Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! DieSitzung ist eröffnet.Zunächst möchte ich einigen Kollegen zur Vollendungihres 60. Lebensjahres gratulieren: BundesministerDr. Peter Struck feierte am 24. Januar, AbgeordneterNorbert Königshofen feierte am 25. Januar und Abgeord-neter Wolfgang Spanier feiert heute seinen 60.Geburtstag.Beste Glückwünsche im Namen des ganzen Hauses!
Nun gibt es eine Reihe von Mitteilungen. Die Mitglie-derzahl im Ausschuss für Kultur und Medien soll auf ein-vernehmlichen Vorschlag aller Fraktionen von 15 auf17 Mitglieder erhöht werden. Sind Sie mit diesem Vor-schlag einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch.Dann ist so beschlossen.Sodann teile ich mit, dass die Fraktion des Bündnis-ses 90/Die Grünen in Abänderung ihres Wahlvorschlagesvom 16. Januar 2003 nunmehr FrauUlrike Poppe für denBeirat nach § 39 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes vor-schlägt. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinenWiderspruch. Damit ist Frau Poppe, die schon bisher Mit-glied im Beirat war, wieder gewählt.Gemäß § 93 aAbs. 6 unserer Geschäftsordnung ist vor-gesehen, dass Mitglieder des Europäischen Parlaments anden Sitzungen des Ausschusses für die Angelegenheitender Europäischen Union teilnehmen können. Die Zahlund Zusammensetzung ist in der Geschäftsordnung nichtvorgesehen und muss daher vom Plenum für die 15.Wahl-periode neu festgelegt werden. Die Fraktionen haben sicheinvernehmlich darauf verständigt, die Zahl auf insge-samt 14 mitwirkungsberechtigte Mitglieder des Europä-ischen Parlaments festzulegen. Davon entfallen auf dieCDU/CSU acht Mitglieder, auf die SPD fünf Mitgliederund auf Bündnis 90/Die Grünen ein Mitglied. Sind Sie mitdiesem Vorschlag einverstanden? – Ich höre keinen Wi-derspruch. Dann ist auch dies so beschlossen.Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundeneTagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnenvorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:Haltung der Bundesregierung zu den Auswirkungen ihrerSteuerpolitik auf die kommunalen Finanzen2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dagmar Wöhrl, Karl-Josef Laumann, Hartmut Schauerte, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der CDU/CSU: Grundsätzliche Kehrtwende inder Wirtschaftspolitik statt neuer Sonderregeln – Mittel-stand umfassend stärken– Drucksache 15/349 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Auswärtiger AusschussInnenausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaftAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für TourismusAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschuss3. Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Brüderle,Dr. Hermann Otto Solms, Gudrun Kopp, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der FDP: Neue Chancen für den Mittel-stand – Rahmenbedingungen verbessern, statt Förder-dschungel ausweiten– Drucksache 15/357 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Auswärtiger AusschussInnenausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaftAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für TourismusAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschuss4. Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und desBÜNDNISSES 90/Die GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003
Präsident Wolfgang ThierseGesetzes zurÄnderung derVorschriften über die Straftatengegen die sexuelle Selbstbesimmung und zur Änderung an-derer Vorschriften– Drucksache 15/350 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
InnenausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendVon der Frist für den Beginn der Beratung soll – soweiterforderlich – abgewichen werden.Außerdem wurde vereinbart, dass nach der ersten Be-ratung des Sexualstrafrechts-Änderungsgesetzes – das istZusatzpunkt 4 – die Reihenfolge der Beratungen wie folgtgeändert werden soll: Tagesordnungspunkt 8 – Transra-pidprojekt –, Tagesordnungspunkt 7 – Haltung von Nutz-tieren – und dann Tagesordnungspunkt 6 – Graffiti-Bekämpfungsgesetz.Darüber hinaus mache ich auf eine nachträgliche Über-weisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:Der in der 16. Sitzung des Deutschen Bundestages über-wiesene nachfolgende Entschließungsantrag soll zusätz-lich dem Finanzausschuss, dem Ausschuss für Wirtschaftund Arbeit und dem Ausschuss für Menschenrechte und hu-manitäre Hilfe zurMitberatung überwiesen werden.Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD unddes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: zu derAb-gabe einer Regierungserklärung durch denBundeskanzler zu den Ergebnissen des Euro-päischen Rates in Kopenhagen am 12. und13. Dezember 2002– Drucksache 15/215 –überwiesen:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auswärtiger AusschussAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaftSind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 3 sowie Zu-satzpunkte 2 und 3 – Beratung mehrerer Anträge zur Mit-telstandspolitik – auf:3. Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD unddes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENOffensive für den Mittelstand– Drucksache 15/351 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Auswärtiger AusschussInnenausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaftAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für TourismusAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten DagmarWöhrl, Karl-Josef Laumann, Hartmut Schauerte,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSUGrundsätzliche Kehrtwende in derWirtschafts-politik statt neuer Sonderregeln – Mittelstandumfassend stärken– Drucksache 15/349 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Auswärtiger AusschussInnenausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaftAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für TourismusAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten RainerBrüderle, Dr. Hermann Otto Solms, Gudrun Kopp,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDPNeue Chancen für den Mittelstand – Rahmen-bedingungen verbessern statt Förderdschungelausweiten– Drucksache 15/357 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Auswärtiger AusschussInnenausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung undLandwirtschaftAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für TourismusAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dieAussprache zweieinhalb Stunden vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort HerrnBundesminister Wolfgang Clement.Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaftund Arbeit:Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Aus dem Jahreswirtschaftsbericht ist gestern deutlichgeworden, dass wir mehr Wachstum und mehr Beschäfti-gung brauchen. Aus dem Wachstum heraus müssen mehrJobs entstehen. Dabei kommt dem Mittelstand, also denkleinen und mittleren Unternehmen, eine ganz besondereBedeutung zu. Um dieses Thema soll es heute gehen.Warum kommt den kleinen und mittleren Betriebeneine so große Bedeutung zu? – Etwa 70 Prozent aller ab-
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hängig Beschäftigten in Deutschland arbeiten in solchenUnternehmen. Vier von fünf Jugendlichen werden imMittelstand auf ihr Berufsleben vorbereitet. Rund dieHälfte der Bruttowertschöpfung, fast 50 Prozent, kommtaus kleinen und mittleren Unternehmen. Kurz gesagt:Wenn wir über den Mittelstand sprechen, dann sprechenwir über die Sicherung der wirtschaftlichen Zukunft un-seres Landes.Deshalb haben wir eine Mittelstandsoffensive auf denWeg gebracht. Damit wollen wir die Gründung von Un-ternehmen fördern. Wir brauchen eine Erneuerung, wirbrauchen eine Erweiterung unserer Unternehmensland-schaft, wir brauchen, um es auf den Punkt zu bringen,mehr Unternehmen. Das ist die wichtigste Voraussetzung,um mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Dazu müssen wirExistenzgründungen fördern und gleichzeitig die Rah-menbedingungen für die kleinen und mittleren Unterneh-men verbessern.Dass der Ansatz – oder, um es Ihnen leichter zu ma-chen, die Absicht – der Mittelstandsoffensive richtig ist,zeigt sich an außerordentlich vielen positiven Reaktionen,die wir auf diese Aktivität hin erhalten. Ich möchte Ihnen,verehrte Kolleginnen und Kollegen, gerne die wichtigstenBausteine dieser Mittelstandsoffensive darstellen.Der erste Baustein: Es geht uns um die Förderung vonExistenzgründungen und um die Förderung von klein-und kleinstgewerblichen Unternehmen. Wir wollen dieStartbedingungen für Unternehmensgründungen undgleichzeitig die Arbeitsbedingungen für das Kleinge-werbe verbessern. Dazu wollen wir in den nächsten Wo-chen etwas auf den Weg bringen, was wir auf eine Anre-gung des DIHK-Präsidenten, Herrn Braun, hin einenSmall-Business-Act genannt haben. Das bedeutet, dasses zu grundlegenden Vereinfachungen und Entlastungenfür Gründungsunternehmen und Kleinstunternehmenkommen wird. Dabei gehen wir bewusst einen Schrittweiter, als uns die Hartz-Kommission nahe gelegt hat. Indiese Aktivitäten beziehen wir nicht nur – wie dies beiHartz vorgesehen ist – die Existenzgründer, sondern auch– wie gesagt – existierende kleine Unternehmen ein.Das Konzept basiert auf drei Säulen:Erstens. Kleinstunternehmen können bei der Einkom-mensteuer künftig einen pauschalierten Betriebsausga-benabzug in der Größenordnung von 50 Prozent der Ein-nahmen geltend machen. Damit wird die steuerlicheGewinnermittlung grundlegend vereinfacht.Zweitens. Umfangreiche und komplizierte Buch-führungs- und Aufzeichnungspflichten der Kleinstunter-nehmen entfallen.Drittens. In diesem Bereich fallen keine Umsatzsteuer-pflichten mehr an, das heißt, die steuerlichen Erklärungs-pflichten werden auf ein Minimum reduziert.Dieses Konzept werden wir sehr rasch umsetzen. In ei-nem ersten Schritt profitieren rückwirkend zum 1. Januar2003 bereits solche Kleinstunternehmen, die einen Um-satz von bis zu – diese Grenze ist allerdings sehr niedrig –17 500 Euro aufweisen. Ein Jahr später, also zum 1. Januar2004, wollen wir – vorbehaltlich der Zustimmung durchdie Europäische Kommission – die Umsatzgrenze fürKleinstunternehmen in einem zweiten Schritt auf35 000 Euro anheben.
Wir wollen die Selbstständigkeit durch einen erleich-terten Berufszugang im Handwerk und bei nicht hand-werklichen Existenzgründungen fördern. Um dieses Zielzu erreichen, ist es notwendig, dass der Liberalisierungs-prozess im Handwerk fortgeführt wird und dass nichtmehr notwendige Regulierungen abgebaut werden. Darü-ber sind wir – wie schon mehrfach besprochen – mit demHandwerk im Gespräch. Herr Kollege Laumann hat michgestern daran erinnert, dass wir im Vermittlungsverfahrenbesprochen hatten, dass wir diese Gespräche gemeinsamfortsetzen wollen. Das werden wir gerne tun.
Im Handwerk geht es zum Beispiel um Erleichterungenbei der Zulassung zur Meisterprüfung. Dabei stellt sichdie Frage, ob die Berufserfahrung als Zulassungsvoraus-setzung für die Meisterprüfung gestrichen werden soll. Bis-her müssen nach der Gesellenprüfung sieben Jahre abge-wartet werden. Daneben geht es um Anreize für Gesellen,die Meisterprüfung möglichst rasch nach der Gesellenprü-fung abzulegen. Man könnte dies als Freischussregelung– dies ist nicht martialisch gemeint – bezeichnen. Auch beiden Juristen – diese sind schon gar nicht martialisch – exis-tiert diese ja. Wir wollen das Bild der Meisterprüfung prä-zisieren und klarstellen, was ein Meister für sein Gewerbetatsächlich beherrschen muss. Es stellt sich die Frage, ob al-les, was heute gefordert wird, vernünftig ist. Wir wollen,dass Teile der Gesellenprüfung auf die Meisterprüfung an-gerechnet werden können. Andere Anrechnungsmöglich-keiten diskutieren wir ebenfalls.Wir sind noch nicht ganz am Ziel und suchen eine ein-vernehmliche Lösung mit dem Handwerk. Dies soll – wieich zugesagt habe – nicht von oben herab geschehen. Ichhoffe, wir kommen dabei voran.Wir wollen Unternehmensgründer, die eine Ertrags-grenze von 25 000 Euro aufweisen, in den ersten vier Jah-ren von den Beitragszahlungen an die Industrie- und Han-delskammern – diese sind damit einverstanden – und andie Handwerkskammern – diese sind noch nicht ganz ein-verstanden – befreien.Ein weiteres Anliegen ist eine bessere soziale Absiche-rung der Selbstständigen. Sie tragen nicht nur die Verant-wortung für ihre Beschäftigten, sondern sie tragen auchein eigenes hohes finanzielles Risiko. Deshalb wollen wirdie Selbstständigen besser absichern und diskutieren wirmit der Justizministerin – sie ist dafür federführend zu-ständig – eine Verbesserung des Pfändungsschutzes, bei-spielsweise in Bezug auf die private Altersvorsorge.Daneben gibt es natürlich auch hier das Thema Ent-bürokratisierung. Dabei geht es uns zunächst einmal umeine schnellere Eintragung ins Handelsregister. Das allesdauert viel zu lange. Des Weiteren sollen – wenn irgendwiemöglich – die Kosten für diese Eintragung gesenkt werden.Neben diesem so genannten Small-Business-Actplanen wir weitere Maßnahmen zur Förderung derBundesminister Wolfgang Clement
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Bundesminister Wolfgang ClementSelbstständigkeit. Beispielsweise wollen wir für Gründe-rinnen und Gründer sowie für den Mittelstand insgesamtdas Beratungs- und Gründungs-Know-how zu Servicean-geboten bündeln.Wir wollen den unternehmerischen Generationswechselweiter fördern. Wir fördern ihn schon heute. Wir wollen dieEinrichtung weiterer Börsen im Internetportal zur Unter-nehmensnachfolge „nexxt“ ausweiten und uns verstärkt anExistenzgründer wenden, denen wir über die Unterneh-mensnachfolge – das ist sehr wichtig, weil in den Unter-nehmen ständig Generationswechsel stattfinden, ohne dieein existierendes Unternehmen nicht erhalten werdenkann – den Weg in die Selbstständigkeit nahe legen.Es geht im zweiten Baustein um die Finanzierung desMittelstandes. Wie Sie wissen, haben wir die KfW unddie Deutsche Ausgleichsbank zusammengelegt. Bereitsbisher unterstützen sie diesen Weg faktisch. Jetzt soll diesüber die Gesetzgebung festgeschrieben werden. Damitwerden – das geschieht in der Realität schon – alle För-derprogramme unter einem Dach der Mittelstandsbankdes Bundes zusammengeführt. Die beiden Banken bün-deln so ihre Kraft und ihr Wissen zu einem übersichtli-chen Förderangebot als Mittelstandsbank des Bundes in-nerhalb der KfW-Gruppe.Durch die Neustrukturierung der Förderprogrammewerden die Antragstellung vereinfacht und die Transpa-renz erhöht. Dem Mittelstand steht somit in Finanzie-rungsfragen ein Ansprechpartner zur Verfügung. Dazugehört beispielsweise auch ein Beratungs- und Betreu-ungsangebot, wie wir es von der Deutschen Ausgleichs-bank kennen, angefangen von der Gründungsberatungüber das Thema Generationswechsel bis hin zu den Run-den Tischen, die die Deutsche Ausgleichsbank in ganzDeutschland, insbesondere in Ostdeutschland durchge-führt hat.Die Tatsache, dass es nur noch einen Ansprechpartnergibt, bedeutet natürlich auch einfachere und kostengüns-tigere Verfahren für die Partner der Kreditwirtschaft. Da-durch werden sich die Chancen der mittelständischen Un-ternehmen auf günstige Finanzierungsmittel erhöhen. Dasist eines der wichtigsten Themen, mit denen wir es zu tunhaben.
Die kleinen und mittleren Unternehmen haben erheb-liche Kredit- und Eigenkapitalprobleme. Das sind, wiewir alle wissen, keine politischen Probleme, sondern Pro-bleme des Kreditgewerbes.
– Darüber mögen Sie schmunzeln. Wir können uns gernedarüber unterhalten. Die Probleme des Kreditgewerbessind allerdings nicht zum Schmunzeln. Das Kreditge-werbe, insbesondere das private Bankengewerbe, hat sichnicht rechtzeitig auf Umstrukturierungsnotwendigkeiteneingestellt, um das klar zu sagen.Wir haben die Programme auf den Weg gebracht. Dazugehört beispielsweise auch das Programm „Kapital für Ar-beit“, mit dem die Beschäftigung von Arbeitslosen in ei-nem Unternehmen mit einem Kredit bis zu 100000 Eurobegleitet wird, davon bis zu 50 000 Euro zur Eigenkapi-talbildung. Es ist gut angelaufen und läuft inzwischen im-mer besser. Die Kreditanstalt für Wiederaufbau erwartet,dass in diesem Jahr über dieses Kreditprogramm 1,2 Mil-liarden Euro abgerufen werden. Damit würden über die-ses Kreditprogramm 12 000 Arbeitsplätze eingerichtetund gefördert. Das ist nicht wenig. Die „Richterskala“ istnach oben offen. Wir hoffen in diesem Sektor natürlichauf noch mehr Bewegung.Ich will in diesem Zusammenhang noch ein Thema an-sprechen, das die mittelständischen Unternehmen zuneh-mend belastet, nämlich die schlechte Zahlungsmoral inDeutschland. Die Zahlungssäumigkeit von Auftraggebernweitet sich für die mittelständische Wirtschaft, insbeson-dere für das Handwerk, zu einem existenzgefährdendenProblem aus. Leider – so muss man sagen – zeigt sichdiese Tendenz zur Zahlungssäumigkeit auch bei Aufträ-gen der öffentlichen Hand.
Ich trete den Kommunen nicht zu nahe, wenn ich sage,dass dies vor allen Dingen ein Problem der Städte und Ge-meinden ist.Die Bundesregierung hatte bereits in der letzten Legis-laturperiode mit dem Gesetz zur Beschleunigung fälligerZahlungen auf diese Entwicklung reagiert und verschie-dene Möglichkeiten eingeführt, mit denen Gläubiger ihreberechtigten Ansprüche schneller durchsetzen können.Die Praxis zeigt aber leider, dass es die durchwegschwächeren Gläubiger, beispielsweise Handwerksunter-nehmen, aus Sorge um das Ausbleiben von Anschlussauf-trägen oft nicht wagen, die Möglichkeiten dieses Gesetzeszu nutzen. Manchen ist das Gesetz auch nicht bekannt.Wir werden zunächst die mittelständische Wirtschaft,insbesondere die kleinen Betriebe, verstärkt über dieMöglichkeiten informieren, die nach derzeitiger Geset-zeslage die Durchsetzung praktischer und berechtigterAnsprüche erleichtern und beschleunigen. Wir wollen unsdann mit dem Zentralverband des Deutschen Handwerksund dem Deutschen Industrie- und Handelskammertag in-tensiv um die Entschärfung dieses Problems kümmern.Wir werden dazu Gespräche mit den Ländern führen undVorschläge erörtern, die wir dann in diesem Hohen Hausberaten können.Der dritte Baustein betrifft den Bürokratieabbau.Ummehr Wachstum und Beschäftigung zu bewirken, müssenwir bürokratische Fesseln lösen und Hindernisse beseiti-gen, die die Wirtschaft und insbesondere den Mittelstandhemmen. Dieser Überzeugung haben wir bereits erste Ta-ten folgen lassen. Gemeinsam haben wir beispielsweisedie geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse von büro-kratischem Ballast befreit.
Diese Regelung tritt am 1. April in Kraft.
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– Sie waren dabei eine wirkliche Hilfe.
Für den Fall, dass Sie es noch nicht gelesen haben sollten,mache ich Sie darauf aufmerksam, dass es am 1.April Ge-setzeskraft erlangen wird.Unsere Vorschläge zum Langzeitthema Ladenschluss-gesetz liegen dem Hohen Hause ebenfalls vor. Fortset-zung folgt: Ich erwähne beispielsweise die von Frau Kol-legin Zypries vorgesehene Reform des Gesetzes gegenden unlauteren Wettbewerb, bei der die bislang durch unddurch geregelten Sonderaktionen von bürokratischen Fes-seln befreit werden sollen.Des Weiteren nenne ich den Gesetzentwurf Hartz III,der sich mit dem Umbau der Bundesanstalt für Arbeitzu einem wirklichen Bundesunternehmen für Arbeitsver-mittlung beschäftigen wird. Der Vorstand der Bundes-anstalt arbeitet bereits daran. Wir werden dies gesetzlichfundieren.Zum Thema Bürokratieabbau liegt uns inzwischeneine Vielzahl von Anregungen aus der Wirtschaft und vonder gewerkschaftlichen Seite vor. Diese Anregungen wer-den geprüft und dort umgesetzt, wo es möglich und sinn-voll ist.An dieser Stelle weise ich zur Klarstellung und zur Ver-meidung allzu hoher Erwartungen hinsichtlich des Um-setzungstempos darauf hin, dass Veröffentlichungen vomheutigen Tage, die eine tabellarische Übersicht über allesbeim Thema Bürokratieabbau Denkbare und Wünschens-werte enthalten, lediglich eine gute Übersicht darstellen,aber keine politische Verbindlichkeit beanspruchen kön-nen. Es handelt sich um ein Papier aus dem Wirtschafts-ministerium, wie es so schön heißt, aber nicht um ein Pa-pier des Wirtschaftsministeriums und schon gar nicht umein Papier des Wirtschaftsministers. Wir werden bei die-sem Thema also weiterhin von Fall zu Fall miteinanderringen und diskutieren müssen.
Meine Damen und Herren, wir wollen das Ganze oh-nehin nicht in Einzelpunkte aufdröseln, sondern unter derFederführung des Bundesinnenministers in einem Mas-terplan zusammenführen. Ein solches Konzept zum Bü-rokratieabbau wird die Bundesregierung voraussichtlichim Februar beraten; danach werden wir Ihnen unsere Vor-schläge vorlegen.Da ich mich nun mit diesem Thema intensiver be-schäftigt habe, finde ich Folgendes bemerkenswert: Allegesellschaftlichen Gruppen haben sich mit dem ThemaBürokratieabbau auseinander zu setzen. Wer sich bei-spielsweise mit den Gebührenordnungen und sonstigenRegelungen befasst, die einzelne Berufsgruppen sich auf-erlegt haben oder vom Staat erwarten, wird auf interes-sante Dinge stoßen, die über Jahrzehnte entstanden sind.Das gilt nicht nur für das Handwerk, sondern beispiels-weise auch für Architekten, Ingenieure, Rechtsanwälte,Steuerberater und Schornsteinfeger. Alle ehrenwerten Be-rufe haben sich in Deutschland mit einem Netz von Re-geln und Normen umgeben und wünschen solche Normenauch weiterhin vom Staat. Oft finde ich diejenigen, diesolche Normen vom Staat erwarten, unter denen, die rela-tiv laut Bürokratieabbau, Deregulierung und Ähnlichesvon uns fordern.
Es ist gut, wenn wir uns allesamt mit diesem Themabeschäftigen und jeder in seinem Sprengel einmal schaut,welche Regelungen man vielleicht schon freiwillig ab-schaffen kann. Das wäre bereits ein gewaltiger Beitrag zumBürokratieabbau und zur Deregulierung in Deutschland.
Ein vierter Baustein betrifft die Ausbildung: Die För-derung der Berufsausbildung ist in diesen Tagen zuRecht wieder in den Mittelpunkt gerückt. Sie ist dringendnotwendig, da wir mehr Ausbildungsplätze brauchen.Auch brauchen wir eine Reform der Berufsausbildung.
Unser Versprechen muss eingehalten werden und es istnur einzuhalten, wenn alle mittun – an diesem Punkt hatPeter Hartz absolut Recht –: wenn das Problem in allenStädten und Gemeinden angegangen wird und wenn sichdiejenigen, die Verantwortung tragen, zusammentun unddarüber nachdenken, wie man mehr Ausbildungsplätzemobilisieren kann.Eine gute Ausbildung – das wissen wir alle – ist die Vo-raussetzung für einen Erfolg am Arbeitsmarkt. Um mög-lichst allen Jugendlichen einen Ausbildungsplatz anbietenzu können, planen auch wir einige Maßnahmen: bei-spielsweise Erleichterungen für Betriebe und insbeson-dere für junge Unternehmen beim Erwerb der Ausbil-dungsbefugnis.Meine Damen und Herren, verehrte Kolleginnen undKollegen, wir müssen uns folgenden Sachverhalt vor Au-gen führen: 44 Prozent der Betriebe in den alten Bundes-ländern und 51 Prozent der Betriebe in den neuen Bun-desländern sind zurzeit nicht ausbildungsberechtigt. Dasheißt, rund die Hälfte der Betriebe haben überhaupt keineBerechtigung, junge Menschen auszubilden. Dies istnicht vernünftig; so kann es nicht funktionieren. Deshalbmüssen, wollen und werden wir die Ausbildereignungs-verordnung vereinfachen. Um es ganz vorsichtig zu sa-gen: Künftig muss es möglich sein, dass auch junge Un-ternehmen ausbilden können. Viele von ihnen haben Spaßund Freude daran und wir müssen sie unterstützen. Mankann sie auch finanziell unterstützen, beispielsweise ausprivaten Stiftungen, die noch aufzubauen wären. Aberman muss es auch tun, indem wir die rechtlichen Bedin-gungen dafür verändern. Gemeinsam mit meiner KolleginBulmahn setze ich mich dafür ein, die Ausbildungsord-nungen weiter zu entschlacken und sie konsequenter alsbisher auf die betrieblichen Möglichkeiten und auch aufdie Belange des Mittelstandes auszurichten.Das bedeutet auch, dass wir mehr differenzierte, mehr ar-beitsmarktfähige und mehr zweijährige AusbildungsberufeBundesminister Wolfgang Clement
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Bundesminister Wolfgang Clementbrauchen, um allen Jugendlichen eine Erfolg verspre-chende Ausbildung zu ermöglichen. Nicht alle Jugendli-chen sind – Gott sei Dank – über einen Leisten zu schla-gen, genauso wenig wie wir. Deshalb kann man nicht allegleichmäßig über den Leisten einer dreieinhalbjährigenAusbildung schlagen. Man muss vielmehr unterschiedli-che, differenzierte Ausbildungsmöglichkeiten anbieten.
Übrigens hat es sich bewährt, Unternehmen zu ermuti-gen, Patenschaften bzw. Partnerschaften mit Schulen ein-zugehen. Die Unternehmen profitieren davon, weil solcheSchulen sehr viel stärker auf den Arbeitsmarkt und dasWirtschaftsleben ausgerichtet sind. Umgekehrt könnenauch die Schulen sehr davon profitieren, wenn sie mit ei-nem Betrieb enger verbunden sind. Beispielsweise kannsich das positiv – das zeigen Erfahrungen einer Studie, diemit Förderung der Bertelsmann-Stiftung durchgeführtworden ist – auf die technische Ausstattung der Schulenauswirken.Ich möchte – das ist der fünfte Baustein – noch gerneauf die Außenwirtschaftsinitiative hinweisen, die wir sehrstark auf den Mittelstand ausrichten, indem wir insbeson-dere versuchen, den Zugang zu den Hermes-Exportbürg-schaften und zu Investitionsgarantien zu erleichtern. Wirmachen ihn auch mittelstandsfreundlicher, indem wir nurnoch kleine und mittlere Unternehmen mit unserem Mes-seprogramm fördern. Große Unternehmen finden ja al-leine den Weg ins Ausland. Ich will hier besonders daraufhinweisen, dass es für Ostdeutschland wichtig ist, denProzess des EU-Beitritts der mittel- und osteuropäischenStaaten als eine große Chance für Deutschland zu verste-hen. Wir, Herr Kollege Stolpe und ich, planen deshalbauch in Ostdeutschland Begegnungen und Konferenzenmit Unternehmern aus den mittel- und osteuropäischenBeitrittsländern, um den Markt für beide Seiten transpa-renter und damit erfolgversprechender zu machen.
Das sind die Kernthemen unserer Mittelstandsoffen-sive, das heißt unseres Bemühens, mehr Existenzgrün-dungen zuwege zu bringen. Die Selbstständigenquote inDeutschland liegt momentan bei 9 Prozent. Wir brauchenaber eine von 14 Prozent. Wenn wir – theoretisch gespro-chen – diese europäische Durchschnittsquote bei denSelbstständigen erreichen, dann haben wir eine guteChance, das Arbeitsmarktproblem in den Griff zu bekom-men. Wir müssen deshalb den kleinen und mittleren Un-ternehmen das Leben und das Arbeiten erleichtern. Daswollen wir auch tun. Der Erfolg entscheidet über Wachs-tum und Beschäftigung.Ich denke, dass wir uns über die Ziele einig sind. Überdie Wege zum Erreichen der Ziele werden wir zu disku-tieren haben. Aber es kommt darauf an, aus den Zielen sorasch wie möglich Taten und konkrete Entwicklungen zumachen.Ich danke Ihnen sehr für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Friedrich Merz,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Wer in diesem Haus will bestreiten, dass der Mittel-stand in Deutschland die tragende Säule unserer Volks-wirtschaft ist? Wer will bestreiten, dass wir gerade unserpolitisches Augenmerk auf die Stärkung und Förderungdes Mittelstands richten müssen, wenn wir aus der schwe-ren strukturellen Wachstums- und Beschäftigungskriseunseres Landes wieder herausfinden wollen? Aber mitkleinen Programmen lassen sich die schweren makroöko-nomischen Verwerfungen unserer Volkswirtschaft nichtbeseitigen. Wer nicht an den grundlegenden Vorausset-zungen für Aufschwung und Beschäftigung arbeitet, derwird auch mit noch so gut gemeinter Mittelstandsrhetorikund mit noch so gut gemeinten Programmen für alle mög-lichen staatlichen Institutionen dieses Land nicht aus derKrise führen.
Herr Bundeswirtschaftsminister, Sie haben gesternden Jahreswirtschaftsbericht vorgelegt. Wir begrüßenausdrücklich, dass der Bundeswirtschaftsminister wie-der dafür zuständig ist. Aber Sie haben durch die Aus-weitung der Zuständigkeiten Ihres Hauses nicht nurdie Zuständigkeit für die Wirtschaftspolitik im umfas-senden Sinn und die Zuständigkeit für den Jahres-wirtschaftsbericht zurückbekommen, sondern auch dieZuständigkeit für die Arbeitsmarktpolitik hinzubekom-men. Dies ist eine richtige strukturelle Entscheidung,die in der Bundesregierung getroffen worden ist. Sieüberantwortet Ihnen aber auch im umfassenden Sinnedie Verantwortung für die Wirtschaftspolitik und die Ar-beitsmarktpolitik.Angesichts dessen wäre es gut gewesen, wenn Sieheute Morgen nicht nur auf die – im Einzelnen durchausdiskussionswürdigen – Programme der Kreditanstalt fürWiederaufbau und auf alle möglichen Vorschläge, auchaus Ihrem Hause, Bezug genommen hätten. Wir haben er-wartet, dass Sie etwas zu den grundlegenden Problemenunseres Landes sagen; wir haben erwartet, dass Sie etwaszu der grundlegenden Wachstums- und Beschäftigungs-krise dieses Landes sagen.
Sie werden auch mit einer noch so gut gemeinten Mit-telstandsrhetorik aus diesen strukturellen Problemen nichtherausfinden. Deutschland hat im Jahre 2002 ein Wirt-schaftswachstum von 0,2 Prozent gehabt. Wir lagen da-mit wieder auf dem letzten Platz in der EuropäischenUnion. Es wäre gut, wenn Sie, Herr Bundeswirtschafts-minister, und noch mehr Sie, Herr Bundeskanzler, endlichaufhören würden, das Problem der Wachstumsschwächein Deutschland damit zu erklären, dass es Unsicherheitenin der Weltkonjunktur gibt. Das Problem, das wir in
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Deutschland haben, hat mit der Weltkonjunktur praktischnichts zu tun.
Die Weltwirtschaft ist im Jahre 2002 um 3,7 Prozentgewachsen. Der Export aus Deutschland hat damit zwarnicht Schritt gehalten; aber er ist immerhin stärker als dieBinnenwirtschaft gewachsen. Dass wir überhaupt nochein geringfügiges Wirtschaftswachstum – es lag knappoberhalb der Nachweisgrenze – gehabt haben, ist dem Ex-port zu verdanken und nicht der Binnenkonjunktur. Mitt-lerweile sprechen viele europäische Länder – wie ichfinde, zu Recht – von der „deutschen Krankheit“. Das ei-gentliche Problem ist die Wirtschaftspolitik der rot-grü-nen Bundesregierung seit vier Jahren.
Herr Bundeskanzler, Sie verantworten 37 000 Kon-kurse im Jahre 2002. Die meisten zusammengebrochenenUnternehmen waren kleine und mittelständische Be-triebe, also Unternehmen der mittelständischen Wirt-schaft, und nur wenige große. Sie haben vor Jahr und Tagdas Ziel formuliert, die Anzahl der Arbeitslosen inDeutschland auf 3,5 Millionen zu senken. Daran wolltenSie sich über den gesamten Verlauf der letzten Wahlpe-riode messen lassen.
Zu Beginn dieser Wahlperiode, in der Sie leider immernoch regieren, haben wir 4,5 Millionen Arbeitslose. HerrBundeskanzler, das ist mindestens 1 Million zu viel. Essind Ihre Arbeitslosen, weil es Ihre Wirtschaftspolitik undIhre Arbeitsmarktpolitik ist, die in der Zahl der Arbeits-losen zum Ausdruck kommt.
Bedauerlicherweise sagt der Bundeswirtschaftsmi-nister weder in seinem Jahreswirtschaftsbericht vom ges-trigen Tag noch in seiner Rede zur Mittelstandspolitik amheutigen Tag etwas zu den langfristigen Entwicklungender zentralen Rahmendaten unserer Volkswirtschaft. Da-zu gehört – ob Sie es nun hören wollen oder nicht – dieEntwicklung der Staatsquote. Wir können in diesemHaus – wir tun das seit langer Zeit – über Mittelstand, überWirtschaft sowie über Beschäftigung lange streiten unddiskutieren und dabei viele einzelne Schritte gehen. Wenndie Staatsquote dieses Landes nicht langfristig zurückge-führt wird, wenn die Freiräume für Wirtschaft und Be-schäftigung nicht vergrößert werden, dann werden alleBemühungen vergebens sein. Ein Land, das eine Staats-quote von fast 50 Prozent hat, bzw. eine Volkswirtschaft,in der fast die Hälfte des Sozialprodukts durch Steuernund Sozialversicherungsbeiträge absorbiert wird, weil diestaatlichen Institutionen dieses Geld brauchen, ist inWahrheit keine soziale Marktwirtschaft mehr; sie ist eineStaatswirtschaft mit abnehmendem privaten Sektor.
Gerade für kleine und mittlere Unternehmen ist eineabnehmende Staatsquote, also ein geringerer Anteil desStaatsverbrauchs am Sozialprodukt, die Existenzbedin-gung schlechthin.
Kleine und mittlere Unternehmen werden in diesemLande nur dann dauerhaft eine Chance haben, wenn sieweniger Steuern und weniger Sozialversicherungs-beiträge zahlen müssen. Im Klartext: Kleinere und mitt-lere Unternehmen werden in diesem Lande nur dann dau-erhaft eine Chance haben, wenn der Staat weniger vondem Sozialprodukt verbraucht, das die Unternehmen er-wirtschaften.
Wenn Sie diese Zusammenhänge in einer so wichtigenDebatte über die Zukunft des Mittelstandes noch nichteinmal erwähnen, meine Damen und Herren von der rot-grünen Koalition, dann befürchte ich, dass es auch imJahre 2003 mit der Volkswirtschaft in Deutschland nichtbesser laufen wird als im Jahre 2002.Wir haben nun in wenigen Stunden den ersten Monatdes Jahres 2003 hinter uns. Sie, Herr Bundeswirtschafts-minister, reden zu Recht von Bürokratieabbau. Ich habeIhnen das vor einiger Zeit von dieser Stelle aus schon ein-mal gesagt: Der Bund hat in der letzten Wahlperiode, der14., insgesamt 391 neue Gesetze und 973 neue Rechts-verordnungen erlassen. Das war sozusagen das Programmfür Bürokratieabbau in der letzten Wahlperiode. Jetztsprechen Sie wiederum von Bürokratieabbau.Wenn wirmorgen in das Wochenende gehen und die ersten 100Tageder neuen rot-grünen Bundesregierung, die fast die alteist, vorbei sind, dann werden in diesem Land erneut22 neue Gesetze und fast 100 Rechtsverordnungen inKraft getreten sein. Ein Land, in dem der Staat sich in ei-ner solchen Überregulierung verfängt und in dem die Ge-sellschaft daran glaubt, dass das Leben nur noch durchGesetze und Verordnungen und nicht mehr durch Unter-nehmen und Arbeitnehmer, die auch frei etwas entschei-den können, geregelt werden kann, wird aus der Beschäf-tigungskrise nicht herausfinden.
Zu den besonders schwer wiegenden Fehlentscheidun-gen der rot-grünen Koalition gehört die Steuerpolitik.
