihrer Unter-
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stützung haben wir für das BMZ einen Rekordhaushaltnach dem anderen auf den Weg gebracht. Für 2013 wer-den 6,42 Milliarden Euro im Regierungsentwurf veran-schlagt. Besonders interessant ist, zu wissen: 67 Prozentdieser Mittel sind investiver Natur. Der BMZ-Haushaltist der zweitgrößte Investitionshaushalt des Bundeshaus-halts. Je nachdem, in welchem Sektor man 1 Euro inves-tiert, fließen ohne Lieferaufbindung im fairen Wettbe-werb 3 bis 4 Euro in die deutsche Wirtschaft zurück.Auch das ist wichtig, zu wissen.
Darüber hinaus haben wir gemeinsam beschlossen,die Personalausstattung des BMZ so zu verbessern, dassdie Voraussetzung für eine effektivere entwicklungspoli-tische Steuerung im Sinne von mehr Qualität und mehrWirksamkeit geschaffen werden kann. Ich danke allenAbgeordneten, die mich bei diesem wichtigen Unterfan-gen unterstützt haben. Es ist eine wichtige Bringschuldgegenüber jedem Steuerzahler in Deutschland. Ich dankeder Frau Bundeskanzlerin, die wiederholt das Erreichendes 0,7-Prozent-Ziels zu ihrer eigenen Sache gemachthat und die auch ganz persönlich ein großes Engagementin Fragen der Entwicklungspolitik zeigt.Deutschland ist zweitgrößter Geber in der bilateralenEntwicklungskooperation weltweit, und das trotz einerschweren Finanz- und Wirtschaftskrise in Europa. Dassollte – gerade weil Deutschland hier besonders viel ab-verlangt wird – uns alle in diesem Hause, aber auch inder Bevölkerung stolz machen.
Wir wissen aber: Staatliche Mittel alleine reichennicht aus. Wir brauchen auch das Engagement der Bür-gerinnen und Bürger; sie sollen sich ausdrücklich enga-gieren können. Mit „Engagement Global“ geben wir ih-nen eine Anlaufstelle, wo ihnen das jetzt ermöglichtwird.All diejenigen, die im Hohen Hause gerade mit ihremHandy arbeiten, weil sie vielleicht auf die Entscheidungaus Karlsruhe warten, können gleich eine Telefonnum-mer eintippen, unter der sie ihr Engagement anmeldenkönnen; zum Beispiel für das Engagement ihrer erwach-senen Kinder bei „weltwärts“ oder für eigenes Engage-ment in einer Städtepartnerschaft, in einem Verein odervielleicht, Herr Kollege Erler, für ein Engagement imSenior Experten Service.
Wir haben gerade den zehntausendsten Senior hinausin die Welt geschickt, um Hilfe zu leisten. Ich glaube,manch einen von Ihnen würde ich auch gerne hinaus-schicken. Die Nummer lautet: 0228-260900. DieseNummer sollten Sie sofort eintippen.
Das muss aber nicht jetzt gleich sein, Herr Bundes-minister.
Dirk Niebel, Bundesminister für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung:Je schneller, desto besser, Herr Präsident. Das kannmanchmal hilfreich sein.Dieses Angebot wird ankommen. Die Menschen wer-den es nutzen, insbesondere weil wir die besondere För-derung des entwicklungspolitischen Engagements vonKommunen weiter ausbauen werden.Darüber hinaus setzen wir ganz klare Anreize, damitsich die Wirtschaft mit ihrem Geld und ihrer Expertisemehr für nachhaltige Entwicklung engagiert, als das bis-her schon der Fall ist. Das wirkt doppelt. Wir mobilisie-ren zusätzliche Kräfte und Finanzmittel, und wir veran-kern die Entwicklungszusammenarbeit noch mehr in derMitte der Gesellschaft.Afrika bleibt unser regionaler Schwerpunkt. Hier se-hen wir die größten Herausforderungen, aber ausdrück-lich auch die größten Chancen. Deshalb setzen wir unsfür eine große gemeinsame Afrika-Initiative ein. Mit res-sourcenreichen Entwicklungsländern streben wir weitereRohstoffpartnerschaften an, die in beiderseitigem Inte-resse liegen. Sie versorgen unsere Wirtschaft mit dennötigen Rohstoffen, wir sorgen im Gegenzug durchTransparenz dafür, dass die Erlöse zum Wohle der Be-völkerung in unseren Entwicklungspartnerländern einge-setzt werden.In unserem Zehn-Punkte-Programm zur ländlichenEntwicklung und Ernährungssicherung verzahnt dieBundesregierung über ein abgestimmtes Vorgehen vonAuswärtigem Amt und BMZ effektive Nothilfe undlangfristig wirksame Vorsorgemaßnahmen, sei es in Da-daab in Kenia, im krisengeschüttelten Mali oder ganzaktuell in Za’atari in Jordanien.Ich habe diese Camps besucht. Sie alle kennen dieBilder; das Leid der Menschen ist fast unerträglich. Hierleistet Deutschland Soforthilfe mit Nahrungsmitteln oderunterstützt die Trinkwasserversorgung. Gleichzeitig aberarbeiten wir bereits an nachhaltigen Perspektiven für dieBetroffenen. Auch deshalb habe ich die E-10-Debatteangestoßen. Ich freue mich sehr darüber, dass die Euro-päische Union jetzt nachgezogen hat, um diesen Flä-chenkonflikt zwischen Tank und Teller für die Zukunftzu minimieren. Wenn hier Subventionen abgebaut wer-den, wenn hier starre Beimischungsquoten abgesenktwerden, wenn hier die nächste Generation von Biomasseals Energieträger dafür sorgt, dass die Früchte für dieNahrungssicherstellung gebraucht werden und die Restefür die Energieerzeugung genutzt werden, dann sind wirauf einem guten Weg und dann hat sich diese Debattegelohnt.Wir machen Schluss mit Hilfe, die Abhängigkeitenverstärkt. Dafür und für eine bessere Einbindung derWirtschaft haben wir uns in Busan erfolgreich einge-setzt. Außerdem machen wir endlich Schluss mit demSchubladendenken und entwickeln ganzheitliche An-sätze, die zugleich nachhaltig sind. Wir haben uns inter-national für den Zusammenhang, also für den Nexus
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zwischen Wasser-, Energie- und Ernährungssicherung,eingesetzt und befinden uns hier weltweit in einer Vor-reiterrolle.Wir schauen auch nicht mehr weg, wenn internatio-nale Organisationen Gelder ineffizient einsetzen. So ha-ben wir entschlossen durchgegriffen beim GlobalenFonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Ma-laria, was mir manche Kritik vonseiten der SPD einge-bracht hat. Aber jetzt gibt es dort solidere Strukturen, beidenen Mittelfehlverwendungen weitgehend ausgeschlos-sen sind. Jetzt können wir im nächsten Haushaltsjahrtatsächlich wieder 200 Millionen Euro zur Verfügungstellen. Wir sind unseren Steuerzahlerinnen und Steuer-zahlern schuldig, dass wir diese Gelder richtig einsetzen.
– Sie können noch so sehr krähen, Herr Raabe: Wir brau-chen in der EZ keine Bußprediger im Armani-Anzug,sondern wir brauchen effiziente Strukturen.
In der EU kämpfe ich für mehr Effizienz und stren-gere Standards, und zwar erfolgreich. In der „Agenda forChange“ ist es gelungen, die Entwicklungszusammenar-beit nach Wirksamkeit auszurichten. Die Budgethilfewird nur noch nach Menschenrechtskriterien und Men-schenrechtsstandards vergeben. Das zeigt, dass wir auchinternational unser Menschenrechtskonzept von 2011 ef-fizient und wirksam umgesetzt haben. Menschenrechtesind und bleiben das Leitprinzip unserer Entwicklungs-zusammenarbeit.Wir wollen Armut reduzieren, Menschen mobilisierenund Eigeninitiative und Innovationskraft freisetzen. Dasist unser Verständnis von einer wirksamen Entwick-lungszusammenarbeit. Der Haushaltsentwurf 2013 fürden Einzelplan 23 schreibt die Forderungen aus dem Ko-alitionsvertrag fort. Wir sind bei der Lieferung auf demrichtigen Weg. Wir setzen um, was diese Koalition sichfür diese Legislaturperiode vorgenommen hat.Vielen herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Bundesminister. – Nächste Redne-
rin in unserer Aussprache ist für die Fraktion der Sozial-
demokraten unsere Kollegin Dr. Bärbel Kofler. Bitte
schön, Frau Kollegin Dr. Kofler.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Herr Minister, der Satz in Ihrer Rede, dassman sich mit diesem Haushalt vorgenommen hat, dieEntwicklungspolitik voranzubringen, war im Grundevorhersehbar. Es ist wie bei jedem Haushalt: Die Redezur Einbringung des Haushalts strotzt vor Eigenlob. Siehaben am Anfang Ihrer Rede den Eindruck erweckt, alshätten Sie die Entwicklungszusammenarbeit neu erfun-den und als sei vor Ihrer Zeit alles nicht effizient gewe-sen, alles nicht mit den Partnern abgestimmt gewesen,als hätte man Gelder in irgendwelche diffusen multilate-ralen Töpfe gesteckt. Sie versuchen jedes Mal, es so dar-zustellen. Aber jedes Mal ist es falsch und eine Diffa-mierung all derer, die vor Ihrer Amtszeit im BereichEntwicklungspolitik gearbeitet haben.
Transparenz ist ein Wort, das man im Zusammenhangmit Ihnen und Ihrem Haus eigentlich nicht allzu oft ge-brauchen darf. Ich finde es aber gut, dass Sie für Trans-parenz gesorgt haben, indem Sie der Kanzlerin die Ver-antwortung für die Erreichung des 0,7-Prozent-Zielsgegeben haben; denn die Kanzlerin hat die Verantwor-tung dafür, genauso wie Sie und die Bundesregierunginsgesamt. Mich hätte interessiert, wie Sie es angesichtsdieses Haushaltsentwurfs für 2013, der zeigt, dass Siemeilenweit vom 0,7-Prozent-Ziel entfernt sind, in denHaushaltsjahren 2014 und 2015 schaffen wollen, das0,7-Prozent-Ziel bis 2015 zu erreichen. 2014 und 2015müssen Sie das zwar nicht mehr verantworten, weil Siedann nicht mehr Entwicklungsminister sein werden, aberinteressiert hätte mich schon, wie Sie sich das vorstellen.
Diese Frage muss sich die gesamte Bundesregierungstellen, insbesondere Sie und die Kanzlerin.
Hören Sie doch auf mit dem vorhersehbaren Gewäschvon einem Rekordhaushalt. Auch Herr Schäuble hat ges-tern versucht, das so darzustellen; wahrscheinlich habenSie ihm das aufgeschrieben. Sie haben den Haushalts-ansatz für die mittelfristige Finanzplanung im Bereichder Entwicklungszusammenarbeit gekürzt. Da Sie dieAbsenkung dann aber nicht so stark vorgenommen ha-ben, wie Sie es selber geplant haben, reden Sie immervon tollen Aufwüchsen.In den vier Jahren, in denen Sie das Ministerium lei-ten, ist das Haushaltsvolumen um 600 Millionen Eurogestiegen – in vier Jahren, nicht in einem Jahr, wie dasimmer dargestellt wird. Wenn man sich anschaut, um wieviel das Haushaltsvolumen von 2008 zu 2009 gestiegenist – es gab einen Aufwuchs von 600 Millionen Euro –,dann stellt man fest, dass Sie für dieselbe Summe vierJahre gebraucht haben. So viel zum Thema Rekordhaus-halt.
Thema Wirksamkeit. Auch das haben Sie nicht erfun-den. Kein Mensch möchte, dass Gelder zweckentfremdetverwendet werden, dass sie nicht zielgerichtet für Ar-mutsbekämpfung verwendet werden, dass sie nicht ziel-gerichtet im Zusammenhang mit den riesigen Herausfor-derungen, denen sich die Entwicklungspolitik zu stellenhat, eingesetzt werden. Ich hätte gerne einmal etwas überdie großen Herausforderungen gehört, und zwar mehrals das, was man in Sonntagsreden hört.
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Dr. Bärbel Kofler
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Was sagen Sie denn dazu, dass 1,5 Milliarden Men-schen auf dieser Erde noch keinen Zugang zu elektri-scher Energie haben? Schließlich ist das ein wichtigerAspekt, wenn es um die persönliche Entwicklung derMenschen, aber auch um die wirtschaftliche Entwick-lung der Länder geht. Wir müssen das hinbekommen,aber angesichts des Klimawandels auch darauf achten,dass diese Entwicklung möglichst CO2-arm erfolgt. Wirmüssen im Grunde ganze Industriezweige, insbesonderedie aufstrebenden, hinsichtlich ihrer Energieversorgungumstellen. Das sind Herausforderungen, denen sich dieEntwicklungspolitik genauso wie die Umweltpolitikstellen muss. Dazu hätte ich gerne von Ihrer Seite etwasgehört.
Was sagen Sie denn zu den Zahlen im Bereich Bil-dung, die die UNESCO herausgibt? Auch dabei geht esum Wirksamkeit. Man weiß, dass 13 Milliarden US-Dol-lar fehlen, um das Thema Grundbildung in den Griff zubekommen. Es geht um die Frage, wie wir es schaffen,dass bis 2015 1,9 Millionen neue Lehrerstellen geschaf-fen werden, damit das Menschenrecht auf Grundbildung,dem wir uns im Rahmen der Millenniumsziele gemein-sam verpflichtet haben, gewährleistet werden kann.Diese Fragen kann man doch nicht mit der simplenFeststellung „Wir sind ein bisschen wirksamer“ abwür-gen. Dazu muss man selbstverständlich Geld in die Handnehmen, auch was die Unterstützung von internationalenOrganisationen angeht. Man muss das koordiniert, abge-stimmt mit den Partnern und auch verlässlich tun. Mandarf nicht so verfahren: einmal raus aus den Kartoffeln,einmal rein in die Kartoffeln, sondern man muss sichwirklich mit den Partnern zusammenraufen und hier umgute Lösungen ringen.Global Partnership for Education sagt ganz klar, erfor-derlich seien bis 2014 wenigstens 8 Milliarden US-Dol-lar, finanziert teilweise von den Partnerländern, teilweisevon den Geberländern. Es geht also um eine gemeinsameAktion, bei der die Partnerländer auch mit in die Verant-wortung genommen werden, um wenigstens 25 Millio-nen Kindern Zugang zu einer Grundbildung zu ermögli-chen. Das ist noch weit von dem entfernt, was wireigentlich bis 2015 erreichen wollten. Mit diesem Geldsollen 600 000 neue Lehrer ausgebildet werden – Stich-wort: Qualität in diesem Bereich – und 50 MillionenSchulbücher zur Verfügung gestellt werden. Dem kannman nicht in der Art und Weise begegnen, wie Sie eshier in der Debatte tun, indem Sie sagen: Dafür braucheich kein Geld; da verbessern wir ein bisschen die Wirk-samkeit. – Das kann ich so nicht stehen lassen. Es hatauch etwas mit Wirksamkeit zu tun, hier effizient inter-nationale Strukturen zu stärken, um wirklich armuts-bekämpfend und entwicklungsorientiert arbeiten zu kön-nen.
Vor diesem Hintergrund ist vielleicht auch die Fest-stellung zu verstehen, die von Entwicklungsorganisatio-nen wie Welthungerhilfe und Terre des Hommes im19. Bericht zur Wirklichkeit der Entwicklungshilfe ge-troffen worden ist. Sie stellen Ihnen und Ihrer Regierungim Bereich Wirksamkeit kein so gutes Zeugnis aus, wieSie das selbst immer machen. Sie sagen nämlich ganzdeutlich – ich zitiere –:Die Bundesregierung setzt neue Schwerpunkte, an-statt die Vereinbarung der letzten Jahre konsequentumzusetzen, um so die Wirksamkeit ihrer Hilfe zuerhöhen. Die starke Fokussierung auf kurzfristigeErgebnisse birgt enorme Risiken für die Entwick-lungsländer, die bedacht werden müssen.Sehr wahr! Das finde ich sehr richtig. Das ist das, wo-rüber wir hier streiten und nachdenken müssen, anstattuns immer selbst zu beweihräuchern, wie das in IhrerRede ja wieder einmal zum Ausdruck kam.
Ich würde mir wünschen, dass Sie im letzten JahrIhrer Amtsführung die wirklich entscheidenden Themender Entwicklungspolitik angehen, dass Sie die interna-tionale Zusammenarbeit wirklich verstärken und verbes-sern. Sie spielen da nämlich keine so tolle Rolle. Manhört in allen Gesprächen, dass Deutschland sich aus die-sem internationalen Diskurs zurückgezogen hat undeben keine eigenen Pflöcke mehr einschlägt und selbstkeine Zusammenhänge mehr aufzeigt. Wo sind Sie in derDebatte um das Thema Nahrungsmittelspekulation,wenn es um die Frage geht, wie wir da internationale Re-geln setzen wollen? Wo sind Sie in der Debatte um dieRegulierung der Finanzmärkte? Nirgends. Ich hätte vomEntwicklungsministerium gerne einmal konkrete Aussa-gen dazu gehört, wie wir die notwendigen Rahmenbe-dingungen setzen können, damit die Menschen nicht im-mer mehr in Armut abgleiten und damit die Entwicklungweiter vorangebracht werden kann.
Ich habe das Thema Klima schon angesprochen. Esist ebenso wie Energieversorgung und Bildung einegroße Herausforderung.Wo sind Sie in der Frage des Aufbaus von Staatlich-keit, wenn es darum geht, in den Partnerländern zu in-vestieren, um Steuersysteme zu etablieren, aber auch umden Zugang zum Beispiel zu medizinischer Versorgungsicherzustellen? Es geht nicht an, dass Sie den GlobalFund hier noch einmal vor versammeltem Hause bashen,obwohl Sie wissen, dass das eine Organisation ist, dieeffizient arbeitet, die sehr vielen Menschen das Lebengerettet hat, die sich selbst evaluiert und gleichzeitig sotransparent ist, dass sie Fehlentwicklungen bei derZusammenarbeit mit Partnerländern selbst aufzeigt undMissstände selbst abstellt. Das würde ich bei IhrerRegierung gerne einmal erleben.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Bärbel Kofler. –
Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist für die Frak-
tion der CDU/CSU unsere Kollegin Frau Dagmar
Wöhrl. Bitte schön, Kollegin Dagmar Wöhrl.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!Frau Kofler, ich habe Ihnen aufmerksam zugehört. Wäh-rend Ihrer Rede habe ich mir gedacht: Wo sind denn IhreLösungsvorschläge? Sie haben Probleme angesprochen;das ist verständlich. Sie haben, wie es sich für die Oppo-sition gehört, angegriffen. Das ist normal; das machtjede Opposition. Aber wo sind Ihre Lösungsvorschläge?Ich erwarte von einer Opposition auch, dass sie sagt, wiesie die Probleme, die sie selbst anspricht, lösen will.
Frau Dr. Kofler, wir alle haben Wünsche. Auch wirwürden in diesen Haushalt gern noch mehr Geld einstel-len; das ist doch überhaupt kein Thema. Aber Sie müs-sen uns eines zugestehen: Wir konnten diesen Haushaltverstetigen. Wir konnten einen leichten Zuwachs errei-chen. In diesen Zeiten, in denen Haushaltskonsolidie-rung das Ziel ist, ist diese Entwicklung gut, wichtig undpositiv.Sie müssen doch auch berücksichtigen: Wenn Siemehr Geld wollen, um Wünsche und Vorstellungen zurealisieren, müssen Sie auch sagen, woher das Geldkommen soll.
Es müsste an einer anderen Stelle aus dem Haushalt ge-nommen werden. Das heißt, an einer anderen Stelle wärewieder ein Loch; dort würde dann das Geld fehlen.Sie haben von Effizienz gesprochen. Es ist wahr: Wirmüssen mit dem Geld die richtigen Akzente setzen. Wirmüssen darauf achten, dass wir dieses Geld effizient ein-setzen. Wir müssen die richtigen Strategien entwickelnund immer wieder überprüfen.Wir wissen, dass Entwicklungspolitik und wirtschaft-liche Zusammenarbeit von Nachhaltigkeit leben. Wir ha-ben viel erreicht. Wir sind auf einem guten Weg. Die Ko-alitionsvereinbarung trägt maßgeblich die Handschriftder Union, vor allen Dingen die des Kollegen Ruck – ichsehe ihn hier gerade in der ersten Reihe sitzen –, der dieKoalitionsverhandlungen zu diesem Thema mitgeführthat. Wir haben viel erreicht. Alles, was von uns in dieVereinbarung geschrieben worden ist, ist auf einem gu-ten Weg: eine bessere Ergebnisorientierung, mehr Betei-ligung der privaten Wirtschaft, Verbesserung und Re-form der Strukturen der Entwicklungszusammenarbeit.International werden wir hinsichtlich der Durchfüh-rungsorganisationen gelobt. Gestern war der Präsidentder Weltbank zu Besuch. Er war voll des Lobes dafür,wie wir die Strukturen in diesem Bereich veränderthaben. Das kommt doch nicht von ungefähr. Sie müssenzugeben, dass wir inzwischen besser aufgestellt sind,auch hinsichtlich Notsituationen, zum Beispiel Dürrenund Katastrophen, mit denen wir nicht rechnen können,wenn wir den Haushalt aufstellen. In einer solchen Si-tuation muss man flexibel reagieren und ganz schnellGeld zur Verfügung haben. Nehmen Sie das BeispielSyrien. Über 200 000 Menschen sind auf der Flucht indie Nachbarländer, über 50 000 allein nach Jordanien.Auch da müssen wir aktiv werden. Beim Aufstellen desletzten Haushalts konnten wir das noch nicht ahnen.Trotzdem haben wir hier Geld zur Verfügung gestellt,weil es notwendig war, die Gesundheitsversorgung unddie Trinkwasserversorgung in den Flüchtlingslagern auf-rechtzuerhalten.Entwicklungspolitik heißt immer, Strategien auf denPrüfstand zu stellen. Das ist richtig. Entwicklungspolitikwird sich immer verändern, sie wird nie so bleiben, wiesie heute ist. Deswegen finde ich es gut, dass wir ver-schiedene neue Institutionen auf den Weg gebrachthaben, zum Beispiel „Engagement Global“. Wir habenjetzt eine Servicestelle für Bürgerengagement. Wir wis-sen, dass die Politik viel erreicht hat, aber die Politik istnichts ohne die Organisationen. Sie ist nichts ohne dieKirchen, ohne die Stiftungen und ohne die vielen NGOs,die auf der Welt aktiv sind und die bestimmt viel größe-ren Anteil an funktionierenden Projekten haben, als wirPolitiker überhaupt haben können. Ich glaube, man mussdiesen vielen Organisationen, deren Mitarbeiter größten-teils ehrenamtlich tätig sind, ein Dankeschön sagen.
Wir alle kommen aus Städten und Kommunen. Wirwissen: Alle unsere Städte und Kommunen haben Part-nerschaften, und viele haben Partnerschaften mit Städtenund Kommunen in Entwicklungsländern. Die Kommu-nen machen hier eine sehr gute Arbeit. Sie geben dorthinihr Wissen und ihr Know-how. Sie tragen mit dazu bei,dass sich dort eine gewisse Stabilität entwickelt. Deswe-gen finde ich es richtig, dass wir Geld in die Hand neh-men, um die Kommunen hierbei erstmals zu unterstüt-zen. Es könnte ein bisschen mehr sein; das ist klar. Aberes ist ein erster Schritt, den wir richtigerweise gemachthaben.Partnerschaften sind wichtig. Sie, Frau Dr. Kofler,haben das angesprochen. Es ist vollkommen richtig: Wirbrauchen Partnerschaften mit den Entwicklungsländernund mit den Schwellenländern, und keiner soll auf denanderen herabschauen. Für diese Partnerschaften brau-chen wir aber auch die Wirtschaft. Denn nur zusammenmit der Wirtschaft können wir in der Zukunft das Ziel„Handel statt Hilfe“ erreichen. Nehmen Sie als BeispielAfrika. In Afrika sind inzwischen 700 deutsche Unter-nehmen aktiv. Sie machen keinen schlechten Umsatz; erliegt bei etwa 32 Milliarden Euro. Aber viel wichtigerist, dass sie dort 200 000 Arbeitsplätze schaffen. Damitkönnen viele Familien ernährt werden, Kinder können in
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Dagmar G. Wöhrl
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die Schule gehen, es gibt eine Gesundheitsversorgungusw.Es kann doch nicht schlecht sein, diese Entwicklungzu fördern und noch mehr Betriebe, vor allem mittelstän-dische, zu ermutigen, in diesen Ländern aktiv zu werden.Deswegen ist es richtig, dass wir an den Handwerkskam-mern Trainingsmaßnahmen durchführen und dass wirentsprechende Scouts haben. Ich spreche viel mit mittel-ständischen Unternehmern. Ich merke, dass wir in die-sem Bereich noch viel mehr machen müssen. Hier tutAufklärung not. Manche von ihnen wissen nämlichüberhaupt nicht, welche Chancen sich in den Entwick-lungsländern eröffnen.Trotz aller Erfolge, die wir zu verzeichnen haben,stellen wir fest, dass oft ein explosives Gemisch entsteht:aus Katastrophen, Dürren, Hungerkrisen, Klimawandelund vielem mehr. Sicherlich haben wir inzwischengelernt, auf Katastrophen besser zu reagieren als in derVergangenheit, und wir handeln präventiver. Trotzdem:Es gibt immer noch 18 Millionen Menschen in Mali, inBurkina Faso und im Tschad, die hungern. Es leben925 Millionen Menschen auf der Welt, die unterernährtsind. Die Hälfte von ihnen sind Kleinbauern; das kannman sich oft gar nicht vorstellen. Man fragt sich: WiesoBauern? Bauern müssen doch etwas anpflanzen können.Wieso leben sie unterhalb der Armutsgrenze? Das mussuns zu denken geben. Das zu ändern, ist unsere Aufgabeund unsere Herausforderung.Die Welternährungsorganisation, die FAO, und vieleExperten sagen voraus, dass wir in den nächsten Jahreninfolge von Nahrungsmittelengpässen und Wasser-knappheit mit gewaltsamen Auseinandersetzungen – ichwiederhole: mit gewaltsamen Auseinandersetzungen –rechnen müssen. Auch dies ist eine große Herausforde-rung, die wir nur gemeinsam bewältigen können. Dasschafft keine Regierung allein. Diese Herausforderungkönnen wir nur gemeinsam als Parlament in Zusammen-arbeit mit internationalen Organisationen bewältigen.Wir wissen um die Probleme, die mit Preissteigerun-gen bei Nahrungsmitteln einhergehen; Sie haben sie an-gesprochen. Man muss sich nur vor Augen führen, dassder Reispreis in den letzten Tagen teilweise um 30 Pro-zent gestiegen ist. Auch der Weltbankpräsident hat, alser gestern in Berlin war, vor dem Riesenproblem stei-gender Nahrungsmittelpreise gewarnt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, 2,9 MilliardenMenschen auf der Welt müssen von weniger als 2 Dollarpro Tag leben. Sie müssen 50 bis 80 Prozent ihres Ein-kommens für Nahrungsmittel ausgeben; in Deutschlandsind es im Vergleich dazu 10 Prozent. Preissprünge beiNahrungsmitteln sind für diese Menschen also lebens-bedrohlich. Sie stecken sie nicht so einfach weg. Umsich auch in Zukunft ernähren zu können, müssen siebeispielsweise ihre Kinder von der Schule nehmen oderdarauf verzichten, zu einem Arzt zu gehen.Diese Probleme haben natürlich viele Ursachen; dasist klar. Wir alle wissen: Dazu gehören insbesondereDürren und Ernteausfälle, wie sie derzeit auch in denUSA oder in Osteuropa zu beobachten sind. Außerdemmuss man bedenken, dass die Zahl der Menschen auf derWelt immer weiter steigt. Tag für Tag kommt es zueinem Zuwachs um 231 000 Menschen. Das entsprichteiner Steigerung um 78 Millionen Menschen pro Jahr.Auch diese Menschen brauchen Nahrung.Hinzu kommt: Heute haben die Menschen ganzandere Konsumgewohnheiten als in der Vergangenheit.Wie Sie wissen, hat sich in manchen Schwellenländernwie Indonesien und China ein Mittelstand entwickelt;das hätte man sich vor einigen Jahren überhaupt nichtvorstellen können. Die Eltern und Großeltern der heutelebenden Generation hatten ganz andere Nahrungsge-wohnheiten. So wurden im Jahre 1990 in China jährlich26 Kilogramm Fleisch pro Person verbraucht; inzwi-schen sind es jährlich 56 Kilogramm pro Person. Das hatnatürlich auch zur Folge, dass die für den Futteranbaunotwendigen Agrarflächen heutzutage größer sind alsdamals.Die Biospritpflanzen sind bereits angesprochen wor-den. Es ist gut, dass diese Diskussion geführt wird. Aufeines möchte ich allerdings hinweisen: In Deutschlandwurden im vergangenen Jahr nur 4 Prozent der hiesigenGetreideernte für die Produktion von Biosprit genutzt;das entspricht einem Anteil an der weltweiten Getreide-ernte in Höhe von 0,1 Prozent. Deutschland ist also nichtdas Problem. Es ist gut, dass die Europäische Union vorkurzem einen entsprechenden Entwurf vorgelegt hat;denn wir müssen auf diesem Gebiet weitere Fortschritteerzielen. Aber auch die USA müssen ihrer Verantwor-tung gerecht werden; denn dort werden fast 40 Prozentder Maisernte für die Herstellung von Biosprit genutzt.Ich möchte zum Schluss ganz kurz auf ein Thema zusprechen kommen, das mir und, wie ich glaube, auch derOpposition sehr am Herzen liegt: die Spekulationen mitAgrarrohstoffen. Diese Spekulationen haben sich inzwi-schen zu einem Preistreiber entwickelt, der überhand-nimmt und dessen Bedeutung nicht unterschätzt werdendarf.
Warenterminbörsen sind wichtig; überhaupt kein Thema.Es hat sie immer gegeben. Gerade für Landwirte sind sievon Bedeutung, weil sie ein Mittel sind, um Preis-schwankungen vorzubeugen. So wissen die Landwirte,welche Preise sie, wenn sie ernten, auf dem Markt erzie-len. Inzwischen haben Spekulationen mit Agrarrohstof-fen allerdings exzessive Ausmaße angenommen. Mankann es auch so sagen: Ein wirklich sinnvolles Marktin-strument ist zu einer Perversion verkommen.
80 Prozent der Anleger haben mit physischen Roh-stoffen wie Getreide, Hirse und Mais überhaupt nichtszu tun. Die Zahl der Terminkontrakte an der ChicagoBoard of Trade hat sich in den vergangenen zehn Jahrenallerdings verfünffacht, während die Erntemenge imgleichen Zeitraum gleich geblieben ist. 2011 wurden76 Millionen Tonnen Weizen gehandelt und damit fast
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Dagmar G. Wöhrl
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das 8,5-Fache der Jahresernte, die nämlich nur 9 Millio-nen Tonnen betrug.Hier müssen wir aktiv werden, vor allem auch inter-national bei unseren Partnern. Frau Dr. Kofler, Sie habenvollkommen recht: Hier müssen wir den Finger in dieWunde legen und schauen, dass die Märkte für Derivateauf Agrarprodukte transparenter und die Kontrollmecha-nismen verstärkt werden. Wie gesagt: Ich hoffe, dass wirdieses Thema weiterhin gemeinsam auf der Agenda ha-ben und dass wir hier weiterhin den Finger in die Wundelegen.
Ich möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich für dieZusammenarbeit bedanken – auch im Ausschuss. Es istganz klar: Wir führen hier Debatten, in denen man sichangreifen muss. Ich glaube aber, wir sind ein Ausschuss,der – und das zeichnet ihn aus – ein gemeinsames Zielhat und der an diesem gemeinsamen Ziel arbeitet. Sicherhat der eine oder andere eine andere Vorstellung davon,wie man dieses Ziel erreichen kann; aber es ist ein pro-duktiver Ausschuss, der wirklich im Interesse der Ärms-ten handelt, und dafür möchte ich mich herzlich bedan-ken.Vielen Dank fürs Zuhören.
Vielen Dank, Frau Kollegin Dagmar Wöhrl. –
Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist für die Frak-
tion Die Linke unsere Kollegin Frau Heike Hänsel. Bitte
schön, Frau Kollegin Hänsel.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wirdiskutieren heute den Entwicklungshaushalt. Paralleldazu sind aber alle Augen nach Karlsruhe gerichtet, umdas Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu hören.Auch unsere Fraktion, Die Linke, hat geklagt, um die de-mokratischen Grundrechte, auch die des Parlaments, zuverteidigen.
Herr Niebel, Sie haben gestern in der Leipziger Volks-zeitung gesagt, die Euro-Stabilisierung geschehe auch,um mehr Geld für die Entwicklungsländer zur Verfü-gung zu haben. Ein stabiler Euro sei auch für die Ent-wicklungs- und Schwellenländer wichtig. Sie lassen da-bei aber einfach weg, dass die europäischen Staaten jetztirrwitzige Milliardenbeträge für diese sogenannte Euro-Stabilisierung zahlen und diese Mittel langfristig binden,dass die eingeführte Schuldenbremse auch dazu führenwird, dass in den nächsten Jahren viel weniger Geld fürEntwicklung und für Soziales zur Verfügung stehenwird, und dass diese Politik vor allem Vermögende undBanken sowie das System der Spekulation und derZockerei an den Finanzmärkten weiter stabilisiert, wor-unter gerade die Entwicklungsländer leiden, zum Bei-spiel aufgrund von Nahrungsmittelspekulationen, unddie Kluft zwischen Arm und Reich noch weiter vertieftwird.Laut Le Monde diplomatique gibt es heute weltweitetwa 63 000 Personen, deren Privatvermögen zusammen40 Billionen Dollar und damit dem gesamten jährlichenBruttoinlandsprodukt aller Staaten der Welt entspricht.Was kann hier nur die Antwort sein? Sie lautet: Umver-teilen von Reichtum in Deutschland, in Europa und welt-weit,
und zwar durch Vermögensabgaben, eine Millionärs-steuer und eine Finanztransaktionsteuer und natürlichdurch das Schließen von Steueroasen; denn dort liegt einGroßteil dieser Billionen. Das wäre die beste Form vonEntwicklungspolitik.
Unter dem Stichwort „Umfairteilen“ wird es am29. September 2012 in vielen Städten Deutschlands ei-nen bundesweiten Aktionstag geben. Ich kann nur alleeinladen: Beteiligen Sie sich daran! Vergessen Sie dieTelefonnummer von Herrn Niebel! Gehen Sie auf dieStraße!
Übrigens fordern auch die Vereinten Nationen in ih-rem Weltwirtschafts- und Sozialbericht, Milliardäre end-lich zur globalen Bekämpfung von Armut, Hunger undKlimawandel heranzuziehen. Sie, Herr Niebel, habenaber die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Sie glauben wei-terhin an die Finanzmärkte, erzählen uns das Märchenvon der Euro-Rettung, setzen in der Entwicklungsfinan-zierung immer mehr auf Marktmittel und machen sichvon Spekulationen abhängig. Sie entwickeln eine virtu-elle ODA-Quote – sie entspricht gar nicht mehr dem rea-len Geld –, weil Sie sie mit Hebelung und Marktmittelnimmer mehr aufblähen, aber real sinkt der Entwick-lungsetat. Damit streuen Sie Sand in die Augen der Be-völkerung.Unabhängig von der Höhe des Etats setzen Sie vor al-lem falsche Prioritäten. Ich möchte hierzu beispielhaftdie Förderung der entwicklungspolitischen Bildungs-arbeit in Deutschland erläutern. Das ist ein relativ klei-ner Posten – leider –, dessen Etatmittel auch noch ge-kürzt werden, obwohl die entwicklungspolitischeBildungsarbeit ein ganz wichtiges Feld ist. Denn wirwerden Entwicklung nur erreichen, wenn wir auch dieStrukturen hier im Norden, in unseren Ländern verän-dern. Über die Bildungsarbeit erreichen wir viele Ju-gendliche. Wir können sie anstoßen, einmal darübernachzudenken, in welcher Welt wir leben, und sich zuengagieren.Das ist ein wichtiges Feld. Sie aber ziehen immermehr Geld aus diesem Bereich für aufwendige Großver-anstaltungen ab, für Ihre Auftritte, die groß inszeniertwerden, auch die von anderen FDP-Ministern. Das dient
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22966 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 191. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. September 2012
Heike Hänsel
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mehr der Profilierung Ihrer Partei, aber eben nicht dazu,das Bewusstsein für Entwicklung zu fördern.
Sie, Herr Niebel, setzen mit den Steuergeldern ein Jahrvor der Bundestagswahl auf Werbung statt auf Bildungund Aufklärung.Sie waren vor kurzem in Afghanistan. Sie haben indiesem Zusammenhang festgestellt – das habe ich gele-sen –, dass mittlerweile alle vereinbarten Ziele der Ent-wicklungszusammenarbeit in Afghanistan erreicht wor-den seien. Das ist ja unglaublich und eine reineGesundbeterei. Egal ob Sie sich den Human Develop-ment Index, der den Grad menschlicher Entwicklungmisst, anschauen, oder ob Sie sich die Daten zu Lebens-erwartung, Kindersterblichkeit oder Wasserversorgungansehen: Afghanistan belegt nach wie vor überall einender letzten Ränge weltweit. Von Fortschritt kann dakeine Rede sein – und das mehr als zehn Jahre nach demISAF-Einsatz und dem sogenannten Wiederaufbau inAfghanistan. Für diese Politik sind Sie mitverantwort-lich.
Die Bundesregierung setzt nämlich in Afghanistanauf die Verbesserung der Bedingungen für die Privat-wirtschaft, auf die Liberalisierung der Märkte. Davonprofitieren vor allem die Eliten in Afghanistan, aber we-niger die breite Bevölkerung, die nach wie vor in großerArmut lebt. Sie haben als Kriegspartei die korrupte af-ghanische Regierung, verbrecherische Warlords undFundamentalisten im Land noch gestärkt. Deshalb giltnach wie vor: Dieses geschundene Land Afghanistanbraucht den Abzug der Truppen sofort und eine neueAfghanistan-Politik, die sich endlich den demokrati-schen, fortschrittlichen Kräften dieses Landes zuwendet.
Die Bundesregierung hätte dazu die Möglichkeit:Jetzt, im September, hat sie den Vorsitz im Sicherheitsratder Vereinten Nationen inne und könnte eine Friedens-politik anstoßen. Das wäre die beste Form von Entwick-lungspolitik.Stattdessen, Herr Niebel, setzen Sie und die Bundes-regierung weiterhin auf weltweite Militäreinsätze, aufRüstungsexporte in Krisenregionen mit massiven Men-schenrechtsverletzungen. Sie schütteln schon einmalgern als Erster einem Putschpräsidenten die Hand wie inParaguay. Sie sind für die Durchsetzung von Wirt-schaftsinteressen, auch mit militärischem Einsatz.
Wir brauchen aber keine weitere Militarisierung, HerrNiebel. Wir brauchen auch keine alten Bundeswehrmüt-zen in Afrika, die militärisches Denken exportieren. Wirbrauchen eine aktive Friedens- und Entwicklungspolitik.
Vielen Dank, Frau Kollegin Heike Hänsel. – Nächster
Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen unser Kollege Thilo Hoppe. Bitte
schön, Kollege Thilo Hoppe.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Stellen Sie sich einmal vor, ein Vater verhandelt mit sei-nem Kind über die Höhe des Taschengelds. Das Kind,schon fast 18 Jahre alt, bekommt 100 Euro im Monat,möchte aber mehr haben. Dem hatte der Vater schongrundsätzlich zugestimmt.Nun wird es konkret. Der Vater sagt mit gönnerhafteMiene: Du bekommst eine Erhöhung von 6 Euro und6 Cent. – Das Kind freut sich; denn es addiert und rech-net jetzt mit einem monatlichen Taschengeld von106,06 Euro. Doch da hat es sich leider zu früh gefreut;denn es bekommt tatsächlich nur 6 Cent mehr. Als esden Vater auf diese merkwürdige Differenz anspricht,hört es dann folgende Erklärung: Ja, mein Sohn, dumusst wissen: Eigentlich hatte ich vorgehabt, dein Ta-schengeld um 6 Euro zu kürzen. Aber darauf verzichteich jetzt großzügig und packe sogar noch 6 Cent drauf.
Ein solcher Rechentrick wäre absurd. Aber genausoabsurd war eine Pressemitteilung aus dem Hause Niebel,als die Eckwerte dieses Haushalts beschlossen wurden.Denn da war von einer Steigerung um über 600 Millio-nen Euro – auf der Homepage sogar um 733 MillionenEuro – die Rede. Dummerweise fielen einige Journalis-ten darauf herein und haben diese Falschmeldung auchnoch verbreitet. Denn bei genauerem Hinsehen entpupptsich diese – in Anführungszeichen – „Steigerung“ alsVerzicht auf eine angeblich geplante Kürzung.
Als seriöse Referenzgröße kann man doch nicht die vagemittelfristige Finanzplanung heranziehen. Aussagekräf-tig ist doch allein der Vergleich der Zahlen des altenHaushalts mit denen des neuen Haushalts.
Wir brauchen nicht darum herumzureden: Es gibt ei-nen winzig kleinen Aufwuchs um 0,6 Prozent. Das sind37,5 Millionen Euro, und das entspricht – ich habe dasgenau ausgerechnet – in dieser Taschengeldrelation denschon erwähnten 6 Cent im Monat. Inflationsbereinigtkann man sogar sagen: Der Haushalt stagniert oder gehtsogar leicht zurück.Der Minister sagt immer stolz – das haben wir auchheute gehört –: Wir sind der zweitgrößte Beitragszahler. –Ich habe dazu schon sehr ärgerliche Reaktionen der Kol-legen aus Schweden, Norwegen und Dänemark gehört.Denn sie finden diesen Vergleich gar nicht witzig. Es istdoch völlig klar, dass ein kleines Land in absoluten Zah-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 191. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. September 2012 22967
Thilo Hoppe
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len weniger zahlt als ein großes Land. Vergleichbar istdoch nur der prozentuale Anteil am Bruttosozialprodukt,den ein Land zahlt, um Hunger und extreme Armut zubekämpfen. Dabei liegt Deutschland mit einer ODA-Quote von 0,4 Prozent nur auf Platz zehn in der Europäi-schen Union.Herr Minister, ich will auf den bildlichen Vergleichmit der Gewichtsklasse nicht näher eingehen. Nur soviel: Wir boxen überhaupt nicht in der Gewichtsklasse,die uns zustehen würde.
Denn gerade Deutschland hat im Gegensatz zu vielenanderen Ländern Europas die Wirtschaftskraft, seineninternationalen Verpflichtungen gerecht zu werden. Aberes duckt sich weg.Wir sind gefragt worden, wie wir das finanzieren wol-len. Mit einem Anstieg der Steuermehreinnahmen um42,8 Milliarden Euro 2011 und weitere 4,6 MilliardenEuro in diesem Jahr wäre es doch ein Leichtes, einengrößeren Betrag zu zahlen, um tatsächlich Hunger,extreme Armut und Aids einzudämmen und mehr fürden internationalen Klimaschutz zu leisten.Doch diese Regierung – ich muss es leider so dras-tisch sagen – spart bei den Ärmsten der Armen und er-zählt trotzdem immer wieder das Märchen, sie halte andem Ziel fest, bis 2015 eine ODA-Quote von 0,7 Prozenterreichen zu wollen. Dies ist schlicht unmöglich. Spätes-tens mit dem Haushalt, der jetzt vorgelegt wird, ist völligklar, dass dieses Versprechen gebrochen worden ist.In der Euro-Krise wird Deutschland seiner Führungs-rolle nicht gerecht, und in der Entwicklungspolitik leiderauch nicht.
Im letzten Jahr sind – das ist ein alarmierendes Signal –die Ausgaben für Entwicklungszusammenarbeit welt-weit erstmals seit sehr langer Zeit um 2,7 Prozent gesun-ken. Das hängt damit zusammen, dass Länder wieSpanien, die jetzt selber in der Krise sind, ihr entwick-lungspolitisches Engagement enorm zurückgefahren ha-ben. Das trifft die ärmsten Entwicklungsländer beson-ders hart, die ohnehin schon überproportional unter denAuswirkungen der Euro- und Schuldenkrise leiden.Man kann also sagen: Die Folgen der Krise werdenimmer weitergegeben, bis sie zum Schluss dieSchwächsten der Schwachen am härtesten treffen. Daskann man auch daran sehen, dass die Programme zur Be-kämpfung der Hungersnöte in Ostafrika und in der Sa-helzone chronisch unterfinanziert sind. Hier mussDeutschland gegensteuern, gerade weil Deutschlandauch jetzt, in dieser Krise, wirtschaftlich am besten da-steht und durchaus die Möglichkeiten hätte.Klar, in dieser Haushaltsdebatte fordert unsere Frak-tion auch Sparmaßnahmen in einigen Bereichen, bei-spielsweise im Verteidigungshaushalt, der sechsmal hö-her ist als der Entwicklungsetat, und im Agrarhaushalt.Wir fordern die Streichung von umweltschädlichen Sub-ventionen. Aber es gibt auch Bereiche, in denen nachge-bessert und mehr Geld investiert werden muss. Wir ha-ben einen Haushaltsvorschlag vorgelegt, der genaudieses Umsteuern bewirkt, der an der einen Stelle nimmtund an der anderen Stelle mehr gibt und der seriös ge-gengerechnet ist. Wir können den Beweis erbringen,dass die 1,2 Milliarden Euro mehr pro Jahr für Entwick-lungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe – das ist auchdie Forderung von 60 Prozent der Parlamentarier hier indiesem Hause – wirklich seriös gegenfinanziert werden.Wir betreiben eine werteorientierte Politik. Das spiegeltsich in unserer Haushaltspolitik wider. Das fehlt leiderbei der Koalition. Wir hoffen, dass wir im nächsten Jahrdie Gelegenheit haben, unsere seriösen Vorschläge tat-sächlich umzusetzen.Ich danke Ihnen.
Vielen Dank, Kollege Hoppe. – Nächste Rednerin in
unserer Aussprache ist für die Fraktion der FDP unsere
Kollegin Frau Dr. Christiane Ratjen-Damerau. Bitte
schön, Frau Kollegin Ratjen-Damerau.
Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident! Meine lie-ben Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Herr Hoppe, ich schätze Sie als Kollegen sehr. Aber ichfinde es schon sehr symptomatisch für Ihr Verständnisvon Entwicklungspolitik, dass Sie die Entwicklungslän-der in Ihrer traurigen Geschichte mit einem 18-jährigenabhängigen Sohn gleichsetzen.
Wir betrachten Entwicklungsländer als gleichberechtigtePartner
und nicht als minderjährige Abhängige, denen ihr Vaterdas Taschengeld zuteilt.
Deutschland ist eine wirtschaftlich gesunde undstarke Nation, die in Europa und in der Welt eine Stimmehat. Durch unsere Stärke wächst unser Einfluss, damitaber auch unsere Verantwortung in dieser Welt: Verant-wortung für ein stabiles Europa und Verantwortung fürden globalen Frieden. Einen großen Teil der Verantwor-tung für den globalen Frieden trägt das Bundesministe-rium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
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Dr. Christiane Ratjen-Damerau
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lung, kurz: das BMZ. Entwicklungspolitik ist einelangfristige und nachhaltig wirkende Investition in un-sere Zukunft. Sie hilft, europäische Werte und Standardszu verbreiten, fragile Staaten und Regionen zu stabilisie-ren, und sie gibt den Menschen eine Zukunft. Sie hilftweiterhin, den Klimawandel zu verhindern. Entwick-lungspolitik ist die beste und zugleich die effizientesteFriedens- und Sicherheitspolitik.
Herr Hoppe, Menschen, die für sich und ihre Familienselbstständig sorgen können, sowie politisch stabile Re-gionen sind der beste Garant gegen Krieg und Men-schenrechtskonflikte sowie gegen Gewalt und Hunger.Wie wichtig der Bundesregierung die Verantwortungfür den globalen Frieden ist, lässt sich am Entwurf desEinzelplans 23, also am Haushalt des BMZ, erkennen.
Der Etat des BMZ wächst in diesem Jahr noch einmalinsgesamt auf 6,4 Milliarden Euro. Die deutsche ODA-Quote – das ist der Anteil der öffentlichen Ausgaben fürEntwicklungszusammenarbeit, gemessen am Brutto-inlandseinkommen – steigt seit 2009 kontinuierlich undwird 2011 0,4 Prozent erreichen. Das ist der höchsteStand seit der deutschen Wiedervereinigung,
und das bei einem Wirtschaftswachstum von 3 Prozent.Damit befinden wir uns auf einem sehr guten Weg, dasinternational vereinbarte und mehrfach bekräftigteODA-Ziel von 0,7 Prozent zu erreichen.
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang jedoch,dass Monsieur Hollande, der französische Staatspräsi-dent und ein Sozialist, gerade letzte Woche erklärt hat,die ODA-Quote für Frankreich bei 0,4 Prozent einzufrie-ren.
Deutschland ist seit diesem Jahr nach den USA derzweitgrößte Geber in der Entwicklungspolitik weltweit.Der Anteil am Gesamthaushalt war noch nie so groß.Der Einzelplan 23 ist der zweitgrößte Investitionsetatdes Bundes überhaupt.
Doch trotz dieser Erfolge gilt, Frau Kofler: Geld ist zwareine wichtige Voraussetzung, garantiert aber allein keinegesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung in die-ser Welt. Entscheidend ist die Wirksamkeit der Entwick-lungszusammenarbeit, und diese muss verbessert wer-den.
Ein Kernanliegen der christlich-liberalen Koalition istdeshalb, Steuergelder wirksamer und transparenter ein-zusetzen. Dafür stehen die Politik des Ministers Niebelund die Arbeit des BMZ, auch auf europäischer Ebene.Gerade hat der Minister mit seinem Vorstoß im BereichBiokraftstoff einen wesentlichen Beitrag zur Bekämp-fung des Hungers in der Welt geleistet. Wie gestern be-kannt wurde, beabsichtigt die Europäische Kommission,die Nutzung von Biokraftstoffen erheblich einzuschrän-ken.Mit der Fusion der technischen Durchführungsorgani-sationen wurde die Wirksamkeit der Entwicklungszu-sammenarbeit erhöht und wurden kommunale Förde-rungsprogramme bei „Engagement Global“ gebündelt.75 Prozent der Maßnahmen des Operationsplans zur Er-höhung der Wirksamkeit der Entwicklungszusammenar-beit gemäß der Konferenzen von Accra und Paris wur-den von Deutschland bereits umgesetzt.Ein Meilenstein der deutschen Entwicklungszusam-menarbeit ist ein neu eingerichtetes, unabhängiges Eva-luierungsinstitut. Dieses Institut wird erkennen, welcheSchwachpunkte es gibt, und wir werden wertvolle Infor-mationen über unsere Entwicklungszusammenarbeit er-halten, die damit dann auch transparenter wird. Auf-grund von Erkenntnissen über Erfolge, aber auch überMisserfolge können wir die Qualität unserer Arbeit fürdie Zukunft verbessern.Das BMZ hat sich in den vergangenen Jahren aufSchlüsselsektoren konzentriert und die Zusammenarbeitmit fragilen Staaten neu aufgebaut. Die Bekämpfung derArmut, unser größtes Ziel, ist gerade durch die Stärkungdes ländlichen Raums in unseren Partnerländern und diebesondere Förderung der Frauen deutlich vorangetriebenworden. Diese Bereiche wurden früher vernachlässigt.Der Einzelplan 23 kann zu Recht Zukunftsetat ge-nannt werden, im Sinne einer modernen, zeitgemäßenNeuausrichtung der deutschen Entwicklungspolitik. Mitdiesem Etat wird Deutschland seiner Verantwortung fürden globalen Frieden gerecht.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Dr. Ratjen-Damerau. – Nächster
Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der So-
zialdemokraten unser Kollege Dr. Sascha Raabe. Bitte
schön, Kollege Dr. Sascha Raabe.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Herr Minister, Frau Ratjen-Damerau, Siekönnen hier weiter Niebel-Kerzen werfen, wie Sie wol-len: Es ist und bleibt einfach eine Schande, dass Sie dreiJahre vor dem versprochenen Erreichen des 0,7-Prozent-Ziels anstelle des von einer Mehrheit dieses Parlamentsin einem entwicklungspolitischen Konsens geforderten
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Dr. Sascha Raabe
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Aufwuchses von 1,2 Milliarden Euro nur einen Auf-wuchs von 37,5 Millionen Euro vorlegen und Sie dasauch noch als Rekordhaushalt feiern. Das ist wirklichschäbig.
Weil Sie gerne auf die Vergangenheit verweisen undso tun, als sei in der Vergangenheit nichts Wesentlichespassiert, um dem 0,7-Prozent-Ziel näherzukommen,möchte ich am Anfang dieser Haushaltsdebatte Zahlenaus den Jahren 2008 und 2009 nennen. Unter Entwick-lungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul hatten wirim Jahr 2008 einen Aufwuchs von 641 Millionen Euround im Jahr 2009 von 679 Millionen Euro. Herr Minis-ter, in den vier Jahren, in denen Sie als Minister das Amtund den Haushalt zu verantworten haben, haben Sie ins-gesamt noch nicht einmal den Aufwuchs zustande ge-bracht, den wir in der letzten Legislaturperiode unterHeidemarie Wieczorek-Zeul in einem Jahr hatten. Siekommen in vier Jahren noch nicht einmal auf 500 Mil-lionen Euro. Das, Herr Minister, ist wirklich mickrig.Das wird der Verantwortung nicht gerecht, die wir in derWelt haben. Dass Sie dann noch davon sprechen, dassSie das 0,7-Prozent-Ziel bis 2013 einhalten wollen, istwirklich dreist. Herr Minister, Sie sollten endlich dieWahrheit sagen, die Menschen nicht weiter belügen undsolche Zahlentricksereien vor allem nicht auf dem Rü-cken der Ärmsten der Armen betreiben.
Man kann sich auch fragen, was Sie im Kabinett getanhaben, um diese Themen voranzubringen; denn die Ent-wicklungspolitik muss auch von den anderen Ressortsunterstützt werden. Wir wissen, dass Sie ausweislich derStatistik der ersten 100 Kabinettssitzungen erstens ammeisten gefehlt haben und zweitens nicht einen einzigenTagesordnungspunkt aufgesetzt haben. Ich frage Sie an-gesichts der Initiative des Parlaments im Jahr 2011, als372 Parlamentarierinnen und Parlamentarier aller Frak-tionen unterschrieben haben, dass sie das 0,7-Prozent-Ziel einhalten wollen und dass man, beginnend mit demHaushalt 2012, jedes Jahr 1,2 Milliarden Euro als Auf-wuchs zur Verfügung stellen will: Haben Sie niemals da-ran gedacht, Ihren Kollegen im Kabinett diese Initiativevorzustellen und dafür zu werben? Es ist eine Brüskie-rung des Parlaments, dass Sie das nicht im Kabinett an-gesprochen haben und hier Haushaltsentwürfe vorlegen,die jeder Beschreibung spotten.
Man nennt Sie unter Kollegen ja schon den „MinisterNie da“. Sie sind an der Sache anscheinend nicht beson-ders interessiert.Was Ihre Ausführungen zur Finanztransaktionsteuerangeht – das wäre eine Einnahmequelle, durch die wireinen großen Finanzierungsschub erzielen könnten –,haben Sie uns im Ausschuss mehrfach gesagt: Mag sein,dass die Kanzlerin dafür ist. Was interessiert mich, wasdie Kanzlerin sagt. Ich bin dagegen. – Auch das ist na-türlich ein Schlag gegen die Kampagne „Steuer gegenArmut“, die von der Zivilgesellschaft unterstützt wird.Es ist schlecht, dass der zuständige Minister nicht vorne-weggeht, um für dieses Ziel einzutreten, sondern dasGanze zerschlägt und sogar noch konterkariert.
Sie rechtfertigen diese schwachen Aufwüchse immerdamit, dass Sie für Qualität und Effizienz gesorgt hätten.Sie haben einen DAC-Bericht zitiert, in dem zu Rechtangemahnt wird, dass die Finanzielle und TechnischeZusammenarbeit in Deutschland zusammengelegt wer-den müssen. Richtig! Sie haben das allerdings nicht ge-macht. Sie haben stattdessen die Technische Zusammen-arbeit reformiert. Gut, das ist sicherlich ein kleinerSchritt in die richtige Richtung gewesen. Wir kritisierendas nicht weiter. Aber die Frage ist doch: Haben Sie eswirklich mit dem Ziel getan, mehr Qualität und Effizienzzu erreichen? Für uns steht das eindeutig infrage. InWirklichkeit haben Sie doch all diese Umstrukturierun-gen genutzt, um Ihre Parteifreundinnen und Partei-freunde, teils ohne jede Sachkenntnis und Kompetenz, inden neuen Organisationen unterzubringen. Man schafftnicht mehr Effizienz und Qualität, wenn man in Schlüs-selstellen des Ministeriums und der Durchführungsorga-nisationen Vetternwirtschaft nach Parteibuch betreibt,sehr geehrter Herr Minister.
Das fing schon ganz früh an. Ich habe hier im Prinzipjedes Jahr Mitteilungen des Personalrats verlesen müs-sen, in denen das angeprangert wird. Im Sommer 2012gab es leider wieder eine Mitteilung, in der ein weiteresMal beschrieben wird, dass diese Personalpolitik mitBlick auf 2013, wenn die Wachablösung droht, verstärktbetrieben wird. In dieser Mitteilung heißt es:In der Amtszeit von Minister Niebel ist die nun an-stehende Besetzung der Leitung der Abteilung 2 diesechste Neubesetzung einer Abteilungsleiterstelle.Da geht es übrigens um Harald Klein, der als damali-ger Leiter der Friedrich-Naumann-Stiftung den Putsch inHonduras gerechtfertigt hat und jetzt Generalkonsul inRio wird. Sie haben neulich auch den Putsch in Paraguaygerechtfertigt. Diese Stellenbesetzung ist ja anscheinendIhre Belohnung.In dieser Mitteilung heißt es weiter:In fünf dieser sechs Fälle wurden externe Bewer-bungen berücksichtigt, lediglich in einem Fall eininterner Bewerber. Der Personalrat hat seit Beginnder Amtszeit von Minister Niebel immer wieder da-rauf hingewiesen, dass zahlreiche externe Beset-zungen für das Haus problematisch sind, da bei denQuereinsteigern weder Kenntnisse des Hauses nochin vielen Fällen vertiefte Kenntnisse der Entwick-lungszusammenarbeit vorhanden sind.
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22970 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 191. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. September 2012
Dr. Sascha Raabe
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Darüber hinaus heißt es:Da die politische Leitung des Hauses ihre Personal-politik regelmäßig mit dem Hinweis rechtfertigt,unter früheren Leitungen des BMZ habe es eineähnliche Anzahl an Quereinsteigern gegeben, seidarauf verwiesen, dass in den Amtszeiten vonMinisterin Wieczorek-Zeul und Minister Sprangerlediglich zwei Abteilungsleitungen von außen be-setzt wurden,– also in 18 Jahren lediglich zwei –hingegen alle anderen Berufungen aus dem Hauserfolgt sind.Jetzt sage ich Ihnen, was das für Auswirkungen aufdie Effizienz und Qualität hat.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Herrn Kollegen Jürgen Koppelin?
Ja.
Bitte schön, Kollege Jürgen Koppelin.
Herr Kollege Raabe, entnehme ich Ihrem Eifer am
Rednerpult, dass Sie sich darüber ärgern, dass in diesem
Ministerium die Aufkleber entfernt wurden, auf denen
stand, dass man dort Mitglied der SPD sei? Davon gab
es dort zahlreiche. Es galt quasi das Motto „Hier ist man
Mitglied der SPD“.
Entschuldigung, ich habe Sie nicht verstanden. Kön-
nen Sie das wiederholen?
Ärgern Sie sich darüber, dass bestimmte Aufkleber im
BMZ entfernt wurden? An den Türen und anderswo sah
man Aufkleber mit der Aufschrift „Hier sind wir Mit-
glied der SPD“.
Darf ich Sie weiter fragen, wie es kam, dass sofort
nach dem Regierungswechsel 1998 ein hoher sozialde-
mokratischer Funktionär aus Nordrhein-Westfalen Chef
des DED wurde?
Sehr geehrter Herr Kollege Koppelin, zu den Aufkle-
bern kann ich jetzt nicht viel sagen. Ich kann Ihnen aber
gleich etwas dazu sagen, wie das BMZ in der Zwischen-
zeit zu einer Wahlkampfzentrale für die FDP umgebaut
wird. Dafür kann ich Ihnen auch gleich einen Beleg lie-
fern; ich werde Ihnen das gleich sagen.
Was 1998, also vor 14 Jahren, gewesen ist – verzeihen
Sie, ich bin 2002 ins Parlament gekommen –, weiß ich
nicht. Ich weiß, dass der Kollege, den ich dann kennen-
gelernt habe und der an der Spitze des DED war, ein
höchst qualifizierter Mann gewesen ist, der von Minister
Niebel später sogar in den Vorstand der GIZ berufen
wurde, weil er so qualifiziert war. Herr Kollege
Koppelin, es spricht doch überhaupt nichts dagegen,
wenn besonders qualifizierte Expertinnen und Experten,
die Sachkenntnis haben, mit einem Parteibuch egal wel-
cher Art in einem Bewerbungsverfahren zum Zuge kom-
men. Sie sollen nicht benachteiligt werden. Aber es ist
doch ein Unterschied, Herr Kollege Koppelin, ob zum
Beispiel bei Ministerin Wieczorek-Zeul von drei Abtei-
lungsleitern einer ein SPD-Parteibuch hatte und zwei
parteilos waren oder Minister Niebel die Zahl der Abtei-
lungen von drei auf fünf erhöht hat und jetzt vier Abtei-
lungsleiter ein FDP-Parteibuch haben und einer ein
CDU-Parteibuch hat. Ich sage Ihnen, Herr Kollege
Koppelin: Es ist ein Unterschied, ob man jemanden ein-
stellt, der Sachkenntnis hat, oder ob man jemanden nur
aufgrund seines Parteibuchs einstellt.
Der Personalrat schreibt – da kommen wir zum
Thema Qualität –: Die Entwicklungen auf allen Ebenen
haben Konsequenzen für das Haus. Sie wirken sich
negativ auf Fachlichkeit, Führungskompetenz, Außen-
vertretung des BMZ und die Motivation im Haus aus.
Ein personell und organisatorisch geschwächtes Ministe-
rium kann seine Aufgaben nur bedingt erfüllen.
Deshalb, Herr Koppelin, schreibt der Personalrat: In
gerade einmal zweieinhalb Jahren hat die politische Lei-
tung es verstanden, zahlreiche höchst motivierte Mitar-
beiterinnen und Mitarbeiter durch Klientelpolitik und
durch anhaltende Missachtung von fachlicher Leistung
wie inhaltlicher Kompetenz zu brüskieren. – Darum geht
es, Herr Kollege Koppelin, nicht um Aufkleber.
Es geht auch darum, dass Minister Niebel eine Abtei-
lung „Planung und Kommunikation“ geschaffen hat; die
gab es vorher gar nicht. Das heißt, der Minister zieht aus
Organisationseinheiten, die sich um Inhalte kümmern,
etwa zu Afrika oder Asien, Personal ab, um eine Propa-
gandaabteilung aufzubauen, und das wird vom Personal-
rat natürlich kritisiert.
Herr Kollege, ich will Sie nur darauf aufmerksam ma-
chen, dass jetzt wieder die normale Redezeit läuft, weil
ich davon ausgehe, dass die Antwort hiermit beendet ist.
Gut, einverstanden. – Es kann nicht sein, dass dasBMZ zu einer Wahlkampfzentrale der FDP umgebautwird. Da ist bis 2013 Schlimmes zu erwarten. Wir habenerst neulich einen Brief von der KfW zugespielt bekom-men, in dem es darum geht, dass jetzt eine Kampagnemit einem Volumen von 6 bis 7 Millionen Euro stattfin-den soll, angeblich eine „Mittelstandsoffensive Afrika“.Dagegen spricht erst einmal nichts. Aber dann heißt es
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 191. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. September 2012 22971
Dr. Sascha Raabe
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im Schreiben von Staatssekretär Beerfeltz entlarvend,dass sich Herr Niebel und Minister Rösler geradezu idealpersönlich in eine solche Kampagne einbeziehen lassen;6 bis 7 Millionen Euro seien viel Geld – die sollen na-türlich auch zielgerichtet bis Juni 2013 ausgegeben wer-den –, aber – jetzt kommt es! – der politische Ertrag fürdie Bundesregierung werde das bei weitem übersteigen.Herr Niebel, weil Sie gesagt haben, Sie spielten jetztirgendwo oben in der internationalen Liga mit, sage ichIhnen: Im Ausland lachen sich unsere Partner leider überuns kaputt, wenn wir noch etwas von guter Regierungs-führung sagen.
Wenn ich hier einmal im Sportbereich bleiben darf: Wirspielen mittlerweile in einer Liga, in der die Wettmafiadie Ergebnisse vorher kennt. Genauso wie man da weiß,wie ein Fußballspiel ausgeht, weiß man bei Ihnen bei je-dem Bewerbungsverfahren, das Sie im Ministeriumdurchführen, wer am Ende gewinnt: immer der Bewer-ber mit FDP-Parteibuch.
Herr Kollege Sascha Raabe, ich will noch darauf hin-
weisen: Mit dem Wort „Lüge“, gleich in welcher Form
formuliert, sollte man – das gilt insgesamt in diesem
Haus – sehr vorsichtig umgehen; unparlamentarisch ist
es jedenfalls.
Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist die Frau
Kollegin Sibylle Pfeiffer für die Fraktion der CDU/CSU.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Op-
position ist Mist. – Das hat mal ein politisches Schwer-
gewicht von Kollege gesagt. Ich finde auch: Opposition
ist Mist. Opposition kann nicht gestalten, kann keine
Ideen realisieren, kann keine Politik umsetzen, so wie sie
das gern möchte. Aber Opposition ist auch praktisch,
und das zeigt sich auch an den Reden, die wir von der
Opposition gehört haben: Man kann schimpfen. Man
kann sich beschweren. Man kann maulen.
Man kann Forderungen stellen. Man kann Versprechun-
gen machen. Nichts davon muss man umsetzen. Man
kann vor allen Dingen auch so inhaltsschwere Reden
zum Thema Entwicklungspolitik halten wie Sie eben
hier, lieber Kollege Raabe.
Ich muss schon sagen: Das, was Sie uns gerade hier an
konstruktiven Vorschlägen gemacht haben, bringt die na-
tionale und internationale Entwicklungspolitik definitiv
weiter. Bravo, kann ich nur sagen.
Man kann vor allen Dingen Geld fordern; auch das
kann man machen.
Damit macht man sich unglaublich viel Freunde.
– Stimmt, alles richtig. Das gebe ich zu. Ich stehe auch
dazu.
– Frau Kofler, was für ein Glück, dass Sie dies nicht um-
setzen müssen. Was für ein Glück, dass Sie nicht in der
Position sind, genau das umsetzen zu müssen, was Sie
glauben, jetzt hier anprangern zu müssen. Ich möchte
wissen, wie Sie es umgesetzt haben wollen. Genau das
möchte ich Sie einmal fragen: Wie wollen Sie es denn
umsetzen? Sie hätten doch gerade Vorschläge machen
können. Machen Sie sie doch einfach einmal! Sagen Sie
uns, woher Sie das Geld nehmen und wo Sie kürzen
wollen.
– Kommen Sie mir doch nicht mit diesem ganzen Um-
verteilungsquatsch. Ich sage nur Friedenspolitik, liebe
Kollegin.
Wenn wir Friedenspolitik betreiben, ist die beste Politik,
den Menschen vor Ort mittels Arbeit, Wohlstand, Ernäh-
rung, Bildung und Gesundheitssystem eine Basis für ihr
Leben dort zu schaffen, wo sie wohnen und leben. Das
ist aktive Friedenspolitik. Sie können nicht hergehen und
sagen: Wir verteilen jetzt einmal großzügig das Geld,
und dann ist das Problem gelöst. – Wie einfach ist denn
eigentlich das Leben? Wo kommen wir denn hin?
Wir haben eine Zwischenfrage aus der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen, wenn Sie sie zulassen. – Bitte
schön, Herr Kollege.
Schade, ich hätte ganz gerne weitergeredet.
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22972 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 191. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. September 2012
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Frau Kollegin, ich finde es wirklich interessant, dass
Sie die Forderung an die Opposition stellen, klarzuma-
chen, wie die Umsetzung des 0,7-Prozent-Ziels erfolgen
kann. Haben Sie nicht zugehört? Herr Niebel hat sich ge-
rade zu den 0,7 Prozent bis zum Jahr 2015 bekannt. Ihre
Kanzlerin hat sich dazu bekannt. Warum verlangen Sie
denn nicht von der Regierung, dass sie endlich klarlegt,
wie dieses Ziel erreicht wird?
Ich wiederhole mich gerne. Ich glaube, es war der
Kollege Hoppe, der gesagt hat: Wir boxen in einer Ge-
wichtsklasse, die uns so nicht zusteht. – Aber – das kann
ich gleich miteinander verbinden –: Deutschland nimmt
seine Verantwortung international sehr wohl wahr. Dass
Deutschland dies tut, erfordert eine unglaubliche An-
strengung von uns, von den Haushältern, vom Etat, vom
ganzen Haushalt an sich. Herr Kollege, ich glaube, dass
ich nicht nur Entwicklungspolitiker bin.
– Natürlich Entwicklungspolitikerin.
Ich glaube, das war die Antwort auf die Frage unseres
Kollegen Uwe Kekeritz.
Dann hören Sie einfach weiter zu. Vielleicht ist nochetwas für Sie enthalten.Ich bin nicht nur Entwicklungspolitikerin. Ich bingerne Entwicklungspolitikerin, weil ich glaube, dassEntwicklungspolitik Zukunft für unsere Kinder, für un-sere Enkelkinder schafft, und das im Sinne von Frie-denspolitik, liebe Kollegin Hänsel. Aber ich habe aucheine politische Gesamtverantwortung für Deutschland.Das alles muss ich sehen. Ich muss dann gucken: Woherbekomme ich die Gelder, und woher bekomme ich sienicht? Ich bin mir nicht sicher, woher ich in diesen dreiJahren in der Summe 9,5 Milliarden Euro bekommensollte, weil wir doch ganz andere Probleme haben.Ich glaube, dass das Verfassungsgericht ein weisesUrteil gesprochen hat, indem es nämlich den Euro ge-stärkt hat, liebe Frau Hänsel; denn wenn wir den Euronicht gestärkt hätten und wenn wir Europa nicht stärken,dann haben wir irgendwann unter Umständen überhauptkein Geld für die Entwicklungspolitik mehr. Ich möchteeinmal sehen, wie wir dann weiterkommen. Was wollenwir denn dann machen? Wo wollen wir denn hingehen?
Wir müssen doch alles tun, damit Deutschland in Europastabil bleibt. Wir brauchen ein stabiles Europa, eine sta-bile europäische Politik, die kohärent ist. Die Kohärenzfordere ich natürlich auch ein, wenn es um die Entwick-lungspolitik geht.Sie haben gefragt: Was haben Sie denn eigentlich ge-tan? – Ich ziehe einmal eine kleine Bilanz von dreiJahren Entwicklungspolitik unter schwarz-gelber Füh-rung. – Mir fällt aber etwas anderes ein. Lieber KollegeRaabe, Sie wiederholen es immer wieder, aber es wirddadurch nicht richtiger. Ich werde auch nicht müde, aufdiesen ganzen Mist zu antworten. Da geht es nämlich umdie Haushaltsentwicklung. Dazu kann ich nur sagen: Bis2007, unter einem Bundeskanzler, der zum Beispiel dieFamilienpolitik als „Gedöns“ bezeichnet hat,
hat es im Haushalt von Frau Wieczorek-Zeul null – ab-solut null – Erhöhungen gegeben. Erst als sich die Bun-deskanzlerin Angela Merkel dafür eingesetzt hat, weilEntwicklungspolitik ein wichtiger Politikbereich ist, hatauch Frau Wieczorek-Zeul davon profitiert. Ich gönneihr das sehr und freue mich, dass es so gekommen ist.
Lassen Sie mich jetzt einfach einmal ein bisschen re-sümieren, was unsere Zwischenbilanz ist; davon kannman sehr wohl sprechen. Zunächst müssen wir schauen,wie der Rekordhaushalt aussieht. Es ist nachlesbar, dasses ein Rekordhaushalt ist. Er hat natürlich nicht die Stei-gerungsraten, die wir uns vielleicht gewünscht hätten,aber es ist definitiv ein Rekordhaushalt. Die Mittel lie-gen im Übrigen, Kollege Raabe, 50 Prozent über dem,was Rot-Grün damals für die Entwicklungszusammenar-beit ausgegeben hat. Auch das ist wahr.
Die europäische und internationale Abstimmung un-ter den Entwicklungspolitikern ist unter der RegierungMerkel dank einer Qualitätsoffensive wesentlich bessergeworden. Das Wichtige bei dem Ganzen ist: Waskommt eigentlich bei der Entwicklungspolitik heraus?Das muss geprüft werden; das muss evaluiert werden.Deshalb ist es auch richtig, dass wir ein Evaluierungs-institut einrichten, damit die Steuerzahler wissen, dassihre Gelder effektiv, sinnvoll, richtig und nachhaltig ein-gesetzt sind.Wir haben natürlich – das gebe ich zu – einen etwasunverkrampfteren Umgang mit dem Thema „Entwick-lungspolitik und Wirtschaft“, und das ist richtig so, dasist gut so.
Denn diese Verkrampftheit im Zusammenhang mit wirt-schaftlicher Entwicklung – es ist ja nun einmal auch derHaushalt für wirtschaftliche Entwicklung – hat uns inder Vergangenheit definitiv geschadet. Insofern ist esgut, dass wir jetzt versuchen, in unseren Partnerländerneine Entwicklung in Gang zu setzen, die die Menschen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 191. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. September 2012 22973
Sibylle Pfeiffer
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in die Lage versetzt, mithilfe der eigenen Arbeitskraftihre Kinder und Enkelkinder zu ernähren.
Frau Kollegin Sibylle Pfeiffer, es gibt den Wunsch zu
einer weiteren Zwischenfrage.
Das scheint ja eine spannende Rede zu sein, die ich
hier halte!
Bitte schön, Frau Kollegin, wenn Sie so lieb sind.
Frau Kollegin Pfeiffer, ist Ihnen bekannt, dass die so-
genannten PPP-Projekte, also die Public-private-Partner-
ship-Projekte, für die Wirtschaft in Afrika, Asien und
Lateinamerika schon in der Amtszeit von Heidemarie
Wieczorek-Zeul begonnen worden sind
und keine weiteren Zuwächse in diesem Bereich zu ver-
zeichnen sind? Umgekehrt: Ist Ihnen bekannt, dass auch
in unserer Regierungszeit das Thema Wirtschaftliche
Zusammenarbeit eine Rolle gespielt hat, nicht nur bei Ih-
nen in der jetzigen Konstellation von FDP und CDU/
CSU?
Liebe Kollegin, es ist sehr spannend, dass ausgerech-
net Sie das jetzt sagen.
Die Wahrheit ist es; aber warum es immer peinlich
verschwiegen wurde, das ist Ihr Problem. Das tut mir
wirklich leid. Darüber wurde nie geredet; es wurde
peinlichst verschwiegen. Denn das passt nicht in die
Ideologie hinein.
Das war die Antwort auf die Zwischenfrage unserer
Kollegin Karin Roth. Ist sie schon beendet?
Ja.
Gut. Bitte schön.
Dazu gab es nicht mehr zu sagen.
Nahrungsmittelsicherheit, ländliche Entwicklung:
Meine Kollegin Dagmar Wöhrl hat dazu schon das Ent-
sprechende gesagt. Es steht ganz oben auf der Agenda;
das kann man übrigens im Haushalt nachlesen.
Gute Regierungsführung bleibt natürlich ein zentrales
Anliegen; denn ohne Demokratie, Rechtsstaatlichkeit
und Menschenrechte ist Entwicklungspolitik nicht zu
machen. Deshalb wird das auch von unseren Partnern
eingefordert.
Biodiversität, Klima- und Ressourcenschutz: All das
sind wichtige Themen. Es wäre ganz gut gewesen – der
Herr Kollege Gerster war da –, wenn Sie sich heute ein-
mal angehört hätten, was die GIZ und die KfW zum
Thema DKTI gesagt haben. Das nenne ich innovative
Entwicklungspolitik zu beiderseitigem – das betone ich:
beiderseitigem – Erfolg und Gunsten.
Frau Kollegin Kofler, Sie haben behauptet, wir hätten
im Bereich Umwelt- und Energiepolitik überhaupt nichts
gemacht, dabei war unsere Politik erfolgreich. Sie ist das
Beste, was uns je passiert ist.
Lassen Sie mich zum Schluss auf ein Thema ein-
gehen, das meiner Meinung nach ein bisschen zu kurz
gekommen ist, das wir aber im Zuge der Haushaltsbera-
tungen sicher noch weiter erörtern werden, nämlich das
Thema Förderung von Frauen und Mädchen in den Ent-
wicklungsländern. In dieser Frage besteht überparteili-
cher Konsens. Wir können uns in diesem Bereich noch
stärker engagieren; denn die Bildung von Frauen und
Mädchen sowie ihre Persönlichkeitsstärkung sind ein
wichtiger Bestandteil von Entwicklungspolitik. In die-
sem Zusammenhang ist das Thema Weltbevölkerungs-
wachstum zu nennen. Wenn die Frauen und Mädchen
lernen, dass sie Nein sagen dürfen und können, dann
zeigt das, dass wir sehr gute Politik gemacht haben. An
dieser Stelle müssen wir noch ein bisschen nacharbeiten.
Das werden wir in den anstehenden Beratungen tun.
Vielen herzlichen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Sibylle Pfeiffer. Nächster
Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion Die
Linke unser Kollege Niema Movassat. Bitte schön, Kol-
lege Niema Movassat.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! HerrNiebel und auch Frau Pfeiffer, Sie erklären mittlerweilejeden Entwicklungshaushalt zum Rekordhaushalt.Bewerben Sie sich doch einmal beim Guinnessbuch derRekorde. Im Sich-die-Welt-Schönreden sind Sie echtWeltklasse, das aber ändert nichts an der Realität.
Vor über 40 Jahren hat sich Deutschland völkerrecht-lich verpflichtet, 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkom-
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22974 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 191. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. September 2012
Niema Movassat
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mens für die Entwicklungszusammenarbeit aufzuwen-den. Selbst die Bundeskanzlerin wird nicht müde, zuerklären, dass das Ziel bis 2015 erreicht wird, wie es dieEuropäische Union vereinbart hat. Im vorliegenden Ent-wurf des Entwicklungshaushaltes gibt es einen Auf-wuchs von 37,5 Millionen Euro, nötig wären aber circa2 Milliarden Euro, um das 0,7-Prozent-Ziel bis 2015 zuerreichen. Der vorliegende Haushaltsentwurf ist derletzte Beweis dafür, dass Sie von Schwarz-Gelb nichtden Willen haben, die versprochene Unterstützung fürdie ärmsten Länder der Welt zu leisten. Hören Sie auf,Parlament und Bevölkerung über den wahren Charakterdes Entwicklungshaushaltes zu täuschen. Fakt ist: Er isteine Blamage! Sie haben das 0,7-Prozent-Ziel begraben.
Heute hungern 1 Milliarde Menschen. Das Recht aufNahrung ist das am häufigsten verletzte Menschenrechtauf der Welt. Der Kampf gegen den Hunger ist damiteines der wichtigsten Ziele der Entwicklungszusammen-arbeit. Doch dafür ist nicht nur mehr Geld erforderlich.Nehmen wir die massiv steigenden Preise für Grundnah-rungsmittel wie Mais, Weizen und Soja. Die Preisehaben sogar das Niveau des Jahres 2008 überschritten, indem es große Hungersnöte gab. Immer mehr Menschenkönnen sich Nahrungsmittel schlicht nicht leisten.2008, 2011, 2012 – die Nahrungsmittelkrisen häufensich. Aber wo bleibt der konkrete Aktionsplan der Bun-desregierung? Um die Preistreiberei bei Nahrungsmit-teln zu beenden, brauchen wir nicht unbedingt mehrGeld, sondern sofort umfassende Veränderungen imHandels- und Wirtschaftssystem.
Erstes Beispiel: Agrosprit. Ja, Herr Niebel, Sie habendas Thema Agrosprit auf die Agenda gesetzt. Dafürmöchte ich Sie heute ausnahmsweise loben. Die Euro-päische Union importiert heute im großen Stil Biomasseaus den Ländern des Südens, E 10 lässt grüßen. Dochauf einem Acker, auf dem Palmölpflanzen zur Energie-gewinnung wachsen, können nicht gleichzeitig Nah-rungsmittel für lokale Märkte produziert werden. Damitverschärft Agrosprit den Hunger auf der Welt. So ein-fach ist das. Deshalb fordert die Linke ein europaweitesImportverbot für Kraft- und Brennstoffe aus Biomasse.
Die Preise für Nahrungsmittel steigen aber auch, weilimmer massiver mit ihnen gezockt wird. Allein an derBörse in Chicago gingen 2011 über 90 Prozent allerPositionen auf das Konto von Spekulanten, bis 1999waren es gerade einmal 20 Prozent. So fließt immermehr Kapital an die Börse und lässt die Preise explodie-ren, auch in Frankfurt und Paris. Auch die DeutscheBank und die Allianz stecken mit mehr als 10 MilliardenEuro bis zum Hals im dreckigen Geschäft mit dem Hun-ger. Dass es anders geht, zeigt die Commerzbank. Siesteigt aus dem Geschäft mit dem Hunger aus. Das ist dasklare Eingeständnis, dass die Zockerei den Hunger aufder Welt vergrößert.Die Bundesregierung hingegen ist unbelehrbar undbehauptet noch immer, es sei nicht erwiesen, dass Nah-rungsmittelspekulationen tatsächlich die Preise in dieHöhe treiben. Ich sage Ihnen: Hören Sie auf, sich IhreSprechzettel von der Banken- und Versicherungslobbyschreiben zu lassen!
Wir brauchen klare gesetzliche Regelungen zur sofor-tigen Beendigung von Nahrungsmittelspekulationen.Doch was unternimmt das Entwicklungsministerium? Esrichtet einen Landwirtschaftsfonds für afrikanischeLandwirte ein. Wen beauftragt das Ministerium mit demFondsmanagement? Die Deutsche Bank, einen derHauptzocker mit Lebensmitteln. Mehr „Bock zum Gärt-ner“ geht gar nicht. Doch was wirklich der Gipfel derUnverschämtheit ist, ist die ungleiche Haftungsregelung.Gewinne gehen zuerst an den privaten Teilhaber, dannan die Deutsche Bank und zuletzt an das Entwicklungs-ministerium. Kommt es aber zu Verlusten, muss als Ers-tes das Ministerium blechen. Wie schon aus der Euro-Krise bekannt: Die Verluste trägt der Steuerzahler. DieGewinne streichen die Banken ein. Das ist schlichtwegasozial im wahrsten Sinne des Wortes.
Weil eine so ungleiche Risikoverteilung in Deutsch-land verboten ist, haben Sie den Fonds extra inLuxemburg angesiedelt – noch dazu, um Steuern zu spa-ren. Ein deutsches Ministerium umschifft aktiv die deut-sche Gesetzgebung und hilft beim Steuerhinterziehen.Das ist ein Skandal.
Ich sage Ihnen: Wenn Sie weiter Wirtschafts- undBankenförderung betreiben statt Entwicklungspolitik,werden Hunger und Armut immer weiter um sich grei-fen. Mit einem Bruchteil der Milliarden, die Sie für dieBankenrettungen ausgegeben haben, hätte man Millio-nen Menschenleben retten können. Wäre die Menschheiteine Bank, Sie hätten sie schon längst gerettet. Das istdie traurige Wahrheit.Danke für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Kollege Niema Movassat. – Nächste
Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist
unsere Kollegin Frau Ute Koczy. Bitte schön, Frau Kol-
legin Ute Koczy.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Diese Koalition unter Kanzlerin Merkel ver-säumt es, die vorhandene gute konjunkturelle Lage zunutzen, um die Zukunft positiv zu gestalten. Das betrifft
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 191. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. September 2012 22975
Ute Koczy
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besonders den Einzelplan für die wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung unter FDP-Minister DirkNiebel. Dieser Haushaltsentwurf legt ein extrem arm-seliges Zeugnis davon ab, dass diese konservativ-FDP-geführte Regierung nicht willens und nicht fähig ist, ihreinternational gegebenen Versprechen zu erfüllen. Sie hatdas 0,7-Prozent-Ziel an die Wand gefahren. Da helfenkeine Ausreden mehr. Da hilft kein Verweis auf die Ver-gangenheit mehr. Sie haben es in dieser Legislaturpe-riode verbockt.
Ihr Haushalt, liebe Kolleginnen und Kollegen von derKoalition, hat die Orientierung verloren. So steigt zumBeispiel das Budget für die finanzielle Zusammenarbeitoder auch für die Nichtregierungsorganisationen in demeinen Jahr, und in diesem Jahre sinkt es wieder.Ihr Haushalt ist ohne Ziel: Minister Niebel will alsgroßer Reformer dastehen, aber die inhaltliche Vorgabe,was die deutsche EZ global erreichen will, fehlt. Und:Dieser Haushalt ist verantwortungslos. Unsere Welt istdoch extrem ungerecht organisiert. Das Ziel der globalenGerechtigkeit wird angesichts drängender Probleme wieKlimakrise, Finanzkrise, Hunger und Armut nicht nachvorne gestellt. Niebel pampert die Wirtschaft, stellt aberkeine Spielregeln für deren Geschäft auf. So hintertreibtdie Bundesregierung die EU-Pläne, dass in der EUansässige große Firmen der rohstofffördernden Industriezur Offenlegung ihrer Zahlungen verpflichtet werden.Dabei wäre das ein echter Beitrag zu Transparenz undOwnership in Entwicklungsländern. Aber hier, inDeutschland, ist der sonst so großspurige Minister sehrkleinlaut – ach was, er zeigt sich wiederholt konflikt-scheu.Niebel kämpft woanders: Das deutsche Fähnchen amdeutschen Projekt ist wichtiger als der sinnvolle, even-tuell auch multilaterale Mitteleinsatz. So lässt Niebel dieVereinten Nationen ausbluten. Klar, es muss Reformenin der UN geben, aber der Ansatz muss doch sein, mitmehr Mitteln daran zu arbeiten, diese Reform globalvoranzutreiben.
Niemand löst die multiplen Krisen mehr alleine, aber dieFDP setzt auf die Renationalisierung der Entwicklungs-politik.Wir Grünen haben immer gezeigt, wie das 0,7-Pro-zent-Ziel erreicht werden kann. Wir setzen auf mehr glo-bale Verantwortung und auf eine Stärkung des globalenRegierens. Wir setzen auch auf eine globale und dauer-hafte Förderung von Zivilgesellschaft und Partizipation.Für uns hält die Entwicklungspolitik geeignete und sinn-volle Instrumente in den Händen, in diesen BereichenChancen zu ermöglichen. Darum gilt für uns Folgendes:Erstens. Wir wollen mehr Beiträge für eine nachhal-tige Friedensentwicklung.Zweitens. Wir wollen mehr finanziell unterfütterteBeiträge für eine Agrarwende, die mehr sein soll als dieschönen, aber leeren Worte des Ministeriums. Es gibtzwar Bewilligungen – aber ausgezahlt wurde lange Zeitnur die Hälfte des bewilligten Betrages.Drittens. Wir setzen auf eine klare Orientierung hinzu mehr sozialer Gerechtigkeit und guter Arbeit, demAufbau von gerechten Steuersystemen und sozialerSicherung. Es ist einfach erschreckend, dass das Minis-terium unter Herrn Niebel tatsächlich nur geringe Mittelan arme Länder fließen lässt.Viertens. Wir setzen natürlich auch auf Beiträge zurEnergiewende. Hier muss Deutschland mit gutem Bei-spiel vorangehen. Wir müssen zeigen, dass so etwasmöglich ist. Aber da sind wir mit Minister Niebel gänz-lich falsch gewickelt. Sein Engagement geht leider nichtdahin, die Bedeutung von erneuerbaren Energien für dieWelt darzustellen. Er freut sich, wenn er in der Sommer-pause Schlagzeilen für populistische Sprüche gegenE 10 erhält, einem Agrartreibstoff übrigens, den die FDPauch deshalb mit eingeführt hat, weil sie keine spar-samen Autos in der Europäische Union haben möchte.
Ich sage: Nein danke. Dieser entwicklungspolitischeHaushalt ist ein Riesenflop.
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner in
unserer Aussprache ist für die Fraktion der CDU/CSU
unser Kollege Jürgen Klimke. Bitte schön, Kollege
Jürgen Klimke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Heute wie auch in den ver-gangenen Haushaltsdebatten ist wieder festzustellen,dass die Opposition nichts anderes kann, als sich anMinister Niebel persönlich abzuarbeiten. InhaltlicheFortentwicklungen, neue entwicklungspolitische An-sätze oder auch kritische Bemerkungen zur Ausrichtungder Koalition im Entwicklungsbereich waren ganz seltenzu hören.Ich kann mir das Verhalten eigentlich nur folgender-maßen erklären: Die SPD ist enttäuscht, dass es imMinisterium keine Beamten mehr in zentralen Schlüssel-positionen gibt, die sie protegieren kann.
Lieber Kollege Raabe, ich möchte gar nicht aus Brie-fen zitieren, die der Personalrat an Ex-MinisterinWieczorek-Zeul geschrieben hat, in denen er gesagt hat,sie verbreite eine Atmosphäre der Angst im Ministeriumund protegiere nur Mitarbeiter mit SPD-Parteibuch.
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22976 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 191. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. September 2012
Jürgen Klimke
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Lieber Sascha, auch heute war die Performance desMinisters für dich das Wesentliche. Das geht so weit,dass du es für nötig erachtet hast, ihn wegen seiner Per-sonalpolitik vor Gericht zu verklagen. Das Ergebnis:eine krachende Niederlage für Herrn Raabe.
Es ist richtig – der Minister ist kontrovers; er ist eineindividuelle politische Persönlichkeit. Aber ihm ist esmit seiner Durchsetzungskraft gelungen, das Ministe-rium mit einem fortschrittlichen Programm weiterzuent-wickeln. Das Ministerium arbeitet. Es ist endlich fähig,die deutschen Entwicklungsorganisationen zu steuern,politischen Willen durchzusetzen, Akteure aus Zivilge-sellschaft und Wirtschaft teilhaben zu lassen und vor al-len Dingen die Kontrolle über die deutschen Steuergel-der in der Entwicklungsarbeit auszuüben.
Das Ganze geschieht im Interesse der Menschen; dennes handelt sich um Steuergelder.Die schwarz-gelbe Regierung ist es doch, die neueeffiziente und kohärente Wege erschlossen hat, und zwarin vielfältigen Bereichen: bei der Entwicklungszusam-menarbeit, im Rahmen der Reform der Vorfeldorganisa-tionen, in dem Vorhaben, das BMZ gegenüber anderenMinisterien zu stärken, im Rahmen der konditioniertenBudgethilfe unter Spezialisierung auf Kernsektoren zurErreichung der Millenniumsziele, bei der Verstärkungder Kohärenz zwischen Bundesregierung, Bundeslän-dern und der EU, bei der Erklärung der Sinnhaftigkeitvon Entwicklungspolitik gegenüber den Bürgern undSteuerzahlern, gerade in einer wirtschafts- und finanz-politischen Krise.Dies gilt im Besonderen für den entwicklungsrelevan-testen Bereich, für die konsequente Wirtschaftsförde-rung in unseren Partnerländern. Nach unserer Philoso-phie ist Wirtschaftswachstum – das ist unsere Leitlinie –der einzige Schlüssel zur nachhaltigen Armutsbekämp-fung in den Entwicklungs- und Schwellenländern.
Das unterscheidet uns von der Opposition. Deshalb stre-ben wir im Rahmen unserer entwicklungspolitischenStrategie die Schaffung von mehr Rechts- und Investi-tionssicherheit an, um eine bessere Infrastruktur aufzu-bauen, um Entwicklungen im Bereich Energie voranzu-treiben und vor allen Dingen, um den Mittelstand in denEntwicklungsländern zu fördern; schließlich macht derMittelstand auch Deutschland stark.Dabei lautet unser vorrangiges Ziel: Das Wirtschafts-wachstum in den Entwicklungs- und Schwellenländernist so zu gestalten, dass es direkte Effekte bezogen aufdie Armutsminderung hat. Wir müssen verhindern, dassdie Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinander-geht.
Deswegen fördern wir mit unserem Ansatz der wirt-schaftlichen Zusammenarbeit die Weiterleitung des in-ternational anerkannten Menschenrechtsstandards unddie Weitergabe unseres Ansatzes der sozialen Marktwirt-schaft. Ich darf das Soziale betonen – Sie wissen ja, wasdas bedeutet –:
Das Soziale in der Marktwirtschaft macht die deutscheWirtschaft konkurrenzfähig.Wir unterstützen die deutsche mittelständische Wirt-schaft bei der Umsetzung von Entwicklungsprojekten inunseren Partnerländern, damit vor Ort regionale Märkteund mittelständische Strukturen nachhaltiger Art entste-hen. Ziel unserer EZ ist, wirtschaftliche Kompetenz zuvermitteln, die unsere Partnerländer letztendlich zu eige-ner Leistung befähigt.Die deutsche Entwicklungspolitik ist bereits nach dreiJahren Regierung von Union und FDP insbesondere fürden Mittelstand eine Art Geländer geworden, wenn esum die wirtschaftliche Betätigung in den Entwicklungs-ländern geht. Wir gewährleisten dies, indem wir die fi-nanzielle und personelle Struktur innerhalb des Ministe-riums so verstärken und weiterentwickeln, dass dieZusammenarbeit mit der Wirtschaft zum Beispiel überPPP gestärkt werden kann.Ein wichtiger Punkt ist der Einsatz von EZ-Scouts inden deutschen Industrie- und Handelskammern. Es freutmich insbesondere, dass der Bereich der Entwicklungs-zusammenarbeit in einer international ausgerichtetenStadt wie Hamburg durch den Einsatz von EZ-Scoutsgestärkt wird, indem große Wirtschaftsverbände vonVerbindungsreferenten unterstützt werden.Ich will den Begriff des dualen Systems im Bereichder beruflichen Bildung ansprechen. Das duale Systemspielt eine entscheidende Rolle beim Aufbau von wirt-schaftlichen Strukturen nachhaltiger Art vor Ort. Indemwir bei der Einführung eines dualen Systems behilflichsind, können wir die Entwicklungsländer unterstützen.
Es gibt zuhauf positive Beispiele. Ich denke an das bio-logische Wasserreinigungsverfahren.
Herr Kollege Klimke, diese Beispiele werden Sie be-
dauerlicherweise nicht mehr vortragen können.
Okay. – Es ging um die Lederproduktion in Mexiko.Es gibt wenig Grund zur Aufregung. Ich kann die auf-geregten Debattenbeiträge von der Opposition überhauptnicht verstehen. Deutschland hat unter dieser Regierungseine Zusagen im Entwicklungsbereich eingehalten bzw.sogar übererfüllt.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 191. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. September 2012 22977
Jürgen Klimke
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Wir behalten unsere Linie bei und arbeiten weiter, nichtnur im nächsten Jahr, sondern auch in den nächsten fünfJahren.Herzlichen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Martin Gerster für
die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Esist erst einige Tage her, da haben Sie, Herr MinisterNiebel, am Rande eines Festaktes zur 50-jährigen ent-wicklungspolitischen Partnerschaft von Staat und Kircheeinen, wie ich finde, bemerkenswerten Satz zu Protokollgegeben: „Jesus war ein Liberaler.“
Wenn man sich das, wie ich finde, nicht sehr ausge-prägte soziale Profil der Liberalen aktuell anschaut undsich bestimmte Entwicklungen in Ihrem Ressort vor Au-gen führt, dann muss man sagen: Es ist eine ziemlich ge-wagte These und eine steile Vorlage, wenn Sie sagen,dass Jesus ein Liberaler gewesen sein soll.
Vielleicht steckt auch die Hoffnung dahinter, dassWunder Ihnen bis zur nächsten Bundestagswahl nochhelfen und Sie doch im Amt bleiben können.
Aber bevor Sie Religionsstifter für Ihre Parteipolitikvereinnahmen, Herr Minister Niebel, möchte man Ihnenzurufen: Bleiben Sie auf dem Teppich! Bitte bleiben Sieauf dem Teppich, Herr Niebel!
Zu den aktuellen Problemen Ihrer Entwicklungspoli-tik haben wir aus fachpolitischer Sicht schon einiges ge-hört. Ich möchte jetzt aus Sicht der Haushälter noch einpaar Anmerkungen machen. Für mich ist es ja eine Pre-miere, heute zum Einzelplan 23 sprechen zu dürfen. Esist mir deswegen ein Anliegen, unserem KollegenLothar Binding zu danken, der mit großem Engagementüber Jahre diesen Einzelplan für unsere Fraktion beglei-tet und verfolgt hat und sich – wie ich gehört habe – da-bei auch parteiübergreifend große Anerkennung verdienthat.
Ich möchte auch den Fachpolitikerinnen und Fach-politikern danken, die es mir leicht gemacht haben, denEinstieg zu finden, ebenso wie den Mitgliedern desHaushaltsausschusses, die mich dort gut aufgenommenhaben.Gerne, liebe Kolleginnen und Kollegen, hätte ichheute auch der Ministeriumsspitze schon für Unterlagenund Informationen gedankt. Aber leider verhält sich dieMinisteriumsspitze bislang noch – ich will es einmalvorsichtig ausdrücken – recht schüchtern und zurückhal-tend bei der Übermittlung von wichtigen Informationenzum Haushalt. Ich hoffe, Herr Minister Niebel, dass dasin aller Schnelle entsprechend nachgeholt wird; denn dasist die Basis für eine qualifizierte Beratung des Haus-haltsentwurfs. Ich denke, Sie sind hier in der Bring-schuld, uns jetzt endlich zeitnah die Unterlagen zur Ver-fügung zu stellen.
Werte Kolleginnen und Kollegen, Haushaltsentwürfehaben ja eine politische Funktion. Sie verleihen letztend-lich dem Willen der Regierung und vor allem auch derParlamentsmehrheit Ausdruck, was gemacht werdensoll, welche Schwerpunkte in der Arbeit gesetzt werdensollen. Sie sind – so hat es der Wissenschaftler FritzNeumark einmal gesagt – zahlen- und ziffernmäßig derexakte Ausdruck des politischen Handlungsprogrammseiner Regierung. Deswegen ist es absolut richtig, dieFrage zu stellen: Welche Signalwirkung geht eigentlichvon den Planungen des Bundesministeriums für wirt-schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung aus? DenEntwicklungsanspruch muss man immer wieder beto-nen; denn ich habe zuweilen den Eindruck, dass unterder gegenwärtigen Führung des Hauses der zweite Teildes Namens überhaupt nicht mehr beachtet wird, dassdie damit verbundenen Ziele nicht mehr verfolgt wer-den.
Das kann man auch, sehr geehrter Herr MinisterNiebel, an Zahlen sehen. Wir haben es gestern von HerrnSchäuble gehört. Wir haben es heute von Ihnen und auchaus der Koalition wieder gehört. Niemand hat ja ausge-lassen, darauf hinzuweisen, dass im Haushalt des Minis-teriums ein Aufwuchs um 0,6 Prozent stattfindet. Sie ha-ben so getan, als wäre das der große Coup, den wir jetztfeiern könnten. Aber wenn wir genauer hinschauen, wassich in den einzelnen Kapiteln verschoben hat, dann er-kennen wir doch schon sehr spannende Entwicklungen.Bei den „Sächlichen Verwaltungsausgaben“ gibt esein Plus von 60 Prozent, bei den Personalausgaben einPlus von 12 Prozent. Allein beim Ministerium gibt esbeim Posten „Bezüge und Nebenleistungen der planmä-ßigen Beamtinnen und Beamten“ einen Aufwuchs von33,4 Millionen auf 38,4 Millionen Euro, also Mehraus-gaben von 5 Millionen Euro. Noch im Jahre 2011 lag derAnsatz bei diesem Titel bei unter 20 Millionen Euro. Wirerleben hier in zwei Jahren fast eine Verdoppelung desEtatpostens. Das ist es, was Ihren Haushalt an dieser
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22978 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 191. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. September 2012
Martin Gerster
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Stelle kennzeichnet. Das muss auch beim Namen ge-nannt werden.
Eher gering hingegen ist der Zuwachs im Bereich vonZuweisungen und Zuschüssen, mit denen öffentlicheund private Träger der Entwicklungszusammenarbeitihre jeweiligen Aufgaben erfüllen sollen.Bei dem Posten „Investitionen“, mit dem das BMZ ei-gene Vorhaben und Projekte fördert, schneiden Sie weg;da sind es 26 Millionen Euro weniger. Auch das mussbeim Namen genannt werden.Dahinter verbirgt sich doch eine klare Botschaft: DasBMZ hat den eigentlichen Anspruch aufgegeben, Ent-wicklungspolitik gestalten zu wollen.
Herr Kollege, darf Ihnen der Kollege Koppelin eine
Zwischenfrage stellen?
Natürlich, gerne.
Herr Kollege, erst einmal herzlich willkommen dem-
nächst im Haushaltsausschuss. Sie waren ja noch nicht
dabei. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit.
Danke schön.
Sie haben sich vorhin beklagt, Sie hätten keine Unter-
lagen bekommen. Bei den Haushältern läuft es etwas an-
ders: Sie stellen Anträge auf Unterlagen. Sie werden die
Unterlagen dann garantiert bekommen. Wir alle bekom-
men sie. Darf ich Sie, da Sie dies vorhin beklagt haben,
fragen, woher Sie diese Zahlen haben, wenn Sie keine
Unterlagen bekommen haben?
Diese Zahlen stehen im ersten Entwurf. Das ist eine
Bundestagsdrucksache. Ich denke, Sie wissen, dass es
darüber hinaus noch eine Berichterstattermappe gibt,
dass es noch umfängliche Detailberichte gibt, und diese
sind vielleicht Ihnen zugestellt worden, Herr Koppelin,
aber mir als Haushälter der SPD-Fraktion bisher noch
nicht.
Wir können uns gerne einmal bei einer Tasse Kaffee zu-
sammensetzen und austauschen. Herr Niebel, es wäre
schön, wenn Sie uns die Unterlagen zur Verfügung stel-
len würden.
Kurzum: Man kann nach der ersten Durchsicht dieser
Zahlen sagen, dass der Apparat einmal mehr wächst,
während der entwicklungspolitische Output stagniert.
Solch ein Signal – Personalaufwuchs ja, aber ansonsten
Stagnation – können wir uns angesichts der, wie ich
finde, großen und enorm wachsenden Herausforderun-
gen im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit ei-
gentlich nicht leisten. Wir müssen – davon bin ich über-
zeugt – verstärkt auf multilaterale Zusammenarbeit
setzen. Die Kollegin Kofler und der Kollege Raabe ha-
ben es angesprochen. In diesem Zusammenhang muss
einfach darauf hingewiesen werden, Herr Niebel: Profi-
lierung ist nicht alles. Wenn wir den multilateralen As-
pekt vernachlässigen, dann gefährden wir langfristig un-
sere gute strategische Position in der internationalen
Entwicklungszusammenarbeit und handeln gegen unser
eigenes Interesse.
Bei der Bewertung Ihrer Politik anhand der Zahlen,
die ich bisher kenne, fällt mir auf, dass die Schere zwi-
schen Außendarstellung und Sacharbeit unter Ihrer Füh-
rung immer weiter auseinandergeht. Deswegen bin ich
davon überzeugt, dass wir engagierte Mitglieder des
Deutschen Bundestages brauchen, natürlich auch aus
den Reihen der Koalition, aus den Reihen von Schwarz-
Gelb, die darauf drängen, dass wir endlich große Schritte
hin zum Erreichen der ODA-Quote machen. Sie jeden-
falls bleiben – das muss ich nach der ersten Durchsicht
Ihres Etatentwurfs sagen – weit davon entfernt. Wir wer-
den in den Beratungen im Ausschuss darauf hinweisen
und entsprechende Anträge stellen. Ich freue mich auf
diese Diskussionen und auch auf die zweite Beratung
des Etatentwurfs aus Ihrem Hause hier im Plenum, Herr
Niebel.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Letzter Redner zu diesem Einzelplan ist der Kollege
Volkmar Klein für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wenn man am Ende der Debatte die einzelnenBeiträge Revue passieren lässt, dann hat man den Ein-druck, dass einige Kollegen hier über einen ungeliebten,wenig erfolgreichen Problembereich deutscher Politikreden und selber dafür überhaupt keine Begeisterungaufbringen. Das war gestern beim Besuch des neuen Prä-sidenten der Weltbank, Dr. Yong Kim, ganz anders. Erhat Begeisterung für seine Arbeit in der Weltbank ausge-strahlt, vor allen Dingen aber auch für die Quantität unddie Qualität deutscher Entwicklungszusammenarbeit.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 191. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. September 2012 22979
Volkmar Klein
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Mir persönlich ist dabei noch einmal richtig deutlich ge-worden, welch großes Ansehen deutsche Entwicklungs-zusammenarbeit weltweit hat.
Das soll auch so bleiben. Ich will in meinem Redebei-trag vier Botschaften darstellen.Die erste Botschaft: Wir haben im Haushaltsentwurf2013 hervorragende Zahlen für die Entwicklungszusam-menarbeit. Es ist klar: Wir müssen konsolidieren, dieSchuldenbremse einhalten und insgesamt weniger aus-geben. Deshalb sinkt der Haushalt 2013 gegenüber demHaushalt 2012. Trotzdem geben wir mehr Geld für Ent-wicklungszusammenarbeit aus.
Im Jahre 2012 betrug unser Anteil am Haushalt 2,0 Pro-zent. Das Gewicht der Entwicklungszusammenarbeitsteigt. Im nächsten Haushaltsjahr werden 2,1 Prozent derGesamtausgaben für diesen Bereich zur Verfügung ge-stellt, und das – das muss man hinzufügen –, obwohl80 Millionen Euro, die traditionell im Einzelplan 23 an-gesiedelt waren, in den Etat des Außenministeriums ge-schoben worden sind. Das geschah zwar aus guten Grün-den; aber ohne diese Operation wäre das Volumen desEinzelplans 23 sogar um 80 Millionen Euro höher.
Wenn wir, obwohl wir insgesamt sparen müssen undwollen, für diesen Bereich mehr Geld ausgeben, dannmüssen wir das vor den Steuerzahlern bzw. den Bürge-rinnen und Bürgern vor Ort rechtfertigen. Das ist dieRealität. Ich finde, wir können das rechtfertigen. Wir ha-ben einerseits eine ethische Verpflichtung. Wir habeneine Verantwortung für den Nächsten, die nicht an denGrenzen Deutschlands endet. Darüber hinaus haben wirauch ein vitales Eigeninteresse. Denn all die Maßnah-men, die wir in diesem Bereich ergreifen, sind Beiträgezu Frieden und Sicherheit, von denen auch Deutschlandprofitiert. Deswegen ist es richtig, dass Deutschland sehrviel Geld für die internationale Entwicklungszusammen-arbeit ausgibt.Eben wurde der Hinweis, Deutschland sei der zweit-größte Geber, kritisiert. Dadurch soll doch der BeitragSchwedens als wesentlich kleinere Volkswirtschaftkeinesfalls geschmälert werden. Aber es ist schon be-merkenswert, dass wir an Frankreich und Großbritan-nien vorbeigezogen sind. Ich will Ihnen nur eine Zahlnennen: Unser ODA-Beitrag, unser Beitrag zur inter-nationalen Entwicklungszusammenarbeit, betrug imletzten Jahr insgesamt 14,5 Milliarden Euro. Weltweitsind 133 Milliarden Euro gezahlt worden. Das heißt,etwa 11 Prozent der weltweit erbrachten Entwicklungs-hilfe ist im letzten Jahr aus Deutschland gekommen.Dieser Beitrag ist deutlich größer als der, den wir gemes-sen an der Größe unserer Volkswirtschaft leisten müss-ten.
Meine zweite Botschaft: Deutsche Entwicklungszu-sammenarbeit genießt auch inhaltlich eine ausgespro-chen große Anerkennung. Dr. Jim Yong Kim hat die GIZund die KfW in seinem gestrigen Vortrag in den aller-höchsten Tönen gelobt. Er schätzt die Zusammenarbeitzwischen unseren Durchführungsorganisationen und derWeltbank. Andere Länder verhandeln sogar, ob sie sichin Projekte, die unsere Durchführungsorganisationenverwirklichen, einklinken können. Die Fusion von GTZ,InWEnt und DED zur GIZ zahlt sich aus. Das ist ein Er-folg unserer Entwicklungszusammenarbeit.
Wenn man mit afrikanischen Botschaftern redet – ichhabe viele Gelegenheiten dazu –, stellt man fest: Daswird im Allgemeinen gelobt.Über die staatliche Entwicklungszusammenarbeit hi-naus fördern wir mit Mitteln aus dem Bundeshaushaltübrigens auch die Vielfalt, sowohl seitens der Stiftungenals auch seitens der Kirchen; auch das ist gut.Dritte Botschaft: Wir wollen noch besser werden.Deswegen geben wir für eine bessere Evaluierung Geldaus. Wir müssen dafür sorgen, dass in den Entwicklungs-ländern mehr Investitionen, auch private Investitionen,getätigt werden. Es muss darum gehen, dass in diesenLändern mehr Firmen gegründet werden, die Geld ver-dienen und dann auch Steuern zahlen. Nur so kann es zueiner sich selbst tragenden Entwicklung kommen.Dauerhaft am Tropf anderer Länder zu hängen und vonanderen Ländern abhängig zu sein, ist nicht das, was wirunter Ownership und selbsttragender Entwicklung ver-stehen. Insofern: Sicherlich werden wir die Mittel konti-nuierlich steigern, auch wenn Geld allein offensichtlichvielfach überbewertet wird.Ich glaube, die ODA-Diskussion ist an vielen Stelleneine reine Symboldiskussion, zumal wir doch wissen:Wenn Deutschland über die KfW Kredite an Schwellen-länder vergibt, die mit Marktmitteln gehebelt sind – an-dere Länder bekommen derartige Kredite nicht –, dannsteigert dies die ODA-Quote, auf die alle so fixiert sindund auf die alle starren, erheblich. Das hilft den wirklicharmen Ländern aber überhaupt nicht.
Ein bisschen Abrüstung, was die ODA-Diskussion an-geht, wäre, glaube ich, gut.Wir müssen erkennen, dass wir die Politik wenigeranhand ihrer Absichten als vielmehr anhand ihrer Ergeb-nisse bewerten müssen. Insofern hat der Weltbankchefrecht, wenn er sagt, dass wir nicht nur schöne Theorienbrauchen, sondern viel mehr als bisher auch darauf ach-ten sollten, dass es so etwas wie „delivery on theground“, wie er es genannt hat, gibt. Ich übersetze eseinmal so: Die Menschen in den Entwicklungsländernmüssen Verbesserungen erleben.Ich will viertens abschließend sagen: Um dauerhaftverlässlich helfen zu können, müssen wir die Stabilität
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22980 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 191. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. September 2012
Volkmar Klein
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Deutschlands erhalten. Auch das gehört in eine Haus-haltsdebatte. Wir müssen unseren Haushalt insgesamtkonsolidieren. Wir müssen Defizite insgesamt abbauen.Wir müssen – dafür hat Karlsruhe den Weg jetzt freige-macht – die bisher gelungene Gratwanderung, auf der ei-nen Seite über Rettungsschirme kurzfristig einen Crashzu vermeiden und auf der anderen Seite durch Reformenin Europa langfristig Stabilität zu erreichen, fortsetzen.Ich freue mich, dass wir direkt beim nächsten Tagesord-nungspunkt genau darüber intensiv reden können.Herzlichen Dank.
Weitere Wortmeldungen liegen zu diesem Geschäfts-
bereich nicht vor.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundes-
kanzleramtes, Einzelplan 04.
Für die Aussprache haben wir gestern insgesamt drei-
einhalb Stunden vereinbart. Ich erteile das Wort zunächst
dem Kollegen Frank-Walter Steinmeier für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Nicht nur wir, sondern ganz Europa wird heute Morgennach Karlsruhe geschaut haben. Die Entscheidung ist,vermute ich, in ihrer Bedeutung für die Zukunft Europasüberhaupt nicht zu unterschätzen. Wir ahnen wahr-scheinlich alle miteinander, welche Last auf dem Gerichtund den Richtern in den letzten Tagen gelegen hat.Ich will es einmal so sagen: Politisch können undmüssen wir über den richtigen Weg aus der europäischenKrise streiten. Aber wir müssen es auf verfassungsrecht-lich gesichertem Grund tun. Diese Klarheit, liebe Kolle-ginnen und Kollegen, haben wir seit heute wieder, unddas ist gut an der Entscheidung.
Ich bin froh über diese Entscheidung, weil sie erstensden Weg für den Start des ESM freimacht, weil sie zwei-tens die Parlamentshoheit über den Haushalt bestätigt,weil es dadurch drittens keine Entscheidung im Rahmendes ESM geben darf, die die Haftung Deutschlands ver-ändert, und weil dadurch viertens – wir haben in denVerhandlungen über Fiskalpakt und ESM darum ge-kämpft – das Informationsrecht des Bundestages, so dasBundesverfassungsgericht in meinen Worten, Vorranghaben muss vor den Vertraulichkeitsgrundsätzen derESM-Gremien. Das ist ein wichtiger Gesichtspunkt.
Europäische Integration kann es nur mit demokrati-scher Kontrolle und Beteiligung geben. Das ist die Kern-botschaft, die wir heute aus Karlsruhe vom Bundesver-fassungsgericht erhalten haben. Das ist die guteBotschaft aus Karlsruhe. Die Botschaften, die wir ges-tern von der Bundesregierung gehört haben, sind hinge-gen nicht gut.Auch ich weiß seit einigen Jahren, dass Generaldebat-ten über den Haushalt oft vieles sind, nur nicht Debattenüber den Haushalt. Natürlich wird auch heute Bilanzgezogen nach drei Jahren erfolglosen Bemühens einerKoalition, zu einer Regierung zu werden.
Der Haushalt, den diese Regierung vorlegt, ist einDokument, das schon vieles vorwegnimmt. Man stellesich das einmal vor: Ein Finanzminister im Glück – dreiJahre gute Konjunktur, ein Füllhorn, durch steigendeSteuereinnahmen immer wieder aufgefüllt, zusätzlich10 Milliarden Euro durch den historisch niedrigen Zinsals Zusatzgewinn –, und was machen Sie damit? Was istIhr ehrgeiziges Ziel? Sie hätten die erste Regierung seitJahrzehnten sein können, die die Neuverschuldung aufnull bringt. Stattdessen verdaddeln Sie die Chance zwi-schen unseriöser Steuersenkungspolitik und Klientel-befriedigung,
zwischen Mövenpick und Betreuungsprämie. Das ist ge-nau das, was ich seit drei Jahren bei dieser Regierungfeststelle: Sie, Union und FDP, wollten gemeinsam re-gieren. Aber Sie hatten nie ein gemeinsames Projekt, nieein gemeinsames Ziel. Sie wollten die Regierung, aberSie konnten damit nichts anfangen. Das ist „Politik ohneMorgen“, so hat Franz Müntefering vor kurzem ge-schrieben. Dafür war Ihre Rede gestern, Herr Schäuble,ein erschütternder Beweis.
Auf eines – auch das muss gesagt werden – ist in die-ser Koalition immer Verlass: Jeden Sommer versinkt sieregelmäßig in Streit und Chaos. Da kämpft jeder gegenjeden. Verlässlich war bisher auch immer: Anfang Sep-tember kündigt dann die Bundeskanzlerin den Neustartan. Dann geht alles wie nach dem alten Motto vonWiktor Tschernomyrdin: Wir wollten alles besser ma-chen, aber am Ende kam es wie immer.
Ich rechne jetzt nicht drei Jahre auf, sage aber einfachnur mit Blick auf diesen einzigen Sommer: nicht nurStreit über Griechenland, nicht nur Streit über Europa,sondern auch Streit über die Energiewende und dieKosten, Streit über die Zuschussrente, Streit über dasBetreuungsgeld, Streit über die gleichgeschlechtliche
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Dr. Frank-Walter Steinmeier
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Ehe und steuerrechtliche Diskriminierung, Streit – selbstdarüber – über die Verfolgung von Steuersündern; undneben alledem spielt der Innenminister mit den Sicher-heitsbehörden „Reise nach Jerusalem“. Das ist derSommer dieser Regierung.
Da ist keine Linie, da ist keine Führung, da ist keineEntscheidung. Im Kabinett ist jeder gegen jeden. Kaumkommt aus dieser Regierung einmal ein Vorschlag ansTageslicht, ist entweder die CSU dagegen oder die FDPoder beide, und die CDU ist gespalten. Nichts geht mehrin dieser Regierung. Das ist die bittere Wahrheit überdiese Koalition, und die muss heute zur Sprache kom-men.
Mein Eindruck ist: Diese Regierung wirkt ein biss-chen wie ein schwer angeschlagener Boxer, der in dernächsten Runde dem Ende entgegentaumelt. Ich sagenur: Deutschland braucht mehr. Deutschland braucht et-was anderes als ein weiteres Jahr diese schwarz-gelbeAgonie, die wir jetzt gesehen haben. Das geht so nichtweiter.
Nun ahne ich, Herr Kauder: Wenn das nur der Vorsit-zende der Oppositionspartei sagt, dann lässt Sie das imZweifel kalt. Aber ich ahne auch: Sie alle miteinanderwissen sehr genau, das ist bittere Wahrheit. Wir habenkeine Zeit für diesen Dauerstreit innerhalb der Koalition.Die Uhr tickt. Mit dieser Regierung läuft uns die Zeitdavon.
Noch geht es uns gut; Gott sei Dank. Noch sind die So-zialkassen gut gefüllt. Noch sprudeln die Steuereinnah-men. Aber wenn ich die Vorzeichen richtig deute, dannist doch eines ganz gewiss, liebe Kolleginnen und Kolle-gen: Die fetten Jahre, die wir hatten, sind ganz eindeutigvorbei.Dass es uns noch vergleichsweise gut geht – Gott seiDank; ich freue mich darüber –,
ist im Übrigen überhaupt nichts, worauf diese Koalitionin irgendeiner Weise stolz sein könnte.
Dass es uns heute besser geht als anderen, ist das Ergeb-nis von Entscheidungen aus der Vergangenheit. Sieernten auf Feldern, auf denen Sie nie gesät und nie ge-pflanzt haben. Das ist die Wahrheit.
Ob Sie das wahrhaben wollen oder nicht: Es waren indiesem Land eben Sozialdemokraten und Grüne, die dieWeichen neu gestellt haben:
mit viel Streit mit Ihnen, mit viel Streit in den eigenenReihen. Aber es waren Sozialdemokraten und Grüne, diedas Fundament für den Erfolg von heute gelegt haben,niemand anders.
Wir sind damals darangegangen und haben einen Vor-rat angelegt.
– Sie wissen ja, dass ich recht habe. Deshalb schreienSie doch so.
Wir haben damals den Vorrat angelegt, der uns einenVorsprung vor anderen verschafft hat.
Aber dieser Vorrat – das wissen Sie auch, Herr Fricke –bleibt nicht ewig, weil Sie die Vorräte, die wir hatten,nicht ergänzen, sondern sie verfrühstücken.
Wenn man nicht endlich etwas für die Zukunft tut, dannist der Vorsprung, den wir hatten, bald aufgebraucht.Eine Lehre aus den schwierigen zehn Jahren, die wirhinter uns haben, sollten Sie mitnehmen: Hätten wir unsdamals, vor zehn Jahren, so in die Furche gelegt wie Siejetzt, dann wäre Deutschland das geblieben, was wirnach den 90er-Jahren waren: das Schlusslicht in dereuropäischen Wachstumstabelle oder, wie die Zeitungengeschrieben haben, der „kranke Mann Europas“.Wir haben damals dafür gesorgt, dass dieses Landwieder auf Wachstumskurs geht. Das war Mut zur Ver-antwortung. Sie machen das genaue Gegenteil. Ihr einzi-ges Ziel ist Machterhalt, und das ist zu wenig.
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Dr. Frank-Walter Steinmeier
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Meine Frage an diese Regierung und an die Bundes-kanzlerin ist deshalb: Was tun Sie, damit unser Landauch in zehn Jahren noch Arbeit und Wohlstand hat?Was tun Sie gegen den drohenden Fachkräftemangel,gegen die Zunahme von prekärer Beschäftigung, gegendie Ungleichbehandlung von Mann und Frau im Beruf,gegen die ungelösten Probleme bei der Integration? Wastun Sie gegen die wachsende Undurchlässigkeit unseresBildungssystems? Und: Was tun Sie angesichts desDesasters, in das Sie sich selbst mit Ihrer kopflosenEnergiepolitik geführt haben?Wenn es uns nicht gelingt, dafür zu sorgen, dassDeutschland auch in zehn Jahren noch ein attraktiverIndustriestandort mit bezahlbaren Energiepreisen ist,dann können wir uns die ganzen gegenwärtigen Renten-debatten sparen. Ohne funktionierende Unternehmenwird auch der Sozialstaat ausbluten. Dann wird es keineBeschäftigung geben, jedenfalls nicht für 41 MillionenMenschen wie gegenwärtig.
Unser Land hat ein Zukunftsproblem; das habe icheben kurz skizziert. Aber es hat auch ein Gerechtigkeits-problem, und ich behaupte: Das eine hat mit dem ande-ren zu tun. Frau von der Leyen hat mit großem Eifer inden letzten Wochen das Problem der Altersarmut ent-deckt. Inzwischen hat die Regierung gegen Frau von derLeyen beschlossen, dass es doch keine Altersarmut gibtund damit auch keinen Handlungsbedarf. Weil nicht seinkann, was nicht sein darf, versuchen Sie, eine Debatte,die Sie zunächst begonnen haben, jetzt wieder möglichstschnell zu beerdigen, weil sie Ihnen schlicht unwillkom-men ist.Aber ich sage Ihnen voraus: Es gibt eine Wahrheit, ander sich auch eine Koalition von Union und FDP nichtvorbeidrücken kann. Wir müssen in dem Bereich derdrohenden Altersarmut etwas tun. Nur, Frau von derLeyen, wie Sie es anfangen, geht es am Ende auch nicht.Sie zäumen das Pferd von hinten auf. Armut im Alterfolgt der Armut im Erwerbsleben. Die Ursache vonAltersarmut ist Erwerbsarmut.
Deshalb ist das beste Rezept gegen Altersarmut: guteLöhne, entschiedener Kampf gegen Missbrauch vonZeit- und Leiharbeit und – auch wenn Sie es nicht mehrhören können; ich sage es trotzdem noch einmal – einbundesweit verbindlicher gesetzlicher Mindestlohn. Dasbrauchen wir.
Über all das muss man reden – über einen wirklichenZukunftsentwurf, wenn Sie so wollen, der Arbeitsmarktund Demografie endlich zusammenbringt –, aber ebennicht über ein allzu dürftiges Zuschussrentenkonzept,das noch nicht einmal in der eigenen Partei, geschweigedenn in der Koalition auf Zustimmung stößt. Damit kön-nen Sie keine Angebote machen, über die man ernsthaftreden kann, meine Damen und Herren.
Aber, Herr Schäuble, nachdem ich Ihnen gesternzugehört habe, ist es auch gar nicht nötig, darüber zureden. Sie haben gesagt, der Gegensatz zwischen Armund Reich in Deutschland, der da herbeigeredet werde,sei – ich zitiere Sie wörtlich – „ein Hirngespinst“. Dashaben Sie geruht uns mitzuteilen. Wenn das Ihre Haltungist, dann brauchen wir in der Tat auch keine Vorsorgegegen Armut im Alter. Dann brauchen wir in diesemLand keinen Kinderzuschuss für Alleinerziehende. Dannbrauchen wir auch keinen Mindestlohn. Ich sage Ihnennur: Wer so denkt, der versteht auch nicht, warum dienormalen Leute in unserem Land es satt haben, immerwieder zur Kasse gebeten zu werden für die Folgen vonmanchen Maßlosigkeiten und Verantwortungslosigkei-ten bei den wirtschaftlichen Eliten dieses Landes.
Sie werden nicht verstehen, warum die Menschen ein-fach nicht mehr kapieren und akzeptieren, dass, wennwir über die Systemrelevanz von Banken reden, immerOpfer des Steuerzahlers gemeint sind, die anschließendeingefordert werden. Da gibt es entgegen Ihrer gestrigenAussage, Herr Schäuble, ganz viel Ungerechtigkeit inunserem Land. Das ist kein Hirngespinst. Ich sage, es istim Gegenteil so: Soziale Balance ist systemrelevant fürDemokratie. Wir werden das eine nicht ohne das anderehaben. Das ist die Lehre, die wir aus der Krise auf denFinanzmärkten ziehen sollten.
Nicht nur diesen Zusammenhang haben Sie gesterngeleugnet. Der Haushalt, den Sie diese Woche präsentie-ren, ist eigentlich ein Dokument von Mutlosigkeit undauch von Kurzsichtigkeit. Sie stellen sich einfach hinund sagen den Leuten überall in Europa: Nehmt euch einBeispiel an uns! Wir sind ein Muster an Haushaltsdiszi-plin. – Nur, die Wirklichkeit sieht ganz anders aus. Siepredigen Wasser und trinken Wein. Sie setzen die Neu-verschuldung jetzt mit 18,8 Milliarden Euro an. Das istsogar noch mehr – daran führt kein Weg vorbei – als die17,3 Milliarden Euro im Jahr 2011. Wir haben Ihnengestern ja zugehört. Aber Sie können noch so kreativ mitVergleichszahlen umgehen und hier herumdozieren, esbleibt dabei: Trotz jährlich steigender Steuereinnahmenin den letzten drei Jahren steigt Ihre Neuverschuldung.Ich möchte einmal wissen, wem Sie das in Europa alsBeweis für Haushaltsdisziplin durchgehen lassen wür-den – vermutlich niemandem.
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Dr. Frank-Walter Steinmeier
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Auch wenn Sie es gestern von hier aus noch einmalbestritten haben, Herr Barthle: Nicht nur die SPD unddie anderen Oppositionsfraktionen haben den Verdacht,dass Sie sich mit all dem eine Sparbüchse – allerdingseine milliardenschwere Sparbüchse – angelegt haben,um dann im nächsten Jahr, im Wahljahr, dem einen oderanderen schwächelnden Minister noch ein bisschen unterdie Arme greifen zu können. Das ist doch der Grund,weshalb nicht nur die Bundesbank, sondern auch derBund der Steuerzahler Ihnen sagt: Dieser Haushalt zeugtvon mangelndem Ehrgeiz. – Und das ist der Grund, wes-halb wir sagen: Dieser Haushalt stellt vielleicht die Vor-bereitung auf ein Wahljahr dar, nicht aber die Vorberei-tung auf ein Haushaltsjahr; denn das Haushaltsjahrhätten Sie angesichts der enormen Steuereinnahmenganz anders, viel besser, viel ehrgeiziger angehen kön-nen, als Sie es tun.
Die größte Gefahr ist allerdings nach wie vor dieeuropäische Krise, zu deren Lösung Sie in den letztendrei Jahren nichts Entscheidendes haben beitragen kön-nen, noch nicht einmal zu deren Eindämmung. ImGegenteil: Drei Jahre werkeln Sie herum. Die Kriseeskaliert von Jahr zu Jahr. In diesen drei Jahren ist dieKrise – an den Zahlen kann niemand vorbei – vor allenDingen in südeuropäischen Staaten größer geworden. Indiesen drei Jahren ist auch das Risiko für Deutschlandgestiegen. Ich weiß nicht, ob Sie das über den Sommerhinweg verfolgt haben: Das sind schon dramatischeWachstumseinbrüche, die wir in einigen südeuropäi-schen Staaten haben, vor allen Dingen in einem Land,das hier relativ selten zur Sprache kommt, nämlich inSpanien. Deshalb darf man sich mit Blick auf diegesamte Währungszone nicht wundern, dass es inner-halb der Euro-Zone alles in allem einen Auftragsrück-gang von 15 Prozent gibt. Ich spreche nicht von Grie-chenland. Ich spreche von der gesamten Währungszone.Sie haben auch gesehen, dass das mittlerweile in einzel-nen Branchen bei uns ankommt. Kurzarbeit bei Ford inKöln ist nicht das einzige Signal.Ich bin nicht hier, um schlechte Laune zu machen,
sondern das sind schlicht und einfach die Zahlen, mitdenen wir uns auseinandersetzen müssen. Wenn Sie ein-mal einen Blick auf diese Zahlen werfen – das solltenSie nach der Haushaltsdebatte ernsthaft tun –, dann wis-sen Sie auch: Bei diesem europäischen Krisenszenario,über das wir hier jetzt zum wiederholten Male sprechen,ist Matthäi am Letzten. Jetzt mit dem Finger auf anderezu zeigen, wie sich das in den vergangenen Monaten undJahren immer bewährt hat, hilft nicht mehr, weil jedersieht: Der Werkzeugkasten, auch der Werkzeugkastendieser Regierung, ist leer.Jetzt landen Sie genau da, wo ich es Ihnen in meinervorletzten Rede hier im Deutschen Bundestag vorausge-sagt habe. Ich habe gesagt: „Sie werden am Ende beimAnleihekauf der EZB landen“ – und das jetzt unbe-grenzt. Das ist die grandiose Leistung, für die Sie sich,Herr Schäuble, gestern hier mit Selbstlob überschüttethaben.
Ich bin – da können Sie sicher sein – nicht mit denKlagezielen des Kollegen Gauweiler einverstanden.Aber in einem hat er recht: Es waren am Ende auch Sie,diese Bundesregierung, Frau Merkel, die die EZB nachund nach in diese Richtung geschoben haben. Nur, jetzt,am Ende dieser Entwicklung, können Sie sich doch nichthinstellen und rufen: Haltet den Dieb. – Das geht nicht.
Es hat einige Jahre ganz gut funktioniert, sich hierund in der deutschen Öffentlichkeit immer als der deut-sche und europäische Sparfuchs hinzustellen. Als Grie-chenland ein 40-Milliarden-Euro-Problem war, habenSie posaunt: Keinen Cent für Griechenland! – Dannhaben Sie den ersten Rettungsschirm aufgespannt, dannden zweiten und dann immer neue, immer zu spät,immer zu klein. Sie haben rote Linien gezogen, umanschließend, nach dem Überschreiten der roten Linien,das Gegenteil von dem zu machen, was am Tag vorhernoch in Stein gemeißelt war. Was Sie gemacht haben,war – vermutlich wird sich das zeigen, wenn wir in eini-gen Jahren zurück auf diese Jahre schauen – die teuersteVariante der Antikrisenpolitik.
Jetzt, da Rettungsschirme in Milliardenhöhe gefüllt,verteilt, wieder aufgefüllt und wieder verteilt wordensind, kommt oben drauf, was vor einem Jahr für Sie allenoch der Gottseibeiuns war. Mit Verlaub, Frau Merkel,das war aus unserer Sicht immer ein wenig scheinheilig.
Was einen ärgert – auch das sage ich Ihnen ganz offen –:Sie haben sich oft auch von diesem Podium aus denMund über Alternativen zu Ihrer Politik zerrissen, dieauch von anderen ja durchaus vorgestellt worden sind.Sie haben sich über Ideen empört, selbst wenn sie ausIhrem eigenen Sachverständigenrat, dem Rat der Wei-sen, kamen, etwa die Idee des europäischen Schuldentil-gungsfonds. Sie haben sich nicht nur darüber empört,sondern Sie haben das geradezu als Verrat an deutschenInteressen dargestellt. Jetzt, nach dem Scheitern der gan-zen Rettungsschirmpolitik, irrt dieser Teil des Plenumssamt der Regierung einigermaßen plan- und ziellosherum. Jetzt auf einmal, am letzten Wochenende – ichtraue meinen Augen nicht –, wird umstandslos gutgehei-ßen, was vor zwölf Monaten noch der Untergang desAbendlandes war.
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Das können Sie doch der deutschen Öffentlichkeit nichtvorführen. So kann man doch Glaubwürdigkeit in derPolitik nicht erlangen.
Damit ich nicht missverstanden werde: Der EZB istdabei überhaupt nichts vorzuwerfen. Sie tut das, wasjetzt noch zu tun ist, als die einzig noch verbliebenehandlungsfähige europäische Institution. Sie muss dasjetzt tun, weil kein anderer mehr in Europa verhindert,dass die Währungsunion den Bach runtergeht. Aber dasssie das so tut, wie es am Freitag beschlossen wurde,zukünftig ohne jede Begrenzung nach oben und ohnejede demokratische Kontrolle, liegt in der Verantwor-tung auch dieser deutschen Regierung, und das werdenwir der Öffentlichkeit sagen.
Ich habe es ja geahnt – Herr Schäuble, Sie haben esgestern auch hier vom Podium gesagt –: Sie haben erklärt,es werde deshalb alles ganz anders, weil ja sichergestelltsei, dass die Länder, denen durch die Anleihekäufe derEZB Hilfe gewährt werde, erst einmal Programmlandwerden müssten. Im Übrigen könne ja nichts passieren,weil die EZB selbst auf den sogenannten Primärmärktenüberhaupt nicht tätig werden dürfe. Ich habe es geahnt,dass diese Versicherung von heute an die deutsche Öf-fentlichkeit und auch hier an das Parlament geht.Nur, es gibt ja schon Papiere Ihrer Regierung, die be-schreiben, wie das in Zukunft anders aussehen könnte:dass die EZB spanische Anleihen auf dem Sekundär-markt kauft, der ESM Anleihen auf dem Primärmarkt,der ESM dann die gekauften Anleihen an Drittbankenweiterverkauft und die EZB dieser Drittbank die Anlei-hen wieder abkauft. Im Ergebnis jedenfalls landen allediese Anleihen bei der EZB, deren Anleihenportfolio aufdiese Weise mit schlechten Anleihen immer mehrwächst. Das ist das Ergebnis der Entscheidung, die amFreitag getroffen worden ist, auch wenn das Handeln derEZB in dieser Situation notwendig ist.