Wir haben gegen Ende des letzten Jahres den Jahres-wirtschaftsbericht diskutiert. Der Sachverständigenrat hat20 Vorschläge gemacht, wie man aus der Wachstums- undBeschäftigungskrise herausfinden kann. Herr Bundesfi-nanzminister und Herr Bundeswirtschaftsminister, Steu-ererhöhungen sind in der Liste dieser 20 Vorschläge desSachverständigenrates nicht enthalten gewesen. Sie habenzum 1. Januar 2003 eine hohe Zahl neuer Steuererhöhun-gen in Kraft treten lassen und Sie muten uns jetzt allenErnstes im Zusammenhang mit dieser MittelstandsdebatteFriedrich Merz
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Friedrich Merzzu, dass wir in wenigen Tagen nach Ihrem Willen erneutüber mehr als 40 weitere neue Steuererhöhungen be-schließen sollen.Glaubt denn irgendjemand in diesem Haus im Ernst,dass der Mittelstand in Deutschland so wieder auf dieFüße kommt? Glaubt irgendjemand im Ernst, dass Sie mitnoch höheren Steuern und Sozialversicherungsbeiträgenund noch mehr Belastungen in diesem Lande wieder mehrBeschäftigung in den kleinen und mittleren Betrieben er-reichen können? Das glatte Gegenteil wird eintreten:Wenn Sie so weitermachen, stehen wir zu Beginn des Jah-res 2003 wahrscheinlich am Anfang des Jahres mit derschwersten Wirtschaftskrise, die dieses Land in seiner Ge-schichte erlebt haben wird, weil Sie immer noch nicht ver-standen haben, was die Grundbedingungen für eine ge-sunde Volkswirtschaft sind, und immer noch nichteingesehen haben, welche gravierenden Fehler Sie ge-macht haben.
Ich will das anhand eines ganz konkreten Beispiels,Herr Bundeswirtschaftsminister, zu belegen versuchen.Dieses Steuersubventionsabbaugesetz,was Ihr Nachbarzur Linken jetzt vorgelegt hat, ist ein Gesetz, mit dem Sieeinen Marketingerfolg erzielt haben. So glauben aufgrundder Überschrift immer noch einige Journalisten, es han-dele sich um einen Beitrag zur Sanierung der Staatsfinan-zen. In Wahrheit ist es ein Steuererhöhungsgesetz, dessenVolumen in den nächsten vier Jahren mindestens 20, mög-licherweise 30 Milliarden Euro an Belastungen für Wirt-schaft und Arbeitsplätze in Deutschland entspricht. Sieverkünden hier vor diesem Hintergrund voller Stolz, dassSie steuerliche Entlastungen für den Mittelstand zwischen35 und 60 Millionen Euro mit Ihrem Mittelstandsförde-rungsprogramm auf den Weg bringen.Herr Bundeswirtschaftsminister, wenn in diesen Tagenjemand seine Bilanz für das letzte Jahr erstellt, wird erdarin kaum noch Gewinne ausweisen können. Wenn erdann unter Einbeziehung der Vorschläge des Bundeskabi-netts und der Steuererhöhungen, die jetzt bevorstehen, indas Jahr 2003 hineinblickt, muss es ihm wie Hohn vor-kommen, dass Sie jetzt eine steuerliche Entlastung vor-schlagen, der auf der anderen Seite höhere Belastungen,
die auf die Volkswirtschaft und damit auf die mittelstän-dischen Betriebe zukommen, gegenüberstehen.
Ich will in dem Zusammenhang nur der Vollständigkeithalber sagen: Der Bundesfinanzminister konnte natürlichleichter Hand zustimmen, bis zu einem Umsatz von17 500 Euro im Jahr einen pauschalen Betriebsausgaben-abzug zuzulassen. Zeigen Sie mir einmal ein Unterneh-men, ein ganz kleines, ein kleines, ein mittleres oder eingroßes, das 50 Prozent Umsatzrendite macht, Herr Bun-deswirtschaftsminister.Das ist doch geradezu lächerlich. Da können Sie auch175 000 Euro hinschreiben; es gibt kein Unternehmen,das allen Ernstes von einem pauschalen Betriebsausga-benabzug in der Größenordnung von 50 Prozent profitiert.Das ist ein Popanz, den Sie hier mit schönen Worten auf-bauen und der mit der wirtschaftlichen Realität inDeutschland nichts, aber auch gar nichts zu tun hat.
Sie haben uns schon im Oktober des letzten Jahresvoller Stolz ein Programmmit dem Namen „Kapital fürArbeit“ vorgestellt, das bei der Kreditanstalt für Wieder-aufbau eingerichtet worden ist, einer Bank, die jetzt denschönen Namen Mittelstandsbank tragen soll; das ist alsokeine neue Institution, sie bekommt nur ein neues Tür-schild. Die Bilanz dieses Programms „Kapital für Arbeit“sieht nach zweieinhalb Monaten wie folgt aus: Bis MitteJanuar sind in zweieinhalb Monaten, zehn Wochen, ins-gesamt 121 Anträge bewilligt worden
mit einer Fördersumme von 32,5 Millionen Euro. Damitsind rund 860 Arbeitsplätze in Deutschland gefördertworden.Herr Bundeswirtschaftsminister, in Deutschland ma-chen jeden Werktag 200 Unternehmen Pleite. Wenn manunterstellt, dass dadurch „nur“ – in Anführungsstrichen –zehn Arbeitsplätze pro Unternehmen damit verloren ge-hen, dann gehen durch die Wirtschaftspolitik dieser rot-grünen Bundesregierung jeden Tag mehr als doppelt soviel Arbeitsplätze verloren, wie Sie in zweieinhalb Mona-ten mit dem so aufwendig verkauften Programm „Kapitalfür Arbeit“ in Deutschland neu geschaffen haben. SehenSie nicht die Relationen zwischen dem, was Sie auf der ei-nen Seite tun, und dem, was Sie auf der anderen Seitedurch die für unsere Volkswirtschaft schwer wiegendenVerwerfungen und diesen Nachkriegsrekord an Unterneh-menskonkursen in Deutschland zulassen?
Ich weise auf eine Kostenbelastung hin, die in den letz-ten Wochen und Monaten praktisch außerhalb des Fokusder deutschen Öffentlichkeit und außerhalb der Betrach-tung der politischen Diskussion geblieben ist – bedauer-licherweise, wie ich finde –: die Entwicklung der Ener-giekosten in Deutschland. Meine Damen und Herren, invier Jahren Rot-Grün hat sich die Steuer auf Strom vonungefähr 2 Milliarden Euro im Jahr auf jetzt über 12 Mil-liarden Euro pro Jahr fast versechsfacht. Sie haben dieSteuerbelastung auf Energie, auf Strom – damit sind alleUnternehmen unmittelbar betroffen – in den vier JahrenIhrer Amtszeit fast versechsfacht.
Das heißt im Klartext, Sie haben durch diese steuerliche Be-lastung auf den Faktor Energie – Energiekosten sind einwichtiger Bestandteil jedes Unternehmens, auch mit Blickauf den unternehmerischen Erfolg – praktisch den gesamtenRationalisierungs- und Liberalisierungsgewinn abgeschöpft
und auf diese Weise dafür gesorgt, dass trotz des Wettbe-werbs und sinkender Preise in Deutschland im Ergebnis
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mittlerweile mit die höchsten Energiepreise in der gesam-ten Europäischen Union bestehen.Was nützt Ihr Mittelstandsprogramm, wenn zu demsel-ben Zeitpunkt diejenigen, die hier wettbewerbsfähige Be-triebe aufbauen sollen, immer höhere Steuern und immerhöhere Energiekosten zu tragen haben?
Es nützt nichts! Sie müssen diese Kostenbelastung sen-ken, sonst wird das beste Programm nichts nützen.
Meine Damen und Herren, für den Zwischenruf, denich gerade gehört habe, bin ich außergewöhnlich dankbar.Sie sagen, dafür seien aber die Lohnzusatzkosten ge-senkt worden.
Das hätten Sie nun besser nicht gesagt. Wir befinden unsam Anfang des Jahres 2003 bei einer Belastung mit Lohn-zusatzkosten, allein durch Sozialabgaben, von jetzt wie-der über 42 Prozent. Die Wahrheit ist doch, dass beidesdramatisch ansteigt:
einerseits die Steuerbelastung und die Kostenbelastungdurch Energie und andererseits die Sozialversicherungs-beiträge. Sie sind doch am Ende mit Ihrer Politik der Hin-und Herschieberei zwischen den einzelnen Haushalts-titeln dieses Landes!
Sie von der SPD brauchen sich im Übrigen doch nichtdarüber zu beklagen, dass die Spielräume in den öffent-lichen Haushalten für eine vernünftige Steuerpolitik mitAbgabensenkungen nicht mehr vorhanden sind. Ich willin diesem Zusammenhang eine Zahl nennen – ich mussimmer wieder feststellen, dass die Bürgerinnen und Bür-ger in diesem Lande sie fast nicht kennen –, die verdeut-licht, wie der Bundeshaushalt mittlerweile durch dieZuschüsse zur Rentenversicherung belastet wird. DasGesamtvolumen des Bundeshaushalts beträgt knapp250 Milliarden Euro. Der laufende Zuschuss aus diesemHaushalt an die Rentenversicherung und Knappschafts-versicherung beläuft sich auf über 77 Milliarden Euro.
Das heißt, fast ein Drittel der Ausgaben des Bundes ent-fallen auf die Zuschüsse an die Rentenversicherung.
Im Klartext heißt das: Sie haben nicht ein einziges Pro-blem gelöst. Sie haben nur die Finanzierung hin und hergeschoben.
Sie haben dafür gesorgt, dass die öffentlichen Haushalte indiesem Lande praktisch handlungsunfähig geworden sind,weil Sie es nicht geschafft haben, die Probleme zu lösen.
Wir sollten gemeinsam handeln. Ich betone das, weilich meine, dass die Zeiten der kleinkarierten parteipoliti-schen Auseinandersetzungen nun wahrlich vorbei sind.
– Was die Wählerinnen und Wähler von der Art und Weisehalten, wie Sie die Auseinandersetzung führen, werdenwir uns gemeinsam am Sonntagabend anschauen.
Wir werden ja sehen, wie am Montagmorgen die Lage inDeutschland ist. Trotz aller christlichen Demut bin ich schonheute voller Schadenfreude auf Ihre Gesichter gespannt.
Die Zeiten des Klein-Kleins sind vorbei. Ich will zweiPunkte ansprechen, die wichtig sind, um aus der Wachs-tums- und Beschäftigungskrise herauszukommen.Der erste Punkt. Sie müssen gerade kleinen und mitt-leren Unternehmen das Recht verschaffen, von bestehen-den Regelungen der Flächentarifverträge abzuweichen,
wenn die Betriebsparteien dies wollen und darin überein-stimmen.
Ich sage Ihnen: Dies ist eine der zentralen wirtschafts-politischen Herausforderungen, vor der wir stehen. Siemüssen sich in der SPD aus der Umklammerung derDGB-Gewerkschaften lösen
und bereit sein, hier ein Stück Freiheit für kleine und mitt-lere Unternehmen zu ermöglichen, damit sie nicht nur inder Krise eine Chance haben, zu überleben, sondern da-mit sie auch eine Chance haben, in Zeiten, in denen es denUnternehmen relativ gut geht, neue Investitionen zu täti-gen und neue Arbeitsplätze zu schaffen.
Ich will Ihnen ein Zweites sagen, das besonders für denMittelstand gilt. Gerade imMittelstand ist eines der größtenProbleme, dass das Lohnabstandsgebot nicht eingehaltenwird und die Konkurrenz durchABM-Gesellschaften,
insbesondere im Osten, das Entstehen von mittelständi-schen Unternehmen praktisch unmöglich macht.
Friedrich Merz
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Friedrich MerzHerr Bundeswirtschaftsminister, vielleicht können Sieund andere Mitglieder der Bundesregierung nach dem kom-mendem Sonntag über dieses Thema etwas unbefangenermit uns sprechen. In diesem Land muss der Grundsatz wie-der gelten, dass derjenige, der arbeitet, mehr Geld verdientals derjenige, der nicht arbeitet und soziale Leistungen be-zieht. Wenn Sie aber diesen Grundsatz dauerhaft verletzten,dann wird weder Beschäftigung entstehen noch haben mitt-lere und kleine Unternehmen in diesem Lande eine Chance.Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Fritz Kuhn, Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Herr Merz, die Lebenserfahrung lehrt, dass dieWelt nicht so einfach ist, wie Sie sie gerade dargestellthaben.
Ihre Rede hatte ja eine einfache Grundaussage: Für allesPositive in Deutschland ist die Union zuständig und für al-les Negative in Deutschland ist die Regierung zuständig.Wenn Sie mit diesem einfachen Weltbild leben wollen,wünsche ich viel Vergnügen.Sie haben gesagt: Wir kommen nur weiter, wenn wirmit kleinkariertem Parteiengezänk und Hickhack auf-hören. Ihre Rede war aber nichts anderes.
Ich will dies ganz konkret an den Punkten, die Sie genannthaben, darstellen. Es weiß doch nun inzwischen jeder, derüber Wirtschaftspolitik und Arbeitslosigkeit diskutiert,dass die hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland, die wirbekämpfen müssen, zwei Ursachen hat und nicht eine,wie Sie es darstellen.Die eine ist tatsächlich die Entwicklung der Welt-konjunktur mit dem Börsencrash, den wir erlebt haben.Damit das Gerede, Außenfaktoren hätten keine Wirkung,aufhört, will ich eine Zahl nennen: Der Börsencrash seitAugust 2000 hat allein in der Euro-Zone Börsenwerte inHöhe von 2 900 Milliarden Euro vernichtet. Dass diesAuswirkungen auf die Investitionen, auf das Konsum-klima, auf die allgemeine Stimmung und auf die Arbeits-losigkeit hat, ist doch vollkommen logisch. Wenn Sie dasbestreiten, indem Sie sagen, an allem sei die Bundesre-gierung schuld, dann zeigen Sie damit, dass Sie makro-ökonomisch – das war ja Ihr Anspruch – keine Ahnung ha-ben und Ihre Betrachtung der Wirklichkeit falsch ist.
Am zweiten Punkt, Herr Merz, treffen wir uns. Die der-zeitige Situation hat natürlich auch hausgemachte Ursa-chen. Es gibt Strukturprobleme am Standort Deutsch-land, die wir zusammen bekämpfen müssen. Ich will diewichtigsten nennen.
Wir haben die deutsche Einheit falsch finanziert, darunterleiden die Sozialversicherungssysteme. Dazu haben Sienichts gesagt.
30 Milliarden Euro jährlich fehlen uns, weil wir die deut-sche Einheit aus Kassen finanzieren, die dafür nicht vor-gesehen sind.
Auch aus diesem Grund steigen die Lohnnebenkosten unddie Arbeitslosen sind diejenigen, die darunter zu leidenhaben.
Wir finanzieren die sozialen Sicherungssysteme nachwie vor falsch, wir koppeln die Beiträge zu stark an dieLöhne.
Hier müssen wir gründliche Veränderungen schaffen, undzwar zunächst aus demographischen Gründen, aber auchdeshalb, weil in einer sozialen Marktwirtschaft, die die so-zialen Transferleistungen in den Bereichen Gesundheit,Rente und Pflegeversicherung ausschließlich aus Beiträgenfinanziert, die Arbeitslosen die Verlierer sein werden. So-ziale Sicherung zulasten der Arbeitslosen ist in der sozia-len Marktwirtschaft nicht wirklich eine soziale Sicherung.Deswegen werden wir da umbauen müssen. Das sagen wirgerade in Bezug auf den Mittelstand, der unter den hohenLohnnebenkosten ja viel mehr leidet als die Großbetriebe,die mit Produktivitätssteigerungen hohe Lohnnebenkostenin mittlere Lohnstückkosten verwandeln können, was vie-len kleinen Handwerksbetrieben nicht möglich ist.
Deswegen ist das Jahr 2003 das Jahr der Reformen. DieGrundlagen der sozialen Sicherungssysteme müssen biszum Ende dieses Jahres reformiert werden.Wir haben Probleme mit den Banken. Es ist wahr, dasssich vor allem die Großbanken und die privaten Banken,anders als die öffentlich-rechtlichen Banken und die Ge-nossenschaftsbanken, aus dem Kreditgeschäft für denMittelstand verabschiedet haben.
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Das muss sich ändern, weil in der sozialen Marktwirt-schaft auch hier Verantwortung übernommen werdenmuss.Herr Merz, ein weiteres Problem ist die Bürokratie,über die wir im Zusammenhang mit der Entbürokrati-sierungsoffensive der Regierung ausführlich zu sprechenhaben werden. Ich komme in meiner Rede auf diesenPunkt noch zurück.
Ich sehe noch ein Problem, das Sie angehen müssen,Herr Merz. Die Opposition in Deutschland redet die Qua-lität des Standortes und die Qualität der Wirtschaft inDeutschland schlecht, weil Sie daraus politischen Nutzenziehen will.
Dieses Jammern, dieses Schlechtreden und dieses Mies-machen ist ein Teil der deutschen Krankheit, die Sie be-klagt haben. Wenn das nicht aufhört, wird genau das ein-treten, was Sie bejammern, aber das hilft den Menschennicht.
Sie sagen, Sie wollen mitarbeiten und als Opposition hel-fen, dass es besser wird. Voraussetzung dafür ist, dass die-ses Mobbing des Standorts Deutschland, das die Unionsystematisch als Parteistrategie betreibt, unterbleibt.
– Aber was machen Sie denn anderes, als Deutschlandschlechtzureden, Herr Glos? Das ist alles, was Sie in denvergangenen Monaten in politischer Hinsicht angepackthaben. Das müssen Sie sich einmal anhören, auch wennes wehtut. Ich kann allerdings verstehen, dass es wehtut.
Eines war auffällig, Herr Merz. Da wir uns in einerKonjunkturkrise befinden, können Sie nicht in Abredestellen, dass zum Beispiel im Jahr 2003 – in diesemFall durch den Bund – 18 Milliarden Euro für die Sanie-rung der öffentlichen Haushalte aufgebracht werdenmüssen.Sie haben zum wiederholten Male festgestellt, was Sienicht wollen. Sie wollen keine Steuererhöhungen, wobeiSie übrigens wieder den kleinen logischen Fehler began-gen haben, den Abbau von Steuervergünstigungen alsSteuererhöhung zu bezeichnen. Das ist aber nicht richtig;dabei handelt es sich um verschiedene Maßnahmen.
Sie sind gegen die Sparvorschläge, die die Regierungzum Beispiel bei der Eigenheimzulage unterbreitet hat.Sie sind auch gegen eine Neuverschuldung, zumindest be-treiben Sie eine heftige Polemik dagegen.
Ist also alles wunderbar? Führt Herr Merz in seinerRede alle Möglichkeiten aus, wie der Haushalt mit18 Milliarden Euro saniert werden kann? Nein, und das istdie große Katastrophe! Nach Monaten der öffentlichenDiskussion macht er noch immer keine einzige Aussagedazu, wie er die Krise meistern will.
Wir befinden uns, wie gesagt, in einer Konjunkturkrise,aber er äußert sich nicht dazu, was in Deutschland zu tunist. Stattdessen delektiert er sich fröhlich daran, der Re-gierung die Schuld zuzuweisen.Sie versteigen sich in die absolute Staatsgläubigkeit,wenn Sie die Auffassung vertreten, der Kanzler sei an denKonkursen schuld. Soweit kommt es noch, dass an jedemeinzelnen Konkurs in der freien sozialen Marktwirtschaftder Bundeskanzler persönlich schuld sein soll! Die Staats-gläubigkeit, die Sie hier vertreten, ist doch absurd!
Deswegen wird in den nächsten Wochen und Monatenim Bundesrat die Stunde der Wahrheit kommen, HerrMerz. Da muss sich die Union – für die FDP gilt imGrunde das Gleiche – dazu äußern, was sie konkret tunwill. Sie müssen zum Beispiel dazu Stellung nehmen, obIhre Aussage vom Sommer, die Körperschaftsteuer müsseverstetigt und Einnahme des Staates werden, noch gilt.Sie müssen der Öffentlichkeit klar machen, ob Sie dafürsind, dass die Steuerguthaben der Betriebe, die noch ausIhrer Regierungszeit stammen, anders verrechnet werden,und ob Sie die von uns vorgeschlagene Mindestbesteue-rung befürworten. Ich will an dieser Stelle – weil wir geradeüber den Mittelstand reden – betonen, dass die Mindest-besteuerung in Deutschland nur mit einem vernünftigenSockelbetrag erfolgen kann. Nur so werden Investitionender kleinen und mittleren Betriebe möglich und diese sinddie Grundlage für das Wachstum in unserem Land.
Für meine Fraktion möchte ich eines klarstellen: Nurwenn in Deutschland Reformen angepackt werden – undzwar nicht nur hier und dort ein Progrämmchen, sondernauch elementare Reformen zum Beispiel bei den sozialenSicherungssystemen –,
können wir in Deutschland die Krise überwinden. Ichsage das auch an die Adresse unseres Koalitionspartnersgerichtet, Herr Stiegler. Wir haben uns zwar nicht an derFritz Kuhn
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Fritz KuhnDiskussion zu beteiligen, welche Rolle Oskar Lafontainespielen wird,
aber ich möchte eines festhalten: Die Vorstellung, dieReichen sollten mehr zahlen, dann würde in Deutschlandstrukturell alles besser werden, die Oskar Lafontaine inder „Bild-Zeitung“ verbreitet hat, bildet nicht die Basisunserer Koalition.
Richtig ist – damit wende ich mich an Sie, Herr Merz –,dass zwar überall Reformen notwendig sind,
trotzdem möchte ich auf einen Punkt Ihrer Rede eingehen,der nicht richtig ist. Wir haben in Deutschland nicht ir-gendeine Marktwirtschaft, sondern eine soziale Markt-wirtschaft. Das, was Sie getan haben – zum Beispiel dieKürzungen bei der Arbeitslosenhilfe durchzuwinken, dieden Empfängern von Arbeitslosenhilfe wehtun,
aber im Hinblick auf Maßnahmen, die die Besserverdie-nenden bzw. den Mittelstand unserer Gesellschaft treffen,zu erklären, damit hätten Sie nichts zu tun –, entsprichtnicht der sozialen Gerechtigkeit, wie wir sie uns vorstel-len und wie wir sie in Deutschland brauchen.
Ich möchte zum Abschluss auf einige Punkte der Mit-telstandsoffensive unseres Wirtschaftsministers eingehen.Herr Minister, wir Grüne sind Teil der von Ihnen vorge-stellten Reformallianz für den Mittelstand. Einen zentra-len Punkt stellt die Entbürokratisierung dar. Im Gesprächmit mittelständischen Betrieben ist festzustellen, dass vorallem die mangelnde Motivation aufgrund zu vieler büro-kratischer Auflagen eines der Hauptprobleme der Be-triebe darstellt.Dabei ist Folgendes zu unterscheiden: Für einen Be-trieb mit 400 Beschäftigten sind die Auflagen kein großesProblem, weil er viele staatliche Auflagen mit eigenemPersonal bearbeiten kann. In einem Betrieb mit sechs oderacht Angestellten ist es aber Chefsache, diese Bürokratiezu übernehmen. Dies hindert die Betreiber der Betriebedaran, das eigentliche Geschäft voranzutreiben. Deswe-gen brauchen wir die Entbürokratisierung.Ich glaube nicht, dass wir dies schaffen, wenn wirsagen: Wir sammeln einmal ein paar Vorschläge. Wirmüssen unser Staatsverständnis überdenken. Nurwenn wir als Staat bereit sind, im Rahmen einer Aufga-benkritik wirklich zu überlegen, was wir permanent kon-trollieren müssen und was dokumentiert werden muss,und bereit sind, die eine oder andere Kontrollaufgabezu verringern, haben wir die Chance, dass die Entbüro-kratisierung ein wirklich breites Programm wird undnicht einfach eine Forderung, die man in den Raumstellt. Wer die Politik im Bund und in den Ländernkennt, der weiß, dass es seit vielen Jahren überall großeEntbürokratisierungskommissionen gibt, die wenig um-gesetzt haben.Ich will es noch einmal sagen: Unser Staatsverständnisund die Frage, ob vom Staat alles Gute, das es bei uns gibt,permanent überwacht und kontrolliert werden muss undob die damit verbundenen Dokumentationspflichten, zumBeispiel beim Handwerk, aufrechterhalten werden müs-sen, gehören auf den Prüfstand, wenn wir die Entbüro-kratisierung in Deutschland wirklich ernst nehmen.Ein weiteres Problem für viele Betriebe ist die Liqui-dität. Den Rückzug der Privatbanken aus der Verantwor-tung habe ich angesprochen. Es kommt darauf an, was ge-nau die neue Mittelstandsbank tun wird. Ich glaube, dassein wesentliches Element sein muss, die vielen Förder-programme in Deutschland zu vereinfachen. Hier musseine Interaktion, eine Zusammenarbeit mit den Landes-banken und deren Programmen stattfinden; sonst kanndas nicht funktionieren. Wir müssen uns vor allem fragen– das halte ich für einen wichtigen Punkt –, ob die neueMittelstandsbank auch Innovationen des Mittelstands fi-nanzieren kann, soweit sie von Hausbanken nicht über-nommen werden können.Ich komme zum Schluss und will für meine Fraktionfeststellen: Wir glauben, dass man in Deutschland sehrviel für den Mittelstand tun kann.
Strukturreformen sind dabei entscheidend. Ich fordere Sieauf, dabei nicht die Haltung, die Bundesregierung seischuld, an den Tag zu legen, sondern in den nächsten Mo-naten mit eigenen machbaren Vorschlägen, zum Beispielin Bezug auf die Steuerpolitik und die Haushaltskonsoli-dierung,
in Erscheinung zu treten. Dies sind Sie nämlich bishernicht.Wir Grüne haben Lust, diesen Reformprozess mitzu-betreiben.
Wir gehören zu der Allianz, die Sie, Herr Minister, einge-fordert haben. Ich kann nur betonen: Alle Menschen inDeutschland, die etwas unternehmen, die Risiken einge-hen wollen, haben in meiner Partei bzw. in meiner Frak-tion einen Bündnispartner. Denn wir wollen einen Prozessin Gang setzen, der dazu führt, dass in Deutschland Re-formen stattfinden und wir nicht den Status quo verteidi-gen oder uns einfach in Wolkenkuckucksheimdiskussio-nen, wie das Herr Merz getan hat, vergnügen. Ihre Rede,Herr Merz, war zwar vergnüglich; aber Vorschläge derUnion sind nicht auf den Tisch gelegt worden. Diese hät-ten heute kommen müssen, damit man sieht, was Sie vor-haben.Ich danke Ihnen.
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Ich erteile das Wort dem Kollegen Rainer Brüderle,
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol-lege Kuhn, Sie haben heute eine Wutrede gehalten. Ich er-laube mir den Hinweis: Wir können nichts dafür, dass Sienicht mehr Vorsitzender der Grünen sind und jetzt HerrnSchulz, einen geschätzten Kollegen, aus der Wirtschafts-politik verdrängen.
Ihre permanenten Hinweise auf die Weltwirtschaftals Ursache der aktuellen Situation sind unerträglich. Esgibt nicht zwei Typen von Weltwirtschaft: eine, die eineböse Verschwörung gegen uns Deutsche ist und in derwir arbeiten müssen, und eine wohl gesonnene Welt-wirtschaft, in der die Engländer, die Holländer, dieSchweden und die Amerikaner arbeiten. Es gibt nur eineWeltwirtschaft. Wenn wir in dieser einen Weltwirt-schaft, wie sie sich heute darstellt, schlechter dastehenals alle anderen, dann ist dies hausgemacht und dannliegt dies an den Problemen in Deutschland und nichtam Ausland.
Ihre Ausflüchte, die Opposition rede, wenn sie ihreAufgabe wahrnimmt, auf Fehlentwicklungen hinzuwei-sen und Alternativen aufzuzeigen, das Land schlecht, sindeine Unverschämtheit.
Noch dürfen wir hier frei reden und unsere Meinungäußern. Sie sollten nicht mit einer Attitüde auftreten, alsob dieses Land Ihr Eigentum wäre. Verwechseln Sie nichtIhre Aufgabe; dieser Staat ist nicht das Eigentum vonGrün-Rot, sondern des ganzen Landes.
Nach fünf Jahren Regierungszeit wird es allmählichunerträglich, dass Sie ständig auf die Vergangenheit ver-weisen. Wirtschaftsgeschichte ist zwar ein interessantesThema, aber wer beim Autofahren ständig in den Rück-spiegel schaut, Herr Kollege Kuhn, fährt an die Wand.Schauen Sie einmal durch die Frontscheibe! Dann sehenSie die reale Lage in der Republik.
Ich erlaube mir auch folgenden Hinweis, Herr Kuhn:Wir haben keine Konjunkturkrise, wie Sie sagten, sonderneine Strukturkrise, weil die Struktur in diesem Land nichtstimmt, weil wir falsch aufgestellt sind. Deshalb wirkensich die Veränderungen in der Welt in Deutschland un-gleich stärker als in benachbarten europäischen Ländernaus. Dafür sind Sie verantwortlich,
weil Sie seit fünf Jahren die falsche Politik machen. Diegrößte Fessel für den Mittelstand in Deutschland ist diesegrün-rote Regierung.
Jetzt, kurz vor zwei wichtigen Landtagswahlen, ent-deckt Grün-Rot den Mittelstand. Ich habe heute etwasüber den Masterplan und den Small-Business-Act gelernt;jeden Tag gibt es einen neuen bunten Luftballon, HerrClement, aber entscheidend sind Taten, nicht das Designvon Worten und ein Wortgeklingel. Reden Sie nicht nurvom Kündigungsschutz, sondern verändern Sie etwas.Geben Sie denen, die draußen stehen, eine Chance; wei-chen Sie nicht zurück, wenn Ihre Betonfraktion nicht be-reit ist, über neue Ansätze nachzudenken.
Ein Bundeswirtschaftsministerium muss ein ord-nungspolitisches Gewissen sein. Es muss von einem ganz-heitlichen Ansatz ausgehen und darf keine Propagandama-schine sein, die jeden Tag einen neuen Spruch erfindet,neue Offensiven verkündet und Nebelkerzen wie den Jah-reswirtschaftsbericht wirft. Der Minister hat bis vor weni-gen Tagen noch von 1,5 Prozent Wachstum und 4MillionenArbeitslosen gesprochen. Jetzt wird das zurückgenommen;mit einem voraussichtlichen Wachstum von 1 Prozent lie-gen Sie immer noch am oberen Rand sämtlicher Prognosenaller Wirtschaftsforscher und aller Bankinstitute, die sichmit Wirtschaftsentwicklung beschäftigen. Sie könnenglücklich sein, wenn dies eintritt, aber auch das werden Sienicht schaffen. Die Arbeitslosigkeit steigt.Der Zusammenhang ist ganz klar: Die Steuern und Ab-gaben steigen, die Arbeitslosigkeit steigt und das Wachs-tum sinkt. Es gibt einen Sektor in Deutschland, der zulegt:Das ist die Schwarzarbeit. Schwarzarbeit ist die Aus-weichreaktion vieler, weil Sie ihnen mit unerträglichenBelastungen, mit Abgaben und Steuern die Chance neh-men, durch anständige, tüchtige Arbeit das zu verdienen,was möglich wäre, wenn man entsprechende Rahmenbe-dingungen gewährleistete.
Das, was Sie im Jahreswirtschaftsbericht ansprechen,nennen Sie Allianz für Erneuerung. Das ist schon eindreister Begriff. Diese grün-rote Regierung ist keine Al-lianz der Erneuerung, sondern eine Allianz der Verteue-rung und der Verschlechterung der Bedingungen für denMittelstand in Deutschland.
Ihr Steuervergünstigungsabbaugesetz, das ein Steuer-erhöhungsgesetz ist – es bringt 17 Milliarden Euro Zusatz-belastungen –, zeigt doch, dass es in die falsche Richtung
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Rainer Brüderlegeht. Ich frage mich immer wieder: Was hat der deutscheMittelstand dieser grün-roten Regierung getan, weswegener so mies behandelt wird? Irgendwo müssen Sie docheine psychologische Sperre haben; anderenfalls würdenSie nicht permanent in die falsche Richtung gehen.Die selbst ernannte Mittelstandsexpertin Frau Scheelspricht von Mehrwertsteuererhöhung; anschließend wirdes weich dementiert. Ein anderer fordert die Vermögen-steuer bzw. die Erhöhung der Erbschaftsteuer. Ihr wich-tigster Koalitionspartner, der DGB, fordert in Person vonHerrn Sommer eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um2 Prozentpunkte. Sie schaffen ein Klima, in dem die Men-schen verzweifeln müssen und als Konsumenten ihr Geldin einem Eichhörncheneffekt zurückhalten, weil sie nichtwissen, ob sie ihren Job behalten oder, wenn sie ihn ver-lieren, wieder einen bekommen. Diejenigen, die investie-ren würden und auch müssten, sagen: Wir warten einmalab, was denen noch Neues einfällt, welche weitere Saudurchs Dorf getrieben wird, welche neuen Belastungennach den beiden Landtagswahlen von der Regierungkommen. – Ich ahne da nichts Gutes. Wahrscheinlich be-treiben Sie schon die Vorbereitungen für eine Mehrwert-steuererhöhung.
Unter dem Stichwort Mittelstandinitiative kündigenSie an, für Betriebe mit einem Umsatz von bis zu17 000 Euro Steuererleichterungen zu gewähren.
– 17 500. – Selbst wenn man Umsatz mit Gewinn ver-wechselt – Umsatz gleich Gewinn ist absurd –, käme manauf monatlich nur etwas mehr als 1 000 Euro.
Wo ist da der Appeal, der Anreiz, in die Existenzgründungzu gehen, zumal ständig neue Verschlechterungen eintre-ten?Die Kammerbeiträge sollen für die kleinen Betriebeabgeschafft werden. Die Realität ist, dass die meistenKammern in Deutschland das schon längst getan haben,ohne dass es dazu einen Appell der Bundesregierung ge-geben hätte.
Zum Thema Ladenschluss. Sie kündigen an, die La-denöffnungszeit am Samstag um vier Stunden zu verlän-gern. Geben Sie den Ladenschluss doch in der Woche frei!
Auch das geschieht nicht. Seien Sie doch konsequent!Sie betreiben folgende Politik: Sie verschlechtern dieBedingungen. Sie verschärfen den Kündigungsschutz. Sieverstärken die Mitbestimmung. Sie erhöhen die Sozialab-gaben. Dann nehmen Sie die Mehrbelastung um ein klei-nes Stückchen zurück und sagen, das sei eine Großtat, mitder Sie die Bedingungen in Deutschland verbesserten.Das ist ungeheuerlich! Machen Sie es doch gleich richtig!
Im Kern macht die Bundesregierung zwei Dingefalsch. Sie hat erstens nicht verstanden, dass die sozialeMarktwirtschaft ein ganzheitliches System ist. Man musswissen, dass jede einzelne Maßnahme Auswirkungen hat.Schon die Gründungsväter haben vor punktuellem Han-deln und vor Interventionismus – das ist die alte indus-triepolitische Denke – gewarnt. Sie müssen klare Rah-menbedingungen schaffen. Die Politik muss berechenbarsein und Vertrauen auslösen. In der Wirtschaft geht esimmer um das Rechnen. Wenn die Entwicklung nicht be-rechenbar ist, kann man keine Entscheidung treffen. Wennman dennoch entscheidet, trifft man die falsche Entschei-dung. Deshalb muss eine klare Linie erkennbar sein. Dasist nicht der Fall, weil Sie durch hektischen Aktionismusnur von eigenen Fehlentscheidungen ablenken wollen.
Zweitens. Im Kern verweigern Sie dem deutschen Mit-telstand Freiheit. Das Steuerthema ist im Kern ein Frei-heitsthema; denn entscheidend ist: In welchem Umfangkönnen die Menschen, seien es Handwerksmeister oderauch Arbeitnehmer, selbst über die Verwendung dessenentscheiden, was sie sich hart erarbeitet haben? Bei einerStaatsquote von fast 50 Prozent nehmen Sie ihnen dieFreiheit. In der Tat ist die Frage: Ist es noch eine sozialeMarktwirtschaft, wenn die Hälfte dessen, was erwirt-schaftet wird, über den Staat gelenkt wird? Ludwig Erhardwürde aus dem Grab steigen, wenn er so einen Quatschhörte wie den, bei einer sozialen Marktwirtschaft könnteman einen Staatsanteil von 50 Prozent haben.
Bürokratieabbau – ein wunderschöner Ladenhüter;davon reden wir alle schon lange. Weshalb geben SieKommunen und Ländern nicht über Experimentierklau-seln die Möglichkeit, Gesetze befristet außer Kraft zu set-zen?
Wir haben es beim Planungsbeschleunigungsgesetz ja ge-habt, und zwar mit großem Erfolg. Geben Sie ihnen dochdiese Möglichkeit! Viele werden gar nicht merken, wennGesetze sozusagen verschwinden, weil sie eh Unsinn sindund weil sie nur diejenigen, die damit arbeiten müssen,zusätzlich verunsichern.Weshalb gehen Sie nicht konsequent an die Reform dersozialen Sicherung heran? Die Riester-Rente ist im Kernein Schritt in die richtige Richtung, aber sie ist zu kom-pliziert und reicht nicht aus. Sie müssen die Lohnneben-kosten senken. Sie reden im Jahreswirtschaftsbericht da-von, dass sie auf 40 Prozent gesenkt werden. Das wären13 Milliarden Euro weniger. Machen Sie es! Ich sehe nir-gends einen Ansatzpunkt dafür, dass Sie bei den Sozial-beiträgen eine konkrete Entlastung in Höhe von 13 Mil-liarden Euro, sprich: 26 Milliarden DM, vornehmen; imGegenteil: Die Sozialbeiträge steigen weiter. Die Quoteliegt bei dicken 42 Prozent.Das Tarifkartell ist überholt. Sie wissen wie wir, dassim Osten Deutschlands, aus der Not heraus, fast 70 Pro-zent aller Arbeitsplätze außerhalb des geltenden Tarif-
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vertragsrechts sind. Die alle sind, wenn Sie so wollen,rechtswidrig. Niemand geht daran – aus gutem Grund. Je-der, der darangehen würde, würde die Arbeitslosigkeit imOsten verdoppeln oder verdreifachen. Weshalb lernen Siedaraus nicht, dass wir mehr Spielräume in den Betriebenund auch mehr Entscheidungsmöglichkeiten der betroffe-nen Arbeitnehmer brauchen? Es ist ihr Job. Es ist ihre Le-bensperspektive. Geben Sie ihnen doch die Freiheit, überihr Schicksal ein Stück weit zu entscheiden, statt einerFunktionärsfremdbestimmung unterworfen zu sein!