Ob Sie das wahrhaben wollen oder nicht – wenn Siees heute bestreiten, dann werden wir uns in sechs Mona-ten hier wieder darüber unterhalten –: Das ist nichts an-deres als so etwas Ähnliches wie eine Banklizenz durchdie Hintertür. Das ist natürlich unvermeidbar auch Ver-gemeinschaftung von Schulden, allerdings – das ist derUnterschied zu uns – ohne demokratische Kontrolle,ohne klare, nachvollziehbare Regeln und Auflagen, oderganz kurz: Das, was Sie der deutschen Bevölkerung inden letzten Jahren immer als Ziel Ihrer Politik vor Augengeführt haben, wird jedenfalls durch die Entscheidun-gen, die Sie jetzt neuerdings begrüßen, ins Gegenteilverkehrt. Das müssen wir der Öffentlichkeit sagen.
Herr Schäuble, bei alledem, worüber wir reden: Wasist eigentlich mit der Besteuerung der Finanzmärkte?
Was die EZB jetzt zur Währungsstabilisierung in Eu-ropa tut und tun muss – ich sage es noch einmal –, dasist, ob man es beabsichtigt oder nicht – das muss garnicht das Hauptziel sein –, ganz nebenbei, natürlich auchein Bankensanierungsprogramm, weil auf diese Weisedie Banken die Möglichkeit haben, schlechte Papiere,zum Beispiel über den eben beschriebenen Weg, bei derEZB zu deponieren. Deshalb ist es auch kein Wunder,dass die Märkte im Augenblick so reagieren. Die Ban-kenaktien schießen natürlich im Augenblick mit dieserErwartung durch die Decke. Ich sage noch einmal: Daskann man vielleicht gar nicht vermeiden, dass sich dieBanken auf diese Weise mit sanieren. Die Frage ist nur:Wo bleibt denn Ihre Forderung, dass der Bankensektorspätestens jetzt auch ernsthaft besteuert wird? Ich habeden ganzen Sommer über dazu von Ihnen nichts gesehenund gehört.
Es gab keinen Druck, der irgendwie sichtbar gewordenwäre, keine Forderungen an die europäischen Partner,von denen ich gehört hätte.Deshalb frage ich noch einmal mit Blick auf Ihregestrige Rede, in der Sie sich ja für die Konditionalitätso gelobt haben: Wo ist denn diese Konditionalität, wennes einmal nicht um Sparprogramme bei der Sozialpolitikgeht, sondern wenn es um die Beteiligung der Finanz-märkte an der Bewältigung der Kosten der Krise geht?Dazu haben wir hier etwas vermisst.
Ich verstehe es nicht. Ich verstehe dieses dröhnendeSchweigen nicht, weil wir uns gemeinsam nach schwie-rigen Verhandlungen darauf verständigt haben, dass diesZiel unserer gemeinsamen Politik ist. Was ich michfrage: Wann, wenn nicht in einer solchen Situation,wann, wenn nicht an einer solchen Schwelle, an der wirsozusagen die Methode der Auswege aus der europäi-schen Krise völlig umstellen, wann, wenn nicht jetzt, dadie Europäische Zentralbank mit Ihrer Billigung neueAufgaben erhält, wann, wenn nicht jetzt, gäbe es dieChance, die Skeptiker innerhalb der Währungsunion da-von zu überzeugen, den Weg in die Finanzmarktbesteue-rung mitzugehen? Jetzt wäre der Weg gegeben, und jetztwäre Konditionalität gefragt.
Ich habe jedenfalls nicht gehört, dass irgendwelcheInitiativen in diese Richtung unternommen worden sind.Das ist in meinen Augen auch in diesem Bereich ohnejeden Ehrgeiz. Es ist bei der Finanzmarktbesteuerungwie bei den anderen politischen Feldern, über die ich ge-sprochen habe: Es ist die Haltung dieser Regierung,möglichst die Ziele nicht ehrgeizig zu setzen, sondern ir-gendwie darauf zu vertrauen, dass man schon durch-kommt. Ich sage am Ende nur: Das ist zu wenig für
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 191. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. September 2012 22985
Dr. Frank-Walter Steinmeier
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Deutschland. Das ist zu wenig für Europa. So kommenwir eben gerade nicht durch.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela
Merkel.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Deutschland sendet heuteeinmal mehr ein starkes Signal nach Europa und darüberhinaus.
Deutschland nimmt seine Verantwortung als größteVolkswirtschaft und verlässlicher Partner in Europa ent-schlossen wahr – wie sehr, das haben nicht nur die Bun-desregierung, der Deutsche Bundestag und der Bundes-rat in allen Entscheidungen der letzten Monate mit zumTeil überwältigender Mehrheit, auch in diesem Hause,deutlich gemacht – dafür möchte ich mich auch aus-drücklich bedanken –, sondern das hat heute auch unseroberstes Gericht, das Bundesverfassungsgericht, der Hü-ter unserer Verfassung, mit seiner Entscheidung deutlichgemacht, indem es den Weg für den ESM und den Fis-kalvertrag frei gemacht hat.
Das Gericht macht den Weg genau in dem Geiste frei,der uns und mich auch ganz persönlich immer geleitethat, und das ist das Zusammenwirken aller Institutionen,insbesondere auch mit dem Deutschen Bundestag. DieBekräftigung der Rechte des Parlaments
gibt allen, diesem Haus, aber auch den Steuerzahlern,den Bürgerinnen und Bürgern in diesem Lande, Sicher-heit, und diese Sicherheit ist wichtig für den Kurs, denwir einzuschlagen haben. Deshalb sage ich: Das ist einguter Tag für Deutschland, und es ist ein guter Tag fürEuropa, meine Damen und Herren.
Wir können das in dem Bewusstsein heute hier debat-tieren: Deutschland ist Stabilitätsanker, und Deutschlandist Wachstumsmotor.
Unsere Politik folgt dabei drei Prinzipien: solide Finan-zen, Solidarität mit den Schwachen
und Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit, um die Zukunftzu sichern.
Das gilt sowohl – da sprechen wir immer mit der glei-chen Stimme – für unser Vorgehen in Europa als auchfür unsere Politik hier bei uns zu Hause,
und zwar ist das gespeist aus der festen Überzeugung,dass es Deutschland auf Dauer nur gut geht, wenn esauch Europa gut geht.Deshalb sagen wir: Wir haben eine schwere Krise,eine Krise, die mit Staatsschulden zu tun hat, eine Krise,die mit unterschiedlicher Wettbewerbsfähigkeit zu tunhat.
Wir haben diese Krise noch nicht überwunden. Wir wer-den sie auch niemals mit einem Paukenschlag überwin-den. Aber ich sage auch: Wir haben erste Fortschritte beider Krisenbewältigung erreicht.
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22986 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 191. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. September 2012
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
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Wir haben Solidaritätsmechanismen – das sind der ESMund die EFSF – und auch Fortschritte bei der Wettbe-werbsfähigkeit. Das heißt, wir haben auf der einen SeiteSolidarität und auf der anderen Seite die Verbesserungder Wettbewerbsfähigkeit immer zusammen gesehen.Die Schwierigkeiten, die wir zurzeit haben, sind ganzwesentlich in den einzelnen Mitgliedsländern, insbeson-dere der Euro-Zone, entstanden. Deshalb müssen dieProbleme, auch wenn es hart ist, auch wenn es den Men-schen in diesen Ländern viel abverlangt und auch wennschon sehr viel dabei erreicht wurde, ganz vorrangig inden einzelnen Ländern gelöst werden.
Herr Steinmeier, Sie haben es so hingeworfen, Grie-chenland sei ein 40-Milliarden-Problem. Ich weiß nicht,ob Sie das ernsthaft glauben.
– Ja, ja, damals. – Schauen Sie sich bitte einmal diestrukturellen Probleme Griechenlands an! Ich glaube,verantwortliche Politiker in Griechenland, die es gut mitGriechenland meinen und die die Probleme sehen – vomKatasteramt bis zum Eintreiben von Steuern und vielemanderen mehr –, würden einen solchen Satz nicht sagen,dass Griechenland ein 40-Milliarden-Problem ist.
Deshalb sage ich, dass die Dinge an der Wurzel ange-gangen werden müssen. Neben der Frage der Überwin-dung der Schuldenkrise zeigt sich immer mehr – dasmacht die Schwierigkeit aus –, dass wir gleichzeitig eineunterschiedliche Wettbewerbsfähigkeit in Europa haben.Das ist das eigentliche Problem. Da stellt sich die Frage:Wohin wollen wir denn mit unserem europäischen Kon-tinent? Wollen wir vorne mit dabei sein, oder wollen wiruns durch eine schnelle Haftungsunion in der Mitte tref-fen und dann alle von den Weltmärkten und den Schwel-lenländern abgekoppelt sein? Das wollen wir nicht, diechristlich-liberale Koalition. Das ist der Unterschied,meine Damen und Herren.
Es ist doch verständlich: Wir in der EuropäischenUnion sind weniger als 10 Prozent der Bevölkerung derWelt. Wir produzieren ein Viertel des Bruttoinlandspro-dukts der Welt. Wir geben 50 Prozent der Sozialausga-ben in der Welt aus. Das muss miteinander in Einklanggebracht werden, entweder indem wir wettbewerbsfähi-ger werden oder indem wir kürzen müssen. Ich möchte,dass wir wettbewerbsfähiger, innovativer, kreativer wer-den. Dieser Weg muss beschritten werden, und daran ar-beiten wir.
In dieser schwierigen Krise hat jede Institution ihreVerantwortung. Da ist es richtig, dass der EuropäischeRat, die Parlamente der Mitgliedstaaten des Euro-Raums,die Europäische Kommission und das Europäische Parla-ment ihre Verantwortung wahrnehmen. Aber dazu gehörtauch, dass die Europäische Zentralbank im Rahmen ihrerVerantwortung – sie gründet auf Unabhängigkeit
und ist auf die Erhaltung der Geldwertstabilität begrenzt –ihre Pflichten wahrnimmt. Das tut sie, und, meine Da-men und Herren, sie tut es mit einer Maßgabe, die unse-ren Kurs unterstützt, nämlich mit der Maßgabe, dass dieUrsachen ganz wesentlich in den Mitgliedstaaten selbstliegen und dass deshalb eine strenge Konditionalität dieMaßnahmen der Europäischen Zentralbank begleitenmuss. Das hat die Europäische Zentralbank gesagt, undnicht die, die ihre Unabhängigkeit zu respektieren haben.Deshalb sage ich: Wir empfinden das als Unterstützungunseres Kurses.
Im Kern geht es in Europa um noch etwas anderes.Das, was ich genannt habe, sind die Indikatoren; aberinsgesamt geht es um die Rückgewinnung von verlorengegangenem Vertrauen. Die Glaubwürdigkeit unseresHandelns in der Europäischen Union und ganz beson-ders in der Euro-Zone ist angekratzt; sie ist erschüttertworden und muss wiedergewonnen werden. Man kanndrum herumreden, wie man will: Das Zurückgewinnenvon Vertrauen dauert. Das ist ein schwieriger Prozess,und an dem arbeiten wir.Neben all den Maßnahmen, die in den Nationalstaatenzu passieren haben, neben den Solidaritätsmechanismen,die wir etabliert haben, brauchen wir natürlich auch et-was, das die Gründungsdefizite der Wirtschafts- undWährungsunion, das, was damals nicht geleistet wurde,ausgleicht. Deshalb müssen wir auch die Wirtschafts-und Währungsunion fortentwickeln. Wir haben dabeiwichtige Schritte schon erreicht: Der Fiskalpakt ist heutevom Bundesverfassungsgericht genehmigt worden. Wirhaben erreicht, dass wir einen Euro-Plus-Pakt haben, indem wir sagen: Wir müssen koordinierter zusammenar-beiten. Aber ich sage, dass die Verbindlichkeit dieser Zu-sammenarbeit in beiden Bereichen noch nicht ausreicht.Deshalb wird sich Deutschland aktiv daran beteiligen,wenn es um die Fortentwicklung der Wirtschafts- undWährungsunion geht, wie wir es bereits tun.Das Prinzip dabei muss sein, dass wir nicht möglichstviel nach Europa geben, sondern nur das verbindlich ma-chen, was unbedingt notwendig ist, auf der anderen Seiteaber das bei den Nationalstaaten lassen, was bei den Na-tionalstaaten bleiben kann, aber dass das, was wir unter-einander versprechen, auch wenn es zwischen den Re-gierungen ist, auch wirklich eingehalten wird. Was solldie Welt denn davon halten, wenn wir vor Jahr und Tag– im Übrigen unter meinem Vorgänger – beschlossenhaben, dass jedes europäische Land 3 Prozent seinesBruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklungausgibt, und man heute in Europa zwischen 0,7 Prozent
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und 3,5 Prozent alles finden kann, sich also keiner an dashält, was man beschlossen hat? Das muss aufhören,meine Damen und Herren. Deshalb müssen die nationa-len Politiken verbindlicher werden; es muss von derKommission eingefordert werden können, dass diese na-tionalen Politiken auch durchgesetzt werden. Darumgeht es.
Wir werden deshalb in diesem Deutschen Bundestagbis Dezember über weitere Schritte zu einer Fortent-wicklung der Wirtschafts- und Währungsunion spre-chen. Ich sage noch einmal: Dabei geht es nicht um dieForm – brauchen wir eine Vertragsänderung: ja odernein? –, sondern um das Funktionieren der Wirtschafts-und Währungsunion. Was dafür notwendig ist, wird ge-macht, und dann wird man auch den rechtlich notwendi-gen Weg finden. Es geht zunehmend – das sage ich aus-drücklich – auch um die demokratische Legitimierungdieser Schritte. Wir werden uns darüber zu unterhaltenhaben: Welche Rolle spielt das Europäische Parlament?Welche Rolle spielen die nationalen Parlamente? – Dasist ganz wichtig, um Akzeptanz in der Bevölkerung fürunsere Weiterentwicklung zu schaffen, meine Damenund Herren.
Es ist auch vollkommen richtig, sich noch einmal da-ran zu erinnern, wie die ganze Krise eigentlich entstan-den ist,
und zu fragen: Was haben wir denn in der Finanzmarkt-regulierung erreicht, was haben wir im Bereich der Ban-ken erreicht? Die Krise ist von Bankenversagen ausge-gangen, und deshalb ist es richtig, dass wir festgestellthaben: In Europa – auch das müssen wir sehen – habendie nationalen Bankenaufsichten nicht ausreichendHandlungsfähigkeit bewiesen. Deshalb ist es gut undrichtig, jetzt insbesondere im Euro-Raum Vorschläge füreine gemeinsame Bankenaufsicht zu machen. Die Kom-mission hat Vorschläge vorgelegt. Dazu wird die Bun-desregierung Stellung nehmen; darüber werden wir unsim Parlament unterhalten. Aber auch hier sage ich: Esgeht vor allen Dingen darum, dass diese Aufsicht quali-tativ funktioniert, nicht darum, dass sie möglichstschnell in Kraft tritt, aber dann nicht funktioniert. Esgeht auch nicht darum, dass möglichst jeder überwachtwird – das kann die Europäische Zentralbank gar nichtleisten –; es geht um die Qualität der Überwachung undnicht allein um die Quantität. Das wird der Maßstab un-serer Prüfung sein.
Ich darf sagen, dass wir natürlich einiges bei der Re-gulierung erreicht haben, zum Beispiel schärfere Eigen-kapitalregeln. Wir haben längst die für die Restrukturie-rung der Banken in Deutschland notwendigenrechtlichen Grundlagen erarbeitet; jetzt werden sie inEuropa erarbeitet. Wir haben einzelne Finanzgeschäfte,zum Beispiel die Leerverkäufe, eingeschränkt; Europaist nachgezogen. Wir werden jetzt im Bereich Hochfre-quenzhandel tätig, und auch hier wird DeutschlandMotor sein. Auf internationaler Ebene wird zurzeit ins-besondere über die Schattenbanken gesprochen. Auchhier sage ich: Deutschland und Europa müssen Motorsein, um diese internationale Finanzmarktregelung vo-ranzutreiben. Es gibt Tendenzen, die zeigen, dass anderedaran nicht so interessiert sind, und dagegen müssen wiruns mit aller Macht stemmen.
Wir haben hier im Zusammenhang mit der Ratifizie-rung des Fiskalpakts miteinander davon gesprochen,dass wir eine verstärkte Zusammenarbeit im Bereich derFinanztransaktionsteuer wollen. Der Bundesfinanz-minister wird natürlich alles tun und tut alles, um diesumzusetzen. Dass die Kommission im August nicht ge-arbeitet hat, Herr Steinmeier, können Sie uns nicht anlas-ten. Aber schon beim nächsten Treffen der Finanzminis-ter wird das Thema wieder auf die Tagesordnungkommen; denn wir wollen die Finanztransaktionsteuer.Tatsache ist, dass sich bei den Ländern, die im Augen-blick akute Schwierigkeiten mit ihren Banken haben, dieEuphorie, eine Finanztransaktionsteuer einzuführen, imAugenblick etwas in Grenzen hält. Das heißt, wir wer-den in dieser Frage Treiber sein; aber wir müssen auchzur Kenntnis nehmen, dass es Länder gibt, die dazu eineandere Meinung haben. Es ist gut, dass es dem Finanz-minister gelungen ist, eine Gruppe von Ländern zusam-menzubringen, die sich für eine verstärkte Zusammenar-beit einsetzen will. Selbstverständlich werden wir Ihnenregelmäßig darüber berichten.
Meine Damen und Herren, unsere nationale Politikfindet jetzt in einem international schwierigen Umfeldstatt. Das weltweite Wirtschaftswachstum ist schwach;das europäische Wachstum zeigt leicht rezessive Ten-denzen, wenngleich wir das nicht kleinreden sollten. Alswir jüngst in Spanien auf der großen Investorenkonfe-renz waren, ist etwas sehr Interessantes berichtet wor-den; ich finde, man muss den Ländern auch ein bisschenMut machen. Die Spanier haben gesagt: Die Absätze inder Industrie, insbesondere im Bereich Export, wachsen. –Der Einbruch beim Wirtschaftswachstum rührt natürlichdaher, dass im öffentlichen Sektor erhebliche Reduktio-nen vorgenommen werden. Aber wollen Sie denn allenErnstes sagen, dass das nicht gemacht werden soll, nurum kurzfristig gute Wachstumszahlen zu haben? DieseAnpassungen sind notwendig; gleichzeitig muss dieWettbewerbsfähigkeit für den unternehmerischen Sek-tor gestärkt werden, und genau das macht Spanien. Aufdiesem Weg wünschen wir Spanien allen Erfolg.
Unsere nationale Politik entspricht den Prinzipien vonsoliden Finanzen, Solidarität mit den Schwachen undVerbesserung der Wettbewerbsfähigkeit. Aber wir tragenauch im europäischen Umfeld Verantwortung. Immerwieder wird uns gesagt: Versucht, durch eine gute Bin-
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nennachfrage einen Beitrag zur Ankurbelung der Welt-wirtschaft zu leisten, weil ihr es euch aufgrund eurerHaushaltssituation leisten könnt. – Genau das spiegeltsich in unserem Haushalt wider.Ich bin etwas traurig, erschüttert und durcheinander,
weil Sie zwischen Soll und Ist immer noch nicht unter-scheiden können
und deshalb falsche Informationen über die Haushalteverbreiten. Aber wir werden nicht nachlassen, unsereStatistiken immer wieder sorgsam nachzureichen.
Wir werden Ihnen unsere Statistiken immer wieder zurVerfügung stellen.
Auf jeden Fall werden wir schon im nächsten Jahr, alsodrei Jahre früher, als nach Vorgabe des Grundgesetzeserforderlich, die Schuldengrenze von 0,35 Prozent desBruttoinlandsprodukts erreichen. In dieser schwierigenSituation werden die Haushalte 2014 bis 2016 aufnahezu dem gleichen Niveau bleiben – das zeigt die mit-telfristige Finanzplanung –, und bei gutem Verlauf ist einausgeglichener Haushalt wieder in Reichweite gerückt.Wenn man einmal überlegt, dass wir 2009 mit einemveranschlagten Defizit von über 80 Milliarden Euro indie Debatte gegangen sind, kann ich nur sagen: Diechristlich-liberale Koalition hat hier wunderbar gearbei-tet.
– Dieser Haushalt war, soweit es die Bundeskanzlerinbetrifft, von mir zu verantworten. Ich finde nur, wir ha-ben super gearbeitet. Wenn ich mit einem Defizit vonüber 80 Milliarden Euro gestartet bin und jetzt bei18 Milliarden Euro angekommen bin, dann ist das docheine tolle Arbeit.
Entschuldigung, das wird man doch einmal sagen dür-fen.Wir wollen, dass Deutschland menschlich und wirt-schaftlich erfolgreich ist. Deshalb setzen wir vor allenDingen auf Investitionen in die Zukunft. Das ist es, wo-ran wir uns auch messen lassen. Deshalb haben wir Jahrfür Jahr mehr Geld für Forschung und Entwicklung aus-gegeben: 13 Milliarden Euro insgesamt in dieser Legis-laturperiode. Meine Damen und Herren, man denkt: Da,wo nicht geklagt wird, passiert nichts. Ich kann Ihnennur sagen, dass wir im gesamten Forschungsbereich– durch die Hightech-Strategie, durch unsere Bildungs-ausgaben, durch den Ausbildungspakt und durch vielesandere mehr – Dinge geschafft haben, die man vor Jah-ren noch nicht für möglich gehalten hätte. Wir haben be-nachteiligten Kindern und Jugendlichen mehr Chancengegeben. Wir haben mehr Studierende an den Hochschu-len. Wenn der Bund nicht durch den Hochschulpakt hel-fen würde, hätten wir riesige Probleme. BenachteiligtenKindern helfen wir durch das Bildungspaket.
Wir haben die berufliche Bildung modernisiert undneu strukturiert. Ich will an dieser Stelle noch einmal sa-gen: Egal wohin wir kommen in Europa – ob das Portu-gal ist, ob das Italien ist, ob das Spanien ist, ob dasFrankreich ist –, wir werden um unser duales Ausbil-dungssystem beneidet; denn es ist für eine moderne In-dustriegesellschaft das geeignete Ausbildungssystem.
Deshalb ist es auch unsere gemeinsame Aufgabe, bei derOECD dafür zu sorgen, dass, neben den vielen guten undrichtigen Aufforderungen, dass mehr Menschen studie-ren, das Berufsbildungssystem nicht einfach abgeschla-gen zur Seite gestellt wird, sondern die Priorität hat unddie Anerkennung bekommt, die diesem System in hoch-entwickelten Industriegesellschaften zukommt.
– Ich habe doch nur gesagt: Lassen Sie uns das gemein-sam bei der OECD angehen. Ich bin schon in Brüsselvorstellig geworden und habe gesagt: Man kann aucheine gute Pflegekraft werden, wenn man nur zehn Jahrezur Schule gegangen ist und drei Jahre Ausbildung ge-macht hat. Man muss nicht Abitur haben. – Das müssenwir gemeinsam vertreten. Das ist es, woran wir arbeitenmüssen.
Der Bericht „Bildung in Deutschland“ zeigt, dass wirheute weniger Kinder mit sozialem und wirtschaftlichemBildungsrisiko haben, dass wir bei der Bildungsbeteili-gung von Migrantinnen und Migranten Fortschritte ma-chen. Unsere Integrationsgipfel – das ist übrigens dieArbeit nicht allein der Bundesregierung, sondern auchder Länder und Kommunen – haben sich bewährt. DasNiveau der Schulabschlüsse ist gestiegen. Mehr jungeMenschen studieren Ingenieurwissenschaften, als wir esvor Jahr und Tag hatten. Das alles sind Entwicklungen,die sich in der Zukunft für uns auszahlen werden. Dabeileitet uns das Ziel: Jedes Kind soll die gleichen Chancenauf eine hervorragende Bildung haben. Ich habe in mei-nem Bürgerdialog, bei dem ich mit vielen Menschen ge-sprochen habe, die sich online beteiligt haben, immerwieder gehört, dass der Wunsch geäußert wird, denMenschen eine Chance auf Bildung zu geben, und dassBund, Länder und Kommunen eng zusammenarbeiten.Deswegen unterstütze ich das, was Annette Schavansagte, nämlich einen Bildungsrat einzurichten
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und alle Akteure zusammenzunehmen, um hier voranzu-kommen.
Meine Damen und Herren, Investitionen in die Zu-kunft, das heißt auch, sich auf die augenblicklichen undzukünftigen Entwicklungen vorzubereiten. Wir alle wis-sen, dass der demografische Wandel, die Veränderungder Altersstruktur unserer Gesellschaft, das Thema dernächsten Jahre und Jahrzehnte sein wird. Wir müssen zurKenntnis nehmen, dass Deutschland heute schon dasLand mit dem höchsten Altersdurchschnitt in der Weltist. Diese Tendenz wird sich verstärken. Was bedeutetdas? Das bedeutet, dass die schleichende Veränderung,die wir gar nicht jeden Tag mitbekommen, dazu führt,dass sich in Zukunft Lebenszeit anders verteilen wird,dass sich in den ländlichen und städtischen Regionen derBundesrepublik Deutschland die Bevölkerungsstruktu-ren verändern werden. Das heißt, die Frage: „Wie ge-stalte ich meine Lebenszeit?“ wird das tragende Themader nächsten Zeit werden. Genau deshalb haben wir ge-sagt: Darauf brauchen wir Antworten. Deshalb habenwir unsere Demografiestrategie begonnen: zuerst mit ei-nem Bericht über die Fakten im Oktober 2011, dann hatder Bundesinnenminister zusammen mit den anderen be-teiligten Ressorts ein Aufgabenpaket vorgestellt.
Danach sind wir auf Länder, Kommunen, Sozialpartnerund Bürgergesellschaft zugegangen und haben gesagt:Wir wollen sechs Handlungsfelder definieren und in Ar-beitsgruppen darüber sprechen, was wir hier erreichenkönnen. Am 4. Oktober wird der Demografiegipfel statt-finden; im Mai/Juni 2013 werden wir dann über die Er-gebnisse berichten. Das Erstaunliche ist, dass alle, diewir ansprechen und mit denen wir reden, mehr als bereitsind, sich dieses Themas anzunehmen, und sagen: Wirwollen dabei mitwirken.Natürlich haben wir auch eigene Aufgaben. Dazu ge-hört die Umsetzung des Rechtsanspruchs auf einen Kin-dertagesstättenplatz. Am 1. August 2013 muss diesesZiel erreicht sein. Die Bundesregierung hat jetzt nocheinmal 580 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, damitwir dieses Ziel wirklich erreichen können. Das warwichtig, weil die Zahl derer, die ein solches Angebot inAnspruch nehmen wollen, in unserer Gesellschaft zu-nimmt. Ich sage aber auch: Jetzt sind alle verpflichtet,dies umzusetzen, damit wir diesen Rechtsanspruch am1. August nächsten Jahres einlösen können.
In diesem Zusammenhang werden wir für diejenigen,die staatliche Betreuungsangebote nicht in Anspruchnehmen wollen, im Herbst ein Betreuungsgeld verab-schieden. Für uns gehört beides zusammen.
Wir haben auch in einem anderen Bereich gehandelt.Wir haben gesagt: Wir müssen die Pflegeversicherungreformieren. Dabei waren zwei Dinge wichtig: Zunächstbrauchen wir eine bessere Betreuung von Menschen mitDemenzerkrankungen. Wir brauchen auch eine bessereBetreuung der Personen, die in Pflege sind. Jeder weiß,wie viele Familien in unserem Lande umtreibt, wie daszu organisieren ist. Wir werden aber auch Anreize zurprivaten Vorsorge setzen, weil wir glauben, dass dasPflegerisiko in der Zukunft steigen wird, und weil wirMenschen ermuntern wollen, für den Pflegefall Vorsorgezu treffen.
– Private Vorsorge anzubieten, ist wie bei der Alterssi-cherung – darauf komme ich gleich noch – auch im Be-reich Pflege sehr vernünftig.
Sie haben damals die Riester-Vorsorge als private Vor-sorge vorgeschlagen.
Es gibt, glaube ich, gute Gründe, so auch in Bezug aufandere Lebensrisiken vorzugehen.
Weil wir wissen, dass die Rentenversicherung und dieAltersarmut ebenfalls wichtige Themen sind, haben wirbereits in unserer Koalitionsvereinbarung verankert,dass wir uns genau mit diesen Fragen beschäftigen wol-len. Deshalb ist es richtig, dass die zuständige Ministerindazu Vorschläge gemacht hat. Dieses Risiko haben wirnicht erst vor drei Tagen gesehen. Vielmehr haben wirdies bereits zu Beginn unserer Regierungstätigkeit alsein Risiko notiert, bei dem Handlungsbedarf besteht.
Dass das ein sehr komplexes Fragenpaket ist, werden Sieerkennen, wenn Sie sich die Fakten anschauen. Hier sageich: Wir brauchen unbedingt Antworten auf diese Fra-gen, vor allem für diejenigen, die wenig verdienen, dieeine unterbrochene Erwerbsbiografie haben – hierunterübrigens viele Menschen in den neuen Bundesländern –,und zwar nicht erst in 30 Jahren, sondern relativ bald,weil schon 20 Jahre lang eine hohe Arbeitslosigkeitherrscht. Das betrifft vor allen Dingen diejenigen, dieheute niedrige Einkommen haben.Zur Debatte gehört aber auch – und darauf werdenwir achten –, dass sie realistisch geführt wird. Wer denEindruck erweckt, dass ein Mindestlohn von 7,50 Euro
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oder 8,50 Euro eine Antwort auf das Problem der Alters-armut ist,
der wird sich nicht um eine reale Betrachtung der Faktenverdient machen, sondern weiß, dass er mit Argumentenkommt, die nicht stimmen. Schauen Sie sich die Faktenan, und dann können wir darüber reden. Ich bin sehr da-für.
Auch bei uns in der Koalition gibt es Diskussionen überdie Frage: „Brauchen wir Lohnuntergrenzen, ja odernein?“ Aber den Eindruck zu erwecken, dass das Kon-zept eines einheitlichen Mindestlohns von 8,50 Euroeine Antwort auf das Problem der Altersarmut ist, istnicht redlich. Deshalb müssen wir dagegen angehen.
Die Koalition wird Vorschläge unterbreiten, so wie wires in der Koalitionsvereinbarung als Aufgabe definierthaben,
und zwar relativ bald.Wegen des demografischen Wandels werden wir unsweiterhin mit dem Thema Fachkräftemangel beschäfti-gen. Hier hat die Bundesregierung in zwei Bereichen ge-handelt: auf der einen Seite mit der Anerkennung auslän-discher Berufsabschlüsse – diese Maßnahme beginntjetzt zu wirken – und auf der anderen Seite mit der Um-setzung von Maßnahmen zur verbesserten Zuwanderungvon Hochqualifizierten. Auch hier haben wir nicht nurweitreichende Vorschläge gemacht, sondern auch dieentsprechenden Beschlüsse gefasst.
Wenn wir über Zukunft sprechen, dann sprechen wirauch über die Zukunft des Industriestandorts Deutsch-land. Natürlich war die Energiewende, natürlich warendie Beschlüsse, die wir im Juni 2011 im Lichte der Er-eignisse von Fukushima gefällt haben, eine Zäsur. Ichmöchte noch einmal daran erinnern: Damals haben wirdiese Beschlüsse in großer Gemeinsamkeit in diesemHohen Hause gefällt. Es steht uns gut an, über dieseswirklich große Projekt, dieses große Ziel, bei dem vieleMenschen auch außerhalb Deutschlands auf uns schauenund fragen: „Könnt ihr es schaffen, das Zeitalter der er-neuerbaren Energien schnell zu erreichen und trotzdemein guter Industriestandort zu bleiben?“, weiter gemein-sam zu diskutieren und nicht Scheinbarrieren aufzu-bauen.
Man muss sagen: Wir haben gewusst, dass das keineinfacher Weg wird. Wir haben auch gewusst, dass wirdabei Neuland beschreiten.
Deshalb sage ich Ihnen: Sie werden noch in diesem Jahrden ersten Monitoringbericht über das, was geschafftwurde, bekommen. Darüber wird dann hier diskutiert. Esgibt inzwischen – ich will Ihnen berichten, was gesche-hen ist – eine Arbeitsstruktur mit vielen Unterarbeits-strukturen.
– Ich glaube, dass das sehr wichtig ist. Schauen Sie, dieEnergiewende kann der Bund alleine nicht schaffen.
Bund und Länder müssen zusammenarbeiten.
Deshalb ist es ganz wichtig, dass wir viele Plattformenhaben, auf denen diese gemeinsame Arbeit zwischenBund und Ländern stattfindet.
Ich spüre den Willen der Ministerpräsidenten, der Ener-gieminister und der Umweltminister der Länder – derWirtschaftsminister und der Bundesumweltminister sindhier viel unterwegs –, dieses für Deutschland so wichtigeProblem gemeinsam zu lösen.
Ich biete Ihnen, den Oppositionsfraktionen, an, Sie indiese Gemeinsamkeit einzubeziehen.
Es wäre schön. Je gemeinsamer wir das machen, destobesser.
Der Ausbau der Netze kommt voran. Es gibt vieleProjekte im Zusammenhang mit dem sogenanntenEnLAG-Gesetz, die sich verzögert haben; ich will dashier nicht weiter ausführen. Der Netzbedarfsplan wirdjetzt aber erstellt durch die Bundesnetzagentur, durch dieBetreiber. Das entsprechende Gesetz werden wir vorJahresende vorlegen.
Dabei geht es um die großen Gleichspannungsübertra-gungsleitungen, die die Grundlage dafür sind, dass wirmehr Strom aus erneuerbaren Energien an die Industrie-produktionsstandorte bekommen.
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Der Ausbau im Bereich erneuerbarer Energien gehtzügig voran. Die Probleme der Offshorewindenergieer-zeugung sind gelöst worden. Die entsprechenden Kabi-nettsbeschlüsse dazu gibt es. Wir haben eine EEG-Novelle auf den Weg gebracht, die sich mit der Reduk-tion der Förderung der Solarenergie befasst. Jetzt kommtein Punkt, der zur Redlichkeit wirklich dazugehört,wenn wir das Projekt erfolgreich abschließen wollen:Der Ausbau im Bereich der Solarenergie überschreitetalle Prognosen, die wir jemals gehabt haben. Ich erin-nere an die wichtigen Studien von Prognos usw., die wirbekommen haben. Es hat technische Entwicklungen ge-geben – das ist genau das, was ich mit „Neuland“ meine –,die man so nicht hat absehen können. Wir werden Endedes nächsten Jahres wahrscheinlich um die 40 GigawattLeistung im Solarbereich haben. Um einen Vergleich zugeben: An einem normalen Tag braucht Deutschlandeine zur Verfügung gestellte Leistung von 60 Gigawatt.40 Gigawatt werden wir mit Solarenergie erreichen –nur dass die Sonne nicht den ganzen Tag scheint. Wir ha-ben einen Kompromiss gefunden: Wir haben den Aus-bau im Bereich Solarenergie bei 50 Gigawatt gedeckelt.Meine Damen und Herren, erst dafür zu sein, dass derBereich der Solarenergie stärker gefördert wird, und sichanschließend, jetzt, im Herbst, darüber zu beklagen, dassdie Umlage stärker steigen wird, als wir gedacht haben,das geht nicht zusammen, wenn man es mit der Energie-wende ehrlich meint.
Es geht auch nicht, dass man verschweigt, dass Unter-nehmen, die im internationalen Wettbewerb stehen, vonder Umlage befreit werden müssen, weil sie sonst dieMenschen, die dort beschäftigt sind, entlassen müssten.Man kann nicht dafür eintreten, dass auch diese Unter-nehmen die EEG-Umlage zahlen müssen, nur um sichbei Bürgerinnen und Bürgern lieb Kind zu machen. Daswerden wir nicht durchgehen lassen; denn zur Redlich-keit gehört: Wir wollen eine effiziente Wirtschaft, wirwollen Arbeitsplätze in der energieintensiven Industrie,und wir wollen die Energiewende schaffen. Das musszusammengebracht werden, und da muss man auch dieunangenehmen Wahrheiten aussprechen.
Es wird im Verlaufe des Herbstes auf noch etwas an-kommen. Wir haben nicht nur sehr große Kapazitäten imSolarbereich, sondern Planungen für Windenergie, nachdenen wir, wenn wir sie addieren, um 60 Prozent überdem liegen, was wir an Windenergie in den nächstenJahren brauchen werden. Deshalb müssen wir auch hiermit den einzelnen Ländern darüber sprechen: Wie bauenwir die Windenergie so aus, dass wir den richtigen Pfadvon Preisgünstigkeit und Schaffung von mehr Kapazitätfür erneuerbare Energien hinbekommen?
Auch das geht ohne Absprachen zwischen Bund undLändern nicht. Darauf werden wir im Laufe des Herbsteszurückkommen.
Ich sage Ihnen: Kassandrarufe bei dem ThemaEnergiewende sind völlig unangebracht. Neulich hat je-mand in der Zeitung Die Zeit geschrieben: Wir sind aufeinem 10 000-Meter-Lauf, und wer nach 1 000 Meternschreit: „Das ist alles nicht zu schaffen“, der hat die Auf-gabe nicht verstanden. – Wir fühlen uns dieser Aufgabeverpflichtet – der Wirtschaftsminister, der Umweltminis-ter, die ganze Bundesregierung, die Koalitionsfraktio-nen.
Wir werden unseren Beitrag dazu leisten, dass wir dasschaffen. Es wird eines der ganz gelungenen Projekte fürDeutschland werden; ich bin davon zutiefst überzeugt.
Meine Damen und Herren, wir sind uns alle schnelldarin einig, wenn es heißt: Der Aufschwung, das, waswir uns erarbeitet haben, muss bei den Menschen an-kommen. Deshalb möchte ich noch zwei bzw. drei The-men ansprechen; eines hängt mit dem Umweltschutz zu-sammen.Wir wissen, der große Markt, auf dem wir CO2 ein-sparen können, auf dem wir Wachstum generieren kön-nen, ist die Gebäudesanierung. Seit über einem Jahr ver-handeln wir nun über die steuerliche Förderung derGebäudesanierung. Es gibt Rechnungen über Rechnun-gen, in denen nachgewiesen wird, dass die Zunahme beiden Mehrwertsteuereinnahmen die Ausfälle bei der Ein-kommensteuer um ein Vielfaches übersteigt. Die Um-weltverbände, das deutsche Handwerk, alle Gruppen, diemir überhaupt bekannt sind, haben sich vielfach flehent-lich an die SPD-regierten Bundesländer gewandt, siemögen hier doch bitte gemeinsam mit uns eine Lösungfinden. Deshalb sage ich ganz einfach: Tun Sie etwasGutes für die Energiewende, indem Sie endlich der Ge-bäudesanierung das Tor öffnen, damit wir hier handelnkönnen.
Meine Damen und Herren, wir sollten gerade die Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die so wesentlichdazu beigetragen haben, dass wir so gut durch die Kri-senjahre gegangen sind, die zu Flexibilität bereit waren– wenn man sich einmal die Arbeitszeitkonten anschaut,dann sieht man, welche Flexibilität wir da gewonnen ha-ben –, fair an den ansteigenden Einnahmen beteiligen.Es ist absolut unverständlich, dass es so schwierig ist,über einen ansteigenden Grundfreibetrag und die Verrin-gerung der kalten Progression mit der Sozialdemokratieund den Grünen zu diskutieren.
Wir haben vorgeschlagen, dass der Bund von denSteuerausfällen einen größeren Anteil übernimmt, als eseigentlich unsere Aufgabe wäre. Dass Sie den Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmern nicht das geben wol-len, was ihnen zusteht, wenn sie die verdiente Lohnerhö-hung bekommen, das werden wir thematisieren, wennSie Ihre Meinung nicht ändern.
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22992 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 191. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. September 2012
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
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Wir erleben täglich, dass sich Menschen in unseremLande den Veränderungen stellen. Die Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmer haben das in der Krise getan. Wirsehen, dass die Soldatinnen und Soldaten es tun, wenn esum die Umstrukturierung der Bundeswehr geht. Wir ha-ben über die Maßen bei der Aussetzung der Wehrpflichtdas erfreuliche Erlebnis gehabt, dass der Zivildienstdurch einen Bundesfreiwilligendienst ersetzt werdenkonnte, weil Menschen sich eingebracht haben. Es gibtein überwältigendes ehrenamtliches Engagement in un-serem Lande. All das macht es möglich, auf eine sichverändernde Welt überhaupt reagieren zu können.Die Menschen erheben auch ihre Stimme, wenn esum die Grundlagen unseres freiheitlichen demokrati-schen Zusammenlebens geht. Das haben wir bei denschrecklichen Attentaten im Zusammenhang mit denNSU-Morden erlebt. Ich wiederhole hier – auch ange-sichts der Vorgänge von gestern –: Wir tun alles – wennich „wir“ sage, dann meine ich die gesamte Bundes-regierung –, um die Dinge aufzuklären, und der Bundes-innenminister tut alles, um die Sicherheitsstrukturen sozu formen, wie es notwendig ist, damit sich in Zukunftsolche Dinge nicht wiederholen.
Wir wollen, dass die Menschen in diesem Lande,auch wenn sie verschiedenen Religionen angehören,friedlich zusammenleben können. Deshalb wird dieBundesregierung auch das einlösen, worum sie der Bun-destag gebeten hat, nämlich einen Gesetzesvorschlag fürdie Beschneidung vorlegen. Das ist uns wichtig. Das istdie Grundlage: Gewaltlosigkeit, Integration. Deshalbsage ich: Die Bundesregierung wird das alles unterstüt-zen. Ich freue mich zum Beispiel darüber, dass die Bun-desligavereine an diesem Samstag nicht mit ihren nor-malen Trikots spielen werden, sich für die Integrationvon Migranten einsetzen und sagen: Geh deinen Weg,egal woher du kommst. Wir wollen, dass du Erfolg indiesem Land hast. – Diese Bestrebungen wollen wirunterstützen.
Die Politik setzt Leitplanken – das tun wir –, aber diePolitik ist auch darauf angewiesen, dass die Menschen indiesem Lande ihr Land gern haben, ihr Land lieben undihren Beitrag für das Gelingen dieses Landes leisten. Ichhabe Ihnen berichtet, welche Leitplanken wir setzen, undich freue mich, das für ein Land zu tun, in dem die Men-schen so aktiv, so bereit sind, eine gute Zukunft für ihreKinder und Enkel zu gestalten. In diesem Sinne ist mirnicht bange um die Zukunft Deutschlands.Herzlichen Dank.
Für die Fraktion Die Linke hat das Wort nun der Kol-
lege Gregor Gysi.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Bun-
desverfassungsgericht hat heute früh entschieden, die
einstweiligen Anordnungen nicht zu erlassen.
Sie haben davon gesprochen, Frau Bundeskanzlerin,
aber Sie haben nichts zu den Auflagen gesagt. Herr
Trittin meinte, die Linke hätte heute eins auf die Mütze
bekommen.
Ich glaube, er hat das Urteil nicht verstanden.
Ich will versuchen, es Ihnen kurz zu erklären. Nach
meiner Kenntnis – ich bin mir nicht hundertprozentig
sicher – ist es überhaupt das erste Mal in der Geschichte
der Bundesrepublik, dass das Bundesverfassungsgericht
entschieden hat, dass völkerrechtlich verbindliche Vor-
behalte erklärt werden müssen – das ist sehr viel mehr
als nichts –,
und zwar in zwei Richtungen: Erstens muss völkerrecht-
lich verbindlich geklärt werden, dass es ein Überschrei-
ten der Haftung Deutschlands von 190 Milliarden Euro
nur dann geben darf, wenn Deutschland vorher zuge-
stimmt hat.
Zweitens – ich sage gleich etwas zu Ihnen – muss trotz
der Schweigepflicht der Mitarbeiterinnen und Mitarbei-
ter der Europäischen Zentralbank und anderer Regelun-
gen gesichert werden, dass der Bundesrat und der Bun-
destag umfassend und vollständig zu informieren sind.
Wenn Sie sagen, dass das schon im Gesetz steht, dann
sagen Sie dem Bundesverfassungsgericht, dass es Über-
flüssiges entschieden hat. Hat es aber nicht, ganz im
Gegenteil.
Ich sage Ihnen auch, warum. Das ist ein indirekter
Eingriff in die Verträge. Völkerrechtlich verbindliche
Vorbehalte zu erklären, ist schwierig. Ich warne Sie jetzt
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wenn Sie dieVorbehalte formulieren, lassen Sie das nicht allein dieRegierung entscheiden. Bundestag und Bundesrat müs-sen über die Vorbehalte mitentscheiden.
Um eine völkerrechtlich verbindliche Regelung zutreffen, könnte es sogar sein – das ist noch strittig –, dassalle anderen Länder zustimmen müssen. Ich sage Ihnen:Hier hat das Bundesverfassungsgericht erst einmal einStoppzeichen gesetzt, weil vieles zu klären ist. Das Bun-desverfassungsgericht hat noch etwas gesagt: Wenn dieVorbehalte nicht wirksam werden, dann gelten die Ver-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 191. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. September 2012 22993
Dr. Gregor Gysi
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träge für Deutschland nicht. Das hat es ausdrücklichbetont.Wir haben also zwei Dinge erreicht – wir, nicht Sie;die Fraktionen von Union, SPD, FDP und Grünen habendiesbezüglich nichts unternommen; es hat sie nicht inte-ressiert –: Wir haben erreicht, dass es eine Haftungsbe-grenzung für Deutschland gibt
und dass Bundesrat und Bundestag mehr Rechte haben.Das heißt, wir haben die Demokratie bereichert.
Eigentlich müssten Sie sich heute hier hinstellen undsagen: Danke, liebe Linke! – Denn das verdanken Sieuns. Das ist die Wahrheit.
Sie haben zu Recht, Frau Bundeskanzlerin, daraufhingewiesen, dass die Krise von den Banken verursachtwurde. Deshalb – ich wiederhole es – ist der BegriffSchuldenkrise völlig falsch, weil damit immer der Ein-druck erweckt wird, als seien die Sozialausgaben undÄhnliches in den betroffenen Ländern zu hoch gewesen.Nein, wir haben für die Pleitebanken, die spekuliert undgezockt haben, gezahlt, in Griechenland, in Spanien, inItalien, in Deutschland, überall. Das hat die hohe Ver-schuldung verursacht. Ich frage Sie: Warum können wiruns nicht darauf verständigen, dass es nicht die Pflichtder europäischen und damit auch der deutschen Steuer-zahlerinnen und Steuerzahler ist, für die Zockerei derBanken zu bezahlen? Wieso werden die dafür eigentlichin Anspruch genommen?
In den Bundesländern wurde gerade über einenStaatsvertrag, in dem es um Spielkasinos geht, verhan-delt. Folgendes fand ich ganz witzig: Eine linke Land-tagsfraktion hat beantragt, die Banken mit aufzunehmen.Das ist von Ihnen natürlich abgelehnt worden. Aber ichsage Ihnen: Ja, die Banken sind zu Spielkasinos verkom-men. Ich nenne Ihnen nur ein Beispiel: Was zurzeit welt-weit in Bezug auf Lebensmittel geschieht, ist abenteuer-lich. Da wird spekuliert, und die Lebensmittel werdenimmer teurer. Die nehmen Hunger in Kauf, nur um Pro-fite zu machen. Das spricht für Menschenverachtung.Dagegen sollten Sie etwas tun, Frau Bundeskanzlerin.
In Europa wird nun der Weg der harten Kürzungsauf-lagen beschritten. Ich halte diesen Weg für falsch; denner verschärft die Krise. Ich nenne einige Zahlen: In Grie-chenland beträgt die Arbeitslosenquote derzeit 25 Pro-zent, in Spanien 22 Prozent. Die Jugendarbeitslosen-quote beträgt in Griechenland 55 und in Spanien 53 Pro-zent. Ich frage Sie: Was soll aus diesen Jugendlichenwerden? Ich ahne schon, wie die Überschriften in derBild-Zeitung lauten werden, wenn diese Jugendlichenspäter kriminell werden und strafbare Handlungen bege-hen. Jetzt werden die Ursachen dafür gelegt. So kannman die Probleme Europas nicht lösen.
Wir erleben Kürzungen bei Löhnen, bei Renten, beimArbeitslosengeld und bei Investitionen. Ich nenne Ihnennur ein Beispiel – Sie haben es ja sehr gewürdigt, FrauBundeskanzlerin –: Portugal. In Portugal müssen alleArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ab 2013 um7 Prozent höhere Versicherungsbeiträge zahlen, und dieUnternehmen werden bei den Versicherungsbeiträgenum 5,5 Prozent entlastet. Es findet wie immer eine Um-verteilung von unten nach oben statt. Und die Rentner inGriechenland? Sie sind krankenversichert und müssentrotzdem alle Medikamente selbst bezahlen, weil ihnensonst nicht geholfen wird. Eine Frau, die in Griechen-land zur Entbindung in ein Krankenhaus muss, muss dieEntbindung selbst bezahlen; sonst wird ihr ärztlich nichtgeholfen. Sagen Sie einmal: Wo leben wir eigentlich? Esgibt doch wohl Grenzen, die nicht überschritten werdendürfen!
Die Wirtschaftsleistung Griechenlands ist um einFünftel zurückgegangen; solche Zahlen gab es früher nurim Krieg. Aber in einem Punkt hat Frau Bundeskanzle-rin recht: Wenn Griechenland aus dem Euro-Raum aus-tritt, dann wird Griechenland nicht nur verelenden, son-dern das wird auch teuer für Deutschland. Das kostet unsmindestens 62 Milliarden, wenn nicht gar 80 Milliar-den Euro. Außerdem würde das einen Dominoeffektauslösen. Ich sage Ihnen: Die Ratingagenturen undHedgefonds greifen sich dann Portugal, später Spanienund Italien, und dann ist der Euro tot. Wenn der Euro totist, führt das zu einer Katastrophe in Deutschland. Wür-den alle Länder in Europa ihre nationalen Währungenwiederbekommen, wäre das nicht nur ein Rückschritt,sondern hätte auch zur Folge, dass die anderen Länderihre Währungen so lange abwerten würden, bis wir dort-hin so gut wie nichts mehr verkaufen können. Dannbricht hier die Außenwirtschaft zusammen, mit allendamit verbundenen Folgen wie Arbeitsplatzproblemenetc. Tun Sie nicht so, als seien Sie altruistisch! Deutsch-land braucht dringend den Euro. Das ist die Wahrheit.
Wir müssen – ich sage es noch einmal – auch endlichvon der gescheiterten Politik der Kürzungen wegkom-men. Herr Steinmeier, Sie sind darauf eingegangen, dassSPD und Grüne die Voraussetzungen dafür geschaffenhaben. Gerade jährte sich die Agenda 2010. Womit wardie Agenda 2010 verbunden? Mit der Senkung des Ren-tenniveaus, mit der Teilprivatisierung der Rente, mit derSchaffung eines Niedriglohnsektors, mit einer umfassen-den prekären Beschäftigung wie erzwungener Teilzeit,Befristung, Leiharbeit und all diesen üblen Sachen. Vor-gestern feierte Gerhard Schröder den Jahrestag derAgenda 2010.
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Dr. Gregor Gysi
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– Auch Sie würdigen ihn; auch die SPD ist stolz. – OskarLafontaine sprach vor denselben Studierenden dagegenund erklärte: Sie war die Einleitung des Sozialabbausund die Entsozialdemokratisierung der SPD. – Ich finde,nicht Gerhard Schröder, sondern Oskar Lafontaine hatrecht.
In den letzten zehn Jahren sind die Reallöhne um4,5 Prozent, die Renten um 8 Prozent und die Sozialleis-tungen um 5 Prozent gesunken. Knapp 8 MillionenMenschen arbeiten im Niedriglohnsektor, sie verdienenStundenlöhne von unter 7 Euro, unter 6 Euro, sogarunter 5 Euro brutto. Im letzten Jahr waren 2,7 MillionenMenschen befristet beschäftigt. Fast jede zweite Neuein-stellung ist befristet. Hinzu kommen Leiharbeit, Auf-stockerinnen und Aufstocker und anderes. Sie könnendoch die Probleme nicht einfach negieren. Schröder undFischer, SPD und Grüne, aber auch Union und FDPbegründen das immer damit, dass das im Interesse derWettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft, also imHinblick auf hohe Exportzahlen, nötig sei. Deutschlandlebt über seine Verhältnisse, weil wir sehr viel mehr her-stellen, als wir verbrauchen. Andere Länder leben unterihren Verhältnissen, weil sie weniger herstellen.Deutschland ist ja nicht zufällig Vizeexportweltmeister.
– Nein, Moment doch mal! – Aber wenn wir Länder armmachen, die bei uns kaufen, dann kaufen sie hier weni-ger ein, und auch wir spüren das dann. Fragen Sie docheinmal die Beschäftigten bei Opel, die das schon erle-ben. Die Exporte aus Deutschland nach Italien, Spanien,Griechenland und Portugal sind schon um 10 Prozent zu-rückgegangen. Wir senken in anderen Ländern die Kauf-kraft, und das hat Folgen auch für uns; so einfach ist das.Alles steht doch in einem Zusammenhang. Wenn der Ex-port in Deutschland zusammenbricht, führt das – ichhabe es schon gesagt – zu einer steigenden Arbeitslosig-keit mit verheerenden sozialen Folgen.
Ich höre schon jetzt, wie Union, SPD, FDP und Grünedann rufen: Wir müssen die WettbewerbsfähigkeitDeutschlands wiederherstellen! – Wenn sie das rufen,dann heißt das: wieder runter mit den Löhnen und denRenten, noch mehr Geringverdienende und noch mehrprekär Beschäftigte.
Das ist der falsche Weg.
Wir brauchen endlich, und zwar im Süden Europaswie in Deutschland, einen Weg, um die Binnenwirtschaftzu stärken. Wir brauchen höhere Löhne, höhere Rentenund Sozialleistungen, mehr soziale Gerechtigkeit unddarüber eine Stärkung der Binnenwirtschaft.Für die Südländer, also Griechenland, Italien, Spa-nien, Portugal, brauchen wir einen Marshallplan, wirbrauchen Aufbau- und nicht Abbaukredite; das wissenwir aus unserer eigenen Geschichte. Außerdem müssenwir nicht immer den Umweg über private Banken gehen,die wir reich machen, sondern Direktkredite gewähren.Nur wenn die Länder über Steuereinnahmen verfügen,können sie Darlehen zurückzahlen. Anders kann dasüberhaupt nicht funktionieren. Wenn Sie den SüdenPleite machen, sorgen Sie damit dafür, dass Deutschlandseine Gelder nicht zurückbekommt. So einfach ist das.Übersetzt bedeutet das Folgendes: Ich will immer,dass es meiner Nachbarin gut geht. Aber wenn ich ihrGeld gebe, will ich erst recht, dass es ihr gut geht; dennnur dann bekomme ich mein Geld zurück. Das ist ganzeinfach.Die EZB leiht den Privatbanken Geld für 0,75 ProzentZinsen für drei Jahre, und die Banken unterstützen dannItalien und andere Länder für 6 Prozent Zinsen. Dasheißt, sie nehmen Staatsgeld, geben es einem Staat undverdienen die Differenz. Womit rechtfertigen Sie daseigentlich gegenüber den Steuerzahlerinnen und Steuer-zahlern in Deutschland?
Auch ich sage: Es muss Auflagen für Griechenlandgeben. Zum Beispiel müssen die Militärausgaben hal-biert werden, die reichen Griechen endlich gerecht be-steuert werden, Steuerhinterziehung wirksam bekämpftwerden. Dafür bin auch ich. Aber wir brauchen nochetwas: Wir müssen endlich den Weg gehen, die Verur-sacher der Krise und die, die einen Nutzen von der Krisehaben, zur Bezahlung heranzuziehen, und nicht dieRentnerinnen und Rentner, nicht die Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer, nicht die Erwerbslosen.
Ich nenne Ihnen nur zwei Zahlen: Vor der Krise gabes in Deutschland 720 000 Vermögensmillionäre. Jetztgibt es 960 000 Vermögensmillionäre. Die Reallöhnewurden gekürzt, und die Zahl der Vermögensmillionäreist größer geworden. 0,6 Prozent – 0,6 Prozent! – unse-rer Bevölkerung besitzen ein Vermögen von 2 BillionenEuro. Das entspricht der Höhe unserer gesamten Staats-schulden. Was ist das eigentlich für eine maßlose Unge-rechtigkeit?Beim Kampf gegen die Steuerhinterziehung höre ichimmer ein Argument. Es kommt von der Union und,jetzt vielleicht nicht mehr – das hoffe ich jedenfalls –,von der SPD. Das Argument heißt immer: Die Reichenbringen dann ihr Vermögen ins Ausland, oder sie neh-men ihren Wohnsitz auf den Seychellen oder in anderenLändern. Deswegen kann ihr Vermögen nicht besteuertwerden.
– Ich kenne das Problem.Deshalb haben wir Ihnen vorgeschlagen – Sie habendas bisher aber abgelehnt –, dass wir diesbezüglich
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Dr. Gregor Gysi
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US-Recht einführen und die Steuerpflicht auch an dieStaatsbürgerschaft binden. Ein Deutscher, egal wo erwohnt, wäre dann verpflichtet, hier in Deutschland seinEinkommen und sein Vermögen bekannt zu geben. Erkann auch bekannt geben, welche Steuern er woanderszahlt. Das wird angerechnet. Hinsichtlich der Differenzbekommt er einen Steuerbescheid. Dazu müsste jederDeutsche, egal wo er wohnt, verpflichtet werden. So ha-ben das die Amerikaner geregelt. Warum können wir dasin Europa nicht endlich auch so regeln?
Das wäre übrigens auch für die 2 000 griechischenFamilien wichtig, denen 80 Prozent des VermögensGriechenlands gehört. Dann können auch sie zur Kassegebeten werden. Aber Sie sträuben sich immer dagegen.Ich finde, Sie haben dafür keine guten Gründe.Wenn ich das zusammenfasse, sage ich immer Fol-gendes: Es gibt drei Wege im Zusammenhang mit derKrise. Union und FDP gehen den Weg, Geld durch dieEuropäische Zentralbank drucken zu lassen. Wenn manGeld drucken lässt, entwertet man das Geld, entwertetman die Sparguthaben, entwertet man die Löhne undRenten. Sie dürfen die Folgen von dem, was Sie dort an-richten, nicht unterschätzen.SPD und Grüne wollen den Weg über die gemein-schaftliche Verschuldung gehen. So, wie Sie das vor-schlagen, ist das abenteuerlich, weil die Leute für Dingeim eigenen, aber vor allen Dingen auch in anderen Län-dern haften, auf die sie nicht den geringsten Einfluss ha-ben.
Ich sage: Man kann das eine und das andere ein biss-chen machen. Im Kern muss es aber einen anderen Weggeben, den Weg der Umverteilung, und zwar endlicheinmal von oben nach unten und nicht von unten nachoben.
Wenn wir das nicht machen, bekommen wir die Kriseweder bezahlt noch sozial gerecht bewältigt.Kommen wir doch kurz einmal zur Energiewende.Als der Bundestag den Ausstieg aus der Atomenergiebeschloss, Frau Bundeskanzlerin, habe ich hier – dasmuss ich einmal sagen – als Einziger darauf hingewie-sen, dass damit auch die soziale Frage verbunden ist.Das hat Sie damals alle noch nicht beschäftigt. Ich habeIhnen gesagt: Der Strom wird sich verteuern. Die Frageist: Wie wollen wir dieses Problem lösen?
– Nein, ich habe nichts gegen den Ausstieg aus derAtomenergie, aber die sozialen Fragen müssen wir indiesem Zusammenhang sehen und beantworten.Jetzt wird angedroht, dass sich die Preise um 30 Pro-zent erhöhen. Wollen wir, dass ganze Familien ohneStrom leben?
Ich finde übrigens die Millionen Stromabsperrungen, diewir haben, indiskutabel. Es verletzt die Würde einesMenschen, wenn er keine Energie hat. Ich finde, Strom-abschaltungen müssten wir verbieten.
Das Zweite, das wir endlich begreifen müssen: Ener-gieversorgung ist eine öffentliche Daseinsvorsorge. Des-halb gehört auch sie in öffentliche Hände. Ich möchte,dass demokratisch gewählte Parlamente und Regierun-gen über das Verhältnis von Kosten und Preisen ent-scheiden. Genau das lehnen Sie ab.
Wahr ist – da haben Sie recht –, dass wir erneuerbareEnergien benötigen. Aber dann erklären Sie mir docheinmal, warum Sie gesetzlich garantierte Förderung dererneuerbaren Solarenergie herunterfahren und die derWindenergie hochfahren. Dafür gibt es einen Grund: Diegesetzlich geförderte Solarenergie nutzt auch mittelstän-dischen Unternehmen. Die Windparks an Nord- und Ost-see können sich nur die vier Konzerne leisten. Immerwieder treffen Sie Maßnahmen zugunsten der Konzerne.Hier kommt noch hinzu, dass die Solarindustrie nichtnur, aber überwiegend im Osten und besonders in Sach-sen-Anhalt entstanden ist. Ich sage Ihnen: Deindustriali-sieren Sie den Osten nicht zum zweiten Mal! Das istnicht zu verkraften.
Wir wollen auch Sozialtarife. Ich mache Ihnen einenVorschlag. Wir könnten doch sagen: Pro Person ist einebestimmte Menge an Kilowattstunden – wir können überdie Höhe diskutieren, vielleicht 500; ich weiß es nicht –beitragsfrei.
Dafür muss nichts bezahlt werden. Aber danach beginnteine lineare Steigerung. Das heißt, wir erreichen zweiDinge: Erstens. Es ist sozial. Zweitens. Wir setzen öko-logisch durch, dass man mit Energie sparsam umgeht,weil man sie danach, linear steigend, zu bezahlen hat.Wir wissen, dass es gerade bei ärmeren Familien vieleStromfresser gibt, weil sie sich keine neuen Haushalts-geräte leisten können. Wie wäre es denn hier statt beimAuto mit einer Abwrackprämie von 100 Euro, wenn je-mand sein Gerät zum Schrott bringt und sich dafür einestromsparende Maschine kauft?
Aber es gibt ein weiteres Problem: die Mieten. DieMieten werden langsam unbezahlbar. Das gilt für Mün-chen und für viele andere Städte in Deutschland. Woh-nen muss aber bezahlbar bleiben. Auch das hat etwas mitder Würde des Menschen zu tun. Ich finde, dass Obdach-losigkeit keine Lösung ist. Ergo müssen wir doch übereine Deckelung der Mieten nachdenken. Von der Bun-
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Dr. Gregor Gysi
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desregierung kommt aber nichts. Ich möchte, dass Sieendlich Vorschläge unterbreiten.
Nun kommen wir zur Rente. Frau Bundeskanzlerin,Sie haben über die Rente gesprochen, aber ein wirklichwichtiges Thema ausgelassen. Die Stärke der Linkenreichte aus, um CDU, CSU und FDP dazu zu bringen,die Angleichung der Rentenwerte Ost und West in denKoalitionsvertrag aufzunehmen. Leider – das muss ichden Wählerinnen und Wählern sagen – reichte aber un-sere Stärke noch nicht aus, Sie dazu zu bringen, das auchumzusetzen. Sie haben sich jetzt für den Koalitionsver-tragsbruch entschieden und sagen: Die Angleichung fälltaus. – Ich bitte Sie: Wir haben jetzt 22 Jahre deutscheEinheit, und wie 1990 muss ich immer noch sagen: ZurEinheit gehört, dass man endlich für die gleiche Arbeitin gleicher Arbeitszeit den gleichen Lohn bekommt undfür die gleiche Lebensleistung die gleiche Rente. Werdas nicht will, der spaltet Deutschland.
Nach der Entscheidung – auf unsere Kleine Anfragehat die Regierung mitgeteilt, dass die Angleichung derRentenwerte ausfallen wird – habe ich einen Brief vonCDU-Frauen, Rentnerinnen aus dem Osten, bekommen,Herr Kauder, die sich bei mir über Sie beschweren. Soweit ist es inzwischen schon gekommen.
Dann haben wir noch ein weiteres Thema: Altersar-mut. Das betrifft ganz Deutschland. Ich danke Frau vonder Leyen und auch Herrn Gabriel dafür, dass plötzlichdie 35- und 45-Jährigen begriffen haben, dass es sie tref-fen wird und dass sie in noch schlimmerer Altersarmutals heute leben werden.Die Grünen darf ich daran erinnern, dass sie bei derSenkung des Rentenniveaus immer behauptet haben, siemachen das im Interesse der jungen Generation. Geradedie junge Generation wird unter Altersarmut leiden.Korrigieren Sie sich diesbezüglich endlich!
Wir hatten im Jahr 2000 ein Rentenniveau vor Steu-ern von 53 Prozent. Heute sind es 51 Prozent, und imJahr 2030 werden es nur noch 43 Prozent des durch-schnittlich erzielten Lohns sein. Die Ursache der Ren-tenkürzungsprogramme haben Sie letztlich alle zusam-men geschaffen, weil die Rentenformel geändert wurde.Sie haben Kürzungen bei der Ausbildung vorgenommen,und Sie haben noch dafür gesorgt, dass für Hartz-IV-Be-ziehende überhaupt keine Rentenbeiträge mehr gezahltwerden.Natürlich hat Herr Gabriel völlig recht: Der Niedrig-lohnsektor und die prekäre Beschäftigung verschärfendie gesamte Situation. Er hätte aber auch sagen müssen,dass er es eingeführt hat, und er hätte wenigstens sagenmüssen, dass das ein schwerwiegender Fehler der So-zialdemokratie war und dass er ihn korrigieren will.
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben recht, wenn Sie fest-stellen, dass der flächendeckende gesetzliche Mindest-lohn die Probleme der Altersarmut nicht löst.
Aber ein bisschen hilft er schon. Wenn wir nämlich hö-here Löhne haben, dann gibt es auch höhere Beiträgeund damit höhere Renten. Insofern gibt es schon einenZusammenhang. Es reicht nicht aus, aber immerhin.Die private Vorsorge ist ein Flop. Die private Lebens-versicherung können sich die Geringverdienenden nichtleisten. Die Riester-Renten bringen viel weniger Erträgeals versprochen.Nun kommen die Vorschläge von Frau von der Leyenund auch von der SPD. Frau von der Leyen will eine Zu-satzrente, aber viele, die sie brauchten, sollen sie nichtbekommen. Das ist völlig unvollständig. Bei der SPDgeht es um eine Mindestrente von 850 Euro brutto. Nettowären das übrigens 760 Euro, nur dass man auch dasweiß. Das löst das Problem aber auch nicht, weil Sienicht bereit sind, das Rentenniveau zu erhöhen. Das istaber der wichtigste Schritt.Ich schlage Ihnen noch einmal – weil das Schicksalder älteren Menschen uns alle angeht – einen Rentengip-fel vor, an dem alle Parteien teilnehmen. Wir müssendann über elf Fragen nachdenken. Ich will Sie Ihnenstellen.
– Ja, elf Punkte.
Sie berücksichtigen dabei bitte, Herr Kollege Gysi,
dass Sie dafür genau eine Minute Zeit haben, ja?
Herr Bundestagspräsident, ich weiß das.
Ich verfolge das wie immer mit sportlichem Ehrgeiz.
Also: Erstens. Verzicht auf Beitragssenkung imnächsten Jahr. Wir brauchen das Geld.Zweitens. Wiederherstellung des ursprünglichen Ren-tenniveaus, das heißt 53 Prozent des Lohns.Drittens. Mindestrente beginnend mit – sagen wirmal, als einem Zuschlag auf die erworbenen Rentenan-sprüche – 900 Euro bei schrittweiser Anhebung auf1 050 Euro.Viertens. Abschaffung der Kürzung der Rente umzwei Jahre, also keine Rente erst ab 67 Jahre.
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Dr. Gregor Gysi
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Fünftens. Ausbildungs-, Erziehungs- und Pflegezei-ten müssen besser berücksichtigt werden.Sechstens. Die Geringverdienenden sollen in derRente so behandelt werden, als ob sie drei Viertel desDurchschnittsverdienstes verdient hätten. Das war früherso geregelt. Das können wir wieder einführen.Siebtens. Unverzüglich müssen wieder Beiträge in diegesetzliche Rentenversicherung für Hartz-IV-Beziehendegezahlt werden, und zwar so, als ob sie die Hälfte desDurchschnittslohns bezögen.Achtens. Dann brauchen wir die Abschaffung der Ab-schläge und die Erhöhung der Erwerbsminderungsren-ten.Damit komme ich schon zum neunten Punkt, HerrBundestagspräsident.
Sie sind auch schon über die Redezeit, Herr Kollege
Gysi.
Ab einem bestimmten Zeitpunkt muss endlich einge-
führt werden, dass künftig alle Menschen mit Erwerbs-
einkommen in die gesetzliche Rentenversicherung ein-
zahlen, auch Unternehmer, Rechtsanwälte, Beamte und
Bundestagsabgeordnete.
Zehntens. Dann müssen wir die Beitragsbemessungs-
grenze aufgeben. Dann muss eben der nächste
Ackermann einen bestimmten Prozentsatz von seinem
gesamten Einkommen in die Rentenversicherung einzah-
len. Die damit verbundenen Rentensteigerungen müssen
abgeflacht werden.
Elftens brauchen wir eine Rentenangleichung zwi-
schen Ost und West.
Meine vorgesehenen Schlussworte lasse ich nun weg.
Nur so viel: Sie bringen nichts mehr zustande. Es gibt
überhaupt keinen Grund – das hat die SPD völlig zu
Recht festgestellt –, warum wir noch ein Jahr bis zur
nächsten Bundestagswahl warten sollten. Eigentlich
müssten wir sofort wählen. Es gibt nur ein Problem:
Diese Koalition bringt noch nicht einmal ein grundge-
setzgemäßes Wahlrecht zustande. Wir haben überhaupt
keins mehr.
Lieber Herr Präsident, eine Bitte: So nett es mit Ihnen
ist, aber dass wir beide lebenslänglich hier bleiben müs-
sen, sollten wir nicht zulassen. – Also schaffen Sie end-
lich ein grundgesetzgemäßes Wahlrecht! Das ist doch
nicht zu viel verlangt, oder?
Die letzte Aufforderung war offenkundig jedenfalls
nicht exklusiv an mich gerichtet. Im Übrigen tragen wir
vielleicht die erneut großzügig zusätzlich gewährte Re-
dezeit auf den nächsten Redebeitrag vor.
Nächster Redner ist der Kollege Rainer Brüderle für
die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutsch-land steht besser da als die meisten Länder der Welt. Dasist kein Zufall. Das ist das Resultat harter Arbeit derMenschen, das Resultat erfolgreicher Unternehmen – so-wohl des Mittelstands als auch von Konzernen –, dasResultat vernünftiger Tarifpartnerschaft. Das ist das Re-sultat der christlich-liberalen Regierungspolitik.
Wir haben die Weichen für Wachstum und Beschäfti-gung gestellt. Die Reallöhne steigen zum ersten Mal seitzehn Jahren das dritte Jahr hintereinander. Unsere Ent-lastungspolitik lohnt sich: 24 Milliarden Euro bei denSteuern, 9 Milliarden Euro bei den Rentenbeiträgen. Dashat Hunderttausende neue Jobs in Deutschland gebracht.
Die letzten Schritte bei der Rentenbeitragsentlastung blo-ckiert die SPD im Bundesrat. Da vernebelt eine undurch-dachte Wahlkampftaktik den ökonomischen Durchblick.Die christlich-liberale Koalition sorgt für Rekordbeschäf-tigung. Wir haben 41 Millionen Erwerbstätige. So vielegab es noch nie in Deutschland.Ich habe noch die schrillen Töne von Herrn Gabrielam Anfang dieser Legislaturperiode im Ohr. Er hat voreiner Abwärtsspirale und vor Massenarbeitslosigkeit ge-warnt. Nichts von Ihren Kassandrarufen ist eingetreten.Ihre Lagebeurteilung war falsch, und Ihre Rezepte wärenauch falsch gewesen.
Sie wollten eine Kurzarbeiterregelung bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag, Staatshilfen für Opel und Abwrack-prämien für Maschinen. Alles das war im Angebot vonHerrn Gabriel. Es wäre teuer, sinnlos und kurzatmig ge-wesen. Das haben wir Gott sei Dank nicht gemacht.
Unsere Politik folgt langen Linien. Es gibt keine kurz-atmigen Maßnahmen. Nicht kurzfristiges Hüpfen, son-dern Durchhalten von Linien, das ist das Gegenmodellder christlich-liberalen Erfolgskoalition zu dem, was unsRot-Grün immer wieder vorträgt.
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22998 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 191. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. September 2012
Rainer Brüderle
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Eines, Herr Steinmeier, muss ich Ihnen sagen, weilSie mit solchem Selbstlob die rot-grüne Regierungszeitversehen haben:
Bei der Einführung des Euro hatten wir keine politischeUnion. Die war auch nicht machbar. Aber man hätte Eu-ropa weiterentwickeln, vorwärts entwickeln müssen.Aber Rot-Grün hat Europa rückwärts entwickelt. Sie ha-ben Griechenland in die Euro-Zone aufgenommen, Siehaben die Stabilitätskriterien, sowohl die 3-Prozent-Re-gelung als auch die 60-Prozent-Regelung, gebrochen.Deshalb sollten Sie sich das Selbstlob über diese Periodesparen. Wir räumen heute die Scherben rot-grüner Poli-tik weg, wir bringen Europa richtig nach vorne.
Dass Sie die Regierung nicht loben, kann Ihnen kei-ner krummnehmen. Das gehört zur Demokratie. So istnun einmal das Rollenspiel. Aber dass Sie nicht zurKenntnis nehmen, wie gut wir dank unserer Politik da-stehen,
ist schon ein Stück Realitätsverweigerung.
Wenn Sie, Herr Poß, mir nicht glauben, glauben Sie viel-leicht großen Magazinen. Ich zitiere einmal das TimeMagazine; dort heißt es wörtlich:Deutschland geht es deswegen besser als dem RestEuropas,
weil es sich nicht so verhält wie der Rest Europas.Es ist die Politik in Deutschland, die zur Veränderunggeführt hat!
Ihre Rezepte sind Steuererhöhung, Umverteilung,Vergemeinschaftung von Schulden. Das ist ein Rezes-sionsprogramm. Es geht immer wieder nach der altenMelodie, lieber Herr Poß: Fällt den Sozis etwas ein,muss es eine neue Steuer sein. –
Die sollten Sie nicht mehr singen. Das ist einfach ver-kehrt. Herr Gabriel sollte einmal einen Blick auf sein so-zialistisches Idol Hollande werfen. Der hat gleichzeitigmit seinen Steuererhöhungen Wachstumseinbrüche ver-kündet. Beides hängt miteinander zusammen. Das Mo-dell, Wachstum mit Steuererhöhungen zu generieren, hatnoch nie funktioniert.
Deshalb: Mehrbelastungen und Wachstumsschwächedürfen in Deutschland nicht Regierungspraxis werden.Wir betreiben mit Wolfgang Schäuble an der Spitze einewachstumsfreundliche Konsolidierungspolitik. Das istder richtige Weg. Unsere Devise ist: nicht abrupt auf dieBremse treten, sondern sinnvoll zurückführen, einfrierenund damit die Wachstumsimpulse verstärken.Wir halten Ausgabendisziplin. Wir haben zweiSchwerpunkte gesetzt – die halten wir auch ein –, Bil-dung und Forschung, und wir haben die Schuldenbremsedrei Jahre früher als geplant umsetzen können. Wir wer-den 2014 – davon bin ich überzeugt – die schwarze Nullerreichen können. Ich erwarte die ersten Konsolidie-rungsvorschläge von Ihnen, Herr Poß, und der SPD-Fraktion. Ich habe bisher keine gehört.Aber Sie sind auch mit anderen Dingen beschäftigt.Die SPD sucht den letzten Troikaner.
Unentschlossen, albern, reizlos – so zitiert die Süddeut-sche Zeitung andere Spitzengenossen über die drei Fra-gezeichen, die Sie in der Landschaft haben, die dreiMöchtegernkanzlerkandidaten. Bis Sie das ausgebissenhaben, wird noch viel politisches Blut fließen.Aber die SPD sucht nicht nur einen Kanzlerkandida-ten, sie sucht auch ein Wahlkampfthema. Die SPD weißgenau: Die Wirtschaftsbilanz von uns ist gut. Damitkann sie nicht punkten. Die Beschäftigungsbilanz vonuns ist gut.
Das Krisenmanagement beim Euro ist gut. Die Haltungzu Euro-Bonds und zur Vergemeinschaftung von Schul-den kommt bei ihrer eigenen Basis nicht an.Herr Gabriel versucht es bei seinen Twitter-Stünd-chen zu Hause am Computer während der Babypausemit der Bankenschelte per Interview. Aber die Haltungvon Herrn Gabriel zu den Banken ist schon ein starkesStück. Die SPD hat elf Jahre lang die Finanzminister inDeutschland gestellt und ist die ganze Zeit, elf Jahrelang, in die andere Richtung marschiert. Ich will Ihnenersparen, im Einzelnen aufzuzählen, was Rot-Grün allesan Hedgefondsfreundlichkeiten und bei Derivaten einge-führt hat. Wenn ich mir die rege Vortragstätigkeit desKollegen Steinbrück anschaue, kann ich eine Kontakt-scheue von ihm gegenüber Großbanken beim bestenWillen nicht feststellen.
Ich kritisiere das nicht.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 191. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. September 2012 22999
Rainer Brüderle
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– Nein, ich halte keine Vorträge gegen Geld. Nein, dasmache ich nicht.
Meine Weisheiten können Sie, Herr Poß, ohne Kostenbekommen, free of charge. Sie müssen sie nur umsetzen.Das wäre mein Lohn.
Ein bisschen Praxisbezug täte Herrn Gabriel schongut. Wenn er den hätte, würde er vielleicht zur Kenntnisnehmen, wer den Ordnungsrahmen für den Finanzmarktgrundlegend verbessert hat. Wir, die christlich-liberaleKoalition, haben das gemacht. Wir haben ungedeckteLeerverkäufe verboten. Wir haben den Anlegerschutzverbessert. Wir haben mit der Bankenabgabe die Ak-teure der Finanzmarktkrise an den Kosten beteiligt unddamit auch Vorsorge für zukünftige Risikofälle getrof-fen. Wir haben die Ratingagenturen unter Aufsicht ge-stellt. Wir haben die Vergütungssysteme der Banken re-guliert. Wir fesseln den Drachen, den Rot-Grün gemästethat. Das ist eben der Unterschied.
Teile der Politik haben eine Diskussion um Alters-armut im Jahre 2030 losgetreten. Das ist sicherlich einenotwendige Debatte. Aber wir müssen diese Debatte se-riös führen, damit sie nicht zu einem Angstverstärkerwird. Wir alle kämpfen gerade um den Erhalt unsererWährung, um die Geldwertstabilität. Die Menschen ha-ben aktuell vielfach Angst um ihr Erspartes, um ihr Aus-kommen in der Zukunft. Wer in einer solchen Zeit einHorrorszenario veranstaltet, ist nicht von politischerKlugheit geprägt,
zumal viele Dinge unausgegoren sind. Private Vorsorgewird neben der betrieblichen und gesetzlichen Altersab-sicherung eine starke Säule sein müssen. Auch deshalbmüssen wir die kleinen und mittleren Einkommen, HerrPoß, von der kalten Progression entlasten.Herr Gabriel sagt mit Blick auf die Rente: Mehr be-triebliche Altersvorsorge! Wenn Sie es aber nicht zulas-sen, dass die Menschen von ihren Lohnerhöhungen ei-nen fairen Anteil behalten: Wie sollen sie dann für dasAlter vorsorgen? Es geht nicht an, ihnen das Geld zuverweigern und mehr Leistungen zu fordern. Das ist einlogischer Widerspruch. Damit kommen Sie nicht durch.
Jetzt lese ich: Herr Gabriel will in die andere Richtung;jetzt will er die Riester-Rente abschaffen, die ja von derSPD eingeführt wurde. Wenn ich es richtig sehe, istRiester immer noch Mitglied der SPD. Das ist dienächste Rückwärtsrolle. Herr Steinmeier schweigt dazu –was ihn auszeichnet.
Aber, meine Damen und Herren, bevor wir in einesolche Debatte einsteigen, sollten wir eine saubere Ge-nerationenbilanz aufstellen. Es gibt viele ausgereiftewissenschaftliche Ansätze, nach denen man jeder Gene-ration ein Konto der fiskalischen Be- und Entlastung zu-ordnen kann. Ohne seriöse Zahlengrundlage stochernwir im rentenpolitischen Nebel; das hat die Debatte derletzten Tage gezeigt. Hermann Gröhe hat für die CDUam Montag erklärt – ich teile das –: „Gründlichkeit gehtvor Schnelligkeit.“ Dem ist nichts hinzuzufügen. Genauso muss man an dieses Thema herangehen.
Meine Damen und Herren, Geldwertstabilität ist stilleSozialpolitik. Stabiles Geld schützt gerade die, die wenighaben, vor Eingriffen in die Substanz, die sie sich erar-beitet haben, indem sie auf ihrem Sparbuch ein bisschenfür das Alter angespart und damit Vorsorge getroffen ha-ben. Deshalb ist Inflation für mich eine der größten so-zialen Schweinereien. Wir müssen alles Erdenkliche tun,um genau diese Entwicklung zu vermeiden.
Vergessen wir nicht: Am Anfang und am Ende derunseligsten Zeit deutscher Geschichte stand eine galop-pierende Inflation – und zweimal eine Währungsreform.Deshalb ist unsere Verpflichtung als Mitverantwortlichefür die europäische Zukunft, eine hohe Sensibilität fürGeldwertstabilität aufzubringen. Wer Spekulation be-kämpfen will, muss für Geldwertstabilität sein. Denn nurdann ist die Nebelwand nicht da, die es Spekulanten er-laubt, ehrbaren Bürgern über Spekulationen Geld weg-zunehmen. Deshalb: Stabiles Geld ist die Grundlage, dieMagna Charta der sozialen Marktwirtschaft. Wir steuernauch die Wirtschaft falsch, wenn die Preise nicht mehrdie Knappheitsrelation widerspiegeln; denn die Preis-signale – und nicht der Staat – steuern in der sozialenMarktwirtschaft die Volkswirtschaft. Wir brauchen ausGründen der Effizienz einer Volkswirtschaft, auch dersozialen Gerechtigkeit, stabiles Geld. Dafür müssen wirengagiert eintreten.Ich betone für meine Fraktion: Eine dauerhafte Staats-finanzierung durch die Notenpresse ist grundfalsch; dasdarf so nicht sein.
Folglich haben wir auch eine unabhängige Europäi-sche Zentralbank. Das war die Prämisse, und das habenalle Parteien den Deutschen versprochen. Die neue Wäh-rung, der Euro, sollte so stabil sein, wie die D-Mark eswar, und die EZB sollte so unabhängig sein, wie dieBundesbank es war und ist. Daran müssen wir uns hal-ten, auch wenn uns Entscheidungen einmal nicht passen;denn sonst gäbe es keine Unabhängigkeit.Das, Herr Schneider, ist ja der Witz: Wenn es Ihnenpasst, ist Unabhängigkeit gut. Aber wenn es Ihrer sozia-listischen Vorstellung widerspricht, dann ist sie schlecht.
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23000 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 191. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. September 2012
Rainer Brüderle
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So kann man mit Unabhängigkeit nicht umgehen. Ent-weder man steht zur Unabhängigkeit, oder man meint esnicht redlich damit. Wir sind mit der Autonomie der No-tenbank – das ist unsere deutsche Erfahrung – gut gefah-ren. Deshalb sollten wir dabei bleiben. Alles andereführte in die Inflationsunion. Wir teilen die Bedenkendes Bundesbankpräsidenten voll und ganz.
Ich sage denen, die auf das Kursfeuerwerk dieserTage hinweisen: Finanzmärkte haben die Perspektivevon Stunden. Eine stabile Währung hat die Perspektivevon Jahren und Jahrzehnten. Darüber sollten wir uns klarsein.
– Ihnen natürlich! Sie erzählen nämlich Unsinn, HerrSchneider, jeden Tag.
Dass Sie sich da von Ihrer Partei absentieren, spricht na-türlich für partielle Erkenntnisgewinne, aber noch nichtfür klare Linie.Ich finde es geradezu erstaunlich, was wir erleben:Die europäische Linke verbündet sich mit Wall Street.Die beiden Extrempositionen finden zusammen. Diewollen alles mit Geld fluten. Das war doch genau derFehler der Amerikaner, der Fehler von Greenspan. Dielockere Geldpolitik, das permanente Gelddrucken in denUSA ist eine der Ursachen mangelnder Wettbewerbsfä-higkeit und falscher Strukturen.
So kann man Strukturprobleme nicht lösen. So kann mannur kurzfristig etwas abfedern. Alles mit Geld zuzu-schütten, wie die Linken es wollen, wie Wall Street eswill, ist keine Lösung.
Da müssen wir Maß und Mitte und Vernunft walten las-sen und dürfen nicht die EZB zur Fed werden lassen.Das hat Amerika in die Krise hineingeführt. Deshalb ha-ben wir einen klaren Kurs und eine klare Meinung. HerrSteinmeier, sagen Sie ehrlich, dass ich recht habe, auchwenn es der SPD schadet. Sie kommen dann aber weni-ger lang ins Fegefeuer; das ist auch ein Stück Fortschritt.
Was Greenspan gemacht hat, der sogenannteGreenspan-Put, den viele für legendär halten, war dochdie Hauptursache, die zur Misere geführt hat.
Im Boom wurden die Zinsen nicht erhöht; in der Baissewurden sie gegen null geführt. Falsche Zinsen führen zufalschen Entscheidungen.
Der Zins ist der Preis für Kapital. Wenn man den überlängere Zeit künstlich anders gestaltet, verzerrt man eineVolkswirtschaft. Das ist das Problem der Amerikaner.Von daher tun sie sich so schwer, wieder hochzukom-men.
Deshalb halten wir bei uns sorgfältige Beobachtungfür notwendig. Die Güterpreise sind zwar stabil, aber beiden Vermögenspreisen müssen wir genau hinschauen.Partiell gibt es im Immobiliensektor nach meiner Be-obachtung schon Vorformen einer Blasenbildung. Wennder DAX so schnell hochschießt, ist das auch eine nichtganz gesunde Entwicklung. Deshalb: stabilitätsorien-tierte Geldpolitik!Für die Grünen sind die Schicksalsfragen offenbar garnicht so interessant. Schauen wir uns einmal an, was Sievon den Grünen bei Ihrer Klausur veranstaltet haben– das ist angesichts des Ernsts der Lage in Europa wirk-lich erstaunlich –: Abwrackprämien für Fahrräder! FrauKünast hat das dann wieder einkassiert. Dafür machenSie Abwrackprämien für Kühlschränke – wahrlich eingroßer Impuls für die europäische Zukunftsentwicklung!
Dass eine Partei, die einmal gegen die Wegwerfkulturangetreten ist, solche Anregungen gibt, ist sehr erstaun-lich.Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ha-ben Sie doch den Mut, bei der nächsten Klausur ihreDienstwagen vorne zu parken, nicht versteckt hinter demHaus!
Ich kann Ihnen versichern: Deutsche Autos sind guteWertarbeit. Die kann man mit Stolz zeigen. Die sindauch ökologisch gut weiterentwickelt.
Sie brauchen nicht vor lauter Angst um Ihr ÖkoimageIhre Autos zu verstecken und vorne für das Pressefotoliebevoll irgendein Ökomodell, wahrscheinlich mit Son-nensegel, zu präsentieren. Das ist unaufrichtig und ent-spricht auch nicht der Sachlage.
Aber diese Zweischneidigkeiten kennt man bei Ihnen;das hat schon fast Tradition. Herr Kretschmann fliegt perHubschrauber, lässt seinen Dienstwagen 600 Kilometernachkommen. Jetzt verstehe ich Ihre Forderung nachneuen Mobilitätskonzepten.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 191. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. September 2012 23001
Rainer Brüderle
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Grün ist – jetzt habe ich es wirklich verstanden –, wennich für eine Strecke zwei Fortbewegungsmittel brauche.Das ist grüne Politik!
Aber das ist scheinheilig. Deshalb muss das ausgespro-chen werden.
Das, was Sie propagieren und hier erzählen, und das,was Sie draußen machen, sind zwei Paar Stiefel. DieMenschen müssen endlich einmal die Wahrheit erfahren.Das ist Bio mit Schickeria – komische Mischung, abernicht die Lösung der Probleme!
Zu Ihren energiepolitischen Vorstellungen. Für vieleMenschen im Lande ist der Energiepreis auch ein Brot-preis. Dieser Preis steigt durch die EEG-Umlage wahn-sinnig. Wir haben Subventionszusagen von über 100 Mil-liarden Euro. Laut Hochrechnungen mancher Expertenwerden das bis 2030 über 300 Milliarden Euro sein. Dassind Beträge, die höher sind als das, was wir in 60 Jahrenfür die Kohleförderung in Deutschland ausgegeben ha-ben. Die Solarlobbyisten bei den Grünen haben hierganze Arbeit geleistet.
Meine Damen und Herren, Energie muss bezahlbar blei-ben: für Familien, für den Mittelstand, für die Industrie.Einer der weniger intelligenten Zwischenrufe desKollegen Trittin bei der Energiedebatte war neulich:„Morgenthau-Plan!“ Wollen Sie denn den Morgenthau-Plan für die deutsche Industrie? Wollen Sie diejenigenplattmachen, die unseren Wohlstand ermöglichen, dieuns aus der Krise herausgezogen haben? Die SPD setztganz andere Akzente. Da ist offenbar der Groschen ge-fallen. Die Grünen setzen auf eine Energie- und Indus-triepolitik der sozialen Kälte. Das ist die Realität.
Sie diskutieren jetzt einen Sozialtarif, weil sie merken,was sie den Menschen mit ihrer falschen Politik zumu-ten. Deshalb ist es richtig, dass man das ändern muss.Ich setze auf unser Duo Rösler und Altmaier, dass es ge-nau das ändert.
Die Energiewende gibt es nicht zum Nulltarif, aberEnergie darf auch nicht zum Luxusgut werden. Mankann sie auch nicht nur auf Erneuerbare reduzieren. DaErneuerbare weitgehend nicht grundlastfähig sind, brau-chen wir auch zukünftig Gas- und Kohlekraftwerke. Wirbrauchen Tausende Kilometer an neuen Leitungen. Off-shoreanbindung und Bundesnetzplan sind Ansätze derBundesregierung, die richtig sind. Aber Ihre grün mitre-gierten Bundesländer sitzen im Bremserhäuschen. Beider erneuerbaren Energie die Hand aufhalten und sichbeim Netzausbau einen schlanken Fuß machen, das wer-den wir Ihnen nicht durchgehen lassen. Wir werden Sieüberall stellen.
Eine Deindustrialisierung als Opfergabe für die Energie-wende wäre genau der falsche Weg.
– Frau Roth, Sie wissen das schon. So doof können Siedoch gar nicht sein, dass Sie hier etwas Falsches sagen.
Sie sind doch eine intelligente Frau. Sie sagen das widerbesseres Wissen.Das Bundesverfassungsgericht hat die Politik derBundesregierung sehr beeindruckend bestätigt. Ich findedas gut. Es hat eine klare Haftungsbegrenzung hinsicht-lich der Parlamentsbeteiligung gesetzt und mehr Trans-parenz beim ESM gefordert. Das ist für mich auch eineindirekte Absage für Euro-Bonds und einen Altschul-dentilgungsfonds. Wer so etwas diskutiert, bewegt sichverfassungsrechtlich auf sehr dünnem Eis, ökonomischvöllig auf dem Holzweg, weil ein Einheitszins völligfalsch ist. Wenn man gute und schlechte Risiken mitdem gleichen Zins und Preis bedenkt, dann macht manetwas fundamental falsch. Zinsen sind Fieberthermome-ter, und wer diese ignoriert, steuert unsere Volkswirt-schaft völlig falsch.
Insofern hat das Gericht den erfolgreichen Kurs der Bun-desregierung bestätigt.Herr Trittin als Freund der Hochfinanz wird wahr-scheinlich wieder die Banklizenz des ESM hochziehen,wie in Amerika demonstriert. Das Anwerfen der Noten-presse ist wirtschaftspolitisches Morphium. Lassen Siealso die Finger davon! Das vernichtet Vermögen. Dassteuert falsch und ist der falsche Weg. Einen Dank andas Verfassungsgericht, das uns davor bewahrt, den An-sätzen eines inflationspolitischen Himmelfahrtskom-mandos von der linken Ecke her in Deutschland Raumzu geben. Nein, wir bleiben auf klarem Kurs. Dieser isterfolgreich. Diesen setzen wir genau so fort.Vielen Dank.
Die Kollegin Renate Künast hat für die FraktionBündnis 90/Die Grünen das Wort.
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23002 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 191. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. September 2012
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um esnach dieser Karnevalsrede einmal auf den Punkt zu brin-gen:
Dies ist der letzte Haushalt, den Schwarz-Gelb in denDeutschen Bundestag einbringt, weil das letzte Jahr ei-ner schwarz-gelben Regierung bevorsteht.
Der Klamauk von Ihnen, Herr Brüderle, war der Beweisdafür, dass eine neue Regierung dringend nottut.Es hat Regierungen gegeben in diesem Land, es hatKanzler gegeben in diesem Land, die haben das Land anmanchen Stellen wirklich vorangebracht. Denke ich anWilly Brandt: die Ostverträge, die Öffnung in der Ge-sellschaftspolitik, das hat Mut erfordert. Denke ich – daswird Sie vielleicht verwundern – an Helmut Kohl: Er hatin der Europapolitik so manchen mutigen Schritt getan,weitsichtige Entscheidungen getroffen. Denke ich an dieRegierung Schröder/Fischer, so weiß ich: Da waren derAusstieg aus der Atomenergie, die ökologische Steuer-reform, die Realisierung, dass sich die Wirklichkeiten inDeutschland aufgrund des demografischen Wandels ver-ändern, statt sich in falschen Sicherheiten zu wiegen.Nach dem, was Frau Merkel heute zum Besten gege-ben hat, muss ich feststellen: Sie, Frau Merkel, habensich hier hingestellt und von einem großen Tag fürEuropa, von einer großen europäischen Botschaft ge-sprochen; aber das war ja nur von den Aktivitäten ande-rer abgeleitet.
Sie haben sich hier hingestellt und gesagt, Ihr Credo seiein Dreiklang aus soliden Finanzen, Solidarität mit denSchwachen und Wettbewerbsfähigkeit der deutschenWirtschaft. Ich muss wirklich sagen – mit Verlaub, FrauMerkel –: Das war unwahr. Nichts, was sich positiv ent-wickelt hat, beruht auf dem Handeln von Schwarz-Gelb.Die drei Ihrem Credo zugrunde liegenden Dinge stellennicht die Leitlinie Ihrer schwarz-gelben Regierung dar.Im Gegenteil: Mit Ihnen geht die Schere weiter auf, mitIhnen wird nicht an soliden Finanzen gearbeitet.
Kein Projekt, keine Reform, keine Wegmarke, nichts,sondern Stillstand und Zank, den Sie in der Sommer-pause gerade einmal ein wenig zurückgehalten haben.Ich muss Ihnen ehrlich sagen: In diesem Land habenviele langsam die Nase voll von dieser Inszenierung vonPolitik,
inszeniert je nach Meinungsumfrage, je danach, wo an-geblich der Mitte der Schuh drückt. Dann zeigen Sie sichein wenig: Jede Ministerin, jeder Minister darf einmal soherum und einmal so herum blinken, aber danach pas-siert nichts. Das ständige Nein in Europa führt dazu, dassdie EZB jetzt diese Anleihen kauft, was Sie angeblichnicht wollten. Beim Mindestlohn gab es eine lange In-szenierung. Und, gibt es einen Mindestlohn? Gibt esnicht. Bei der Frauenquote gab es eine lange Aufführungvon zwei Frauen. Passiert ist auch noch nichts. Höchs-tens die Flexi-Quote kommt.
Ich habe schon langsam ein Von-der-Leyen-Syndrom;das macht sich immer dann bemerkbar, wenn sie auf-taucht. Die letzte Inszenierung ist die Zuschussrente. Dawird wahrscheinlich wieder nichts für die armen Rentnerpassieren, meine Damen und Herren. Das ist Ihre Me-thode. Vergleiche ich Sie mit anderen großen Kanzlern,kann ich nur sagen: So werden Sie nicht in die Ge-schichte eingehen, Frau Merkel.
Die Frage, die ich Ihnen stelle, ist: Was tun Sie ei-gentlich sozial, ökologisch und finanziell für diesesLand? Wo sorgen Sie eigentlich dafür, dass in Deutsch-land mehr Teilhabe möglich ist, dass Menschen Aufstiegerfahren können? Wo tun Sie etwas dafür, dass sich alle,die hier leben, einmischen können, Bürgerinnen undBürger des Landes sind? Wo tun Sie etwas dafür, dassdie zentralen Zukunftsfragen dieses Landes geregeltwerden? An keiner Stelle. Ich sage Ihnen: Dieses Landbraucht eine andere Politik. Eine andere Politik ist mög-lich, und die wird auch kommen.
Beginnen wir doch einmal mit der Frage nach der Zu-kunft Europas. Da muss ich mich jetzt einen Augenblickvon Frau Merkel abwenden
und zu Gregor Gysi schauen. Das war eine Lachnum-mer, lieber Gregor Gysi. Indem Sie immer nur Nein sa-gen und zusammen mit dem Europagegner Gauweilerimmer wieder nach Karlsruhe ziehen, haben Sie keinenAnteil daran, dass, wie auch heute wieder geschehen, dieBeteiligung des Bundestages gesichert wurde.
Das ist das Bedauerliche beim ewigen Neinsagen. Wirdagegen haben uns wirklich Gedanken um Europa ge-macht und dafür gesorgt, dass in die Vorlagen zum ESMeine ordentliche Parlamentsbeteiligung aufgenommenwurde.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 191. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. September 2012 23003
Renate Künast
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Das haben wir – ich gebe es zu – auch mit Klagen inKarlsruhe erkämpft,
aber auch in beinharten Verhandlungen hier. Deshalbhast du heute zusammen mit Gauweiler verloren. FrauMerkel hat auch keinen Grund, zu sagen, von ihrer Re-gierung gehe ein europäisches Signal aus.
Frau Merkel, ich würde mir wünschen, Sie hättenmehr Mut. Helmut Kohl hatte ihn. Er hat 1997 einmalgesagt:… wer Frieden, Freiheit, Sicherheit und Wohlstandfür alle Bürger unseres Kontinents auf Dauer si-chern will, der wird für das geeinte Europa eintre-ten.Ich verstehe Ihre Notlage durchaus. Wenn Sie einenSchritt nach vorne machen, kommen all die Kleingeisteraus Ihrer Fraktion. Die einen fordern den sofortigenAustritt Griechenlands und die anderen fordern die Ab-spaltung; aber nicht die Abspaltung Griechenlands, son-dern die Abspaltung Bayerns, auch das hat es bei Ihnengegeben. Um es einmal so zu formulieren: Für Söderund Dobrindt ist ja keine Forderung zu blöd. Außerdemwäre da noch der Bundeswirtschaftsminister, der uns da-mit beglückt, indem er immer wieder stolz sagt, um unsseine Tapferkeit zu beweisen, dass ein Euro-AustrittGriechenlands kein Problem mehr sei.
– Das hat er immer wieder gesagt, man sei irgendwie da-rauf vorbereitet.
Ich sage Ihnen einmal, was kein Problem wäre: Eswäre kein Problem, wenn Philipp Rösler nicht mehrBundeswirtschaftsminister wäre, weil es gar nicht auffal-len würde.
Wie kann man in einer Situation, in der alle Finanz-märkte darauf lauern, ob wir in der Lage sind, das relativkleine Griechenland zu halten, sagen, es wäre kein Pro-blem, wenn es die Euro-Zone verlassen würde; dennwenn das der Fall wäre, dann wüssten alle, dass wir Ita-lien, Spanien und andere nicht halten können, und danngäbe es einen Dominoeffekt. Nur Philipp Rösler verstehtdas nicht.
All jenen, die fragen, wozu man ihn braucht, sage ich:Das Einzige, was von ihm in Erinnerung bleiben wird,ist die Tatsache, dass er Hermesbürgschaften für Lege-hennenfabriken in der Ukraine vergeben hat. Es wirdeine aus deutschen Steuergeldern finanzierte Hermes-bürgschaft übernommen, damit in der Ukraine Käfigeaufgebaut werden können, die in Deutschland längst ver-boten sind. Für die viertgrößte Industrienation ist daserstens falsch und zweitens zu wenig, Herr Brüderle.
Lassen Sie mich diejenigen, die immer gerne nachKarlsruhe gehen, um den nächsten europäischen Schrittzu verhindern, an Folgendes erinnern: Werfen Sie einenBlick in die Präambel des Grundgesetzes; Sie sind ja im-mer so verfassungstreu. Dort steht, dass wir einen Staats-zielauftrag haben, und der lautet so:… von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtesGlied in einem vereinten Europa dem Frieden derWelt zu dienen …– „in einem vereinten Europa“! Ich erwarte, dass wireine Regierung haben, die sich endlich auf diesen Wegmacht, statt immer nur Mauschelei zu betreiben undZickzackkurse zu fahren. Das ist zu wenig.
Ihre Strategie ist gescheitert. Das verdeutlicht die Tat-sache, dass die EZB gerade die Notenpresse anwerfenmusste. Herr Brüderle kann noch so lange herumtanzen,es ist einfach passiert. Und nun, Herr Brüderle? Jetztstellt er sich hierher, bläst sich auf und sagt: Aber nichtdauerhaft! Dabei werden Sie auch in diesem Punkt um-fallen, wir wissen nur noch nicht, ob nächste Woche oderin ein, zwei Monaten.
Wir brauchen eine Regierung, die sich wirklich zudiesem vereinten Europa bekennt. Hierzu müssen wei-tere Schritte getan werden. Gerade die EZB weist unsdarauf hin, dass der nächste Schritt Altschuldentilgungs-fonds heißt; denn sowohl die Summe als auch die einzel-nen Schritte sind überschaubar. Wo bleiben Ihre Aktivi-täten?
– Sie kennen das Modell, Herr Fricke.
Die Summe ist berechenbar. Wenn Sie die Schulden derLänder, die über dem Maastricht-Kriterien von 60 Pro-zent des Bruttoinlandsprodukts liegen, zusammenrech-nen, wissen Sie, um was es geht.
In Bezug auf die EZB: Was wissen Sie denn da im Au-genblick, wo Sie schon immer dazwischenrufen?
Es war ein guter Kurs. Der Sachverständigenrat hat dochIhrer schwarz-gelben Bundesregierung in einer Antwort
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Renate Künast
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genau das vorgeschlagen. Die Idee kann also gar nicht sofalsch sein.
Sie werden das alles nicht schon morgen Nachmittaghinkriegen, aber ich appelliere an Sie: Machen Sie sichauf den Weg und setzen Sie ein Signal! Natürlich wird esein oder zwei Jahre dauern, bis Sie ihn implementiert ha-ben, aber das politische Signal brauchen wir schon jetzt.Ich möchte jetzt Aktivitäten sehen. Wo bleibt das euro-päische Investitionsprogramm, das wir hier beschlossenhaben? Welche Schritte sind geplant? Ich möchte hören,dass wir uns an dieser Stelle zur Weiterentwicklung Eu-ropas bekennen, und zwar im Rahmen eines Europäi-schen Konvents, an dem wir die Zivilgesellschaft unddie Sozialpartner beteiligen sollten, um wirklich eineWeiterentwicklungsperspektive für Europa zu haben.Dann wäre es ein richtiger Schritt, die gesamte europäi-sche Bevölkerung in einem Referendum zu befragen.Wir brauchen einen Europäischen Konvent für die Wei-terentwicklung, bei dem man Ja sagen kann, wenn manmöchte; man sollte es nicht den Stammtischen in Bayernüberlassen, ein Referendum zu fordern, bei dem man nurNein zu Europa sagen kann.
Welche Frage hatte ich eben gestellt? Ich fragte: Wastun Sie für die soziale, ökologische und finanzielle Wei-terentwicklung unseres Landes? Das fragen sich dieMenschen. Wenn ich mir nun vor diesem Hintergrundals Zweites den Haushaltsentwurf betrachte, den wirheute beraten, dann frage ich mich: Wo sind denn IhreSparanstrengungen?Frau Merkel, Sie haben vorhin süffisant gesagt, einigewürden Soll und Ist verwechseln. Nein, wir verwechselnnicht Soll und Ist, sondern wir sehen zurzeit aufgrundder guten Konjunkturlage und aufgrund der Einnahmen,die wir haben – allein 50 Milliarden Euro Gewinn durchden Wechselkurs –, insgesamt eine positive Entwicklungin Deutschland, wenn auch Auftragsrückgänge bei-spielsweise im Maschinenbau zu sehen sind. In dieserZeit – das sagt selbst Herr Hundt vom BDA – muss manVorsorge treffen. Was tun Sie aber? Sie haben nicht denMut, Entscheidungen für strukturelle Veränderungen zutreffen, und bleiben damit sozusagen noch 3 MilliardenEuro unter den Möglichkeiten.
Sie haben einen Wahlkampfhaushalt vorgelegt; er istreine Augenwischerei. Ab 2014 muss dann richtig ge-spart werden. Ich schließe daraus, dass Sie davon ausge-hen, dass Sie 2014 nicht mehr an der Regierung sind.
An welcher Stelle mühen Sie sich, die Verschuldungernsthaft anzugehen und die Lasten gerecht zu verteilen?10 Prozent der Menschen besitzen zwei Drittel allenVermögens. Wo beziehen Sie zur Finanzierung des Ge-meinwesens die Vermögenden mit ein? Was ist mit einerVermögensabgabe oder – das fordern wir – mit einemSpitzensteuersatz von 49 Prozent? Sie trauen sich nicht.Sie trauen sich auch nicht – da finde ich nirgendwoetwas –, Prioritäten zu setzen. Sie gehen nicht an dieSubventionen heran, die ökologisch und ökonomisch un-sinnig sind. Das gilt auch für Steuererleichterungen. Ichnenne Besteuerung von Dienstwagen, Ökosteuer,Mövenpick-Steuer, das Lieblingskind der FDP. An die-ser Stelle gibt es nichts. Es gibt keine Umstrukturierungdes Ehegattensplittings, um dieses Geld in Kinder zuinvestieren. Nichts. Kein Mut zur gesellschaftlichenModernisierung, obwohl die CDU doch immer die mo-derne Großstadtpartei sein wollte. Nein, Sie hängen aneinem Gesellschaftsbild der 50er-Jahre. Ein Kita-Sofort-programm wäre die Antwort, stattdessen führen Sie dasBetreuungsgeld ein. Ich frage mich, wo an dieser Stellevon der Leyen ist, die gegen Altersarmut kämpfen will.In den Jahren des Bezugs von Betreuungsgeld kämpftkeine Frau gegen ihre Altersarmut; denn in dieser Zeithat sie keinen sozialversicherungspflichtigen Job.
Frau Merkel, Sie sagen, Sie wollten Kinder quasi inden Mittelpunkt stellen. Ich sage Ihnen: Ich stelle mirunter gleicher Teilhabe und gleichen Entwicklungsmög-lichkeiten für Kinder etwas anderes vor. Ich halte das füreine der zentralen Gerechtigkeitsfragen des 21. Jahrhun-derts, ob Teilhabe und Aufstieg möglich sind. Aber nurfür jeden Fünften in diesem Land ist das die Realität.Sie, Frau Merkel, sagen: Wir müssen die duale Ausbil-dung bei der OECD inhaltlich vertreten, damit diese an-gemessen bewertet wird. Bitte, tun Sie es! Aber das än-dert nichts daran, dass sich gerade Kinder aus denärmeren und bildungsferneren Schichten trotz Abiturnicht trauen, das finanzielle Wagnis eines Studiums ein-zugehen. Das ist die Wirklichkeit.
Wo, wenn nicht bei der Bildung für jedes Kind undbei der Weiterbildung jedes Erwachsenen liegt hier einegesamtgesellschaftliche Aufgabe? Ich habe dazu ent-sprechende Sätze von Ihnen vermisst. Weg mit demKooperationsverbot, wäre der richtige Satz gewesen, da-mit wir diese Lasten in unserer Gesellschaft gemeinsamschultern können.
Ich nenne das Bürokratiemonster Bildungs- undTeilhabepaket, das das Ergebnis eines Von-der-Leyen-Spielchens war. Erinnern Sie sich? Mit großer Gestewurde gesagt: Jedes Kind in diesem Land wird eineChipkarte haben. – Was haben wir nun? Ein Bildungs-und Teilhabepaket, bei dem die Gelder in den Kommu-nen nicht einmal abfließen können, weil die Kriterienunsozial sind.Ich habe eine Frau getroffen – Migrationshintergrund,Hartz-IV-Bezug –, die mir vor einigen Monaten erzählt
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 191. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. September 2012 23005
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hat, wie glücklich sie ist, dass ihre Tochter sich entgegender Empfehlung der Schule den Gang zum Gymnasiumerkämpft hat. Sie sagte, dass ihre Tochter in der Schulerichtig gut ist, dass sie aber – und da traten Tränen in dieAugen der Frau – Mathe nicht versteht. Ich fragte dieseFrau: Was ist mit Nachhilfe? Sie antwortete mir: FrauKünast, Nachhilfe kann ich nicht bezahlen. Das Bil-dungspaket von Frau von der Leyen kommt für dieKosten der Nachhilfe nicht auf, weil meine Tochter guteSchulleistungen erbracht hat, mit denen sie sich den Ein-tritt zum Gymnasium erkämpft hat. Erst wenn sie verset-zungsgefährdet ist, könnte das Paket von Frau von derLeyen in Anspruch genommen werden.
Meine Damen und Herren, das ist ein überflüssigerKropf. Das Kooperationsverbot muss fallen.Wo wir gerade bei den sozialen Themen sind, will icheinmal auf die Rente eingehen. Mir hat ein Zitat vonNorbert Blüm gefallen. Dieses Zitat steht ziemlich dia-metral entgegengesetzt zu dem, was Frau Merkel hiergesagt hat, als sie meinte, der Mindestlohn habe mitAltersarmut eigentlich gar nichts zu tun. Das CDU-Mitglied Norbert Blüm hat heute gesagt: „Aus Hunger-löhnen entstehen Hungerrenten.“ Dieser Satz stimmt.
Mich ärgern die fragwürdigen Zahlen der Renten-ministerin und mich ärgert, dass sie die gesetzliche Ren-tenversicherung am Ende noch schlechtredet. Ich sageIhnen, was wir wollen: Wir wollen die gesetzlicheRentenversicherung stärken, und zwar auch durch eineGarantierente. Jemand, der mindestens 30 Jahre in dieRentenkasse eingezahlt hat, soll im Alter nicht unter dieGrenze von 850 Euro pro Monat fallen. Diese Garantie-rente, die nötig ist, um auf 850 Euro zu kommen, müssteunserer Meinung nach steuerfinanziert werden; denn esist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, diese Rente zufinanzieren. Dies ist nicht nur die Aufgabe von den et-was über 60 Prozent, die in die Rentenkasse einzahlen.Vielmehr müssen auch die Besserverdienenden an diesersozialen Absicherung beteiligt werden.
Wir wollen die Rentenansprüche von Frauen erhöhen.Eines wissen wir: Durch bessere Jobchancen, durchMindestlöhne und Gehälter, die tariflich vereinbart überden Mindestlöhnen liegen, werden die Erwerbsarmutund damit faktisch die Altersarmut bekämpft.Was ist denn Ihre Bilanz, Frau Merkel, im letzten Jahrvon Schwarz-Gelb? Wo ist denn Ihr gesellschaftlicherAufbruch, wo bleibt die Anerkennung gesellschaftlicherRealitäten? Sie agieren doch vollkommen an denBedürfnissen heutiger Familien vorbei. Beginnen wireinmal mit den gleichgeschlechtlichen Familien. Ich be-zeichne sie als Familien, weil es zwei Erwachsene sind,die Verantwortung füreinander und für Kinder überneh-men.
Bis heute kann ich nicht verstehen, wie es Ihr christli-ches Weltbild zulässt, dass Sie die Ehe für homosexuellePartnerschaften nicht öffnen wollen; Sie verweigern ih-nen überdies das volle Adoptionsrecht. Seien wir dochfroh über diese Verantwortungsübernahme.Aber das ist noch nicht alles. Wo bleibt der Aufbruchfür den Ausbau von Kitaplätzen? Sie wollen das Betreu-ungsgeld finanzieren, statt mehr Geld in ein Sofort-programm zu stecken. Ich sagen Ihnen ehrlich: Es ist jaschön, dass Sie nach so vielen Jahren jetzt ein paar100 Millionen Euro für den Ausbau der Kitaplätze aus-geben wollen. Aber erstens es ist zu wenig und zweitensfrage ich mich, wie es eigentlich um die Ausbildung derErzieherinnen und Erzieher bestellt ist.
Einen weiteren Gedanken möchte ich der Energie-wende widmen. Das wäre die Zukunft des IndustrielandsDeutschland. Mit Verlaub, selbst der BDI kritisiert Sie.Die Menschen haben Sorgen wegen der ungleichen Ver-teilung der Kosten. Wer aber, Herr Brüderle, hat denndiese Kosten so hochgetrieben? Unter Ihrer Regent-schaft, unter Schwarz-Gelb, konnte es passieren, dassdieses angebliche Gemeinschaftswerk Energiewende dieIndustrie und Großunternehmen mit Beträgen in Höhevon 9 Milliarden Euro privilegiert. 5 Milliarden Euro da-von müssen von den Privathaushalten und von den klei-nen und mittleren Unternehmen getragen werden. DerKostentreiber der EEG-Umlage heißt Schwarz-Gelb.Das ist die Wahrheit.
Sie arbeiten faktisch an der Zerstörung des besten Ins-trumentes, das wir haben, nämlich des EEG. An dieserStelle frage ich Sie: Wir sparen Importkosten in Höhevon 9 Milliarden Euro, und Sie bezeichnen das EEG alseine Fehlentwicklung? Und dann kommt Herr Brüderlenoch mit dem Begriff „Quotenmodell“. Die Quote ist imBereich der erneuerbaren Energien schon in Polen und inGroßbritannien gescheitert. Das brauchen wir nichtnachzumachen. Wir wollen das EEG weiterentwickeln,aber durchaus bei selbigem bleiben.
Kollegin Künast, bringen Sie den Gedanken bitte zu
Ende.
Meine letzte Bemerkung richtet sich an Sie, FrauMerkel: Ich wünsche mir ein Mehr bei der Bekämpfungdes Rechtsextremismus. Das war mir zu wenig. DieFrage lautet: Brauchen wir einen MAD? Die Antwortheißt: nein.
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Renate Künast
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Ich sage Ihnen auch: Es reicht nicht, nur zu gedenken.Vielmehr brauchen wir eine Reform des Verfassungs-schutzes, die ein echter Neustart ist, und zwar mit ganzneuem Personal; denn dieses Personal wird es nicht kön-nen.
Damit habe ich, so glaube ich, dargestellt, dass Sie dieKernaufgaben nicht angepackt haben. Weder in sozialernoch in ökologischer oder in finanzieller Hinsicht habenSie das Land neu aufgestellt. Auch deshalb sage ich: Dasist das letzte Jahr von Schwarz-Gelb. Eine andere Politikist möglich, und sie wird kommen.
Der Kollege Volker Kauder spricht nun für die CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Dass der eine oder die andere aus der Oppositionheute keine große Lust hatte, über Europa zu reden, magich ja noch verstehen. Aber dass man nicht darüberspricht, dass heute ein Meilenstein in Europa geschaffenworden ist, das verstehe ich überhaupt nicht. FrauKünast, wenn etwas mit der Stabilisierung in Europaverbunden wird, dann sind es diese Bundesregierungund diese Bundeskanzlerin.
Das hat die Entscheidung des Bundesverfassungsge-richts heute eindrücklich gezeigt. Denn zwei Dinge, dienoch vor Monaten für unmöglich gehalten worden sind,sind heute vom Bundesverfassungsgericht bestätigt wor-den, nämlich erstens, dass der Weg, uns solidarisch zuverhalten – ESM –, richtig und verfassungsgemäß ist,und zweitens, dass wir auf der anderen Seite auch Struk-turveränderungen – Stichwort Fiskalpakt – verlangenmüssen. Diese beiden Dinge sind heute vom Bundesver-fassungsgericht bestätigt worden.Herr Gysi, ich kann dazu nur sagen: Ich erwarte vonallen, die vor dem Bundesverfassungsgericht geklagthaben, dass sie jetzt sagen: Das, was die große Mehrheitdes Deutschen Bundestages auf den Weg gebracht hat,ist verfassungsgemäß. Das erwarte ich jetzt auch vonIhnen.
Wenn man sich das Urteil genauer anschaut – das sindja einige Seiten –,
stellt man fest, dass das Bundesverfassungsgericht nureine Bestätigung für das verlangt hat, was wir in unserenGesetzen klar und deutlich festgelegt haben, nämlich– das ist der erste Leitsatz in dem Urteil –, dass ohne Be-fassung und Zustimmung des Deutschen Bundestagesdie festgelegten Haftungsgrenzen nicht verändert wer-den können. Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt:Es muss bestätigt werden, dass es im System des Ret-tungsschirms keinen Automatismus gibt, der die Haf-tungsgrenzen verändert, und es muss sichergestellt sein,dass der Deutsche Bundestag beteiligt wird. Genau dieshaben wir hier im Deutschen Bundestag mit breiterMehrheit beschlossen.
Da brauchen wir von Ihnen, Herr Gysi, keine Nach-hilfe. Eines muss man auch sagen, Herr Gysi: Als wirdiese Stärkung des Deutschen Bundestages beschlossenhaben, haben Sie sich vom Acker gemacht; da haben Siesich in die Büsche geschlagen. Sie waren nicht dabei. Siebrauchen heute also überhaupt gar nichts zu diesemThema zu sagen.Dass wir in Europa damit einen gewaltigen Schrittvorangekommen sind, können wir nur begrüßen. Wirwissen alle, dass jetzt, nachdem diese konkreten Maß-nahmen getroffen worden sind, natürlich auch die Dis-kussion über die Weiterentwicklung in Europa geführtwerden muss. Ich bin der Bundeskanzlerin außerordent-lich dankbar dafür, dass sie heute in ihrer Regierungs-erklärung auf einen Punkt hingewiesen hat, der in denletzten Wochen und Monaten noch kein Schwerpunktwar. Es geht um die Frage: Wie können wir die Parla-mentsbeteiligung und demokratische Entscheidungs-strukturen in Europa auch für die Zukunft aufrechterhal-ten? Wir wollen kein Europa der Bürokraten, sondernein Europa der Demokraten.
Deswegen ist dieser Hinweis der Bundeskanzlerin ge-nau richtig. Wir können und werden uns mit dieser Frageim Deutschen Bundestag beschäftigen; denn wir spürenalle, dass wir an Grenzen kommen, wenn 17 oder 27 na-tionale Parlamente in relativ kurzer Zeit Entscheidungenfür Europa zu treffen haben. Dann müssen wir uns dieFrage stellen: Wie können wir erreichen, dass wir auchnoch eigenständige Positionen vertreten können? Des-wegen ist nicht die erste Frage: „Was übertragen wir anneuen Kompetenzen auf irgendwelche europäischen In-stitutionen?“, sondern: „Wie können wir demokratischeLegitimation in diesem Europa sicherstellen?“ Da sindwir im Deutschen Bundestag noch alle ganz kräftig ge-fordert, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Dass die erste Nachkriegsgeneration die große Visionvon einem einigen Europa hatte und dass wir diese Vi-sion in den Parteien weiterverfolgen, wird ja wohl nie-mand bestreiten. Aber es stellt sich die Frage: Was fürein Europa wollen wir? Da ist doch der Hinweis derBundeskanzlerin richtig, dass wir aus dem Europagedan-ken der Nachkriegszeit – ein Europa des Friedens; keinKrieg mehr in Europa – und unter Berücksichtigung des-
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Volker Kauder
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sen, was wir erreicht haben, jetzt eine weitere Perspek-tive entwickeln müssen. Das ist ein Europa der Zukunftund der Chancen, gerade für die junge Generation.Nur ein Europa, das wettbewerbsfähig im Vergleichzu anderen Regionen in dieser Welt ist, wird ein Europader Zukunft, ein Europa der Chancen, ein Europa mit so-zialer Sicherheit und mit ausreichend vielen Arbeitsplät-zen sein. Ein Europa, das diese Wettbewerbsfähigkeitnicht hat, wird kein Europa der Zukunftschancen sein.Deswegen ist es so wichtig, dass wir die Wahrheit aus-sprechen. Es nützt überhaupt nichts, Europa mit Geld zufluten, sondern es müssen die notwendigen Strukturre-formen durchgesetzt werden, damit dieses Europa starkist und im Wettbewerb bestehen kann.
Herr Kollege Steinmeier, es ist ja völlig unbestritten,dass von der Agenda 2010, die auch von Ihnen im Kanz-leramt mitformuliert worden ist, wichtige Impulse aus-gegangen sind. Wir haben im Übrigen vieles von dem,was im Rahmen der Agenda 2010 gemacht worden ist,unterstützt.
Deswegen kann ich nur sagen: Da sind richtige Weichen-stellungen erfolgt. Wir haben diese Reform weiterentwi-ckelt und neue Akzente gesetzt. Aber jetzt können Siesich nicht an dieses Rednerpult stellen und verkünden:Wir haben in all den Fragen klare Standpunkte. – Dennwenn es darum geht, durch eine richtige RentenpolitikAltersarmut zu verhindern, haben Sie überhaupt keinKonzept, weil Sie sich nicht mehr trauen, zu dem zu ste-hen, was Sie einmal gesagt haben.
Ich sehe doch, wie die Diskussion bei der SPD läuft.Die einen wollen die Reform wieder zurückdrehen undwollen wieder auf ein Niveau von 53 Prozent kommen.Die anderen sagen, wir müssen mit Mindestlöhnen dieRente stabilisieren. Einen Plan, ein Programm haben Sieauf jeden Fall nicht; das muss ich Ihnen einmal klar sa-gen.
Das hängt auch damit zusammen, dass Sie sich nochimmer nicht entschieden haben, wer im nächsten Jahrdie Speerspitze im Wahlkampf sein soll.
Jeder hält sich bedeckt. Herr Gabriel traut sich nicht sorecht, zu sagen, was bei der Rente passieren soll. Sie ha-ben zwar eine klare Meinung, die in vielen Punkten mitdem übereinstimmt, was auch wir denken. Aber auch Sietrauen sich nicht, darüber zu sprechen, weil Sie nochnicht nominiert sind. Deswegen wird das im Augenblickgar nichts mit einem Gespräch mit Ihnen.Ich kann nur sagen: Wir werden eine Antwort auf dieFrage geben: Wie können wir gewährleisten, dass Men-schen, die jahrzehntelang eingezahlt haben, im Jahr 2030– um diesem Zeitpunkt geht es; es geht nicht um die ak-tuelle Rentnergeneration – eine entsprechende Rente be-kommen? Darauf werden wir eine Antwort geben.Aber eines muss auch klar sein, weil viele Menschenin den neuen Ländern davon betroffen sein werden: Sievon Rot-Grün haben die Grundsicherung geschaffen, um– wie Sie es damals formuliert haben – Altersarmut zubekämpfen. Wir werden auf keinen Fall zulassen, dassdie Grundsicherung, für die wir jetzt über 4 MilliardenEuro in den Bundeshaushalt eingestellt haben, mit Ar-mut verglichen wird.
Wir haben sie geschaffen, damit bei bestimmten Grup-pen Armut gar nicht erst entsteht. Sie sollten zu dieserEntscheidung, die Sie damals getroffen haben, stehen,meine sehr verehrten Damen und Herren von der Oppo-sition.
Wir haben zum ersten Mal seit vielen Jahren in die-sem Land wieder eine sehr gute Ausgangssituation. Wiralle können uns daran erinnern, worum es in diesemLand in den Wahlkämpfen der letzten Jahre ging. DieWahlkämpfe waren immer zu einem beachtlichen Teildavon beeinflusst, dass wir Defizite im Sozialversiche-rungssystem hatten und dass wir ständig darüber disku-tieren mussten: Was werden wir machen, um das Systemzu stabilisieren? Was werden wir machen, um zu garan-tieren, dass bestimmte Leistungen erfolgen? Das könnenSie nicht wegreden; denn es ist Fakt. Jetzt sind wir zumersten Mal seit langem in einer Situation, in der wir sa-gen können: Die Sozialversicherungssysteme in diesemLand sind intakt. Sie können die Leistungen, die wir zu-gesagt haben, auch in den nächsten Jahren erbringen.Wir können weiterhin sagen: Beitragserhöhungen wirdes in nächster Zeit nicht geben. – Wann hat es das schoneinmal gegeben? Auch das ist ein Erfolg dieser christ-lich-liberalen Koalition.
Wir alle führen ja Gespräche mit den Menschen undhören, was sie uns sagen. Sie haben Sorgen über das,was in Europa passiert. Sie vertrauen aber dieser Bun-desregierung, dass sie richtig handelt. Sie sind sehr zu-frieden damit, dass sie sich zum ersten Mal seit längererZeit keine Gedanken darüber machen müssen, ob sie dienotwendigen Leistungen erhalten, die aus der Sozialver-sicherung finanziert werden.
Das ist eine große Beruhigung für die Bevölkerung. Wiralle miteinander sollten dankbar sein, dass dies dieserRegierungskoalition gelungen ist.
In der heutigen Zeit muss auch, glaube ich, ein Wortdarüber gesagt werden, was wir in einem Teil der Welterleben. Wir machen uns beispielsweise große Sorgendarüber, was in Syrien passiert. Wir überlegen miteinan-der, was wir tun können, um den Menschen dort zu hel-
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Volker Kauder
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fen. Ich glaube, dass es ein Signal wäre, wenn wir uns inEuropa noch einmal darauf einigen könnten, Herr Bun-desinnenminister, da etwas zu tun. Umso dankbarer binich – auch das muss in einer solchen Debatte gesagt wer-den –, dass wir Anfang Oktober die ersten 100 Flücht-linge aus dem Irak bei uns in der BundesrepublikDeutschland aufnehmen können. Das ist ein schönesZeichen der Solidarität des reichen Deutschlands mit ge-schundenen Menschen in der Welt.
Natürlich sehen wir auch die Entwicklung in anderenLändern. Wir freuen uns zwar darüber, was in Ägyptenauf den Weg gebracht worden ist. Trotzdem beklagen wir,dass die Situation der koptischen Christen in Ägyptennoch immer nicht stabil ist und dass die Zusage, dassChristen an der Regierung beteiligt werden, nicht einge-halten wurde. Wir sehen, wie Christen in Syrien zwischendie Fronten geraten und wie sie dort brutale Erniedrigungaushalten müssen. Deshalb bin ich der Bundesregierung,vor allem der Bundeskanzlerin und dem Bundesaußen-minister, dankbar, dass sie nicht nur auf ihren Auslands-reisen, sondern auch bei jeder anderen Gelegenheit dieMenschenrechte, zum Beispiel Glaubensfreiheit undSchutz vor Verfolgung, ansprechen und deren Einhaltungeinfordern. Auch dies ist ein Markenzeichen dieserchristlich-liberalen Koalition. Ich finde, auch das gehörtin eine solche Generaldebatte. Wir machen an diesemPunkt mehr als eine der Vorgängerregierungen, die vonder linken Seite dieses Hauses gebildet wurde.
Man kann, wenn man die Situation betrachtet hat, klarund deutlich sagen – damit wird die Frage, die Sie, FrauKünast, an diesem Rednerpult gestellt haben, beantwor-tet –: Diese Bundesregierung, diese Bundeskanzlerin,diese Regierungskoalition werden sehr wohl in die Ge-schichtsbücher eingehen.
Dort wird stehen: Es war diese Regierungskoalition, diein schwierigster Zeit zur Stabilisierung Europas beige-tragen hat. Es war diese Regierungskoalition, die dazubeigetragen hat, dass Europa auf den Pfad der Zukunfts-fähigkeit zurückgekommen ist. Über diese Regierungs-koalition wird in den Geschichtsbüchern stehen: Sie hatEuropa vor dem Zusammenbruch gerettet. Ich kann Ih-nen nur sagen: Wir in diesem Hause sollten heilfroh sein,dass eine christlich-liberale Koalition die Regierungstellt. Das ist gut für Deutschland, und das ist gut für Eu-ropa.
Die Kollegin Petra Merkel hat für die SPD-Fraktion
das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin seit 2002 Ab-geordnete des Deutschen Bundestages und seit zehn Jah-ren Mitglied des Haushaltsausschusses. Ich habe in un-terschiedlichen Regierungskoalitionen gearbeitet, undseit drei Jahren arbeite ich in der Opposition.In zwei Legislaturperioden gab es erhebliche Verän-derungen. Unter Rot-Grün haben wir die Agenda 2010auf den Weg gebracht
und haben die Sozialsysteme in Deutschland zukunftsfä-hig gemacht. In der Großen Koalition haben wir danndas Gesundheitssystem und die Rentenreform beschlos-sen und umgesetzt.
Auf Vorschlag der Föderalismuskommission II undmit Zustimmung einer breiten Mehrheit des Bundestageswurde 2009 eine neue Schuldenregel im Grundgesetzverankert. Diese Schuldenregel folgt unserer Lebenser-fahrung: Spare in der Zeit, dann hast du in der Not. Wirwollen mit dieser Schuldenregel verhindern, dass in gu-ten Jahren, in denen die Wirtschaft gut läuft und die Ein-nahmen sprudeln, Wohltaten unter das Volk gestreutwerden und die Schuldenberge wachsen. Die Schulden-regel hat übrigens auch verhindert, dass sich die Steuer-senkungspartei FDP in der schwarz-gelben Koalition mitihrer Forderung nach Steuersenkungen durchsetzenkonnte. Diese Schuldenregel ist inzwischen Vorbild inEuropa und jetzt auch im Fiskalpakt verankert.
Insgesamt waren das harte Jahre; denn die Finanz-minister Eichel und Steinbrück haben ein hartes Kür-zungsregiment geführt. Ein ausgeglichener Haushalt war2008 in Sicht, als Lehman Brothers kippte. Grundsätz-lich gab es durch die bereits erfolgte Reduzierung derNettoneuverschuldung aber die Möglichkeit, auf die be-ginnende Wirtschaftskrise zu reagieren. Die Luft war da.Wir haben Konjunkturpakete aufgelegt, die die Wirt-schaft unterstützt und angekurbelt haben. In Deutschlandhaben wir uns für kleinteilige Programme entschieden,die Arbeitsplätze gesichert haben. Jeder kennt noch dieAbwrackprämie, das Kurzarbeitergeld und das Pro-gramm zur energetischen Gebäudesanierung, das beson-ders in Schulen und Kitas zur Anwendung kam, um ei-nige Beispiele zu nennen. Diese Maßnahmen sind beiden Menschen angekommen. Wir stellen heute fest: Daswar außerordentlich erfolgreich. Die Konjunktur ist an-gesprungen, und Deutschland ist gut durch die Krise ge-kommen – bis jetzt.Nun komme ich zu dieser Legislaturperiode. WelcheReformen hat Schwarz-Gelb durchgesetzt? Welche Wei-chen wurden gestellt? Wo wurden Strukturen verändert?Wo haben Sie gestaltet? Richtig, Sie haben die Neuver-schuldung verringert. Aber das wäre ja noch schöner:Die Steuereinnahmen sind gestiegen. Die Arbeitslosig-keit geht zurück. Dadurch sinken die Sozialausgaben.Sozialsysteme wie die Rente, der Gesundheitsfonds und
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Petra Merkel
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die Bundesagentur für Arbeit verfügen über Rücklagen.Aber das ist nicht das Ergebnis schwarz-gelber Politik;
Sie mussten dafür keinen Finger krümmen. Das ist im-mer noch das Ergebnis unserer Strukturveränderungen.
– Nein. Wir haben dafür hart gearbeitet. Aber Sie habensich ins gemachte Nest gesetzt.
Sehen wir uns einmal den Finanzplan an. ImJahre 2013 machen Sie neue Schulden in Höhe von18,8 Milliarden Euro. Die tatsächliche Neuverschuldungwar allerdings schon im Jahre 2011 geringer; damals lagsie bei 17,3 Milliarden Euro. Sie wollen laut Ihrem Ent-wurf also mehr Schulden machen, meinen aber, das seiehrgeizig.Lassen Sie uns einmal genau anschauen, wodurch Siedie Neuverschuldung senken.
Sie senken die Neuverschuldung, indem Sie die Steu-ereinnahmen künstlich hochrechnen: Sie veranschlagendie Steuereinnahmen um 7,6 Milliarden Euro höher alsin diesem Jahr. Das ist trickreich vor dem Hintergrund,dass die Wirtschaft warnt, dass die Zahl der Aufträge zu-rückgeht. Wenn dunkle Wolken am Horizont auftauchen,dann denken Sie nicht an Vorsorge, sondern legen sich indie Sonne.Sie senken die Neuverschuldung, indem Sie in dieRücklagen der Sozialsysteme greifen. Sie kürzen bei derRentenkasse 1 Milliarde Euro, und beim Gesundheits-fonds wollen Sie 2 Milliarden Euro kürzen.
Das ist eine kurzsichtige Politik; denn die Systeme sol-len sich auf eine Krise vorbereiten.Stark kürzen Sie bei der Arbeitsförderung –
2,1 Milliarden Euro zulasten der Langzeitarbeitslosen –und reden gleichzeitig von Fachkräftemangel. EchteUmschulung ist angesagt, und die kostet.Was ist von Ihrem Sparpaket übrig geblieben? Sie ha-ben dieses Sparpaket nur in Teilen umgesetzt. DieBrennelementesteuer – 2,3 Milliarden Euro – hat sich inLuft aufgelöst. Die Bundeswehrreform ist von Ministerzu Guttenberg vermurkst worden. Sie sollte 8 MilliardenEuro Einsparung bringen; jetzt fließen 1,3 MilliardenEuro mehr in den Verteidigungsbereich. Die angemes-sene Haftung der Finanzbranche sollte bis 2012 2 Mil-liarden Euro bringen. Auch das haben Sie nicht ge-schafft.Gespart haben Sie bei den Menschen, denen es wirk-lich wehtut. Ihr Sparpaket spart bei den Schwachen, beiLangzeitarbeitslosen und Familien. Ich erinnere an dieKürzung des Elterngeldes: gedeckelt, Bezugszeit redu-ziert, ALG-II-Empfängern völlig gestrichen. Bei denLeistungen der Bundesagentur für Arbeit wird dauerhaftgespart; bis 2016 sind das 16 Milliarden Euro. SchwacheSchultern müssen bei der schwarz-gelben Koalitionwahrlich mehr tragen als starke.