Zu vieles ist noch in Beton gegossen. Was wir brauchen,sind Luft und Freiheit, damit wir uns entfalten können.
Der Mittelstand ist viel besser, als Sie denken. Lassen Siedie Leute doch endlich arbeiten, damit sie Erfolg habenkönnen, und legen Sie nicht ständig Handschellen an! Wirmüssen in Deutschland tausend Handschellen abnehmen.Die Lösung heißt Freiheit und die verweigern Sie.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Klaus Brandner,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Bei dem Auftritt von Herrn Brüderlegerade musste man Sorge haben, dass er genügend Luftbekommt. Bei der Dröhnung, mit der Sie hier vorgetragenhaben, Herr Brüderle, haben viele vermutet, dass Ihnendie Luft ausgeht; denn es war viel heiße Luft und Sie ha-ben damit sicherlich keinen Beitrag dazu geleistet, demMittelstand und den Menschen, die im Mittelstand be-schäftigt sind, tatsächlich zu helfen. Ich finde, das warkein konstruktiver Beitrag, der uns nach vorne bringt.
Es ist schon vieles in Aussicht gestellt worden, was dieBundesregierung heute angesprochen hat. Der Wirt-schaftsminister hat – meines Erachtens zu Recht – daraufhingewiesen, dass die Stimmung in der Wirtschaft– auch im Mittelstand – deutlich schlechter ist als dietatsächliche Lage. Ich will das alles nicht wiederholen. Alldiejenigen, die in den vergangenen Wochen und Monatendas Bild der Wirtschaft geradezu lustvoll grau in grau ge-malt haben, sollten sich fragen, ob sie ihrer Verantwortungfür das Land und für die Menschen in diesem Land ge-recht geworden sind.Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, sindbei den Miesmachern in unserem Land an vordersterFront. Man braucht sich nur den Wortlaut Ihres Antragesfür die heutige Debatte anzuschauen: von einer objektivenAnalyse der Lage keine Spur. Stattdessen unentwegt Vor-würfe, Anklagen, Schlechtreden, Ängste Verbreiten: Dasist Ihr Programm. Sie haben das Mittelstandsrhetorik ge-nannt. Damit helfen Sie den Menschen in diesem Landnicht einen Millimeter weiter.
Sie tun so, als ob die deutsche Volkswirtschaft, umgebenvon blühenden Volkswirtschaften, wegen der Politik derrot-grünen Bundesregierung von einer Krise in die andereschlittert.
Sie verlieren in Ihrem Antrag kein Wort zu der nun schonmehr als zwei Jahre andauernden weltweiten Wirtschafts-flaute. Das alles, meine Damen und Herren, ist nicht se-riös. Was Sie da behaupten, hilft in der Tat nicht weiter,Wirtschaftswachstum in diesem Land zu beflügeln.
Richtig ist vielmehr: Wir haben mit der Wiederver-einigung finanzielle Belastungen zu tragen, die unver-meidlich sind.
– Sicher, Herr Schauerte. Sie sollten einmal zuhören, Siekönnen hier viel lernen.
Natürlich hat jeder vernünftige Mensch in diesem Landedie Belastungen mitzutragen. Er trägt sie auch gern; dasmuss immer wieder gesagt werden. Die wirtschaftlicheEntwicklung in diesem Land wird aber durch diese Belas-tungen beeinflusst – und das schon seit über zwölf Jahren.Was haben Sie uns übergeben? Wir haben heute großeWorte von Ihnen gehört. Herr Merz hat vergessen, dassSie uns 1998 1,5 Billionen DM Schulden übergeben ha-ben, dass Sie höchste Steuerbelastungen übergeben habenund dass die höchsten Sozialversicherungsbeiträge vonIhnen übergeben worden sind.
Wir haben die Schulden gesenkt, wir haben die Steuernzurückgeführt und wir haben die Sozialversicherungenkonsolidiert.
Von gesunder Volkswirtschaft brauchen Sie uns nichts zuerzählen, davon haben Sie nämlich keine Ahnung.Lassen Sie mich klar sagen: Circa 70 Milliarden Euroan Nettotransfers gehen auch jetzt noch Jahr für Jahr in dieneuen Bundesländer. Davon werden drei Viertel für denprivaten und öffentlichen Konsum verwandt. Die Europä-ische Kommission hat im letzten Jahr ausgerechnet, dasszwei Drittel der Wachstumsschwäche Deutschlands imVergleich zu den anderen EU-Ländern den direkten und in-direkten Auswirkungen der Belastungen aus dem ProzessRainer Brüderle
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Klaus Brandnerder Wiedervereinigung geschuldet sind. Das ist keineAusrede. Vielmehr muss es uns ein Ansporn sein, dasReformtempo in Deutschland aufrechtzuerhalten, ja zubeschleunigen. Die Wiedervereinigung zwingt uns, eingegenüber unseren europäischen Partnern höheres Re-formtempo anzuschlagen. Wir haben einen höheren Re-formbedarf. Diesen Reformbedarf haben Sie in den90er-Jahren nicht erkannt. Sie sind Ihren Ansprüchennicht gerecht geworden.
– Sie sind langsam, das geben Sie zu. Sehr schön, HerrSchauerte, das ist ja schon ein Stück weit Einsicht. Esklingt in der Tat überzeugend, wenn das ein Signal ist undSie sagen: Wir geben unsere Fehler zu. – Von dieser Ba-sis aus können wir gemeinsam etwas nach vorne ent-wickeln. Ich finde, das ist ein positives Zeichen.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang ein Wort zuden angeblich extrem hohen Abgabenbelastungen inDeutschland sagen. Wir wissen, über die Abgabenbelas-tungen kursieren viele, auch bewusst missverständlicheZahlen. Für den internationalen Vergleich gebräuchlich istdie Gesamtabgabenquote an Steuern und Sozialabgaben.Das Institut der deutschen Wirtschaft veröffentlichtein seinem Heft 2002 „Deutschland in Zahlen“ fürDeutschland eine Abgabenquote in Höhe von 37,8 Pro-zent. Damit liegen wir zum Beispiel weit hinter Finnlandmit einer Abgabenquote in Höhe von 46,5 Prozent, Däne-mark mit 45,5 Prozent, den Niederlanden mit 41,8 Pro-zent, Schweden mit 53,3 Prozent und liegen praktischgleichauf mit Großbritannien mit 37,7 Prozent. Soweit dieFakten.Betrachtet man allein die steuerliche Entwicklung,muss auch das Institut der deutschen Wirtschaft – dies istnun in der Tat kein Institut der sozialdemokratischen Par-tei – feststellen, dass wir die Weichen für eine konse-quente Steuersenkung in kalkulierbaren Stufen bis zumJahre 2005 gestellt haben. Beim Grundfreibetrag, alsodem Einkommen, für das keine Einkommensteuer gezahltwerden muss, verbessert Deutschland seine internationalePosition auf eine Spitzenposition. Es nimmt Platz vier iminternationalen Vergleich ein.Unabhängig davon bleibt es für uns auch in Zukunft einzentrales politisches Thema, weiter auf eine allmählicheAbgabensenkung hinzuwirken.
– Wäre ich in Ihrer Situation, Herr Schauerte, würde ichnicht solche lockeren Sprüche machen. Was Sie vorzu-legen haben, bewirkt genau das Gegenteil.
Hier ist auch die Steuerpolitik der Bundesregierungnach der Bundestagswahl angesprochen worden. Einesmuss klar sein: Die Bundesregierung und der Gesetzgeberhaben ein Problem zu lösen, und zwar hier und heute. DieHaushalte von Bund, Ländern und Gemeinden sind un-terfinanziert. Es besteht vordringlicher Handlungsbedarf;wir wissen das. Hier kann man sich nicht wegmogeln.Hier müssen Vorschläge auf den Tisch und hier müssenEntscheidungen für unsere Bürgerinnen und Bürger ge-troffen werden, schmerzliche Entscheidungen, wie jederin diesem Hause weiß.Es ist mehr Ehrlichkeit angesagt. Es darf nicht auf dereinen Seite Subventionsabbau gefordert werden und aufder anderen Seite dann, wenn es konkret wird, „Haltet denDieb!“ gerufen werden, von Zusatzbelastungen geredet,aber nicht Ross und Reiter genannt werden. Dies ist keinefaire, solide Politik.Ich denke an die Einnahmeverbesserungen der Länder.Das Land Hessen beispielsweise hat eine Einnahmever-besserung aufgrund des Steuerreformpakets in Höhe von140 Millionen Euro in seinen Haushalt eingestellt, obwohldas Bundesfinanzministerium für das Land Hessen eineVerbesserung der Steuereinnahmesituation in Höhe von nur122MillionenEuro errechnet hat. Dies zeigt nur zu gut, wieunsozial und unsolide der hessische Haushalt finanziert ist.Dies spricht nicht dafür, wie die Opposition hier antritt,nämlich mehr Solidität in der Steuerpolitik zu verlangen.
Wir haben einen Mix von Ausgabenkürzungen, die imÜbrigen alle Gruppen unserer Gesellschaft betreffen, zu-sätzlicher Neuverschuldung und Abbau von Steuerver-günstigungen vorgeschlagen. Man kann darüber diskutie-ren. Wenn man aber solche Vorschläge verwirft, haben derBundesfinanzminister und auch die Länderfinanzministersowie die Gemeindekämmerer ein Recht darauf, zu wis-sen, wie das Loch in ihrer Kasse gestopft werden soll.
Beim Steuervergünstigungsabbaugesetz werden wirim Laufe der parlamentarischen Beratungen zu Änderun-gen kommen.
Das ist völlig klar. Aus wirtschaftspolitischer Sicht willich hier nur einige Stichworte nennen. Wir wollen sicher-stellen, dass die überwiegende Mehrheit der Unterneh-men ihre Verluste auch weiter verrechnen kann. Von derMindestgewinnbesteuerung sollen daher im Wesentlichennur die großen Kapitalgesellschaften betroffen sein. Wirwollen dafür sorgen, dass die Abzugsfähigkeit von Wer-begeschenken voll erhalten bleibt. Über den abzugsfähi-gen Betrag wird noch zu reden sein.Ein weiteres Stichwort ist das Lifo-Verfahren. Wir sindauch für die Beibehaltung des ermäßigten Umsatzsteuer-satzes für Kombiprodukte sowie für gartenbauliche Er-zeugnisse.
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Dies sind aus meiner Sicht diskussionswürdige Punkte,über die wir reden müssen.Wir machen mit unserem Antrag der mittelständischenWirtschaft ein Angebot, über das wir gemeinsam redensollten, weil wir damit dem Mittelstand und den Men-schen in diesem Land einen guten Dienst erweisen. DerSmall-Business-Act wird zügig auf den Weg gebrachtwerden, ohne den die Ich-AGs nicht vernünftig ans Lau-fen kommen können. Entscheidend dabei sind die Novel-lierung der Umsatz- und Einkommensteuergesetze unddie Flexibilisierung der Handwerksordnung. Dabei,meine Damen und Herren von der Opposition, können Siekräftig mithelfen, damit genau dies möglichst bald inForm von Gesetzen umgesetzt werden kann.Wir wissen, die Finanzierungssituation kleinerer undmittlerer Unternehmen ist dramatisch. Banken befindensich aufgrund ihrer eigenen Probleme selbst in einer sehrschwierigen Lage. Die Frage, ob fremd verschuldet oderselbst verschuldet, ist ein weites Feld. Entscheidend istvielmehr: Der Staat muss mit seiner Förderpolitik, insbe-sondere der Steuerpolitik, helfen, die Eigenkapitalausstat-tung zu verbessern. Hierzu müssen Möglichkeiten ent-wickelt werden, wie privates Beteiligungskapital für denMittelstand stärker als bisher mobilisiert werden kann.Mit dem Masterplan Bürokratieabbau muss einflächendeckender Ansatz für den Abbau von Bürokratieund bürokratischen Belastungen der Wirtschaft insgesamtund insbesondere des Mittelstandes so schnell wie möglichauf den Weg gebracht werden. Dabei müssen Effizienz undKostensenkung die beiden zentralen Maßstäbe sein. Büro-kratieabbau darf aber nicht zum puren Sozialabbau durchdie Hintertür missbraucht werden. Auch das muss in die-sem Zusammenhang einmal deutlich gesagt werden.
Das Erste und das Zweite Gesetz für moderne Dienst-leistungen am Arbeitsmarkt, die wir erarbeitet haben,werden, Herr Hinsken, zu mehr Flexibilität am Arbeits-markt führen, die insbesondere dem Mittelstand zugutekommen wird.
Das wird dem Mittelstand deshalb nutzen, weil er im Un-terschied zu Großunternehmen gerade keine eigenen Per-sonalabteilungen vorhält. Eine gute Arbeitsvermittlungspart dem typischen Mittelstand deshalb eine enormeMenge Geld und auch Zeit.
Deshalb ist es wichtig, dass wir das Netz der Personal-Service-Agenturen ganz schnell leistungsfähig aus-bauen, weil genau diese Agenturen helfen, aus dem Di-lemma beim Kündigungsschutz herauszukommen. Aufder einen Seite gibt es für das mittelständische Unterneh-men, also für den Entleiher, volle Flexibilität, auf der an-deren Seite besteht für die Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer, die bei einer Personal-Service-Agentur be-schäftigt sind, ein sozialer Schutz.
Das ist ein intelligenter Ansatz auch für Entbürokratisie-rung und für die notwendige Flexibilisierung, die die mit-telständische Wirtschaft zu Recht einfordert.In diesem Zusammenhang will ich ein Wort zu HerrnMerz sagen, der hier das Jobfloater-Modell angespro-chen hat. Seine Rede ist wieder ein Beispiel dafür, dass ernicht auf der Höhe der Zeit ist. Insgesamt liegen nämlichnicht nur 121, sondern über 300 Anträge vor.
Über 1 000 zusätzliche Arbeitsplätze sind ein Beispieldafür, dass dieses Modell funktioniert. Wir sollten es des-halb besser „bekanntreden“ und nicht schlechtreden.
Das, was Herr Merz hier vorgetragen hat, ist ein Beispielfür schlechtreden. Ich bin dankbar, dass ich die Gelegen-heit hatte, das hier noch sagen zu können.Lassen Sie mich zum Schluss kommen.
Fest steht: Mit Wahlkampfreden ist dem Mittelstand nichtgeholfen. In einer Zeit, in der Menschen Zuversicht, Mutund Ideen erwarten, agitieren Sie das Land, verunsichernSie und reden klein. So helfen Sie dem Mittelstand undden Beschäftigten dort nicht. Sie haben mit Ihrer Debattedem Mittelstand und den Menschen in diesem Landeeinen Bärendienst erwiesen.
Ich erteile das Wort der Kollegin Dagmar Wöhrl,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! HerrClement, Sie fordern Mutmacher statt Miesmacher.
Wenn ich mir aber Ihren Jahreswirtschaftsbericht oderIhre so genannte Mittelstandsoffensive anschaue, mussich feststellen, dass Sie keines von beiden sind. Sie sindein Schönredner par excellence.
Klaus Brandner
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DagmarWöhrlDiese Regierung ist doch nicht gewählt worden, umschöne Worte zu machen oder nur über die Krise zu reden;sie ist gewählt worden, damit sie diese Krise überwindet.Worte allein werden nicht helfen. Sie müssen Taten folgenlassen. Doch was diese Taten sind, das steht bis jetzt nochimmer in den Sternen.
Im Jahreswirtschaftsbericht steht – ich zitiere –:Die Rahmenbedingungen für eine Festigung vonVertrauen der Konsumenten und Investoren sindgünstig.Ich frage mich: In welchem Bereich sind die Rahmenbe-dingungen denn günstig? Wo gibt es denn Vertrauen? DieMenschen sind verunsichert. Sie trauen Ihnen nicht mehrzu, dass Sie durch Ihre Politik die Arbeitsmarktproblemeangehen oder die Sozialversicherungssysteme reformie-ren. Warum gehen denn die Menschen von Flensburg bisPassau gegen Ihre Politik auf die Straße? Das müssen Siesich fragen.
Weiter lese ich in Ihrem Jahreswirtschaftsbericht – ichbitte Sie aufzupassen –:Die Bundesregierung setzt ihre wachstums- und be-schäftigungsfreundliche Steuersenkungspolitik fort.Meine Damen und Herren, wo leben Sie denn? Sie sa-gen, Ihre Politik sei beschäftigungsfreundlich sowiewachstums- und steuersenkend.
Haben Sie überhaupt nicht mitbekommen, dass dasWachstum im letzten Jahr nur 0,2 Prozent betrug? Das istStagnation und kein Wachstum. Auch in Ihrem Jahres-wirtschaftsbericht mussten Sie die Zahlen nach unten re-vidieren. Wir alle wissen ganz genau, dass nur die Ex-portzahl von fast 3 Prozent eine Rezession verhindert hat.Ich muss Ihnen sagen: Hören Sie endlich mit Ihrem Am-menmärchen auf, wonach allein die WeltkonjunkturSchuld sei! Ohne den Außenhandel wäre in unserem Landschon längst das Licht ausgegangen.
Das war es zum Thema Wachstum.Jetzt komme ich zu dem Thema „beschäftigungs-freundliche Politik“. Fakt ist – es ist für uns wenigstensein kleiner Hoffnungsschimmer, dass Sie das inzwischenselbst erkannt haben –, dass es in diesem Jahr 140 000 Ar-beitslose mehr geben wird. Im Durchschnitt werden es4,2 Millionen sein. Wo ist hier die Perspektive? Für Mil-lionen von Arbeitslosen wird auch das Jahr 2003 ein Jahrder Hoffnungslosigkeit bleiben.
Wie sieht es mit der Steuersenkung aus? In den kom-menden Jahren wird es – dies ist so beschlossen – zu ei-ner Mehrbelastung kommen. Allein in diesem Jahr wer-den es 27 Milliarden Euro sein. Wo soll hier ein Zuwachsdes privaten Konsums herkommen? Wie sollen die Men-schen die Binnenkonjunktur anregen, wenn sie netto im-mer weniger Geld in der Tasche haben? Die Menschenwerden es am Ende des Monats merken: Sie werden wie-der weniger Geld in der Tasche haben.Lassen Sie uns das zusammenfassen: Was haben wir?Beim Wachstum haben wir einen Stillstand, bei der Be-schäftigung haben wir einen Rückschritt und bei den Steu-ern haben wir Mehrbelastungen. Es bleiben die Sozial-ausgaben. An die gehen Sie nicht heran, weil Sie sichnicht an sie herantrauen. Das heißt, auch zukünftig wer-den die Lohnnebenkosten nicht gesenkt. Aufgrund IhrerPolitik müssen wir auch weiterhin mit steigenden Lohn-nebenkosten rechnen.
Das ist fatal für den Mittelstand, weil gerade der Mittel-stand personalintensiv ist. Er leidet am meisten unter denhohen Lohnnebenkosten.Drei Viertel aller mittelständischen Betriebe wollen indiesem Jahr noch weniger investieren als letztes Jahr, wo-bei auch letztes Jahr schon fast nichts mehr investiertwurde. Nur noch 17 Prozent sprechen von Personal-einstellungen und nur 15 Prozent sprechen von steigen-den Erträgen. Das Handwerk hat im letzten Jahr über300 000 Menschen entlassen.
Eine Pleite jagt die nächste.Alle, die wir hier sitzen, dürfen eines nicht vergessen:Die Arbeitslosigkeit werden wir nur mit dem Mittelstandbekämpfen können, sie wird im Mittelstand entschieden.
Herr Clement, der Mittelstand braucht keinen Gute-Laune-Minister, sondern er braucht einen Minister, deranpackt,
der eine echte Mittelstandspolitik betreibt und sich gegendie Besitzstandswahrer sowie Gewerkschaftsfunktionäredurchsetzt. Herr Minister, wenn Sie eine echte Mittelstands-politik auf den Weg bringen, haben Sie uns auf Ihrer Seite.
Dann können Sie damit rechnen, dass wir diesen Weg ge-meinsam gehen.
Wenn ich mir Ihre bis jetzt vorgelegten Papiere ansehe,frage ich mich: Wo ist das Anpacken? Wo ist das Zugrei-fen? Wo sind wegweisende Reformen, die uns nach vornebringen?
Sie machen nur eine Ankündigung nach der anderen:Kleinststeuern, Masterplan, Änderung des Kündigungs-schutzes, Sonderwirtschaftszonen.
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Erst gab es jede Woche eine neue Idee, inzwischenwird uns jeden Tag eine neue Idee auf den Tisch gelegt.Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, ich kannIhnen nur einen guten Rat geben: Holen Sie einmal Luftund setzen Sie die Ideen um. Am besten setzen Sie ersteinmal eine Idee richtig um, sodass es wenigstens ein we-nig nach vorne geht.
Sie loben den so genannten Small-Business-Act. DieGrenze liegt bei einem Jahresumsatz von 17 500 Euro.Wer ist denn zukünftig davon betroffen?
Nicht einmal 10 Prozent aller kleineren und mittleren Be-triebe werden eine kleine Entlastung erfahren. Das Grosdes Mittelstandes bleibt außen vor. Daneben sprechen Siedavon, Betriebsübergänge zu erleichtern. Wie das gehensoll und was Sie vorhaben, sagen Sie aber nicht. Sie spre-chen davon, dass die Bürokratie abgebaut werden muss.Das ist vollkommen richtig; hier besteht ein eindeutigerKonsens. Aber wie das gehen soll und was Sie vorhaben,haben Sie nicht aufgeführt. Sie sprechen von Bürokra-tieabbau; das ist vollkommen richtig. Darüber herrschtbei uns Konsens. Aber sagen Sie doch bitte einmal, wieSie das machen und wann Sie endlich damit anfangenwollen.
Sie haben die Verbesserung der Zahlungsmoral ange-sprochen, Herr Minister. Das Einzige, was Ihnen dazu ein-fällt, ist, eine neue Arbeitsgruppe von Bund und Länderneinzusetzen. Damit hat es sich. Aus. Ende.Ein anderes wichtiges Thema ist die Mittelstandsfi-nanzierung. Das ist momentan das ganz große Problemdes Mittelstands. Er bekommt keine Kredite mehr, weilseine Eigenkapitalquote so gering ist. 42 von 100 Unter-nehmen in Deutschland haben eine Eigenkapitalquotevon unter 100 Prozent. Das muss angegangen werden.
– Unter 10 Prozent. Wenn Sie der Deutschen Ausgleichs-bank nur einen neuen Namen geben, nämlich den einerMittelstandsbank, bekommt kein einziger Mittelständlerzusätzlich einen Kredit; das sage ich Ihnen.
Ich muss sagen: Es ist immerhin eine tolle Leistung,dass der Mittelstand um 35 bis 60 Millionen Euro entlas-tet werden soll. Auf der anderen Seite werden in Anwe-senheit unseres Wirtschaftsministers am Kabinettstischallein für dieses Jahr neue Belastungen in Höhe von27 Milliarden Euro beschlossen.Bei Ihnen erfolgt eine Ankündigung nach der anderen.Was ist denn jetzt mit dem Kündigungsschutz? In demAntrag steht nichts mehr davon. Was ist denn mit denSonderwirtschaftszonen? Auch davon höre ich nichtsmehr. Aber in den Zeitungen wurde das riesengroß undplakativ angekündigt.Jetzt wird ein neues Bündnis für Arbeit vorbereitet.Hilft das dem Mittelstand? Der Mittelstand braucht kei-nen neuen Debattierklub. Der Mittelstand braucht Entlas-tungen, kein neues Bündnis für Arbeit. Er braucht weni-ger Bürokratie, weniger Lohnnebenkosten und geringereSteuern.
Die Lohnnebenkosten zu senken ist eine sehr schwie-rige Aufgabe. Wir wissen, dass im Bereich der Kranken-kassen und der Rente wirklich große Reformen anstehen.Das ist uns allen in diesem Haus klar. Auch wissen wir,dass diese großen Reformen Zeit brauchen werden.Ebenso wie die Entlastungen können diese Reformennicht von heute auf morgen kommen. Deswegen müssenwir nach einer Maßnahme suchen, mit der wir die Lohn-nebenkosten schnell senken können. Hier bieten sich dieArbeitslosenversicherungsbeiträge an.Es ist notwendig, dass man die Arbeitslosenversiche-rungsbeiträge von versicherungsfremden Leistungen ent-lastet. Mit der Idee, diese Beiträge um 1 Prozentpunkt ab-zusenken, stehen wir nicht alleine. Das steht sogar in einemPapier der Bundesanstalt für Arbeit. Eine Absenkung um1 Prozentpunkt bringt 8 Milliarden Euro. Herr Gerster gehtdavon aus, dass sich die versicherungsfremden Leistungenauf gut 6 Milliarden Euro beziffern. Das Karl-Bräuer-Insti-tut geht sogar von 15 Milliarden Euro aus.Zudem muss ich fragen: Wollen wir das JUMP-Pro-grammwirklich so lassen, wie es ist? Anscheinend hat eskeinen Erfolg. Die Jugendarbeitslosigkeit steigt perma-nent an. Dafür müssen andere Maßnahmen durchforstetwerden, um zu überprüfen, welche versicherungsfremdenLeistungen von den Arbeitslosenversicherungsbeiträgenwirklich noch bezahlt werden müssen.Thema Bürokratieabbau. Schauen Sie sich einmal an,was die Länder auf diesem Gebiet machen. Hessen, Saar-land und Bayern machen es Ihnen doch vor.
Dort werden Vorschriften und Rechtsverordnungen abge-baut. Warum erlassen Sie kein Gesetz, wonach in dieserWahlperiode jeden Monat mindestens zehn Verordnungenabgeschafft werden müssen? Das ist nicht viel, aber Siemachen damit Vorgaben.
Danach müssen für eine neue Verordnung zehn Verord-nungen abgeschafft werden. Das wäre endlich ein Zei-chen dafür, dass die Verwaltung Ernst macht und nichteinfach nur daherredet. Lösen Sie Verkrustungen des Ar-beitsmarktes auf. Betriebliche Bündnisse und das Güns-tigkeitsprinzip sind angesprochen worden, um nur einigeStichworte zu nennen.DagmarWöhrl
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DagmarWöhrlIch kann Ihnen in diesem Zusammenhang nur sagen –wir haben es bei den Minijobs und dem Gesetz gegenScheinselbstständigkeit gezeigt –: Wenn Sie vernünftigeReformen auf den Weg bringen, die dem Mittelstand undden Menschen in unserem Land helfen, wenn wir wissen,dass sich wirklich etwas in die richtige Richtung bewegt,werden Sie uns immer an Ihrer Seite haben, Herr Minister.
Wir alle machen Ihnen dieses Angebot. Aber diese Refor-men müssen in der Zukunft wirklich etwas bewirken unddürfen keine Schaumschlägerei sein.Vielen Dank.
Ich erteile dem Kollegen Werner Schulz, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! KolleginWöhrl, Sie haben über das Lichtausgehen in unseremLande gesprochen. Aber nur dann, wenn man die Augenvor allem verschließt, wird es richtig dunkel. Es scheinteine beliebte Oppositionsmethode zu sein, Finsternis undUnsicherheit zu verbreiten. In Ihrer Partei hieß das,glaube ich, Sonthofen-Strategie.
Es handelt sich um ein allgemeines Schwarzmalen, damitman selbst als Lichtgestalt erscheinen kann. Dieses He-runterreden hat Methode.Ich mache mir die Dinge nicht einfach, weil die wirt-schaftliche Lage wirklich schwierig ist.
Die Staatsfinanzen sind angespannt, die Arbeitslosigkeitsteigt, die Wirtschaftsprognosen sind unter einem starkenVorbehalt zu sehen, weil wir nicht wissen, wie sich die Si-tuation im Golfgebiet entwickeln wird. Wir stehen alsovor einer durchaus problematischen Situation.An unseren Reformbemühungen waren Sie ja beteiligt;ich weiß gar nicht, warum Sie hier keinen eigenen Stolzentwickeln. Das Hartz-Konzept entfaltet auch erst mitder Zeit Wirkung. Sie können hier keine Sofortlösung,keine Instantwirkung erwarten. Aber im Jahreswirt-schaftsbericht – das sollten Sie anerkennen – wurde eindurchaus reelles Bild gezeichnet; es ist eine kritischeWürdigung der Situation. Vor allen Dingen beschreibt dieBundesregierung, wie sie die Modernisierung und denStrukturwandel fortsetzen will.An dieser Stelle empfinde ich es als merkwürdig, dassausgerechnet diejenigen, die permanent einschneidendeReformen fordern und nicht müde werden, Blut-,Schweiß- und Tränenreden zu halten, also die neuen Fansvon „Blood, Sweat and Tears“, diese Flüssigkeiten nichtin ihrem Gesicht sehen möchten.
Das „Handelsblatt“ schrieb richtigerweise, dass es in un-serem Land eine gut organisierte Verantwortungsschizo-phrenie der Eliten gebe.
Diesen Punkt müssen wir beleuchten.Wir reden heute über eine Mittelstandsoffensive als ei-nen Teil der Wirtschaftspolitik. Es ist unredlich, wenn Siedarauf herumhacken, noch dazu angesichts der dürftigenAnträge, die Sie selbst vorgelegt haben. Darin finden sichVersatzstücke und alte Programmbausteine, die an Dürf-tigkeit nicht zu unterbieten sind. Ihre Anträge enthaltennur wenige konstruktive Punkte, über die man sich über-haupt streiten könnte. Das ist wirklich „Gute Nacht,Deutschland“, Frau Wöhrl.
Reden wir also über das akute Problem der Mittel-standsfinanzierung. Hier ist die Regierung tätig gewor-den und hat eine Mittelstandsbank ins Leben gerufen. Ichfrage mich, wo denn die großen Verfechter der Privatisie-rung, die Kritiker der Staatswirtschaft, geblieben sind, alsdie privaten Banken aus diesem Geschäft ausstiegen.
– Herr Meyer, wo ist denn Ihr Aufschrei über diese Frech-heit der privaten Banken geblieben,
die Zinssenkungen der EZB nicht weitergeben zu wol-len? Wo ist Ihr Aufschrei geblieben, wo ist der Anwalt derMittelständler?
Hier springt der Staat in die Bresche und leistet Mittel-standsfinanzierung aus einer Hand, weil es andere nichttun. Das ist doch die Wahrheit.Sie sollten bitte auch nicht vergessen, dass wir beiBasel II einen großen Erfolg errungen haben
und dass sich 95 Prozent der Mittelständler künftig besserstellen werden, weil die geringe Eigenkapitalausstattunggewährleistet ist und akzeptiert wird.
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– Ja, aber die Bundesregierung hat es erreicht. Sie jedochhaben es noch nicht einmal erwähnt.
– Diese Schwarz-Weiß-Malerei bringt uns nicht weiter.Wir wollen natürlich nicht nur Existenzgründern denStart erleichtern; denn Bürokratieabbau, Innovations-schübe, Technologietransfer und Verbesserung der Zah-lungsmoral helfen vor allen Dingen bestehenden Unter-nehmen. Es ist uns doch klar, dass es wesentlichkostengünstiger ist, bestehende Betriebe zu erhalten, alsneue aufzubauen und zu finanzieren. Niemand will Insol-venzen und wir steuern dagegen, so weit es geht. Aber Siemüssen sich immer auch die Bilanz von Neugründungenund Insolvenzen anschauen.In diesem Zusammenhang ist vor allen Dingen dieAußenwirtschaftsinitiative hervorzuheben. Wir wollenden Erfolg exportieren, den wir bei den erneuerbarenEnergien erreicht haben, und einen Beitrag zum globalenKlimaschutz leisten. Den Unternehmen, die im Zuge desErneuerbare-Energien-Gesetzes entstanden sind, wollenwir eine Erweiterung ihres Marktes ermöglichen.
Professor Siebert, der Präsident des Instituts für Welt-wirtschaft in Kiel, hat in der gestrigen Ausgabe der „Welt“einen offenen Brief mit der Frage „Was tun gegen die Ar-beitslosigkeit?“ an uns geschrieben. Er verweist auf dieTatsache, dass die Arbeitslosigkeit schubweise immerweiter gestiegen sei, dass die Zahl der Arbeitslosen seitden 70er-Jahren in jeder Rezession um etwa 1 Million an-steige und in den guten Jahren der Konjunktur nicht ge-senkt werde, dass hier also eine Fehlprogrammierung vor-liege. Ich finde es in diesem Zusammenhang nun wirklichabenteuerlich, wenn der Kollege Merz uns nach wie vordie Chimäre erzählt, dass die Ökosteuer falsch sei. Im Ge-genteil: Genau das ist das Instrument, mit dem wir um-steuern, um endlich die Belastung vom Faktor Arbeit aufden Faktor Energie zu verlagern.
Die eigentliche Fehlsteuerung ist doch: Arbeit ist un-verschämt teuer und wird durch jede Rationalisierung ein-gespart. 40 Prozent der Kosten in den Betrieben sind Ar-beitskosten. Nur 5 Prozent sind Energiekosten. DieseDiskrepanz müssen wir überwinden. Obwohl die Energieein wesentlich intensiverer Produktionsfaktor ist, belastenSteuern und Sozialabgaben nur den Faktor Arbeit. Denje-nigen, die immer auf Steuersenkungen drängen, sei ge-sagt: Die Auflistung der OECD zeigt doch ganz deutlich,dass Deutschland ein Niedrigsteuerland ist, in dem die So-zialabgaben zu hoch sind. An dieser Stelle müssen wir an-setzen; das ist der eigentliche neuralgische Punkt.Wir haben das mit der Ökosteuerreform getan. Sie istder erste mutige Schritt in die richtige Richtung; denn wirhaben Energie verteuert, um die Lohnnebenkosten um1,2 Prozentpunkte zu senken. Das sollten gerade Sie nichtgering schätzen; denn Sie haben es geschafft, von 1990bis 1998 die Lohnnebenkosten von 35 auf 42 Prozent– das sind 7 Prozentpunkte; das muss man sich einmalvorstellen – zu erhöhen.
Wir haben dagegen, wie gesagt, die Lohnnebenkosten um1,2 Prozentpunkte gesenkt. Das ist sicherlich – das gebeich gerne zu – noch zu wenig. Aber im Vergleich zu Ihnensind wir diametral vorangekommen.
Sie sind im Moment im Hochgefühl des zu erwarten-den Wahlsiegs am kommenden Sonntag eigentlich nichtmehr zu erreichen. Frau Merkel, Sie schütteln den Kopf –ich nehme an, nicht zum Wahlergebnis, sondern zu mei-nen Worten.
Ich komme Ihnen entgegen, weil ich glaube, dass Sie diemit dem Wahlsieg verbundene größere Verantwortungwahrnehmen möchten nach dem Motto – so kennen wirSie –: keine Blockade, sondern konstruktive Zusammen-arbeit im Bundesrat! Sie wollen sich an der Lösung allerProbleme beteiligen. Sie werden nach dem Jubel amWahlabend schnell feststellen, dass die Probleme inDeutschland noch immer dieselben sind. Ich schlage Ih-nen deshalb vor, sich zumindest an der Lösung eines Pro-blems zu beteiligen, das Sie selbst mit verursacht haben:Etwa 3 Prozentpunkte der Lohnnebenkosten sind nochheute durch die Fehlfinanzierung der deutschen Einheitbedingt, also dadurch, dass wir die Sozialkosten in Ost-deutschland durch die Erhöhung der Lohnnebenkosten fi-nanziert haben. Bitte schön, beteiligen Sie sich an einerAllianz für Erneuerung in Deutschland, damit wir dieLohnnebenkosten um 3 Prozentpunkte senken können!Die Politik sollte mit gutem Beispiel vorangehen und zei-gen, dass es möglich ist, sich zu einigen. Wir sollten da-mit beim Faktor Arbeit beginnen. Das hätte auch Signal-wirkung für das Bündnis für Arbeit; denn eine Senkungder Lohnnebenkosten entlastet sowohl Arbeitnehmer alsauch Arbeitgeber, führt zur Schaffung neuer Arbeitsplätzeund möglicherweise zur Mäßigung in den Tarifverhand-lungen. Das ist der Beitrag der Union, den ich ab kom-menden Sonntag erwarte. Ich bin sehr gespannt darauf.