Sie wissen, welche Risiken Sie mit dem Haushalt2013 eingehen: Es gibt auch in diesem Haushalt wiederkeine Vorsorge für Risiken aufgrund der Finanzkrise.Eine solche Vorsorge hat die SPD schon für den Haus-halt 2012 beantragt, aber sie ist abgelehnt worden. DieEinnahmeerwartung, was den Bundesbankgewinn an-geht, bleibt gleich. Und wie sieht es mit den Zinsen aus?Die haben Sie mit 31,7 Milliarden Euro um 2,5 Milliar-den Euro niedriger angesetzt als 2012. Nach den Ent-scheidungen der EZB ist das fahrlässig.Die Wirtschaft warnt, dass die Konjunktur abflacht.Wie soll die Bundesagentur reagieren, wenn Sie ihr dieRücklagen wegkürzen? Zur Erinnerung: Die Bundes-agentur hatte 2009 eine Rücklage von 18 MilliardenEuro, die innerhalb eines Jahres für das Kurzarbeitergeldaufgebraucht wurde.
Dazu sind solche Rücklagen da. Anderenfalls müsste dieBundesagentur ein Darlehen aufnehmen. Es müssen alsojetzt Rücklagen gebildet werden, damit man in der Krisehandlungsfähig ist.Ihre größte Subvention ist weiterhin die Aufstockungvon Dumpinglöhnen. Früher gab es in Deutschland eineUnternehmensethik: Man führte ein Geschäft nur, wennman die Mitarbeiter bezahlen konnte. Heute zahlt man-cher Unternehmer Dumpinglöhne und schickt die Mitar-beiter zum Jobcenter zum Aufstocken. Das bedeutet eineSubvention von 8 Milliarden Euro. Der Mindestlohnmuss endlich flächendeckend eingeführt werden. DieMenschen müssen von ihrer Arbeit leben können.Warum haben Sie in dieser Legislaturperiode eigent-lich keine Reformprojekte umgesetzt? Auf der einenSeite hat die Europapolitik sicherlich Kräfte gebunden.Die Kanzlerin war mehr im Ausland unterwegs und hatihren Schwerpunkt dorthin verlagert; das war auch rich-tig. Der Streit zwischen CDU und CSU sowie zwischenUnion und FDP hat allerdings die Inlandsspalten derdeutschen Zeitungen gefüllt. Die Kanzlerin hat die Richt-linienkompetenz nicht ausgeübt. Stattdessen schreibenSie die Klientelpolitik weiterhin groß: hier ein Rettungs-schirm für die FDP mit der Hotelsteuer, dort ein Rettungs-schirm für die CSU mit dem Betreuungsgeld.Ich komme noch kurz zu Europa.
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Petra Merkel
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Manch einer von Ihnen gerät in Versuchung, Europapopulistisch kleinzureden. Da werden Ressentiments ge-gen andere Völker geschürt. Da wird der Austritt einesLandes schon einmal auf dem Reißbrett durchgespielt.Da schwingen Töne mit, die vielleicht kurzfristig imWahlkampf helfen, aber das Vertrauen in Europa lang-fristig zerstören und damit die Demokratie bei uns und inanderen europäischen Staaten gefährden.Die Konsequenzen der Beschlüsse der EZB werdenwir im Haushaltsausschuss und im Plenum sicherlichnoch beraten und analysieren. Ich bin gespannt, wasBundesbankpräsident Weidmann dazu sagen wird.Wir haben heute mit Spannung das Urteil des Bundes-verfassungsgerichts erwartet. Karlsruhe sagt Ja zumESM, mit Vorbehalten. Diese Vorbehalte stärken dasBudgetrecht des Deutschen Bundestages. Das ist gut so.Ich muss sagen: Ich bin wirklich sehr erleichtert. Wahr-lich, ein guter Tag für Europa, ein guter Tag für diesesParlament mit seinen Rechten!Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Dr. Hermann Otto Solms
für die FDP-Fraktion:
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich möchte für die FDP-Bundestagsfraktion genauso wiefür die FDP als Partei sagen, dass uns das heutige Urteildes Verfassungsgerichts ungeheuer freut und beruhigt;denn wir haben mehr als andere Parteien mit dieser Sa-che zu tun gehabt. Wir haben einen Mitgliederentscheiddurchgeführt. Alle Mitglieder waren aufgerufen, ihr Ur-teil zu fällen. Das ist positiv für den ESM ausgegangen,aber knapp positiv.In der Zwischenzeit hat in allen Fraktionen die Dis-kussion darüber stattgefunden. Dabei ist immer wiederSand ins Getriebe gestreut worden und Verunsicherungbetrieben worden. Deswegen ist es gut, dass das Verfas-sungsgericht jetzt eindeutig, und zwar ohne Vorbehalt,Frau Merkel, klargestellt hat, dass der ESM und der Fis-kalpakt verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sind,sondern in Ordnung sind.
Die Klarstellungen, die darüber hinaus getroffen wor-den sind, waren besonders wichtig, beispielsweise dieBegrenzung der Haftung auf 190 Milliarden Euro. Überdiese Haftung ist von wichtigen Ökonomen viel in Zei-tungen geschrieben worden, was sich aber alles als Un-fug herausgestellt hat. Die Pflichten der Bundesregie-rung zur Auskunft gegenüber dem Deutschen Bundestagwerden eindeutig bestätigt, genauso wie auch auf euro-päischer Ebene. Das soll völkerrechtlich fest verankertwerden. Das stärkt den Deutschen Bundestag in seinenMitwirkungsrechten noch einmal.
Schließlich ist indirekt bestätigt worden, dass eine Er-weiterung der Haftungsgrenzen für Deutschland nichtinfrage kommt. Ich verstehe das so, dass es keine Euro-Bonds und keine Bankenlizenz für den ESM geben darf,dass aber auch ein Alt- oder Neuschuldentilgungsfonds,wie immer Sie das interpretieren wollen, nicht möglichist und verfassungsrechtlich bedenklich wäre.
Ich habe mich sowieso gewundert, warum Sie von derSPD und den Grünen, nachdem Sie die Sache mit denEuro-Bonds aufgegeben haben,
auf den Altschuldentilgungsfonds eingeschwenkt sind.
Man muss doch nur einmal nachrechnen, was das heißt.Das hat auch der Sachverständigenrat selbst in aller Of-fenheit dargestellt. Wenn Sie den Altschuldentilgungs-fonds installieren, dann wird Deutschland für die Alt-schulden der betroffenen Länder mithaften. Diesesummieren sich auf 2,1 Billionen Euro. Das ist genausoviel wie die deutschen Schulden. Damit steigt, was dieHaftung anbetrifft, die Staatsschuldenquote von Deutsch-land von heute 82 Prozent auf über 160 Prozent. Damitwären wir – wenn Sie die Ratingagenturen dazu befragenwürden, würden sie Ihnen das bestätigen – auf dem Ni-veau von Griechenland.Was wäre die Folge? Die Folge wäre, dass wir nichtnur für unsere Schulden im Altschuldentilgungsfonds,sondern auch für unsere übrigen Schulden sehr viel hö-here Zinsen bezahlen müssten. Das würde sich, wennman das ganz nüchtern ausrechnet, auf einen Betrag inzweistelliger Milliardenhöhe belaufen, der bis auf 40 bis50 Milliarden Euro pro Jahr anwächst. Man muss dochökonomisch von Sinnen sein, wenn man einem solchenModell folgen wollte. Das verbietet sich von selbst.
Deswegen bleibt es dabei: strikte Konditionalität,keine Haftungsvermischungen. Es muss der Grundsatzgelten: Jeder muss für sein Handeln haften. Das gilt imZivilrecht. Genauso muss es für Staaten gelten. Es darfnicht sein, dass die Haftung auf andere übertragen wer-den kann, um sich dann aus der Verantwortung zu steh-len.Ein Wort noch zur Bankenunion. Natürlich brauchenwir eine europäische Bankenaufsicht, insbesondere na-türlich für die europaweit oder international agierendenBanken. Aber wir brauchen keine gemeinsame Haftungbei den Einlagen; denn die Einlagensicherungsfondssind im Besitzstand der Sparer, der Kunden und der Ge-sellschafter der Banken, die sie angesammelt haben. Es
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Dr. Hermann Otto Solms
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wäre quasi ein enteignungsgleicher Eingriff, wenn dieseEinlagensicherungsfonds nun auch auf andere Schuldnerübertragen werden sollten.
Eine letzte Bemerkung – Herr Schäuble hat gestern inseinem Vortrag klargestellt, dass er dieses Problemsieht –: Wenn die Bankenaufsicht bei der EuropäischenZentralbank angesiedelt wird, dann kann daraus ein deut-licher Interessenkonflikt entstehen. Dies muss man ver-meiden. Das war auch der Grund, warum wir in Deutsch-land die BaFin erhalten und die Verantwortung nicht ganzauf die Bundesbank übertragen haben. Es muss ganz klarsichergestellt werden, dass dieser Interessenkonflikt nichtentsteht. Darüber hinaus halte ich die Schaffung einer sol-chen Behörde für notwendig. Aber ich bin genauso wieder Bundesfinanzminister der Meinung, dass das nichtvon heute auf morgen zu Handlungsfähigkeit führenwird. Es wird sicherlich ein paar Jahre dauern, sie aufzu-bauen. Zumindest in der Zwischenzeit müssen die natio-nalen Aufsichtsbehörden tätig bleiben.Nun mache ich noch einige Bemerkungen zum Haus-halt. Wir haben als FDP-Fraktion am Anfang der Legis-laturperiode und auch in unserem Wahlprogramm eineSteuer- und Abgabenentlastung vorgeschlagen, aberHand in Hand mit der Haushaltskonsolidierung.
Das haben Sie bewusst falsch verstanden und gesagt:Die wollen nur Steuern senken.
Aber es liegt alles schriftlich vor.Ich kann heute mit großer Zufriedenheit sagen, dasswir beides erfolgreich hinbekommen haben.
– Ja. – Die Steuer- und Abgabenentlastung im Einzelnenhier aufzuführen, würde zu lang. Die Steuerentlastung be-trägt etwa 25,9 Milliarden Euro, die Abgabenentlastung,insbesondere bei der Rentenversicherung, 8 MilliardenEuro. Wenn Sie dem Abbau der kalten Progression undder Absenkung der Beiträge zur Rentenversicherung zu-stimmen, was in Ihrer Verantwortung steht, aber auch Ih-rem Wahlkonzept entsprechen würde, dann hätten wireine Nettoentlastung von 34 Milliarden Euro. Das kannsich doch sehen lassen.Das hat natürlich erheblich zur Steigerung der Bin-nenkonjunktur in Deutschland beigetragen. Wenn sichdie Konjunktur jetzt etwas abschwächt und Sie mit derForderung nach Steuererhöhungen an allen Ecken undEnden in das nächste Wahljahr gehen, dann tun Sie dasSchlechteste, was Sie für die wirtschaftliche Entwick-lung tun können,
und bewirken bewusst eine Steigerung der Arbeitslosig-keit. Genau das darf nicht geschehen.Deswegen sind wir zum einen froh, unser Verspre-chen eingehalten zu haben. Zum anderen werden, wasdie Haushaltskonsolidierung angeht, die Ausgaben desStaates am Ende dieser Legislaturperiode niedriger seinals am Anfang. Auch das hat es nach meiner Erinnerungniemals gegeben. Das ist ein Supererfolg.
Sie sollten den Haushaltsplan genau lesen. Von den18,8 Milliarden Euro Neuverschuldung, die jetzt nochdarin enthalten sind, sind über 8 Milliarden Euro auf dieKapitalbeteiligung am ESM zurückzuführen. Über10 Milliarden Euro haben wir zur Entlastung der Länderbereitgestellt.
Nüchtern betrachtet ist der Kernhaushalt also schonheute ausgeglichen. Ein besseres Ergebnis hätte mansich am Anfang der Legislaturperiode nicht vorstellenkönnen.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Der Kollege Michael Roth hat nun für die SPD-Frak-
tion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Gerne greife ich den Ball einiger meiner Vorrednerinnenund Vorredner auf.
Lassen Sie uns noch einmal über Europa reden.Die Bundeskanzlerin beklagte kürzlich die zweiWirklichkeiten in der Krise. Sie sprach von der Wirk-lichkeit in Griechenland, Spanien und Italien, und siesprach von der Wirklichkeit in Deutschland und davon,dass das alles nicht mehr zusammenpasse. Ich kann die-ser Regierung und der Bundeskanzlerin den Vorwurfnicht ersparen: Frau Merkel ist maßgeblich verantwort-lich für dieses Europa der zwei Wirklichkeiten. Sie be-treiben nämlich nicht nur eine schlechte Politik, sondern– darin kann man dem Herrn Bundespräsidenten nur zu-stimmen – Sie erklären Europa nicht. Sie betreiben einedilettantische Kommunikation.
Machen wir uns doch nichts vor: Meinungen undStimmungen in der Bevölkerung, die uns angesichts derTragweite der hier getroffenen Entscheidungen sorgenmüssen, fallen doch nicht vom Himmel. Diese werdendoch auch von der Politik konstruiert. Sie werden auchvon uns und von den Aussagen einer Kanzlerin, einesMinisters oder einer Ministerin beeinflusst.Wofür steht diese Bundesregierung? Die Bundes-regierung erklärt, sie wolle Griechenland unbedingt inder Euro-Zone halten. Vizekanzler Rösler schwadroniertmunter drauflos. Ich hoffe, dass Sie sich für die Herren
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Michael Roth
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Dobrindt und Söder so richtig schämen. Sie werden dashier sicherlich nicht zugeben. Aber so viel europapoliti-sches Porzellan, wie diese beiden Herren zerdeppert ha-ben, bekommt man gar nicht mehr zusammen.
Das ist ein ziemlich jämmerliches Schauspiel à laDr. Jekyll and Mr. Hyde. Die einen so, die anderen so –und nichts passt zusammen.Es gibt aber auch zwei Wirklichkeiten bei der Bun-deskanzlerin persönlich. Im Wahlkampf schimpft sieüber die vermeintlich faulen Südeuropäer, die sich nureinmal richtig anstrengen müssten. Kürzlich zeigte siedann Mitgefühl. Ich habe gelesen, dass der Bundeskanz-lerin angesichts der dramatischen Einschnitte in Südeu-ropa das Herz blute. Mit Verlaub, ich nehme Ihnen dasMitgefühl nicht ab. Sie, Frau Bundeskanzlerin, schauenzu, wie jeder zweite Jugendliche in Spanien und Grie-chenland ohne Job und Perspektive bleibt. Sie schauenzu, wie Kranke in Griechenland keine medizinische Be-handlung bekommen. Sie schauen zu, wie Rechtspopu-listen und Europagegner europaweit Zulauf erhalten.Wann fangen Sie endlich an, dagegen konkret etwas zutun? Mir blutet das Herz bei so viel Tatenlosigkeit derpolitisch Verantwortlichen.
Es gibt auch zwei Wirklichkeiten bei der Bewertungder Rolle der Europäischen Zentralbank. Es ist schonschamlos, wie Sie sich hier hinstellen und die Unabhän-gigkeit der Europäischen Zentralbank betonen, die eine100-prozentige Blaupause in der Deutschen Bundesbankfindet. Sie stellen sich hier hin, erklären, wie unabhängigdiese Institution ist, und sehen munter zu, was so alles inder Europäischen Zentralbank in Frankfurt entschiedenwird. Sie finden sich damit klammheimlich ab. HerrBrüderle stellt sich hier hin und übt massive Kritik ander Bundesregierung, insbesondere an der Kanzlerin unddem Bundesfinanzminister. Aber eigentlich sind Siedoch froh, dass endlich entschieden wird. Es handelt sichdoch um politisches Versagen Ihrerseits. Die EZB han-delt endlich, weil Sie nichts tun. Sie haben doch garnicht mehr die Kraft, geschweige denn die Bereitschaft,hier im Bundestag irgendeine politisch-parlamentarischlegitimierte Entscheidung herbeizuführen. Sie bekom-men doch gar keine Mehrheit mehr bei Schwarz-Gelbzusammen. Deshalb muss die Europäische Zentralbankhandeln.
Wir leben nicht in unterschiedlichen Welten und auchnicht in unterschiedlichen Wirklichkeiten. Wir leben ineinem gemeinsamen Europa. Ich finde es dramatisch,dass sich bei vielen Bürgerinnen und Bürgern die Vor-stellung manifestiert hat, wir lebten in Deutschland aufeiner behüteten Insel der Glückseligen inmitten einesMeers von Krisenstaaten. – Die Bundeskanzlerin hat ei-nen schwerwiegenden Traditionsbruch zu verantworten.Sie hat nämlich einen Widerspruch zwischen den deut-schen Interessen einerseits und den europäischen Inte-ressen andererseits konstruiert.
Der größte und erfolgreichste Rettungsschirm fürWohlstand und sichere Arbeitsplätze vieler Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer – gerade in Deutschland –waren der Euro und das gemeinsame Europa. 60 Prozentunserer Exporte gehen in die Staaten der EuropäischenUnion. 40 Prozent gehen in die Staaten der Euro-Zone.Ohne die Exporte in unsere Partnerländer hätten wirnicht Millionen sichere Arbeitsplätze. Das gilt sowohlfür meinen Wahlkreis, für Bad Hersfeld und Heringen,als auch für Frankfurt, Oberammergau, München oderHamburg. Ich kann Ihre verantwortungslose Politiknicht mehr nachvollziehen; denn wir retten gemeinsamnicht nur Griechenland oder Spanien, sondern auch un-seren Wohlstand und unseren Sozialstaat in Deutschland.Deswegen wünsche ich mir von Ihnen ein bisschen mehrVerantwortungsbewusstsein.Wir wissen aber auch: Arbeitslose Spanier kaufenkeine teuren, qualitativ hochwertigen Produkte ausDeutschland. Derzeit wird oft behauptet, es gebe eineAlternative zu den Märkten in Europa. Ja, Alternativengibt es immer. Aber wie sehen denn diese Alternativenaus? Deutschland exportiert alleine in die Niederlandemehr Güter als nach China. Gerade einmal 7 Prozentunserer Produkte gehen in die Vereinigten Staaten vonAmerika, 2 Prozent nach Lateinamerika. Wer also denEindruck erweckt, als könnten wir auf ein starkes, aufWohlstand beruhendes Europa verzichten, weil wir unsauf anderen Märkten ausbreiten könnten, hat die euro-päische und auch die deutsche Wirklichkeit nicht ver-standen.
2007, als Deutschland die Ratspräsidentschaft inne-hatte, die wir mit Außenminister Frank-Walter Steinmeiernicht nur konstruktiv begleitet, sondern auch maßgeblichmitgeprägt haben, gab es ein Motto. Dieses Motto lau-tete: Europa gelingt gemeinsam. – Die Bundeskanzlerinist an diesem Anspruch krachend gescheitert, weil sienicht nur die deutschen, sondern auch die europäischenInteressen mit Füßen tritt. Diesen Vorwurf müssen sichSchwarz-Gelb und diese Bundesregierung gefallen las-sen.
Die Kollegin Gerda Hasselfeldt hat nun für die
Unionsfraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Eine Opposition, die sich angesichts der objektiv gutenwirtschaftlichen Lage im Land und angesichts einesnachweisbar soliden Haushalts in so viel Schwarzmale-
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Gerda Hasselfeldt
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rei ergeht, wie wir das heute im Laufe der Debatte erlebthaben, hat ihre Rolle verfehlt.
Sie ist eigentlich arm dran und diskreditiert sich selbst.
Der vorliegende Haushaltsplan ist Ausdruck einer er-folgreichen, wachstumsorientierten Konsolidierungs-politik. Das war und ist das Markenzeichen dieser Re-gierung nicht erst seit heute, sondern schon in der ge-samten Legislaturperiode. Zwei Säulen – auf der einenSeite Sparen, Konsolidieren, Verschuldung abbauen, aufder anderen Seite Stärkung der Wachstumskräfte – prä-gen die Politik dieser Regierung, und die Erfolge bleibennicht aus.Heute wurde gesagt: Ihr müsst noch viel mehr sparen,ihr spart in diesen Zeiten viel zu wenig. – Meine Damenund Herren, sagen Sie doch einmal, wo noch gespartwerden soll. Ihre Vorschläge bestehen doch nur darin,noch mehr Gelder von den Steuerpflichtigen zu erheben,ihnen noch mehr Geld abzunehmen. Ihre Vorschlägesind Steuererhöhungen, Steuererhöhungen und noch ein-mal Steuererhöhungen. Das haben Sie in den vergange-nen Monaten gezeigt.
Wir sind auf einem soliden Konsolidierungspfad; dasist heute mehrfach angesprochen worden. Die Ausgabensinken kontinuierlich. Die Neuverschuldung ist, wieKollege Solms es vorhin gesagt hat, im Wesentlichen da-durch bedingt, dass Kapital dem ESM zugeführt wirdund dass wir Hilfen an Länder und Kommunen geben,womit wir teilweise das kompensieren, was Sie denKommunen in den Jahren der rot-grünen Regierungszeitabgenommen haben, beispielsweise bei der Grundsiche-rung.
Die Erfolge sind sichtbar. Sie sind eindeutig daran er-kennbar, dass wir eine Beschäftigungsquote haben, wiewir sie noch nie in diesem Land hatten, dass wir bezüg-lich der Arbeitslosigkeit seit 20 Jahren nicht so gut dage-standen haben wie jetzt. Davon profitieren die Men-schen, die jungen und die älteren, die Arbeitnehmer unddie Arbeitgeber. Die Unternehmen sind wieder wettbe-werbsfähig. Das machen auch die Globaldaten deutlich.Noch vor zehn Jahren hat man in Europa vonDeutschland – ich zitiere – als dem kranken Mann Euro-pas gesprochen. Heute sind wir für viele andere, nichtnur europäische Länder Vorbild. Wir sind im weltweitenRanking des Weltwirtschaftsforums wieder nach obengeklettert. Wir befinden uns in guter Gesellschaft mitführenden Industrienationen.Meine Damen und Herren, dass es für manche Sozial-demokraten und Grüne, für Sie in der Opposition, etwasschwer ist, sich damit anzufreunden, kann ich verstehen,weil Sie so etwas in Ihrer Regierungszeit nicht erlebt ha-ben. Sie haben das Gegenteil erlebt. In Ihrer Regierungs-zeit ist die Arbeitslosigkeit gestiegen, in Ihrer Regie-rungszeit ist gleichzeitig die Verschuldung gestiegen.
Die verstaubten Rezepte, die Sie uns heute anbieten,nämlich Steuererhöhung und Umverteilung, haben da-mals nichts getaugt, und sie taugen heute auch nichts.
Ich sagte vorhin, dass die Menschen davon profitie-ren. Wir machen ja keine Politik, die sich nur in denZahlen widerspiegeln soll, sondern unsere Politik dientdazu, dass es den Menschen gut geht, dass wir Wachs-tum, Wohlstand und soziale Sicherheit nicht nur kurz-fristig, sondern langfristig sichern, dass wir die Zukunftfür unsere Jugendlichen, für unsere Kinder gut gestalten.Deshalb ist es wichtig, zu sehen, wie sich diese Politikauswirkt. Ich habe vorhin die Arbeitnehmer und Arbeit-geber, die Unternehmen, die Jüngeren und Älteren – ichbrauche das nicht zu vertiefen; das ist heute alles schonangesprochen worden – und gerade die Situation derJungen erwähnt, die heute durch die Beschäftigungssitu-ation einen viel besseren Zugang zum Arbeitsleben ha-ben. Die Zahlen bei der Jugendarbeitslosigkeit sind inDeutschland im Vergleich zu vielen anderen europäi-schen Ländern vorbildlich. Andere Länder schauen aufuns, wie wir dieses Problem lösen und gelöst haben.
Meine Damen und Herren, wir tun auch etwas für dieKommunen – das will ich deshalb in besonderer Weisezum Ausdruck bringen, weil gerade unsere Gemeinden,unsere Städte und unsere Landkreise so nah an den Men-schen dran sind –, damit sie ihre Aufgaben, die sich ver-ändert haben, auch künftig gut bewältigen können. Dazuhaben wir ihnen durch eine Entlastung wieder den Bo-den bereitet.
Ich habe die Grundsicherung angesprochen, will dazuaber unsere Leistungen für die Kinderbetreuung anspre-chen. Frau Künast hat vorhin ja gesagt, dass wir dann„nur“ – in Anführungszeichen – diese 580 MillionenEuro geben, die wir jetzt zusätzlich zuschießen. ZurWahrheit gehört schon – das sollten wir uns bewusstmachen –, dass wir seit der Entscheidung zum Rechts-anspruch auf einen Betreuungsplatz für Zwei- und Drei-jährige den Kommunen, obwohl wir nicht zuständigsind, 4 Milliarden Euro für den Ausbau der Betreuungvon unter Dreijährigen gegeben haben. Das tun wir nichtdeshalb, weil wir so viel Geld haben, sondern weil wirwissen, dass die Kinderbetreuung für viele Eltern einganz wichtiger Aspekt ist. Hier kann der Staat nicht au-ßen vor bleiben und sagen, dass es ihn nichts angeht. Wirwollen vielmehr den Kommunen, die dafür zuständigsind, bewusst unter die Arme greifen, um diese wichtigeAufgabe der Kinderbetreuung bewerkstelligen zu kön-nen.
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Gerda Hasselfeldt
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Meine Partei und ich stehen voll hinter dem Ausbauder Kinderbetreuungseinrichtungen, wir stehen voll hin-ter dem Rechtsanspruch auf einen Kinderbetreuungs-platz für unter Dreijährige.
Aber wir sagen auch: Das kann nicht die einzige Formder staatlichen Unterstützung sein. Auch diejenigen, diedieses Angebot nicht in Anspruch nehmen, sollen eineAnerkennung für ihre Erziehungstätigkeit bekommen.Deshalb haben wir uns für das Betreuungsgeld als zweiteLeistung entschieden.
Außerdem befinden sich unsere Sozialsysteme in ei-ner guten Situation. Ich bin jetzt schon einige Jahrzehntehier im Hause, und ich kann mich kaum an Haushalts-debatten erinnern, in denen wir beim Thema Sozialversi-cherungen nicht über Defizite gesprochen hätten. Dasswir heute in der Krankenversicherung und in der Renten-versicherung über ein Polster reden, dass wir auch übermögliche Beitragssatzsenkungen reden, hängt mit derguten Wirtschafts- und Finanzpolitik, mit der Politik inden Jahren zusammen, in denen das aufgebaut wurde.Wir haben in der Rentenversicherung, bei der Alters-sicherung natürlich nicht alle Probleme gelöst. Deshalbist es richtig, dass wir uns Gedanken darüber machen:Wie verbessern wir die Versorgung der älteren Bevölke-rung dann, wenn gebrochene Erwerbsbiografien, wennunterbrochene Erwerbsbiografien zu verzeichnen sind,wenn durch Geringverdienen relativ wenig Beiträge ge-zahlt wurden? Das ist eine legitime und auch notwendigeDiskussion. Ich warne da allerdings vor Schnellschüs-sen. Ich glaube, es ist notwendig, hier wirklich intensivdarüber nachzudenken.Eines will ich allerdings schon deutlich zum Aus-druck bringen: Bei dieser Diskussion darf die Situationder Frauen, die vor 1992 Kinder geboren haben und des-halb in der Rentenversicherung eine geringere Anerken-nung ihrer Erziehungsleistung haben als diejenigenFrauen, die ihre Kinder nach 1992 geboren haben, nichtvergessen werden, nicht an die Seite geschoben werden,sondern muss einbezogen und einer Lösung zugeführtwerden.
Vorhin hat der Kollege Steinmeier angesprochen, dassvieles von dem, woraus wir heute die Dividende erhal-ten, etwa die gute wirtschaftliche Entwicklung, auf daszurückzuführen sei, was von der Großen Koalition oderauch früher entschieden wurde.
– Auch unter Rot-Grün. Ich habe das nie bestritten. Wirhaben das, was uns richtig und gut erschien, ja auch un-terstützt. – Nur möchte ich gerade deshalb schon deut-lich darauf hinweisen: Es wäre gut, wenn Sie sichmanchmal daran erinnern und auch daran halten würden.
Wenn Sie der Meinung sind, dass es richtige Entschei-dungen waren, dann, bitte sehr, werfen Sie sie nicht überden Haufen und versuchen Sie nicht, sie wieder rückgän-gig zu machen,
sondern stehen Sie dazu! Stehen Sie vor allem in diesenZeiten dazu, das weiterzuführen; denn es ist notwendig!
Bei all den innenpolitischen Entscheidungen stehenwir natürlich auch vor der großen Herausforderung derBewältigung der Staatsschuldenkrise in den Euro-Staa-ten. Es ist immer wieder notwendig, sich darauf zu be-sinnen: Was ist eigentlich die Ursache dafür? Entstandenist diese Krise, meine Damen und Herren, liebe Kolle-ginnen und Kollegen, letztlich durch zwei Dinge, einmaldurch eine zu hohe Staatsverschuldung
und zum anderen durch fehlende Wettbewerbsfähigkeitin einzelnen Euro-Ländern. Wenn wir an die Lösung derProbleme gehen wollen, dann müssen wir diese Ursa-chen bekämpfen. Es führt dann kein Weg daran vorbei,dass jede Hilfe verbunden sein muss mit Konditionen,mit Konditionen wie „notwendige Haushaltskonsolidie-rung“ und „Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit inden Industriestaaten“, das heißt mit konkreten strukturel-len Reformen in diesen Ländern. Anders geht es nicht.
Das Ziel muss sein – ich bin sehr dankbar, dass dieBundeskanzlerin das heute so deutlich zum Ausdruck ge-bracht hat –: Europa muss sich mit Innovationen, mitKreativität, mit Wettbewerbsfähigkeit im internationalenKontext bewähren können. Deshalb führt kein Weg daranvorbei, dass die einzelnen Staaten mit ihrer Haushalts-politik, mit ihrer Finanzpolitik, mit ihrer Wirtschafts-und Sozialpolitik, mit ihrer gesamten politischen Kraftselbst dafür sorgen, dass sie wettbewerbsfähig sind, undauf dem Weg dahin müssen wir sie unterstützen.Zu dem Vorschlag, der immer wieder kommt, mankönnte ein bisschen nachgeben und ein bisschen Zeit ge-ben, muss ich ganz deutlich sagen: Jedes Zugeständnisnimmt den Reformdruck, nimmt den Konsolidierungs-druck von diesen Ländern, und deshalb wird jedes Zuge-ständnis abgelehnt.
Es ist notwendig, alles daranzusetzen, dass wir zu ei-ner Stabilitätsunion kommen und dass die Konditioneneingehalten werden. Es verbietet sich jeder Weg in eineSchuldenunion. Alles, was mit Vorschlägen in RichtungSchuldentilgungsfonds, in Richtung Euro-Bonds und inRichtung Vergemeinschaftung von Schulden geht, mög-
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Gerda Hasselfeldt
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lichst auch noch ohne Konditionen, ist der grottenfalscheWeg. Eine Stabilitätsunion ist gefragt, nichts anderes.
Wir werden auf diesem Weg noch einiges bewerkstel-ligen müssen. Die über Jahre hinweg aufgebauten Schul-den werden nicht über Nacht abgebaut werden können.Aber ich bin sicher: Wenn wir den Kurs einhalten, dannwerden wir auch in Europa das schaffen, was wir inDeutschland geschafft haben, nämlich aus der Krise bes-ser herauszugehen, als wir hineingekommen sind. Wir inDeutschland haben es geschafft.Sicher ist aber auch eines: Wenn wir den Weg gegan-gen wären, den Sie in der Opposition in Richtung Verge-meinschaftung von Schulden uns immer wieder vorge-schlagen haben, dann wären die Krisenländer nach wievor auf dem falschen Weg zur weiterhin fehlenden Soli-dität.
Das wäre mit Sicherheit verhängnisvoll. Deshalb habenwir das verhindert, und deshalb werden wir das auchkünftig verhindern.
Das Wort hat jetzt der Kollege Siegmund Ehrmann
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zum Bundes-kanzleramt gehört auch der Verantwortungsbereich desStaatsministers für Kultur und Medien. Deshalb wird ausguten Gründen in der Generaldebatte auch über die Kul-tur- und Medienpolitik gesprochen.Der Bund hat auch für die Hauptstadt Berlin eine be-sondere Verantwortung. Gerade die Ergebnisse der Kul-turpolitik sieht man hier in dieser Stadt sehr stark, wennich allein an die Museumsinsel erinnern darf. Deshalb istes eine besondere Verantwortung, mit diesen Institutio-nen sehr umsichtig umzugehen.Wir konnten allerdings in diesem Sommer ein beson-deres Paradebeispiel aus der Rubrik „Gut gemeint istnicht zwingend gut gemacht“ erleben. Was ist passiert? –Im Nachtragshaushalt im Juli wurden 10 Millionen Eurozur Verstärkung des Bautitels der Stiftung PreußischerKulturbesitz bereitgestellt, um die Schenkung des Samm-lerehepaars Pietzsch angemessen zu repräsentieren, sodie Begründung. Das war wohl auch für den Chef derStiftung Preußischer Kulturbesitz eine Überraschung. Erwird in Cicero zitiert: Hätte ich das eher gewusst, dannhätte ich das auch anders kommunizieren können. – DieArt und Weise dieser Mittelveranschlagung führte näm-lich zu einer heftigen, chaotischen Debatte in den Feuil-letons. Kulturhistoriker weltweit haben sich eingemischtund haben sich geäußert. Eine Petition wurde entwickelt.Im Grunde genommen wurde alles falsch gemacht, wasman falsch machen konnte, obwohl doch der Masterplan,der als stille Folie über allem schwebt, einen recht gutenWeg weist.Strafverschärfend kommt jetzt hinzu, dass sich dieVorsitzende des Kulturausschusses, Frau Grütters, in derBerliner Morgenpost äußert und gewissermaßen derartNebelkerzen wirft, die Stiftung Preußischer Kulturbesitzsei jetzt gefordert, Klarheit zu schaffen, die Politik seinicht dafür da, die Hausaufgaben der Stiftung Preußi-scher Kulturbesitz zu machen. Nebenbei watscht sie denBerliner Senat ab und gibt auch dem Staatsminister ei-nen korrigierenden Hinweis, dass seine Idee, das Kron-prinzenpalais möglicherweise in die ZwischenlagerungAlter Meister einzubeziehen, nicht unbedingt der Weis-heit letzter Schluss ist.Ich finde, so kann man Kulturpolitik nicht gestalten.Wenn man zwischen Tür und Angel Mittel veranschlagt,ohne die Konzepte der Öffentlichkeit sorgfältig zu erläu-tern, dann braucht man sich nicht zu wundern, wenn eineDebatte so aus dem Ruder läuft. Hier ist der Staatsminis-ter gefordert, Klarheit zu schaffen.Ich lese heute, dass auch die Museumsverantwortli-chen die Debatte aufgegriffen haben und möglicher-weise sogar bereit sind, den Masterplan zu revidieren. Esgibt also eine Verunsicherung auf allen Ebenen. Hier istKlarheit geboten. Herr Staatsminister, Kolleginnen undKollegen der Regierungskoalition, es ist Ihr Job, sich da-rum zu kümmern.
Ich habe gerade die chaotisierende Wirkung von be-reitgestellten Haushaltsmitteln beschrieben. Man hättedurchaus Geld für wirksame Instrumente in diesen Haus-halt einstellen können. Ich spreche die Kulturstiftung desBundes an. Die Kulturstiftung des Bundes bietet sehrgute Instrumente, um im gesamten Land kulturelle Pro-jekte zu stabilisieren und sie zu unterstützen. Besondersgut sind die Instrumente der einzelnen Fonds, zum Bei-spiel des Fonds Soziokultur, des Fonds DarstellendeKünste, des Deutschen Literaturfonds und des Deut-schen Übersetzerfonds. Im Haushalt ist nicht zu erken-nen, dass die Regierungskoalition diese Instrumentewertschätzt. Ich hätte mir gewünscht – das werden wirbeantragen –, dass die entsprechenden Mittel angemes-sen aufgestockt werden, um diese tollen steuernden In-strumente und Impulsgeber wirksam werden zu lassen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolle-ginnen und Kollegen, auch in der Medienpolitik sindDefizite zu beobachten. Internet und Digitalisierung ha-ben die Nutzung von Medien grundlegend verändert.Alte Kulturtechniken haben sich verändert, neue sindhinzugekommen. Aber wie fördern wir den verantwor-tungsvollen Umgang mit den neuen Medien? Es gibtsehr wohl einzelne Projekte, die vom BKM, im Verant-wortungsbereich des Staatsministeriums angeschobenwurden. Es wurde aber auch in einem Zwischenbericht
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Siegmund Ehrmann
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der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesell-schaft“ herausgearbeitet, dass Grundlagenforschung so-wie praxisbegleitende Forschung und Studien fehlen, umgenau zu eruieren und zu beobachten, wo noch wirksa-mer an den Stellschrauben gedreht werden könnte. Auchdort ist diese Bundesregierung nicht initiativ, obwohl dasThema in der Enquete-Kommission auch von den eige-nen Leuten auf die Agenda gebracht wurde.Die Ideenlosigkeit des BKM spiegelt sich auch imBereich der Mediendatenbank wider. Das ist ein Thema,bei dem Abgeordnete aus dem gesamten Parlament seitgeraumer Zeit treiben. Dort geschieht nichts. Das Themamuss endlich angepackt werden, damit wir solide, öf-fentlich zugängliche Grundlagen für medienpolitischeEntscheidungen erhalten. Es stellt sich die Frage: Wannpassiert da endlich etwas?Meine sehr geehrten Damen und Herren, diese Bei-spiele sprechen Bände, aber sie können nicht ernsthaftverwundern. Wieso sollte bei der Performance dieserBundesregierung gerade dieser Bereich der Kultur- undMedienpolitik als ein besonders umsichtig gestaltetesPolitikfeld erfahrbar sein? Es wundert nicht. Insofernbleibt es die Aufgabe der Opposition, den Finger in dieWunde zu legen und entsprechende Anträge zu stellen.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Es hat das Wort der Staatsminister Bernd Neumann.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vor-liegende Haushaltsentwurf, Herr Kollege Ehrmann, do-kumentiert erneut die Verlässlichkeit und den hohenStellenwert der Kulturpolitik des Bundes. Nunmehr inachter Folge – in den ersten vier Jahren waren Sie ja da-bei; da haben Sie noch ganz anders geredet –, also seitBeginn der Regierungszeit von Bundeskanzlerin AngelaMerkel, steigen die Ausgaben für Kultur und Medienjährlich.
Meine Damen und Herren, damit unterstreichen wir er-neut und, wie ich finde, eindrucksvoll, dass wir es mitder Aussage ernst meinen, die in beiden Koalitionsver-einbarungen der Regierungszeit von Angela Merkel ent-halten ist. Ich zitiere:Kulturförderung ist keine Subvention, sondern eineunverzichtbare Investition in die Zukunft unsererGesellschaft.Dies ist einmalig in Europa.
In allen anderen vergleichbaren europäischen Ländernwerden gerade die Ausgaben für Kultur zum Teil dras-tisch gekürzt. Deshalb gilt Deutschland in der Runde derEU-Kulturminister als vorbildlich. Erst gestern war inder FAZ unter der Überschrift „Linker Tabubruch“ zu le-sen, was in Frankreich derzeit passiert – ich zitiere –:Frankreichs Kulturpolitik steht vor einem radikalenUmbau. Erstmals seit zehn Jahren wird das entspre-chende Budget geringer – unter einer linken Regie-rung war das überhaupt noch nie der Fall. … DieserTabubruch bedeutet das Ende der berühmten „kul-turellen Ausnahme“.Meine Damen und Herren von der SPD, so Ihre sozialis-tischen Freunde in Frankreich.
Bei uns wird es diesen Tabubruch nicht geben.
Die sogenannte kulturelle Ausnahme ist auf Bundes-ebene mittlerweile zur Regel geworden. Daran haben– lassen Sie mich das objektiv feststellen – alle Fraktio-nen des Deutschen Bundestages, insbesondere im Haus-haltsausschuss, mitgewirkt, und darauf können wir stolzsein.
Es geht aber nicht nur um die Höhe des Haushalts, es gehtauch um gute Rahmenbedingungen. Insbesondere um-satzsteuerliche Regelungen wirken sich sehr auf das kul-turelle Leben in Deutschland aus. Nur stichwortartignenne ich das noch zu verabschiedende Jahressteuerge-setz, in dem wir festlegen, dass entgegen einer Entschei-dung des Bundesfinanzhofs Regisseure und Choreogra-fen an Theatern nicht den vollen Mehrwertsteuersatzzahlen müssen, sondern von der Umsatzsteuer gänzlichbefreit werden. Das war mühselige Überzeugungs- undDetailarbeit, aber es ist ein wichtiges Detail und keineKleinigkeit für die Kreativen.
Nicht mehr ermäßigt bleiben darf hingegen nach EU-Recht der Handel mit Kunst. Das ist in der Sache leidernicht abzuwehren, aber wir sind dabei, andere EU-kon-forme Regelungen zu finden, die Belastungen für denKunsthandel in Deutschland möglichst vermeiden undihn vor größeren Beeinträchtigungen dauerhaft bewah-ren.
Aufgrund der Kürze der Zeit muss ich thematischspringen. Wir werden zum Beispiel die Finanzierung deserfolgreichen Deutschen Filmförderfonds in unveränder-ter Höhe fortsetzen.
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Staatsminister Bernd Neumann
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Dieses zugleich kulturell wie wirtschaftlich orientierteFördermodell ist ein echter Blockbuster – um es imFilmjargon zu sagen –, generiert ein Vielfaches an Um-satz im Produktionsland Deutschland und hat entschei-dend zur Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Films bei-getragen.
Wir führen die Digitalisierung der Kinos fort, wobeiunsere Unterstützung auf die kleineren Kinos konzen-triert ist; denn neben den großen Kinoketten brauchenwir zum Erhalt der kulturellen Vielfalt in der Flächeeben die kleinen und Arthaus-Kinos, und die wollen wirerhalten.
Wir haben beträchtliche Mittel neu in den Haushalteingestellt, um die Digitalisierung unserer Kulturgüterzu forcieren, die in unseren Bibliotheken, Archiven undMuseen verwahrt werden. Wir müssen die Chancen derDigitalisierung nutzen, um viel mehr Menschen den Zu-gang zu unseren kulturellen Gütern zu erleichtern.Die Leistungen der Bundesregierung für den Denk-malschutz sind neben der Filmförderung das Erfolgspro-gramm dieser Koalition im Bereich der Kultur.
Durch die vom Haushaltsausschuss initiierten Sonder-programme sind mittlerweile mehr als 100 MillionenEuro zusätzlich in den Denkmalschutz geflossen.
Wir haben mit den – durch die Länder und Dritte etwa ingleicher Höhe ergänzten – zur Verfügung gestelltenSummen einen entscheidenden Beitrag zum Erhalt derkulturellen Vielfalt in allen Regionen Deutschlands ge-leistet.
Zum Abschluss möchte ich einige Bemerkungen zudem machen, was Herr Ehrmann zu Anfang sagte. EinThema ist in den letzten Wochen intensiv diskutiert wor-den, und zwar nicht, weil etwa Geld fehlte, sondern weilder Haushaltsausschuss zusätzliche Mittel im Nachtrags-haushalt bereitstellte: Ich meine die Pläne der StiftungPreußischer Kulturbesitz zur Weiterentwicklung ihrerMuseen, die der Öffentlichkeit mittlerweile unter demBegriff „Rochade“ bekannt sind. Diese Pläne zur Um-strukturierung der Museen mit dem Ziel, für die Bilderder Gemäldegalerie einen angemesseneren Standort an-zubieten und die Werke der klassischen Moderne, diesich leider derzeit zu 80 Prozent in Depots befinden,überhaupt zu präsentieren, werden von den Verantwortli-chen der Stiftung seit vielen Jahren verfolgt.Herr Kollege Ehrmann, auch die Berliner Senate inallen Konstellationen – einmal war ein linker Kulturse-nator dabei – unterstützten und unterstützen diese Plänebis heute.
Deshalb galten sie bisher als unstreitig. Ausschließlichwegen finanzieller Mittel konnten die Pläne bisher nichtumgesetzt werden.
Ich bin den Mitgliedern des Haushaltsausschusses sehrdankbar – hier hätte auch der Berliner Senat tätig werdenkönnen; denn immerhin befinden sich diese Museen inBerlin –,
dass sie mit der Einstellung von 10 Millionen Euro inden Nachtragshaushalt 2012 überhaupt die Tür geöffnethaben, um langfristig zu einer noch besseren Strukturunseres größten Museumskomplexes in Deutschland zukommen. Es gibt an diesen Plänen, zum Teil wider bes-seres Wissen und kampagnenartig, Kritik. Ich nehme sieernst. Ich begrüße deshalb die gestern veröffentlichteAbsicht der Stiftung, die von allen 15 Museumsdirekto-ren getragen wird, mit einer Machbarkeitsstudie ihrePläne auch mit möglichen Alternativen zu objektivieren.
Auf der Grundlage dieser Studie werden dann von derStiftung Preußischer Kulturbesitz die endgültigen Ent-scheidungen getroffen, die im Hinblick auf die finanziel-len Auswirkungen selbstverständlich auch das Parlamentdiskutieren wird. Ich bin zuversichtlich, dass es gelingenwird, zum einen für die sogenannten Alten Meister eineangemessene Ausstellungsperspektive zu entwickeln,zum anderen aber auch der Sammlung der Nationalgale-rie zum 20. Jahrhundert unter Einbeziehung der Samm-lung Pietzsch gerecht zu werden.Ich möchte mich zum Schluss herzlich bedanken fürdie große Zustimmung und Unterstützung, die ich frak-tionsübergreifend – das muss ich sagen – in den zurück-liegenden Jahren erhalten habe. Diesen Dank richte ichausdrücklich auch in Richtung Opposition. Dies ist nichtselbstverständlich. Ich weiß dies zu schätzen. Aber letzt-lich dient es unserer Kultur. Im Speziellen bedanke ichmich bei allen Mitgliedern des Haushaltsausschusses da-für, dass sie der Kultur so gewogen sind und es mög-lichst auch bleiben.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Lukrezia
Jochimsen von der Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrter Herr Staatsminister, Kultur ist eine unver-zichtbare Investition. Diesen Satz hören wir immer wie-
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Dr. Lukrezia Jochimsen
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der. Wir hören ihn natürlich immer wieder sehr gerne andieser Stelle.
Der Kulturetat ist nicht gekürzt worden. Es wäre aberauch noch schöner, wenn ausgerechnet an der Kultur ge-spart würde, wo wir doch den ganzen Tag
von Ihrer Seite gehört haben, dass es Deutschland so gutgeht: Deutschland – das Vorbildland, Deutschland – dieVorzeigegesellschaft.
– Das Beispiel Frankreich, verehrter Herr Kollege undverehrter Herr Staatsminister, halte ich für äußerst unfair.Es ist ein Bumerang, der auf Sie zurückgeht. Der sozia-listische Präsident muss jetzt in der Nachfolge einer bür-gerlichen Regierung, die falsch gewirtschaftet hat, spa-ren.
Er spart auch an der Kultur.
Das ist ein Bumerang, der auf Sie zurückgeht. Das wer-den Sie eines Tages noch sehen.
Ganz bewusst stellen wir heute, in der Zeit der Schul-denberge und in dieser besonderen Situation, die Fragenach dem Stellenwert der Kultur. Was soll denn in genaudiesen Zeiten unser Fundament sein, uns Rückhalt ge-ben, eine Anleitung zum Weitermachen sein, wenn nichtdie Kultur? Wenn ich mir allerdings die Kulturpolitikdes Bundes von 2009 an in Ihren Großprojekten an-schaue, dann frage ich mich, ob die Kultur gefördert undgeschützt wird, die diesen existenziellen Anforderungengerecht wird: die Festspiele in Bayreuth,
die ruinöse Schlossbaustelle, das goldene Freiheits- undEinheitsdenkmal,
der neueste Millionenunsinn auf der Museumsinsel – derKollege Ehrmann hat das ausführlich beschrieben –
und die unsägliche Stiftung „Flucht, Vertreibung, Ver-söhnung“. All das sind übrigens Projekte, die durch Pri-vatinteressen ausgelöst wurden
und nach deren Nutzen für die Allgemeinheit zu fragenist.Fangen wir mit Bayreuth an. Dem florierenden Fami-lienkulturunternehmen, das Abgaben an die Künstlerso-zialkasse und an die Sozialversicherungen nicht geleistethat und dem Parlament keinerlei Einsicht in seine Bü-cher erlaubt, zahlen wir pro Jahr 2,3 Millionen Euro.
Vor Jahren begann der Bund diese Förderung, umWagner für alle zu ermöglichen. Davon kann heute keineRede mehr sein. Solange sich das Unternehmen jederparlamentarischen Kontrolle entzieht, sollten die öffent-lichen Gelder gestoppt werden. Das ist unsere Forde-rung!
Machen wir mit dem sogenannten Schloss weiter. VorJahren ist eine Privatinitiative aufgetaucht, die sich ver-pflichtet hat: Wir bringen Ihnen 80 Millionen Euro anSpenden ein, wenn Sie eine schöne Staatskulisse mittenins Herz von Berlin bauen.
Von den 80 Millionen Euro ist bis heute kaum etwas zusehen. Der Palast der Republik wurde abgerissen,25 Millionen Euro wurden bereits verbaut, die Zahlungweiterer 100 Millionen Euro steht bevor, und noch im-mer weiß niemand genau, was in dem Ding präsentiertwerden soll. Computeraufnahmen von der Kantine imKeller sind jetzt allerdings im Umlauf, und 1 MillionEuro zahlen wir jährlich extra für ein Labor, das neuar-tige Ausstellungsideen entwickeln soll. Das Ergebnis istbisher unbekannt.Kommen wir zum neuesten Coup: Das Sammlerehe-paar Pietzsch bietet Berlin seine Bilder als Schenkungan,
und schon haben wir in diesem Jahr 10 Millionen Euro,um in eine gewaltige Um- und Neubauorgie auf der Mu-seumsinsel einzusteigen. Die Alten Meister werden ersteinmal weg- und die moderne Kunst wird hingehängt,und es gibt einen zusätzlichen Neubau.
Schließlich komme ich zu der vom Bund der Vertrie-benen und seiner Präsidentin durchgesetzten Stiftung„Flucht, Vertreibung, Versöhnung“,
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Dr. Lukrezia Jochimsen
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die für die Planung einer Ausstellung nunmehr im drittenJahr 2,5 Millionen Euro bekommt, eine Stiftung, in dernach wie vor nur Wissenschaftler aus Polen und Ungarnvertreten sind, aber weder Wissenschaftler aus Tsche-chien noch aus der Slowakei noch aus dem übrigen Ost-europa, eine Stiftung, in deren Gremien nach wie vorweder der Zentralrat der Juden noch Roma und Sinti ver-treten sind, obwohl die deutschen Juden ja wohl die ers-ten deutschen Vertriebenen waren und die deutschenRoma und Sinti die nächsten.Sind das Kulturinvestitionen, die wir in dieser Zeitbrauchen?
Immer wieder habe ich an dieser Stelle den Vorschlaggemacht, kulturelle Bildung und kulturelle Infrastrukturmachtvoll zu fördern.
Wir müssen antizyklisch vorgehen: mehr Zuwendung fürKultur in Zeiten von Einsparungen und nicht weniger.Die SPD hat in ihrem Kreativpakt jetzt einen sehrcharmanten Vorschlag gemacht. Zehn Städte und Regio-nen sollen je 10 Millionen Euro erhalten – analog zumHauptstadtkulturfonds. 100 Millionen Euro mehr für dieKultur: Das wäre ein richtiger, mutiger Schritt.
Eine neue Kulturpolitik muss betrieben werden, viel-leicht sogar ausgehend von den Ideen der Opposition.Vielen Dank.
Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Reiner
Deutschmann das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenKolleginnen und Kollegen! Ich möchte zu Beginn beto-nen, dass es mich freut, dass die Fraktionsvorsitzendender Koalitionsfraktionen ihr Interesse an der Kultur be-zeugen, indem sie hier anwesend sind.
In den vergangenen Wochen konnte man den Ein-druck gewinnen, dass die aktuelle Politik nur ausSchlagworten wie „ESM“, „Euro-Rettung“ und „Staats-anleihen“ besteht. Eine Welle der Begrifflichkeitenwogte, durch unser Land, durch Europa und durch dieWelt, doch ich glaube, gerade wenn die großen Themennahezu erdrückend erscheinen und die Welle fast über-mächtig ist, hilft die Kultur. Für mich ragt die Kultur alsLeuchtturm aus dieser Gemengelage heraus.
Kultur ist der Mittelpunkt unseres Lebens. Sie schafftIdentität und Kreativität. Sie ist Anker und Quell neuerIdeen.
Das Genießen von Kultur ermöglicht das Durchatmenund sorgt von Zeit zu Zeit auch für das wichtige Innehal-ten. Auch und gerade deshalb bin ich gerne Kulturpoliti-ker. Vielleicht sollte das Innehalten auch bei einigen an-deren ab und zu einmal zur Regel werden.
Die Kulturlandschaft Deutschlands ist unvergleich-lich. Neben dem ehrenamtlichen Engagement der Bürge-rinnen und Bürger ist die Kulturförderung durch die öf-fentliche Hand eine Voraussetzung für deren Erhalt undWeiterentwicklung. Wenn auch die Kulturhoheit bei denLändern und Kommunen liegt, so leistet der Bund dochsein Möglichstes, um unterstützend tätig zu sein. Aus ge-lebter Erfahrung weiß ich: In der Kultur kann man auchmit vergleichsweise geringen Summen viel bewegen.Dies bedeutet im Umkehrschluss aber auch, dass selbstbei der Streichung kleiner Etats riesiger Schaden entste-hen kann. Natürlich wollen wir Liberalen sobald alsmöglich einen Bundeshaushalt ohne Neuverschuldung,aber nicht, indem wir auf einen Wert von 0,39 Prozentschauen. Genau dies ist der Anteil des BKM am Bundes-haushalt.Dass es keine Kürzungen im Kulturetat gibt, habenwir bereits im Koalitionsvertrag festgeschrieben; HerrNeumann hat das noch einmal unterstrichen. So bleibtder Etat des BKM auch in dieser Haushaltsplanung sta-bil, rechnet man die Einmalzahlungen des letzten Jahres,zum Beispiel für Baumaßnahmen, heraus. Im direktenVergleich mit dem Regierungsentwurf 2012 ist er sogarum 16 Millionen Euro gestiegen.
Das schafft Planungssicherheit bei den Kulturakteurenund zeigt, dass die christlich-liberale Koalition ein zu-verlässiger Partner ist. Dies zeigt ebenso, dass wir derKultur auch in schwierigeren Zeiten eine zentrale Be-deutung beimessen.
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Reiner Deutschmann
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Für uns ist Kultur ein wesentlicher Bestandteil derGesellschaft und kein Sparschwein, das man in schlech-ten Zeiten einfach mal schlachten kann.
Kultur ist ein Schatz, den man bewahren und weiterent-wickeln muss. Deshalb werde ich mich dafür einsetzen,dass das Staatsziel Kultur im Grundgesetz verankertwird.Mit dem Haushaltsentwurf des BKM für das Jahr2013 sind wir gut gerüstet für die anstehenden Haus-haltsberatungen im Haushaltsausschuss. Wir wollendiese Beratungen nutzen, um neue Akzente zu setzenund Bewährtes zu stärken. Über viele einzelne Projektewerden wir ganz sicher noch reden, ehe der Haushaltendgültig festgezurrt wird.Herausgreifen möchte ich aber heute schon den Be-reich der Aufarbeitung der SED-Diktatur und des Stasi-unrechts. Bei diesem Thema werden wir nicht lockerlas-sen.
Gemeinsam mit den Gedenkstätten, den Opferverbän-den, den Zeitzeugen und dem Bundesbeauftragten fürdie Stasiunterlagen werden wir daran arbeiten, geradeauch den jungen Menschen die Schrecken der letztenDiktatur auf deutschem Boden verständlich zu machen.
Ich bin überzeugt: Damit leisten wir einen wichtigenBeitrag für die Demokratie in Deutschland.
Herausgreifen möchte ich aber auch, dass im Haus-haltsentwurf des BKM vorgesehen ist, den Etat der Deut-schen Nationalbibliothek 2013 um 6 Millionen Euro zuerhöhen. Diese Mittel stehen zur Digitalisierung vonwichtigen Kulturgütern zur Verfügung. Damit erfolgteine erste Umsetzung der Forderungen aus unserem Ko-alitionsantrag „Digitalisierungsoffensive für unser kultu-relles Erbe beginnen“.In diesem Zusammenhang soll auch ein virtuellesMuseum für verfolgte Künste entstehen. Das ist viel-leicht ein erster Schritt hin zu einem Nationalmuseumfür verfolgte Künste, das ich mir durchaus in Solingenvorstellen könnte.Bezogen auf die Diskussion, die hier im Raumschwebte, über die Rochade in Berlin, kann ich nur sa-gen: Ich unterstütze Professor Parzinger ausdrücklich inseinem Bemühen, die Museumsinsel noch weiter aufzu-werten und alle Möglichkeiten auszuloten, um die Berli-ner Museumslandschaft noch attraktiver zu machen.Ich freue mich auf die Diskussion und bin mir sicher,dass es am Ende der Beratungen zum Bundeshaushaltviele zufriedene Gesichter bei den Kulturakteuren gebenwird.
Ich danke Ihnen.
Jetzt hat das Wort die Kollegin Agnes Krumwiede
von Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wie ein Elefant im Porzellanladen, so verhältsich die Bundesregierung gerade in der Kulturpolitik.
Das Damoklesschwert der Umsatzsteuerpflichtschwebt über privaten Anbietern von Bildungsleistun-gen. Schaffen Sie schleunigst Klarheit im Entwurf fürdas Jahressteuergesetz 2013,
damit alle Tanz-, Musik- und Kunstschulen von der Um-satzsteuer befreit bleiben.
Tatenlos sieht die Bundesregierung zu, wie der Streit umdie Tarifreform der GEMA eskaliert. Schon längst hätteein runder Tisch mit allen Betroffenen einberufen wer-den müssen, um das Schiedsstellenverfahren zu be-schleunigen.
Die nächste Baustelle liegt bei der Berliner Kunstro-chade der Alten und Neuen Meister; Planungsdilettantis-mus an allen Ecken und Enden.
Es gibt weder ein Finanzierungskonzept für die neueHerberge der kompletten Alten Meister noch einen abge-stimmten Stufenplan für den Umzug.
Beim Schach rochieren König und Turm in einem Zug.Der Umzug der Alten Meister muss zeitgleich mit demEinzug der Neuen erfolgen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 191. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. September 2012 23021
Agnes Krumwiede
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Ursache für die Verstimmung ist auch ein Kommuni-kationsversagen seitens unseres Kulturstaatsministers.
Wenn der Kulturausschuss lediglich zum finalen Abni-cken missbraucht wird, ist das schlechter parlamentari-scher Stil.
So innovativ und investitionsfreudig sich der Kultur-staatsminister für ein Museum des 20. Jahrhunderts ein-setzt, so festgefahren zeigt er sich bei der Haushaltspla-nung für 2013. Alles beim Alten – so sieht es aus bei derStiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“. Daran än-dert auch die aktuell erschienene Konzeption zur Arbeitder Stiftung nichts. Solange sich nicht alle – Vertriebeneund Opfer des Nationalsozialismus – in den Gremienund in der Konzeption gleichberechtigt wiederfinden,können wir einer Bundesförderung für die Stiftung nichtzustimmen.
Auch 2013 wird uns das Trauerspiel um die Förde-rung der Wagner-Festspiele erhalten bleiben. Erneut flie-ßen über 2 Millionen Euro nach Bayreuth, und das, ob-wohl sich nichts verändert hat.
Immer noch sahnt der Förderverein ein Viertel der ver-fügbaren Karten ab. Bis heute wurde kein kaufmänni-scher Geschäftsführer eingesetzt. Auf die Durchführungeiner Marktpreisstudie warten wir vergeblich. In Bay-reuth müssen endlich die notwendigen Umstrukturie-rungsmaßnahmen stattfinden. Dieser Förderautomatis-mus nach dem Motto: „Wir fördern, weil wir das seitJahrzehnten so machen, ganz egal, was sich hinter denKulissen abspielt“, muss durchbrochen werden; denn da-durch bleibt immer weniger Platz für Mittel für neueIdeen und für neue Projekte.
Zwischen der Förderung etablierter Kultur und neuerKunstformen herrscht ein gravierendes Missverhältnis.Auch für 2013 gibt es keine Erhöhung der Mittel für dieSoziokultur. Für den Kulturstaatsminister scheint die So-ziokultur ein ungeliebtes Stiefkind zu sein.
Es ist an der Zeit, neue Schwerpunkte zu setzen. Wirhaben konkrete Vorschläge. In diesem Jahr feiert dieKulturstiftung des Bundes ihr zehnjähriges Bestehen.Dies ist ein guter Anlass und höchste Zeit, um eine Erhö-hung des Gesamtetats der Stiftung um 7 Millionen Eurozu fordern.
Ein eklatantes Defizit der Bundeskulturförderung be-steht im Bereich Musik. Neue musikalische Ausdrucks-formen von zeitgenössischer Musik über den Jazz bis hinzur Musik der Jugendkulturen finden in der Haushalts-planung kaum Beachtung. Wir setzen uns deshalb für dieEinrichtung eines Fonds „Neue Musik“ ein
zur Förderung neuer musikalischer Werke aus allenSparten, zum Beispiel für Projekte, die zeitgenössischeMusik unterschiedlicher Stilrichtungen und Kulturen aufeiner Bühne vereinen.
Mehr Wertschätzung für Musik, Kunst und Kulturkann auch Europa wieder näher zusammenführen. Denantieuropäischen Querulanten aus den schwarz-gelbenReihen müssen wir zur Stärkung Europas neue Ideenentgegensetzen.
Als Dänemark 1814 pleite war, beschloss KönigChristian VIII., den Haushaltsposten für Kunst und Bil-dung deutlich zu erhöhen. Als sein Finanzminister dage-gen protestierte, antwortete der König:Arm und elend sind wir. Wenn wir jetzt auch nochdumm werden, können wir aufhören, ein Staat zusein.Vielen Dank.
Weitere Wortmeldungen zu diesem Einzelplan liegennicht vor.Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Aus-wärtigen Amtes, Einzelplan 05.Als erster Redner hat der BundesaußenministerDr. Guido Westerwelle das Wort.
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Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-wärtigen:Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Kolleginnen und Kollegen! Mit großer Bestürzunghaben wir von dem verabscheuungswürdigen Angriffauf das amerikanische Generalkonsulat in Bengasi unddem Tod des amerikanischen Botschafters in Libyen,Christopher Stevens, und seiner Mitarbeiter erfahren.Unsere Gedanken sind in dieser schweren Stunde bei un-seren amerikanischen Freunden. Wir trauern um Bot-schafter Stevens und seine Kollegen. Unser Mitgefühlgilt den Angehörigen und Freunden. Wir verurteilen diegewaltsamen Übergriffe auf Auslandsvertretungen derVereinigten Staaten in Bengasi und Kairo auf dasSchärfste. Wir appellieren an die libysche Regierung,eine lückenlose Aufklärung der Verbrechen sicherzustel-len. Die Straftäter müssen ihrer gerechten Strafe zuge-führt werden. Ich fordere die Regierungen in Libyen undÄgypten eindringlich auf, die Sicherheit der Botschaftenund Konsulate und deren Mitarbeiter in ihren Ländern invollem Umfange zu gewährleisten.
Ich will hier klar sagen: Wir wenden uns entschiedengegen jeden Versuch, die Gefühle anderer zu verletzenund das friedliche Zusammenleben der Religionen zuunterminieren. Aber wir sind uns einig in der Auffas-sung: Gewalt darf kein Mittel gegen solche Provokatio-nen sein. Die Ermordung des amerikanischen Botschaf-ters und drei weiterer Mitarbeiter – dies wurde vorwenigen Stunden bestätigt – ist durch nichts, aber auchdurch gar nichts zu rechtfertigen.
Wir spüren, dass wir, wenn wir über den arabischenFrühling sprechen, in Wahrheit über arabische Jahreszei-ten sprechen müssten. So wenig wie die Geschichte derFreiheitsbewegungen auf unserem Kontinent in jedemLand identisch verlaufen ist – wir Deutsche wissen dasganz besonders gut –, so wenig verläuft auch die Ge-schichte der Transformation, des Aufbruchs in der arabi-schen Welt nach demselben Strickmuster, in derselbenGeschwindigkeit, in derselben Weise.Es gibt Länder, die einen revolutionären Weg gewählthaben. Es sind Länder wie beispielsweise Tunesien, diesich trotz allem, was noch im Argen liegt, mehr undmehr zum Vorbild für viele andere Länder und ihre Frei-heitsbewegungen empfehlen. Es gibt Länder wie Ägyp-ten, die sich auf den Weg gemacht haben. Trotz all dergroßen Schwierigkeiten möchte ich hier sagen: Dass wires zum ersten Mal in der Geschichte Ägyptens mit einemdemokratisch gewählten Präsidenten zu tun haben, dasist etwas, das unsere Anerkennung und Würdigung fin-den sollte trotz allem, was wir noch an Fragilitäten undübrigens auch an Kritikwürdigem – ich denke an dieRolle der deutschen politischen Stiftungen in Ägypten –auszusetzen und zu bemerken haben.Wir erleben in Libyen, dass auch die Freiheit nochnicht gewonnen ist. Das zeigen diese furchtbaren An-schläge. Wir erleben evolutionäre Entwicklungen in derarabischen Welt; ich denke beispielsweise an die Marok-kaner, aber auch an die Golfregion. Wir erleben, dass esdort unterschiedliche Wege gibt. Aber eines haben alldiese Entwicklungen gemeinsam: Es sind Entwicklun-gen, die nach Freiheit und neuen Lebenschancen drän-gen. Unfreiheit kann vieles ignorieren, aber nicht die de-mografische Entwicklung dieser Länder. Viele jungeMenschen kommen nach. Sie suchen nach Chancen. Siefragen nicht nur nach politischer, demokratischer Partizi-pation, sondern in Wahrheit ausdrücklich auch nach bes-seren ökonomischen und sozialen Chancen für sich undihre Familien. Wir wollen nicht vergessen, wie es in Tu-nesien begann. Es war der Protest gegen Armut und Un-terdrückung.Deshalb ist es mir wichtig, auch wenn wir uns im Au-genblick verständlicherweise ganz stark mit unseren ei-genen europäischen Fragen zu beschäftigen haben, dasswir nicht aus den Augen verlieren, welche historischenUmbrüche in unserer unmittelbaren Nachbarschaftgerade stattfinden. Weil wir uns selber 1989/1990 dieDemokratie errungen haben, haben wir auch die Ver-pflichtung, den Völkern beizustehen, die auf Demokra-tie, Rechtsstaatlichkeit, Pluralität, übrigens ausdrücklichauch religiöse Pluralität, setzen, die diesen Aufbruch wa-gen. Wir stehen an der Seite dieser Transformationslän-der. Auch wenn wir selbst unsere Probleme haben, ver-gessen wir nicht diese Freiheitsbewegungen in unsererNachbarschaft.
Die Lage in Syrien ist unverändert bestürzend. Wiralle sind uns darüber einig, dass nicht nur die Gewalt inSyrien, sondern auch die mangelnde Handlungsfähigkeitder internationalen Staatengemeinschaft viele Fragenaufwerfen.Es besteht kein Zweifel daran: Die Zeit von Assad istvorbei. Wann der Zeitpunkt kommen wird, werden wirnoch sehen. Wir hoffen, bald. Wir hoffen, schnell. Jeeher Russland und China dem Regime von Assad ihreschützenden Hände entziehen, umso schneller wird auchdie Gewalt ein Ende finden.
Wir haben eine strategische Partnerschaft mit Moskauund Peking. Das wird uns aber nicht davon abhalten, dieBlockadepolitik von China und Russland im Sicherheits-rat der Vereinten Nationen laut und deutlich zu kritisie-ren.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen undKollegen, wichtig ist, dass wir es durch unsere Arbeitschaffen, die Oppositionskräfte in Syrien zu einigenbzw. zusammenzuführen und dabei zu helfen, dass siesich auf eine Plattform verständigen. Es reicht nicht aus,nur die Opposition gegen etwas zu sein, in diesem Fallgegen das grausame Regime von Assad. Es ist auchwichtig, für etwas einzutreten, Alternativen aufzuzeigen
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Bundesminister Dr. Guido Westerwelle
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und dazu beizutragen, dass der Erosionsprozess im inne-ren Zirkel dieses Regimes voranschreiten kann. Wir set-zen uns ein für Demokratie, für Rechtsstaatlichkeit, fürPluralität und ausdrücklich auch für religiöse Toleranz.Wir wollen ein neues Syrien, wir wollen ein freies Sy-rien, und wir wollen dabei helfen, dass das gelingt. Aberes muss ein Syrien sein, in dem alle Religionen und alleEthnien ihren Platz haben und frei und ungehindert ihrenGlauben ausüben und ihr Leben leben können. Es sindalso auch Wertepartnerschaften, die wir eingehen.Wir alle spüren, dass der Nahe Osten vor einer außer-ordentlich fordernden Zeit steht. Die Lage in unserer un-mittelbaren Nachbarschaft ist gefährlich. So sehr sichdie allermeisten Abgeordneten über den heutigen Tag fürEuropa freuen, so sehr dürfen wir nicht die Risiken inunserer unmittelbaren Nachbarschaft unterschätzen. Wirmüssen hinsehen und uns im Klaren darüber sein: DerFriede steht auf der Kippe. Es ist nicht ausgemacht, dassdie Entwicklung in vielen dieser Länder friedlich voran-schreitet. Das bezieht sich nicht nur auf Syrien und dieandauernde Gewalt, sondern ausdrücklich auch auf denIran.Als jemand, der in den letzten Jahren auf internationa-ler Ebene immer wieder dafür geworben hat, die Handfür Verhandlungen auszustrecken, sage ich: Verhandlun-gen sind kein Selbstzweck. Verhandlungen, die nur dazudienen, auf Zeit zu spielen, werden wir nicht akzeptie-ren. Eine atomare, nukleare Bewaffnung des Iran ist füruns nicht akzeptabel, und zwar nicht nur deshalb, weilwir eine besondere Verantwortung für die SicherheitIsraels haben, sondern auch, weil wir nicht zulassen kön-nen, dass in der Region ein atomarer Rüstungswettlaufbeginnt, in dessen Zuge sich ein Staat nach dem anderenatomar bewaffnet, mit all den Risiken, die damit verbun-den sind.Wir verlangen vom Iran, dass er das internationaleRecht einhält. Ansonsten werden wir weiter an der Sank-tionsschraube drehen müssen; daran führt kein Weg vor-bei. Ich sage dies mit großem Nachdruck und mit demvollen Ernst der Worte: Wir wollen eine politische unddiplomatische Lösung; dafür ist es noch nicht zu spät.Aber jeder muss wissen: Eine atomare Bewaffnung desIran ist nicht akzeptabel. Sie ist nicht akzeptabel fürIsrael, nicht akzeptabel für die Region und nicht akzep-tabel im Hinblick auf die stabile Sicherheitsarchitekturder Welt.
Schließlich und letztlich bedanke ich mich bei allen,die im Haushaltsausschuss, im Auswärtigen Ausschuss,im Europaausschuss und im Unterausschuss „Auswär-tige Kultur- und Bildungspolitik“ mit uns zusammenge-arbeitet haben.Ich will mit einer Bemerkung schließen, die weit überdie auch technischen Aspekte dessen hinausgeht, wo-rüber heute Morgen in der Debatte im Zusammenhangmit dem wichtigen und glücklichen Urteil des Bundes-verfassungsgerichts gesprochen worden ist: Ich glaube,wir müssen uns gemeinsam Gedanken darüber machen,wie wir die Geschichte Europas, auch in den Augen derBürger, neu schreiben. Es reicht nicht aus, den jungenMenschen zu sagen: Europa ist die Antwort des Friedensauf Jahrhunderte mit vielen Kriegen und Konfrontation. –Es ist wichtig, dass wir erkennen: Europa ist nicht nurdie Antwort auf Geschichte, nicht nur die Antwort aufdas dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte, sondernin Wahrheit ist Europa auch eine Schicksalsgemein-schaft, eine Kulturgemeinschaft.Ich bin jetzt seit drei Jahren Außenminister. Mit demAutoritätsgewinn durch wirtschaftliche Erfolgsgeschich-ten in den neuen Kraftzentren der Welt, den ich in diesendrei Jahren erlebt habe, ist auch ein politischer Autori-tätsgewinn verbunden. Kein Land in Europa wird dieHerausforderungen durch die Globalisierung allein be-stehen können. Wir werden nur gemeinsam, indem wirunsere Kräfte bündeln, bestehen können und im Wettbe-werb, aber auch in einer Partnerschaft mit den neuenKraftzentren der Welt unser europäisches Lebensmodellverteidigen können. Wir müssen den Selbstbehauptungs-willen Europas als Kulturgemeinschaft leben. Das istmehr als Binnenmarkt und Währungsunion.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Dr. Rolf Mützenich von der
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Herr Bundesaußenminister, das war eine be-merkenswerte Rede, und ich hatte gedacht, dass Sie dieAussprache über diesen Einzelplan, der wohl der letzteEinzelplan ist, den Sie aktiv mitgestalten,
zum Anlass nehmen, ein wenig Bilanz zu ziehen undvielleicht das Revue passieren zu lassen – Sie haben ge-sagt, Sie sind jetzt seit drei Jahren Außenminister –, wasSie an eigenen Zielen und Erwartungen hatten und wasSie verwirklicht haben.Ich will das tun; ich denke, es ist angemessen, beimEinzelplan 05 darüber zu sprechen.Natürlich ist es schwer – das vorweg –, die heutigenationale Außenpolitik mit der vor 10 oder 20 Jahren zuvergleichen. Die internationale Politik hat sich verän-dert. Neue Machtzentren sind in den Vordergrund getre-ten. Das Ende des Ost-West-Konflikts und die Verge-meinschaftung der nationalen Außenpolitik in Europa –all das hat die Handlungsmöglichkeiten nationalerAußenpolitik verändert, eingeschränkt. Aber es bestehennatürlich weiterhin Herausforderungen für die nationaleAußenpolitik. Ich hätte mir gewünscht, dass gerade dieseHerausforderungen in den vergangenen Jahren von Ih-
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nen gemeistert worden wären, insbesondere die inEuropa; Sie haben davon gesprochen. Wir sehen ja nichtnur eine Staats- oder Finanzkrise in einzelnen europäi-schen Ländern, sondern wir beobachten die Rückkehrvon Nationalismus, die Rückkehr von Chauvinismus inEuropa, die wir überwunden geglaubt haben. Zum Bei-spiel in Ungarn und Rumänien geht es ja nicht nur umdie Verfolgung von Minderheiten; es geht auch darum,dass die Probleme in eine Region in unmittelbarer Nach-barschaft, nämlich auf den Balkan, überschwappen, derjahrelang einen Bürgerkrieg erlebt hat und nun erneutZwietracht erlebt. Das sind Herausforderungen.Herausforderungen sind auch das wachsende Ent-wicklungsdilemma, die Politisierung von Gesellschaf-ten, soziale Konflikte und, insbesondere in Europa – dasdürfen wir nicht vergessen –, weiterhin ungeregelte Ter-ritorialkonflikte. Zum Beispiel Zypern ist eine Heraus-forderung für eine nationale, aber insbesondere für eineeuropäische Außenpolitik. Außerdem gibt es weiterhinungeregelte Aufrüstungsschübe in der Welt.Damit bin ich bei einem Thema, das Sie vor drei Jah-ren im Wahlkampf immer im Munde geführt haben. Siehaben sich zum Ziel gesetzt, die letzten hier verbliebe-nen taktischen Atomwaffen aus Deutschland herauszu-bringen oder dieses Thema zumindest auf der Agenda zuhalten. Sie haben dieses Thema frei gewählt; das bleibtIhnen überlassen. Einige waren sowieso von Anfang anskeptisch. Aber in diesem Sommer mussten wir hören,dass die Bundesregierung diese Systeme mit einigenPartnern modernisiert, um sie noch länger in Deutsch-land zu halten, Relikte des Kalten Krieges, wie Sie siegenannt haben. Das ist Ihr Versäumnis in der deutschenAußenpolitik, und das muss an dieser Stelle auch be-nannt werden.
Zu dem, was beim Thema Rüstungskontrolle von Ih-nen nicht angepackt worden ist, wo Sie vielleicht zu we-nig Mut gezeigt haben, gehört, wie ich finde, auch dasThema Raketenabwehr.
Deutsche Außenpolitik hätte im Bereich der Sicherheits-und der Rüstungskontrollpolitik etwas voranbringenkönnen, was wahrscheinlich Europa und den gesamtenKontinent in den nächsten Jahren wieder prägen wird: Esgeht um Aufrüstungsschübe durch eine Modernisierungvon Rüstung.Hier hätte es sich gelohnt, Rüstungskontrolle und -be-grenzung zu diskutieren,
sowohl im NATO-Bündnis als auch darüber hinaus, undinsbesondere auch die Sorgen Russlands ernst zu neh-men. Nicht jetzt – das wissen wir auch –, aber dann,wenn möglicherweise die letzte Stufe der Raketenab-wehr verwirklicht worden ist, ergibt sich hier strategi-sches Potenzial. Ich verlange von einem deutschen Au-ßenminister, dass er das thematisiert.Herr Westerwelle, Sie haben über eine Region in un-serer unmittelbaren Nachbarschaft gesprochen, den Na-hen und Mittleren Osten. In der Tat: Israel macht sichwegen des Irans Sorgen, insbesondere darüber, dass derIran nicht bereit ist, sowohl die ausgestreckte diplomati-sche Hand zu ergreifen als auch die Inspektion durch dieInternationale Atomenergie-Organisation zuzulassen.Iran ist ein vorherrschendes Thema der internationalenPolitik.Andererseits ist auch die Versöhnung zwischen Israelund Palästina weiterhin eine große Herausforderung füreuropäische und auch für deutsche Außenpolitik. Esreicht nicht, dass der deutsche Außenminister Appelleaussendet, sondern er muss den israelischen Gesprächs-partnern, auch der israelischen Regierung klarmachen,dass der ungehinderte Siedlungsausbau, die weitere Ab-riegelung des Gazastreifens, die Gewährung von Men-schenrechten – diese existenzielle Frage muss von Europagestellt werden – mit dazu dienen, dass die Situation imNahen und Mittleren Osten nicht eskaliert. Diese The-men müssen zusammengefasst werden. Hierzu habe ichbei Ihnen eine Menge vermisst. Ich glaube, dass europäi-sche Außenpolitik auch zu einer Verhaltensänderung derisraelischen Regierung hätte beitragen können.Ich glaube, Sie hatten es gut damit gemeint, diepalästinensische Autonomiebehörde aufzuwerten. Aberplötzlich sitzen Sie zwischen allen Stühlen. Das Bundes-kanzleramt hat diesen Schritt nicht mitgemacht. Dieisraelische Regierung war über diesen Vorgang total irri-tiert. Im Grunde genommen hat der sogenanntepalästinensische Botschafter von der sogenannten Auf-wertung überhaupt nichts. Ich glaube, es war letztlich einFehler, hier nicht mehr Engagement zu zeigen. Das ge-hört, wenn wir über den Einzelplan 05 sprechen, zu derBilanz mit dazu.
Herr Bundesaußenminister, Sie sind viel gereist. Siehaben den lateinamerikanischen Kontinent sehr früh be-reist und ein Lateinamerika-Konzept vorgestellt, bei demSie der Meinung gewesen sind, deutsche nationale Au-ßenpolitik könnte einen Beitrag für diese Region leisten.Ich glaube, die Gesprächspartner dort haben sehr schnellgemerkt, dass wir zwar ein Interesse an dem Kontinenthaben, aber dass sich dieses Interesse in der Außenwirt-schaftspolitik erschöpft. Heute sind andere europäischeLänder bereit, mitzuhelfen, Konflikte in diesen Ländernzu befrieden und zu regeln. Deutschland gehört nicht mitdazu. Deswegen haben Sie in diesem Zusammenhangfalsche Botschaften ausgesandt. Das Lateinamerika-Konzept ist kein politisches Konzept. Es ging sozusagenfast nur um Außenwirtschaftspolitik und zu wenig umDiplomatie.Sie haben auch nicht die Chance ergriffen, die dieObama-Administration geboten hat, einen Beitrag zu ei-ner anderen Außenpolitik sowohl in Europa als auch in-ternational zu leisten. Ich glaube, das sind Versäumnisse,
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die Sie sich selbst anlasten müssen, weil Sie am AnfangIhrer Legislaturperiode ganz andere Erwartungen ge-weckt haben.
Ich bin Ihnen dankbar dafür, dass Sie daran erinnerthaben, dass trotz aller schrecklichen und mit menschli-chem Leid verbundenen Bilder in der Tat in der arabi-schen Welt auch hoffnungsvolle Ansätze zu sehen sind.Tunesien ist ein leuchtendes Beispiel. Wir sollten diesesLand unterstützen. Es gibt viele gesellschaftliche Orga-nisationen in arabischen Ländern, die die Geschichteaufarbeiten und sich um soziale Fragen und Ähnlicheskümmern wollen. Das sollten wir nicht vergessen.Der gesamte Deutsche Bundestag gibt Ihnen recht,dass das, was insbesondere in Libyen, aber auch inÄgypten passiert ist, nicht hinzunehmen ist. Ein Appellvonseiten des Parlaments an die dortigen Regierungenmuss unbedingt erfolgen. Eingefordert werden mussnicht nur der Schutz der diplomatischen Vertretung, son-dern auch der Schutz ausländischer Gäste in diesen Län-dern. Das fordern wir auch in den nächsten Tagen ein.Aber das reicht nicht an Auseinandersetzung mit dengesellschaftlichen Entwicklungen. Ich habe mir wirklicherhofft, dass sozusagen nicht nur die Reisen in die arabi-schen Umbruchländer dazu beitragen, sich mit der neuenPolitik auseinanderzusetzen. Es geht vielmehr darum,sich mit einem gesellschaftlichen politischen Trend zubefassen, der damit verknüpft ist, mit dem Trend despolitischen Islam.Ich glaube, es war ein Versäumnis in der europäischenDiskussion, dass wir uns nicht frühzeitig gerade zu die-sen Bewegungen hin orientiert und zumindest den Dia-log angeboten haben. Aber ich habe manchmal den Ein-druck, dass wir uns mittlerweile mit dem sogenanntenpolitischen Islam und den Parteien, die dort jetzt denWahlsieg davontragen, viel zu gemein machen und einfalsches Zeichen an die Länder des gesellschaftlichenUmbruchs geben.Ich glaube, auch die Kolleginnen und Kollegen derCDU/CSU haben es nicht verdient, dass der politischeIslam mit europäischen Entwicklungen verglichen wird,wo nämlich christliche Werte auch zu einer Parteigrün-dung geführt haben. Das ist viel zu wenig für die Aus-einandersetzung mit dem politischen Islam. Ich glaube,wir sollten eine intensivere Diskussion darüber führen.In der Tat: Syrien ist die große Herausforderung fürdie internationale Gemeinschaft. Die Verhinderung vonMaßnahmen insbesondere vonseiten Russlands, aberauch Chinas ist nicht hinnehmbar. Wir unterstützen Siein diesen Fragen im Sicherheitsrat, damit es zu einerVerhaltensänderung kommt.Ich glaube, all das müssen wir gleichzeitig aber auchals mit einzelnen Menschen verbundene Schicksale be-greifen. Deswegen sage ich ganz klar: Wir haben aucheine Schutzverantwortung für die Menschen, die dortverfolgt werden. Die Flüchtlinge kommen in der Tat zuden Außengrenzen. Aber es gibt auch welche, die mögli-cherweise nur hier Schutz finden. Deswegen will ich vondiesem Podium aus sagen: Alle Menschen haben unab-hängig von ihrer Religion das Menschenrecht, geschütztzu werden, wenn es erforderlich ist und wenn sie an denGrenzen von Syrien keinen Schutz finden. Auch darumgeht es nach meinem Dafürhalten.
Herr Bundesaußenminister, ich hätte mir gewünscht,dass Sie die Herausforderungen nicht nur der Vergan-genheit, sondern auch der Zukunft thematisiert hätten.Das Thema Rüstungsexporte wird diese Bundesregie-rung mit Sicherheit nicht auf ihre positive Agendaschreiben können. Ich hätte mir gewünscht, dass derdeutsche Außenminister häufiger das Wort dazu ergrif-fen hätte. Denn es geht nicht einfach um ein Gut, dasdorthin transportiert wird, sondern damit sind außenpoli-tische Fragen verbunden. Bei der Lieferung von Panzernund in der Diskussion über U-Boote, die möglicherweisenach Ägypten gehen, darf man nicht nur die Partner kon-sultieren, sondern wir wollen, dass dieses Parlamentstärker konsultiert wird.
Zum Beispiel haben auch Kolleginnen und Kollegen ausder Koalition Vorschläge gemacht. Ich hätte auch gernedie Bundesregierung bei dieser Frage gesehen.Ich hätte von Ihnen auch gerne ein Wort in einer De-batte gehört, die der Verteidigungsminister angestrengthat. Sie möchten jetzt bewaffnete Drohnen für die Bun-deswehr. Ich finde, das ist eine Frage, die nicht nur denVerteidigungsminister zu interessieren hat, sondern ins-besondere auch den Bundesaußenminister. Dabei geht esum sicherheitspolitische, völkerrechtliche, ethische, ins-besondere aber auch um rüstungskontrollpolitische Fra-gen.Diese Zukunftsthemen haben Sie nicht aufgenom-men. Leider trifft das sowohl für den Haushaltsplan alsauch für Ihre Rede zu. Ich erwarte auch nicht – leider –,dass es in den nächsten Monaten damit vorangeht. Wirwerden dann aber diese Themen 2013 aufgreifen.Ganz herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Andreas
Schockenhoff von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieSchuldenkrise, in der sich die EU heute befindet, wird
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Dr. Andreas Schockenhoff
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vor allem finanz- und wirtschaftspolitisch diskutiert.Aber sie hat auch eine wichtige außenpolitische Kompo-nente, der wir mehr Aufmerksamkeit schenken müssen.In Bezug auf Griechenland sollten wir zunächst den Be-richt der Troika abwarten.Der Beitritt Griechenlands, obwohl Griechenlandwirklich nicht reif für den Euro war, ist von SPD undGrünen gegen unser Votum durchgesetzt worden. Daswar eine falsche Entscheidung mit gravierenden Folgen.Aber ich sage auch: Wir sollten uns jetzt nicht mit fal-schen Prophezeiungen und Signalen hervortun, solangeder Troikabericht nicht vorliegt.Was wir aber dessen ungeachtet heute schon tun müs-sen, ist, uns die möglichen außenpolitischen Folgen ei-nes Scheiterns Griechenlands bewusst zu machen undsie klar zu benennen, so wie es auch die Finanzinstitutio-nen oder zum Beispiel die Internationale Arbeitsorgani-sation, ILO, in ihren Berichten tun.Sollte Griechenland mit seinen Rettungsbemühungenscheitern, ist zu befürchten, dass der Verlust des EuroGriechenland nicht nur einen schweren ökonomischenSchock versetzt. Es wird dann auch der gesellschaftlicheFriede im Land gefährdet. Griechenland könnte in politi-sche Instabilität abgleiten. Die Explosion von Gewalt
– Sie sprechen es an –, die wir bereits mehrmals inAthen beobachten mussten, hat uns einen klaren Hin-weis gegeben, welches Chaos dann in noch viel größe-rem Ausmaß zu erwarten wäre. Ideologen werden einfa-che Antworten versprechen und die Schuld für dieeigenen Versäumnisse außerhalb des Landes festma-chen. Die Folgen davon könnten Spannungen mit denNachbarn oder gar regionale Krisen sein, und das in ei-ner ohnehin instabilen Mittelmeerregion.Unabhängig davon müssen wir alle Anstrengungenunternehmen, um die Schuldenkrise zu bewältigen, undEuropa insgesamt wettbewerbsfähiger machen; dennwenn wir das nicht schaffen – Sie sind am Schluss da-rauf eingegangen, Herr Außenminister –, wird Europakünftig gegenüber Herausforderern wie China, Indienund Brasilien deutlich zurückfallen. Aber wenn es unsgelingt, uns selbst zu behaupten, dann wird Europa einstarker Pol in einer multipolaren Welt sein. Das ist unserZiel. Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass wir dasschaffen können.
Deshalb führen alle Gedankenspiele mit Euro-Bondsund einem Schuldentilgungsfonds, wie sie Herr Gabrielund die SPD in der Vergangenheit angestrebt haben, ge-nau in die falsche Richtung. Solch eine verfehlte Politikwürde Europa nicht aus der Krise herausführen und nichtstärker machen, sondern uns noch tiefer in die Krise hi-neindrücken.Die Antwort auf die Frage, ob wir die Krise erfolg-reich bewältigen, entscheidet auch darüber, ob sich dieEuropäische Union über Kroatien hinaus erweitern kann.Das Kriterium der Aufnahmefähigkeit der EU giltebenso wie die Beitrittskriterien. Serbien möchte mög-lichst bald mit Beitrittsverhandlungen beginnen. Ichhalte es für wichtig, dass wir mit der neuen Regierung inBelgrad einen ehrlichen Dialog über die Erwartungenführen, die wir an Serbien im Hinblick auf ein positivesVotum des Bundestages zur Aufnahme von Beitrittsver-handlungen haben.Meine Fraktion wird in Gesprächen mit der serbischenRegierung folgende sieben Erwartungen zum Ausdruckbringen: erstens vollständige Erfüllung und Umsetzungdes mit der EU vereinbarten Aktionsplans; zweitenssichtbare Fortschritte bei Aufklärung und Strafverfol-gung des Brandanschlags auf die Deutsche Botschaftvom Februar 2008; drittens deutliche Signale zur Fortset-zung der regionalen Aussöhnung – es darf keine Neu-interpretation der Geschichte geben, beispielsweise imZusammenhang mit dem Völkermord in Srebrenica –;viertens vollständige Umsetzung der bisherigen Ergeb-nisse und Fortsetzung des Dialogprozesses zwischen Bel-grad und Pristina; fünftens Beginn des kontinuierlichenAbbaus der Parallelstrukturen in Nordkosovo und vonderen Finanzierung;
sechstens kontinuierliches Einwirken Belgrads auf dieSerben in Nordkosovo für eine aktive Zusammenarbeitmit EULEX und KFOR. Wir erwarten schließlich sieb-tens den sichtbaren Willen zu einer rechtlich verbindli-chen Normalisierung der Beziehungen zu Kosovo mitder Perspektive, dass Serbien und Kosovo unabhängigund gemeinsam ihre Rechte und Pflichten wahrnehmenkönnen. Diese Perspektive muss zwischen Serbien undKosovo als vertragliche Vereinbarung vor Abschluss vonBeitrittsverhandlungen festgelegt sein, und das mussauch praktiziert werden.
Die Entwicklungen in Russland geben Anlass zu gro-ßer Sorge; denn sie haben auch Auswirkungen auf dasVerhältnis zu Deutschland und zur Europäischen Union.Wir haben – ich will das immer wiederholen – ein starkesInteresse an einem politisch und wirtschaftlich modernenund demokratisch verfassten Russland, das seine interna-tionalen Gestaltungsmöglichkeiten nutzt. Doch das russi-sche Verhalten im Zusammenhang mit Syrien – daswurde schon angesprochen – ist nicht das einzige außen-politische Signal, dass Russland nicht gestaltet, sonderneher blockiert. Innenpolitisch besteht die erhebliche Ge-fahr, dass Russland durch rechtsstaatliche Defizite, feh-lende Investitionen und mangelnde Innovation statt dervon Präsident Putin angestrebten Modernisierung eineZeit der Stagnation, statt Fortschritt und EntwicklungRückschritte drohen.Lassen wir uns nicht von den makroökonomisch gu-ten Daten wie 4 Prozent Wachstum und einer für russi-sche Verhältnisse mit 6 bis 7 Prozent niedrigen Inflationoder dem gut gefüllten Reservefonds täuschen. Die enor-men Strukturprobleme, die erneut hohe Kapitalfluchtvon über 80 Milliarden Dollar bereits in diesem Jahr, der
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Dr. Andreas Schockenhoff
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wachsende Braindrain und die immense systemischeKorruption sind Ursache dafür, dass Russland im Ver-gleich zu ähnlichen Staaten weiter zurückfallen wird.Das zeigen alle internationalen Indizes auf. Hinzu kom-men gesetzgeberische und juristische Maßnahmen, diein ihrer Gesamtheit auf eine wachsende Kontrolle akti-ver Bürger abzielen und kritisches Engagement zuneh-mend kriminalisieren. So aber kann man nicht die Men-schen gewinnen, die für die angestrebte Modernisierungdes Landes dringend gebraucht werden.Allerdings verstehen Russland und die EuropäischeUnion unter „Modernisierung“ etwas Verschiedenes:Russland will im Augenblick nur eine technisch-finan-zielle Modernisierung von oben her. Wir haben das Ver-ständnis, dass eine Modernisierung von unten her, vonden Menschen getragen werden muss und dafür auchpolitische Mitgestaltungsmöglichkeiten und Rechtsstaat-lichkeit gegeben sein müssen. Das aber wird jetzt nochmehr eingeschränkt.Das EU-Konzept der Modernisierungspartnerschaftmit Russland ist ein gutes Konzept, aber es braucht einenPartner, der eine umfassende Modernisierung auch tat-sächlich will. Wenn wir mit diesem Konzept nicht voran-kommen, müssen wir es überprüfen. Voraussetzung da-für ist eine klare Analyse der systemischen EntwicklungRusslands statt Wunschdenken. Wir sollten pragmatischdort mit Russland zusammenarbeiten, wo dies möglichist und wo wir gemeinsame Interessen haben. Nicht zu-letzt muss in einer strategischen Partnerschaft auch einklares Ansprechen von Defiziten und Verstößen gegenWerte und Normen, denen sich Russland angeschlossenhat, möglich sein, so wie es die Bundeskanzlerin immerwieder tut und erneut im Fall Pussy Riot getan hat.Ich komme im Zusammenhang mit Russland auch zurLage in Syrien. Dort fällt das Assad-Regime – auch dashaben die beiden Vorredner gesagt – in Zeitlupe und be-geht Kriegsverbrechen am syrischen Volk, nicht etwa an„seinem eigenen“ Volk. Was als Protest gegen das Unter-drückungsregime des Assad-Clans begann, ist längst zueinem Bürgerkrieg eskaliert. Die primäre Gewalt gingund geht weiterhin vom syrischen Regime aus. Mittler-weile lesen wir täglich Berichte über Bombardementssyrischer Städte durch Assads Luftwaffe mit vielen zivi-len Toten. Diese Verbrechen dürfen von Russland undChina nicht länger geduldet werden. Der UN-Sicher-heitsrat muss endlich wirksame Maßnahmen ergreifen,um das Töten durch das syrische Regime zu stoppen.Die internationale Isolation des syrischen Regimes istzwingend notwendig, um Assad zum Abtreten zu bewe-gen
und eine noch größere militärische Eskalation zu verhin-dern. Darum wird sich die Bundesregierung während ih-res Vorsitzes im UN-Sicherheitsrat diesen Monat mit al-lem Nachdruck bemühen. Wir begrüßen zudem, dass dieBundesregierung in den vergangenen Monaten hinterden Kulissen einen politischen Fahrplan für die Zeitnach Assad vorangetrieben hat. Die syrische Oppositionmuss aber endlich Geschlossenheit zeigen, um eine ge-einte und glaubwürdige Alternative zum Assad-Regimezu sein.Mit großer Sorge verfolgen wir die sich zuspitzendeAuseinandersetzung um das iranische Nuklearprogramm.Die iranische Bedrohung ist real und kein Popanz, derkünstlich aufgebauscht wird. Die IAEO zeigt sich seit fastzehn Jahren in ihren Einschätzungen und auch in ihremjüngsten Bericht immer besorgter über den möglichenmilitärischen Charakter des iranischen Nuklearpro-gramms. Seit Jahren kommt Iran jedoch den Forderungendes UN-Sicherheitsrats nach Transparenz seines Atom-programms sowie der Aussetzung der Urananreicherungund von Vorarbeiten zur Gewinnung von waffenfähigemPlutonium nicht nach. Zudem arbeitet Teheran intensiv anweitreichenden Raketen. Die israelische Sorge vor eineriranischen Atombombe muss also jedem einleuchten. Is-rael ist so groß wie Hessen und könnte durch einen einzi-gen Nuklearschlag vernichtet werden. Der iranischePräsident hat Israel jüngst zum wiederholten Mal seinExistenzrecht abgesprochen. Israel sei ein Krebsge-schwür, das bald verschwunden sein werde.Die jüngsten Verhandlungsrunden mit dem Iran habenwieder einmal zu keinen konkreten Ergebnissen geführt.IAEO-Chef Amano nennt das zu Recht frustrierend. Te-heran muss den Forderungen der Vereinten Nationenendlich nachkommen und nachprüfbar beweisen, dass esnicht am Bau einer Nuklearwaffe arbeitet. Ich will mitNachdruck unterstreichen, was der Außenminister ge-sagt hat: Wir sind zu einer weiteren Drehung an derSanktionsschraube bereit und müssen das auch insge-samt bei unseren europäischen Partnern einfordern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Afghanistan ste-hen wir vor einem verantwortungsvollen Ende des inter-nationalen Kampfeinsatzes. Auf ihrem Gipfel in Chi-cago im Mai hat die NATO beschlossen, den EinsatzEnde 2014 zu beenden. Die christlich-liberale Koalitionhat mit dem Strategiewechsel 2010 die Grundlage fürden nun anstehenden Abzug der deutschen Truppen ausAfghanistan gelegt. Die von Deutschland mit Nachdruckbetriebene Ausbildung afghanischer Sicherheitskräftehat die schrittweise Übernahme der Sicherheitsverant-wortung durch afghanische Kräfte mit ermöglicht. Diesehaben ihre Sollstärke fast erreicht und sind mittlerweilefür die Sicherheit von 75 Prozent der afghanischen Be-völkerung zuständig. In sechs von neun Provinzen imdeutschen Zuständigkeitsbereich im Norden wird keinepermanente ISAF-Präsenz mehr erfordert. Mitte 2013sollen der Transitionsprozess in allen Teilen Afghanis-tans eingeleitet sein und die afghanischen Sicherheits-kräfte die Führungsrolle innehaben. ISAF wird dann nurnoch eine unterstützende Rolle haben. Bis zum Ende desEinsatzes 2014 muss insbesondere die Qualität der af-ghanischen Streitkräfte verbessert werden; denn umsozügiger können wir den Prozess der Übergabe in Verant-wortung vorantreiben.Meine Damen und Herren, diese Bundesregierungmeint es ernst mit dem Abzug unserer ISAF-Soldatenaus Afghanistan. Wir müssen jedoch realistisch sein: Ein
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23028 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 191. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. September 2012
Dr. Andreas Schockenhoff
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Abzug lässt sich nicht über Nacht bewerkstelligen. Eshandelt sich um eine hochkomplexe, eigenständige Ope-ration, die mit den bisherigen ISAF-Aufgaben nicht ver-mengt werden darf. Vor diesem Hintergrund kommt fürdie CDU/CSU nur ein verantwortungsvoller, sicherer,geordneter und insbesondere nachhaltiger Abzug in-frage. Aber auch nach dem Ende des ISAF-Einsatzesbleibt die CDU/CSU-Fraktion den Menschen in Afgha-nistan verpflichtet. Die Transformation eines der ärms-ten und am wenigsten entwickelten Länder ist eineGenerationenaufgabe. Unser Engagement wird sich qua-litativ verändern; aber es ist und bleibt langfristig.Herr Außenminister, ich danke Ihnen für IhreSchlussbemerkung. Die politische Einigung Europas istnicht nur eine fiskal- und wirtschaftspolitische Heraus-forderung, sie ist auch eine außen- und sicherheitspoliti-sche Herausforderung. In unserer Generation geht es da-bei nicht mehr nur um eine Antwort auf die Geschichte,es geht um die Selbstbehauptung Europas in der Weltdes 21. Jahrhunderts. Dieser Aufgabe stellen wir uns, dieCDU/CSU-Bundestagsfraktion, aufgrund unseres Men-schenbildes, aufgrund unserer historischen Verantwor-tung und aufgrund unserer Verantwortung für die Zu-kunft kommender Generationen in Deutschland.Danke.
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort der Kol-
lege Jan van Aken.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Einesmuss man Ihnen ja lassen, Herr Westerwelle: Richtig gutreden können Sie.
Ich finde aber, das reicht nicht. Sie sind jetzt Außen-minister. Da geht es auch um Ihr Handeln, und das kön-nen Sie nicht so richtig gut – nicht so gut wie hier reden.Es gibt oft eine sehr große Differenz zwischen dem, wasSie hier in Ihren Sonntagsreden verbreiten, und dem,was Sie draußen in der wirklichen Welt dann tun. Ichmöchte einmal zwei Beispiele dafür nennen. Das eine istdie Abrüstung, das Zweite sind die Menschenrechte.Abrüstung ist eines Ihrer Lieblingsworte. Das istschön – es ist auch eines meiner Lieblingsworte –; aberSie tun leider immer genau das Gegenteil. Nehmen wirdie Atomwaffen. Sie haben vor drei Jahren, zum Amts-antritt, hoch und heilig versprochen und groß angekün-digt, dass endlich auch die letzten amerikanischenAtomwaffen aus Deutschland abgezogen werden. DreiJahre später liegen sie nicht nur immer noch hier inDeutschland; sie werden jetzt auch noch modernisiert.Es kommen hochmoderne, ganz neue Atomwaffen nachDeutschland, die noch ganz andere Einsatzszenarien er-möglichen als zuvor. Das ist ganz praktisch Aufrüstungund keine Abrüstung, oder?
Nehmen wir uns einmal die Zahlen vor; es ist eineHaushaltsdebatte hier. Sie kürzen den Etat für Abrüstungschon wieder: auf jetzt 36 Millionen Euro. Seitdem SieAußenminister sind, haben Sie den Etat für Abrüstungpraktisch halbiert: von 64 Millionen auf jetzt nur noch36 Millionen Euro. Das finde ich schon schlimm genugfür jemanden, der immer das Wort „Abrüstung“ benutzt.Aber was wirklich ganz schlimm ist, das ist die Be-gründung. Sie sagen: Es gab einige große Projekte. Diesind ausgelaufen. Diese 28 Millionen Euro können wirjetzt einsparen. – Was ist das denn für eine Begründung?Herr Westerwelle, Sie sind Außenminister der Bundesre-publik Deutschland. Sie dürfen auch eigene Projekte an-fangen. Sie dürfen Abrüstungspolitik auch ganz aktivselbst gestalten. Sie könnten 28 Millionen Euro in dieHand nehmen, um aktive Abrüstungspolitik zu machen.
Sie sagen einfach nur: Da läuft etwas aus; das stelle ichjetzt ein. – Ich meine, wenn das alle Ihre Kolleginnenund Kollegen Minister machen würden, dann könntenwir in ein paar Jahren in Flensburg an der Grenze einSchild aufstellen: „Geschlossen wegen Totalausverkauf“oder so etwas.
Sie tun gar nichts für Abrüstung, aber Sie tun ganzviel für Aufrüstung. Wir haben uns den gesamten Haus-halt einmal angeschaut und sind fündig geworden, zumBeispiel bei Ihrem Kollegen im Verteidigungsministe-rium. Da werden 927 Millionen Euro für neue Waffen,für neue Militärtechnologien ausgegeben. Das ist 25-malso viel wie Ihr mickriger Etat für Abrüstung. Das istganz praktisch Ihre Prioritätensetzung: 25-mal so viel fürAufrüstung wie für Abrüstung. Das wäre ja in Ordnung,wenn Sie dazu stehen würden. Nehmen Sie hier in die-sem Haus nie wieder das Wort „Abrüstung“ in denMund, wenn Sie 25-mal so viel Geld für Aufrüstung aus-geben!
Das Gleiche bei den Menschenrechten. Sie habeneben hier wieder Ihre Solidarität mit den Freiheitsbewe-gungen in der arabischen Welt betont. Auch das istschön, aber völlig unglaubwürdig, wenn Sie gleichzeitigPanzer an Saudi-Arabien verkaufen.
Wir hatten das hier schon Dutzende von Malen. Ich sagees aber noch einmal: In Saudi-Arabien werden die Men-schenrechte mit Füßen getreten. Frauen haben da prak-tisch gar keine Rechte. Dort wird gefoltert. Meinungs-freiheit gibt es gar nicht. Ihre oder jedenfalls unsereWerte zählen gar nichts mehr, wenn die knallharten Inte-ressen im Vordergrund stehen: gute Beziehungen zumKönigreich Saudi-Arabien – und das nicht deshalb, weilder König so ein netter Kerl ist, sondern ganz schlichtund einfach deshalb, weil es da viel, sehr viel Öl gibtund weil man mit Panzerverkauf viel Geld verdienen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 191. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. September 2012 23029
Jan van Aken
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kann. Das ist Ihr praktischer Umgang mit Menschen-rechten. Bitte benutzen Sie dieses Wort hier nicht wie-der, solange Sie Panzer an Saudi-Arabien verkaufen!
Ich möchte zum Schluss kurz auch noch etwas zu Sy-rien sagen. Seit über einem Jahr fordern Sie eine politi-sche Lösung und ein Ende der Gewalt. Das ist gut; dastun wir auch. Nur, was haben Sie ganz praktisch dafürgetan? Vor über einem Jahr, als die Gewalt noch ganz al-lein von Assad ausging, haben Sie nichts dafür getan,dass alle Konfliktparteien zusammen an einen Tischkommen. Sie haben auch nichts getan, als Saudi-Arabien, Katar und die Türkei anfingen, Rebellengrup-pen zu bewaffnen, mit Waffen auszurüsten und auchnoch militärisch auszubilden. Sie haben sogar weiterWaffen an genau diese Länder – Saudi-Arabien, Katar,Türkei – geliefert, die die Waffen wiederum an die Re-bellengruppen liefern, und damit haben Sie ganz aktivden Bürgerkrieg in Syrien sogar noch weiter befördert.Wir finden es auch komplett falsch, dass Russland Waf-fen an Assad liefert; aber genauso falsch ist es doch,wenn Saudi-Arabien Waffen an die Rebellen liefert. Sietun nichts, aber auch gar nichts dagegen.
Dann sind Sie an einer Eskalation sogar noch direktbeteiligt, nämlich mit Ihrem Spionageschiff, das offen-bar Informationen direkt an Rebellengruppen gibt, damitdirekt in diesen Bürgerkrieg mit eingreift und somit ebennichts für ein Ende des Krieges tut, sondern, genau imGegenteil, ihn befeuert.Herr Westerwelle, gut reden allein reicht nicht. Ichfinde, in den letzten drei Jahren haben Sie in der Außen-politik nicht viel zustande bekommen.
Aber bei Friedenspolitik, bei Abrüstung und bei Men-schenrechten haben Sie komplett versagt.
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschlandkeine Waffen exportieren sollte.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Kollege Dr. Frithjof Schmidt vonBündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Außenminister, wir haben von Ihnen gerade fast garnichts zur Krise Europas gehört. Ich muss sagen: Nachdem Sommertheater, das Ihre Partei- und Koalitions-freunde auf diesem zentralen Feld deutscher Außenpoli-tik aufgeführt haben, war das bemerkenswert wenig.
Was war das denn für ein Bild im Sommer? Die Euro-Gruppe bemüht sich, die Lage zu beruhigen, und IhrVizekanzler hat erklärt, dass ein Austritt Griechenlandsaus dem Euro seine Schrecken verloren habe. Ihr Frak-tionsfreund, Herr Schäffler, erklärt diverse Male: DieGriechen müssen raus aus dem Euro. – Herr Dobrindtvon Ihrem Koalitionspartner sieht Griechenland 2013außerhalb des Euro. Und Sie? Sie erklären einmal kurzbei einem Zwischenstopp auf dem Flughafen, das vieleGerede sei nicht gut für den Euro. Und kaum jemandhört auf Sie. Ich muss sagen: Noch nie hat sich ein deut-scher Außenminister so aus der Entscheidungskompe-tenz für die Europapolitik abdrängen lassen wie Sie die-sen Sommer von Ihren eigenen Leuten und der CSU.
Ihre Pflicht wäre gewesen, Jean-Claude Juncker ener-gisch zu unterstützen, als er das Kaputtreden des Eurokritisiert hat. Sie sollten energisch um den Verbleib Grie-chenlands im Euro kämpfen. Das haben unsere griechi-schen Freunde nämlich verdient.
Griechenland hat spät, aber doch beeindruckend mitschwierigen Reformen begonnen.
Es ist ein Gebot des politischen Anstands und von Klug-heit, diesen Prozess weiter zu unterstützen. Dazu gehörtauch, Griechenland im Zweifel mehr Zeit für Reformenzu geben.Wir alle wissen doch, dass die soziale Situation dortdramatisch ist. Das Gesundheitswesen kollabiert fast. Esgibt Massenarbeitslosigkeit. Über die Hälfte der griechi-schen Jugendlichen ist ohne Arbeit. Sie sind dieschwächsten Leidtragenden der Krise. Ich sage Ihnen:Wenn Sie als Außenminister nicht den Mut finden, IhrenPartei- und Koalitionsfreunden das zu erklären, dannversagen Sie als Außenminister vor einer historischenHerausforderung in der Europapolitik.
Auch auf einem weiteren zentralen Feld der Außen-politik wird immer fraglicher, welche Rolle Sie spielen:Das ist die schleichende Veränderung der Rüstungs-exportpolitik in Spannungsgebiete. Die Impulse aus demKanzleramt sind klar: restriktive Grundsätze aufweichenund aushebeln, gezielte Förderung von Waffenlieferun-gen an ausgewählte Regionalmächte als Instrument deut-scher Außenpolitik etablieren. Sie reden dann parallelüber die Bedeutung Ihrer neuesten Abrüstungsinitiati-ven. Das nenne ich eine Doppelstrategie mit Doppel-moral.
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23030 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 191. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. September 2012
Dr. Frithjof Schmidt
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In Bezug auf Spannungsgebiete ist es die Pflicht desAußenministers, gegebenenfalls den wirtschaftlichen In-teressen der Rüstungsindustrie Paroli zu bieten, notfallsauch im Konflikt mit dem eigenen Wirtschaftsministe-rium oder dem Kanzleramt. Aber davon ist bei Ihnenwirklich nichts zu merken.Sie haben nach dem arabischen Frühling zu Rechteine Transformationspartnerschaft angekündigt; das warrichtig. Aber was wird jetzt von den schönen Plänen um-gesetzt? Ich muss sagen: Es wäre wirklich politischpervers, wenn von den großen Plänen in der Praxisnur Panzerlieferungen an Saudi-Arabien und Katar undU-Boot-Lieferungen an Ägypten und Israel bleiben.
Ein Außenminister, der eine solche Politik gegenüber ei-ner Pulverfassregion wie dem Nahen Osten zulässt, derversagt vor einer zentralen Herausforderung.Meine Fraktion hat Vorschläge für eine Änderung derRüstungsexportpolitik gemacht. Wir brauchen eine ge-setzliche Regelung, ein Rüstungsexportgesetz. Das isteine entscheidende Lehre aus den Erfahrungen der letz-ten Jahre, ja, auch aus unserer eigenen Regierungszeit.
Exporte in Staaten, in denen die Regierung für gravie-rende Menschenrechtsverletzungen verantwortlich ist,gehören generell nicht genehmigt. Mehr Transparenz istnötig. In einer Demokratie gehören die Entscheidungenüber Rüstungsexporte im Bundessicherheitsrat umge-hend veröffentlicht. Der Bundestag muss ein Informa-tions- und Einspruchsrecht erhalten. Ihre offensive Rüs-tungsverkaufspolitik, meine Damen und Herren von derKoalition, gehört umgehend beendet.
– Ich habe ja gesagt: Das ist auch eine Lehre aus unserereigenen Regierungszeit.Zu Syrien will ich Ihnen sagen, dass es richtig ist,dass Sie hier mit großer Vorsicht agieren und für militä-rische Zurückhaltung argumentieren. Ich will nicht denAnschein erwecken, als wüssten wir eine schnelle Lö-sung dieser verfahrenen Lage. Aber in zwei Punktenagieren Sie nach unserer Meinung zu zögerlich: Geradeweil es so wenige wirkungsvolle Handlungsoptionengibt, muss sich Deutschland zur großzügigen Aufnahmevon Flüchtlingen bereit erklären.
Die bisherige Weigerung dieser Regierung, hier offensivzu handeln, war falsch. Ich sage: Wenn Soldaten derAssad-Armee desertieren und dann von Deutschlandabgewiesen werden oder ihren Familien der Nachzugverweigert wird, dann ist das angesichts der tragischenSituation des Bürgerkriegs einfach schäbig.
Meine Fraktion hat diese Woche einen Eilantrag insPlenum eingebracht, der die Bundesregierung auffordert,endlich Flüchtlinge aus Syrien aufzunehmen. Liebe Kol-leginnen und Kollegen, ich fordere Sie auf: Stimmen Siedieser Initiative zu! Angesichts der dramatischen Lagewäre dies das richtige Signal.
Deutschland hat diesen Monat den Vorsitz im Sicher-heitsrat. So richtig die Kritik an der Syrien-Politik Russ-lands und Chinas ist: Sie reicht leider nicht aus. Ich fragemich: Warum wenden Sie sich nicht mit Resolutionen andie UN-Generalversammlung? Dort gibt es kein Veto.Nutzen Sie die Generalversammlung doch stärker, umden Druck auf Assad und sein Schreckensregime zuerhöhen! Isolieren Sie ihn und seine willfährigen Helfer!Hier gibt es noch Spielraum. Sie sollten sich offensivdafür einsetzen, dass er genutzt wird.Lassen Sie mich noch einige Sätze zur schwierigenSituation im und um den Iran sagen. Uns alle erfüllt dieZuspitzung dieses Konflikts mit großer Sorge. Ichmöchte Sie ausdrücklich ermutigen, sich weiterhin füreine Verhandlungslösung einzusetzen. Dazu gehört auchdas Mittel internationaler Sanktionen; da haben Sierecht. Es ist ebenso richtig, wenn Sie vor den Risikeneiner militärischen Eskalation warnen; dabei haben Sieunsere Unterstützung.Herr Westerwelle, Sie haben vor einiger Zeit Ihr Glo-balisierungspapier hier im Bundestag vorgestellt. Sie ver-wenden seitdem den Begriff der Gestaltungspartnerschaftund der strategischen Partnerschaft inflationär für vielewichtige Länder, seien sie demokratisch oder nicht, ha-ben wir mit ihnen eine gemeinsame Wertegrundlage odernicht. Welche praktischen Ergebnisse hat das bei der Ge-staltung der Globalisierung gebracht? Die UN-Konferenzzur Begrenzung des Waffenhandels, der G-20-Gipfel vonLos Cabos und die große Konferenz Rio+20 zu Klimaund Entwicklung – sie alle sind ohne echte Ergebnisseoder substanzielle Fortschritte zu Ende gegangen. Wirmüssen feststellen: Die Welt steht vielleicht vor demScheitern des bisherigen Multilateralismus. Ich habeheute von Ihnen weder eine angemessene Beschreibungder Lage noch eine politische Antwort auf diese Ent-wicklung gehört. Welche praktischen Konsequenzen zie-hen Sie für die deutsche Außenpolitik und die europäi-sche Außenpolitik? Das bleibt konturlos und nebulös.Das ist angesichts der dramatischen internationalenHerausforderungen einfach zu wenig. Darüber kann mansich auch in der Opposition nicht freuen; denn es istschlecht für unser Land.Danke für die Aufmerksamkeit.
Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Bijan Djir-Sarai das Wort.
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Minister Westerwelle hat vorhin die Eckpunkte des
außenpolitischen Kurses aufgezeigt. Die Bundesrepublik
Deutschland engagiert sich heute in der Tat weltweit für
Entwicklung, für Stabilität und für Frieden. Durch die
Rede ist deutlich geworden, dass diese Debatte mehr ist
als eine lieblose Aufzählung von Haushaltspositionen.
Es wurde deutlich, welche Schwerpunkte in der deut-
schen Außenpolitik gesetzt werden. Daher möchte ich
nur wenige Punkte aus der Debatte aufgreifen.
Das, was in der arabischen Welt in den letzten andert-
halb Jahren geschehen ist, ist eine historische Chance für
die Region. Es ist eine Entwicklung, mit der in den letz-
ten Jahren niemand gerechnet hatte. Unsere besondere
Aufmerksamkeit verdienen daher zu Recht die Länder
des arabischen Frühlings. Dort haben echte Revolutio-
nen stattgefunden, die außen- und sicherheitspolitisch
umfassende Veränderungen mit sich bringen. Wohin
diese Revolutionen führen, ist jedoch noch lange nicht
entschieden. In diesen Ländern gibt es heute Menschen,
die nach Demokratie, Fortschritt und Freiheit streben.
Dort gibt es aber auch Menschen, die keine Demokratie,
keinen Fortschritt und keine Freiheit wollen, sondern
Fundamentalismus und Ideologie. Welche dieser beiden
Richtungen sich am Ende des Tages durchsetzen wird,
ist noch ungewiss. Daher müssen wir den Prozess des
arabischen Frühlings unterstützen und jene Menschen,
jene Gruppen und jene Institutionen stärken, die sich für
Freiheit und Demokratie einsetzen. Herr Außenminister,
ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie diesen Punkt aufge-
griffen haben.
Diese Hilfe findet übrigens auch statt; das kann man
ganz konkret messen. Die Hilfsversprechen gegenüber
dieser Region bleiben keine hohlen Phrasen. Das Aus-
wärtige Amt wird 50 Millionen Euro für Transforma-
tionspartnerschaften in der Region bereitstellen. Herr
Kollege Schmidt, konkreter kann man das nicht darstel-
len.
Wenn wir schon über diese Region reden, dann liegt es
in der Natur der Sache, dass wir auch über Syrien reden
müssen. 2 Millionen Kriegsopfer in Syrien haben bald
keinen Zugang zu Hilfslieferungen. Durch den Bürger-
krieg in Syrien droht eine humanitäre Katastrophe, die
sogar dazu führen kann, dass die gesamte Region – Liba-
non, Jordanien, Türkei – noch fragiler wird, als sie ohne-
hin schon ist. In diesem Zusammenhang wird eine ziel-
orientierte und gut organisierte humanitäre Hilfe eine
große Rolle spielen.
Was die humanitäre Hilfe allgemein anbetrifft, so ist
die deutsche Hilfe vorbildlich organisiert. Als Beispiel
nenne ich die Ressortvereinbarung mit dem Entwick-
lungshilfeministerium. Dadurch stehen uns 80 Millionen
Euro mehr für humanitäre Hilfe zur Verfügung, also ins-
gesamt 185 Millionen Euro, so viel wie noch nie in die-
sem Einzelplan.
Es ist nicht verkehrt, bei einer Haushaltsdebatte ab und
zu einige Zahlen zu nennen.
Ein Beitrag zu Entwicklung, Stabilität und Frieden
wird weiterhin in Afghanistan zu leisten sein. Auch im
nächsten Jahr werden wieder 180 Millionen Euro für
Afghanistan bereitgestellt.
Das heißt, die Unterstützung für die Menschen in die-
sem geschundenen Land bleibt auf demselben hohen
Niveau wie im letzten Jahr. Es wäre auch falsch, wenn
man sich dort künftig weniger engagieren würde. Die
internationale Gemeinschaft hat in Afghanistan große
Erfolge erzielt – es ist nicht verkehrt, wenn wir in die-
sem Haus ab und zu über die Erfolge reden; das tun wir
viel zu wenig –; ob diese Erfolge nachhaltig sind, wird
sich erst nach 2014 zeigen. Wir dürfen die Entwicklung
aber nicht dem Zufall überlassen, wir dürfen Afghanis-
tan nicht alleinlassen.
Der vorliegende Haushaltsentwurf trägt der Situation
in den globalen Brennpunkten Rechnung. Er ist ein guter
Beitrag zu Entwicklung, Stabilität und Frieden in der
Welt.
Ich bedanke mich bei Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der Kollege Klaus
Brandner.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Bevor wir zur Beratung des Einzelplans 05 kommen – dasist das Thema, das aufgerufen ist: Einzelplan 05, Aus-wärtiges Amt, und nicht: allgemeine politische Ausspra-che –, möchte ich es nicht versäumen, den Mitarbeiterndes Haushaltsausschusses für die gute Zusammenarbeitzu danken. Sie war in der Vergangenheit konstruktiv,und ich bin davon überzeugt, dass die neue Crew die sooffene und präzise Zusammenarbeit mit dem HohenHaus, insbesondere mit den Haushaltspolitikern, weiterpflegen wird. Dafür herzlichen Dank!
Wir sprechen heute über den Haushaltsentwurf 2013.Ich komme mir schon etwas kleinkariert vor, wenn ichwirklich nur über den Haushalt rede. Wir haben so viele
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23032 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 191. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. September 2012
Klaus Brandner
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große Reden gehört, insbesondere von dem Minister,dass der Eindruck entstanden ist, wir dürften nur nochüber größere Zahlen reden. Der Einzelplan, über den wirjetzt beraten, hat ein Volumen in Höhe von 1 Prozent desBundeshaushalts. Verglichen mit anderen Ressorts istdas natürlich ein Kleinsthaushalt – um es einmal so zuformulieren –, aber er hat es in sich.
Es ist fast ein bisschen beschämend, wenn man nur überden Haushalt spricht; dabei wünschen sich das einigeAbgeordnete. Ich möchte meinen Dank den Haushälternaussprechen, die ein ganzes Jahr in den Fachausschüssenüber Haushaltsfragen beraten haben. Bisher habe ich fastnur große Worte gehört, aber nichts darüber, wie diesegroßen Worte durch Taten hinterlegt werden. Da kommtman sich schon ein bisschen komisch, um es deutlich zusagen: ein bisschen klein vor.Wir werden Ihnen auf den Zahn fühlen, um heraus-zufinden, was hinter diesen großen Worten steckt. Wirwollen wissen: Was sind die Kernaussagen der Außen-politik, Herr Minister, durch Sie formuliert, und wiehaben Sie sie im Haushalt hinterlegt? Drei Kernthemensind mir aufgefallen: erstens Frieden, Sicherheit undSchutz der Menschenrechte, zweitens Pflege der kultu-rellen Beziehungen im Ausland und drittens Außenwirt-schaftsförderung.Wie sind diese Schwerpunkte im Bundeshaushalt hin-terlegt? Hier genügt ein Blick in den Etat, der in diesemJahr um fast 4 Prozent steigt. Herr Djir-Sarai hat in sei-ner Rede angemerkt, dass die Haushaltstitel nicht lieblosaufgezählt werden sollten, aber in seiner Darstellung dasHaus sofort hinters Licht geführt. Es beginnt damit, dassdie Maßnahmen zum Thema humanitäre Hilfe nicht indem Umfang im Haushalt hinterlegt sind, wie er es vor-getragen hat. Es hat eine Veränderung gegeben durcheine Vereinbarung, die das Ministerium – wir wissendas – in einer Nacht-und-Nebel-Aktion mit dem BMZbeschlossen hat. Es wurde vereinbart, dass nicht 80, son-dern 95 Millionen Euro aus dem Haushalt des BMZ inden Haushalt des AA übertragen werden. Wir finden imHaushalt aber nur 80 Millionen Euro. Irgendwo ist einSickerschacht. Sie sollten das einmal überprüfen; viel-leicht finden Sie ihn. Es lohnt sich, nach diesen 15 Mil-lionen Euro zu suchen. Wir brauchen das Geld jedenfallsfür diese wichtige Aufgabe.
Nun geht es aber nicht nur um die Zusammenlegungder humanitären Hilfsmaßnahmen an sich; denn diesewerden nicht auf- und ausgebaut, sondern die Ausgabenwerden nur von dem einen Ministerium auf ein anderesübertragen, und auf dieser Wegstrecke sind finanzielleVerluste in Höhe von 15 Millionen Euro zu verzeichnen.In letzter Konsequenz geht es darum, dass diese Zusam-menlegung Effizienzgewinne, weniger Reibungsver-luste, weniger Schnittstellen, schnellere Entscheidungenmit sich bringen soll. Das ist alles richtig; das kann manunterstreichen. Aber tatsächlich passiert eines: DasMisstrauen unter Ihren Kollegen ist so groß, dass sienicht alle Aufgaben abgeben, sondern ein Teil der Auf-gaben im BMZ verbleibt, sodass wir am Ende wiedereine neue Schnittstelle haben und damit die logischeAusführung der Arbeit auf einem Arbeitsgebiet nicht inder Konsequenz erfolgen kann, wie wir es uns vorstel-len. Ich sage Ihnen: Von Leistungen aus einer Hand, vonVerschlankung, von sinnvoller Umsetzung der Arbeit aufeinem Aufgabenfeld kann überhaupt keine Rede sein –und das in zwei von der FDP geführten Ministerien, de-ren selbsterklärtes Markenzeichen der Bürokratieabbauist. Genau das Gegenteil von dem, was politisch verspro-chen wird, findet in diesem Fall statt.Lassen Sie mich die Übertragungsverluste, die ich an-gesprochen habe, als ein Problem ansprechen. Ich gehedavon aus, dass Staatssekretär Professor Braun, der im-mer wieder gesagt hat, er wolle für die wortgetreueUmsetzung dieser Vereinbarung sorgen, am Ende auchdafür einsteht. Das mahne ich auch in Bezug auf dieStellenumsetzungen an, wenn es darum geht, sechs Stel-len aus dem mittleren und gehobenen Dienst in das AAzu integrieren. Ich höre hier etwas Ungemach. Ich hoffe,dass das, was wir ursprünglich besprochen haben, umge-setzt wird.Doch nun zurück zu den von Ihnen definiertenKernthemen deutscher Außenpolitik. Frieden, Sicherheitund Schutz der Menschenrechte, das ist eine ganzwesentliche außenpolitische Aufgabe. Schauen wir unsdie Titel des Einzelplans an: zivile Krisenprävention,friedenserhaltende Maßnahmen. Im Jahr 2009 betrug derEtat 111 Millionen Euro. Im Jahr 2010 waren es129 Millionen Euro, also 18 Millionen Euro mehr. ImJahr 2011 waren es dann wieder 91 Millionen Euro, also38 Millionen Euro weniger. Im Jahr 2012 sind 120 Mil-lionen Euro im Etat, also 29 Millionen Euro mehr. ImJahr 2013, in dem Etat, über den wir eben große Wortegehört haben, welchen Aufgaben man sich stellen will,sind es 26 Millionen Euro weniger gegenüber dem Vor-jahr. Worte und Taten passen in diesem Etat nicht zusam-men. Das muss einfach festgestellt werden.
Ich finde, das Auf und Ab in solch wichtigen außenpoli-tischen Feldern ist einer deutschen Außenpolitik nichtwürdig. Wir stehen für Kontinuität; das fordern wir inWorten ein. Dann müssen wir diese Kontinuität auch mitTaten und finanzieller Unterstützung hinterlegen; an-sonsten ist dieser Prozess unglaubwürdig.
Ich möchte auch die Pflege der kulturellen Beziehun-gen im Ausland ansprechen. Ja, die Bundesregierungmacht etwas völlig Richtiges. Sie sagt: Wir wollen hier12 Milliarden Euro für den Ausbau von Bildung undForschung ausgeben. Die Ministerien, in denen dieseAufgabenfelder beheimatet sind, werden entsprechendbeteiligt. 92 Millionen Euro davon sollen in den Außen-etat fließen. Schauen wir aber, wo es im Außenetat bezo-gen auf diese Themenfelder einen Aufwuchs gibt, su-chen wir vergebens. Wir stellen fest, dass die deutschenAuslandsschulen 5,5 Millionen Euro weniger bekom-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 191. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. September 2012 23033
Klaus Brandner
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men sollen als im Vorjahr und dass die Auslandsdienst-lehrkräfte 7,7 Millionen Euro weniger bekommen sollenals im Vorjahr. Dabei sollten wir dieses wesentliche The-menfeld nicht schleifen lassen, sondern unterstützen undmehr finanzielle Mittel dafür zur Verfügung stellen. Ichdenke, das wäre angemessen. Ich will von dieser Stelleauch ganz deutlich anmahnen, dass dies erfolgen muss.
Lassen Sie mich die mittelfristige Finanzplanung an-sprechen, weil das eine Linie ist, anhand derer wir unsein ungefähres Bild davon machen können, wie die poli-tischen Ziele mit finanziellen Mitteln hinterlegt sind. Indiesem Jahr steigt der Etat um 3,9 Prozent. Schauen wiraber genau hin, stellen wir fest, dass er eigentlich garnicht steigt, weil Aufgaben aus dem BMZ übertragenwerden, weil 51 Stellen in den Visaabteilungen aufge-baut werden sollen, was wir richtig finden, und weil wirfür das Gebäudemanagement erstmals einen hohen Pos-ten in Höhe von 42 Millionen Euro veranschlagt haben.Aufwuchs für politische Aufgaben – Fehlanzeige! Lie-ber Herr Kollege, insofern würde ich das, was Sie hiervorgetragen haben, an Ihrer Stelle noch einmal überprü-fen.Wenn wir uns in der mittelfristigen Finanzplanungden Etat für das Jahr 2014 anschauen, dann stellen wirfest, dass er um 3,9 Prozent abgesenkt werden soll. Dasist die politische Botschaft. Dazu sage ich ganz deutlich:Wenn wir auf dem außenpolitischen Feld und bezogenauf die Werte, die hier so herausgestellt worden sind,glaubwürdig bleiben wollen, dann muss man für denHaushalt des Außenministeriums mehr kämpfen undmehr finanzielle Mittel zur Verfügung stellen. Sonst istall das, was wir inhaltlich politisch einfordern, nur Luftund nichts wert.
Ich will als Beispiel die Transformationspartnerschaf-ten ansprechen. Völlig zu Recht hat der Außenministerhier gesagt, dass sich der arabische Frühling zu „arabi-schen Jahreszeiten“ entwickelt. Natürlich sind nach de-mokratischen Wahlen noch keine demokratischen Ver-hältnisse – auch nicht annähernd –, wie wir sie unswünschen, hergestellt. Das braucht Zeit, das braucht lang-atmige Unterstützung, das braucht die regelmäßige Be-gleitung auch durch unsere Arbeit. Die Transformations-mittel sind auf zwei Jahre befristet; sie betragen50 Millionen Euro jedes Jahr. Was ist 2014? Was ist2015? Was ist mit Afghanistan, nachdem der besprocheneund von uns systematisch unterstützte Rückzug des Mili-tärs erfolgt ist? Müssen wir nicht zusätzliche Unterstüt-zung für den zivilen Aufbau leisten? Ich denke, ja.
180 Millionen Euro stehen dafür befristet zur Verfügung.Die Aufgabe des zivilen Wiederaufbaus muss im Haus-halt und in einer mittelfristigen Finanzplanung sichtbarsein.
Das wäre glaubwürdige Außenpolitik, für die wir stehenund die ich an dieser Stelle auch deutlich einfordernmöchte.Zusammengefasst: Zufriedenstellend ist der Haus-haltsentwurf aus unserer Sicht nicht. Wir werden dieselbsternannten Schwerpunkte der deutschen Außenpoli-tik ausreichend mit finanziellen Mitteln hinterlegen müs-sen, damit die Glaubwürdigkeit gegeben ist. Der Ent-wurf führt jedenfalls nicht zu einer ausreichendenPlanbarkeit und schon gar nicht zu Kontinuität in der Zu-kunft. Deshalb können wir ihn so auch nicht akzeptieren.Wir fordern deutliche Nachbesserungen in diesem Sinne.
Das Wort hat jetzt der Kollege Ruprecht Polenz von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ZuRecht steht die Staatsschulden- und Euro-Krise im Mit-telpunkt der heutigen Haushaltsdebatte. Sie gehört auchin unsere Debatte über die deutsche Außenpolitik, die jaeuropäisch eingebettet ist, um Wirkung zu entfalten.Die Instabilität der Währungsunion schwächt die Mit-wirkungs- und die Mitgestaltungskraft Europas in derWelt. Wir sind mit uns selbst beschäftigt, während dieWelt von der Sorge beherrscht wird, dass die Euro-Kriseauf andere ausstrahlt. Der Euro ist neben dem Dollar diewichtigste Reservewährung auf der Welt, und jederStaat, der Währungsreserven in Euro angelegt hat, hatein massives Interesse daran, dass der Euro erhaltenbleibt und dass der Euro stabil bleibt. International gibtes aber nicht nur diese Sorge im engeren Sinne, sondernEuropa wird auch als internationaler Akteur gebraucht.Ein aktives, ein handlungsfähiges Europa wird beispiels-weise in Asien als weiterer Akteur neben China und denUSA gebraucht; das hören wir von den ASEAN-Staatenimmer wieder. Vor allem wird Europa natürlich in Nord-afrika und im Nahen Osten gebraucht.In Gesprächen, die wir als Außenpolitiker immer wie-der mit Politikern, Delegationen oder Botschaftern ausdieser Region führen, erfahren wir, welch große Erwar-tungen in dieser Region mit Europa und einem HandelnEuropas verbunden werden. Alle haben die Hoffnung,dass wir Europäer es schaffen, den Euro zu erhalten, denZusammenhalt der Europäischen Union zu wahren undgemeinsam und geschlossen nach außen aufzutreten.Wir werden – auch das wissen wir Außenpolitiker ausvielen Gesprächen; das erfahren wir auch auf unserenReisen – international für den europäischen Einigungs-prozess bewundert. In gewisser Weise wird er nicht alsModell, aber doch als Vorbild betrachtet. Deshalb gehtes bei der Bewältigung der Euro-Krise auch darum, un-ter Beweis zu stellen, dass ein Zusammenschluss vonStaaten mit gemeinsamer Ausübung von Teilen national-staatlicher Souveränität kein gescheitertes, sondern ein
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23034 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 191. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. September 2012
Ruprecht Polenz
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zukunftsträchtiges Modell ist. Das ist das, was Europader Welt anbieten kann.