Ich erteile das Wort der Kollegin Gudrun Kopp, FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Herren und Damen! Lie-ber Herr Kollege Schulz, ich mag nicht glauben, dass SieWerner Schulz
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Gudrun Koppwirklich nicht verstanden haben sollen, welche Problemedie Firmen und die Menschen am Standort Deutschlandhaben.
Sie haben ein weiteres Mal die schwache Ausstattung derUnternehmen mit Eigenkapital beklagt. Lieber Herr Kol-lege Schulz, daran kann auch eine neue Mittelstandsbanknichts ändern;
denn eine solche Bank kann die vielen Firmen, die größteNot leiden, gar nicht auffangen. Es fehlt an einer konse-quenten Umsteuerung in der deutschen Politik. Sie solltenzum Beispiel keine Politik betreiben, die die kleinen Ge-winnmargen der Unternehmen, die hier und da vorhandensind, wegbesteuert, sondern mehr Freiraum schaffen.
Herr Minister Clement, ich hoffe, Sie erkennen, dasswir in Deutschland inzwischen ein weiteres riesiges Pro-blem haben: Die Menschen in diesem Land haben das Ver-trauen in die Kraft der politischen Entscheidungen verlo-ren. Ich wiederhole: Es ist ein riesiges Problem, dass derPolitik, insbesondere der rot-grünen, nichts mehr zugetrautwird. Die Menschen wenden sich enttäuscht ab. Es gab82000 private und Firmeninsolvenzen. Im Vergleich zumVorjahr ist das ein Plus von 66 Prozent. Das muss man sicheinmal vorstellen! Diese Zahlen müssen in verschiedenenKöpfen hier doch eigentlich ein Umdenken hervorrufen.
Herr Minister Clement, ich möchte noch eine Zahl hin-zufügen, Stichwort Bürokratielasten. Sie haben von ei-nem Masterplan Bürokratieabbau gesprochen. Sie ha-ben leider nicht erwähnt, dass die bürokratische Belastunggerade kleiner Unternehmen laut Gutachten – es ist in-zwischen schon sieben Jahre alt – bei 3 600 Euro pro Ar-beitsplatz pro Jahr liegt. Die bürokratische Belastunggroßer Firmen liegt bei gerade einmal 150 Euro. Die rot-grüne Bundesregierung sollte sich diesbezüglich einmaleinen Überblick verschaffen; die aktuellen Zahlen sindnämlich mit Sicherheit noch viel grauenvoller. Sie solltennicht mehr nur ankündigen, sondern tatsächlich – fernabvon ideologischen Überzeugungen – zu Potte kommen,wie man so schön sagt.
Ich fordere Sie sehr konkret auf: Schaffen Sie durchwirklich durchgreifende Maßnahmen Vertrauen! Verzich-ten Sie zum Beispiel auf das Gesetz, mit dem das Rechtauf Teilzeitarbeit festgeschrieben wird!
Ich habe in einer Debatte im Wirtschaftsausschuss daraufverwiesen, dass dieses Recht einen Eingriff in unterneh-merische Freiheiten darstellt. Ich habe darauf verwiesen,dass die einseitige Möglichkeit, einen Vertrag nach sechs-monatiger Beschäftigung zu kündigen, zulasten vonFrauen gehen wird, weil immer weniger Frauen einge-stellt werden; schließlich sind sie es, die meistens Teil-zeitarbeit nachfragen. Also: Schaffen Sie dieses Gesetzab! Die rot-grüne Bundesregierung hat ursprünglich da-rauf gehofft, dass man bei einem Streit innerhalb einesUnternehmens vor dem Arbeitsgericht klagen werde. Esist mir ein großes Anliegen, in diesem Bereich für weni-ger Bürokratie zu sorgen.Stichwort Lockerung des Kündigungsschutzes:WennSie das täten, was wir, die FDP-Bundestagsfraktion, vor-geschlagen haben,
zum Beispiel die Schwellengrenze von fünf auf 20 zu er-höhen, dann entstünden – das sagt der Präsident des Groß-und Einzelhandelverbandes – allein im Handel 175 000neue Arbeitsplätze. Diesen Gedanken kann man dochnicht einfach außen vor lassen.
Thema Ladenschluss:Herr Clement, es ist inzwischenwirklich lächerlich, dass Sie sich intern, wahrscheinlichauch fraktionsintern, darüber streiten, ob Sie eine weitereLockerung um zwei, drei, vier oder fünf Stunden zulassensollen. Gleichzeitig kündigen die Gewerkschaften De-monstrationen an. Ich kann Ihnen nur empfehlen: Wenndie rot-grüne Regierung im Hinblick auf Kostenentlas-tung und Entbürokratisierung des Standorts Deutschlandüberhaupt noch etwas zustande bringen will, dann klärenSie endlich Ihr Verhältnis zu den Gewerkschaftsfunk-tionären. Lösen Sie sich von diesem Diktat!
Ich rege ganz ausdrücklich an, dass Sie sich für einekonsequente Stärkung des Wettbewerbs einsetzen. Wirhaben im Rahmen der Haushaltsberatungen erfahren, dass100 Millionen Euro Mehreinnahmen durch Bußgelder zuverzeichnen sind, die dem Bundeskartellamt zugeflossensind. Mit diesem Geld könnte das Bundeskartellamt mehrWettbewerb und gesunden Wettbewerbsstrukturen denWeg bereiten. Warum stärken Sie mit diesem Geld nichtdas Bundeskartellamt personell, das zum Beispiel im Be-reich des Energierechts – dort tut sich eine Menge – mitt-lerweile viel mehr Aufgaben hat? Ein solches Vorgehenwürde den Wettbewerbsstandort Deutschland stärken.Wir haben es nötig. Eine Politik des Klein-Klein, die darinbesteht, jegliche Mehreinnahme zur Entschuldung zu ver-wenden, ist wirklich nicht zukunftsträchtig.
Ich bitte Sie, auch da tätig zu werden.Letzter Punkt: Sonderwirtschaftszonen. Wenn Siewirklich planen, Verwaltungsabläufe zu optimieren undVerfahren zu verkürzen, dann ist das hervorragend. Einigewenige Menschen draußen, die noch den Glauben an diewirkliche Kraft der Politik haben, fragen auf den Ämtern:Wann ist es denn so weit? Kann ich jetzt auf bestimmte
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Fristverkürzungen und kürzere Antragsverfahren bauen?Diese müssen enttäuscht feststellen: Sie haben noch nichteinmal irgendeine gesetzliche Initiative zum Abbau derRegulierungen, die derzeit noch am Markt gelten, gestar-tet. Das heißt, Gesamtdeutschland müsste eigentlich zurSonderwirtschaftszone erklärt werden und nicht einzelneRegionen zu Modellregionen.
Kollegin Kopp, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Sie haben Ihre Redezeit schon deutlich überzogen.
Letzter Satz. – Ehe wir aber gar nichts haben, würden
wir natürlich, damit Sie probieren können, dem Vorschlag
zustimmen, das in einer Modellregion zu versuchen.
Schaffen Sie Vertrauen, setzen Sie sich durch und tun
Sie nicht das, was ideologisch geboten ist, sondern end-
lich das, was den Menschen dieses Landes gut tut.
Vielen Dank.
Ich erteile das Wort der Kollegin Gesine Lötzsch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr ge-ehrte Gäste, ich bin Abgeordnete der PDS.
– Es ist gut, dass Sie das wissen, das sollen aber auch dieGäste wissen.„Der Osten steht auf der Kippe“, erklärte Herr Thiersekurz vor der Wahl. Dafür wurde er vom Kanzler gerügt.Seitdem ist es ruhig um sein Engagement für den Ostengeworden. Der Aufholprozess Ost ist seit Mitte der 90er-Jahre ins Stocken geraten; der Abstand zwischen Ost undWest ist wieder größer geworden. Da bin ich auch schonbei einem wesentlichen Problem des Antrags der Regie-rungsfraktionen zur Mittelstandsoffensive: Die unter-schiedlichen Voraussetzungen und Bedingungen des Mit-telstandes in den neuen Ländern erfordern meinerMeinung nach auch entsprechend differenzierte gesetzli-che Regelungen. In Ostdeutschland haben 52 Prozentder Betriebe weniger als fünf Mitarbeiter. 1997 betrug diedurchschnittliche Kreditquote, bezogen auf die Bilanz-summe, 66 Prozent. Diese liegt im Vergleich zu west-deutschen Unternehmen fast doppelt so hoch und sagt vielüber die Wirtschaftskraft dieser Unternehmen aus.Ich denke, dass die Bundesregierung diesen unter-schiedlichen Rahmenbedingungen stärker Rechnung tra-gen muss. Schon der Begriff Mittelstand ist verwaschen.Man braucht sich nur die Spannbreite der Unternehmenvor Augen zu führen, die unter den Begriff kleine undmittlere Unternehmen gefasst werden. Man kann ebennicht ein etabliertes bayerisches Unternehmen mit mehre-ren 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit einem ost-deutschen Unternehmen mit fünf Mitarbeitern und fak-tisch keinem Eigenkapital in einen Topf werfen undvergleichen. Hier muss eine entsprechende Initiative er-griffen werden, damit stärker differenziert wird und dieBesonderheiten Ostdeutschlands berücksichtigt werden.
Jetzt schon wissen wir, dass die Vorhaben der Bundes-regierung zur Flexibilisierung der Arbeit und zur Senkungder Lohnkosten nicht zu dem gewünschten Erfolg führenwerden. Das, was ich hier vortrage, ist keine Weissagung,sondern eine in Ostdeutschland gemachte Erfahrung. Hierkann man nämlich vom Osten lernen, wie man es im Wes-ten nicht machen soll. In den 90er-Jahren wurde im Ostenauf den Standortvorteil Lohnkosten gesetzt. Auf demostdeutschen Arbeitsmarkt herrscht so seit Jahren in derRealität eine hohe Flexibilität vor: niedrige Tarifbindung,ein hoher Anteil an betrieblichen Regelungen, untertarif-liche Bezahlung, hoher Anteil an befristeten Arbeitsver-hältnissen usw. Doch die gewünschten Arbeitsplatzef-fekte wurden dadurch eben nicht erzielt. Auch mitGroßinvestitionen haben wir im Osten nicht unbedingtgute Erfahrungen gemacht. Herr Stolpe, der hier nicht an-wesend ist, es aber trotzdem weiß, kann davon ein Liedsingen. Ich erinnere nur an Lausitzring, Flughafen Berlin-Schönefeld, Chipfabrik, Cargo-Lifter, Filmpark Babels-berg. Da wurden Milliarden versenkt, ohne entsprechendeArbeitsplatzeffekte zu zeitigen.Ein weiterer Punkt in Ihrem Antrag, meine Damen undHerren, gilt der Entbürokratisierung. Das ist richtig undklingt immer gut. Aber das eigentliche Problem liegt dochviel tiefer. Die Bundesrepublik ist mit der großen Industrie,mit Kohle, Stahl, Schiffbau usw., groß geworden. Viele Ver-fahren und Gesetze orientieren sich an diesen alten Indus-trien, die heute eben nicht mehr Arbeit schaffen, sonderneher Arbeitsplätze im Mittelstand bedrohen. Doch geradeMiniunternehmen, die in den letzten Jahren Arbeitsplätze inbeachtlichen Größenordnungen geschaffen haben, werdenvon den Verwaltungen als lästig angesehen. Natürlich ist esfür eine Verwaltung immer angenehmer und zeitsparender,den Inhalt eines Fördertopfes auf zwei oder drei Groß-unternehmen zu verteilen, als mit mehreren 100 oder gar1000 Miniunternehmen zu kommunizieren. Abgesehen da-von entspricht es der Mentalität von Politikern, gerade vorWahlen, sich über die Generierung von Großprojekten einenRuf zu erwerben. Das ist einfacher und schöner, als sich mitMiniunternehmen herumzuschlagen.Meine Damen und Herren, ich denke, es geht nicht ein-fach nur um Entbürokratisierung, sondern es geht umnicht mehr und nicht weniger als eine Neudefinition derAufgaben des Staates.Wir, die PDS, schlagen zur Stärkung des Mittelstandesunter anderem Folgendes vor:
Gudrun Kopp
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Dr. Gesine Lötzscherstens ein Infrastrukturprogramm der Bundesregie-rung, das vor allem die Infrastruktur von Städten und Ge-meinden stärkt, so wie es Herr Stolpe bereits aufgegriffenhat und jetzt praktisch umsetzen muss; zweitens einenneuen Finanzierungsschlüssel für die Gemeinschafts-aufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruk-tur“, der den Länderanteil von 50 auf 25 Prozent senkt. Inmeiner Heimatstadt Berlin ist es schon jetzt nicht mehrmöglich, alle vom Bund zugestandenen Mittel der Ge-meinschaftsaufgabe abzurufen, da das Land in einerHaushaltsnotlage steckt, wodurch die Kofinanzierungnicht mehr möglich ist.Ich denke, die vorgeschlagenen Maßnahmen würdenAufträge für kleine und mittlere Unternehmen bringenund die Wirtschaft in den neuen Bundesländern beflügeln.Wir brauchen eine Mittelstandsoffensive, die sehr spezi-fische Vorschläge für Ostdeutschland enthält. Dann hättenSie, Herr Minister Clement, auch unsere Unterstützung,aber nur dann.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort Kollegen Christian Lange, SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Ich bin froh darüber, dass in die Wirtschaftspolitikder Bundesrepublik Deutschland wieder Realismus,Schwung und Dynamik statt Schwarzmalerei und ollerKamellen eingezogen sind.
Warum sage ich „Realismus“? Frau Kollegin Wöhrl,wenn Sie sich hier hinstellen und in Ihrer Rede behaupten,in Deutschland gebe es kein Wachstum, dann sind Sie be-reits einer Lüge aufgesessen. Wenn Sie wenigstens so ehr-lich gewesen wären, zu sagen, wir hätten zu wenig Wachs-tum, dann hätten wir eine realistische Debatte habenkönnen. Aber wenn Sie noch nicht einmal dazu bereitsind, sondern behaupten, wir hätten kein Wachstum, ob-wohl alle – Sachverständigenrat, Ifo, HWWA, IfW usw. –uns ein positives, wenn auch zu geringes Wachstum zu-gestehen, dann macht dies deutlich, dass Ihnen nicht an ei-ner realistischen Debatte, sondern nur an Schwarzmalereiund Polemik gelegen ist. Das brauchen der StandortDeutschland und der Mittelstand am wenigsten, meineDamen und Herren.
Wenn wir dann von Ihrem stellvertretenden Fraktions-vorsitzenden hören müssen, dass die Bundesregierung al-lein die Weltwirtschaft für die wirtschaftliche Lage ver-antwortlich mache, obwohl der Minister kein einzigesWort dazu gesagt hat, dann finde ich das mehr als bemer-kenswert. Und wenn zugleich Ihre Kollegen das hohe Re-formtempo des Ministers kritisieren, dann muss ich Siefragen: Was meinen Sie jetzt eigentlich?
Ist allein die Weltwirtschaft verantwortlich oder spielennicht doch auch die Probleme in Deutschland eine Rolle?Wir würden uns in der Tat treffen und über eine realisti-sche Wirtschaftspolitik sprechen können, wenn wir ge-meinsam die Weltwirtschaft auf der einen Seite und dieStrukturprobleme in Deutschland auf der anderen Seiteals Verantwortliche sehen würden.Genau aus diesem Grunde kommt die Mittelstands-offensive der Bundesregierung zum richtigen Zeitpunkt.Gerade in Zeiten tief greifenden Strukturwandels kannund wird Deutschland von einer mittelständisch gepräg-ten Wirtschaftsstruktur profitieren; denn es waren schonimmer die mittelständischen Unternehmen, die in ökono-mischen Umbruchsituationen die Richtung vorgegebenund das Tempo bestimmt haben. Unsere Aufgabe ist es,dieses Tempo zu befördern und dafür zu sorgen, dass derMittelstand Jobmotor Nummer eins in Deutschland istund bleibt.Deshalb – da komme ich wieder zum Realismus IhrerWirtschaftspolitik zurück – finde ich es bemerkenswert,dass Sie die Steuerquoten in Deutschland kritisieren.Mein Kollege Brandner hat bereits auf die Zahlen desDIW hingewiesen. Ich will Ihnen nun die Zahlen derOECD vorhalten. Wenn Sie die gesamtwirtschaftlicheSteuerquote der OECD im internationalen Vergleich 2001heranziehen, dann liegen wir mit 21,7 Prozent mehr alsordentlich, sogar ganz hervorragend. Schweiz, Spanien,USA, Irland, Portugal, Niederlande, Frankreich, Grie-chenland, Italien, Kanada, Österreich, Luxemburg, Groß-britannien, Belgien, Finnland, Norwegen, Schweden undDänemark haben wesentlich höhere Quoten. Nehmen Siedas bitte schön endlich einmal zur Kenntnis und betreibenSie keine Schwarzmalerei!
In Bezug auf den anderen Teil unseres Problems, näm-lich die Abgabenquote, muss ich in der Tat sagen: Hiergilt es weiterzuarbeiten. Da hat die Bundesregierung eini-ges auf den Weg gebracht. Die Steuer- und Abgabenquoteim internationalen Vergleich rechtfertigt keinesfallsSchwarzmalerei, wie Sie es behaupten. Wir liegen hier aufeinem ordentlichen Platz. Aber ich stimme Ihnen aus-drücklich zu, dass wir uns verbessern müssen. Es hat je-doch etwas mit Realismus zu tun und nichts mit Schwarz-malerei, wenn wir etwa die Steuer- und Abgabenquote von36,4 Prozent im internationalen Vergleich der OECD-Zah-len sehen und zur Kenntnis nehmen, dass Großbritannien,Niederlande, Griechenland usw. bis hin zu Schweden we-sentlich höhere Steuer- und Abgabenquoten aufweisen.Das heißt, wir müssen die Rahmenbedingungen ver-bessern und wir müssen die Strukturreformen voranbrin-gen. Deshalb wurde die Rürup-Kommission eingesetzt.Deshalb gehen wir die Reformen im Gesundheitswesenan. Deshalb machen wir bei der Riester-Rente weiter. Alldas werden wir tun. Aber es darf bitte schön keineSchwarz-Weiß-Malerei geben, als ob Deutschland am
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Ende und diese Bundesregierung dafür verantwortlichwäre. Diese hätte nichts mit der Wirklichkeit und mit derSituation des Mittelstandes in Deutschland zu tun.
Ein wichtiger Bestandteil der Mittelstandsoffensive istder Small-Business-Act – das will ich ausdrücklich un-terstreichen –, in dem alle Maßnahmen zusammengefasstwerden, die der Verbesserung der Startbedingungen fürExistenzgründer und Kleinstunternehmen dienen. Wirwollen eine Minimalbesteuerung und einfachste Buch-führungspflichten sowie bessere Finanzierungskonditio-nen und Erleichterungen des unternehmerischen Genera-tionswechsels herbeiführen.Zur Erleichterung des unternehmerischen Generations-wechsels werden wir die Unternehmensnachfolgeinitia-tive weiter ausbauen und ergänzen, die es bereits gibt. EinKollege hat behauptet, sie gebe es gar nicht. Sie kennen janoch nicht einmal die Programme, die die Bundesregie-rung bereits in der vergangenen Legislaturperiode aufge-legt hat. Auch das sollten Sie endlich einmal nachlesen.
Alle Existenzgründer, also nicht nur die Ich-AGs, müs-sen von diesen Vereinfachungen profitieren. Dafür wurdeeine sinnvolle Regelung gefunden. Bis zu einer Umsatz-größe von 17 500 Euro wird umgehend eine Betriebsaus-gabenpauschale von 50 Prozent für Existenzgründereingeführt. Damit sind die Unternehmen nicht nur von derUmsatz- und Gewerbesteuerpflicht, sondern auch – so-fern sie keine sonstigen Einnahmen haben – von der Ein-kommensteuer befreit. Ab dem 1. Januar 2004 gilt dieseBefreiung vorbehaltlich der notwendigen Zustimmungvonseiten der Europäischen Kommission bis zu einerUmsatzhöhe von 35 000 Euro.Wir wollen junge Existenzgründer in den ersten vierJahren von Beitragszahlungen an die Industrie- und Han-delskammern sowie Handwerkskammern ausnehmen.Herr Kollege Brüderle, es ist eben nicht so, dass dies be-reits heute Realität ist. Ich gestehe Ihnen zu, dass bei denIndustrie- und Handelskammern in der Vergangenheit einsehr guter Fortschritt erreicht wurde. Dort gibt es sehrgünstige Einstiegstarife und beitragsfreie Mitgliedschaf-ten. Aber im Bereich der Handwerkskammern muss nochnachgelegt werden. Der Minister hat schon angekündigt,dass wir dies gemeinsam mit dem Zentralverband desDeutschen Handwerks erreichen wollen. Deshalb bitte ichSie, uns in diesem Punkt zu unterstützen und nicht nur zukritisieren. Auch das hat etwas mit Realismus und Ehr-lichkeit in der Politik zu tun.Ein genauso wichtiger Beitrag für Existenzgründer istdie Verbesserung der sozialen Absicherung von Kleinst-unternehmern, angefangen bei der Einführung eines Pfän-dungsschutzes für die private Altersvorsorge von Selbst-ständigen. Ebenso soll die Handelsregistereintragungbeschleunigt werden.
Lassen Sie mich auch noch ein Wort zu den handwerk-lichen Tätigkeiten und zur Handwerksordnung sagen.Wir haben bereits in der vergangenen Legislaturperiodemit den Leipziger Beschlüssen einen ersten Schritt in dieRichtung von mehr Flexibilität getan. Wir werden in die-ser Richtung weitergehen. Ich freue mich, dass das Hand-werk grundsätzlich erklärt hat, es sei bereit dazu. Wenn wirim Bereich der einfachen Dienstleistungen mehr erreichenwollen, dann müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass dieseMenschen, die sich selbstständig machen wollen, nichtBiotechunternehmer werden, sondern dass sie ganz einfa-che Tätigkeiten ausüben werden. Sie werden beispiels-weise im Gärtnereibereich oder im Malerbereich tätig wer-den. Wir brauchen flexiblere Lösungen. Die Punkte, dieder Minister hier angedeutet hat – Anrechnungsfragen,Freischussregelungen, die Verkürzung der siebenjährigenPraxiszeit für Gesellen –, gehen in die Richtung, Vereinfa-chungen zu erreichen. Ich freue mich darauf, dass wir indiesem Punkt Ihre Unterstützung haben. Aber seien Siebitte schön an dieser Stelle auch so fair, diese Maßnahmenzu begrüßen und nicht nur zu kritisieren! Auch das hat et-was mit Realismus in der Politik zu tun.
Wir brauchen darüber hinaus eine Initiative zur Mo-dernisierung der Ausbildung. Auch hier ist die Bundes-regierung auf dem richtigen Weg.Wir brauchen Wachstum und Beschäftigung zunehmendauch bei innovativen mittelständischen Unternehmen, zumBeispiel in der Bio- und Informationstechnologie. Durcheine gezielte Ausrichtung der Förderprogramme und deut-liche Vereinfachung bei den Antragsverfahren konnte derAnteil von kleinen und mittleren Unternehmen an der For-schungsförderung des Bundes in den letzten Jahren umüber 50 Prozent erhöht werden. Mit einer Initiative „Inno-vation und Zukunftstechnologien im Mittelstand“ soll die-ser Trend weiter verstärkt werden. Es gilt, dies insbeson-dere in den neuen Ländern und in den benachteiligtenRegionen zu forcieren.Ich bin fest davon überzeugt, dass wir mit der Offen-sive für den Mittelstand zusätzliche Wachstumsimpulsefür Existenzgründer, Handwerk und Mittelstand auslösenwerden. Gleichzeitig werden wir mit der Umsetzung derSteuer- und Arbeitsmarktreformen Freiraum für mehr Ei-genverantwortung, Kreativität und Experimentierfreudeschaffen. Die Wachstumskräfte unserer mittelständischenWirtschaft werden wir aktivieren. Der Arbeitsmarkt erhältneuen Schwung.In diesem Sinne: mehr Realismus und weniger Schwarz-malerei, meine Damen und Herren der Opposition!Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Laurenz Meyer –zu seiner ersten Rede hier im Plenum, wie ich mit Erstau-nen gehört habe.
Christian Lange
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wennman diese Debatte verfolgt – das sage ich insbesondere andie Adresse der Kollegen aus der SPD-Fraktion –, kommtsie einem ein bisschen gespenstisch vor; das muss ich Ih-nen offen sagen. Haben Sie eigentlich seit Beginn der Le-gislaturperiode nicht einmal mit irgendeinem Mittelständ-ler vor Ort über das, worüber Sie hier reden, gesprochen?
Die Stimmung draußen hat mit dem, was Sie hier vor-tragen, nicht das Geringste zu tun. Das hätten Sie spätes-tens im Dezember zumindest an den Zahlen erkennenkönnen. Das Ifo-Institut hat im Dezember 1100 Unter-nehmen befragt und dabei festgestellt, dass 28,9 Prozentder Unternehmen überlegen, ihren Standort ganz oderteilweise ins Ausland zu verlagern.
77,2 Prozent werden Investitionen einschränken oder auf-schieben oder wollen im Ausland investieren.
– Haben Sie das nicht zur Kenntnis genommen? HerrBrandner, wenn mich in Zukunft draußen ein Mittelständleranspricht und mir seine Sorgen vorträgt, werde ich ihm sa-gen: In der SPD-Fraktion sind so wichtige Leute wie HerrBrandner und Herr Lange dafür zuständig und Herr Kuhnhat diese Aufgabe bei den Grünen übernommen. Ihr brauchteuch überhaupt keine Sorgen zu machen. Die haben das un-heimlich gut im Griff, die wissen, wohin es gehen soll.
Der Wirtschaftsminister, der draußen große Töne spuckt,hat den ganzen Quatsch, die Steuer- und Abgabener-höhungen und die Belastungen, die hier beschlossen wer-den sollen und teilweise schon beschlossen worden sind,mitgetragen.
Bei der Vorbereitung auf diese Debatte ist mir etwasaufgefallen – und ich bitte Sie, Herr Wirtschaftsminister,in Ihrem eigenen Laden noch einmal nachzusehen –: An-fang der Woche hat mir ein Mittelständler, ein Modell-bauunternehmer, eine neue Verordnung aus Ihrem Hausezugeschickt, in der auf dreieinhalb Seiten nur Gebühren-erhöhungen für mittelständische Unternehmen aufgelistetsind. Gucken Sie sich diese Verordnung einmal an! Siestand am 23. Dezember letzten Jahres im Bundesgesetz-blatt, von Ihnen unterschrieben.
Und dann stellen Sie sich hier hin und sagen: wenigerBürokratie, weniger Abgaben für den Mittelstand. Wo istdenn da die Glaubwürdigkeit?
Wer soll Ihnen das noch abnehmen?
Draußen im Scheinwerferlicht reden Sie von Mittel-standsoffensive, während Sie in Wirklichkeit immer nurdie Hand aufhalten und abkassieren. Das ist, leider Gottes,die ganze Wahrheit, Herr Clement. Das wird hier im Bundschneller auffallen als in Nordrhein-Westfalen, das Sierechtzeitig verlassen haben. Das war gut für das Land,aber schlecht für die Bundesrepublik Deutschland.
Meine Damen und Herren, 80 Prozent der Unterneh-men beklagen, dass sie heute nur noch ein halbes JahrPlanungssicherheit für Investitionen haben. Wie solldas denn gehen? Der Zeitraum von einem halben Jahrreicht nicht aus. Die Unternehmen sollten für wenigstenszwölf Monate Planungssicherheit haben. Das war schonwenig genug in der früheren Zeit.Wir müssen sehen, was die SPD-Fraktion mit den Grü-nen zusammen macht. Herr Schulz, ich sage es Ihnen ganzoffen: Ich weiß ja, dass Sie untereinander Streit hatten we-gen dieses Antrags, dass der eine oder andere bei Ihnenweitergehen wollte. Ich wundere mich, dass Sie sich dannwirklich darauf verständigt haben, gestern einen Antrageinzubringen, der im Text und in den Überschriften derInternetseite des Wirtschaftsministeriums entspricht, dieseit dem 5. Januar als Public-Relations-Maßnahme für je-dermann zugänglich ist. Sie trauen sich allen Ernstes, dasals Mittelstandsoffensive von SPD und Grünen hier imPlenum einzubringen. Schämen Sie sich dabei wirklichnicht? Tun Sie sich bei den Sorgen, die der Mittelstandhat, nicht wenigstens schwer, wenn Sie so etwas machen?
– Herr Brandner, dass Sie dabei nervös werden, kann ichverstehen.
Das ist wirklich eine geistige Glanzleistung, die Sie voll-bracht haben.Das Einzige, was Sie geschafft haben, ist, die Reihen-folge der Kapitel Ausbildung und Innovationsoffensivefür den Mittelstand zu vertauschen; es sei dahingestellt,ob bei der Arbeit geschlampt worden ist oder ob das be-absichtigt war.
Außerdem haben Sie aus dem alten Absatz „Verbesserungder Zahlungsmoral“ in Clements Mittelstandsoffensiveein neues Kapitel gemacht und fertig ist die Laube. Das istalles an geistiger Arbeit, was Sie als Offensive für denMittelstand eingebracht haben!Sagen Sie einmal ehrlich, Herr Kuhn: Muss man sichnicht schlecht fühlen, wenn man so etwas vertreten soll?Ihrer Rede hat man das auch angemerkt und noch deut-licher wurde es bei Ihrem Kollegen, der die Opposition füralles verantwortlich gemacht hat.
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Gestern fand eine Tagung des Bundes der Selbststän-digen statt, an der auch einige von Ihnen teilgenommenhaben. Wir – der Kollege Schauerte war auch anwesend –haben bei dieser Gelegenheit gefragt,
wer von dem Vorhaben der Bundesregierung betroffen ist,für Unternehmen bis zu einer Umsatzgröße von 17500 Eurobzw. 35 000 Euro eine hälftige Betriebsausgabenpau-schale einzuführen.
Wir erhielten darauf zur Antwort, dass von dem, was Sieals Großoffensive für den Mittelstand ankündigen, zwareine Avon-Beraterin betroffen wäre,
dass aber niemand davon betroffen wäre, der in Deutsch-land Arbeitsplätze schafft. Das ist aber angesichts derSituation in Deutschland zu wenig.
Das Thema Kündigungsschutz – der einzige Punkt, mitdem Herr Clement in den vergangenen Wochen positivbei den Wirtschaftsverbänden aufgefallen ist – ist in demAntrag zu der Offensive für den Mittelstand mit keinemWort erwähnt.
Das macht deutlich, in welche Richtung der Weg führt.Deswegen glaube ich persönlich nicht daran, dass mit die-ser Bundesregierung auch nur eine einzige Offensive bzw.eine einzige ernsthafte Maßnahme für den Mittelstand aufden Weg gebracht werden kann. Bei Ihrem Vorhaben han-delt es sich um weiße Salbe. Weniger als 10 Prozent derUnternehmen im Mittelstand – die Kollegin Wöhrl hat da-rauf hingewiesen – sind davon betroffen.Es wird keinen einzigen zusätzlichen Existenzgründergeben, wenn die Rahmenbedingungen für den Mittelstandnicht geändert werden. Wie sollen angesichts von 38000 Fir-menpleiten – in diesem Jahr soll die Zahl noch zunehmen –Existenzgründer überleben, wenn unter den Rahmenbe-dingungen, die Sie zu verantworten haben, schon beste-hende Betriebe Pleite gehen?Ich habe kürzlich davon gesprochen – das hat mir hin-terher Leid getan –, dass die Bundesregierung handwerk-lich schlechte Arbeit leistet. Die Handwerker haben dage-gen protestiert und mir verboten, in dieser Debatte imZusammenhang mit dieser Bundesregierung weiterhindas Wort „handwerklich“ zu erwähnen, weil sie sich da-durch beleidigt fühlen.
Ich kann das nachvollziehen.
Sie brauchen sich nur die Zahlen vor Augen zu halten.Herr Müntefering, Sie haben angekündigt, es müsse we-niger Geld für den Konsum und mehr für den Staat aus-gegeben werden. In Zukunft können Sie den Menschenvorrechnen, was Sie darunter verstehen. Sie haben esnämlich in nur zwei Jahren geschafft, dass die Menschenneun Tage länger für den Staat arbeiten müssen, als esnoch im Jahr 2001 der Fall war. Sie müssen neun Tagemehr für Steuern und Abgaben arbeiten. Sie haben denMenschen innerhalb von zwei Jahren neun Tage geklaut,die sie zuvor für Familie, Urlaub, Kleidung und ihre Kin-der zur Verfügung hatten.
Das haben Sie zu verantworten und das werden wir nichtunerwähnt lassen.
Ein Punkt hat mich bei der Vorbereitung dieser Debattebesonders nachdenklich gemacht. Vor zwei Tagen hat derDGB seine Ausbildungsbilanz vorgelegt. Das haben Siegar nicht mitbekommen, weil Sie die Sorgen der Jungennicht mehr zur Kenntnis nehmen. Niemand von der SPDhat darauf reagiert,
dass die Zahl der Ausbildungsplätze um 7,1 Prozent ge-sunken ist. Im vergangenen Jahr sind 43 000 Ausbil-dungsverträge weniger zustande gekommen. Niemandvon Ihnen hat darauf reagiert. Das ist die soziale Haltung,die Sie an den Tag legen!
186 von Ihren 251 Abgeordneten sind Gewerkschaftsmit-glied, aber niemand hat zu dieser desaströsen Bilanz desDGB Stellung genommen.Sie wollen die Wirklichkeit nicht mehr zur Kenntnisnehmen. Das ist soziale Kälte, die heute in Deutschlandherrscht. Diese soziale Kälte nehmen die Menschen wahr.Das werden Sie am kommenden Sonntag merken.
Sie diskutieren immer wieder – die Grünen sollten nocheinmal ernsthaft darüber nachdenken – über den großenBefähigungsnachweis.
Dazu sage ich Ihnen im Zusammenhang mit der Ausbil-dung: Wer im Handwerk soll eigentlich in Zukunft nochdie Ausbildung gewährleisten und die damit verbundenengroßen Leistungen erbringen, wenn Sie auch den Meis-terbrief, der eine Grundlage für das Handwerk ist, infragestellen? Lassen Sie die Finger davon, wenn Sie nicht nochmehr Ausbildungsplätze gefährden wollen!
Es ist wirklich Zeit, dass Sie einen Kurswechsel ein-leiten. Dazu sollten Sie aber zumindest zugeben, dass Siedie ersten 100 Tage Ihrer Regierungszeit in den Sand ge-setzt haben. Dafür sollten Sie nicht die Opposition und dasAusland verantwortlich machen, sondern sich ernsthaftLaurenz Meyer
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003
Laurenz Meyer
fragen, was bei Ihnen falsch gelaufen ist. Dies ist not-wendig, damit die Menschen wieder Zutrauen zu dem,was in diesem Parlament geschieht, bekommen undDeutschland zumindest wieder in die erste Reihe derWirtschaftsnationen gelangt. Wir wollen nicht unbedingtdie Ersten sein, aber nach vorne kommen, anstatt dasSchlusslicht zu sein. So wie Sie bisher vorgegangen sind,werden Sie dies nicht schaffen.
Herr Kollege Meyer, den Sitten des Hauses entspre-
chend gratuliere ich auch Ihnen zur Ihrer Rede, die man
aber nicht so recht als Jungfernrede bezeichnen kann. Sie
sind ja ein geübter Redner.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Sigrid Skarpelis-
Sperk.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich wargespannt auf die Rede des Kollegen Meyer.
Ich habe mir gedacht: Vielleicht wird er ja mit seinerJungfernrede einen realistischen, vernünftigen Debatten-beitrag liefern.
Aber er ist seinem Ruf als Wadenbeißer gerecht geworden.
Ich habe mir schon überlegt, ob ich ihn Kampfhund nen-nen soll. Aber ehrlich gesagt, dafür waren seine Bisse nichtwirksam genug. Er hat gekläfft wie ein Wadenbeißer.Ich muss feststellen: Die bisherige Debatte enthieltnichts anderes als – entschuldigen Sie – olle Kamellen.
Das sollte nicht der Ton sein, in dem wir in diesem Hauseüber eine schwierige Wirtschaftssituation und die keines-wegs einfache Lage der mittelständischen Unternehmendiskutieren.Herr Merz, ich sage Ihnen eines: Wenn Sie die Feier inVersailles in der vergangenen Woche nur dazu genutzt ha-ben sollten, Fotos zu machen und gut zu essen, anstatt mitden französischen Kollegen über deren Besorgnisse imHinblick auf die Verschlechterung der Wirtschaftslage inFrankreich zu sprechen, dann hat der Ausflug nach Ver-sailles ein bisschen zu wenig gebracht.
Ich möchte Sie auf Folgendes hinweisen: Im gesamtenEuroraum hat sich die Wirtschaftslage deutlich ver-schlechtert. Die Länder, die immerhin 72 Prozent des Brut-toinlandsprodukts der Eurozone produzieren – Deutsch-land, Frankreich und Italien –, stehen vor den gleichenProblemen. Dies ist nicht deshalb der Fall, weil die unter-schiedlichen Regierungen das gleiche wirtschaftspolitischeInstrumentarium verwenden. Dazu haben vielmehr dieweltwirtschaftliche Lage und die Verschlechterung imEuroraum beigetragen. Wenn Sie jede Woche einen apo-kalyptischen Reiter durch das Land jagen, dann werdenSie damit keine Verbesserung des Vertrauens erzielen, wieSie dies soeben verlangt haben.