Ein Scheitern würde übrigens auch den Gegnern vonfriedenstiftenden Integrationsbestrebungen in anderenRegionen der Welt Auftrieb geben: in Lateinamerika, inAfrika oder in der ASEAN-Region.Es ist verschiedentlich angesprochen worden – auchich will etwas dazu sagen –, dass die Nachrichten, die unsaus Syrien erreichen, von Tag zu Tag schlechter und dra-matischer werden. In weiten Teilen des Landes herrschtBürgerkrieg. Inzwischen gibt es über 50 000 Tote, undtäglich werden es mehr. 2,5 Millionen Menschen sind aufder Flucht, davon 250 000 in anderen Ländern. Wir müs-sen ein Übergreifen des Konflikts auf andere Länder be-fürchten, vor allen Dingen auf den Libanon, aber auch aufdie Türkei, da die PKK die Kämpfe in Südostanatolienwieder entfacht hat. Wenn man sich das genau anschaut,erkennt man, dass sich der Konflikt inzwischen auch aufDeutschland auswirkt; denn aus meiner Sicht lassen sichdie Ereignisse in Mannheim nicht anders erklären. Manmuss den Bogen bis dahin schlagen.Wir erleben eine Einmischung anderer Länder in die-sen Konflikt: des Iran, von Saudi-Arabien, von Katar.Auf der anderen Seite sehen wir – das ist hier zu Rechtbeschrieben worden –, dass der UN-Sicherheitsrat we-gen der Haltung von Russland und China blockiert ist.Wir erzeugen dadurch weniger Druck als notwendig undmöglich wäre, um Assad dazu zu bewegen, den Weg fürVerhandlungen und für ein Ende der Gewalt dadurchfreizumachen, dass er zurücktritt. Unsere Möglichkeiten:Sanktionen, humanitäre Hilfe, politische Hilfe und Hilfefür die Opposition, damit sich ihr Wunsch, sich zu eini-gen, erfüllt. Das ist alles, was wir im Augenblick tunkönnen. Das ist aber offensichtlich nicht genug.Herr Minister, es war richtig, syrische Politiker unterder Überschrift „The Day After“ nach Deutschland ein-zuladen. Wir haben aber leider noch „many days be-fore“. Auch das ist ein Problem, mit dem wir uns aus-einandersetzen müssen.Diesbezüglich gibt es eine Diskussion darüber, obman vielleicht doch nur über eine militärische Auseinan-dersetzung zu einem Ende kommen kann, sei es über In-terventionen, über Flugverbotszonen oder die Bewaff-nung der Aufständischen. Ich glaube, das ist nicht derrichtige Weg. Weshalb hat sich die Situation so entwi-ckelt? Erinnern wir uns: Wir hatten am Anfang sehrlange nur friedliche Demonstrationen. Assad wusste,wenn er 500 000 oder mehr Demonstranten häufiger inDamaskus auf der Straße hätte, dann wäre sein Rücktrittnur eine Frage der Zeit.Also hatte er ein Interesse daran, die friedlichen De-monstrationen zu beenden. Er hat das auf zweierleiWeise getan: Er hat selbst massiv Gewalt angewendet,und er hat – das wissen wir von syrischen Oppositionel-len – dafür gesorgt, dass teilweise auch von Demon-stranten Gegengewalt ausgeübt wurde. Er hat ein Inte-resse daran gehabt, auf diese Weise zur Eskalationbeizutragen. Wenn das so richtig ist, dann liegt dieserStrategie die Einschätzung Assads zugrunde: Militärischbin ich stärker; militärisch gewinne ich. – Dann sind wiraber doch falsch beraten, wenn wir sagen: „Das sehenwir aber anders“ und wie in Libyen verfahren, die Rebel-len bewaffnen und denken, das werde schon irgendwieklappen.Ich halte es nach wie vor für aussichtsreicher, denDruck auf Russland zu erhöhen. Das wird allerdings nurgelingen, wenn man nicht nur die russischen Interessenwie Hafen, Wirtschaftsbeziehungen und Einfluss in denBlick nimmt, sondern mit Russland auch über andereFragen russischen Interesses redet. Das können nachLage der Dinge nur die Amerikaner. Das werden sie abervor den Wahlen im November nicht tun; das ist das Pro-blem. Aber auch wir Europäer haben die Möglichkeit,Druck auszuüben, wenn wir gegenüber Russland in die-ser Frage einig und gemeinsam auftreten. Auch hier istein starkes, ein einiges Europa gefordert.Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Wir müs-sen die Krise überwinden. Rückblickend – das ist meinefeste Erwartung – wird der heutige Tag mit der Entschei-dung des Bundesverfassungsgerichts in Kombinationmit den Entscheidungen der Europäischen Zentralbankin der letzten Woche als der Tag angesehen werden, andem die Krise im Prinzip überwunden war, nicht in demSinne, dass wir über den Berg waren, sondern in demSinne, dass die Weichen so gestellt worden sind, dasswir über den Berg kommen. Natürlich liegt noch vielWegstrecke vor uns, was Reformen usw. angeht. Aberich glaube, es war heute ein guter Tag für Deutschlandund für Europa.
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt der Kollege
Alexander Ulrich das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Westerwelle, Sie haben über den Iran gesprochen.Hören Sie doch bitte auf, nach mehr Sanktionen zu ru-fen, die nur die Bevölkerung treffen! Denn damit tragenSie zur Eskalation bei und machen einen Krieg gegenden Iran wahrscheinlicher.
Aber lassen Sie uns über Europa reden. Die Krisen-politik Europas, der Troika, die letztendlich diktiert wor-den ist von Merkel und bis vor kurzem auch noch vonSarkozy, ist gescheitert. Wenn es eines Beweises dafürbedarf, verweise ich auf die EZB-Entscheidung in derletzten Woche. Dass die EZB zu dieser Notbremse grei-fen musste, ist ja ein Eingeständnis dafür, dass die Poli-tik versagt hat.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 191. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. September 2012 23035
Alexander Ulrich
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Wenn Herr Westerwelle sich hier hinstellt und sagt, ermöchte, dass man der Bevölkerung Europas eine neueVision gibt, die sich nicht aus der Geschichte ableitet,dann muss man sich die Frage stellen: Was macht dieseBundesregierung, um den Menschen in Europa eine Vi-sion zu geben? Ganz nebenbei sei erwähnt – darauf willich gar nicht näher eingehen –, dass Herr Westerwelleeuropapolitisch überhaupt nicht agiert, weil er vomKanzleramt ins Abseits gestellt worden ist. Schauen wiruns an, wie sich die Menschen in Europa von Europa ab-wenden. Schauen wir nach Südeuropa! Was wird dortvon Europa wahrgenommen? Sozialabbau, Abbau vonBeschäftigung, niedrigere Renten, kein Geld mehr fürdie Gesundheitsversorgung – das ist das Bild von Eu-ropa, das dort vermittelt wird. In Deutschland erwecktdie Bundesregierung den Eindruck, dass wir, obwohl wirin dieser Krise Hauptgewinner sind, nur für Europa zah-len müssen, und es kommen Leute wie Söder undDobrindt mit nationalistischen Ressentiments, die dieStammtische nicht nur in Bayern, sondern auch in derrechten Szene bedienen. Das klappt vielleicht in Bezugauf die bayerische Landtagswahl. Aber es klappt nicht,um Europa eine Vision für die Zukunft zu geben.
Lassen Sie uns hier einmal mit ein paar Mythen auf-räumen. Es wird immer wieder erzählt, wir hätten eineStaatsschuldenkrise. Nein, wir haben keine Staatsschul-denkrise. Wir haben eine Finanz- und Bankenkrise.Wenn wir uns die Zahlen anschauen, dann sehen wir,dass die Schuldenquote im Euro-Raum 2007 66,3 Pro-zent betrug; jetzt sind es 87,4 Prozent. Nehmen wir Spa-nien als Beispiel: 2007 gab es dort eine Staatsschulden-quote von 36,3 Prozent; jetzt sind es knapp 70 Prozent.Das, was in Europa als Staatsschuldenkrise bezeichnetwird, sind letztendlich die Kosten für die Bankenrettung.Diese haben sich von 2007 bis jetzt auf 1,6 BillionenEuro summiert. Dafür müssen wir zahlen. Es liegt nichtan ausufernden Sozialsystemen, es liegt nicht daran, dassdie Menschen in Europa über ihre Verhältnisse leben.Vielmehr diente das Geld, das wir ausgegeben haben,der Bankenrettung.Deshalb, glaube ich, müssen wir darum kämpfen,endlich das wahr zu machen, was in Sonntagsreden im-mer gefordert wird: Wir müssen das Primat der Politiküber die Finanzmärkte wiederbekommen. Dafür brau-chen wir eine Entkopplung der Staatsfinanzierung vonden Finanzmärkten. Es ist nicht einzusehen, dass die Eu-ropäische Zentralbank für 1 Prozent oder jetzt 0,75 Pro-zent das Geld auf die Märkte wirft, aber die DeutscheBank, die Commerzbank und andere Banken es für 6,7 oder 8 Prozent weiterverleihen. Die Staaten könnendas nicht finanzieren. Die Finanzwelt soll sich auch da-ran wieder eine goldene Nase verdienen. Wenn wir esentkoppeln, wäre der Spuk, auf Staatspleiten zu wetten,vorbei. Das ist unsere Forderung als Partei und FraktionDie Linke.
Wir brauchen endlich eine Finanztransaktionsteuer.Aber das, was Kanzlerin Merkel heute Morgen gesagthat, deutet darauf hin, dass man auch da nichts machenwill. Auch das ist nur eine Beruhigungspille gewesen.Jetzt schiebt man es auf die lange Bank; es wird nichtkommen. Mit dieser Regierung wird es eine Finanztrans-aktionsteuer in Europa und in Deutschland nicht geben.Der zweite Punkt. Es ist auch ein Anschlag auf dieDemokratie. Was ist das für eine Vision, HerrWesterwelle, wenn nicht mehr die Regierungen und dieParlamente in Lissabon, Madrid oder Rom über Löhne,Steuern oder Haushalte entscheiden, sondern wenn esdie Troika ist, die wenig legitimiert ist, aber in die Län-der einmarschiert und sagt, was dort zu tun ist? DieseArt der Politik wird die Menschen von Europa weiterentfremden. Deshalb muss Schluss sein mit diesen unde-mokratischen Maßnahmen von EU und Troika.
Wenn man Schulden reduzieren will, dann kann manes machen wie Sie, was zu Sozialabbau führt, oder mankann es machen, wie wir es vorschlagen, nämlich indemman Vermögen reduziert. Denn die Schulden der einensind nun einmal die Vermögen der anderen. Die Schul-den in Europa werden von den privaten Vermögen, die inEuropa vorhanden sind, überstiegen. Sie meinen, Siekönnten das Problem mit Sozialabbau lösen. Dies treibtdie Euro-Zone in die Rezession. In Griechenland ist dieWirtschaft in den letzten Jahren um 20 Prozent ge-schrumpft. Auch in Deutschland kommt es langsam an.Mit dieser Art der Politik werden die Schulden größer.Deshalb muss man die Vermögen reduzieren, wenn mandie Schulden reduzieren will. Deshalb brauchen wir eineMillionärsteuer. Deshalb brauchen wir eine europaweiteVermögensabgabe. Wir müssen die Steueroasen trocken-legen. Ich glaube, wir brauchen auch einen deutlichenSchuldenschnitt, damit die Länder wieder Luft zum At-men bekommen.
Mit der heutigen Entscheidung von Karlsruhe ist derKampf um ein sozialeres Europa noch nicht beendet.Auch wenn alle Fraktionen das, was in Karlsruhe ent-schieden wurde, bejubelt haben, ist es ein weitererSchritt, Europa undemokratischer und unsozialer zu ma-chen, ein weiterer Schritt, dass Europa nicht ein Europader Menschen wird, sondern ein Europa der Finanz-märkte, ein Europa der Banken, ein Europa der Groß-konzerne. Wir werden unseren Widerstand fortsetzen;denn was jetzt kommt, wird auch in nationale Gesetzge-bung umgesetzt werden müssen. Die Bundesregierungsagt der Bevölkerung auch nicht, dass im Fiskalpakt vor-gesehen ist, dass man auch in Deutschland die Schuldenschrittweise zurückführen muss. Aber woher werden die25 Milliarden Euro kommen, die ab 2014 dafür pro Jahrbenötigt werden? Ich behaupte, wenn Sie so weiterma-chen, wird auch das nur über Sozialabbau, über wenigerGeld für Bildung und Forschung, weniger Geld für einensozialökologischen Umbau gelingen. Deshalb müssenwir handeln.Die Linke wird weiterhin mit den Gewerkschaften,mit den außerparlamentarischen Bewegungen, mit Attacund anderen für ein soziales, friedliches und demokrati-sches Europa streiten. Die SPD und die Grünen haben
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23036 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 191. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. September 2012
Alexander Ulrich
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leider bei allen europapolitischen Entscheidungen derRegierung die Hand gereicht. Deshalb sind sie nicht dieRichtigen, um für diese Gruppen das Wort zu ergreifen.
Die Linke wird auch bei Abstimmungen im Parlamentauf der Seite dieser genannten Gruppen stehen.Vielen Dank.
Thomas Silberhorn ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Das Bundesverfassungsgericht hat zum Euro-päischen Stabilitätsmechanismus heute eine Entschei-dung getroffen, die, wie ich finde, einen versöhnlichenKern hat. Denn das Bundesverfassungsgericht stellt fest,dass die Haushaltsverantwortung des Deutschen Bun-destages gewahrt wird.Das Bundesverfassungsgericht hat damit einerseitsklargemacht, dass der Deutsche Bundestag keine unbe-grenzte Haftung für andere übernehmen darf, und ande-rerseits die Beteiligungsrechte des Deutschen Bundesta-ges sichergestellt. Ganz neu an dieser Entscheidung ist,dass der Bund erstmals verpflichtet worden ist, einenVorbehalt bei der Ratifikation eines europäischen Vertra-ges zu erklären. Das bedeutet, dass unsere grundgesetz-liche Ordnung gewahrt bleibt und nicht durch europäi-sche Interventionen ausgehebelt werden könnte; ichformuliere das sehr vorsichtig.
Dieses Ergebnis ist durchaus vergleichbar mit demUrteil des Bundesverfassungsgerichts zum Lissabon-Vertrag. Ich möchte auf diese Parallele hinweisen, weildamals eine Interpretation vorgenommen worden ist, dieich nicht teile. Sie lautete, der Vertrag sei zwar ganz inOrdnung gewesen; aber der Bundestag habe mit seinerBegleitgesetzgebung einen Fehler gemacht. – Nein,meine Damen und Herren: Der Lissabon-Vertrag durftedamals nur nach Maßgabe der Entscheidungsgründe desBundesverfassungsgerichts in Kraft treten. So ist es auchhier. Es ist nicht so, dass der ESM-Vertrag per se voll-ständig in Ordnung ist und der Bundestag nur mehr, alser bisher beschlossen hat, darauf achten muss, dass seineHaushaltsverantwortung gewahrt bleibt, sondern es istso, dass dieser Vertrag nur nach Maßgabe der Vorgaben,die das Bundesverfassungsgericht gemacht hat, in Krafttreten darf. Deswegen ist das Urteil so wichtig.Die Europäische Zentralbank hat verkündet, dass sieauf den Märkten jetzt unbegrenzt Anleihen aufkaufenwill. Ich vernehme mit Interesse, dass der Präsident derDeutschen Bundesbank dieser Entscheidung nicht zuge-stimmt hat, weil er, übrigens schon seit vielen Monaten,darauf drängt, dass wir zwischen Geldpolitik, die Sacheder Zentralbanken ist, und Fiskalpolitik, die Sache derGesetzgeber ist, unterscheiden.
Wenn wir diese Unterscheidung aufheben würden,dann wäre das ein fundamentaler Kurswechsel in derWährungsunion. Insofern wirft das Verhalten der Euro-päischen Zentralbank schon die Frage auf, ob wir es aufDauer hinnehmen können, dass solche Entscheidungen,die umfangreiche Gewährleistungen für Deutschlandzum Ergebnis haben, in der Form, in der es bisher ge-schieht, getroffen werden können.
Ich bin sehr dafür, dass wir darüber nachdenken und of-fen darüber diskutieren, ob wir die Entscheidungsverfah-ren in der Europäischen Zentralbank nicht auf den Prüf-stand stellen müssen.
Man kann darüber diskutieren, ob die Entscheidungenwirklich im Rat der EZB oder doch eher im Direktoriumgetroffen werden müssen. Man kann auch darüber nach-denken, ob man sich den Entscheidungsmechanismusdes Europäischen Stabilitätsmechanismus noch einmalanschaut, in dem geregelt ist, dass sich die Stimmenge-wichtung nach dem Kapitalanteil richtet, einschließlicheiner Sperrminorität von 85 Prozent aller Stimmen. Je-denfalls muss Deutschland ein angemessenes Gewicht inder Europäischen Zentralbank erhalten.
Meine Damen und Herren, wir sollten uns über einesim Klaren sein: Man kann durch Finanzhilfen Zeit ge-winnen. Man kann auch durch Interventionen der Euro-päischen Zentralbank Zeit gewinnen. Aber man solltesich nicht täuschen: Durch den Gewinn von Zeit sind dieUrsachen der Krise noch nicht beseitigt. Deswegen stehtund fällt die Stabilisierung unserer Währungsordnungdamit, dass in den Haushalten der Mitgliedstaaten, in derWirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten und in den Ver-waltungen die nötigen Strukturreformen durchgeführtwerden.
Ich weise darauf hin, dass wir noch die offene Fragebeantworten müssen, was passiert, wenn alle Finanzhil-fen und alle Reformen, die wir miteinander vereinbaren,am Ende nicht ausreichend erfolgreich sind. Wir brau-chen für diesen Fall Verfahren zur Restrukturierung vonStaatsschulden. Das ist in einer Währungsunion eine ge-meinsame Aufgabe. So wie schon im letzten Jahr eineUmstrukturierung für Griechenland durchgeführt wurde,
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Thomas Silberhorn
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muss man nun darauf hinwirken, dass ein entsprechen-des Verfahren etabliert wird, das transparent und offenist, damit sich auch die Märkte darauf einstellen können.Ich rate dazu, dass wir uns einmal sehr genau an-schauen, was in den Vereinigten Staaten von Amerikapassiert ist, die seit ihrer Gründung bis etwa 1850 neunStaatsbankrotte hingelegt haben. Die Staatsbankrotte indiesem Bundesstaat fanden erst dann ein Ende, als mansich darauf verständigt hat, dass die einzelnen Bundes-länder für ihr Handeln selber haften, und als man einVerfahren aufgesetzt hat, das eine geordnete Restruktu-rierung der Staatsschulden ermöglicht. Diese Frage ist,wie gesagt, noch offen. Ich glaube, dass wir gut darantun, in aller Nüchternheit darüber zu diskutieren. Dennuns muss an der Stabilität unserer gemeinsamen Wäh-rung gelegen sein.
Meine Damen und Herren, wenn die Stabilität derWährung – wenn Sie mir diesen Satz noch gestatten,Herr Präsident – erfordert, dass wir in Europa noch en-ger zusammenarbeiten und dass wir die vereinbarten Re-geln über Haushaltsdisziplin durchsetzen, dann solltenwir dazu bereit sein und der Europäischen Union die da-für notwendigen Kompetenzen einräumen. Ich warne al-lerdings davor, aus Anlass dieser Krise mehr oder weni-ger Wünschenswertes draufzupacken und die Lagedamit zu überfrachten. Wir sollten uns auf das konzen-trieren, was zur Lösung dieser Krise notwendig und rea-lisierbar ist. Denn auch diese Vorgehensweise dient derVertrauensbildung auf den Märkten und in unserer Be-völkerung.Vielen Dank.
Michael Brand ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrter Herr Außenminister, in der Außenpolitikorientieren wir uns Gott sei Dank und in breitem Kon-sens an den Grundwerten von Menschenrechten und De-mokratie. Lieber Herr Kollege Brandner, Sie haben jagerade Ihre Rechenkünste unter Beweis gestellt. Wir inder Koalition begrüßen ausdrücklich, dass sich dieOrientierung an Menschenrechten und Demokratie imEinzelplan des Auswärtigen Amtes deutlich nieder-schlägt. Humanitäre Hilfe stellt ebenso einen Pfeiler darwie nachhaltige Unterstützung von Demokratie.Über humanitäre Hilfe kann man hier sicher nicht re-den, ohne über Syrien zu sprechen, wie es auch andereRedner vor mir getan haben. Erst heute Morgen hattenwir eine Sondersitzung des Ausschusses für Menschen-rechte und Humanitäre Hilfe. In der Aussprache wurdesehr deutlich, dass wir in den nächsten Monaten mit wei-terer Not rechnen müssen und dass wir unbedingt reak-tionsfähig bleiben müssen. In den Lagern kommt nachder Hitze des Sommers nun bald die Kälte des Winters.Wir unterstützen ausdrücklich die Bundesregierung, dieüber die EU und auch bilateral den Opfern des Bürger-krieges in Syrien hilft.Von einer Reise nach Jordanien und in den Libanonvor nicht allzu langer Zeit weiß ich sehr wohl, dass wirden gesamten Nahen Osten destabilisiert sehen werden,wenn es nicht gelingt, das Regime Assad in die Schran-ken zu weisen und ein Überspringen des Konflikts aufdie Nachbarn zu verhindern. Jordanien und der Libanonsind bis zum Anschlag angespannt, und die enormeFlüchtlingswelle könnte diese kleinen, intern sehr fragi-len Länder aus dem Gleichgewicht stürzen. Es ist einGebot der Menschenwürde, unschuldigen Opfern zuHilfe zu kommen. Zudem ist es außenpolitische Ver-nunft, die Nachbarn Syriens und im Übrigen auch dieNachbarn Israels in dieser Lage nach Kräften zu unter-stützen.Am Horn von Afrika spielt sich eine wohl noch weitgrößere Katastrophe ab. Wir haben auch dieses Themamehrfach erörtert. Wir wissen, dass es keine einfacheLösung gibt, um für diese Hunderttausenden Menschendas Überleben zu sichern. Ich selbst habe meinen Be-such im größten Flüchtlingslager auf diesem Planeten, inDadaab, mit Hunderttausenden von Flüchtlingen, alspolitischen und humanitären Schock empfunden. Wirwissen um die Größe der Probleme, die wir – vom Mitt-leren Osten bis hin zum Horn von Afrika – zu bewälti-gen haben. Umso mehr gilt, meine lieben Kolleginnenund Kollegen: Wir dürfen nicht zulassen, dass diese Ka-tastrophe von biblischem Ausmaß als Dauerkatastrophein Ostafrika hingenommen wird. Es geht nicht nur umden Schutz vor Piraten vor der somalischen Küste. Esgeht um einen neuen Ansatz für das Horn von Afrika,den der UN-Generalsekretär zu Recht fordert und andem wir kontinuierlich arbeiten. Insgesamt dürfen wir– das hat auch heute in der Beratung eine Rolle gespielt –bei allen Bemühungen nicht aus dem Auge verlieren,dass wir in den kommenden Monaten national, in der EUund in der UN Ressourcen bereithalten müssen, um ge-nau dann humanitär intervenieren zu können, wenn dieNot am größten ist. Wir werden nicht als Routine ein-kehren lassen, dass erst einmal der Aufschrei der Huma-nitären kommen muss, bis wir dann rasch etwas zusam-menstricken, um das Nötigste und manchmal auch etwasweniger tun zu können.Liebe Kolleginnen und Kollegen, aus dem großenFeld der Menschenrechtspolitik will ich eines bewusstherausgreifen, das uns in Europa noch immer betrifft.Auch wir in Europa haben eine Katastrophe mit überhunderttausend Toten zu beklagen gehabt. Europa hatdem Völkermord in Bosnien zu lange zugeschaut undden Opfern zu spät geholfen. Ausdrücklich begrüßen wirden deutschen Beitrag zum Strafgerichtshof und die An-klage der Täter. Auch hier gilt: Es ist eine Frage derMenschenrechte, aber auch der außenpolitischen Ver-nunft.
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Michael Brand
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Es ist ein ganz wichtiges Signal: Wer Kriegsverbre-chen begeht, der kommt nicht mehr so einfach davon.Wer potenzielle Täter abschreckt, vermeidet Konflikteund vermeidet damit die hohen menschlichen Preise unddie finanziellen Kosten, mit der eine Intervention oderder Post-Konflikt zu Buche schlagen. Es ist idealistischund auch ökonomisch richtig: Der Schutz der Menschen-rechte zahlt sich immer aus!Eine aktuelle Bemerkung zum Schluss zu den Opfernvon Völkermord und Vertreibung am Beispiel des Ortes,der hier in der Debatte schon erwähnt worden ist, näm-lich Srebrenica. Tausende wurden ermordet und vertrie-ben. Die Vertriebenen sind gekennzeichnet von Trauerund Traumatisierung. Nun sollen bei den kommendenKommunalwahlen die Opfer von der Wahl in Srebrenicaausgeschlossen werden. Die Täter von gestern drohenvollends die Kontrolle zu übernehmen. Dies hätte mitRecht, mit Gerechtigkeit, mit Frieden und mit Versöh-nung nichts zu tun. Ich nutze diese Aussprache, um dieBundesregierung sehr nachdrücklich aufzufordern, sichdieses Themas unmittelbar anzunehmen. Es kann nichtsein, dass wir jährlich Kränze niederlegen, an die Opfererinnern und sie den Tätern von gestern überlassen.Vielen Dank.
Bettina Kudla ist die letzte Rednerin zu diesem Ge-
schäftsbereich.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Lassen Sie mich als letzte Rednerin dieserDebatte den Bogen wieder zum Bundeshaushalt span-nen. Wir beraten den Etat des Auswärtigen Amtes – mitEuropa –, Einzelplan 05. Der Auswärtige Dienst desAuswärtigen Amtes dient einer dauerhaften, friedlichenund gerechten Ordnung in Europa. Umso wichtiger istes, dass die Finanzen, die unmittelbar der Finanzierungder europäischen Aufgaben dienen, in auskömmlichemUmfang bereitgestellt werden.Wir haben viel erreicht: Es herrscht Kontinuität in derBereitstellung der Mittel, also Planungssicherheit. Dasist wichtig für den EU-Haushalt, das ist wichtig für dieeuropäischen Projekte, also gut für bestimmte Regionen,die Mittel aus dem Fonds für regionale Entwicklung er-halten, gut für die Landwirte, denn der Landwirtschafts-etat ist derjenige, der überwiegend aus EU-Mitteln ge-speist wird, gut für alle Infrastrukturprojekte, die ausdem EU-Haushalt finanziert werden, gut für viele bil-dungs- und sozialpolitische Projekte der EU.Die aktuelle Diskussion um die Stabilität des Eurowird von vielen populistisch genutzt. Die wirklichenpolitischen Erfolge treten dabei manchmal in den Hinter-grund, so zum Beispiel der große Erfolg unserer Bundes-kanzlerin auf dem letzten Europäischen Rat. Frankreich,das nach den Wahlen den Fiskalpakt neu verhandeln unddamit infrage stellen wollte, konnte damit gewonnenwerden, dass sich die Bundeskanzlerin und der französi-sche Präsident auf ein Investitionsprogramm von100 Milliarden Euro verständigt haben.
Dieses Investitionsprogramm kann nur aufgelegt wer-den, weil die Europäische Investitionsbank 10 Milliar-den Euro neues Eigenkapital bekommt, davon 1,6 Mil-liarden Euro aus dem Bundeshaushalt in diesem Jahr.Man stelle sich einmal vor, man hätte diese Mittel nichtaus dem Bundeshaushalt bereitstellen können. Die Aus-führungen des Bundesfinanzministers in der Debattegestern haben gezeigt: Nur wenn man Spielraum imHaushalt hat, kann man auf Entwicklungen kurzfristigreagieren und Mittel bereitstellen. Diesen Handlungs-spielraum muss sich unser Staat erhalten. Ohne finan-ziellen Handlungsspielraum wäre unser Staat handlungs-unfähig. Wichtige politische Entscheidungen wärendann nicht möglich. Der Bürger hätte das Nachsehen.Hier wird besonders deutlich, was eine umsichtige Poli-tik der Bundesregierung ausmacht.Die SPD hat in der Sommerpause vorgeschlagen, dieSchulden aller europäischen Staaten zu vergemeinschaf-ten. Als ich das hörte, war ich nicht nur entsetzt, sondernauch sehr enttäuscht: entsetzt aufgrund der Leichtigkeit,mit der die SPD mit dem Geld unserer Bürger umgeht.
Entsetzt war ich auch, wie sich heute die Grünen in derDebatte zur Vergemeinschaftung der Schulden positio-niert haben. Wenn Sie schon für einen Schuldentilgungs-fonds sind, dann müssen Sie auch sagen, was das bedeu-tet.
Dann müssen Sie auch sagen: Sie wollen, dass der Bund20 Milliarden Euro mehr im Jahr für höhere Zinsen aus-gibt. Dass die Kommunen und die Bundesländer durchhöhere Zinsen stärker belastet werden, dürfen Sie nichtverschweigen, wenn Sie eine solche Forderung aufstel-len.
Enttäuscht bin ich auch deswegen, weil Sie wissenmüssten, was eine solche Forderung bedeutet. Man kanndoch nicht unumkehrbare Fakten schaffen und dann hof-fen, später werde sich alles zum Guten wenden, denn wirhaben gesehen, was der zu frühe Euro-Beitritt der südli-chen Länder und viele Entscheidungen der europäischenInstitutionen bewirkt haben.Eines sollte uns immer bewusst sein: Geld allein kanndie Probleme nicht lösen. Die Bereitstellung von Geldkann sogar kontraproduktiv sein, wenn dies Reformen ineinem Land verhindert.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 191. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. September 2012 23039
Bettina Kudla
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Regelungen sind auf europäischer Ebene dort sinn-voll, wo sie einen Mehrwert für alle europäischen Staa-ten schaffen. Das Subsidiaritätsprinzip gilt laut demVertrag von Lissabon nach wie vor. Verträge sind einzu-halten. Der Lissabon-Vertrag ist auch mit dem Fiskal-pakt einzuhalten.Vielen Dank.
Weitere Wortmeldungen liegen zu diesem Geschäfts-bereich nicht vor.Dann rufe ich nun den Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums der Verteidigung, Einzelplan 14, auf.Das Wort erhält der Bundesverteidigungsminister, HerrKollege de Maizière.
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Ver-teidigung:Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirdebattieren heute in erster Lesung über den Haushalt desVerteidigungsministeriums. Ich will deshalb meinen De-battenbeitrag dazu nutzen, über den Haushalt und dieBundeswehr im engeren Sinne zu sprechen und nichtüber Sicherheitspolitik, Mandate, Afghanistan oderDrohnen – ein anderes Mal gerne, Herr Mützenich –,weil ich glaube, das entspricht der Tagesordnung.Der Regierungsentwurf sieht für den Verteidigungs-haushalt einen Betrag von 33,3 Milliarden Euro vor. Dasist im Verhältnis zum Vorjahr ein Anstieg um 1,4 Mil-liarden Euro. Das ist viel in Zeiten der Konsolidierung.Wie erklärt sich dieser Anstieg? Das ist im Wesentli-chen mit rund 1 Milliarde Euro die Umsetzung derLohn- und Gehaltsrunden im öffentlichen Dienst. DieWiedereinführung des Weihnachtsgeldes und dieGehaltserhöhung in den Verhandlungen über den öffent-lichen Dienst bedeuten für die Soldaten und zivilen Mit-arbeiter der Bundeswehr ab 1. Januar 2012 eine Lohn-erhöhung um insgesamt 5,82 Prozent. Zum 1. Januar2013 und im August 2013 kommen jeweils weitere1,2 Prozent dazu. Eine solche Steigerung des Einkom-mens von Soldaten und zivilen Mitarbeitern der Bundes-wehr hat es lange nicht gegeben, meine Damen und Her-ren.
Ich bin sehr dankbar – jetzt komme ich zum Haushaltzurück –, dass die Mittel zur Deckung der Kosten dieserLohn- und Gehaltsrunde im Jahr 2013 und für die ganzeFinanzplanung bis 2016 dem Einzelplan 14 zusätzlichzur Verfügung gestellt werden. Alles andere wäre, ehr-lich gesagt, auch eine Katastrophe gewesen. Wir wärenaußerstande gewesen, 1 Milliarde Euro aus dem laufen-den Geschäft „herauszuschwitzen“. Sie sehen an diesemBeispiel: Die nachhaltige Finanzierung der Bundeswehrstellt eine permanente Herausforderung dar. Aber bisherist sie gelungen. Wir werden unserer Verantwortung ge-recht. Unser Haushalt kann sich sehen lassen, auch inter-national, insbesondere im Vergleich zu Großbritannienund Frankreich. Insgesamt belaufen sich die Ausgabenfür verteidigungsinvestive Ausgaben auf 7,1 MilliardenEuro. Damit können wir die laufenden militärischenBeschaffungsvorhaben ebenso gewährleisten wie dieDeckung des durch die Neuausrichtung entstandenenMehrbedarfs bei Infrastruktur und Informationstechnik.Bei den internationalen Einsätzen machen wir keineAbstriche, wenn es um die Sicherheit unserer Soldatin-nen und Soldaten geht. Was im Einsatz benötigt wird– ich unterstreiche das Wort „benötigt“ –, mussschnellstmöglich zur Verfügung stehen. Das erwartendie Soldatinnen und Soldaten genauso wie die Bürgerin-nen und Bürger.Nun ist die Neuausrichtung der Bundeswehr auch miteinem Personalabbau verbunden; das wissen wir alle.Darum will ich nicht herumreden. Parallel zum Perso-nalabbau muss es aber auch einen Personalaufbau geben;denn nur mit neuem Personal lassen sich einsatzbereiteund motivierte Streitkräfte erhalten. Die bisherigen Be-werberzahlen sowohl bei den Zeit- und Berufssoldatenals auch bei den freiwillig Wehrdienstleistenden stim-men mich zuversichtlich. Unabdingbar für eine attrak-tive Bundeswehr sind eine ausgewogene Alters- undDienstgradstruktur im militärischen und im zivilen Be-reich sowie berufliche Perspektiven. Dies schließt finan-zielle Verbesserungen ein.Mit dem Bundeswehrreform-Begleitgesetz, das Siedankenswerterweise vor kurzem verabschiedet haben,haben wir ein Instrument, um beides zu erreichen. Eshilft uns, die erforderlichen Personalabbauschritte sozi-alverträglich zu vollziehen und gleichzeitig die Attrakti-vität der Bundeswehr zu steigern. Mit 250 MillionenEuro im Jahr 2013 und 300 Millionen Euro pro Jahr inden Folgejahren steht ein erhebliches Finanzvolumenzur Verfügung, um zahlreiche nachhaltige Maßnahmenzu realisieren. Ich will auch daran erinnern, dass wir dieVergütung für mehr geleistete Arbeit zeitgleich mit demInkrafttreten des Bundeswehrreform-Begleitgesetzes um83 Prozent von 35,74 Euro auf 65,50 Euro pro Tag er-höht haben.Nun ist die Attraktivität eines Arbeitsplatzes Gott seiDank nicht nur über das Geld zu definieren. Aber dieseMaßnahmen sind wichtig. Sie können ihre volle Wir-kung nur entfalten, wenn es uns auch künftig gelingt,überzeugend zu vermitteln, welchen einzigartigen undwelchen unverzichtbaren Dienst die Angehörigen derBundeswehr für unser ganzes Land leisten.
Dieser Dienst ist nicht leicht und oft gefährlich. Ihm ge-bührt deshalb die Wertschätzung unseres ganzen Landes,erst recht in einer Zeit tiefgreifender, ja allumfassenderVeränderungen.Vor einem Jahr habe ich Sie an dieser Stelle über diebeabsichtigten Maßnahmen im Rahmen der Neuausrich-tung der Bundeswehr unterrichtet. Zwischenzeitlich sindviele grundlegende Elemente der Neuausrichtung derBundeswehr entschieden und auf den Weg gebracht wor-den. Ich nenne als Beispiele nur die Festlegung der Zahl
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der Großwaffensysteme, die Entscheidungen zur Statio-nierungsplanung, die Neuorganisation des Ministeriumsund vor allem die Realisierungsplanung für jede einzelneDienststelle im Juni dieses Jahres. Fast 5 000 von6 400 militärischen und zivilen Organisationseinheitenhaben wir neu geplant. Fast 5 000 von 6 400! Das Minis-terium sowie alle Kommandobehörden und Bundesober-behörden in meinem Geschäftsbereich werden neuaufgestellt. Das war und ist eine gewaltige Arbeit. DieNeuausrichtung war, ist und bleibt deswegen eine hoch-komplexe Herausforderung. In fast allen Bereichen, beifast allen Strukturen und Prozessen kommt es zu massi-ven Veränderungen – und das alles gleichzeitig. Wirmüssen 240 000 Menschen einen Dienstposten zuweisenund für die anderen einen umsichtigen Personalabbau re-alisieren. Die Neuausrichtung der Bundeswehr verlangtdeshalb allen Beteiligten und Betroffenen besondere An-strengungen und viel Ausdauer ab. Nur mit diesem um-fassenden Ansatz macht die Neuausrichtung allerdingsauch Sinn.Nun führen Geld und auch organisatorische Maßnah-men alleine noch nicht zum Erfolg. Es muss uns gelin-gen, nicht nur die Köpfe und die Statistiken, sondernauch die Menschen und die Herzen zu überzeugen. Wirhaben in den vergangenen Tagen viel über eine kritischeStimmung in der Bundeswehr gehört. Das ist in diesemStadium eines derart umfassenden Veränderungsprozes-ses auch nicht ungewöhnlich, sondern geradezu ver-ständlich und zu erwarten. Ich nehme das Ergebnis bei-der Studien ernst, und es beschäftigt mich.Die Soldatinnen und Soldaten, die zivilen Mitarbeite-rinnen und Mitarbeiter in der Bundeswehr wollen dieseVeränderung. Das ist ein ganz interessantes Ergebnis.Drei Viertel aller Führungskräfte halten die Neuausrich-tung für notwendig. Mit der Umsetzung sind aber fastebenso viele unzufrieden. Nun beginnt die Umsetzungaber gerade erst. Mit dem Ministerium haben wir imApril angefangen. Im September und Oktober werdendie militärischen Kommandobehörden und Bundesober-behörden neu aufgestellt. Danach beginnt die Umstruk-turierung oder Aufstellung der einzelnen Dienststellen inder Fläche. So stellen wir sicher, dass diese tiefgreifendeStrukturreform sauber durchgeplant und systematisch er-folgt sowie nachhaltig ist.Planungssicherheit für die Menschen in der Bundes-wehr wird sich erst allmählich herstellen. Natürlich be-einflusst die persönliche Betroffenheit die Beurteilungdes Gesamtprozesses. Vertraute Orte und Einheiten ver-lassen zu müssen, sich in neuen Strukturen und Abläufenzurechtzufinden, eine neue militärische oder zivile Auf-gabe zu übernehmen oder gar zu hören, dass es für einenselbst gar keinen Dienstposten mehr gibt, verlangt vielvon jedem Einzelnen und von jeder Familie. Umbau,Umstellungen, Umzüge – das schafft natürlich Unsicher-heit und kostet Kraft, aber es ist unvermeidlich.Wer daher die Situation unserer Soldaten und Mitar-beiter kennt, den überraschen die Ergebnisse der aktuel-len Studien des BundeswehrVerbandes und meines Hau-ses nicht. Sie beschreiben realistisch die Stimmung inder Bundeswehr. Ich will die Ergebnisse deshalb auchnicht beschönigen. Im Gegenteil: Es ist richtig und wich-tig, dass wir unseren Entscheidungen ein realistischesBild der Lage zugrunde legen.
Wir werden die Ergebnisse der beiden Studien berück-sichtigen.Das betrifft zum einen die Kommunikation. Zusam-menhänge zwischen dem von der Mehrheit erkanntenHandlungsbedarf, den Entscheidungen und der Umset-zung müssen wir besser als bisher erläutern.Und: Die Einbindung der Führungskräfte in den Pro-zess der Neuausrichtung muss besser werden.Ein Teil der Unzufriedenheit ist schließlich wohl aufdas hohe Tempo zurückzuführen, mit dem wir die Neu-ausrichtung vorangetrieben haben und nach meiner Auf-fassung vorantreiben müssen, damit die Veränderungennicht zum Dauerzustand werden.Der zentralen Rolle der Führungskräfte für den Erfolgder Neuausrichtung sind wir uns bewusst. Deshalb wirdsie Thema der Bundeswehrtagung in sechs Wochen sein.Mir hat, Herr Bartels, einer meiner Gesprächspartner indiesem Zusammenhang gesagt: Viele Soldaten und zi-vile Mitarbeiter warten ab, ob die Neuausrichtung derBundeswehr ein Erfolg wird. – Wahrscheinlich ist daskeine unzutreffende Beschreibung. Ich habe ihm geant-wortet: Wenn alle abwarten, ob die Neuausrichtung derBundeswehr ein Erfolg wird, dann kann ich Ihnen ver-sprechen, dass die Neuausrichtung der Bundeswehr keinErfolg wird; denn mit Abwarten wird nichts zum Erfolg,sondern nur mit Mittun und Mitgestalten, mit Verant-wortung-Übernehmen und mit Kommunizieren.Die Zielvorgaben können nicht allein der Minister,nicht allein der Generalinspekteur, können nicht alleindie Staatssekretäre, nicht einmal die Inspekteure alleinumsetzen; vielmehr müssen alle, die Verantwortung tra-gen, diese Sache zu ihrer eigenen machen, und sie müs-sen ihre jeweiligen Mitarbeiter und Untergebenen davonüberzeugen. Auch das gehört zu Führen und zu Führenmit Auftrag.
Wir befinden uns, meine Damen und Herren, mittenin der Neuausrichtung. Diese einfache wie folgenreicheFeststellung sollte auch Folgen haben für unsere politi-schen Diskussionen über die Bundeswehr, über ihreNeuausrichtung und damit auch über den vorliegendenHaushalt. Mitten in dieser Neuausrichtung können wirmit den Haushaltsberatungen ein Zeichen setzen, dasswir viel über die Neuausrichtung debattieren können undmüssen, dass aber der Weg und das Ziel richtig sind, undinsbesondere, dass die Bundeswehr von einem breitenKonsens in diesem Deutschen Bundestag getragen wird.Vielen Dank.
Bundesminister Dr. Thomas de Maizière
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Das Wort hat nun der Kollege Rainer Arnold für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Minister, die heutige Haushaltsberatung und die zu-nehmend feiner werdende Planung der Reform der Bun-deswehr bringen uns zu anderen Erkenntnissen. Wir fra-gen uns zunehmend: Was für einen Sinn hat dieseReform überhaupt noch? Sie sagen hier: „Von über6 000 Organisationseinheiten werden 5 000 neu aufge-stellt.“ Es geht hier doch nicht um einen Leistungsnach-weis. Es stellt sich eher die Frage: Ist es notwendig, dassso viele Menschen den Wandel mitmachen müssen?Ginge es nicht auch anders? – Diese Frage ist deshalbberechtigt, weil Sie die beiden Hauptziele Ihrer Reformüberhaupt nicht erreichen:Die Sparvorgabe wird nicht erreicht; das können wirverstehen; wir haben Ihnen von Anfang an gesagt: Siebrauchen mehr Geld. Dies war unsere Prognose. Dabeiwar die Sparvorgabe doch der Auslöser dieser Reform.Die zweite Vorgabe, dass die Bundeswehr am Endedieser Reform mit weniger Personal leistungsfähigerwird, wird ebenfalls nicht erreicht. Jeder weiß: Die Bun-deswehr wird weniger können, und das, was sie leistet,ist in hohem Maße darauf zurückzuführen, dass die Sol-daten bereit sind, hohe Belastungen, manchmal auch un-verantwortliche Belastungen, wenn es um die Einsatz-dichte geht, auf sich zu nehmen.Hier passt vieles nicht zusammen. Die verteidigungs-investiven Ausgaben sinken trotz steigendem Haushaltauf ein so niedriges Niveau wie noch nie zuvor. Damitwird auch eine falsche Entscheidung für die Zukunftsfä-higkeit und Modernität der Streitkräfte getroffen.Es ist zwar gut, Herr Minister, dass Sie zuhören, wenndie Soldaten etwas sagen – das haben Sie heute verspro-chen –; aber es ist doch nicht die Erwartung, dass SieVerständnis zeigen. Die Erwartung ist, dass Sie berech-tigte Einwände aufnehmen und die objektiven Fehler derReform, die die Soldaten erkennen, korrigieren. Bisher,Herr Minister, haben wir Sie und Ihre Berater in diesemBereich eher starr, eher dogmatisch erlebt. Die Rat-schläge der Experten wurden beiseitegewischt.Heute sagen Sie: Es ist normal, dass es in einer Orga-nisation im Wandel zu einer schlechten Motivationkommt und dass sie ein kritisches Bild abgibt. – Natür-lich ist der Wandel eine der Ursachen für die Probleme.Denkt man Ihre Aussage zu Ende, heißt das aber auch:Eigentlich haben die Soldaten nur nicht verstanden, wo-rum es geht. Herr Minister, ich sage Ihnen: Die Soldatenhaben verstanden, worum es geht. Sie haben begriffen,dass von oben nach unten über sie eine Reform gestülptwird und dass sie eben nicht mitgenommen, nicht einbe-zogen werden.
Jetzt müssten bei Ihnen doch alle Alarmglocken läuten.Wer, wie viele Verteidigungspolitiker, ständig in denStandorten unterwegs ist, stellt fest, dass das Ergebnisder Befragung durch den BundeswehrVerband eigentlichziemlich identisch mit dem ist, was uns die Soldaten je-den Tag erzählen.In den Gesprächen mit den Soldaten ist mir zunächstfolgender Punkt aufgefallen: Die Soldaten beklagen diemangelnde Wertschätzung durch die Politik. Ich ent-gegne dann immer: Die Politik gibt es nicht. Es gibt un-terschiedliche Verantwortlichkeiten und unterschiedlicheZuständigkeiten. Es gibt das Parlament, das den Haus-halt aufstellt. Aber vergessen Sie bitte nicht, liebe Solda-tinnen und Soldaten: Es war die jetzige Bundesregierungund nicht das Parlament, die eine Sparvorgabe von8,5 Milliarden Euro gemacht hat – ohne Not zu einemvöllig ungeeigneten Zeitpunkt.
Herr Minister, überall dort, wo die Soldaten zu Rechtdie Umsetzung der Reform kritisieren, ist natürlich IhrHaus und sind Sie selbst in der Verantwortung. Die Sol-daten bemängeln aber gerade, dass die Bundesregierungin ihrer Gesamtheit sich nicht um diese Reform küm-mert. Die Soldaten haben gemerkt, dass die Bundeskanz-lerin einen jungen, stürmischen Verteidigungsministerhat laufen lassen, der ohne gute und kluge Überlegungendie Wehrpflicht einfach ausgesetzt hat, ohne verantwor-tungsvolle Vorbereitung.
Die Kanzlerin hat in diesem Bereich nicht interveniert.
Herr Minister, die Soldaten kapieren auch sehr wohl,dass Ihre Überschrift über die Reform „Breite vor Tiefe“am Ende bedeutet, dass die Bundeswehr mit wenigerGeld, weniger Personal, weniger Ausstattung mehr leis-ten soll und dass die Belastung für die Soldatinnen undSoldaten da am Ende nur steigen kann.90 Prozent der Soldaten – das ist für mich die ent-scheidende Kenngröße – sagen also, Herr Minister: DieNeuausrichtung bedarf einer baldigen Korrektur. DieSoldaten wollen zwar eine Reform, wie Sie zu Recht be-merkt haben; sie sagen aber: Diese Reform wird keinenBestand haben. – Das heißt, die Soldaten wissen auch,dass eine neue Regierung notwendig ist, damit im Be-reich der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitikdie Fehlentscheidungen der vergangenen zwei Jahre kor-rigiert werden.
Dann – damit mich niemand falsch versteht! – wird esuns Sozialdemokraten nicht wieder um eine neue großeStrukturreform gehen, die alles über den Haufen wirft,die wieder Menschen und Familienplanungen tüchtigdurcheinanderwirbelt. Doch wir müssen bei den grund-
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sätzlichen Vorgaben, die Sie gemacht haben, Herr Minis-ter, nachsteuern. Man muss bei vielen Details bei derAusplanung der Bundeswehrreform nachjustieren. Stattum eine große Reform, die alles durcheinanderbringt,geht es jetzt schrittweise um Veränderungen. Die wich-tigsten Punkte möchte ich ganz kurz erwähnen.Natürlich ist richtig, was im Übrigen auch Ihr Frak-tionskollege Dr. Schockenhoff aufgeschrieben hat, dasswir eine vertiefte Europäisierung der Sicherheitspolitikbrauchen. Herr Minister, ich sehe, dass Sie sich mit Trip-pelschritten auch darum bemühen; das erkenne ichdurchaus an.
Aber dort, wo dieses Thema eigentlich angesiedelt ist,nämlich bei der Bundeskanzlerin und beim Außenminis-ter, herrscht Funkstille. Es kommt kein einziger Impuls,wenn es um eine vertiefte europäische Sicherheitspolitikgeht. Dies werden wir ändern müssen.
Wenn es richtig ist, dass wir eine vertiefte europäi-sche Sicherheitspolitik und Kooperation brauchen, dannist „Breite vor Tiefe“ logischerweise falsch. Europa be-kommt keine fähigen Streitkräfte, wenn jeder abbaut undjeder am Ende Mittelmaß abliefert.
Europa bekommt fähige Streitkräfte, wenn die einzelnenNationen gut aufeinander abgestimmt Prioritäten setzen,besondere Fähigkeitsprofile für Europa abliefern. Dannkann für manches andere „Breite vor Tiefe“ tatsächlichgelten.Ich kann das auch an Beispielen festmachen. Die Ob-leute waren erst vor wenigen Tagen im Südsudan zumBesuch einer der 16 UNO-Missionen, an denen wir teil-nehmen. Wir unterstützen die, die im Sudan unterwegssind, eigentlich nicht wirklich. Die brauchen nämlichkeine Infanteristen. Das ist aber die einzige Fähigkeit,die bei der Reform gestärkt wird. Vielmehr bräuchten siedringend Hubschrauber, weil es im Sudan keine Straßengibt, Fähigkeiten zur Luftaufklärung, zur Logistik undzur Nachrichtengewinnung. Statt all dies zu stärken,Herr Minister, machen Sie es kleiner. Das ist falsch undmuss korrigiert werden.
Es kommt bei den Soldaten logischerweise auch im-mer die Frage: Was wird dann, wenn nachjustiert wird,mit meinem Standort? Natürlich ist vieles von dem, wasSie entschieden haben, irreversibel. Manches ist auchdurchaus richtig; ich denke etwa an Effizienzsteigerun-gen. Dazu bedarf es allerdings keiner großen Reform.Herr Minister, wer den Haushalt anschaut und sieht, dassder am stärksten, nämlich um 12 Prozent wachsendeHaushaltsposten die Ausgaben für die Liegenschaftensind, der stellt berechtigterweise die Frage: Sollten wirnicht die Standortentschließungen, die dazu führen, dassan anderer Stelle massiv investiert und gebaut werdenmuss, nochmals auf den Prüfstand stellen? Möglicher-weise ist es ja zumindest an der einen oder anderenStelle billiger, Bestehendes, wo die Infrastruktur da ist,zu belassen, als Soldaten ohne Not quer durch die Repu-blik zu versetzen und zusätzlich Kosten zu produzieren.
Wir werden dort, wo es bei den Statusgruppen bei denSoldaten tiefgreifende Verwerfungen gibt – das ist ja derFall; die Hauptlast dieser Reform tragen diejenigen, dieim Alltag der Bundeswehr den Karren ziehen, nämlichdie Unteroffiziere und die Unteroffiziere mit Portepee –,nachjustieren müssen. Man muss schon einmal genauschauen, warum es am Ende Ihrer Reform in der Rela-tion mehr Offiziere gibt als in der Vergangenheit. Manmuss schon einmal genau nachschauen, warum vor demHintergrund einer kleiner werdenden Bundeswehr beiden Stabsoffizieren im Grunde genommen überhauptnicht gekürzt wird.Bei dieser Reform passt also vieles nicht zusammen.Herr Minister, Sie haben von Attraktivität gespro-chen. Das ist ein wichtiges Thema. In Ihren Schubladenliegen viele Ideen. Aber um Attraktivität wirklich zusichern, sind Anstrengung zusammen mit dem Parla-ment und seinen Haushältern nötig. Doch Sie ruhen sichim Augenblick ein bisschen darauf aus, dass die Bewer-berzahlen noch gut sind.
Die Soldaten haben in der Umfrage genau das richtigeGespür bewiesen. Sie wissen, dass es in einer sich verän-dernden Welt, angesichts einer neuen demografischenLage schwer wird, die klugen, die richtigen jungen Leutefür die Streitkräfte zu gewinnen. Dies wird nur gelingen,wenn wir ein Attraktivitätsprogramm auflegen, das übereinen größeren Zeitraum hinweg, nämlich bis zum Jahr2020, in Etappen, Jahr für Jahr verlässlich vorgibt, wel-che Attraktivitätsmaßnahmen kommen, und das solideund seriös im Haushalt abgebildet ist.
Dies ist notwendig, weil die Menschen, die sich für denBeruf des Soldaten entscheiden sollen und wollen, Pla-nungssicherheit für ihre Laufbahn und ihre Familie brau-chen. Deshalb muss bei dieser Attraktivitätsdebattenatürlich auch die Frage, wie Familie und Soldatenberufbesser miteinander zu vereinbaren sind, ein gutes Stückweit im Mittelpunkt stehen.
Ein Letztes, Herr Minister: Eigentlich fehlt eine Um-frage für die Zivilbeschäftigten. Ich bin davon über-zeugt, dass das Ergebnis dort ein wirkliches Desasterwäre; denn die Zivilbeschäftigten haben nicht nur denEindruck, dass manchmal über ihre Köpfe hinweg refor-miert und geändert wird. Sie haben auch den Eindruck,
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dass manchmal mit ihren Sorgen und mit ihrer Zukunftrecht kaltherzig umgegangen wird,
und zwar in der Art und Weise, wie man kommuniziert,wie man den Personalrat einbindet und wie man recht-liche, verfassungsrechtliche Bedenken aufnimmt. Alldies ist Realität.Herr Minister, es liegt bei Ihnen: Die Vereinbarungzwischen den Ressorts, wonach Sie mehr als 5 000 Zivil-beschäftigte an andere Ressorts abgeben wollen, ist reifzur Unterschrift. Wir bitten Sie aber dringend, dieseEntscheidung noch einmal zu überdenken und diesesvermeintliche Reformwerk nicht wenige Wochen vorder nächsten Bundestagswahl – so ist es nämlich vorge-sehen – in Kraft zu setzen.Haben Sie in den letzten Monaten, als der Finanz-minister angefangen hat, Besteuerungsideen für Reser-visten, für freiwillig Wehrdienstleistende zu entwickeln,nicht gemerkt, dass das Personalwesen und die Abrech-nung des Personals in diesem Ressort nicht gut aufge-hoben wären, weil dort kein Verständnis für die solda-tischen Belange und die Besonderheiten vorhanden ist?
Dies sieht man auch im Alltag: Im Finanzministeriumdauert es im Regelfall 90 Tage, bis Gesundheitskostenzurückerstattet werden.
Im Verteidigungsressort hingegen dauert es nur 21 Tage.Dafür gibt es dort sogar eine entsprechende Anweisung.Für jeden Tag, den das länger dauert, müssen die Solda-ten selbst das Geld verauslagen. Wollen Sie diesen wich-tigen Bereich, der etwas mit Qualität und Berufszufrie-denheit zu tun hat, wirklich in ein solches Ressortabgeben, Herr Minister?
Lassen Sie die Unterschrift sein! Geben Sie einerneuen Regierung die Chance, diesen schwerwiegendenFehler wieder zu korrigieren, wenn Sie selbst schonnicht die Kraft dafür haben!Am Ende bleibt in der Tat: Das Wichtigste bei allenReformen, bei allen Nachsteuerungen und Nachjustie-rungen wird sein, die Soldaten mitzunehmen und sienicht nur verbal wertzuschätzen. Natürlich ist auch daswichtig. Der Beruf verdient durch uns alle Anerkennung,gerade bei einer Parlamentsarmee; das ist wichtig. DieSoldaten müssen das hören und auch spüren. Aber amEnde kommt es natürlich schon darauf an, ob nach demHören auch Konsequenzen gezogen werden, ob die Sol-daten das Gefühl haben, ihr Wissen, das, was sie im All-tag erleben, wird angenommen und ein Stück weit alsExpertise genutzt, um eine gut aufgestellte Bundeswehrzu organisieren.Herzlichen Dank.
Jürgen Koppelin ist der nächste Redner für die FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Kollege Arnold, um eines gleich zu sagen: Ich fand essehr unpassend, dass Sie gesagt haben, die Bundeskanz-lerin und der Außenminister engagierten sich nicht fürdie Bundeswehr.
Ich sage Ihnen in aller Deutlichkeit: Die Bundeskanzle-rin, der Bundesverteidigungsminister und der Außen-minister sorgen jetzt dafür, dass unsere Soldaten soschnell wie möglich aus Afghanistan zurückkommen.Das ist doch eine große Leistung. Damit zeigen sie doch,dass sie zur Bundeswehr und zu unseren Soldaten stehen.
Das sollten Sie nicht verkennen.Wir haben ein großes Reformwerk vor uns. WichtigeEntscheidungen sind aber erst seit dem 1. April wirk-sam. Es ist etwas früh, wenn man jetzt schon Umfragendurchführt; aber das kann man natürlich machen. Ichfinde es positiv, wenn zwei Drittel der Befragten sagen:Dieses Reformwerk muss sein, ist wichtig, ist richtig.Die Hälfte der Befragten sagt sogar, die Neuausrichtungder Bundeswehr verbessere prinzipiell die Einsatzfähig-keit der Truppe. Das sind positive Zahlen. Es ist aberdoch wohl auch selbstverständlich, dass die Soldatendann ihre Sorgen und Nöte äußern, dass sie sagen: Waspassiert mit mir persönlich und mit meiner Familie? Wiesieht es mit diesem und jenem aus? Um diese Sorgenmüssen wir uns kümmern; das Ministerium hat schonentsprechend darauf reagiert.Wir haben ebenfalls schon im Haushalt 2012 – wirsetzen das im Haushalt 2013 fort – im Hinblick auf die-ses Reformwerk reagiert. Wir haben einen großen Beför-derungsstau abgebaut. Kollege Arnold, das wissen Sienatürlich nicht, weil Sie nicht in den Haushalt geguckthaben. Wir haben berechtigte Sorgen der Soldaten auf-gegriffen. Wir haben beim Sanitätswesen etwas ge-macht. Wir haben Angebote für die Familien geschaffen.Wir kümmern uns um die Familienangehörigen, wenneiner aus der Familie im Auslandseinsatz ist. Wir küm-mern uns um diejenigen, die aus dem Auslandseinsatzzurückkommen.Vieles kann besser gemacht werden; das ist gar keineFrage. Da ist auch das ein oder andere zu kritisieren. Dastun wir auch und sagen: Wir wollen es besser machen.Aber man kann nicht sagen, dass wir uns nicht um dieBundeswehr und die Soldaten kümmern. Wir setzen dasmit dem Haushalt 2013 fort; davon können Sie ausge-hen. Dazu gehört auch, dass wir uns um Beförderungs-
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stau, falls es ihn noch geben sollte, kümmern werden.Das ist ganz wichtig. Die Bundeswehr muss attraktivsein, vor allem, weil sie auch im Wettbewerb mit derfreien Wirtschaft steht. Das ist doch völlig klar.
Da sind wir uns in der FDP-Fraktion völlig einig.Wir haben das Bundeswehrreform-Begleitgesetz be-schlossen. Aber das heißt doch nicht, dass wir uns nunausruhen. Wir werden immer wieder schauen: Funktio-niert dieses Gesetz, oder müssen wir Verbesserungenvornehmen? Da fällt mir jetzt schon das eine oder andereein. Das ist doch ganz klar. Wir haben es erst einmal aufden Weg gebracht. Wir werden natürlich das Gesprächmit den Soldaten suchen und gegebenenfalls Verbesse-rungen vornehmen. Eines kann aber nicht sein: Im Zugedieser Reform darf keine Dauerbaustelle entstehen. Inso-fern unterstütze ich, was der Minister gesagt hat: Esmuss zügig vorangehen.Nun kommt der Kollege Arnold und beklagt: Wo sinddenn die Einsparungen? Was ist denn mit all diesen Din-gen, die man vielleicht einmal geplant hat? KollegeArnold, ich will Ihnen sagen: Wenn wir nicht die großenProbleme hätten, die Sie uns zum Beispiel mit IhremVerteidigungsminister Scharping eingebrockt haben,dann hätten wir schon viel Geld gespart.
– Ich nenne Ihnen doch Beispiele.Nehmen Sie einmal die GEBB. Die GEBB sollte zueiner höheren Wirtschaftlichkeit der Bundeswehr führen.Ich kann im Bundeshaushalt nichts von einem Erfolg derGEBB erkennen. Die GEBB ist doch Ihr Produkt gewe-sen.
Die Verkleinerung des Fuhrparks der Bundeswehr istdoch die Idee Ihres Ministers Scharping gewesen. DerRechnungshof sagt: Da können wir über 1 MilliardeEuro einsparen. Schauen Sie einmal, was alles beimBundeswehrfuhrpark geschieht. Daher kommt teilweiseauch der Frust der Soldaten.Der Frust der Soldaten kommt auch daher, dass siesich mit Herkules beschäftigen müssen. Herkules ist, umes einmal deutlich zu sagen, auch eines Ihrer Produkte.Wenn Sie mit der Truppe sprechen, dann erfahren Sie:Daher kommt der Frust.
Dann sage ich etwas zu der Idee, die Rot-Grün umge-setzt hatte, nämlich die Schaffung der BImA. Auch da-runter leidet die Bundeswehr; auch sie ist eines IhrerProdukte. Wenn wir sie nicht hätten, könnten wir eben-falls Geld sparen; das ist jedenfalls meine Überzeugung.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Herr Verteidigungs-minister, ich muss zwei Punkte ansprechen, die aus Sichtmeiner Fraktion bei dieser Debatte wichtig sind. Ich binganz erstaunt, dass der Kollege Arnold nicht darübergesprochen hat.Erster Punkt – das will ich hier auch aus aktuellemAnlass sehr deutlich sagen, Herr Minister –: Seit länge-rem vertritt die Fraktion der Freien Demokraten die Auf-fassung, dass wir den Militärischen Abschirmdienstnicht mehr brauchen. Diese unsere Haltung ist in denletzten Tagen bestätigt worden.
Ich bin der Auffassung: Der Militärische Abschirm-dienst ist eine Einrichtung aus der Zeit des Kalten Krie-ges. Wir brauchen ihn nicht mehr. Man wird sich im Ver-trauensgremium damit beschäftigen müssen; aber auchwir Haushälter müssen uns damit beschäftigen. DerMilitärische Abschirmdienst ist überflüssig.
Lassen Sie mich einen zweiten Punkt ansprechen. Beider Neuausrichtung der Bundeswehr ist genau festge-schrieben worden, welche Aufgaben ein Generalinspek-teur hat, welche Aufgaben die einzelnen Inspekteurehaben. Insofern bin ich, Herr Verteidigungsminister, sehrerstaunt, dass ein Luftwaffeninspekteur öffentlich erklä-ren kann, wir sollten bewaffnete Drohnen beschaffenund diese vor allem in den USA bestellen. Es ist schlichtund ergreifend nicht seine Aufgabe, in die Öffentlichkeitzu treten und das zu fordern.
Das entscheidet immer noch das Parlament. Meine Frak-tion ist durchaus für den Kauf unbewaffneter Drohnen,vielleicht sogar mit der Option, sie bewaffnen zu kön-nen, darüber werden wir diskutieren.Bei den Äußerungen des Luftwaffeninspekteurs hatmir allerdings ein wichtiger Aspekt gefehlt – das will ichhier in aller Deutlichkeit sagen –: Bevor wir sie beschaf-fen, möchte ich, dass eine ethische Diskussion über denEinsatz von bewaffneten Drohnen geführt wird.
Ich möchte ausdrücklich auf das verweisen, was der ka-tholische Militärbischof Overbeck – man kann das nach-lesen – auch heute noch einmal zum Thema Einsatzbewaffneter Drohnen gesagt hat; dafür bin ich ihm– ausnahmsweise mal – sehr dankbar. Ich bin der Auf-fassung: Bevor wir bewaffnete Drohnen beschaffen,müssen wir darüber diskutieren.Ich sage aber deutlich: Es ist nicht die Aufgabe einesInspekteurs der Luftwaffe, in der Öffentlichkeit einePressekonferenz abzuhalten und uns zu erklären, wirmüssten bewaffnete Drohnen kaufen, am besten noch inden USA. Herr Minister, Sie sollten ihn darauf hinwei-sen, was laut Dresdner Erlass seine Aufgabe ist.
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Dr. h. c. Jürgen Koppelin
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Herr Bundesverteidigungsminister, Sie haben sehrdeutlich gesagt, wie die Neuausrichtung der Bundeswehrgestaltet werden soll. Wir haben Sie dabei immer unter-stützt. Das ist ein großes Reformvorhaben. Sie könnensich darauf verlassen, dass die Koalitionsfraktionen undnamentlich auch meine Fraktion, die FDP-Bundestags-fraktion, Sie dabei bei den Haushaltsberatungen sehrstark unterstützen werden.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort der Kollegin Gesine Lötzsch für
die Fraktion Die Linke.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Ich will es zu Beginn gleich klarsagen: Wir als Linke sind der Auffassung, dass im Ein-zelplan 14 deutlich gestrichen werden muss, sowohl imPersonalbereich als auch bei den Beschaffungen.
Ich beginne mit einem konkreten Beispiel. Bundes-wehroberst Klein wird nach dem Willen des Verteidi-gungsministers im nächsten Jahr zum Brigadegeneralbefördert.
Das macht für den Offizier Klein im Monat mindestens1 300 Euro mehr aus. Dieser Aufwuchs ist höher als dasGesamtgehalt, das ein Koch in Ostdeutschland nachzehn Berufsjahren bekommt.
Als Brigadegeneral erhält er dann mindestens8 250 Euro im Monat aus der Steuerkasse. Die beidenvon mir genannten Zahlen sagen mehr über die Arbeitder Bundesregierung aus als alle Zahlen im Haushalts-entwurf 2013 zusammen.Worum geht es hier nämlich?
Der Offizier Klein hatte vor drei Jahren in Afghanistanden militärisch sinnlosen und brutalen Befehl zur Bom-bardierung von zwei Tanklastzügen in der Nähe vonKunduz gegeben.
– Sie sollten nicht dazwischen brüllen, sondern sichschämen und sich an das erinnern, was damals geschah.
Mehr als hundert Menschen starben, darunter vieleFrauen und Kinder. Welches Signal wollen die Bundes-regierung und ihr Verteidigungsminister mit dieser Be-förderung an die Soldaten und Offiziere der Bundeswehrsenden? Erst bomben, dann denken?
Oder: Rücksichtsloses Vorgehen gegen die Zivilbevölke-rung schadet definitiv nicht der Karriere, sondern beför-dert sie?
Die Linke wird einen Antrag in die Haushaltsberatungeinbringen, um die Beförderung von Oberst Klein zustoppen.
Wir sind nicht bereit, diese schreckliche Tat auch nochmit Steuergeldern zu belohnen.
Auch wenn der Minister gesagt hat, wir wollen heutenicht über Afghanistan reden: Ich finde seine Aufforde-rung im Rahmen der Debatte über den Verteidigungs-haushalt völlig verfehlt. Wir alle wissen: Die Bundes-wehr ist nicht in Afghanistan, um Schulen oderKrankenhäuser zu bauen;
die Bundeswehr ist in Afghanistan, um einen Krieg zuführen, der schon unzählige Opfer gefordert hat. Dabei,meine Damen und Herren, denke ich nicht nur an diezivilen Opfer, sondern auch an die deutschen Soldaten,denen in diesem und anderen Auslandseinsätzen ihrLeben gestohlen wurde.Die Bundesregierung hat mir die Auskunft gegeben,dass 23 deutsche Soldaten in Afghanistan und 34 deut-sche Soldaten beim ISAF-Einsatz ihr Leben verlorenhaben. Ein Drittel der getöteten Soldaten stammte ausOstdeutschland. Michael Wolffsohn, Professor an derUniversität der Bundeswehr, beklagte die „Ossifizie-rung“ der Bundeswehr. Darüber hat sich der Verteidi-gungsminister de Maizière maßlos empört.
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Dr. Gesine Lötzsch
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– Mit Recht, da gebe ich Ihnen recht. Doch offensicht-lich ist die Bundeswehr für viele Ostdeutsche, aber auchfür viele Migranten die einzige Chance, in Lohn undBrot zu kommen. Wenn das so ist, dann zeigt das, dass inunserer Gesellschaft etwas nicht in Ordnung ist.
Zu den Beschaffungen. Die Bundeswehr soll denneuen Bedrohungslagen angepasst werden. Das klingterst einmal logisch, aber warum hält die Bundesregie-rung dann weiterhin an Rüstungsprojekten fest, die imletzten Jahrtausend, als der Kalte Krieg noch tobte, kon-zipiert wurden?
Nur ein Beispiel: Den Eurofighter findet man das ersteMal 1988 im Bundeshaushalt. Das ist jetzt 24 Jahre her.Seit dem hat sich die Welt dramatisch gewandelt. DerKalte Krieg ist Gott sei Dank vorbei. Trotzdem haltenSie an diesem Dinosaurierprojekt fest und überziehenbei den Ausgaben maßlos.Im Jahr 2011 sollten laut Haushaltsplan 555,3 Millio-nen Euro für die Beschaffung dieser teuren Museumsstü-cke ausgegeben werden. Das war der Plan. Ausgegebenwurden tatsächlich 1,2 Milliarden Euro, also mehr alsdas Doppelte. Das ist das Gegenteil von solider Haus-haltswirtschaft. Unseriös ist ein sehr vornehmes Wortdafür.
Wer sich die Preisexplosion bei der Herstellung derRüstungsprojekte anschaut, weiß, dass es der Bundes-regierung nicht unbedingt nur um die Beherrschungneuer Bedrohungssituationen geht, sondern auch um dasBedienen alter Seilschaften in der Rüstungsindustrie, diegerne einmal für CDU, CSU und FDP üppige Spendenauf die Parteikonten überweisen.
– Gucken Sie einmal in Ihr Spendenbuch, Herr Koppelin,bzw. fragen Sie einmal Ihren Schatzmeister, HerrnFricke. Der kann Ihnen das bestätigen.
Die Kanzlerin fordert bei jeder Gelegenheit: Krisen-länder sollten endlich ihre Haushalte in Ordnung brin-gen. Ich habe aber von ihr nie die Forderung gehört, dassdie Rüstungshaushalte der EU-Länder drastisch zu redu-zieren wären, um so einen Beitrag zur Haushaltskonsoli-dierung zu leisten. Viele Krisenlösungen, die die Bun-deskanzlerin anbietet, können nicht auf unserEinverständnis stoßen. Wenn sie aber diesen Punkt inden Vordergrund stellen würde, dann würden wir sie un-terstützen.Wir werden in den Haushaltsberatungen dafür kämp-fen, dass der aufgeblähte Rüstungshaushalt auf Normal-maß geschrumpft wird. Ich zähle auf die Unterstützungaller Vernünftigen in diesem Parlament.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Tobias Lindner für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ihr Vorgänger,Herr Minister, sagte im Mai 2010 vor der Führungsaka-demie der Bundeswehr in Hamburg, dass die zukünftigeStreitkräfteplanung durch die Realität des – Zitat – „De-sign to Cost“ bestimmt würde. Was meinte er damit? Diezukünftige Streitkräfteplanung muss sich nicht nur mitdem Fakt beschäftigen, welche Fähigkeiten die Bundes-wehr der Zukunft braucht. Nein, sie muss sich auch mitdem Fakt beschäftigen: Wie kann die Bundeswehr denVorgaben der Schuldenbremse gerecht werden?Sie, Herr de Maizière, haben in Ihrer Regierungs-erklärung davon gesprochen, dass Sie die finanziellenMittel der Bundeswehr mit ihrem Auftrag in Einklangbringen wollen. Heute müssen wir uns angesichts desEtatentwurfs für 2013 die Frage stellen: Hat die Bundes-regierung mit diesem Etatentwurf dieses von Ihnen aus-gegebene Ziel erreicht oder eher verfehlt?Der Einzelplan 14 wächst und wächst. Er erbringt kei-nen Sparbeitrag. Schaut man sich die mittelfristige Fi-nanzplanung an, dann weiß man, dass er ihn auch nichterbringen wird. 2016 liegen wir immer noch über sageund schreibe 32 Milliarden Euro. Das sind 4,8 Milliar-den Euro mehr als Ihre ursprüngliche Planung. KommenSie jetzt bitte nicht mit Argumenten wie Gehaltserhö-hungen oder BImA-Effekt. Die Tatsache, dass es zu Ge-haltserhöhungen kommt, begrüßen wir selbstverständ-lich. Dass Gehälter von Zeit zu Zeit erhöht werden,kommt für Sie anscheinend so überraschend wie Weih-nachten am 24. Dezember.
Nein, die Sparvorgaben in Höhe von 8,3 MilliardenEuro, von denen Karl-Theodor zu Guttenberg einmalsprach, wirken heute eher wie eine Beruhigungspille fürdie Klientel von Schwarz-Gelb, um die Abschaffung derWehrpflicht zu rechtfertigen. Die Bundesregierung hatihren eigenen Anspruch kläglich verfehlt.
Kommen wir jetzt zur eigentlichen Reform. Die Neu-ausrichtung – das stimmt – ist im vollen Gange. Mansieht es im Haushaltsplan an zahlreichen Stellen. DasKommando Heer wurde gestern aufgestellt. Das Minis-
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Dr. Tobias Lindner
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terium wurde im April umstrukturiert. Weitere Änderun-gen kommen im Herbst auf uns zu.Strukturen neu zu denken und zügig umzusetzen, istdie eine Sache. Aber Sie müssen die Soldatinnen undSoldaten und die Zivilbediensteten dabei dringend mit-nehmen. Hier hapert es nach Ansicht meiner Fraktionnoch gewaltig.Bereits im letzten Jahr hat sich gezeigt, dass Sie mitIhrer Informationspolitik an einigen Stellen nicht hinter-herkommen. Bei größeren Umstrukturierungen wusstendie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in manchen Fällenteilweise Tage vorher gar nicht, wo sie in Zukunft arbei-ten würden. Wir fordern Sie auf: Legen Sie ein größeresAugenmerk auf die Kommunikation nach innen! Ent-scheiden Sie nicht einfach über die Köpfe Ihres Perso-nals und deren Familien hinweg! Nehmen Sie sie mit!
Das Thema Beschaffung ist in dieser Debatte bereitsangesprochen worden. Hier liegt noch eine Menge Ar-beit vor uns. Das ist eine wahre Großbaustelle. Der Bun-desrechnungshof spricht beispielsweise von Planlosig-keit bei der Beschaffung von Handwaffen. Wenn SieGeld in Waffen und Gerät investieren, das sich dann alsmangelhaft herausstellt und auch noch zu höheren Kos-ten führt, dann wundert es mich nicht, dass der Verteidi-gungshaushalt keinen Konsolidierungsbeitrag erwirt-schaften kann.Eine weitere Herausforderung liegt in Großprojekten,die aus dem letzten Jahrtausend stammen und bei denenwir nicht mehr sicher sein können, ob wir sie überhauptnoch brauchen. Wir brauchen zum Beispiel nicht unbe-dingt einen Hubschrauber, der gebaut bzw. konzipiertwurde, um eine sowjetische Panzerarmee in Niedersach-sen zu bekämpfen.Gut und richtig ist, dass Sie, Herr Minister, in Neu-verhandlungen mit der Industrie eingetreten sind. BeimPuma haben Sie eine Reduktion der Stückzahlen er-reicht. Das war zwingend notwendig. Hier darf abernicht Schluss sein. Wir müssen uns auch den ThemenTiger und NH-90 widmen und auch hier zu einer Redu-zierung der Stückzahlen kommen.
Lassen Sie mich, da wir darüber reden, wo bei derBundeswehr gespart werden und wo man konsolidierenkann, dazu nur zwei Themen ansprechen:Zunächst einmal komme ich natürlich zum ThemaDrohnen. Mir muss einmal jemand erklären, warum dieBundeswehr überhaupt Kampfdrohnen brauchen sollte.Aus meiner Sicht sind sie weder finanzierbar noch sinn-haft an dieser Stelle.
Zum Thema Aufklärungsdrohnen. Herr Koppelin hatsich ja schon geäußert, dass er sich vorstellen könne,dass eine europäische EADS-Drohne entwickelt wird.Wir sollten ernsthaft überlegen, ob wir Aufklärungs-drohnen kaufen oder ob wir das bewährte Leasingmo-dell, das wir in Afghanistan einsetzen, fortführen sollten.Ich komme zum Schluss.
Um im Verteidigungshaushalt tatsächlich einen Konsoli-dierungsbeitrag zu erwirtschaften, müssen wir uns ernst-haft fragen, was überflüssige Fähigkeiten sind. Ähnlichwie die sicherheitspolitisch nicht mehr begründbareWehrpflicht halten wir auch die nukleare Teilhabe füreine überflüssige Fähigkeit.
Mustern Sie Ihre Atombomber endlich aus! SorgenSie dafür, dass Deutschland eine atomwaffenfreie Zonewird! Die nukleare Teilhabe ist teuer und überflüssig.Sie dient nicht unserer Sicherheit. Im Gegenteil: Die nu-kleare Teilhabe ist eine Gefahr für unsere Sicherheit. Be-enden Sie diese!Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Reinhard Brandl für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Der Verteidigungshaushalt, der heute hier von derBundesregierung vorgelegt wird, unterstreicht das Re-formversprechen, die Bundeswehr zu verkleinern unddie frei werdenden Ressourcen zu nutzen – nicht nur umzu sparen, sondern vor allem auch, um die Bundeswehrbesser auszurüsten und den Dienst für die Soldaten at-traktiver zu machen. Der Minister hat einige Attraktivi-tätsmaßnahmen genannt.Wir werden uns in den parlamentarischen Beratun-gen, die nun folgen, intensiv mit den einzelnen Haus-haltspositionen beschäftigen und dabei ein besonderesAugenmerk auf den Schutz, die Betreuung und die Ver-sorgung unserer Soldaten im Einsatz legen. Das ist dasThema, das uns in erster Linie beschäftigt.Ich möchte mich an dieser Stelle auch ganz herzlichbeim Wehrbeauftragten bedanken, der diesem Themamit großem Engagement nachgeht und uns immer wie-der wertvolle Hinweise dafür gibt.
Neben den Einsätzen beschäftigt uns vor allem dieBundeswehrreform. Kurz vor der Sommerpause habenwir hier das Reformbegleitgesetz verabschiedet. In dergleichen Woche hat die Bundeswehr die Planung vorge-legt, wie die Stationierungsentscheidungen letztendlichumgesetzt werden.
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23048 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 191. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. September 2012
Dr. Reinhard Brandl
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Das heißt, bei der Umsetzung der Reform stehen wirnoch immer relativ nah am Anfang. Die meisten Solda-ten befinden sich noch in den alten Strukturen, die auf250 000 Soldaten ausgelegt sind. Tatsächlich gibt es in-nerhalb der Strukturen, die wir haben, im Moment abernur noch 196 000 Soldaten, weil die zahlreichen Wehr-pflichtigen ja bereits weg sind. Das heißt, dass die Solda-ten, die jetzt da sind, diese Lücke im Inland schließenmüssen. Gleichzeitig haben sie eine große Belastungdurch Einsätze im Ausland, und außerdem müssen sieauch noch die Reform vorbereiten. Dass das im Momentkeine zufriedenstellende Situation ist, ist klar. Das mer-ken wir bei jedem Truppenbesuch.Insoweit waren wir vom Tenor der Umfrage des Bun-deswehrVerbands nicht überrascht. Wir werden die Hin-weise sehr genau prüfen und aufnehmen. Ehrlicherweisemüssen wir aber sagen, dass wir an dieser Situationkurzfristig nichts ändern können. Ich bitte daher die Be-troffenen, den neuen Strukturen, über die nicht fernabvon Gut und Böse entschieden worden ist, sondern in dieauch sehr viel militärischer Sachverstand eingeflossenist, eine Chance zu geben.Eine Frage in der Umfrage des BundeswehrVerbandslautete – auch der Kollege Arnold ist darauf eingegan-gen –, ob die Neuausrichtung der Bundeswehr nach Auf-fassung der Befragten innerhalb der Bundesregierungeher als Gesamtaufgabe oder als spezifische Aufgabedes Verteidigungsministeriums angesehen wird. Natür-lich ist die Neuorganisation erst einmal Aufgabe desBMVg. Dort ist der Sachverstand, und dort liegt auch dieVerantwortung dafür. An den Stellen aber, an denen wirin der Vergangenheit im Parlament die Unterstützung deranderen Ressorts gebraucht haben, haben wir sie auchbekommen.
Ich nenne als Beispiel das Reformbegleitprogramm,in dem zahlreiche Sonderregelungen und Ausnahmen fürdie Soldatinnen und Soldaten gemacht worden sind. Ichnenne auch diesen Haushaltsentwurf. Wir haben als gro-ßes, übergreifendes Regierungsziel die Einhaltung derSchuldenbremse. Ein solcher Haushalt, der in Zeiten, indenen wir eigentlich konsolidieren müssten, aufwächst,wäre ohne die Solidarität der Kollegen aus den anderenRessorts nicht möglich. Dafür möchte ich mich an dieserStelle ganz herzlich bei den Kolleginnen und Kollegenaus den anderen Ressorts bedanken.
Aber es gibt auch positive Nachrichten. Trotz der mo-mentan schwierigen Situation in Bezug auf die Reformund trotz zahlreicher alternativer Angebote auf dem Ar-beitsmarkt ist der Zulauf zur Bundeswehr ungebrochen.
– Noch. Aber Sie haben die Situation schon im letztenund vorletzten Jahr schwarzgemalt.
Gegenwärtig ist es aber so, dass – Stand heute – bereits83 Prozent des Bedarfs an Zeitsoldaten – das sind im-merhin 15 600 Soldaten – gedeckt werden konnten. Imgesamten Jahr 2012 rechnet die Bundeswehr mit über40 000 externen Bewerbern.Frau Kollegin Lötzsch, Sie haben die Frage angespro-chen, wer zur Bundeswehr geht. Ich lese Ihnen einmalvor, welchen Bildungsabschluss die FWDLer haben– das sind die freiwillig Wehrdienst leistenden Soldaten –,die zum Juli ihren Dienst angetreten haben: 49 Prozenthaben die Hochschulreife, 25 Prozent die mittlere Reifeund 19 Prozent einen Berufsabschluss.
Das ist nicht schlecht. So schlecht kann also das Ange-bot, das wir den jungen Leuten machen, nicht sein, undwir sollten das hier auch nicht schlechtreden.
Lassen Sie mich angesichts der momentan laufendenILA auch einen Blick auf die rüstungspolitischen He-rausforderungen werfen. Auch wenn die Industriemanchmal anderes verlauten lässt: Die Bundeswehr-reform ist kein Sparprogramm für die wehrtechnischeIndustrie.
Im Gegenteil: Ohne die Verkleinerung der Bundeswehrwäre der Druck, auch in diesem Bereich einzusparen,viel größer. Wir haben aber einen großen Reformbedarfbeim Rüstungsprozess. Durch die langen Beschaffungs-prozesse sind viele Haushaltsmittel langfristig gebun-den, zum Teil für Material – Herr Kollege Lindner, Siehaben das angesprochen –, das vor vielen Jahren bestelltworden ist, das wir in dieser Form und Menge heute abergar nicht mehr brauchen. Wenn es dem Bundesministerund dem Bundesministerium gemeinsam mit der Indus-trie nicht gelingt, uns in diesem Bereich mehr Luft zuverschaffen, fehlt uns der Spielraum, den wir brauchen,um die Bundeswehr auch für die Zukunft auszurüsten.Das ist die eine Herausforderung.Die andere ganz konkrete Herausforderung ist, für diegroßen Fragen und für die großen Themen wie unbe-manntes Fliegen oder Raketenabwehr internationale Pa-tenschaften zu organisieren, mit denen wir uns die Ent-wicklung und auch die Beschaffung teilen können. Wennwir nur das kaufen, was bereits am Markt verfügbar ist– am Markt verfügbar heißt ja: im Ausland entwickeltund produziert, in anderen Armeen bereits eingesetzt –,dann verlieren wir in Deutschland und in Europa indus-trielle Kompetenzen und geraten in eine sicherheitspoli-tische Abhängigkeit, ob wir wollen oder auch nicht.Auch das kann nicht in unserem Interesse sein.
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Dr. Reinhard Brandl
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Wir sind uns dieser Herausforderungen sehr bewusstund werden sie auch verantwortungsvoll angehen, undzwar mit Blick auf die Truppe und die Industrie, aberauch mit Blick auf die Steuerzahler.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Der Kollege Bernhard Brinkmann hat nun für die
SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf die rele-vanten Zahlen des Einzelplans 14 für das Haushaltsjahr2013 ist bereits hingewiesen worden. Ich will noch ein-mal ausdrücklich feststellen, dass wir uns heute schonein wenig glücklich schätzen können, dass die einigeZeit im Raum stehenden Sparvorhaben des Vorgängersvon Herrn de Maizière nicht Wirklichkeit werden. DieSPD-Fraktion hat immer darauf hingewiesen, dass dasnicht leistbar ist. Wenn das die neue Entwicklung ist undsich das auch zu einem hohen Prozentsatz in der mittel-fristigen Finanzplanung widerspiegelt, dann ist das einErfolg und dann sollte man nicht, Frau Kollegin Lötzsch,mit polemischen Bemerkungen darauf reagieren.
Es ist schon ein Stückchen peinlich,
dass Sie trotz der Dinge, die bei der Bundeswehr in denletzten Jahren seit der Wiedervereinigung passiert sind,und trotz der Personalreduzierungen, die es gegeben hat,mit einem Handstreich – die auf der Tribüne sitzendenSoldaten werden das mitbekommen haben – weitereStellenstreichungen fordern. Wie Sie hier mit jungenSoldatinnen und Soldaten umgehen, die jeden Tag fürunser Land im Einsatz sind, die teilweise den gefährli-chen Einsatz im Ausland leisten, wird der Situation nichtgerecht. Ich weise das, was Sie zu dem Thema gesagt ha-ben, in aller Deutlichkeit zurück.
Herr Minister de Maizière, Sie haben völlig zu Rechtdarauf hingewiesen, dass es in diesem Regierungsent-wurf für den Bundeshaushalt 2013 einen großen Blockim Bereich der Personalausgaben mit entsprechendenSteigerungsraten gibt. Das ist unstrittig. Ich sage aber:Ein Stückchen mehr Ehrlichkeit gehört auch dazu. Wennman Sonderzahlungen aussetzt und sie nach einer länge-ren Zeit als geplant wieder einführt, dann ist das zwareine Einkommenssteigerung. Aber die Prozentrechnung,die von Ihnen durchgeführt worden ist, stimmt dannnicht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Reformprozessder Bundeswehr – auch darauf ist schon hingewiesenworden – ist in vollem Gang. Ich bin mir aber ganz si-cher, eines greift nach wie vor nicht – unter Umständenreichte die Zeit dafür bisher nicht aus –: das sogenannteMitnehmen der Betroffenen vor Ort. Ich will hierzu zweieinfache Beispiele bringen. Sie liegen Ihrem Hause vorund machen deutlich, mit was sich unsere Soldatinnenund Soldaten und auch die Zivilbeschäftigten jeden Tagaußerhalb dieses Reformprozesses zu beschäftigen ha-ben.Es gibt mitten in Niedersachsen einen großen Trup-penübungsplatz. Ich habe 1970 dort einige Male als Sol-dat gedient. Die dort vorhandenen Geräte für Schieß-übungen stammen – meine sehr verehrten Damen undHerren, Sie hören richtig – aus dem Jahre 1950. Daranhat sich bis heute nichts geändert. Nun gebe ich gernezu, in der Zeit von 1950 bis heute waren auch sozialde-mokratische Verteidigungsminister im Amt. Trotzdemstelle ich fest: Wenn es um die Steigerung der Attraktivi-tät geht, dann muss hier dringend gehandelt werden.Wir sprechen nicht über Unsummen, die den Einzel-plan 14 belasten würden. Auf diesem Truppenübungsplatzverrichten Soldatinnen und Soldaten und Zivilbeschäf-tigte, zum Teil auch mit befristeten Arbeitsverträgen, ihreArbeit. Die Arbeitsbedingungen dort sind mit einer mo-dernen und attraktiven Bundeswehr beim besten Willennicht mehr vereinbar. Dass modernisiert werden muss,steht seit über einem Jahr fest. Die zuständige Wehrbe-reichsverwaltung beschäftigt sich damit, aber es gehtnicht weiter, weil man wohl nicht genau weiß, ob man da-für demnächst noch zuständig ist oder ob man einenneuen Arbeitskreis gründen muss.Meine herzliche Bitte an dieser Stelle lautet: Um ei-ner modernen Bundeswehr Rechnung zu tragen – dieSchießausbildung, die dort stattfindet, ist auch für dieAuslandseinsätze wichtig –, sollte das relativ schnell undzugunsten der Beschäftigten vor Ort geregelt werden. Esgeht dabei um eine Größenordnung von 1,5 MillionenEuro. Das müsste angesichts des Gesamtetats ohne Wei-teres sehr schnell machbar sein.Zweites Beispiel: Vereinbarkeit von Familie undDienst, Stichwort Telearbeitsplätze. Ich gestehe ein, dassich nicht viel davon verstehe, aber das, was mir berichtetworden ist, hat mich sensibilisiert. Auch Telearbeits-plätze tragen zur Steigerung der Attraktivität bei. Einjunger Offizier beantragte einen solchen Telearbeits-platz. Wie das so üblich ist, ist dies mit viel Bürokratieverbunden. Hoch lebe der Vorgang. Eine Vielzahl vonFormularen muss ausgefüllt werden. Er hat alles Not-wendige getan. Nach einer langen Zeit – ich glaube, eshat ein Dreivierteljahr, also neun Monate, gedauert – be-kam der Offizier die Mitteilung: April, April, tut unsleid, das geht nicht. Wir haben nur mit der Telekom ei-nen Vertrag, aber sie investiert nicht überall in das Verle-gen entsprechender Leitungen. Mit dem Anbieter, der inIhrem Gebiet eine schnelle DSL-Verbindung anbietet,können wir Ihnen keinen Telearbeitsplatz geben. – Einejunge Familie wurde hier also im Stich gelassen. Auchdas passt nicht zur Attraktivität, zur Modernisierung undzur Vereinbarkeit von Dienst und Familie.
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Bernhard Brinkmann
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Der Kollege Koppelin hat Vergangenheitsbewälti-gung betrieben; das muss man ab und zu machen. Er hatvom Bundeswehrfuhrpark als einem Milliardengrab ge-sprochen. Lieber Jürgen Koppelin, ich sage es einmal so:Mut ist das Gebot der Stunde. Ihre Koalition hat trotz al-ler Uneinigkeit,
die landauf, landab fast täglich zu vermelden ist, dieMehrheit. Stellen Sie doch im Haushaltsausschuss einenAntrag, den Fuhrpark abzuschaffen. Wir haben ja dem-nächst das Berichterstattergespräch und anschließendweitere Haushaltsberatungen.
Wenn der Krampen dann ziehen soll, dann kommt dieFDP vielleicht auch an diesem Punkt zur Realität zurückund schiebt dieses Vorhaben lieber auf, um vor der Bun-destagswahl 2013 kein Problem zu bekommen.
Vielleicht auch noch – lieber Jürgen Koppelin, wirkönnen so miteinander umgehen – ein bisschen Nach-hilfe zum Thema BImA, Bundesanstalt für Immobilien-aufgaben.
– Ja, Herr Kollege, das dürfen Sie auch sein; denn ichwar vom ersten Tag der Vorbereitung bis zur Verabschie-dung in diesem Haus dabei.Man kann an der BImA eine ganze Menge kritisieren,aber eines kann man nicht: Man kann nicht so tun, alswürde sich das im Einzelplan niederschlagen und Geldkosten. So ist es nicht. Wir in diesem Hause waren zumgrößten Teil dafür, ein einheitliches Liegenschaftsma-nagement einzuführen. Was ist da in Gesprächen weitvor der Zeit von Herrn de Maizière alles geäußert wor-den! Es wurde gesagt, es gebe Besonderheiten und mankönne das nicht leisten. Ich sage ganz deutlich: Zug umZug werden Liegenschaften mit allen Folgen, auch hin-sichtlich Investitionen und Reparaturen, an die BImAüberführt, und dies ist eine vernünftige Lösung. Wir ha-ben größten Wert darauf gelegt, dass die Fachleute ausdem Ministerium, die sich mit den Bundeswehrliegen-schaften bestens auskennen, weiterhin für die Bundesan-stalt für Immobilienaufgaben tätig bleiben dürfen.Bei den Haushaltsberatungen in den nächsten Wochenwerden wir basierend auf den Berichterstattergesprächennoch zu einigen Veränderungen kommen. Ein Ziel solltefür uns alle vorneweg stehen: Die Soldatinnen und Sol-daten und die zivilen Beschäftigten verdienen für ihreBelange Aufmerksamkeit. Außerdem verdienen sie denRespekt und die Anerkennung der ganzen Gesellschaftund somit insbesondere auch den Rückhalt des Deut-schen Bundestages, dieses Parlaments.
Herr Minister, abschließend sage ich Ihnen herzlichenDank für die Zurverfügungstellung der, wie wir es nichtanders gewohnt sind, vielen Informationsunterlagen. Ichfreue mich auf die Beratungen im Haushaltsausschuss.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Elke Hoff für die FDP-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Herr Minister, lassen Sie mich ganz zu Beginn meinerRede meine persönliche Anerkennung dafür zum Aus-druck bringen, dass Sie Ihre Aufgabe in einer Zeit, in derin der Bundeswehr das Unterste zuoberst gekehrt und dieStrukturen nachhaltigst erschüttert worden sind, ange-nommen haben. Sie haben in Ihrem Haus erstmals ver-sucht, auch solche Probleme, mit denen sich viele IhrerVorgänger nicht beschäftigt haben, zu lösen. Das siehtman insbesondere an der Regelung des Rüstungsprozes-ses und an der Ehrlichmachung des Investitionshaushal-tes im Einzelplan 14. Dafür an dieser Stelle meine ganzbesondere persönliche Anerkennung!
Ich habe überlegt, ob ich auf das, was Frau KolleginLötzsch gesagt hat, überhaupt eingehen sollte.
Ich möchte dazu nur eine Bemerkung machen, Frau Kol-legin: Ich glaube, dass die Integration der NationalenVolksarmee eine der Erfolgsstorys im Rahmen der Wie-dervereinigung unseres Vaterlandes war. Wir haben esgeschafft, von der Kultur, vom Selbstverständnis undvom Auftrag her völlig unterschiedliche Streitkräfte inder Bundeswehr zusammenzuführen. Heute eine Diskus-sion darüber zu führen, ob Soldatinnen und Soldaten ausdem Osten, aus dem Westen, aus dem Süden oder ausdem Norden ihren Dienst tun, geht an der Sache vorbei.
– Sie haben Herrn Professor Wolffsohn zitiert, und ichhabe sehr wohl verfolgt, was er gesagt hat. Sie haben ihnsozusagen als Kronzeugen für Ihre Aussagen bemüht. –Ich kann das, was der Minister dazu gesagt hat, nur un-terstreichen: Das war eine Erfolgsgeschichte, und daslassen wir uns von Ihnen nicht kaputtreden.
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Meine Damen und Herren, der Kollege Brinkmannhat eben in seiner sehr sachlichen und sehr angenehmenArt einen Blick in die Vergangenheit getan. Ich würde andieser Stelle gerne einen Blick in die Zukunft tun. Ichglaube, dass sich das, was wir im Rahmen des Einzel-plans 14 bewerten – teilweise berechtigterweise mitSorge, teilweise auch aus unterschiedlichen parteipoliti-schen Perspektiven –, nicht allein bei uns im Land ab-spielt. Zurzeit gibt es innerhalb des Bündnisses, aberauch in anderen Regionen erhebliche Probleme bei derFinanzierung von Streitkräften und sicherheitspoliti-schen Aufgaben. Ich glaube, dass wir gut beraten sind,bei allen zukünftigen Entscheidungen, insbesondere wasden Investitionsbereich angeht, zu überlegen: Was kön-nen wir in Zukunft gemeinsam machen? Sonst wird eskeine stringente europäische Sicherheits- und Verteidi-gungspolitik geben. Auch hier wird die Bundeswehrselbstverständlich ihre Rolle spielen.Wir müssen uns auch ein Stück weit von der Vorstel-lung verabschieden, wir könnten alles alleine machen. InZukunft können wir die Herausforderungen, die sich fürunsere Streitkräfte wahrscheinlich ergeben werden, nurim Verbund mit Verbündeten bewältigen. Die Bundes-wehr wird internationaler, und die Bundeswehr wird sichbreiter aufstellen. Das wird sich natürlich auch im Inves-titionsbereich des Einzelplans 14 widerspiegeln.Die Initiativen der Bundesregierung, die darauf zie-len, bereits heute Ideengeber und Motor bei der Koope-ration im sicherheitspolitischen Bereich zu sein, sind gutund richtig. Sie müssen weiter betrieben werden. Nur sokönnen wir in Zukunft die Aufgabe der Verteidigung– ich sage an dieser Stelle ganz bewusst: nicht nurDeutschlands, sondern auch des europäischen Konti-nents – erfüllen. Hier sind wir auf einem guten Weg. Dasbedeutet allerdings, dass wir die Strukturen und dasDenken innerhalb der Streitkräfte darauf ausrichten müs-sen.Jetzt komme ich zu einem Punkt, der von vielen Kol-legen kritisch angemerkt worden ist. Selbstverständlichmüssen Strukturreformen kommuniziert werden. Ja,Herr Minister, Sie haben recht: Zu Beginn einer Um-strukturierung entsteht eine Organisationsdepression.Aber wir erwarten und wissen, dass viele hochqualifi-zierte Leute ihren Dienst in den Streitkräften tun – mankann stolz auf das Haus sein, weil wirklich tolle Solda-tinnen und Soldaten ihre Aufgaben erledigen –, unddiese Expertise kann man auch für die Umstellung nut-zen. Um das Gefühl zu haben, in der Politik gut aufgeho-ben zu sein, werden die Streitkräfte diese Form von Dia-log und Kommunikation in Zukunft brauchen.Wir haben gute Leute. Wir wollen sie, und wir solltenihnen auch zeigen, dass das, was sie tagtäglich im Diensterleben – schließlich spiegelt das das wider, was wir hierbeschließen –, für uns die Benchmark für bestimmteEntwicklungen in der einen oder anderen Richtung inder Zukunft ist.Ich bin dem Kollegen Koppelin dankbar, dass er nocheinmal darauf hingewiesen hat, wie diese Organisationin Zukunft aussehen muss, wenn wir sie wirklich ernstnehmen wollen. Bestimmte Verantwortlichkeiten habenwir gestärkt, andere etwas reduziert, sozusagen um dieProzesse schneller zu machen. Wir haben auch ganzbewusst entschieden, dass der Generalinspekteur in Zu-kunft eine stärkere Rolle spielen wird, damit die Diskus-sionsprozesse innerhalb der Truppe im normalen Vertei-lungswettbewerb einfacher werden, und natürlich musser auch nach außen die Verantwortung tragen. Ich binder Überzeugung, dass es im Fall der Beschaffung vonkampffähigen Drohnen besser gewesen wäre, wenn derGeneralinspekteur das nach einer internen Abwägungdem Parlament und der Öffentlichkeit vorgetragen hätte.
Zum Thema UAVs. Selbstverständlich werden wiruns der technologischen Entwicklung nicht verschließenkönnen. Irgendwann werden auch Bundeswehr, Parla-ment und Ministerium die Entscheidung fällen müssen:Wollen wir eine bewaffnete Plattform haben oder nicht?Aber wenn wir diese Entscheidung treffen, müssen wirsowohl gegenüber den Streitkräften als auch gegenüberder Bevölkerung sowie im politischen Raum klarma-chen: Wofür brauchen wir sie?
Wofür wollen wir sie einsetzen? Reicht es nicht im Prin-zip aus, eine Plattform zu haben, die bewaffnungsfähig,aber nicht a priori schon bewaffnet ist?
Außerdem müssen wir darüber nachdenken: Müssen wireine Entscheidung über diese Investitionen im Hinblickauf den Einsatz der Truppe tatsächlich in absehbarer Zeittreffen?Darüber müssen wir miteinander diskutieren. Hinzukommt die Frage: Wäre das nicht ein Projekt für eineeuropäische Kooperation? Wäre das nicht ein Projekt,bei dem man sich auf ein gewisses Portfolio an Anforde-rungen der europäischen Sicherheits- und Verteidigungs-politik stützen könnte? Ich denke an die Pirateriebe-kämpfung, wo man gemeinsame Aufklärung betreibenkönnte; denn hier ist Europa erfolgreich tätig.All das muss meines Erachtens intensiv diskutiertwerden, bevor wir uns für eine weitere teure, den Einzel-plan 14 belastende Investition entscheiden.
Kollegin Hoff, bitte.
Herr Minister, ich wünsche Ihnen Glück auf. MachenSie weiter so! Ich glaube, mit Ihnen ist die Bundeswehrauf dem richtigen Weg, und wir werden Sie gern unter-stützen.Vielen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Paul Schäfer für die Frak-
tion Die Linke.
Werte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! War da mal was? Ja:Mehr als 8,3 Milliarden Euro sollten bei der Bundeswehreingespart werden, um den Gesamthaushalt zu konsoli-dieren. Davon ist keine Rede mehr. Trotz Euro-Krise,Staatsschulden und Sparvorgaben erreicht der Verteidi-gungsetat mit 28,2 Milliarden Euro – ich habe die Postenfür die Altersversorgung herausgerechnet – Rekordhö-hen, und Sie wollen das fortschreiben. Der Planungsan-satz ist bis 2016 um circa 8 Milliarden Euro aufgestocktworden. Da sind zwar auch die aktuellen Tariferhöhun-gen abgebildet, aber es ist trotzdem bemerkenswert.Bei der Beschaffung einiger Waffensysteme wollenSie die Stückzahlen bescheiden reduzieren. Ob es damitüberhaupt billiger wird, weiß man noch nicht. Die Kos-ten der Auslandseinsätze bleiben hoch. Allein Afghanis-tan schlägt trotz des geplanten Teilabzugs – auch dasmuss man wissen – mit mehr als 1,2 Milliarden Euro zuBuche; aller Erfahrung nach wird es am Ende des Jahresmehr sein.Die Gesamtbetrachtung ergibt: Es ist paradox. Sie ha-ben, Herr Minister, alle Sparvorgaben ausgehebelt. Siehaben schon heute viel weniger Personal zu bezahlen.Trotzdem kommt bei den Menschen in den Streitkräftenvon diesem Mehr an Mitteln wenig, zu wenig an.Die dringlichen Probleme, Vereinbarkeit von Familieund Beruf – Stichwort Pendlerarmee –, gesundheitlicheBetreuung – hier könnte man das Stichwort Rettungs-sanitäter nennen –, physische und psychische Belastungdurch die Einsätze, bleiben ungelöst. Deshalb ist dieUnzufriedenheit, wie sie in der aktuellen Studie desBundeswehrVerbands deutlich wird, in der Tat nichtüberraschend. Alle haben das gesagt. Aber das einfachabzutun, das geht nicht. Man muss ernst nehmen, wasdie Soldatinnen und Soldaten sagen.Wir bleiben daher bei unserer Schlussfolgerung: Ver-zichten Sie auf die Auslandseinsätze! Stoppen Sie dieüberdimensionierten Beschaffungsvorhaben! Dann kanndie Bundeswehr sozial verträglich und solide umgestal-tet werden. Dazu gehört eine Bundeswehr, die sich aufden Kernauftrag der Verteidigung zurückbesinnt.
Nun hat der Minister der Verteidigung eine breite öf-fentliche Debatte über die Sicherheitspolitik angeregt.Diese Debatte, Herr Minister, hätte vor Beginn der Neu-ausrichtung der Bundeswehr geführt werden müssen,nicht erst jetzt.
Ohnehin klingt Ihr Appell mehr nach einer volkspädago-gischen Veranstaltung, also: Man muss den Leuten bes-ser klarmachen, wo es langgeht.Es gibt aber genug Gründe – das ist auch haushaltsre-levant –, den gegenwärtigen Auftrag infrage zu stellen,angefangen mit Afghanistan. Dort sind NATO und Bun-deswehr – das ist unsere feste Überzeugung – mit ihremInterventionsansatz gescheitert. Keines der Ziele konnteerreicht werden. Jetzt bemüht man sich – eine militäri-sche Lösung ist nicht erreichbar –, diese politische Nie-derlage in einen Sieg umzudeuten. Vielen dämmert esüberdies, dass ein Konzept, nach dem Staaten von außenaufgebaut werden sollen, vor allem gestützt auf Streit-kräfte, schlichtweg nicht funktionieren kann. Nur, dasspielt in Ihren sicherheitspolitischen Überlegungen lei-der keine Rolle.Schon die Prämissen Ihres Ansatzes halten keinerÜberprüfung stand. Das ist der altbekannte NATO-Jar-gon: Alles ist gefährlich: Terroristen, das Internet, Roh-stoffverknappung, Wassernotstand, Flüchtlinge. Dieseganzen Probleme werden zusammengerührt, um darausdie Existenzberechtigung für umfangreiche Militärarse-nale abzuleiten.
– Kollege Koppelin, genau so ist es. – Die neuen He-rausforderungen, die damit durchaus benannt werden,verlangen aber andere Antworten. Die Konflikte inAfrika um Weideland, Wasser und Rohstoffvermarktungund um die Rechte der Bevölkerung beispielsweise löstman nicht mit NATO-Soldaten, sondern durch einekluge und auf Gerechtigkeit zielende Entwicklungszu-sammenarbeit;
mit anderen Worten: zivil statt militärisch. Aber das istbei Ihnen nicht vorgesehen.
Mehr noch: Sie wollen Soldaten künftig sogar inMarsch setzen, wenn ich Sie richtig verstanden habe, umwirtschaftliche Interessen durchzusetzen. Ich sage Ihnendazu: Es ist ein gefährlicher Aberwitz, unsere konflikt-verschärfende Lebensweise militärisch absichern zuwollen. Sie muss umgestellt werden. Darum geht es. An-ders wird es nicht funktionieren.
– Das kann sein. Sie ist aber trotzdem richtig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir schonüber Sicherheitspolitik reden – das ist die Basis der haus-halterischen Entscheidung –, dann ist zumindest daraufhinzuweisen, was gar nicht geht. Auch auf die Gefahrhin, mich an dieser Stelle zu wiederholen oder das, wasandere schon gesagt haben, zu wiederholen: In der Frageder US-Atomwaffen auf deutschem Boden ist diese Re-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 191. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. September 2012 23053
Paul Schäfer
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gierung skrupellos eingeknickt. Diese Waffen sollenjetzt, statt sie abzuziehen, modernisiert werden, dasheißt, kleiner und präziser werden. Auf gut Deutsch: DieGefahr, dass sie eingesetzt werden könnten, steigt. Daserhöht nicht unsere Sicherheit. Das ist brandgefährlich.Deshalb sagen wir: Diese Waffen müssen weg. Deutsch-land atomwaffenfrei! Das ist angesagt.
Zu den Kampfdrohnen ist auch schon einiges gesagtworden. Der Luftwaffeninspekteur meint: Wir brauchensie unbedingt für die Landesverteidigung. Was er nichtgesagt hat: Man braucht sie eigentlich nur für Militärin-terventionen à la Afghanistan und Pakistan. Im Rahmendieses Einsatzes wird dort nach unserer Überzeugung in-ternationales Recht durch die gezielten Tötungen ausge-höhlt, die auch viele Unschuldige treffen. Deshalb hatder Publizist Theo Sommer mit seiner Frage völlig recht:Soll die Strategie des Targeted Killing durch unbe-mannte Mordroboter wirklich zur verbindlichen Strate-gie der Allianz werden? – Unsere Antwort lautet unmiss-verständlich Nein.Schließlich, Herr Minister: Eine Verpflichtung könn-ten Sie angesichts des Elends, das Waffen in der Weltverursachen, übernehmen: Verschrotten Sie die nichtmehr benötigten Waffensysteme der Bundeswehr, egalob es dabei um Tornados, Panzerhaubitzen, Leopard-Panzer oder Hubschrauber geht, statt sie weltweit zu ver-scherbeln. Das wäre weitsichtige Sicherheitspolitik.Danke.
Der Kollege Omid Nouripour hat nun für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HerrMinister, Sie haben von Ihrem Vorgänger eine Bundes-wehrreform mit vielen großen Überschriften und nochviel mehr Leerstellen übernommen. Deshalb muss manIhnen einen gewissen Respekt dafür zollen, dass Sie sichdiesem Chaos gestellt haben.Sie haben Anfang dieses Jahres in einem Interviewmit einer großen deutschen Zeitung gesagt, manche wür-den Sie als Büroklammer bezeichnen.
Das ist nicht nur nicht nett, sondern auch falsch. Denneine Büroklammer hat die Funktion, bestimmte Dingezusammenzuhalten. Bei Ihnen aber hat man das Gefühl,dass Ihnen die Dinge gerade eher auseinanderfliegen.Wenn ich mir anschaue, wie Sie die Reform fortge-setzt haben, dann wird klar: Sie haben einfach die heik-len Punkte weggelassen. Sie haben alles, was Lärm,Krach und Probleme hätte machen können, schlichtnicht gemacht. Das Ergebnis ist, dass das damals soge-nannte gut bestellte Haus heute eine Fassade hat, hinterder es nicht weniger Chaos, sondern deutlich mehr Unsi-cherheit gibt. Das ist nicht das Verdienst Ihres Vorgän-gers; es ist Ihre Reform, über die wir heute sprechen.Die Reform hält sich auch nicht. Der BundeswehrVer-band bescheinigt Ihnen, dass sich bereits in der kom-menden Legislaturperiode die Reform nicht mehr haltenwird. Das wird auch aus Ihrem Zahlenwerk deutlich.Zum Zahlenwerk hat der Kollege Lindner alles gesagt.Es ist bei Ihrem Anspruch an Seriosität schon fast Kaba-rett, wenn Sie selbst im Schnitt Einsparungen von 2 Mil-liarden Euro jährlich beschließen und dann hier sagen:Ich hätte jetzt 1 Milliarde Euro einsparen müssen. Wiesoll das denn gehen? Das ist alles andere als seriös.Sie agieren beim Haushalt nach dem Motto „Nachmir die Sintflut; ich werde dann sowieso nicht mehr Ver-teidigungsminister sein“. Damit allerdings haben Sierecht. In der nächsten Legislaturperiode werden Sie esganz bestimmt nicht mehr sein.
– Sie verstehen vom Klimawandel nun wirklich nichts,Kollege Koppelin.Zum Thema Beschaffung kann ich Ihnen nur sagen:Sie wollten eine Neuordnung vornehmen und eine neuePhilosophie einführen. Ja, es wird weniger Pumas geben.Aber die tragische lange Liste von Korvetten, Tiger undA400M wird fortgesetzt und fortgeschrieben, und dasnicht nur auf dem Rücken der Soldatinnen und Soldaten,sondern vor allem auch der Steuerzahlerinnen und Steu-erzahler.
Ein Blick auf die Bundeswehrreform und die Stim-mung der Truppe, die heute viel zitiert worden ist, zeigt,dass Sie falsch liegen, wenn Sie das als Momentauf-nahme bezeichnen. Herr Kirsch, also wiederum der Bun-deswehrVerband, sagt: Wenn das so bleibt, dann kipptdie ganze Reform.Die Unsicherheit wird durch Ihre Art und Weise desAgierens und Ihre Art und Weise, Diskussionen und un-bequemen Dingen aus dem Weg zu gehen, immer weiterbefeuert. Das ist wie eine Operation am offenen Herzen,bei der dem Patienten immer mehr der Glaube abgeht,dass es zu einem guten Ergebnis kommen kann.Die Reform ist leise, weil Sie Diskussionen scheuen.Damit komme ich jetzt zu dem anderen Thema, das an-gesprochen worden ist, nämlich zu den Drohnen. Die an-deren Kolleginnen und Kollegen haben gezeigt, dasshier durchaus der richtige Platz ist, um dieses Thema zudiskutieren, was Sie ja nicht machen wollten. Aber Siehaben auch am Anfang diese Diskussion nicht führenwollen. Sie sagen, dass man die Dinge halt braucht. Wo-
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Omid Nouripour
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für, ist bisher nicht klar. Die USA haben sie, gut. Dasreicht aber nicht als Begründung. Aber wofür und fürwelche Einsatzzwecke sie aus Ihrer Sicht gebraucht wer-den sollen, ist mir bis heute nicht klar geworden.Sie scheuen aber nicht nur die sicherheitspolitische Be-gründung – Kollege Lindner hat darauf hingewiesen –,die Fragen der fiskalen Nachhaltigkeit und die rechtli-chen Fragen – es gibt eine große Zahl von rechtlichenFragen, die noch ungeklärt sind –, sondern vor allemauch die ethische Debatte. Wenn Sie dann auch noch sa-gen – das finde ich wirklich ein starkes Stück –: „Waffensind nun einmal ethisch neutral“, dann kann ich nur sa-gen: Das ist grottenfalsch. Als Verteidigungsministersollten Sie nicht so einen Unsinn in der Welt verbreiten.
Denken Sie an Atomwaffen, biologische und chemi-sche Waffen. Die sind ganz bestimmt nicht ethisch neu-tral. Denken Sie an Clusterbomben, Streubomben undAntipersonenminen. Das sind ganz bestimmt keine Waf-fen, die ethisch neutral sind. Es ist einfach grottenfalsch,was Sie sagen.Wenn Sie so etwas sagen, dann gibt es, denke ich, nurzwei Varianten: Entweder sind Sie mit einer ethischenDebatte tatsächlich überfordert, oder Sie glauben das.Dann aber verstehe ich auch, warum diese Bundesregie-rung Leos nach Saudi-Arabien verkauft. Deshalb kom-men Sie bitte von dieser Aussage weg. Sie ist für dieweitere Debatte völlig fatal.
– Melden Sie sich zu einer Zwischenfrage! Dann habeich mehr Zeit und gebe Ihnen eine gute Antwort.Vielleicht sagen Sie jetzt: Wir müssen schnell reagie-ren. Was machen wir denn, wenn der Vertrag für den He-ron 1 ausläuft? Wenn Sie Ihre eigenen Vorlagen lesenwürden, dann wüssten Sie, dass darin steht: Der Vertragfür den Heron 1 kann verlängert werden. Damit ist derZeitdruck, den wir in der Diskussion immer wieder sug-geriert bekommen, gar nicht vorhanden. Das kann manso nicht machen.Wir brauchen bei den Drohnen – genauso wie bei derBundeswehrreform in toto – zuerst die Debatte und danndie Entscheidung. Die Art und Weise, wie Sie hier ver-walten, war vielleicht am Anfang gut, um Ordnung indas Chaos zu bringen. Aber das hat nichts mit Regierenzu tun. So tun Sie sowohl den Steuerzahlerinnen undSteuerzahlern als auch den Soldatinnen und Soldaten so-wie ihren Familien ganz gewiss keinen Gefallen.
Das Wort hat der Kollege Ernst-Reinhard Beck für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege
Nouripour, als jemand, der auch Germanist ist, darf ich
sagen, dass Ihre Metapher mit der Büroklammer nicht
ganz passend war, auch wenn die Büroklammer bei Um-
fragen oft auf Platz eins oder zwei rangiert, wenn nach
dem beliebtesten Minister in Deutschland gefragt wird.
Dieser Haushalt ist im Grunde ein Beispiel dafür, dass
der Minister sein Geld zusammenhält und dafür sorgt,
dass die Aufgaben erfüllt werden. Deshalb möchte ich
gleich zu Beginn meiner Rede unserem Minister für den
vorliegenden Haushaltsplan herzlich danken.
Herr Kollege Schäfer, dieser Haushaltsentwurf ist in
der Tat bemerkenswert, weil er die Gratwanderung zwi-
schen dem, was im Hinblick auf die Auftragserfüllung
haushaltspolitisch notwendig ist, und dem, was im Hin-
blick auf die Haushaltskonsolidierung notwendig ist, er-
folgreich besteht. Dafür ein herzliches Dankeschön.
Herr Kollege Nouripour, Sie haben sich über die von
Ihnen sicherlich fehlinterpretierte Äußerung des Minis-
ters über ethisch neutrale Waffen furchtbar aufgeregt.
Ich gebe Ihnen recht: Es gibt keine ethisch neutralen
Waffen. Sie haben in diesem Zusammenhang bereits
Streubomben und andere Waffensysteme aufgezählt.
Aber man interpretierte den Minister absolut fehl, wenn
man ihm die von Ihnen vorgenommene Deutung unter-
stellte. In ethischer und moralischer Hinsicht kommt es
nicht auf die Waffen an – diese schießen nicht von al-
lein –, sondern auf die Gesinnung und die Absicht der
Menschen, die Waffen einsetzen. Darüber müssen wir
eine ethische Debatte führen. Darum geht es auch beim
Einsatz von Drohnen.
Noch ein Satz zu den Drohnen. Weder führen wir im
Augenblick eine Debatte über den Einsatz von Drohnen,
noch sind Gelder für deren Beschaffung in den Haushalt
eingestellt. Deshalb rate ich persönlich zu einer ruhigen
und neutralen Betrachtung über damit zusammenhän-
gende Fragen. Herr Lindner, es tut mir furchtbar leid,
aber Ihre Argumentation im Zusammenhang mit den
Drohnen kann ich nicht nachvollziehen. Danach müssten
wir heute noch Steinschleudern oder Steinschlossge-
wehre einsetzen. Die Drohnen sind nun einmal in der
Welt. Sie sind eine Technologie, mit der wir uns aus-
einandersetzen müssen. Wer sagt, das sei Teufelszeug
und müsse außen vor bleiben, der verkennt die Wirklich-
keit.
Herr Kollege Beck, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Keul?
Ja.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 191. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. September 2012 23055
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Vielen Dank, Herr Kollege Beck. – Ich muss einmal
nachfragen: Habe ich Sie richtig verstanden, dass selbst
der Einsatz von Streumunition und Clusterbomben
ethisch unbedenklich ist, wenn die Einstellung stimmt?
Sie haben gesagt, es komme nicht auf die Waffe als sol-
ches, sondern auf die Gesinnung desjenigen an, der sie
einsetzt. Wäre es demnach möglich, dass der Einsatz
dieser Art von Waffen – diese sind international geäch-
tet – korrekt wäre, wenn der Betreffende nur die richtige
Gesinnung hätte?
Liebe Frau Keul, Ihre Frage geht am eigentlichenKern vorbei. Sie haben mich bewusst missverstanden.Das Oslo-Abkommen kennt die Kategorie der besondersgrausamen Waffen, für die zuallererst eine Kennzeich-nung notwendig wäre. Aber es gilt, die ethische Verant-wortung für den Einsatz individuell zu betrachten. Mankann nicht sagen, dass es sich einfach nur um eine Tech-nologie handelt. Das wäre nach meiner Auffassungnichts anderes als eine Verschiebung der ethischen Ver-antwortung. Wir können gerne darüber diskutieren, auchüber die ethische Dimension des Einsatzes von Drohnen.Aber eine solche Diskussion ist im Augenblick nichtnotwendig.Ich sehe eine klare Linie des Ministeriums. Wir haben– wenn ich mich richtig erinnere, im Einvernehmen;denn das ist für die Sicherheit unserer Soldaten notwen-dig – den Vertrag über den Einsatz von Heron 1 bis zumEnde unseres Engagements in Afghanistan verlängert;das ist in Ordnung. Dann haben wir genügend Zeit, unsdarüber zu unterhalten, ob und wann wir eine neue Tech-nologie brauchen. Die Kollegin Hoff hat all die Kriteriengenannt, die wir bei dieser Beschaffung klären müssen.Da ist im Grunde keinerlei Hektik angebracht.Lieber Kollege Arnold, ich habe mich schon ein biss-chen gewundert, wie elegant hier manchmal Gegensätzekonstruiert worden sind. Die BImA-Umschichtungen,die Sie erwähnt haben – für die Bemerkung dazu bin ichdem Kollegen Brinkmann dankbar –, bedeuten keineprozentuale Steigerung der Unterhaltskosten. Dies denSteigerungen der Personalkosten gegenüberzustellen, isteinfach nicht seriös. Das ist nicht Ihr Niveau.Sie sagten, wenn die Bearbeitung der Reisekosten,der Besoldung und der Versorgung vom Finanzministe-rium übernommen werde, dann sei das furchtbar, weildie Finanzminister kein Verständnis für Soldaten hätten.Man kann gute Gründe dafür anführen, dass diese Berei-che beim Verteidigungsministerium bleiben oder zumInnenministerium verlagert werden sollen. Aber IhreBegründung, lieber Kollege Arnold, grenzt beinahe anTaschenspielerei. Das lasse ich Ihnen nicht durchgehen.Einen Punkt möchte ich aufgreifen, der für die Re-form nicht ganz unwichtig ist. Es geht um die Diskus-sion „Breite vor Tiefe“. Ich bin sehr froh, dass unsereGrundlage ist – das war auch die Grundlage der SPD-Fraktion –, ein möglichst breites Spektrum der Krisen-vorsorge zu haben. Denn es stellt sich die Frage, wasTiefe heißt und auf was wir verzichten sollen. Sind Sieder Meinung, dass das Meer den Briten gehört, dass dieBriten traditionell eine bessere Marine als wir haben undwir deswegen auf unsere Marine verzichten sollen?Wenn dem so ist, dann müssen Sie das auch sagen.Hinzu kommen muss die Verlässlichkeit der Bündnis-partner, damit man sich dann, wenn eine gewisse Fähig-keit in einer Krise gebraucht wird, hundertprozentig da-rauf verlassen kann, dass diese Fähigkeit zur Verfügunggestellt wird. Umgekehrt – auch das gehört zur Wahr-heit – müssten sich auch unsere Partner, wenn wir fürbestimmte Tiefenbereiche verantwortlich wären, daraufverlassen können, dass wir in entsprechenden Situatio-nen unsere Fähigkeiten zur Verfügung stellen. DieseDiskussion müssen wir noch führen. Aber dies zum An-lass zu nehmen, die Reform generell abzulehnen, halteich für verfrüht.Liebe Kollegin Lötzsch, ich bin etwas entsetzt. Ichhabe Sie manchmal als seriös argumentierende Kolleginschätzen gelernt. Aber die Art und Weise, wie Sie heuteeinen verdienten Offizier angegriffen bzw. attackiert ha-ben, ist einfach unerträglich. Das muss ich Ihnen sagen.
Die Beförderung von Oberst Klein ist nach Eignung undLeistung erfolgt. Er ist weder disziplinarisch noch straf-rechtlich belangt worden, und es gab auch nach demVölkerrecht noch nicht einmal einen Anfangsverdachtfür eine Straftat. Dass Sie sich hier hinstellen und diesePersonalmaßnahme als unerträglich bezeichnen – als obwir nicht den Kunduz-Untersuchungsausschuss gehabthätten –, ist einfach infam. Ich weise das in aller Formzurück.
Ich bin sehr froh, dass der Minister den Mut hatte, zu sa-gen, dass dieser Soldat wegen seiner Biografie nach allden Kriterien, die wir anlegen müssen, nicht benachtei-ligt werden darf. Ich begrüße diese Entscheidung aus-drücklich.
Es ist betont worden, dass die Vereinbarkeit von Fa-milie und Beruf auch in Zukunft wichtig ist. Hier ist, someine ich, eine Optimierung notwendig. Wir haben guteAbsichten, gute Pläne und schöne Einrichtungen, aberdie finanzielle Unterstützung kann durchaus noch opti-miert werden.Ich möchte auf die Ergebnisse der aktuellen Studiedes BundeswehrVerbandes nicht im Einzelnen eingehen.Ich darf aber an eines erinnern: Keine der vielen Refor-men – ich glaube, ich habe sieben, acht oder gar zehnmitbekommen – war so umfangreich wie die jetzige.Keine einzige ist mit großem Jubel begrüßt worden; dasist völlig normal. Ich möchte noch einmal die Tatsachein Erinnerung rufen, dass bei der Befragung nicht dieZielrichtung der Reform infrage gestellt worden ist. Allehaben gesagt, dass sie diese Reform wollten und diese
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Ernst-Reinhard Beck
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notwendig und richtig sei. Was infrage gestellt wordenist – das können wir alle nachvollziehen –, sind diePunkte Veränderung, Sicherheit, Planbarkeit und Ver-lässlichkeit. Da muss man natürlich sagen: Wenn vonmangelnder Kommunikation gesprochen worden ist,dann lag es mit Sicherheit nicht an diesem Minister oderan der politischen Führung dieses Hauses. Wer ist beix Besuchen auf seiner Sommerreise und im letzten Jahrdurch die Lande gezogen und hat zum Teil eben auchschlechte Nachrichten verbreitet? Die klare Aussage,dass mehr Kommunikation notwendig ist, bezieht sich– das muss man im Grunde sagen – auf das Motivierenund das Erklären auf der mittleren und unteren Füh-rungsebene. Das ist eine Aufgabe, die im Rahmen dieserReform erfüllt werden muss.Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Jede Re-form dieser Art muss den Menschen in den Mittelpunktstellen. Ich glaube, dass wir, wenn wir über die organisa-torischen Dinge reden, die jetzt in den Mühen der Ebe-nen anlaufen, und wenn wir uns den Bedürfnissen unse-rer Soldatinnen und Soldaten, denen ich hier nocheinmal Respekt zolle, widmen, auf einem richtigen Wegsind. Hier können wir alle zusammen mithelfen.Herzlichen Dank.
Nun hat der Kollege Klaus-Peter Willsch, ebenfalls
für die Unionsfraktion, das Wort.
Vielen Dank! – Frau Präsidentin! Meine sehr verehr-ten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Lassen Sie mich für die Berichterstattergemein-schaft zunächst zum Ausdruck bringen: Lieber BernhardBrinkmann, wir freuen uns, dass du wieder an Bord bist,und hoffen, diesen Bereich mit dir noch lange gemein-sam zu verantworten. Es ist schön, dass du wieder mitdabei bist. Alles Gute!
Der Dank an das Ministerium und an den Ministerpersönlich ist ja auch schon vom Kollegen Brinkmannausgesprochen worden. Diesen Dank will ich nach-drücklich unterstreichen. Wir fühlen uns gut behandelt.Unsere Informationswünsche werden erfüllt, und unsereFragen werden qualifiziert beantwortet. Wenn manschon mit verschiedenen Häusern zusammengearbeitethat, weiß man, dass das nicht überall so ist. Das ist beimVerteidigungsministerium hervorragend geregelt. Herz-lichen Dank dafür! Wir sind insgesamt im Haushaltsaus-schuss, glaube ich, eine Berichterstattergemeinschaft fürden Einzelplan des Bundesministers der Verteidigung,die häufig das Gemeinsame sucht und versucht, mitBlick auf die Kameraden, für die wir Verantwortung tra-gen, Trennendes zu überwinden.
Deshalb, Frau Lötzsch, ist Ihr heutiger Aussetzerumso bedauerlicher. Ich lasse es nicht zu, dass Sie sichhier in einer derartigen Art und Weise zum Staatsanwaltund Richter in einem aufschwingen und tapfere Kamera-den und verantwortliche militärische Führer hier in die-ser Art durch den Kakao ziehen und diskreditieren.
Das ist ungeheuerlich. Das gehört sich nicht. Ich appel-liere an Sie, diese Initiative zurückzuziehen. Solche De-batten sind das Letzte, was unsere Kameraden im Ein-satz gebrauchen können.Ich war im Sommer wieder auf einer Übung, war ge-meinsam mit Staatssekretär Schmidt bei Kameraden imKosovo. Das, was neben all den Schwierigkeiten, die derEinsatz und die Trennung von der Familie mit sichbringt, immer wieder an erster Stelle genannt wird, wenngefragt wird: „Was sind eure Wünsche an die Heimat?“,ist, dass Achtung für den Auftrag, der ausgeführt wird,und Respekt für die Gefahren, unter denen sie ihrenDienst tun, in der Heimat transportiert werden sollten.Deshalb bringe ich das erneut in dieser Debatte vor. Dasschulden wir den Kameraden, die wir in diese Einsätzeschicken; denn sie riskieren dort Leib und Leben.Ich habe mit Verletzten gesprochen, die bei dem Zwi-schenfall am 1. Juni in Mitrovica dabei waren. Die Lageim Kosovo ist seitdem nicht unbedingt besser geworden.Das macht einmal mehr deutlich, dass es eben nicht nurAfghanistan gibt, wo der Einsatz jeden Tag mit Gefähr-dungen an Leib und Gesundheit verbunden ist, sonderndass das auch für das Kosovo gilt.Nachdem der Minister schon so gut in sämtlichehaushalterische Zahlen eingeführt hat und das alles sehrschön aufgedröselt hat, kann ich mir diesen Teil sparen.Ich will stattdessen mehr Zeit auf das Folgende verwen-den. Wenn wir uns das Umfeld anschauen – heute wur-den schon alle möglichen Fantasien geäußert, wo esnoch Einsparvolumina gibt –, dann müssen wir natürlichauch überlegen: Weshalb sind wir dorthin gegangen?Wie ist die Situation? Sind Möglichkeiten der Reduzie-rung jetzt wirklich ohne Weiteres gegeben?Wenn ich mir das Umfeld im Kosovo anschaue,komme ich zu dem Schluss: Es ist noch nicht klar ent-schieden, wie die neue Führung in Serbien sich positio-nieren wird. Da sind Milosevic’ Buddys jetzt an derMacht. Wie sie sich im internationalen Konzert dort ver-halten werden und wie sie versuchen werden, befriedendauf das Kosovo, auf das Nordkosovo, einzuwirken, dasmüssen wir erst einmal abwarten. Wir können jedenfallsnicht einfach nach dem Motto „Wir haben uns das jetztvorgenommen, und wir wollen den Haushalt konsolidie-ren“ von vornherein Einsparbeiträge durch Reduzierungerbringen.Ich will zu dem Thema Pooling & Sharing und auchzur Drohne noch etwas sagen. Pooling & Sharing ist jadas Zauberwort, wann immer wir uns darüber unterhal-ten. Wir wissen, dass wir im Verbund mit verbündeten,befreundeten Armeen wirken müssen. Aber dann müs-sen natürlich auch die Truppen in Gang gesetzt werden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 191. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 12. September 2012 23057
Klaus-Peter Willsch
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können. Dass dort Disparitäten vorhanden sind, weil esunterschiedliche Einsatzregeln gibt, können wir dabeinicht von der Hand weisen. Wir müssen uns überlegen,wie das kompatibel gemacht werden kann. Dann könnenvielleicht nicht mehr in allen Belangen zentimetergenaudie Einsatzregeln hier im Bundestag diskutiert werden,
sondern es muss eine Möglichkeit geben, im Verbundauch wirklich zu wirken. Wir müssen diese Diskussionzumindest führen; denn das ist eine wesentliche Voraus-setzung der Kooperationsfähigkeit.
Wenn wir das mit der Parlamentsarmee ernst nehmenund wirklich zentimeterscharf festlegen, wie der Einsatzerfolgt, dann müssen wir das mit der Situation andern-orts vergleichen. Der britische Premier schickt die Trup-pen los, wenn er will, und sagt dann der Queen noch malBescheid. In Frankreich macht das der Präsident. Ermuss dann irgendwann im Parlament nach dem Geld fra-gen. Das sind natürlich völlig andere Einsatzregeln.Wenn man dann zusammenarbeiten will, muss man einMindestmaß an Synchronisation hinbekommen, damitdas klappt.Zur Drohne. Ich denke, wenn wir eine Entwicklung indiesem Bereich wollen, müssen wir zum einen den eige-nen Bedarf feststellen. Wir alle sind uns miteinander ei-nig, dass wir zu Aufklärungszwecken für Heron einenNachfolger brauchen. Zum anderen müssen wir aberauch auf den Markt schauen: Wie können wir das, waswir an Entwicklungsinvestitionen hineinstecken, viel-leicht wieder zurückbekommen, indem wir etwa solcheGeräte verkaufen – natürlich nach unserem strikten Re-glement?
Dann ist der Gedanke ja nicht furchtbar fern liegend:Wenn ich schon unbemannt fliege und aufkläre, dannwill ich mit dieser Plattform, mit dieser Waffe auch wir-ken können. Das ist ja kein prinzipieller Unterschiedzum Einsatz von Artillerie beispielsweise. Artilleriesetzt man ein, damit der Feind nicht nahe an die eigenenLeute herankommt, indem man ihn schon in der Fernebekämpft. Insofern gibt es einen Weg, der die eigenenKräfte schont. Wenn ich die gleiche Wirkung im Ziel miteiner unbemannten Drohne erreichen kann, dann ist daseffizienter, als wenn ich dafür einen Piloten riskiere.Diese Diskussion muss man militärisch, ohne Schaumvor dem Mund und nach sachgerechten Kriterien führen.Tabuisierungen und so etwas helfen uns da überhauptnicht weiter.Ich will zum Abschluss, weil ich sehe, dass die Uhrgleich zu blinken anfängt, noch einmal deutlich zumAusdruck bringen, dass mir auch aus meiner Erfahrung,die ich jetzt wieder in der Wehrübung gemacht habe, ei-nes wichtig ist: Die Kameraden im Einsatz, Frauen wieMänner, sollen wissen, dass wir hier, auch gerade dieHaushälter, unseren Auftrag sehr ernst nehmen, sie soauszustatten, dass sie ihren Auftrag bestmöglich erfüllenkönnen.Es erfüllt mich mit Stolz, nicht nur als Berichterstatterzu diesem Einzelplan, sondern auch als Angehöriger derReserve, dass ich, wo immer ich mit Kräften von Part-nern und Freunden zusammenkomme, nur Gutes überdie deutschen Kameraden höre. Sie sind einsatzwillig.Sie haben hervorragende Fähigkeiten. Das ist ein Belegdafür, dass wir international hoch angesehen sind. Diesleisten unsere Kameraden, die im Einsatz sind, und dieKameraden, die in den Heimatbereichen ihren schwerenDienst tun.Zum Abschluss dieses Tages, zum Abschluss dieserDebatte, dieses ersten Durchgangs der Beratungen desEinzelplans 14 sollte das ganze Haus unseren Kamera-den und Zivilbeschäftigten seinen Dank noch einmal miteinem kräftigen Applaus zum Ausdruck bringen.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Weitere Wortmeldungen zu diesem Einzelplan liegen
nicht vor.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Donnerstag, den 13. September
2012, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.