Uns dagegen geht es um etwas anderes, nämlich darum,in einer keineswegs einfachen Situation zu fragen: Wiekönnen wir dem Mittelstand wirklich helfen? In diesemZusammenhang möchte ich über etwas sprechen, wasMinister Clement und auch mein Kollege von den Grünenkurz angesprochen haben: die Finanzierungsbedingungenund die größer gewordenen Finanzierungsprobleme derdeutschen Wirtschaft schlechthin, aber vor allem die dermittelständischen Unternehmen. Es ist keine Frage: VieleWirtschaftsunternehmen haben erhebliche Schwierigkei-ten, schon ihre normale Wirtschaftstätigkeit zu finanzie-ren. Viele kleine und mittlere Unternehmen, selbst rechtsolide Unternehmen mit guter Absatzlage und Expan-sionsaussichten haben Probleme, von ihren Hausbankeneine Verlängerung ihrer bisherigen Kreditlinie zu erhalten,geschweige denn frisches Geld für neue Investitionen.
Viele, vor allem kleine Existenzgründer, stehen vor ge-schlossenen Banktüren.
Dabei ist es besonders beunruhigend, dass nicht nur dieprivaten Großbanken kleine Unternehmen zurückweisen– das ist nichts Neues –, sondern zunehmend auch Spar-kassen, Raiffeisenbanken und Genossenschaftsbanken.Zwar sprechen die Deutsche Bundesbank und auch derSachverständigenrat davon, dass es keine Kreditklemmegebe, aber die im vergangenen Jahr durchgeführten Um-fragen der Kreditanstalt für Wiederaufbau bei den Unter-nehmen zeigen sehr deutlich eine andere Situation: EinDrittel der Unternehmen klagt über erhebliche Finanzie-rungsprobleme und darüber, dass sie abgewiesen würden,ein Drittel sagt, es habe sich nichts geändert, und ein Drit-tel hat zum Teil sogar verbesserte Konditionen bekommen.Das ist aber nur die Crème de la Crème des Mittelstandes.Die Ursachen für dieses Besorgnis erregende Vorgehender deutschen Banken und Kreditinstitute sind schlichtfolgende – dass Herr Merz darauf mit keinem Wort ein-gegangen ist,
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erscheint mir, entschuldigen Sie bitte, schlicht provinziell,Herr Hinsken –: Der internationale Wettbewerb im Ban-kensektor hat stark zugenommen, wobei insbesondere diePrivatbanken von der Globalisierung und den Risiken derinternationalen Kapitalmärkte betroffen sind. Sie sind vonden weltweiten Rückgängen an den Aktienbörsen ange-schlagen. Es ist einfach eine Tatsache, dass das, was inden letzten zwei Jahren passiert ist, die größte Kapital-vernichtung seit der großen Weltwirtschaftskrise im ver-gangenen Jahrhundert gewesen ist. Das hat riesige Verlus-te bei den Banken und bei vielen Pensionsfonds gebracht,aber auch bei den Immobiliengeschäften in Deutschlandund weltweit.Die Banken stehen inmitten gewaltiger Wertberichti-gungen bei den Unternehmenskrediten, vom Neuen Marktzur E-Commerce-Blase, von der Kirch-Pleite in Bayern biszu den Auswirkungen der Bilanzfälschungen in den USA.Die deutschen Banken rationalisieren in scharfem Tempound bauen massiv Beschäftigte und Filialen ab, um ihreRenditen wieder zu erhöhen und diese Verluste wenigstensteilweise auszugleichen. Aber, verdammt noch einmal, dasist doch nicht die Schuld dieser Bundesregierung,
wenn einige auf internationaler Ebene an den Börsen ge-spielt haben und die Renditen zurückgehen! Sie tun so, alswären wir dafür verantwortlich, wenn hier gezockt wor-den ist.
Übrigens sprechen Sie die Probleme nie an, die im Un-ternehmenssektor entstanden sind und die internationalanstehen, weil es zu unbequem ist, sich damit auseinanderzu setzen und zu fragen, wie man Lösungen für dieseschwierigen Fragen findet.Die Sparkassen, die typischerweise die kleinen undmittleren Unternehmen bedienen, sind durch den von derEU-Kommission erzwungenen Wegfall der Gewährträ-gerhaftung getroffen und schränken die Kreditvergabe anihre traditionellen Kunden ein. Es war übrigens ein kon-servativer Kommissar der EU-Kommission, der uns dieseSchwierigkeiten eingebrockt hat.
Die neuen internationalen Eigenkapitalrichtlinien,kurz Basel II, sind für das Vorgehen von Banken undSparkassen mehr Ausrede als wahrer Grund; denn richtigist, dass die Banken neue, computergestützte Ratingver-fahren entwickeln und anwenden, damit sie ihre Risikenund Kosten besser überschauen können. Dabei sortierensie jetzt alles aus, was ihnen keinen Mindestprofit mehrbringt. Es wäre wichtig, danach zu fragen.Definitiv falsch ist, wenn die Banken ihr restriktivesVerhalten in der Kreditvergabe im Allgemeinen und ge-genüber kleinen und mittleren Unternehmen im Besonde-ren mit Basel II begründen. Bei der ersten Vorlage derneuen Richtlinien waren diese Befürchtungen berechtigt,aber mittlerweile hat die deutsche Verhandlungsführungin Basel gewaltige und auch dringend notwendige Zuge-ständnisse herausgeholt. Der Deutsche Bundestag hatzweimal mit einstimmig verabschiedeten Resolutionenwichtige Verbesserungen gefordert und damit der Bun-desregierung und der deutschen Delegation sichtbar undnachhaltig den Rücken gestärkt.
Das internationale Finanzkapital hat durch dieseBemühungen übrigens gelernt, neben den deutschen Wör-tern Kindergarten und Heimweh nun auch noch das WortMittelstand zu buchstabieren, und das ist gut so.Trotzdem sollten wir die Ergebnisse der Quantitative-Impact-Study 3, QIS 3, das heißt die Simulationen zu derFrage, wie sich die neuen Regeln auf die Banken und da-mit auf die Unternehmen tatsächlich auswirken, abwar-ten, bevor wir grünes Licht für ein Ja in Basel geben. Dassind wir dem Mittelstand und den vielen HunderttausendSelbstständigen, Freiberuflern, Handwerkern und Exis-tenzgründern und Bauern schuldig.Ein weiterer Punkt sind – wenn ich das offen sagendarf – die hohen Realzinsen, die wir in Deutschland zahlen.Die Zinsen für den Euroraum werden mittlerweile zentralfestgelegt. Unsere Preissteigerungsraten sind deutlichniedriger. Damit muss Deutschland und müssen deutscheUnternehmen ein Stabilitätsopfer bringen, das heißthöhere Realzinsen bezahlen.Deswegen brauchen wir mehrere Schritte, um dieFinanzierungsbedingungen zu verbessern:Erstens brauchen wir eine weitere Senkung der Zinsendurch die Europäische Zentralbank, um die hohen Real-zinsen zu senken und so die Unternehmen von der Kos-tenseite her zu entlasten. – Da könnten Sie von der rech-ten Seite auch einmal klatschen.
Das ist eine Forderung an eine andere Organisation, nichtan die Bundesregierung.
Also überwinden Sie sich doch einmal!Zweitens – ich bin gespannt, ob Sie imstande sind, dazu klatschen – brauchen wir die zügige Weitergabe derZinssenkungen durch die Banken an kleine und mittlereUnternehmen.
– Auch hier fehlt natürlich der Beifall von der rechtenSeite; denn damit würden Sie sich bei einigen Vorständenunbeliebt machen. – Es geht nicht an, dass die Zinssen-kungen der Europäischen Zentralbank nicht unver-züglich an die Kunden weitergegeben werden. Wir kriti-sieren hart, dass der Vorsitzende des Aufsichtsrats derDeutschen Bank, Herr Breuer, die Banken auch noch dazuaufgefordert hat, die Zinssenkungen nicht weiterzugeben.
Zu Recht ermittelt das Bundeskartellamt in dieser Frageund auch das Parlament wird sich mit diesem Vorgangernsthaft befassen und gegebenenfalls als Gesetzgeberhandeln müssen.Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
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Dr. Sigrid Skarpelis-SperkWir appellieren an die deutschen Banken, auch in die-ser Situation ihrer Verantwortung gerecht zu werden undden deutschen Mittelstand angemessen zu finanzieren,wie dies in früheren Zeiten der Fall gewesen ist. Exis-tenzgründer sind künftige Kunden; viele von ihnen sinderfolgversprechend und werden den Banken auch Profiteeinbringen.
Die Bundesregierung hat mit den vorgeschlagenenFinanzierungsbedingungen, der Schaffung einer Mittel-standsbank, dem Programm der Kreditanstalt für Wieder-aufbau „Kapital für Arbeit“ und dem Programm der Deut-schen Ausgleichsbank für Mikrodarlehen entscheidendeSchritte gemacht, bringt wirkliche Hilfen und – entschul-digen Sie bitte – nicht nur die ollen Kamellen, die Sie hieranbieten. Wir haben den Mittelstand in den vergangenenJahren massiv entlastet.
Wir müssen jetzt darüber sprechen, konkrete Hilfestel-lungen über die neue Mittelstandsbank zu geben, undüberlegen, wie wir mit neuen Instrumenten die Eigenka-pitalbasis stärken.
Darüber werden wir noch konkret reden. Ich hoffe, dassdas, wenn wir unter Ausschluss der Öffentlichkeit spre-chen, auch einmal konstruktiv und vernünftig geht. In derVerantwortung für den Mittelstand sollte uns das gele-gentlich gelingen. Ich fordere Sie nachdrücklich dazu auf.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hartmut Schauerte.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Frau Skarpelis-Sperk, Ihre Kolleginnenund Kollegen sowie meine Kolleginnen und Kollegenwerden, denke ich, Verständnis dafür haben, dass ichIhren Beitrag jetzt nicht kommentiere.
Ich möchte mich zur Sache äußern und zunächst einekleine Vorbemerkung machen.Herr Minister Clement, wir haben kein Problem mit„Mangel an Ideen“ oder „Mangel an Vorschlägen“,
sondern wir haben ein Glaubwürdigkeitsproblem und einUmsetzungsproblem.
Damit Sie das begreifen, möchte ich mich ein bisschenmit den beiden Problemen beschäftigen.Warum sollen die Menschen in Deutschland bei der Viel-zahl von Vorschlägen glauben, dass jetzt etwas passiert? Beider Vielzahl von Vorschlägen müsste eigentlich Freude imLande sein, nämlich darüber, dass etwas passiert. Aber wiewir alle wissen – Sie wissen es auch; die Wahlen am Sonn-tag werden das vermutlich zeigen –, hält sich die Freudedurchaus in Grenzen. Zurzeit – der Befund ist wohl rich-tig – wachsen die Enttäuschung und die Verunsicherung.
Herr Clement, ich will noch einen Punkt benennen. Ichzitiere:Moderne Mittelstandspolitik ist für uns wenigerBürokratie, schnellere Innovation, besserer Zugangzu den neuen Technologien, effizientere Vermark-tung sowie Hilfe und Unterstützung auf internatio-nalen Märkten.Wissen Sie, woher das Zitat stammt? – Aus einer Regie-rungserklärung. Wissen Sie, von wann? – Von 1998. Wis-sen Sie, von wem? – Von der SPD.
Das könnten Sie abgeschrieben haben. Sie kommen mitgenau den gleichen Vorschlägen, fast in der gleichen Rei-henfolge, heute wieder
und wundern sich, dass die Menschen – nachdem sie fest-gestellt haben, dass vier Jahre lang nichts passiert ist, son-dern dass es im Gegenteil eher Rückschritt gab – jetztnicht fröhlich erregt sagen: Toll, jetzt geht es los.
Herr Clement, jetzt wieder zu Ihnen. Das ist ja auch im-mer eine Frage der persönlichen Glaubwürdigkeit. Sie ha-ben in Nordrhein-Westfalen ebenfalls eine Menge ver-nünftiger Dinge angekündigt.
Ich will Sie einmal an ein paar erinnern. In Ihrer Regie-rungserklärung vom 30. August 2000 haben Sie gesagt:Wir wollen die Arbeitslosigkeit in den kommendenfünf Jahren deutlich herunterbringen.Es gibt in Nordrhein-Westfalen mittlerweile 100 000 Ar-beitslose mehr als zu dem Zeitpunkt, als Sie das gesagthaben.
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Sie haben gesagt:Jugendarbeitslosigkeit muss in unserem Land einFremdwort werden.In keinem Land ist die Jugendarbeitslosigkeit sogestiegen wie in Nordrhein-Westfalen.
Sie haben gesagt:Wir können unser Land in die Spitzengruppe der eu-ropäischen Regionen führen.Nordrhein-Westfalen ist das Schlusslicht in Deutschlandund Deutschland ist das Schlusslicht in Europa.
Das ist das Fazit nach zwei Jahren Regierungsankündi-gungen von Ihnen.Ich zitiere noch eine letzte Aussage, die das ganz be-sonders deutlich macht. Herr Clement, Sie haben in die-ser Regierungserklärung gesagt:Nordrhein-Westfalen ist mehr als meine Heimat, esist meine Lebensaufgabe.Zwei Jahre hat die Lebensaufgabe gedauert. Woraus solldas Vertrauen erwachsen, dass Ihre Aussagen und Ankün-digungen ernst gemeint sind, dass sie sich wirklich nie-derschlagen?Wir brauchen uns über den größten Teil Ihrer Vor-schläge inhaltlich nicht zu streiten. Nein, sehr viele Dingedavon sind zielgerichtet, richtig auf die Bahn gestellt.
Sie müssen aber umgesetzt werden. Das Vertrauen, dassSie es diesmal schaffen und dass es nicht wieder beiAnkündigungen bleibt, ist eben unter null. Das ist Ihr Pro-blem, Herr Clement.
Wir wünschen Ihnen wirklich endlich einmal die Kraft, das,was Sie ankündigen, auch durchzusetzen. Sie haben inNordrhein-Westfalen sehr viele Baustellen errichtet undkaum eine zu Ende geführt. Das ist wirklich problematisch.
– Vielleicht sind wir bei den Schneekanonen im Sauerlandvorangekommen; darüber können wir uns unterhalten.
Das war ein Masterplan. Herzlichen Glückwunsch! Dasist aber auch das Einzige. Das ist nur deshalb gelungen,weil wir mitgemacht haben; sonst wäre auch das wiederschief gegangen. Sie weisen also eine „glänzende“ Bilanzvor. Wo soll das Vertrauen herkommen?Lassen Sie mich zu ein paar Dingen kommen, die hierin der Debatte angesprochen worden sind. Ich fange ein-mal mit den Banken an. Entweder ist das Ausland schuldoder es sind die Banken. Die Banken sind Teil des Stand-ortes Deutschland und auch denen geht es keineswegs sogut, wie es ihnen gehen sollte.
Wir alle wissen, wovon wir da reden. Es werden beiden Banken durchaus Fehler gemacht, zum Beispiel beiden Großbanken und den Privatbanken; wie sie sich vomMittelstand verabschiedet haben, war nicht die feine eng-lische Art.Die Banken zeichnen bei ihrer Kreditvergabe die Kon-junkturverläufe nach,
und zwar nicht übersteigert, sondern in einer sanfterenKurve. Die vorgenommenen Investitionen sind in Deutsch-land deutlich stärker gesunken als die Kredite. Wenn Siedas zu Ende denken, dann müssen Sie daraus schließen,dass wir mehr Betriebsmittelkredite geben mussten – abso-lut ungesichert –, weil die Wirtschaft weggebrochen ist.
Nun den Banken zu sagen, sie sollten endlich großzügigKredite geben, ist eine gefährliche Operation – Japan lässtgrüßen. In Japan haben die Banken Kredite gegeben aufTeufel komm raus. Seit zehn Jahren sitzen sie in der Re-zession.
– Ich warne Neugierige vor solch einem populistischenUnsinn, Frau Skarpelis-Sperk.
Das, was Sie dazu vortragen, ist populistischer Unsinn.Ich finde das schon schlimm.Der nächste Punkt sind die EZB-Zinssätze. Sie wissennicht, wovon Sie da reden. Die EZB hat die Zinssätze umeinen halben Prozentpunkt gesenkt. In diesem Zusam-menhang muss man wissen, dass das Refinanzierungsvo-lumen der deutschen Banken nicht einmal zu 10 ProzentEZB-gesteuert ist. Es besteht zu 90 Prozent aus dem Geldder Sparer. Wenn wir wollen, dass die Banken die EZB-Zinssenkung an ihre Kunden weiterreichen, müssen sieauch die Einlagezinsen für die Sparer senken können. Da-von habe ich bei Ihnen nichts gehört. Sie möchten dochnur, dass die Zinssenkung der EZB an die Kreditnehmerweitergereicht wird. Sie haben überhaupt keine Ahnung.
Machen Sie sich schlau, bevor Sie hier populistischen Un-sinn verkünden.
Hartmut Schauerte
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Hartmut SchauerteIch möchte noch einen weiteren Gesichtspunkt an-sprechen, der mir wirklich aufstößt, und zwar diese17500-Euro-Regelung, von mir aus eines Tages die35 000-Euro-Regelung, wenn Sie diese denn durchsetzenkönnen. Bis zu einem jährlichen Umsatz in Höhe von17 500 Euro besteht für Existenzgründer und Kleinunter-nehmen keine Aufzeichnungspflicht und es gilt eine Be-triebsausgabenpauschale in Höhe von 50 Prozent. Wasaber passiert, wenn ein Betreiber eines solchen Mini-Un-ternehmens über diese Grenze kommt? Wir hoffen ja, dassdiese Unternehmen möglichst schnell und möglichst häu-fig über diese Grenze kommen. Das geschieht aber nichtgeplant, sondern plötzlich, im September oder Oktober.Bis dahin haben diese Unternehmen keine Aufzeichnun-gen gemacht und damit ein Problem. Denn das Finanzamtwird im Januar nach den Aufzeichnungen fragen.Sie werden erleben, dass die Möglichkeit, die Auf-zeichnung zu unterlassen, gegen null läuft.
Auch die kleinen Unternehmen werden ihre normaleBuchhaltung machen müssen, weil alles andere mit einemerheblichen Risiko verbunden ist.
Dieses Risiko werden Sie dann vollstrecken. Sie wissenan dieser Stelle nicht, worauf es ankommt und was wirk-lich helfen würde.Ich möchte noch einen Punkt ansprechen, nämlich dieEnergie- und Arbeitskosten in Deutschland. Wir habenin diesem Bereich wirklich Erfahrungen gesammelt. Siehaben gesagt, die Arbeit sei zu teuer, die Energie sei zubillig. Jetzt ist beides teuer. Das ist das Ergebnis.
Energiekosten sind anders als sonstige Belastungenimmer kalkulatorische Kosten, die das Produkt belasten.Sie belasten das Produkt, das wir um die ganze Weltschicken, und machen es im Wettbewerb teuer. Sie belas-ten aber nicht die Produkte, die aus der ganzen Welt nachDeutschland kommen.
Die Energiesteuer auf die Produkte umzulegen und zu mei-nen, damit Probleme zu lösen, ist für ein Exportland wie dieBundesrepublik Deutschland ein absoluter Irrweg. Wir ver-schlechtern unsere Wettbewerbssituation auf den Märktender Welt und erleichtern den Import von Produkten. Dies istschlecht für die Arbeitsmarktsituation in Deutschland undunsere Position beim Export. Dies ist ein schwerer Fehler.
Wer die Löhne hoch halten will – die Nettolöhne sindin Deutschland eher zu niedrig als zu hoch; unsere Ar-beitnehmerinnen und Arbeiternehmer könnten durchausein bisschen mehr gebrauchen –, darf nicht auch noch dieEnergie verteuern, sonst kommen wir nicht weiter.
Das, was Sie immer wieder theoretisch vortragen, zeigt,dass Sie einen Sprung in der Schüssel haben.
Lohnzusatzkosten und Steuern: Zum einen stellenSie sich hier hin und sagen, die Steuerbelastung inDeutschland sei im internationalen Vergleich durchausniedrig.
Sie ist es nicht und sie ist vor allem falsch verteilt; aber las-sen wir dies einmal. Gleichzeitig sagen Sie, die Lohnne-benkosten – mittlerweile muss man dazu Lohnhauptkostensagen – seien wegen der Wiedervereinigung um 3 Prozentzu hoch. Wenn Sie die Strukturreform angehen und dieseKosten aus den Versicherungssystemen herausnehmen,
ergibt sich die Frage, ob Sie diese 3 Prozent nicht bei denSteuern hinzufügen. Es gibt keinen anderen Vorschlag.Entweder machen Sie diese Reform und verbilligen dieSysteme oder Sie schichten um. Ich sage Ihnen: Für denStandort Deutschland ist auch die Umschichtung verkehrt.
Herr Kollege Schauerte, denken Sie an die Redezeit!
Ich komme zum Schluss.
Herr Clement, ich habe den Eindruck, dass Sie an der
einen oder anderen Ecke des Tunnels, in Randbereichen,
eine Kerze anzünden wollen. Und wenn es ganz dunkel
ist, bringt eine Kerze schon viel Licht. Aber in Ihrer Re-
gierung gibt es noch sehr viele, die am anderen Ende des
Tunnels Baumaßnahmen unternehmen, um den Tunnel zu
verlängern. Deswegen geht Ihnen die Kerze aus, bevor
Sie am Ende des Tunnels ankommen.
Lafontaine steht vor der Tür, er umkreist schon die
Burg. Warten wir es einmal ab! Stiegler ist schon drin,
Lafontaine will noch rein. Sehen Sie zu, wie Sie dann die
Widerstände brechen wollen. Herzlichen Glückwunsch!
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Reinhard Schultz.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es sehr be-achtlich, wenn der mittelstandspolitische Sprecher derUnion, der gleichzeitig den Raiffeisenbanken sehr verbun-den ist, dem interessierten Publikum erklärt, warum es aus
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Sicht der Banken nicht möglich ist, mehr für den Mittel-stand zu tun. Die Vereinigung dieser Rollen in einer Per-son war schon ein beachtlicher intellektueller Klimmzug,den keiner verpassen sollte. Wir werden ihn deswegenweiter verbreiten und immer wieder aus der Rede zitieren.
Es ist keine Frage, dass es neben den weltwirtschaftli-chen Problemen und neben der Zurückhaltung bei Inves-titionen und Konsum, die im Zusammenhang mit denÄngsten vor Terrorismus und Krieg steht, eine Reihe vonFaktoren in Deutschland gibt, die dazu beitragen, dasssich die Strukturen nicht verändern oder dass Verände-rungsprozesse nur sehr verlangsamt ablaufen. Dazugehören natürlich die zu hohen Kosten für den FaktorAr-beit.An der Senkung dieser Kosten haben wir in der letz-ten Legislaturperiode gearbeitet und wir arbeiten daranauch bei der Strukturreform der sozialen Systeme.Zu den wichtigen Faktoren, die strukturbremsend wir-ken, gehört darüber hinaus leider auch die Platzhalter-mentalität der Akteure, die bestimmte berufsständischeOrganisationen und Verbände vertreten. ArchetypischerVertreter ist Herr Schauerte. Diese Akteure reden über al-les, zum Beispiel über Entbürokratisierung oder überWettbewerb. Aber wenn sie selber betroffen sind,
wenn Wettbewerb angesagt ist, weil man die Grenzen ei-nes bestimmten Berufsstandes etwas aufbohren will, dannwird der Markt dicht gemacht, weil man den Wettbewerbfürchtet.
– Sie, Herr Schauerte, sind ein typischer Vertreter dafür.Das gilt aber leider auch für die Akteure der Organisa-tionen, die Arbeitnehmer vertreten. Sie denken zunächstnur an diejenigen, die in den Betrieben in ihrem Verbandorganisiert sind, und erst in zweiter Linie an diejenigen,die vor den Betriebstoren stehen. Dieses Problem mussangegangen werden. Den Dialog, den Wolfgang Clementmit den Akteuren, mit den Vertretern der alten Strukturenauf allen Seiten aufgenommen hat, und das, was er an Re-formvorstößen vorgelegt hat, finde ich in hohem Maßebeachtlich. Er legt dabei ein tolles Tempo vor.
Ich bin fest davon überzeugt, dass es in Deutschlandviel zu wenig Bewusstsein gibt, Leute aufzufordern, ihrSchicksal selber in die Hand zu nehmen. Die Menschensollten, anstatt arbeitslos zu sein, drei Jahre zu überwin-tern und darauf zu warten, bis das gnädige Schicksal sieereilt und sie in der Großorganisation der Wirtschaft oderim öffentlichen Dienst irgendwann einen Job bekommen,ihr Schicksal lieber selbst in die Hand nehmen und sichselbstständig machen. Darauf zielt die Mittelstands-offensive. Sie soll sowohl diejenigen, die aufgrund ihreshohen Know-hows durch eine Universitätsausbildungoder andere Qualifikationen fähig sind, Produkte undDienstleistungen auf höchstem Niveau zu entwickeln, an-regen, sich selbstständig zu machen, ebenso wie diejeni-gen, die in der Lage sind, kleinere Dienstleistungen zu er-bringen und all die Dinge zu verrichten, zu denen andereaufgrund der extremen Arbeitsteilung in unserer Gesell-schaft selber zu Hause in ihren Familien und ihren Be-trieben nicht mehr in der Lage sind. Neue Selbstständig-keit ist sowohl in High-Tech-Berufen als auch imDienstleistungsbereich gefordert. Das gilt auch im hand-werksnahen Dienstleistungsbereich.Sie kritisieren, dass die Schwelle für eine vereinfachteBesteuerung von kleinen Unternehmen und Existenz-gründern mit 17 500 Euro zu niedrig angesetzt ist. Da binich Ihrer Meinung. Das muss sich weiter entwickeln; dasist keine Frage. Zielgruppe sind aber in erster Linie dieje-nigen, die bestimmte handwerkliche Fähigkeiten habenund sich aus einer Situation ohne Job in die Selbststän-digkeit bewegen wollen. Ihr einziges Kapital sind im We-sentlichen sie selbst und die Dienstleistung, die sie ver-kaufen wollen. Umsatz und das, was übrig bleibt, liegenin diesem Falle sehr nah beieinander. Das ist die Wirk-lichkeit.
Diese Regelung zielt nicht auf einen Handwerksbetrieb,der 20 oder 25 Mitarbeiter beschäftigt. Wer Existenz-gründungsoffensiven aus der Arbeitslosigkeit heraus för-dern will, der muss so vorgehen und die steuerlichen undbürokratischen Hürden so niedrig wie möglich halten, zu-mindest zu Beginn der Existenzgründung.Sie, Herr Schauerte, wollen aber gleich eine neueHürde aufbauen,
weil Sie sich nicht vorstellen können, wie die Abgrenzungzwischen dem, der weniger als 17 500 Euro umgesetzthat, und demjenigen, der 1 Euro mehr umgesetzt hat, aus-sehen soll. Das werden wir im Gesetzgebungsverfahrenschon hinkriegen. Regelungen, ob wir das Jahr, in demdieser Betrag überschritten wird, der Grundsituationgleichstellen und erst im darauf folgenden Jahr die Buch-führungspflicht einführen, sind doch problemlos zu tref-fen. Wer jetzt, nachdem wir ein großes Entbürokratisie-rungsprogramm gestartet haben, bereits ankommt undeine neue Bürokratenfrage stellt, ist meines Erachtens alsMittelstandsvertreter ausdrücklich fehl am Platz.
Wir machen das ja auch nicht erst seit jetzt. In der letz-ten Wahlperiode haben wir sowohl bei der Altersversor-gung als auch im Bereich des Steuerrechts angefangen,ordentlich aufzuräumen. Laut OECD haben wir mit dieniedrigste Steuerquote aller Industrieländer, weil dieseRegierung diese Steuerpolitik gemacht hat und nicht, weilsie sozusagen als Geschenk vom Himmel gefallen ist. Eswar ein riesengroßes Reformvorhaben.Dass das angesichts der krisenhaften Entwicklung ins-gesamt von den Menschen nicht so honoriert worden ist,wie wir es uns selbst wünschen, ist gar keine Frage. Dasändert aber nichts daran, dass in den letzten vier JahrenReinhard Schultz
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Reinhard Schultz
zumindest die steuerpolitischen Grundlagen für die Ar-beitnehmer, die Selbstständigen und die Mittelständlerdeutlich besser geworden sind, als sie es in den 16 Jahrenvorher waren.
Wir haben dafür gesorgt, dass sich Unternehmen um-strukturieren können, ohne dabei steuerlich diskriminiertzu werden. Man kann Beteiligungen und alle Formen, diedas Kapital haben kann – ob es sich um eine Beteiligungan einem Anlagegut oder um etwas anderes handelt –, in-nerhalb von Kapitalgesellschaften so tauschen, wie manes wirtschaftlich für richtig hält, ohne dabei diskriminiertzu werden. Durch die Einführung der Reinvestitionsrück-lage haben wir bei den Personenunternehmen Ähn-liches geschaffen. Durch die volle Anrechnungsmöglich-keit der Gewerbesteuer auf die Einkommensteuer beiPersonenunternehmen haben wir eine weitgehende Waf-fengleichheit hergestellt. Das sind fast revolutionäre Vor-gänge im Steuerrecht, die dem Mittelstand helfen und Un-ternehmensgründungen im Mittelstand ermöglichen.
In dieser Richtung werden wir weitermachen. Wir wer-den das Steuervergünstigungsabbaugesetz abklopfen.Es darf nichts beschlossen werden, was die Mobilität desKapitals und die Möglichkeit, Unternehmen zu sanierenund umstrukturieren, behindert. Wir befinden uns mittenim Verfahren. Im Ergebnis wird es mehr Möglichkeitender Sanierung und Beteiligung geben als jetzt. Das ist füruns Sozialdemokraten, die den Mittelstand fördern wol-len, überhaupt keine Frage.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, wir habenRiesenprobleme bei der Finanzierung von mittelständi-schen Unternehmen. Das stand zum Teil auch im Mittel-punkt der Redebeiträge vonseiten der Opposition undvonseiten der Regierung. Das liegt an der Eigenkapital-quote. Sie ist im Wesentlichen bei Personenunternehmenextrem niedrig. Das ist fast naturgesetzlich so. Sowohl inder privaten Lebenssphäre als auch in der Lebenssphäreder Personenunternehmen ist es nicht möglich, Eigen-kapital in der Größenordnung zu haben wie in einer Ka-pitalgesellschaft. Bei der Reform der Unternehmensteuer– insbesondere der Gewerbesteuer – werden wir daraufachten müssen, dass Prozesse in Gang gesetzt werden, diedie Eigenkapitalbildung steuerlich deutlich erleichtern.Das wird einer der nächsten Schritte sein müssen.Natürlich haben wir auch Probleme mit den Banken.Ich bin ausdrücklich dafür, dass Banken den Kreditneh-mer – auch den Unternehmer – zwingen, die Hosen her-unterzulassen und zu zeigen, welche Sicherheiten er hatund wie sein Schulden- und Vermögensstand aussieht.Das dient auch dem Selbstschutz des Kreditnehmers. Dieandere Frage ist aber, welches Risiko die Bank selber ein-zugehen bereit ist.
Ich erwarte von ihr dasselbe Risikobewusstsein, wie esdem mittelständischen Unternehmer in dieser Gesell-schaft zugemutet wird. Dies gilt natürlich erst recht für dieUnternehmen, die aus dem Mittelstand entstanden sind,wie die Raiffeisen- und Volksbanken, und für die öffent-lich-rechtlichen Sparkassen.Wer als öffentlich-rechtliches Kreditinstitut nicht be-reit ist, den Mittelstand zu fördern, verliert im Grunde ge-nommen den Anspruch auf seine Existenz.
Die Begründung von Sparkassen beruht darauf, ihr Auf-trag sei es, die regionale Geldversorgung für den Einzel-nen und für die regionale Wirtschaft sicherzustellen. Ge-meinsam mit den Ländern werden wir gesetzgeberischeiniges tun müssen, um diese Verpflichtung, die die ein-zige Begründung für die Existenz öffentlicher Banken ist,aufrechtzuerhalten, so wie wir es bezüglich der bundes-eigenen Bankinstitute und Förderbanken mit Erfolg hand-haben.Wir haben eine Entwicklung, in der der Mittelstand dieFinanzierung des Anlagevermögens zunehmend nichtmehr mit Krediten, sondern über das Leasing sicherstellt.Auch das muss man zur Kenntnis nehmen. In einer sol-chen Situation, in der bereits fast der gesamte Fahrzeug-park des Mittelstandes über Leasing finanziert wird – dasGleiche gilt zunehmend für Geräte, Aggregate und Ge-bäude –, muss man sich auch überlegen, ob die Leasing-raten im Vergleich zu Dauerschuldzinsen auf die Gewer-besteuer angerechnet werden.Es muss zumindest Waffengleichheit hergestellt wer-den. Man darf nicht über das Ziel hinausschießen. Das istein Hinweis auf die aktuelle Diskussion über das Steuer-vergünstigungsabbaugesetz. Ein alternatives Finanzie-rungsinstrument für den Mittelstand darf nicht ins Rut-schen geraten.Ich bin davon überzeugt, dass diese Debatte um die Zu-kunft des Mittelstandes, die heute ihren Anfang nimmt,wirklich nur ein Anfang ist. Wir werden im Laufe dieserWahlperiode mit Wolfgang Clement und der Bundes-regierung eine Reihe von Bremsklötzen beseitigen, Fes-seln sprengen – um im Bild von Herrn Brüderle zu blei-ben –, Hindernisse ausräumen, die unternehmerischesDenken und Handeln in Verantwortung für sich selbst, dieBeschäftigten, aber auch das Gemeinwesen behindern.Unternehmerische Freiheit bedeutet gleichzeitig unter-nehmerische Verantwortung für das Ganze. Diese Sicht-weise muss man sich gerade als rot-grüne Koalition er-halten. Wir werden sie uns erhalten. Aber sie hindert unsnicht daran, Bremsklötze zu beseitigen.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Alexander Dobrindt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Da Mär-chen immer wieder Hochkonjunktur haben, möchte ich
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gerne mit Jonathan Swifts „Gullivers Reisen“ beginnen.Wie einigen von Ihnen sicherlich bekannt, findet sichGulliver auf seinen Reisen plötzlich gefesselt auf einer Inselwieder, vertaut mit allerlei Seilen und Schnüren. Geknebeltauf dem Boden liegend, musste Gulliver feststellen, dass ervollkommen bewegungs- und handlungsunfähig war.
Nicht genug dieses Zustandes wurde Gulliver von vielenLiliputanern, die ihn in diese Lage gebracht hatten, ohnedass er dies sofort bemerkte, mit Hunderten winziger Lan-zen und Speere bedroht, die jede für sich genommen viel-leicht nur ein wenig schmerzhaft wären, aber in der Summedurchaus in der Lage waren, sein Leben zu bedrohen.
Ähnlich wie Gulliver in dieser Geschichte geht esheute dem Mittelstand in Deutschland. Während sich die-ser um seine Unternehmungen bemühte, Arbeitsplätzeschuf, sich in besonderem Maße um die Ausbildung un-serer Jugend kümmerte und sich, ganz offensichtlich vomGerede über die Neue Mitte geblendet, auf die Schaffens-kraft der rot-grünen Bundesregierung verließ, wurde derMittelstand durch immer mehr bürokratische Hinder-nisse, durch Gesetze und Verordnungen, durch Steuer-und Abgabenerhöhungen Zug um Zug gefesselt und letzt-lich bewegungs- und handlungsunfähig gemacht.
Märchen finden meist ein gutes Ende. Doch wie schautdie Realität in Deutschland aus? „Die Stimmung im deut-schen Mittelstand ist zu Jahresbeginn 2003 dramatischeingebrochen“, so berichtet die „Süddeutsche Zeitung“.Die Vereinigung Mittelständischer Unternehmer resümiert,dass auch in den vergangenen Jahren die Lage für denMittelstand nicht besonders gut war – ich zitiere –, „aberdie Stimmung war noch nie so schlecht“.Anstatt in dieser bedrohlichen Lage endlich Entlastun-gen für die Vielzahl kleiner Firmen und Selbstständigenanzugehen, versetzt die Bundesregierung den Unterneh-mern erst einmal eine ganze Reihe von Tiefschlägen:Massive Steuererhöhungen werden angekündigt, dieLohnnebenkosten drastisch erhöht. Die Einschränkungdes Verlustvortrags wird erklärt. Die Eigentumsförderungwird als Zeichen der Familienfreundlichkeit gekürzt,ohne dabei die Auswirkungen auf die Bauwirtschaft zuberücksichtigen.Obwohl Sie, Herr Minister, gestern bei der Vorstellungdes Jahreswirtschaftsberichts feststellten, dass die Lagegenauso wie die Stimmung in unserem Land ist, nämlichgeprägt von Verzweiflung und Frustration, bleiben SieIhrem von mir ehrlich bewunderten Optimismus treu undprognostizieren für 2003 ein Wirtschaftswachstum von1 Prozent, obwohl das DIW und der BGA ihre Wachs-tumsprognosen schon lange weit unter 1 Prozent korri-giert haben.Die Arbeitslosenzahlen, die diesen Monat wieder dras-tisch gestiegen sind und bei 4,5 Millionen liegen, werdenim Jahresdurchschnitt auf jetzt 4,2 Millionen festgelegt.An alte Versprechen von 3,5 Millionen Arbeitslosen willman bei der Regierungskoalition in diesem Zusammen-hang ohnehin nicht mehr erinnert werden. Sie wurden imVertrauen darauf gegeben, dass die Konjunktur in derzweiten Hälfte des Jahres 2003 wieder anzieht. Ich erin-nere an die gleiche Ankündigung vor genau einem Jahr,die wir noch sehr gut im Gedächtnis haben.Minister Clement hat gestern sehr richtig gesagt: „Für dieRückgewinnung des Vertrauens muss Politik verlässlichsein.“ Ich wünschte mir, dass diese Verlässlichkeit erkenn-bar wäre. Dem ist aber leider nicht so. Mit einer Vielzahl vonAnkündigungen werden die Menschen und Unternehmen inunserem Land täglich verunsichert: Besteuerung vonDienstfahrzeugen, Erhöhung der Mehrwertsteuer, Mindest-steuer, Kündigungsschutz und vieles mehr. Meine Damenund Herren, diese Art verlässlicher Politik von Rot-Grün hatder Mittelstand in Deutschland nicht verdient.
Herr Minister Clement, Sie müssen Obacht geben, dassaus Ihrem Ministerium für Wirtschaft und Arbeit nicht dasMinisterium für Ankündigung und Rücknahme wird;diese Gefahr besteht.Rund 70 Prozent der Arbeitnehmer in Deutschland sindin mittelständischen Unternehmen beschäftigt. Wenn Siees sich zum Ziel setzen würden, dass nur jeder fünfte Mit-telständler einen Arbeitslosen beschäftigt, könnten Sie dieArbeitslosenzahl in Deutschland um 600 000 senken. Mo-mentan sieht es leider ganz anders aus: Fast jeder zweiteMittelständler überlegt sich heute, Personal abzubauen.Ihnen von der Regierungskoalition fällt dazu nur die sogenannte Offensive für den Mittelstand ein, die mit einerüberschaubaren Zahl von Einzelmaßnahmen ausgestattetist, die – das gestehe ich Ihnen durchaus zu – in Teilendazu beitragen mögen, die eine oder andere Fesselung desMittelstandes zu lockern. Aber sie ist unter keinen Um-ständen der große Wurf, der endlich die lähmenden Fes-seln von Bürokratie, Steuerlast und Depressionsangstdurchtrennen könnte. Der Small-Business-Act zur För-derung von Existenzgründern im vorliegenden Antrag derRegierungskoalition greift beim Mittelstand vollkommenins Leere. Wenn Sie Existenzgründer wirklich fördernwollen, dann sorgen Sie dafür, dass in den ersten Jahrennach der Gründung deutliche Steuererleichterungen mög-lich sind. Das wäre ein Schritt in die richtige Richtung.Um langfristig den Mittelstand wieder zum Beschäfti-gungsmotor in Deutschland zu machen, ist es notwendig,die Ausstattung mit Eigenkapital zu verbessern. Der Mit-telstand in Deutschland hat offenbar eine zu geringe Ka-pitaldecke. Ich erlebe es – wie viele von Ihnen mit Si-cherheit auch – in meinem Wahlkreis, wie traditionsreicheUnternehmen inzwischen daran scheitern, dass sie nichtüber ausreichende finanzielle Mittel verfügen. Darum istes dringend notwendig, neue steuerliche Regelungen fürBeteiligungs- und Chancenkapital vorzulegen. MachenSie einen mutigen Schritt und sorgen Sie dafür, dass Per-sonen, die Geld in mittelständische Unternehmen inves-tieren, für ihre Erträge aus diesen Beteiligungen vonhöheren Steuerfreibeträgen bei den Kapitaleinkünftenprofitieren können! Damit leisteten Sie einen ernsthaftenBeitrag dazu, die Kapitalausstattung beim Mittelstand zuAlexander Dobrindt
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Alexander Dobrindtverbessern. Sorgen Sie ferner dafür, dass Betriebsübernah-men durch Familienangehörige von der Erbschaftsteuerfreigestellt werden, wenn der Betrieb weiterläuft undArbeitsplätze sichert! Diese Maßnahmen sorgen konkretfür eine bessere finanzielle Ausstattung des Mittelstandes.Ich bin gespannt, ob ich diese und weitere Vorschlägebei Ihnen wiederfinden werde oder ob nicht eher, wie das„Handelsblatt“ gestern geschrieben hat, die Bundesregie-rung Pläne hat, bei Leasinggeschäften die Raten des Lea-singnehmers mit einer Steuer zu belegen. Damit nähmenSie dem Mittelstand eine seiner letzten wichtigen Finan-zierungsmöglichkeiten.Begrüßen kann ich nur Ihre Willenserklärung zumBürokratieabbau;
denn wer – wie ich selbst – in seinem Unternehmen miteiner Vielzahl von statistischen Meldungen befasst ist undbei den statistischen Ämtern lediglich die Auskunft be-kommt, er solle froh sein, wenn es nicht noch mehr Mel-depflichten würden, der kann Sie in diesem Ansinnen nurunterstützen. Ich weise allerdings darauf hin, dass bereitsWirtschaftsminister Müller den Abbau der Bürokratieversprochen hat. Aber Sie, Herr Minister Clement, habenangekündigt: „Wir sind schlichtweg in einer Situation, inder wir alles, was wir bisher getan haben, überprüfen müs-sen.“ Ich empfehle dieses Vorgehen auch für die vorlie-gende Offensive für den Mittelstand.Danke schön.
Ich gratuliere Ihnen, Herr Kollege, im Namen des Hau-
ses zu Ihrer ersten Rede.
Wir sind damit am Ende der Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/351, 15/349 und 15/357 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Vorlage auf Drucksache 15/351 soll zusätzlich an den
Auswärtigen Ausschuss, den Ausschuss für Verbraucher-
schutz, Ernährung und Landwirtschaft, den Ausschuss für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie
an den Ausschuss für Tourismus überwiesen werden. Sind
Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c auf:
a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zum optimalen För-
dern und Fordern in Vermittlungsagenturen
– Drucksache 15/273 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zum Fördern und Fordern
arbeitsfähiger Sozialhilfeempfänger und Arbeitslo-
senhilfebezieher
– Drucksache 15/309 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Heinrich
L. Kolb, Daniel Bahr , Dr. Dieter Thomae,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Das Sozialhilferecht gerechter gestalten – Hilfe-
bedürftige Bürger effizienter fördern und for-
dern
– Drucksache 15/358 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. – Es gibt kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als Erste die
hessische Sozialministerin, Frau Silke Lautenschläger.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wirkönnten schon viel weiter sein.
Als ich heute Morgen die Diskussion genau verfolgt habe,habe ich mich – das gebe ich zu – ein bisschen in den Teil
1700
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meines Ressorts versetzt gefühlt, der sich mit Gesund-heitspolitik und Psychologie beschäftigt. Es gibt eineKrankheit namens Schizophrenie, das heißt gespalteneWirklichkeitswahrnehmung. Genau an dieser Stelle, liebeKollegen von der SPD-Fraktion, scheinen wir uns wie-derzufinden. Die Sozialhilfereform ist bereits vor gut ei-nem Jahr mit dem OFFENSIV-Gesetz auf den Weg ge-bracht worden. Tausende Sozialhilfeempfänger könntenschon heute wieder in Arbeit sein,
wenn die rot-grüne Koalition im Bundestag nicht blockie-ren und taktieren würde.
Genau an dieser Stelle heißt es, schneller zu handeln.Sie haben die Wachstumsprognosen nach unten korrigiert.
Fast 4,5Millionen Menschen sind bereits arbeitslos. Genauderjenigen, die besonders betroffen sind, also der Lang-zeitarbeitslosen und Sozialhilfeempfänger, muss man sichwieder besonders annehmen. Es sind sich doch längst alleeinig darin, dass wir hier eine Reform brauchen. Sie mussaber auf den Weg gebracht werden. Wir brauchen auchhier nicht ständig einen neuen Luftballon, der zerplatzt,und können nicht auf Hartz III, IV oder Vwarten, falls Siedie Vorschläge dieser Kommission überhaupt noch um-setzen wollen.
Wir brauchen vielmehr eine Sozialhilfereform,
die tatsächlich Fördern und Fordern möglich macht.
Eine solche Reform ist dringend notwendig.
– Ich werde Ihnen sehr gerne erklären, was in Hessen be-reits alles passiert ist.
Rufen Sie bitte nicht ständig dazwischen. Lassen Sie
der Rednerin ein bisschen Luft.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir haben erstens ein Gesetz vorgelegt und zweitensschon viele Pilotprojekte auf den Weg gebracht. Nur, mitPilotprojekten kann man zwar einiges in Gang setzen.Aber Sie müssen endlich auch die entsprechenden bun-desrechtlichen Rahmenbedingungen schaffen,
die uns die Möglichkeiten geben, besser und schneller inden Arbeitsmarkt zu vermitteln.Im Übrigen sprechen Sie immer so gerne – diesesStichwort findet man auch in einigen Ihrer Gesetze – vonFördern und Fordern. Wenn man aber nicht fordernkann, weil die entsprechenden Sanktionsmöglichkeiten inIhren Gesetzen fehlen, wenn der Datenaustausch zwi-schen den verschiedenen Stellen noch immer nicht richtiggeregelt ist und wenn man keine Möglichkeiten hat, dieBeweislast umzukehren, damit Fördern und Fordern auchim Bereich der Sozialhilfeempfänger und der Arbeitslo-senhilfeempfänger möglich ist, dann kann ich nur sagen:Auch Sie im Bund müssen Ihre Hausaufgaben machenund mit den Bundesländern endlich zusammenarbeiten;denn wir haben natürlich das allergrößte Interesse daran,dass sich auf dem Arbeitsmarkt etwas tut, und zwar vor al-lem für diejenigen, die besonders schwer zu integrierensind. Deshalb brauchen wir Jobcenter, die Betreuung,Qualifizierung, Vermittlung und Leistungsgewährung aneiner Stelle zusammenführen.
Das versuchen wir bereits in vielen Pilotprojekten umzu-setzen. Nur, Sie müssen natürlich weitere gesetzliche Mög-lichkeiten schaffen, wenn wir eine verbindliche Eingliede-rungsvereinbarung haben wollen, die für beide Seitenverpflichtend ist. Das haben Sie bisher noch nicht gemacht.
Die Überprüfung der Verfügbarkeit sowie Trainingsmög-lichkeiten und Fortbildungsmaßnahmen sollten erst nachdem Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung kom-men. Eine solche Vereinbarung, die dazu dient, die Be-troffenen in den Arbeitsmarkt zu integrieren, muss am An-fang stehen.Ich verstehe ja, dass Sie sich auch an dieser Stelle einwenig aufregen und dass Sie ein wenig unruhig werden;
denn der 2. Februar steht kurz bevor. Danach haben Sieendlich die Möglichkeit, es nicht bei Ankündigungen unddem Aneinanderhängen immer neuer Reförmchen zu be-lassen, sondern endlich umzusteuern, auch für die schwerVermittelbaren Chancen zu eröffnen und den Ländern ei-gene Möglichkeiten einzuräumen. Der Kollege Clementhat angekündigt – dafür bin ich sehr dankbar; das sage ichsehr deutlich –, dass er zu Experimentiermöglichkeitenbereit ist. Diese brauchen wir.
– Genau, die sind angekündigt. Das ist der große Unter-schied.Ich erwarte, dass sowohl der Herr Bundeskanzler, dergleichzeitig der Bundesvorsitzende der SPD ist, als auchStaatsministerin Silke Lautenschläger
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Staatsministerin Silke Lautenschlägerder Fraktionsvorsitzende der SPD am 3. Februar endlichauf diesen Kurs einschwenken.
Es ist ein Fehler, dass das bis heute nicht geschehen ist.Ich will Ihnen einige Punkte nennen, deren Beachtungfür die Gestaltung von Experimentiermöglichkeiten aufLänderebene vonnöten ist. Die Länder brauchen dazuÄnderungen im SGB III. Ich denke dabei an Folgendes:Teilnahme an Hilfsmaßnahmen, Zumutbarkeit, Bereit-schaft zu gemeinnütziger Arbeit, den verbindlichen Ab-schluss der Eingliederungsvereinbarung auch im SGB III.Auch was das BSHG angeht, sieht es nicht besser aus;denn die entsprechenden Regelungen sind noch nicht ge-troffen worden. Noch immer ist es uns nicht möglich, dasmit Landesrecht umzusetzen. Wir brauchen die Länder-öffnungsklauseln, damit es möglich sein wird, dass dieArbeitsvermittlung eine Pflichtaufgabe der örtlichen So-zialhilfeträger ist.Sie sollten sich an dieser Stelle vielleicht einmal mitdem auseinander setzen, was der Deutsche Landkreistaglängst beschlossen hat. Es geht darum, dass der gesamteSachverstand der auf der kommunalen Ebene Tätigennicht einfach ausgeschlossen wird. Sie sollten nicht mei-nen, alles auf die Bundesanstalt verlagern zu müssen. Da-mit bilden Sie einen neuen Moloch. Wir wollen die Zu-sammenarbeit der auf der kommunalen Ebene Tätigen,der Sozialhilfeträger und der Arbeitsämter, um besser undschneller vermitteln zu können.
Ich gebe zu: Ich verstehe natürlich auch Ihre Angst andieser Stelle. Wir könnten schon seit einem Jahr Erfolgeaufweisen, wir könnten schon wesentlich mehr Menschenvermittelt haben,
wenn Sie uns an dieser Stelle Experimentiermöglichkei-ten gegeben hätten. Sie können dafür sorgen, dass nur dieHessen das ausprobieren.
Wenn es nicht funktioniert, dann können Sie sich insFäustchen lachen. Wir sind noch nicht von dem Ziel ab-gekommen, mehr Menschen in Arbeit zu bringen, indemwir einen Wettbewerb um diejenigen, die außen vor sind,starten.Sie reden von verriegelten Arbeitsmärkten. Wir hörenviel von Bürokratieabbau. Darüber wurde heute Morgendiskutiert.
Gerade die Bundesländer wollen mithelfen, die Bürokratieabzubauen. Bei den Verhandlungen über die Hartz-Ge-setze konnten wir wenigstens in dem Bereich Schein-selbstständigkeit etwas erreichen. Es ging dabei um Dinge,die Sie wieder eingeführt hatten. Jetzt helfen wir Ihnen,Bürokratie abzubauen, die Sie in den vergangenen vierJahren aufgebaut haben.Es ist schön und gut, über Erfolge zu reden. Wir nehmenSie gern an die Hand. Nur: Geben Sie uns doch die Mög-lichkeiten zu experimentieren! Geben Sie uns die Möglich-keiten, die es in anderen Staaten schon längst gibt! Dort ha-ben Länder die Möglichkeit bekommen, den Arbeitsmarktselbst zu gestalten. Wir müssen dahin kommen, dass es aufdem Arbeitsmarkt tatsächlich einen Wettbewerb gibt, zumBeispiel dadurch, dass Jobcenter versuchen, schneller zuvermitteln und freie Träger einzuschalten.Ich fordere Sie dazu auf mitzumachen. Ich verweiseauf einen Kollegen aus der SPD-Fraktion, der bei unserenPilotprojekten mitmacht. Er reist im Moment durch dieGegend und sagt: Das, was die Bundesregierung an die-ser Stelle macht, ist falsch. Ich fordere Sie auch dazu auf,sich einmal freie Träger anzuschauen, die wir in die Ar-beit der Jobcenter einbinden. Sie bringen dort beispiels-weise ihre Erfahrungen aus der Drogen- und Suchthilfeein. Sie tragen dazu bei, dass Menschen schneller wiederin Arbeit gebracht werden. Auch im Bereich Drogen- undSuchthilfe ist Arbeit das Entscheidende.Sie können uns auf unserem Weg begleiten. Sie könnenauch hoffen, dass wir auf die Nase fallen. Sie sollten esaber im Interesse derjenigen, die wieder Arbeit habenwollen, nicht bei Ankündigungen, Experimentiermög-lichkeiten zu schaffen, belassen. Sie haben die Chance,zum ersten Mal Experimentiermöglichkeiten der Länderzu schaffen.Meine Damen und Herren, wir haben an dieser Stelledie Tür aufgemacht. In unserem Sinne ist es nicht, imBundesrat Blockade à la Lafontaine zu üben. Uns geht esvielmehr darum, zusammenzuarbeiten und Reformen aufden Weg zu bringen. Aber was hilft es uns, wenn die Re-gierung die Reformen ankündigt, der Nächste das wiederzurücknimmt und die SPD-Fraktion hier im Bundestagsagt, man habe es überhaupt nicht nötig, an dieser Stelleetwas zu tun? Lassen Sie uns doch auch im Bereich derSozialhilfe endlich die Chancen nutzen, wie wir es beiHartz mit der 400-Euro-Regelung, die vorher schon so imCDU/CSU-Programm stand, getan haben!
Ein letzter Punkt. Sie kündigen die Sozialhilfereformfür 2004, vielleicht auch 2005 an. Wir können sofort an-fangen. Das kann parallel laufen, wenn Sie den LändernExperimentiermöglichkeiten geben, wenn Sie an dieserStelle mit uns zusammenarbeiten. Da ist tatsächlich dieChance gegeben, dass wir uns endlich wieder richtig umdie benachteiligten Gruppen kümmern. Wir haben inHessen gute Erfolge vorzuweisen, gerade bei der Vermitt-lung von Schwerbehinderten und Langzeitarbeitslosen inden Arbeitsmarkt. Aber wir wollen noch besser werden.Wir stecken unsere Ziele hoch. Wir haben immer nochden Anspruch, mit diesen Reformen die Zahl der er-werbsfähigen Sozialhilfeempfänger zu halbieren, indemwir sie wieder in den Arbeitsmarkt integrieren. Wenn Siedas aufgegeben haben, würde mir persönlich das sehrLeid tun. Denn ich denke, man muss sich darumbemühen, genau diese Gruppen wieder in den Arbeits-markt zu integrieren.
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Ich lade Sie herzlich dazu ein, mit uns über dieses Ge-setz, über die Experimentiermöglichkeiten endlich einmalwirklich nachzudenken. Die Tür im Bundesrat ist offenund sie wird am 2. Februar mit Sicherheit noch ein Stückgrößer werden. Ich hoffe, dass Ihre Seite sich bewegt unddass wir dazu kommen, einen verriegelten Arbeitsmarktendlich zu öffnen und zu entbürokratisieren und auch eineSozialhilfereform, die ihren Namen verdient, auf den Wegzu bringen.
Für die Bundesregierung hat jetzt der Parlamentarische
Staatssekretär Gerd Andres das Wort.
G
Meine sehr verehrten Damen und Herren! OFFENSIV-Gesetz zum Dritten! Das vom Bundesrat im Novemberauf Initiative der Länder Hessen und Bayern beschlosseneOFFENSIV-Gesetz
liegt uns nun zum dritten Mal hier vor. Das ist natürlichkein Zufall; denn am Wochenende sind Wahlen.
Ich bin sehr versucht, Ihnen, sehr verehrte KolleginLautenschläger, ein bisschen Nachhilfeunterricht zu ge-ben. Das schenke ich mir. Viele der Dinge, die Sie hier be-hauptet haben, stimmen hinten und vorne nicht.
Sie können experimentieren, so viel Sie wollen. Wir ha-ben dafür die gesetzlichen Grundlagen geschaffen. Wirsind längst dabei, entsprechende Modellversuche durch-zuführen, zum Beispiel die MoZArT-Projekte. Das kön-nen Sie alles machen; daran werden Sie überhaupt nichtgehindert. Das läuft auch in Hessen. Vieles von dem, wasSie hier geschildert haben, ist also einfach dummes Zeug.Es tut mir sehr Leid, Ihnen das so sagen zu müssen.
„Zum Dritten“ sage ich, weil wir schon im Sommer da-rüber geredet haben und Sie das Ganze im Bundestags-wahlkampf als Aufguss noch einmal eingebracht haben.Nun diskutieren wir zum dritten Mal darüber.Beide Gesetzentwürfe des Bundesrates zielen daraufab, Arbeitslosenhilfebezieher und Sozialhilfeempfän-ger schneller in Arbeit zu bringen. Da kann ich nur sagen:Recht so! Damit wir uns richtig verstehen: Das will auchdie Bundesregierung. Ich stimme mit den Zielen der bei-den Gesetzentwürfe durchaus überein, die Strukturen derArbeitsvermittlung effizienter zu machen, die Beschäfti-gungssituation für Arbeitslosenhilfebezieher und Sozial-hilfeempfänger zu verbessern und deren Arbeitslosigkeitnachhaltig abzubauen.Die Gesetzentwürfe gehen dazu aber trotz erwägens-werter Vorschläge im Detail grundsätzlich den falschenWeg. Der wird auch beim dritten Aufguss nicht besser. Ichwill das begründen.Im August vergangenen Jahres hat die Kommission„Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ einen be-merkenswerten Bericht vorgelegt, den Ihr Kandidat ja öf-fentlich richtig abqualifiziert hat, wie ich meine, völlig zuUnrecht. Wir haben in der Zwischenzeit zwei Gesetze aufden Weg gebracht und umgesetzt – ich will ausdrücklichhinzufügen: auch mit Ihrer Hilfe, was den zustimmungs-pflichtigen Teil angeht.Nun arbeiten wir konsequent an der weiteren Umset-zung der Hartz-Vorschläge. Die beiden Gesetzentwürfedes Bundesrates setzen im Wesentlichen lediglich an denbestehenden Systemen der Arbeitslosenhilfe und der So-zialhilfe an und würden damit das dauerhafte Nebenein-ander von zwei Hilfesystemen für einen vergleichbarenPersonenkreis verfestigen. Deswegen greifen Sie mit die-sen Vorschlägen zu kurz.Die Bundesregierung hingegen wird als dritte Stufe derUmsetzung der Hartz-Vorschläge noch in diesem Jahr ei-nen Gesetzentwurf zur Zusammenführung von Arbeits-losenhilfe und Sozialhilfe vorlegen, der nach unsererVorstellung am 1. Januar des kommenden Jahres in Krafttreten kann.Demgegenüber könnte aufgrund des OFFENSIV-Ge-setzentwurfes eine Reform der Hilfesysteme frühestens2008 beginnen, weil die vorgeschlagene Experimentier-klausel, die Sie eben so heftig gelobt haben, zur modell-haften Erprobung von Vermittlungsagenturen bis Ende2007 gelten soll. So steht es in Ihrem Entwurf; wenn Siedort nachlesen, werden Sie das feststellen.Ein Großteil der von beiden Gesetzentwürfen vorgese-henen Änderungen sind zudem bereits geltende Rechts-praxis bzw. wurden im Rahmen des Ersten und des ZweitenGesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarktgeregelt.Der Gesetzentwurf zum Fördern und Fordern ist ins-besondere bei den Änderungen im Bundessozialhilfe-gesetz inhaltlich nicht schlüssig. Er ist letztlich nur ein un-vollständiger Vorgriff auf die für diese Legislaturperiodevon der Koalition vorgesehene umfassende BSHG-Reform.Der Grundsatz des Förderns und Forderns steht übrigensbereits sowohl im geltenden Arbeitsförderungsrecht alsauch im Sozialhilferecht. Es gibt kein Wahlrecht zwischenArbeitsaufnahme und Leistungsbezug. ErwerbsfähigeHilfebedürftige müssen schon nach geltendem Recht zurBestreitung ihres Lebensunterhalts in erster Linie ihre Ar-beitskraft einsetzen.Staatsministerin Silke Lautenschläger
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Parl. Staatssekretär Gerd AndresNehmen wir das konkrete Beispiel der Jobcenter.Wirbrauchen solche integrierten Anlaufstellen für alle er-werbslosen und erwerbsfähigen Personen, um Verwal-tungsabläufe effizienter zu gestalten und Verschiebebahn-höfe zu vermeiden. Mit dem vorgelegten Gesetzentwurfaber würde das genaue Gegenteil erreicht: Indem denLändern überlassen werden soll, zu entscheiden, ob dieArbeitsvermittlung durch die Sozialämter oder die Ar-beitsämter durchgeführt wird, würde eine unübersichtli-che Doppelbürokratie für die Vermittlung von Arbeitslo-sen geschaffen.
Auch die Einführung von regelmäßigen Meldekontrollen– von Ihnen eben noch einmal stark betont – führt, wie dieVergangenheit gezeigt hat, nicht zu besseren Vermitt-lungsergebnissen.Im Gegensatz dazu stellt das geltende Arbeitsförde-rungsrecht bereits die passgenaue Arbeitsvermittlung zumBeispiel durch Profiling, Eingliederungsvereinbarung undBeteiligung Dritter im Vermittlungsprozess für alle Ar-beitslosen in den Mittelpunkt. Im Übrigen können wir dann– ich habe das eingangs schon gesagt – auf Experimentier-klauseln in diesem Zusammenhang wirklich verzichten.Einzelne Vorschläge der Gesetzentwürfe des Bundes-rates sind auch verfassungsrechtlich nicht unproblema-tisch. Das wissen Sie sehr genau, Frau Lautenschläger.Regelungen über die Zumutbarkeit von Arbeit, überSperrzeiten und über Leistungskürzungen müssen zurWahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnissenach Auffassung der Bundesregierung bundeseinheitlichgeregelt bleiben und dürfen nicht von Land zu Land un-terschiedlichen Maßstäben unterworfen sein.Besonders fragwürdig sind für mich aber die in demOFFENSIV-Gesetzentwurf enthaltenen Vorschläge zurOrganisation und Finanzierung der Vermittlungsagentu-ren. Das ist wirklich ein Geniestreich Ihrerseits.
Die Jobcenter sollen zwar im Sinne einer Bundesauf-tragsverwaltung Landesbehörden sein, das Personal unddie Sachmittel aber sollen anteilig von der Bundesanstaltfür Arbeit und den Trägern der Sozialhilfe gestellt werden.Das zuständige Bundesministerium soll kein Weisungs-recht gegenüber den Jobcentern haben, obwohl der Bunddie Arbeitslosenhilfe finanziert, die die Bundesanstalt fürArbeit ja nur im Auftrag des Bundes erbringt.
Bei der Finanzierung ist es dagegen genau umgekehrt.Der im Gesetzentwurf vorgesehene finanzielle Beitragder Länder wird gar nicht erst konkretisiert; dazu sagenSie überhaupt nichts. Die Bundesanstalt für Arbeit sollaber über die Landesarbeitsämter 30 Prozent der Mittelfür aktive Arbeitsförderung für die nach Landesrecht er-richteten Vermittlungsagenturen bereitstellen
und der Bund soll sogar die bewilligte Arbeitslosenhilfean die Vermittlungsagenturen erstatten, ohne irgendwel-che Steuerungsmöglichkeiten bei der Erbringung der Leis-tung zu haben. Dazu sage ich Ihnen, Frau Lautenschläger:Auch wenn Sie das noch fünfmal hier einbringen, so gehtes nicht; Sie werden hier auch keine Mehrheit dafürfinden.
Ein derartiges Auseinanderklaffen von Organisations-und Finanzhoheit halte ich verfassungsrechtlich füräußerst problematisch. Wie soll eine vernünftige Steue-rung eines solchen Systems überhaupt gewährleistet wer-den?Wie ich eingangs bereits ausgeführt habe, hat die Bun-desregierung mit den ersten zwei Gesetzen für moderneDienstleistungen am Arbeitsmarkt bereits bewiesen, dasswir die Arbeitsmarktpolitik durchgreifend reformierenwollen und können. Wir werden dafür sorgen, dass derUmbau der Bundesanstalt für Arbeit zu einem modernenDienstleister richtig Fahrt aufnimmt. Wir werden auchdafür sorgen, dass Bürger und Unternehmen von Büro-kratie entlastet werden. Insgesamt wird es uns gelingen,mit der Umsetzung des Hartz-Konzepts die dringend not-wendigen Impulse zur Belebung des Arbeitsmarktes zusetzen, was durch die beiden von der Opposition vorge-legten Gesetzentwürfe nicht geleistet wird.Frau Lautenschläger, ich will noch etwas zu Ihrer For-derung sagen, dass gehandelt werden muss. Ich kanndiese Forderung – Stichwort: Wisconsin – ein bisschennachvollziehen.
Sie sind dorthin gefahren und haben sich die Situation vorOrt angesehen. Es hat lange gedauert, bis Sie den Gesetz-entwurf auf den Weg gebracht haben. Nach meiner Wahr-nehmung kreißte der Berg und gebar eine Maus.
Was Sie an gesetzlichen Konstruktionen vorgelegt haben,ist absolut untauglich. Sie sind doch darüber informiert,dass wir in der Kommission zur Reform der Gemeinde-finanzen und in deren Arbeitsgruppe „Arbeitslosenhilfe/Sozialhilfe“ längst viel weiter sind.
– Ich kann Ihnen sagen, dass die Arbeitsgruppe schonviermal getagt hat.
Was die Rechenmodelle und bestimmte Kriterien angeht,sind wir uns dort weitgehend einig. Die hessische Sozial-ministerin hat bei der Vorstellung Ihres tollen Modellsvom Landkreistag gesprochen. Interessant ist, dass derLandkreistag die einzige kommunale Spitzenorganisationist, die eine andere Position einnimmt.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1705
Ich bin sehr gespannt, Frau Kollegin aus Hessen, wasSie mit den beiden Gesetzentwürfen machen, die Sie er-neut eingebracht haben; denn Sie müssen uns die Handreichen, damit eine Reform auf diesem Gebiet zustandekommen kann. Ich habe in diesem Zusammenhang eineBitte: Ersparen Sie uns, dass wir darüber zum vierten oderzum fünften Mal diskutieren müssen. Glauben Sie mir: Eswird nicht besser.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dirk Niebel.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die FDP ist die Partei der sozialen Verantwor-tung,
weil wir dafür sorgen wollen, dass sich die Menschenihren Lebensunterhalt durch ihrer eigenen Hände Arbeiterwirtschaften können. Deshalb ist es notwendig, dass wirgerade für diejenigen, die sich am wenigsten helfen kön-nen, erst einmal die organisatorischen Möglichkeitenschaffen, dass sie die Chance bekommen, im Arbeits-marktprozess integriert zu werden.
Selbstverständlich brauchen wir nicht nur die Zusam-menführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe,sondern wir brauchen mittel- und langfristig auch die Zu-sammenführung der beiden Behörden, die diese Hilfen zuerbringen haben. Wir brauchen One-Stop-Career-Center,also etwas Weitergehendes als das, was Sie mit den Job-centern im Rahmen der Umsetzung des Hartz-Konzeptserreichen werden. Wir benötigen eine Anlaufstelle, wodie Menschen ein umfassendes Dienstleistungsangeboterhalten.An dieser einen Stelle muss es sowohl die Arbeitsver-mittlung als auch – nach der Zusammenführung von Ar-beitslosen- und Sozialhilfe wird es nur noch ein An-sprechpartner sein – die Leistungsgewährung durch denjeweils zuständigen Träger geben. Die Menschen müssendie Möglichkeit haben, an einer Stelle Bildungsmaßnah-men in Anspruch nehmen zu können, Zeitarbeitsverträgeabschließen zu können oder die notwendigen sozialenMaßnahmen von der Schuldnerberatung bis hin zur Dro-gentherapie oder zu Alkoholentziehungskuren beantragenzu können. Deswegen ist es richtig und notwendig, dassdieses Gesetz wieder eingebracht wurde. Es geht in dierichtige Richtung, aber einige wichtige Punkte fehlen.Aus diesem Grund haben wir einen eigenen Antrag vor-gelegt.
Auch hier gilt – der Herr Staatssekretär hat es schon an-gesprochen –: Zu viel Koch verdirbt den Brei.
Deswegen müssen wir das Ganze noch etwas nachwür-zen. Wir brauchen eine flächendeckende Regelung fürebendiese Maßnahmen und keine Experimentierklauseln.Wir müssen endlich dazu kommen, dass die Reform derOrganisationsstruktur der Bundesanstalt für Arbeitgreift, dass sie also umgesetzt und nicht immer nur an-gekündigt wird. Dass die Landesarbeitsämter und dieSelbstverwaltung abgeschafft werden, ist eine Margina-lie, die man nur am Rande erwähnen muss.
Die Bundesregierung kündigt an, all das, was nochnicht geregelt ist, werde mit Hartz III und Hartz IV be-handelt. Angesichts von Hartz I und Hartz II würde ichempfehlen, nicht darauf zu warten. Was gibt es denn außervielen Ankündigungen? Wenn ich Walter Riester wäre,der leider nicht anwesend ist, würde ich heulend durchden Plenarsaal laufen. Denn alles, was hier an Reform-schritten angekündigt wird, ist doch nichts anderes als dienicht ausreichende Rücknahme der arbeitsmarktpoliti-schen „Großereignisse“ der letzten Legislaturperiode.Das ist nichts anderes als der Beweis, dass Sie vier Jahrelang arbeitsmarktpolitisch die Weichen in die falscheRichtung gestellt haben.Wenn Sie schon bereit sind, einen Teil davon zu korri-gieren, dann machen Sie es auch noch hasenfüßig, halb-herzig und teilweise handwerklich falsch, sodass man mitgroßer Freude in der heutigen „Welt“ die Liste des Bun-deswirtschaftsministeriums sieht, in der die nächsten Re-formschritte angekündigt werden.Ich möchte die erforderlichen Maßnahmen einmal Re-vue passieren lassen, denn um die Menschen, die Hilfebrauchen, in Arbeit vermitteln zu können, brauchen wirauch einen Arbeitsmarkt, der Arbeitsplätze überhaupt ge-nerieren kann. Der erste Schritt wäre eine umfassende undvereinfachende Steuerreform, die Sie strikt verweigern,im Gegenteil: Sie gehen in die andere Richtung und er-höhen die Steuern. Der zweite Schritt wäre eine umfas-sende Deregulierung des Arbeitsrechts. Hier kündigtHerr Clement einiges an und nimmt es wieder zurück.Frau Lautenschläger war wie ich Mitglied der Arbeits-gruppe im Vermittlungsausschuss zur Umsetzung derHartz-Vorschläge. In der ersten Sitzung hat Herr Clementangekündigt: Das Scheinselbstständigengesetz, das Sieperfiderweise Gesetz zur Förderung der Selbstständigkeitgenannt haben, wird abgeschafft. – In der zweiten Rundehaben Sie ihn zurückgepfiffen. Jetzt entfällt nur die Ver-mutungsregelung, der ganze andere Schrott steht immernoch im Gesetz.
So geht es Schritt für Schritt weiter. Herr Clement kündigtdie Aufhebung der gesetzlichen Bestimmungen über denParl. Staatssekretär Gerd Andres
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Dirk NiebelLadenschluss an, das liegt gerade bei Verdi im Genehmi-gungsverfahren fest.
Er kündigt in der Arbeitsmarktpolitik eine Reform proMonat an.
Zu der für den Monat Januar geplanten Reform des Kün-digungsschutzes hat er, wie wir der gestrigen Regierungs-befragung entnehmen konnten, versprochen, dass sieEnde Februar abgeschlossen sei. Das werden wir uns an-schauen.Jetzt kündigt er an oder lässt sein Ministerium zweiTage vor der Wahl an die Presse lancieren, man müsseüber das Teilzeitpflichtgesetz und das Betriebsverfas-sungsgesetz reden. Richtig, sage ich Ihnen. Ich bin ja froh,wenn Sie auf den richtigen Weg kommen. Aber machenSie es und machen Sie es vernünftig, denn die Menschenin unserem Land haben das, was Sie mit ihnen tun, nichtverdient. Man muss sich ja wirklich dafür schämen, wieschlecht es den Leuten in diesem Land geht. Es geht ih-nen so schlecht, dass der Bauer, dem Sie die Sau vom Hofklauen und dem Sie hinterher drei Schnitzel zurückbrin-gen, damit auch noch zufrieden sein muss. Es ist un-glaublich, was Sie mit den Menschen in Deutschland an-zustellen versuchen. Deswegen sage ich Ihnen offen undehrlich: Ihre Arbeitsmarktpolitik wird den Menschennicht die Möglichkeit geben, in den Arbeitsprozesszurückzukehren.Ihr Staatsverständnis – wir haben es vorhin in der De-batte von Herrn Kuhn, dem grünen Chefarbeitsmarktpoli-tiker, der auch nicht mehr da ist, gehört –, wonach manDeutschland schlechtredet, wenn man als Opposition dieRegierungspolitik kritisiert, ist hochherrschaftlichesStaatsverständnis. Wenn Sie sich als Deutschland empfin-den, dann ist mir angst und bange um dieses Land unddann kann man wirklich nicht mehr ruhig schlafen.Nein, Sie sind einfach nur eine schlechte Regierung.Das Land ist gut und mit einer guten, verantwortungsvol-len Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik bekommen dieMenschen auch wieder Chancen, selbst dabei zu sein.Deswegen unterstützen wir vom Ansatz her die vorgeleg-ten Gesetze, verbessern sie mit unseren eigenen Vorschlä-gen und hoffen auf ein gutes Ergebnis am 2. Februar inNiedersachsen und Hessen – für Deutschland.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Thea Dückert.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Damen und Herren!Lassen Sie mich eine Bemerkung vorab machen. FrauLautenschläger, wir haben uns in der Arbeitsgruppe desVermittlungsausschusses kennen gelernt, als es um dieUmsetzung der Hartz-Vorschläge ging. Da habe ichdurchaus Ihre konstruktive Mitdiskussion schätzen ge-lernt.Ich habe allerdings gehofft, dass Sie im Zuge dieserAuseinandersetzung endlich bemerken, dass das, was Siein Ihrem OFFENSIV-Gesetz zusammengeschrieben ha-ben, an vielen Stellen schon Gesetz ist oder dass wir in derUmsetzung sind, dass es also schlichtweg vollständigüberholt ist. Ich habe auch gedacht, Sie hätten in der Ver-gangenheit die Chance wahrgenommen, zu begreifen, dassdie Experimentiermöglichkeiten für Ihr Land, für Hessen,die Sie hier einklagen, längst bestehen. Wir haben einMoZArT-Projekt; wir brauchen kein Köchelverzeichnis.
Wir haben ein MoZArT-Projekt, in dem nicht nur inHessen, sondern in vielen anderen Ländern, beispiels-weise in Nordrhein-Westfalen, in Niedersachsen und ananderer Stelle
– genau, auch in Berlin; danke, Herr Kollege –, die Zu-sammenführung der Arbeitsämter und der Sozialämtergerade bei der Vermittlung von Langzeitarbeitslosenlängst Realität ist. Dort werden unterschiedliche Erfah-rungen gesammelt, die in das eingehen werden, was wirmit Hartz III geplant haben.Wie gesagt, was Sie hier einbringen, ist wirklich allesüberholt.
Ich glaube, Sie wissen alle, wen Wilhelm Busch meinte,als er schrieb: Wofür sie besonders schwärmt, wenn eswieder aufgewärmt. Die Köchin, die von Wilhelm Buschbeschrieben wird, ist Witwe Bolte.
Ich glaube, dass sich Ihr Koch von der CDU an der WitweBolte orientiert, weil er uns das OFFENSIV-Gesetz zumdritten Mal aufgekocht lancieren lässt. Aber leider ist esnur beim Sauerkraut so, dass es durch Aufwärmen besserwird,
in der Arbeitsmarktpolitik ist das jedoch nicht der Fall. Inder Arbeitsmarktpolitik muss man mit dem, was man inAngriff nimmt, auf der Höhe der Zeit sein. Ihr OFFEN-SIV-Gesetz aber ist bereits verköchelt.Schauen wir uns das Gesetz noch einmal an. HerrAndres hat das bereits getan, deshalb muss ich es nicht imDetail erläutern. Wir beraten es schließlich schon zumdritten Mal.Sie fordern die Einführung einer privaten Arbeitsver-mittlung. Dabei ist bereits zum 1. Januar 2002 das Job-AQTIV-Gesetz in Kraft getreten. Wir haben damit den
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Weg für die private Arbeitsvermittlung geebnet und imvergangenen Jahr mit Vermittlungsgutscheinen nachge-legt.
Ich sage in aller grünen Bescheidenheit: Das hat auch vielmit dem zu tun, was wir in diesem Zusammenhang ein-gebracht haben.
Meine Damen und Herren, Sie fordern verschärfteSanktionen. Das scheint Ihnen in Hessen besonderswichtig zu sein, Frau Lautenschläger. Ist Ihnen entgangen,dass wir im Zuge der Hartz-Gesetzgebung und der neuenArbeitsmarktgesetze, die inzwischen Realität gewordensind, die Zumutbarkeit nicht einfach undifferenziert ver-schärft haben, wie Sie es immer wieder gefordert haben?Vielmehr haben wir differenzierte Lösungen gefunden,mit den Arbeitslosen so umzugehen, wie es ihren Mög-lichkeiten entspricht. Zum Beispiel müssen junge Men-schen eine höhere Mobilität aufbringen, wenn sie in denArbeitsmarkt einsteigen wollen.Des Weiteren haben Sie die Schaffung von Jobcenterngefordert. Als Oldenburgerin kann ich verkünden, dasswir vor zwei Wochen das erste niedersächsische Jobcen-ter ins Leben gerufen haben. Sie fordern für Hessen etwas,das wir für Niedersachsen längst auf den Weg gebrachthaben, Frau Lautenschläger.
Natürlich bestehen Unterschiede zwischen dem, waswir verfolgen und was bereits verwirklicht worden ist,und dem, was Sie fordern. Es wurde bereits deutlich ge-macht, woran Sie sich orientieren. Sie orientieren sich aneinem Reisebericht aus Wisconsin, an einem Modell, dasSie dort kennen gelernt haben. Wenn man sich damit aberstärker befasst, wird deutlich, dass Sie einen Pferdefußdes Wisconsin-Modells verschweigen, nämlich dass die-jenigen, die in diese Förderung hineingekommen sind,dann, wenn sie zu einem späteren Zeitpunkt möglicher-weise wieder herausfallen, den Anspruch auf Sozialhilfeauf einem vernünftigen Niveau verwirkt haben. Sie habendiesen Anspruch verwirkt, weil die Förderung befristetist. Ich meine, dass Sie die Idee, das Fördern und Fordernzu kappen und den kruden Sozialabbau an das Ende die-ser Kette zu stellen, letztlich immer im Hinterkopf habenund sie nur deshalb nicht deutlich formulieren, weil Sienicht den Mut dazu haben.Herr Merz geht etwas anders damit um. Er äußert sichzu diesem Thema erfrischend deutlich. Er hat im April vorzwei Jahren an dieser Stelle deutlich gemacht, dass es je-mandem, der die Arbeit verweigert, zwar ein Dach überdem Kopf und Essen zu garantieren gilt, dass er aber denAnspruch auf Sozialhilfe verwirkt hat. Interessant er-scheint mir in diesem Zusammenhang, dass Herr Merzgestern auf einer Podiumsdiskussion über die Notwen-digkeit von Einschnitten durch Reformen der sozialen Si-cherungssysteme ein verräterisches Bild benutzt hat. Erhat festgestellt: Wer ein Feuchtbiotop austrocknen will,darf nicht die Frösche fragen.
Was für ein soziales Verständnis verbirgt sich hinterdiesem Bild? Ich meine, dass Sie, wenn Sie über die Ideedes Förderns und Forderns reden, die wir gesetzlich ver-ankert haben und in vielen Schritten verfolgen, letztlichsehr stark den Sozialabbau angehen wollen.Wir wollen und werden mit dem Arbeitslosengeld IIdie Zusammenführung der Sozialhilfe und der Arbeitslo-senhilfe bewerkstelligen. Wir werden diese Schritte gehenund bestreiten nicht, dass es dadurch zu sozialen Ein-schnitten in einzelnen Bereichen, auch bei der Arbeitslo-senhilfe, kommen wird. Das ist ganz sicherlich so.Hierbei kommt es aber auf Folgendes an: Wir werdenerstens der Idee – sie wird immer wieder in die Welt ge-setzt –, einen zeitlichen Schnitt zu machen, das heißt, diebetroffenen Personen letzten Endes irgendwann aus dersozialen Grundsicherung hinauszuwerfen, nicht folgen.Uns ist zweitens wichtig, dass mit der Zusammenlegungvon Arbeitslosen- und Sozialhilfe ein Angebot an dieLangzeitarbeitslosen, an die Sozialhilfeempfänger ver-bunden ist. Mit der heutigen Situation, die schon wäh-rend Ihrer langjährigen Regierungsverantwortung be-stand und an der Sie nichts geändert haben, nämlich dassArbeitslosenhilfeempfängern, die arbeitsfähig sind, derZugang zu den aktiven Maßnahmen der Arbeitsmarkt-politik verwehrt wird, werden wir Schluss machen.Frau Lautenschläger, es wird genau das passieren, wasSie einklagen: Langzeitarbeitslose und auch die heutigenSozialhilfeempfänger werden in die Beratung zum Bei-spiel über Eingliederungspläne integriert. Deswegensage ich noch einmal: Ihr OFFENSIV-Gesetz ist Schneevon gestern, der mit einem Hauch sozialer Kälte verse-hen ist.
Meine Damen und Herren, wir haben heute Morgenüber den Jahreswirtschaftsbericht diskutiert. Die wirt-schaftliche Situation ist natürlich in vielerlei Weise aus-schlaggebend für die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt;das ist völlig klar.
Eine Folgerung, die man aus diesem Jahreswirtschaftsbe-richt ziehen muss, ist: Es macht keinen Sinn, nur auf diezukünftigen Wachstumserwartungen zu starren, wennman die Langzeitarbeitslosigkeit und die Probleme aufdem Arbeitsmarkt beseitigen will.
– Das scheinen Sie nicht gelernt zu haben. Ich erinnere anHerrn Wulff. Vor zwei Tagen hat er in den Nachrichtenbehauptet, dass es mit der Wirtschaft und dem WachstumDr. Thea Dückert
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Dr. Thea Dückertallein dadurch besser werden würde, dass die CDU ge-wählt würde.
Das entblößt Ihre gesamte Konzeptlosigkeit und dieÜberzogenheit Ihrer Personen.
In Wirklichkeit geht es um Folgendes: Wenn wir, wiein diesem Jahr, mit einem Wachstum zu rechnen haben,das, wenn auch immerhin positiv, unterhalb der Beschäf-tigungsschwelle – sie beträgt 2 Prozent – liegt, dann müs-sen wir es auf die Hörner nehmen, alle Anstrengungen zuunternehmen, die Beschäftigungsschwelle von 2 Prozentherunterzudrücken. Wir müssen noch etwas tun: Wir müs-sen die Dauer der Arbeitslosigkeit, die bei uns heute imDurchschnitt 32 Wochen beträgt, senken und wir müssendie Schwarzarbeit zurückdrängen.Das sind die Hebel, die Ansatzpunkte, die wir mit demHartz-Konzept in Angriff genommen haben. Aber dasreicht nicht aus. Wir brauchen „Hartz plus“; wir müssenin vielen Punkten weitergehen. Ein Beispiel: Die Zeitar-beit ist auf den Weg gebracht; wir Grüne haben uns sehrdafür eingesetzt. Aber natürlich geht es jetzt darum, um-zusetzen, dass im Rahmen der Zeitarbeit vernünftige Ein-stiegstarife für Langzeitarbeitslose festgelegt werden.Auch ich bin der Auffassung, dass die Einstiegstarife 30Prozent niedriger sein sollten als die Normaltarife. Aberim Unterschied zu Ihnen, meine Damen und Herren vonder FDP, wollen wir das nicht staatsdirigistisch vorgeben.
Vielmehr wollen wir den Gewerkschaften und den Ar-beitgebern das Vertrauen entgegenbringen, vernünftigeund verantwortungsvolle Bedingungen auszuhandeln.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Niebel?
Ja.
Vielen Dank, Frau Präsidentin, und vielen Dank, Frau
Dückert.
Frau Dückert, Sie haben uns als FDP in dieser Frage
Staatsdirigismus vorgeworfen. Würden Sie sich erinnern
und mir das dann gegebenenfalls auch bestätigen, dass es
die Bundesregierung, die von der Fraktion der Grünen
und der Fraktion der SPD getragen wird, war, die in der
Hartz-Gesetzgebung festgeschrieben hat, dass entgegen
Art. 9 Grundgesetz der Tarif eines anderen, also der eines
Kunden, den man nicht selbst ausgehandelt hat, per Ge-
setz für die Zeitarbeitsbranche gilt, wenn man keinen an-
deren Tarifvertrag aushandelt? Würden Sie mir weiter
darin zustimmen, dass in Art. 9 Grundgesetz, in dem die
Koalitionsfreiheit geregelt wird, nicht nur dafür gesorgt
wird, dass man das Recht hat, Tarifverträge abzuschließen,
sondern auch, dass man das Recht hat, keine Tarifverträge
abzuschließen, und dass Sie als Bundesregierung dagegen
staatsdirigistisch verstoßen haben?
Herr Niebel, ich gebe Ihnen erstens darin Recht, dassdie rot-grüne Regierung die in diesem Hause mit Mehr-heit verabschiedeten Hartz-Gesetze auf den Weg gebrachthat, wenn auch nicht mit Ihrer Hilfe, aber doch mit der derCDU.
Zweitens möchte ich Sie angesichts dessen, was Siehier vorgetragen haben, an Folgendes erinnern: Die rot-grüne Regierung hat auf den Weg gebracht, dass die büro-kratischen Verkrustungen, die Sie in den letzten Jahrenwie Ihren Augapfel gehütet haben – ich denke hier an dieRegelungen des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes imVerbund mit dem, was Sie hier gerade vorgetragen haben –,im nächsten Jahr in zentralen Punkten aufgebrochenwerden.
Wenn wir über mehr Dynamik am Arbeitsmarkt reden,Herr Niebel, dann wird nur im Zusammenhang aller Maß-nahmen ein Schuh daraus. Ich halte es für gut, dass wirüberflüssige Regulierungen im Bereich der Arbeitneh-merüberlassung abgeschafft haben.
Wir machen mehr und wir gehen weiter, zum Beispielbei der Unterstützung von Selbstständigen im Rahmender – ich gebe zu, es war ein Unwort des letzten Jahres –Ich-AG. Es ist ein guter Einstieg, wenn den Leuten in ei-ner solchen Situation zu kleinen Einkommen verholfenwird; denn ansonsten werden solche Leistungen schwarzerbracht. Das ist unabhängig von einem Wachstumspfad.Hiermit können wir Menschen helfen, aus der Schwarz-arbeit herauszukommen.Außerdem haben wir wesentliche Schritte bei der Ent-bürokratisierung der geringfügigen Beschäftigung undmit der Einführung von Gleitzonen gemacht. Sie allewissen, dass die Grünen immer vorgeschlagen haben, dieTeilzeitmauer aufzubrechen, die am Arbeitsmarkt durchplötzlich einsetzende Sozialabgaben besteht. Wir werdendas tun, aber wir sind nicht so blauäugig wie zum BeispielIhr Kandidat Wulff in Niedersachsen, der nunmehr wei-
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tere Versprechungen macht und Einkommensgrenzenoberhalb von 800 Euro – bis zu 1 500 Euro – in den Blicknimmt, und zwar ohne einen Vorschlag zur Gegenfinan-zierung.
Aber das ist ja ohnehin das beliebteste Spiel bei der CDU:Vorschläge zur Subventionierung der Sozialabgaben zumachen.Nein, meine Damen und Herren, unsere Modelle sindrealistisch. Wir haben uns vorgenommen, die hohen Lohn-nebenkosten gerade im Bereich der kleinen Einkommenzu senken. Wir haben bereits erste Reformen vorgenom-men und werden bei den Reformen der Sozialsysteme wei-ter vorangehen – wir Grüne haben das sehr hartnäckig ver-folgt –, um insbesondere einen Beitrag dazu zu leisten,dass die hohen Lohnnebenkosten gesenkt werden.Das wird noch ein weiter Weg werden, weil wir uns Re-formen der sozialen Sicherungssysteme vorgenommen ha-ben, die in den 90er-Jahren verschlafen worden sind, undweil wir es gleichzeitig mit einer hohen Staatsverschul-dung zu tun haben, die wir nicht weiter aufstocken können.
Wir wollen nämlich eine Politik machen, die nicht nur Be-schäftigung bringt, sondern auch nachhaltig ist und im In-teresse der künftigen Generationen nicht das Kapital ver-spielt, das man morgen braucht.Schönen Dank.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Pau.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Esgeht darum, „Erwerbsarbeit ... zu fördern und nicht ... Ar-beitslosigkeit zu finanzieren.“ So heißt es im vorliegen-den Gesetzentwurf des Bundesrates. Wer will das nicht?Berlins Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner, PDS, hatin dieser Woche die ersten drei regionalen Jobcenter vor-gestellt. Sie sollen helfen, Sozialhilfeempfänger schnellerin Arbeit zu vermitteln – und das ist auch gut so, um eingeflügeltes Berliner Wort zu verwenden.Auch das gehört zum Problem: Sozialhilfekosten fallenin den Kommunen an. Wir alle wissen – nicht erst seit denjüngsten Stellungnahmen des Städte- und Gemeindetages –,dass über allzu vielen Dörfern und Städten der Pleitegeierkreist. Jede Sozialhilfeempfängerin, die in Erwerbsarbeitkommt, ist daher auch für die gebeutelten Stadt- und Ge-meindekassen eine willkommene Entlastung.Die Frage ist nur: Welche Besserung bietet der nun vor-liegende Gesetzentwurf? Der Bundesrat will, dass dieZwänge zur Arbeitssuche, die damit verbundenen Zumu-tungen und die angedrohten Sanktionen noch größer wer-den, als sie es ohnehin schon sind. Das ist der Kern dervorliegenden Gesetze.Man geht von erwerbslosen Sozialhilfeempfängernaus, denen der Sinn nach Arbeit abhanden gekommen ist,
nicht zuletzt deshalb, weil das bestehende Arbeitslosen-hilfesystem zum Faulenzen und Schmarotzen ermutige.
– Auch wenn es Ihnen längst aus den Ohren quillt, HerrKollege, sage ich Ihnen: Wer so argumentiert, hat vomOsten dieses Landes überhaupt keine Ahnung. – Das istder erste Grund dafür, dass wir diese Gesetzentwürfe ab-lehnen.
Sozialhilfeempfänger sollen verschärft nachweisen,dass sie sich hinreichend um einen Job bemühen. Wiewäre es denn einmal mit einer Umkehrung der Beweis-last – ich weiß, es ist polemisch –, also damit, dass Re-gierung, Banken und Unternehmen verpflichtet wären,nachzuweisen, dass sie sich ausreichend um die Schaf-fung von Arbeitsplätzen bemühen?
Wie wäre es mit entsprechenden Sanktionen für den Fall,dass sie den dafür notwendigen Eifer nicht aufbringen?
Damit es nicht nur polemisch bleibt, will ich es Ihnen aneinem Beispiel illustrieren, Kollege Niebel. Am Beginn derArbeitslosigkeit und vor einer so genannten Sozialhilfekar-riere steht inzwischen allzu häufig die schlichte Tatsache,dass Jugendliche nicht einmal einen Ausbildungsplatz be-kommen, weil es an Angeboten mangelt. Auch deshalb for-dert die PDS seit Jahren eine Umlagefinanzierung.Mit ihrwürden Betriebe begünstigt, die ausbilden, und Unterneh-men zur Kasse gebeten, die sich verweigern.
Sie lehnen eine Umlagefinanzierung ab und be-schwören stattdessen das freiwillige Engagement der Un-ternehmer. Das beschreibt die Scheinmoral in dieserganzen Debatte: Zwang bei den Betroffenen und Freibriefefür die Zuständigen. – Das ist der zweite Grund dafür, dasswir die vorliegenden Gesetzentwürfe ablehnen.Nun ein dritter Grund. Nahezu alles, was CDU/CSUhier via Bundesrat anstrebt, ist längst geregelt. SPD undGrüne haben es gerade noch einmal bestätigt, und zwar– wenn ich die Redebeiträge richtig verstanden habe –nicht ohne Stolz.
Dr. Thea Dückert
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Petra PauDer vierte Grund dafür, dass wir Nein sagen, ist ganzsimpel. Sozialhilfe gilt als Mindeststandard für ein men-schenwürdiges Leben. Wer diesen Mindeststandard zurDisposition stellt, spielt mit der Würde des Menschen.Sie tun das mit diesen Gesetzentwürfen.Wir können gern einmal darüber reden, dass es Men-schen gibt, die sich am Sozialstaat bereichern – ich kenneda ebenfalls Beispiele –,
und zuweilen sollen auch Sozialhilfeempfänger daruntersein. Aber: Den großen Reibach machen in dieser Gesell-schaft andere. Deshalb mein Angebot: Wenn der Bundes-rat hier einen Gesetzentwurf zur Wiedereinführung derVermögensteuer vorlegt, wird die PDS im Bundestag zu-stimmen. Soziale Gerechtigkeit hat bekanntlich auch im-mer etwas mit Steuergerechtigkeit zu tun. Im Berliner Ab-geordnetenhaus haben die SPD, die PDS und Bündnis 90/Die Grünen gemeinsam für die Wiedereinführung derVermögensteuer gestimmt. Warum soll das nicht auch hierim zuständigen Bundestag geschehen? Das würde derPDS im Bundestag einmal die Möglichkeit geben, ausvollem Herzen Ja zu sagen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Johannes
Singhammer.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Der Redner der Bundesregierung, Herr StaatssekretärAndres, und Frau Dr. Dückert haben kritisiert, dass dieseDebatte hier stattfindet, und gesagt, das alles sei ein Wie-derholungseffekt, die vorgelegten Gesetzentwürfe seienunnötig und im Übrigen sei die Problematik bereits gere-gelt. Ich sage Ihnen Folgendes: Wir werden nach exaktviereinhalb Jahren rot-grüner Bundesregierung am Endedieses Monats exakt 4,5 Millionen Arbeitslose haben.
Deshalb halte ich diese Problematik nicht für geregelt. Esgeht um die Schicksalsfrage für Deutschland. Wir müssenuns Gedanken darüber machen, wie es besser wird.
Die Debatte ist Ihnen unangenehm, weil alle Ihre Re-zepte erkennbar gescheitert sind. Wäre es anders, hättenwir nicht das ständige Wachsen der Arbeitslosenzahlen.Auch der Jahreswirtschaftsbericht von gestern war allesandere als hoffnungweckend. Der Bundeswirtschaftsmi-nister hat die Wachstumsprognosen korrigiert. Prognos-tiziert wird nun ein Wachstum von 1 Prozent.Ich möchte an dieser Stelle erinnern: Noch vor weni-gen Wochen, nämlich am 5. Dezember, hat der gleicheBundeswirtschaftsminister an dieser Stelle an die Opposi-tion gewandt erklärt:Nicht einmal 1,5 Prozent Wachstum, wie Sie es,meine Damen und Herren von der Opposition, imSchnitt zwischen 1995 und 1998 trotz boomenderUS-Konjunktur eingefahren haben – das ist einfachzu wenig.Meine Damen und Herren, das erwartete Wachstum von1 Prozent ist auch zu wenig. Es wird wahrscheinlich nochweniger werden. Allein bei einem um ein halbes Prozentgeringeren Wachstum sind 3Milliarden Euro an Steueraus-fällen und eine gesamtstaatliche Belastung von fast 5 Mil-liarden Euro zu erwarten. Das bedeutet: mehr Arbeitslose,noch weniger Beschäftigung, mehr Steuerausfälle undmehr Finanzprobleme. Die Arbeitsmarktkatastrophe unddie Wirtschaftsmisere dulden keinen Aufschub mehr.Wir haben in Deutschland kein Analyseproblem, son-dern wir haben ein Umsetzungsproblem. Deshalb bringenwir heute diese zwei Gesetzentwürfe in den Bundestagein: das Gesetz zum optimalen Fördern und Fordern inVermittlungsagenturen und das Gesetz zum Fördern undFordern arbeitsfähiger Sozialhilfeempfänger und Arbeits-losenhilfebezieher. Dahinter steckt eine klare Konzep-tion: Wer arbeitet, soll immer mehr in der Tasche habenals derjenige, der nicht arbeitet. Wer die Ärmel aufkrem-pelt und mitmacht, der soll besser leben als jemand, dervon staatlichen Transferleistungen lebt.
Das ist ein geschlossenes Konzept. Deshalb bitten wir Sieeindringlich, nicht bei halben Sachen zu bleiben.Sie haben immerhin zwei Säulen unseres vorgeschla-genen Drei-Säulen-Modells akzeptiert, und zwar die Steu-erbefreiung bei Mini-Jobs bis 400 Euro und das so ge-nannte Einschleifmodell, das heißt, mit geringerenLohnnebenkosten zu beginnen, um den Einstieg in ein re-guläres Arbeitsverhältnis zu erleichtern. Das ist gut so. Ichbitte Sie jetzt aber, auch die dritte Säule – darum geht es indiesem Gesetzespaket –, nämlich das Lohnabstands-gebot zu regeln. Ohne die dritte Säule werden die beidenanderen nicht die gewünschte Wirkung haben. Deshalb istdas so entscheidend und deshalb legen wir so viel Wert da-rauf, dass heute auch diese dritte Säule auf den Weg ge-bracht wird.Im Übrigen brauchen Sie nicht allzu weit zurückzu-blicken. Sie haben unsere Anträge zu dem früheren 630-DM-Gesetz und zur Scheinselbstständigkeit zunächstauch immer abgelehnt, sie für überflüssig erachtet, sie alsTeufelszeug bezeichnet, und dann haben Sie zugestimmt.Ich zitiere noch einmal den Kollegen Peter Dreßen; er hatam 12. November 1999 gesagt:Der Gipfel Ihrer Alternativvorschläge ist ... , dass ...wir das 630-DM-Gesetz zurückziehen sollen.Sie haben weitere drei Jahre gebraucht und unermess-licher Schaden ist in Deutschland eingetreten, dann habenSie es zurückgezogen. Warten Sie bei der dritten Säulenicht so lange, sondern schließen Sie sich unserem Pro-gramm an, meine sehr verehrten Damen und Herren!
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Die Ziele unserer Entwürfe sind klar:Erstens. Statt eines Daueraufenthalts im zweiten Ar-beitsmarkt – bei ABM und bei ständiger Fort- und Wei-terbildung – wollen wir einen Wiedereintritt in den erstenArbeitsmarkt fördern.Zweitens. Wir wollen die Arbeitsaufnahme finanzie-ren, anstatt die Arbeitslosigkeit zu subventionieren.Drittens. Eigeninitiative soll belohnt, eigene Leistungund staatliche Gegenleistung sollen stärker miteinanderverknüpft werden.Viertens. Mit einer sinnvollen Verzahnung von Löhnenund Zuschuss – so genannten Kombilöhnen – wollen wirdie Bereitschaft arbeitsfähiger Hilfeempfänger stärken,selbst aktiv zu werden, selbst mitzumachen.Wir erheben keinen Anspruch auf das politische Copy-right. Uns liegt Deutschland am Herzen. Wenn Sie unsereEntwürfe Punkt für Komma so übernehmen, wie wir sievorschlagen, dann wird sich die Situation in Deutschlandbessern. Darüber würden wir uns freuen.Es ist aber auch klar, dass Deutschland nicht alleindurch die Umsetzung dieser Pläne wieder eine blühendeLandschaft wird. Zuallererst ist es deshalb nötig, dafürSorge zu tragen, dass uns nicht weitere falsche Entschei-dungen in eine wirtschaftspolitisch falsche Richtungführen. Vor kurzem ist vom Chef des Deutschen Gewerk-schaftsbundes öffentlich eine Reihe von Vorschlägen ge-macht worden. Diese werden von der Bundesregierungimmer sehr ernst genommen, denn viele Kolleginnen undKollegen der SPD-Bundestagsfraktion gehören dem DGBan. Der DGB-Chef Sommer hat vor kurzem erklärt: „Ar-beitnehmer, die es sich leisten können, sollten weniger ar-beiten.“ Dies stellt man sich wie folgt vor: Zwischen1 und 1,5 Millionen Arbeitnehmer verzichten für einigeZeit auf 20 Prozent ihres Einkommens. Mit den so gespar-ten Personalkosten schaffen die Unternehmer neue Jobs.Diesem Unsinn und der dahinter stehenden Philosophiemüssen Sie ernsthaft und deutlich wiedersprechen!Deutschland braucht nicht die Stückelung der Arbeit,nicht die Mangelverwaltung bei Jobs, nicht weniger Arbeit,sondern ausschließlich und allein mehr Wachstum. Dies istdie richtige Weichenstellung für eine bessere Zukunft.
Dass in Deutschland genügend Arbeit vorhanden ist,zeigt die Schwarzarbeit. Von 350 Milliarden Euro
– ja, bis 370 Milliarden Euro – Umsatz und einem Wachs-tum von 6 Prozent im Jahr ist die Rede. Schwarzarbeit istalso eine boomende Branche. Die dort geleisteten Ar-beitsstunden entsprechen umgerechnet mittlerweile mehrals 9 Millionen Vollzeitjobs. Wenn die Rechnung erlaubtwäre, könnte man sagen: Bei 4,5 Millionen Arbeitslosenkönnte man jedem Arbeitslosen zwei Jobs zur Auswahlgeben, wenn die Schwarzarbeit entsprechend zurückge-führt werden könnte. Genau hier liegt das Problem, näm-lich bei den hohen Lohnnebenkosten. Deshalb müssen Siediese drei Säulen in einem Zusammenhang sehen.Der Bundeswirtschaftsminister ist heute exakt 100Tageim Amt und hat sich einen Ruf als Medienstar erworben.Er gibt sich als politischer Pferdeflüsterer.
Er erzählt, was er alles tun will, wie nett er ist und wieleicht all diese Probleme anzupacken seien.
Herr Clement – das gestehe ich ihm zu – muss einen Groß-teil des Riestererbes abtragen. Aber wenn es Ihnen wirk-lich ernst ist, dann räumen Sie nicht nur das fehlgeleiteteScheinselbstständigkeitsgesetz und das unselige 630-Mark-Gesetz weg, sondern machen mit mindestens dreiganz konkreten Maßnahmen weiter: Das als Wundermit-tel gepriesene Job-AQTIV-Gesetz,welches Sie noch vorwenigen Monaten als das Heilmittel für den Arbeitsmarktgepriesen haben, hat die Erwartungen nicht erfüllt. Vonden 180 000 ausgegebenen Vermittlungsgutscheinen wur-den bis Ende 2002 gerade einmal 11 000 bei privaten Ver-mittlern eingelöst. Die Hilfen und Wirkungen, die Sie sichversprochen haben, sind nicht eingetreten.Auch die Bilanz Ihres nächsten Vorzeigeprojektes, desMainzer Modells, könnte nicht dürftiger sein: In geradeeinmal 7 000 Fällen ist dieses Fördermodell umgesetztworden. Selbst die Bundesanstalt für Arbeit bescheinigtdem rot-grünen Vorzeigemodell offiziell das Versagen.Kurz und bündig wird festgestellt, „ ... die in dieses Pro-gramm gesetzten Erwartungen sind nicht erfüllt“.Das JUMP-Programmwar ebenfalls ein Flop. Hier istnirgends gesprungen worden.
Vielmehr gab es mit diesem Programm eine harte Bauch-landung. Wie immer, wenn man auf englische Bezeich-nungen ausweicht, zeigt sich, dass mehr vernebelt alsKlarheit in der Sache geschaffen werden soll.
Wenn Sie wirklich effizient und wirksam eine Verrin-gerung der Arbeitslosenzahlen erreichen wollen, müssenSie all die Gesetze, die Sie in den vergangen vier Jahrenbeschlossen haben, die aber wirkungslos geblieben sind,korrigieren und zurücknehmen.
Die Zeit läuft uns davon. Viel Zeit bleibt nicht mehrund die Menschen in Deutschland spüren dies. Sie, meineDamen und Herren, werden dies bei den Wahlen amSonntag zu spüren bekommen. Im Jahre 2004 werden sichdie Grenzen der EU für 75 Millionen Osteuropäer öffnen.In Deutschland wird es eine wachsende Niedriglohnkon-kurrenz geben. Kapital wird in die Niedriglohngebietedes Ostens abwandern. Die Herausforderungen werdenwachsen und nicht geringer.Wir sind der Meinung, dass Deutschland die Kraft für ei-nen neuen Aufbruch hat. Die Arbeitnehmer in unserem Landsind fleißig und hervorragend ausgebildet. Die Unterneh-mer sind kenntnisreich und brauchen den internationalenJohannes Singhammer
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003
Johannes SinghammerWettbewerb nicht zu scheuen. Deutschlands Substanz istintakt. Aber sie darf nicht Tag für Tag durch die falschenRahmenbedingungen dieser Regierung aufgezehrt wer-den. Wir brauchen einen anderen wirtschaftlichen Rah-men. Dann geht es mit Deutschland auch wieder aufwärts.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Thomas Sauer.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Auch wenn hier zu Recht bemerkt wurde, dasswir heute Gesetzentwürfe diskutieren, die schon öfter aufder Tagesordnung standen, muss ich sagen: Ich bin frohdarüber, dass wir heute wieder einmal Gelegenheit haben,über einen wichtigen Politikbereich zu sprechen.
Wenn ich Ihre Vorschläge Revue passieren lasse undunsere Initiativen, die wir in den letzten Jahren unter-nommen haben und die wir in den kommenden Jahren un-ternehmen werden, gegenüberstelle, dann schneiden wirgut ab und brauchen eine Diskussion nicht zu scheuen.
Dass die Union bis heute kein wirklichkeitstauglichesKonzept hat, das zeigen die Gesetzentwürfe, die wir dis-kutieren und die Sie, wie schon gesagt wurde, zum drittenMal in die Beratungen des Bundestages einbringen. DieOpposition musste in der Öffentlichkeit einen Nachweisfür Aktivitäten auch in Bezug auf Reformen des Ar-beitsmarktes abliefern; das verstehe ich. Sie sollte aberdennoch in der Lage sein, den aktuellen Stand der Regie-rungspolitik wenigstens zur Kenntnis zu nehmen. Auch dahapert es. Sie kann – Frau Lautenschläger ist nicht mehrda und nimmt an der Debatte nicht mehr teil
– alle möglichen Dinge nutzen; sie sollte aber angesichtsihrer eigenen Untätigkeit nicht mit dem Finger auf dieBundesregierung zeigen.Offensichtlich ist die Opposition bei dem Reform-tempo, das wir vorlegen, leider überfordert.
Sonst würde sie kaum einen Entwurf erneut diskutieren,der nur abgestandene Vorschläge aufwärmt und in derSubstanz nichts Neues zu bieten hat.
In Wahrheit ist es noch viel schlimmer; Herr Andres hatdas vorgestellt. Denn wenn wir Ihren Vorschlägen tatsäch-lich folgen würden, dann würden wir das Reformtempobei einer an den Interessen derArbeitslosen orientiertenReform des Arbeitsmarktes, die so dringend notwendigist, drosseln und Gefahr laufen, in die Stagnation zurück-fallen, wie wir sie aus der letzten Zeit der Kohl-Ära nochin schlechter Erinnerung haben. Die Zeiten des Aussitzensund der halbherzigen Experimente ist vorbei. Zumindestsind wir Sozialdemokraten nicht bereit, neue Verzögerun-gen hinzunehmen, wie Sie sie uns heute vorschlagen. Wirhalten an einer seriösen und zügigen Umsetzung der Re-formen am Arbeitsmarkt fest.
Im Kern wollen wir die Beschäftigungschancen vonArbeitslosenhilfe- und erwerbsfähigen Sozialhilfebezie-hern weiter verbessern und damit die Arbeitslosigkeit ab-bauen. Die schnelle und effiziente Integration von ar-beitslosen und erwerbsfähigen Sozialhilfebeziehern wardas Ziel unserer Politik in der vergangenen Legislaturpe-riode und sie ist es auch in der jetzigen. Von dieser Kraft-anstrengung werden wir nicht abrücken. Das haben dieBeratungen und Gesetze für moderne Dienstleistungenam Arbeitsmarkt gezeigt, die wir in den vergangenen Mo-naten verabschiedet haben. Das werden auch unsere Ini-tiativen zeigen, die wir noch in diesem Jahr auf den Wegbringen werden.
Dabei fällt allerdings ein wirklich wichtiger Unter-schied zwischen Regierung und Opposition ins Auge– Frau Dückert hat das dankenswerterweise schon ange-sprochen –: Wir wollen zusammen mit den Akteuren inerster Linie Anreize und Förderungen schaffen, um An-strengungen zu generieren, die Arbeitslose zurück ins Er-werbsleben bringen. Wir wollen alle Akteure motivieren,die Anforderungen zu meistern. Das wollen wir aber nichtgegen die betroffenen Menschen tun. Auch Arbeitsloseund Sozialhilfeempfängermüssen – das ist richtig – An-reize und Förderung erfahren, um wieder in Arbeit zukommen. Das ist Gegenstand unserer Politik. Aber es sindin erster Linie der Mangel an Arbeitsplätzen und die ver-krusteten Strukturen, die es zu modernisieren gilt und dieschuld sind an der viel zu hohen und zu langen Arbeitslo-sigkeit. Es sind nicht die Arbeitslosen selber, wie es im-mer wieder aus den Papieren von Union und FDP heraus-zulesen ist.
Es ist einigermaßen frech, wenn die Union und dieFDP vorgeben, sie wollten mit ihrer Politik die Akzeptanzder Sozial- und der Arbeitslosenhilfe in der Bevölkerungstärken. Sie provozieren doch durch Ihre Politik einen Ge-neralverdacht gegenüber den Leistungsbeziehern. FrauLautenschläger, Sie haben im Bundesrat das böse Wort„soziale Hängematte“ gebraucht.
Ich glaube, das macht deutlich, dass Sie in erster Linie einSchwergewicht auf die Sanktion von Arbeitslosen undLeistungsbeziehern legen wollen.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1713
Wir brauchen eine ausgewogene Politik des Fördernsund Forderns, und zwar genau in dieser Reihenfolge.
Wir wollen alle erwerbsfähigen Menschen fördern unddie Brocken wegräumen, die einer erfolgreichen Integra-tion in das Erwerbsleben im Weg stehen. Deshalb könnenwir zielführende Eigenbemühungen erwarten und diesemit Instrumenten einfordern.Nach dem Vorschlag der Union sollen die Sozialhilfe-bezieher, die ein Anrecht auf Arbeitslosengeld erworbenhaben, zukünftig keine Ansprüche mehr auf erneutes Ar-beitslosengeld erwerben können. Das geht nicht. Mankann vieles diskutieren. Man kann aber keine Vorschlägeernsthaft in die Diskussion einbringen, die eine Bevölke-rungsgruppe so eklatant vom Gleichheitsgrundsatz aus-schließt, wie Sie es mit Ihrem Vorschlag tun.
Im Gegenteil: Ich denke, wir müssen in diesem Bereichdarauf achten, dass die kommunalen Beschäftigungs-strukturen und die kommunale Beschäftigungspolitik er-halten bleiben, um Arbeit statt Sozialhilfe zu organisieren.Eine wichtige Reform für eine bessere und schnellere Ver-mittlung sehen wir in der Schaffung von Jobcentern alsintegrierten Anlaufstellen für alle erwerbsfähigen und er-werbslosen Personen. Das wurde im Hartz-Konzept vor-geschlagen; wir setzen dies um. Auf diese Art und Weisekönnen und sollen schlanke Verwaltungsstrukturen ge-schaffen und Verschiebebahnhöfe vermieden werden so-wie eine effiziente Vermittlung, orientiert am ersten Ar-beitsmarkt, erfolgen.Die Vermittlungsorientierung ist durch die Entbürokra-tisierung von uns bereits gestärkt worden. Aus meinerSicht besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass durchdie einheitliche Verantwortung eine bessere und schnel-lere Vermittlung möglich wird. Ihr Offensivgesetz stelltdies nicht sicher.Die Vermittlung wird zukünftig einsetzen, sobald dieKündigung des betroffenen Arbeitnehmers ausgespro-chen wurde, und nicht mehr erst Monate später, wenn dieArbeitslosigkeit eingetreten ist. Wir setzen auf eine hö-here Mobilität derjenigen, die mobil sein können, um dieregionalen Arbeitsmarktdifferenzen für die Vermittlungzu nutzen. Wir stärken die Qualifizierung und Weiterbil-dung und setzen den Akzent deutlich auf die Vermittlungin den ersten Arbeitsmarkt und nicht auf die Verwaltungvon Arbeitslosigkeit.Sie haben die Idee ins Spiel gebracht, Meldekontrollenwieder einzuführen. Das zeigt mir, dass Sie den Weg indie erneute Bürokratie gehen wollen. Mit Ihrer Idee, dieMeldekontrollen wieder einzuführen, zeigen Sie, dassIhnen bürokratische Verwaltungsvorgänge wichtigersind als die Arbeitsvermittlung. Die Erfahrung hat unsdoch gezeigt, dass dieses Verfahren nicht zu mehr Ver-mittlungen führt. Es belastet die Arbeitsämter nur mitneuen Aufgaben und lenkt sie von ihrer Kernfunktion,nämlich auf unbürokratische Art und Weise Arbeit zuvermitteln, ab.Der Vorsitzende der Bundesanstalt für Arbeit, HerrGerster, hat im Wirtschaftsausschuss sehr interessanteAusführungen gemacht.
Er hat gesagt, er sei dem Gesetzgeber dankbar dafür, dasser ihm und seiner Bundesanstalt die Arbeit erleichtert hat;er beabsichtige, in den kommenden Jahren 5 000 Mitar-beiter durch Umschichtung von der Verwaltung in dieVermittlung zu bringen.
Diesen Weg müssen wir gehen: weniger Bürokratie undmehr Vermittlung und nicht umgekehrt, wie es in IhremOffensivgesetz vorgeschlagen wird.
Mir läuft komischerweise die Zeit davon.
Meine Damen und Herren, die Union schlägt vor, dieFinanzierungslasten der Arbeitsmarktpolitik länderfreund-lich auszugestalten und einseitig auf den Haushalt derBundesanstalt und auf den Bundeshaushalt zu verschie-ben. Gleichzeitig sollen dem Bund Steuerungskompe-tenzen entzogen werden. Das mag aus der Sicht einesWettbewerbsföderalismus folgerichtig sein. Es zeigt viel-leicht aber auch nur, dass Sie in erster Linie an Länder-interessen denken, solange Sie im Bund keine Verantwor-tung tragen. Ich glaube, wir müssen dieses Lagerdenkenim Interesse der betroffenen Menschen und des sozialenZusammenhalts überwinden.Lassen Sie mich abschließend sagen: Die Regierungund die sie tragenden Parteien wissen, dass die Problemeauf dem Arbeitsmarkt nur mit einem Bündel von Maß-nahmen beseitigt werden können.
Hinter den nackten Zahlen der Arbeitsmarktstatistik ver-bergen sich Menschen, denen wir uns verpflichtet fühlen.Die kommenden Jahre werden auf dem Feld der Arbeits-marktpolitik zu weiteren wesentlichen Neuerungen füh-ren. Wir haben diesen Reformprozess produktiv eingeleitetund wir werden ihn im Sinne der Arbeitslosen fortsetzen.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Heinrich L. Kolb,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! SeitBeginn ihrer Regierungszeit 1998 kündigt die rot-grüneThomas Sauer
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Dr. Heinrich L. KolbKoalition immer wieder eine Reform der Sozialhilfe an.Aber außer der Verlängerung von Fristen bei Modellver-suchen ist Ihnen bisher leider nichts eingefallen, HerrBrandner.
– Sie brauchen gar nicht zu lachen. – Deswegen ist eswichtig und richtig, Herr Staatssekretär Andres, dass wirheute die Gelegenheit nutzen, auf die Notwendigkeit, jetztzu handeln, hinzuweisen. Sie haben im Rahmen dieserGesetzesinitiativen die Möglichkeit, auf den Reformzugaufzuspringen.Wir lassen uns auch nicht madig dafür machen, FrauDückert, dass wir Dinge angeblich zum dritten Mal dis-kutieren. Ich erinnere daran, wie lange es bei geringfü-giger Beschäftigung, Kündigungsschutz, Scheinselbst-ständigkeit, Arbeitnehmerüberlassung und privaterArbeitsvermittlung gedauert hat, wie viele Anträge wireinbringen und diskutieren mussten, bis es am Schluss soweit war. Das Problem ist, Frau Dückert: Der eine kapiertschneller, der andere braucht ein bisschen länger. Offen-sichtlich gibt es in der rot-grünen Koalition viele, die et-was mehr Zeit brauchen.
– Herr Brandner, es ist nun einmal so: Die Zeit drängt. Wirbefinden uns in einer Notlage. Die Finanzen der Kommu-nen sind desaströs.
Das ist auch das Ergebnis der rot-grünen Steuerreform.Das muss man einmal sagen. Sie lassen die Kommunennachhaltig im Stich. Das haben die Kommunen nicht ver-dient.
Deswegen muss die angekündigte Zusammenlegungvon Arbeitslosen- und Sozialhilfe schnell passieren.Der Presse ist zu entnehmen, dass Sie das frühestensEnde 2004 realisieren wollen. Das ist schon deswegen be-merkenswert, weil Sie die dann vielleicht einzusparendenMittel in Höhe von 1,5 Milliarden Euro bereits für dasJahr 2004 für die Förderung der Betreuung von Kindernunter drei Jahren eingeplant haben. Auch daher müsstenSie ein Interesse daran haben, schnell etwas zu tun.
– Wir müssen das schnell, aber sorgfältig machen. Dasschließt sich nicht aus. Bei Ihnen war es allerdings bisheroft so, dass Sie im Schweinsgalopp Gesetze mit derheißen Nadel gestrickt haben. Hinterher mussten wir dannnachbessern. Wenn wir diese Sache gemeinsam anpackenund wenn Sie als Vorlage das nehmen, was die FDP die-sem Hause in fünf Punkten klar vorlegt, dann bekommenwir eine gute Reform zustande und erreichen trotzdemschnell Ergebnisse.
Die FDP ist der Ansicht – das steht auch in unseremAntrag –, dass die Sozialhilfe so ausgestaltet werdenmuss, dass sie einerseits den wirklich Bedürftigen ein Le-ben in Würde ermöglicht, aber andererseits die Selbst-ständigkeit aller Sozialhilfeempfänger stetig stärkt undLeistungsmissbrauch vermeidet.
Subsidiäre Hilfegewährung – das sage ich hier deutlich –darf keine Kultur der Unselbstständigkeit hervorbringen.
Deswegen ist es wichtig – das ist für uns Leitlinie einerSozialhilfereform –, dass derjenige, der arbeitet, deutlichmehr in der Tasche hat als derjenige, der von Leistungender Gesellschaft lebt.
Wir haben schon in der letzten Legislaturperiode meh-rere Anträge eingebracht, um die verschiedenen steuer-finanzierten Systeme der existenziellen Sicherung neu zuordnen. Wir müssen also nicht bei null anfangen, um dasnoch einmal deutlich hervorzuheben. Ich will ergänzendzu dem, was der Kollege Niebel gesagt hat, drei Punktenennen.Erstens. Von den rund 2,7 Millionen Sozialhilfeemp-fängern sind mindestens 800 000 grundsätzlich arbeits-fähig. Aber warum lohnt es sich für diese 800000 arbeits-fähigen Sozialhilfeempfänger nicht, Arbeit anzunehmen?Zum einen weil bei niedriger Qualifikation, die mit demEmpfang von Sozialhilfe regelmäßig einhergeht, und da-mit einem niedrigen Einkommen der Lohnabstand ein-fach zu gering ist. Zum anderen kann ein arbeitswilligerSozialhilfeempfänger im Monat nur bis zur Hälfte seinesRegelsatzes etwas hinzuverdienen. Alles, was er darüberhinaus verdient, wird ihm zu 100 Prozent angerechnet.Das ist schlicht und einfach demotivierend.
Wir haben dazu präzise Vorschläge: Freibeträge er-höhen, Anrechnungssätze langsamer steigen lassen, undzwar temporär, um diejenigen, die auf Dauer ohne Ar-beitslosen- oder Sozialhilfe zu arbeiten bereit sind, zu mo-tivieren. Zudem wollen wir, dass der Eingangssteuersatzauf 15 Prozent gesenkt wird.
All das wird nicht ohne Gegenfinanzierung möglich sein.Darin sind wir vollkommen Ihrer Meinung. Deswegenbrauchen wir einen neuen dauerhaften föderalen Finanz-ausgleich. Aber das Thema ist ohnehin auf der Agenda.Daran kommen wir nicht vorbei.Zweitens. Wir wollen bessere Kinderbetreuungs-angebote – ich betone: Angebote – in Kooperation mitden Ländern. Gemeint ist die ganze Palette von Krippenüber Kindergärten und Horte bis hin zur Tagespflege. Ver-lässliche Schulzeiten sind zum Beispiel in Hessen mitt-
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lerweile vorbildlich realisiert. Auch muss es Ganztags-schulen in unterschiedlicher Trägerschaft geben, sowohlprivater, staatlicher als auch freier. Schauen wir einmal,was die sozialliberale Regierung in Rheinland-Pfalzmacht. Auch das ist durchaus vorbildlich.Wir wollen drittens keine Leistung ohne grundsätz-liche Bereitschaft zur Gegenleistung. Hier wird es nachunserer Auffassung allerdings nicht ohne eine Umkehr derBeweislast gehen. Der Sozialhilfeempfänger wird, wenner vom Staat und damit vom Steuerzahler Hilfe erhaltenmöchte, künftig darlegen müssen, dass er seinen Lebens-unterhalt nicht selbst bestreiten kann.
Bisher scheuen sich die Kommunen davor, Frau KolleginBarnett, weil der Prüfungsaufwand hoch und auch dasProzessrisiko nicht unerheblich ist.Alles in allem brauchen wir weniger Streuverluste. Wirmüssen Leistungsmissbräuche bekämpfen.
– Wenn die einzige Boombranche in diesem Land dieSchwarzarbeit mit einem Umsatz von 370 Milliarden Euround einem Anteil am Bruttoinlandsprodukt in Höhe von16 Prozent ist, Frau Kollegin Barnett, dann stimmt ein-fach etwas nicht.
Herr Kollege Kolb, schauen Sie bitte einmal auf die Uhr
am Rednerpult. Ihre Redezeit ist deutlich überschritten.
Noch wenige Sätze: Wir brauchen mehr Eigenverant-
wortung und müssen das Solidaritätsprinzip stärken. Für
uns ist Solidarität keine Einbahnstraße. Deswegen bitte
ich Sie, unserem Antrag zuzustimmen. Er zeigt den Weg
in eine gute Zukunft der Sozialhilfe.
Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Walter Hoffmann,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Herr Kolb, mit einer Aussage haben Sie in der TatRecht: Die Zeit drängt. Deswegen sollten wir sie auchnicht mit völlig überflüssigen, nutzlosen und ineffizientenDiskussionen vergeuden.
Wenn man sich den Hintergrund anschaut, vor dem wirheute diese Diskussion führen – der Staatssekretär hat esvorhin schon sehr vorsichtig und diplomatisch angedeu-tet –, dann kristallisiert sich heraus, dass der hessische Mi-nisterpräsident zum Jahreswechsel 2001/2002 in einemBundesstaat der USAwar, sich dort die Arbeitsmarktpoli-tik angeguckt hat, mit leuchtenden Augen zurückkam underklärte, dieses Modell sollten wir nicht nur in Hessen,sondern in der ganzen Bundesrepublik umsetzen. Die Be-troffenen vor Ort waren alle sichtlich erstaunt und habendeutlich gemacht, dass man zum Beispiel in Kassel, inHanau, in Marburg, in Hofheim und in Darmstadt vielweiter sei; überall gebe es Modellversuche, bei denen dieIntegration von Arbeitslosenhilfeempfängern und Sozial-hilfeempfängern zum Teil gut funktioniere,
nicht zuletzt aufgrund der hervorragenden Förderkondi-tionen des Bundes. Keiner der Betroffenen und der han-delnden Akteure hat verstanden, warum man nach Amerikafahren muss, um dann ein Modell, das in einer völlig an-deren wirtschaftlichen und sozialen Situation entwickeltworden ist, auf die in Deutschland vorhandenen Bedin-gungen zu übertragen.
Meine Damen, meine Herren, ich sage es jetzt zumfünften Mal, mache es aber sehr kurz und werde meineRedezeit nicht ausschöpfen. Seit dem Jahre 2001 – viel-leicht hat die Diskussion damals noch Sinn gemacht; indiesem Punkt gebe ich Ihnen Recht –
hat sich eine Menge verändert. Nehmen wir nur das Job-AQTIV-Gesetz: Herr Singhammer, im Hinblick auf des-sen Instrumente finden Sie fast wortgleiche Formulie-rungen im Job-AQTIV-Gesetz und im Entwurf desFördern-und-Fordern-Gesetzes. Wir haben in diesem Be-reich also kein Theorie- oder Beschlussproblem, sondernwir haben ein operatives Problem, ein Umsetzungspro-blem. Jetzt benötigen wir eine Phase, in der das, was wirbeschlossen haben, sinnvoll und effektiv in die Praxis um-gesetzt werden kann. Das Hartz-Konzept stellt doch aucheine große Chance dar. Teile davon werden erst im Laufedes Jahres in Kraft treten.Gehen wir einmal theoretisch davon aus, wir würdendiesen Gesetzentwurf beschließen – Frau Lautenschläger,die in meinem Bundestagswahlkreis wohnt, ist jetzt nichtmehr anwesend; Herr Kolb, auch Sie kennen die regiona-len Bedingungen – und die Länder verfügten dann übereine Experimentierklausel. Ich komme aus Südhessen.Südhessen wird von drei Bundesländern eingerahmt. Hiertreffen also vier Bundesländer aufeinander. Meine Da-men, meine Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, stel-len Sie sich einmal vor, in allen vier Bundesländern gäbees unterschiedliche Regelungen bei den Sperrzeiten, beider Zumutbarkeit und möglicherweise sogar bei der Kür-zung von Leistungen. Jetzt will ich gar nicht mit demDr. Heinrich L. Kolb
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Walter Hoffmann
Argument der Einheitlichkeit der Lebensverhältnissekommen – gegen dieses Gebot würde klar verstoßen –,sondern nur darauf hinweisen, dass es in der Praxis für dieBetroffenen einen völlig unzumutbaren Zustand bedeutenwürde. Auch aus solchen Erwägungen der Praktikabilitätheraus gibt es kein sinnvolles Argument, diesem Gesetzzuzustimmen.Da dieser Gesetzentwurf ein hessisches Baby ist,möchte ich ein paar Worte zur Situation in Hessen sagen,und zwar in der Hoffnung, dass dies am Sonntag positiveWirkungen zeitigen wird.
Ich kenne die Arbeitsmarktpolitik, die in Hessen betriebenwird, relativ gut. Ich finde es unredlich, in Hessen dieLandesmittel für eine aktive Arbeitsmarktpolitik konse-quent zu kürzen
– es gibt ein einziges Programm in Hessen, dessen Mittelvorsichtig aufgestockt wurden; die Mittel für alle anderenProgramme, auch diejenigen für das Programm „Arbeitstatt Sozialhilfe“, wurden konsequent gekürzt –, dann ei-nen Forderungskatalog aufzustellen, nach Berlin zu fah-ren und zu sagen: Bitte schön, Bundesgesetzgeber, setzdas doch um! Ich denke, die hessischen Kolleginnen undKollegen sollten erst einmal ihre Hausaufgaben vor Ortmachen. Diese bestehen schlicht und ergreifend darin, diemit viel Fantasie und Kreativität entwickelte Arbeits-marktpolitik in den Regionen durch ein entsprechendesLandesgesetz zu vereinheitlichen – warum macht man dasnicht? – und Gelder für eine aktive Arbeitsmarktpolitikzur Verfügung zu stellen. Ich sage es noch einmal: Die jet-zige hessische Arbeitsmarktpolitik ist ein einziger Stein-bruch. Man hat, seitdem man an der Regierung ist, fastalle Programme konsequent zurückgefahren, was sichverheerend für die Personen auswirkt, die eigentlich drin-gend unserer Unterstützung bedürfen.
– Herr Kolb, es stimmt zwar, dass Hessen im bundeswei-ten Vergleich relativ gut dasteht, wenn man sich die Zah-len anschaut. Trotzdem gibt es Zuwächse bei denjenigenPersonengruppen, die ich gerade angesprochen habe.Deshalb sage ich ganz bewusst noch einmal: Diese brau-chen auch die Unterstützung des Landes Hessen. Es istnicht in Ordnung, Forderungen an den Bund zu richtenund selber vor Ort kaum etwas zu tun.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kolb?
Natürlich.
Dafür bedanke ich mich ausdrücklich, Herr Kollege
Hoffmann. – Mich drängt es, Sie zu fragen – das liegt mir
auf dem Herzen –: Wenn es in Hessen tatsächlich so
schlimm ist – Sie haben zum Beispiel behauptet, dass die
Mittel für eine aktive Arbeitsmarktpolitik stark herunter-
gefahren worden seien –, wie erklären Sie sich dann die
Erfolge, die Hessen bei der Bekämpfung der Arbeitslo-
sigkeit vorzuweisen hat? Die Arbeitslosigkeit ist doch in
Hessen am stärksten zurückgegangen. Die Konzepte der
hessischen Landesregierung scheinen also nicht so falsch
zu sein.
Herr Kolb, die jetzige hessische Landesregierung hat janicht beim Punkt null begonnen, sondern eine relativ guteSituation vorgefunden.
Schon damals war Hessen in dem angesprochenen Sektornach meinen Informationen an der dritten Stelle in derRangliste der Bundesländer. Das ist der erste Punkt.Zweiter Punkt. Es ist ja bekannt, dass gerade Südhes-sen – Sie kennen sich in diesem Bereich mindestens ge-nauso gut aus wie ich – eine hervorragende Mischstrukturim industriellen Sektor, beim Handel und im Handwerkaufzuweisen hat. Diese gute Situation in Verbindung miteiner stark exportorientierten Wirtschaft bedeutet auto-matisch Standortvorteile gegenüber vielen anderen Bun-desländern. Daher sage ich noch einmal: Das sind nichtdie Erfolge der hessischen Landesregierung, sondern diealler Akteure in diesem Bundesland, die im Grunde ge-nommen versucht haben, etwas Produktives zu machen.Ich denke, das ist ihnen auch ein Stück weit gelungen.
– Das würde ich an diesem Punkt nicht so sagen.Die hessische Landesregierung – ich sage das noch ein-mal – hat die Mittel für alle wichtigen Programme im Be-reich der Arbeitsmarktpolitik gekürzt. Sie hat wichtigeHausaufgaben – ich habe bereits das Landesgesetz zurEinführung von Jobcentern erwähnt – nicht gemacht. Siehat in der Kinderbetreuung – diese ist wichtig für Sozial-hilfeempfängerinnen, damit sie arbeiten können – Milli-onen gestrichen. Das weiß man vor Ort auch; das ist all-gemein bekannt. Daher ist sie kein guter Ratgeber bei derUmsetzung des vorliegenden Gesetzentwurfs.In der Tat steckt viel heiße Luft in dem Gesetzentwurf.Mich persönlich stört aber am meisten das Menschenbild,das hinter dem Gesetzentwurf zum Vorschein kommt;denn wenn man diesen Entwurf liest, hat man den Ein-druck, dass die überwiegende Mehrheit der 900 000 ar-beitsfähigen Sozialhilfebezieher in der Bundesrepublik– 70 000 gibt es wohl in Hessen – schlicht und ergreifendnicht arbeitswillig ist. Ich denke, bei aller Kritik und beiallen Problemen im Einzelfall darf dies kein Men-schenbild für den Gesetzgeber sein. Der Schwerpunkt desGesetzentwurfs liegt eigentlich auf Kürzen und Fordern.
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So müsste Ihr Motto korrekt lauten. Ich vermisse hier ei-gentlich einen Akzent im Bereich der Förderung.Wir alle wissen, dass es viele Gründe gibt, warumMenschen nicht arbeiten können. Diese Gründe können inder Betreuung, in der Qualifizierung und in der mangeln-den Bereitschaft vieler Betriebe liegen, gerade diesePersonengruppe zu beschäftigen. Die schwierige kon-junkturelle Situation – viele Vorredner haben sie ange-sprochen – ist in der Tat ein Problem und es gibt auch vieleindividuelle Probleme, die man in einer freien Gesell-schaft klar benennen muss. Das alles spielt in der Philo-sophie dieses Gesetzes überhaupt keine Rolle. Von daherwerden wir an unserer Haltung nichts ändern können. Ichsage klar und deutlich: Unsere Fraktion kann nicht nur,aber auch aus diesem Grund hier nicht zustimmen.
Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Meckelburg,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! Herr Kollege Hoffmann, Sie haben in einem TeilIhrer Rede gesagt, Sie hofften noch auf Auswirkungen aufdie Hessenwahl. Eine von mir soeben durchgeführte Blitz-umfrage hat aber ergeben: Das war nichts. Die Politik inHessen ist schon besser geworden. Dass Sie auf HerrnEichel verwiesen haben, zeigt, dass Sie nicht realistischsind. Ich sage ganz deutlich: Ich finde, es ist dringend not-wendig, dass wir – unabhängig von der bevorstehendenWahl in Hessen – heute im Bundestag über das Thema„Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozial-hilfe“ reden.
Nach der Wahl 1998 haben wir Ihren ersten Fehlstarterlebt. Mittlerweile haben Sie Ihren zweiten Fehlstart hin-gelegt. Zwischen den beiden Fehlstarts gibt es einen Un-terschied: Beim zweiten Fehlstart haben Sie sich geradezuins Zeug gelegt, ein Stückchen Erfahrung mit Fehlstartseinzubringen. Sie haben für ein so großes Durcheinandergesorgt, dass die Bürger verunsichert sind. Täglich neueVorschläge, täglich neue Rückzieher – ein Konzept, dasIhrer Politik zugrunde liegt, ist nicht erkennbar.
Ich wiederhole: Das Ergebnis des zweiten Fehlstarts ist,dass die Bürger verunsichert sind.
– Das glaube ich.Diese Verunsicherung kann man an den Stellen erken-nen, wo der Bürger sie zum Ausdruck bringt: bei derKaufzurückhaltung und bei der Scheu vor Investitionen.Damit Arbeitsplätze geschaffen werden, müssen Käufegetätigt und muss Handel betrieben werden. Die Verunsi-cherung hat dazu geführt, dass Investitionen zurückgehal-ten werden.
Auch die insgesamt fehlenden Rahmenbedingungen ha-ben dazu geführt, dass manche Dinge, die wir auf den Weggebracht haben, nicht funktionieren können.Meine Damen und Herren von Rot-Grün, unser Haupt-vorwurf an Sie bleibt: Sie leben von der Hand in denMund, Sie haben wirklich kein Konzept und keine Zu-kunftsvision.
Die Erfahrung der letzten vier Jahre – ich bin nicht neuhier – lässt mich befürchten, dass die nächsten vier Jahreähnlich ablaufen wie die letzten vier.
Deswegen ist es notwendig, hier über die Zusammenle-gung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zu reden. Wirmachen über Anträge und Gesetzentwürfe im Bundesratund über Anträge und Gesetzentwürfe der Unionsfraktionim Bundestag Druck auf Rot-Grün.Das Hauptproblem scheint mir wirklich darin zu lie-gen, dass die Reformfähigkeit von Rot-Grün im Hinblickauf strukturelle Fragen sehr blockiert ist. Ich denke an dieRentenreform. Was ist da nicht alles hin- und hergescho-ben worden? Eine wirkliche Reform war es am Endenicht. Ich denke an die Sozialhilfereform in der letzten Le-gislaturperiode. Herr Brandner, Sie haben daran mitge-wirkt. Diese Reform ist zweimal verschoben worden undzweimal ist ein Übergangsmodell verlängert worden.Strukturell haben Sie nichts zustande gebracht.
Die Reform der Arbeitsförderung wurde währendder letzten Legislaturperiode zwar mehrfach angekündigt;am Schluss kam aber lediglich das schlappe so genannteJob-AQTIV-Gesetz zustande. Dass es nicht wirkt, könnenSie an den Zahlen ablesen. Herr Schröder hat die Senkungder Anzahl der Arbeitslosen auf 3,5 Millionen verspro-chen; 4,5 Millionen Arbeitslose werden es in diesem Ja-nuar sein.
Alles, was Sie auf den Weg gebracht haben, hat nichtfunktioniert.Sie sind – auch das muss man vielleicht in Erinnerungrufen – in Hektik geraten. Die Hartz-Kommission ist nichteingesetzt worden, weil Sie erkannt haben: Wir müssen indiesem Bereich etwas tun.
Walter Hoffmann
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Wolfgang MeckelburgVielmehr haben Sie, als Sie zu Beginn des letzten Jahresmerkten, dass sich auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr vielbewegen wird, aus der Not eine Tugend gemacht und dieKrise der Bundesanstalt für Arbeit genutzt, um eine großeKommission einzusetzen. Dann sind plötzlich Themenund am Ende an vielen Stellen auch Reformvorschlägediskutiert worden, die wir hier in den letzten vier Jahrenpraktisch Monat für Monat eingefordert hatten, die Sieaber über vier Jahre blockiert hatten. Wir wären vier Jahreweiter, wenn Sie jeweils vier Jahre früher die Erkenntnisgehabt hätten.
Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe undSozialhilfe ist eines dieser Themen. Lesen Sie doch ein-mal nach, wie häufig wir darüber debattiert haben und wiehäufig Sie das auf die lange Bank geschoben haben.
Wir können fast froh sein, dass dieses Thema in der Hartz-Kommission vorkam und Sie sich gezwungen fühlten,sich damit auseinander zu setzen.Was ist das Ziel der Zusammenlegung von Arbeitslo-senhilfe und Sozialhilfe? Das Ziel ist es – ich sage dasnoch einmal deutlich, weil eben missverständlicher-weise immer Teilbereiche als Hauptziel herausgestelltwurden –, Menschen aus der Arbeitslosigkeit in Arbeitauf dem ersten Arbeitsmarkt zu bringen, ihnen ein StückSelbstständigkeit, nein, eigentlich die entscheidende Vo-raussetzung für selbstständige Lebensführung zurückzu-geben,
nämlich aus eigener Arbeit – das muss man deutlich ge-nug sagen, weil das das Ziel ist und nicht das, was hierdauernd vorgeführt wird – ein eigenes Einkommen zu er-zielen, das die Basis für die eigene Lebensgestaltung ist.
Was ist dazu notwendig? Erstens. Die Politik mussRahmenbedingungen schaffen, unter denen in der Wirt-schaft Arbeitsplätze entstehen. Da unterscheiden wir unswirklich.
Sie können noch so viel Hartz-Vorschläge aufgreifen undJob-AQTIV-Gesetzgebung machen, Sie können noch soviel fördern: Wenn Sie keine Arbeitsplätze haben, wird esschwierig. Das ist das Hauptproblem, unter dem Deutsch-land leidet. Die Hauptverantwortung für diesen Bereichtragen wirklich Sie. Es ist nicht zu erkennen, dass Sie andieser Stelle viel täten. Das ist das eigentliche Problem.
ist eine falsche Politik. Bei den Sozialversicherungen sindEntlastungen statt neuer Belastungen erforderlich. FragenSie doch einmal die Bürger, die gerade ihre Gehaltszettelbekommen! Sie bekommen die Mehrbelastungen dochgerade schriftlich.
Dann sagen Sie hier, die Bürger nähmen das nicht wahr.Das ist der wichtigste Punkt: Die Rahmenbedingungenan dieser Stelle müssen sich wirklich ändern, damit sichauf dem Arbeitsmarkt etwas bewegt und die arbeits-marktpolitischen Instrumente funktionieren können.
Davon sind Sie weit entfernt.Wir müssen zweitens ganz klar sagen: Es entsprichtnicht unserer gesellschaftlichen Vorstellung vom Leben,in Abhängigkeit von Sozialsystemen zu bleiben. UnsereVorstellung ist vielmehr, dass Sozialhilfe eine Hilfe zurÜberbrückung, zur Integration in den ersten Arbeitsmarktist, aber keine Einrichtung, in deren Abhängigkeit manverharrt. Deswegen nenne ich einmal ein paar Zahlen, dieeine deutliche Sprache sprechen.Es gab im Jahr 2000 rund 2,7 Millionen Sozialhilfe-empfänger. Davon sind 60 Prozent in erwerbsfähigem Al-ter. Wir können uns doch nicht erlauben, so zu tun, alswenn wir die 60 Prozent – das sind 1,6 Millionen – aufDauer in Sozialhilfe lassen wollten. Genau das ist derHandlungsbereich.Die Dauer des Sozialhilfebezuges ist gestiegen. 1997lag die durchschnittliche Bezugsdauer – man spricht in-zwischen von Sozialhilfekarriere – bei 25,4 Monate; dassind über zwei Jahre. Innerhalb von drei Jahren, bis 2000– das ist die jüngste Zahl, die ich gefunden habe –, ist dieDauer auf 31 Monate gestiegen. Meine Damen und Her-ren, wollen Sie sagen, das sei kein Problem?Wenn wir feststellen, dass 60 Prozent der Sozialhilfe-empfänger in erwerbsfähigem Alter sind, müssen wir al-les tun, um diese Menschen wirklich in Arbeit zu bringenund ihnen ein Stückchen Freiheit und Unabhängigkeitvom Sozialsystem zurückzugeben. Das muss unser ge-meinsames Ziel sein.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1719
– Genau das ist das Problem, Herr Brandner. Wir als Uni-onsfraktion haben die Problembeschreibung in den letz-ten Jahren dauernd per Antrag eingebracht.
Sie haben das verschoben.Jetzt haben wir gehört, dass es möglicherweise Mittedes Jahres endlich eine Vorlage der Bundesregierung ge-ben wird, mit der wir uns beschäftigen können und dieverwertbar ist, um Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe zu-sammenzubringen. Das hat lange gedauert, aber sie solljetzt endlich kommen.I
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir be-
kommen relativ schnell etwas auf den Tisch gelegt und
müssen es innerhalb von zwei Wochen im Ausschuss be-
raten.
– Ich möchte, dass wir Zeit zur Beratung haben. Die In-
ternkommission, die sich im November und Dezember
erst einmal vertagt hatte, hat inzwischen möglicherweise
im Schnellverfahren fünfmal getagt. Es freut mich, wenn
das so ist. Aber ich erwarte, dass wir die Vorlagen recht-
zeitig bekommen, damit wir das Problem und seine Lö-
sungsvorschläge gründlich beraten können, statt das, wie
bisher, im Zwei-Wochen-Schweinsgalopp durchzujubeln.
Da haben Sie völlig Recht: Das ist mir zu wenig Zeit;
dafür haben wir zu lange Vordiskussionen geführt.
Es kommt auch darauf an – das ist der dritte Punkt –,
Anreize zu schaffen. Die beiden Bundesratsgesetzent-
würfe geben Hilfestellung, hier noch etwas zu unterneh-
men.
Viertens müssen wir die Kostenfrage näher beleuch-
ten. Denn bei den Sozialhilfeausgaben liegen wir inzwi-
schen – das ist ebenfalls eine Zahl aus dem Jahr 2000 –
bei 20,9 Milliarden Euro.
– Wenn Sie neuere Zahlen haben, nennen Sie diese; ich
vermute, dass sie nicht darunter liegen. Aber die Zahlen
von 2000 sind die letzten, die ich gefunden habe.
Wir hatten in diesem Bereich in 2001 – ich sehe hier
gerade eine weitere Zahl – einen Anstieg um 2,7 Prozent.
Im ersten Halbjahr 2002 waren es 4,4 Prozent. Es ist also
mehr geworden.
Deswegen ist es notwendig, sich mit den beiden Ge-
setzentwürfen des Bundesrates zu beschäftigen. Dass ei-
niges davon bereits erledigt ist – darauf ist hingewiesen
worden –, hat auch damit zu tun, dass diese beiden Ge-
setzentwürfe Anfang bzw. Ende November im Bundesrat
eingebracht worden sind. In der Zwischenzeit hat es im
Bundestag eine Hartz-Gesetzgebung gegeben – übrigens
ebenfalls im Schweinsgalopp, innerhalb von zwei Wo-
chen –, zu der es im Bundesrat und im Vermittlungsaus-
schuss, dem ich angehöre, Vereinbarungen gegeben hat,
in denen Teile der hier vorliegenden Gesetzentwürfe über-
nommen worden sind.
Ich erwähne das in dieser Debatte deswegen so ausführ-
lich, weil ich glaube, dass wir ab Montag, ab dem 3. Fe-
bruar, in Deutschland in einer neuen politischen Welt sind.
Wir werden stärker aufeinander zugehen müssen, wenn
wir Reformen auf den Weg bringen wollen. Friedrich
Merz hat heute Morgen ein entsprechendes Angebot ge-
macht.
Das bedeutet aber nicht, dass wir als Opposition nicht
weiterhin ständig kritisch das anmahnen, was uns an die-
ser Stelle fehlt. Was uns bis jetzt fehlt, ist eine Vorlage der
Bundesregierung für die Zusammenfügung von Arbeits-
losenhilfe und Sozialhilfe.
Deswegen habe ich die Bitte, dass wir diese Bundes-
ratsinitiativen heute an den zuständigen Ausschuss über-
weisen, mit dem Ziel – angesichts der neuen Welt ab
nächster Woche – einer gemeinsamen Beratung aller
Fraktionen, und dass Sie die bisherige Blockadepolitik an
dieser Stelle aufgeben. Es gab kein Expertentreffen in den
letzten Jahren, bei dem nicht alle gesagt hätten, dass etwas
passieren muss; es dauert nur zu lange. Wir haben in der
Tat ein Umsetzungsproblem. Das liegt aber daran, dass
Sie von Rot-Grün nicht schnell genug aus dem Quark
kommen. Das ist das Problem.
Jetzt muss Schluss sein mit dem verbalen Behandeln
des Problems. Wir brauchen endlich eine Vorlage. Ich
bitte Sie, Herr Staatssekretär, alles daranzusetzen, dass
wir im Ausschuss so rechtzeitig wie möglich mit der Dis-
kussion über die Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe
und Sozialhilfe beginnen können. Da können Sie einen ent-
scheidenden Beitrag leisten, was die Gemeinsamkeit aller
Fraktionen angeht.
Schönen Dank.
Letzte Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Karin
Roth, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Meckelburg, Sie haben in Ihren Ausführungen ver-gessen, dass wir im Jahre 1997 fast 5 Millionen Arbeits-lose in diesem Land hatten und dass Sie bis dahin durch-aus die Möglichkeit hatten, die Arbeitslosenhilfe und dieSozialhilfe zusammenzulegen. Wir haben das in unserProgramm aufgenommen,
Wolfgang Meckelburg
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Karin Roth
weil wir wussten und wissen, dass diese Reform not-wendig ist. Wir wissen aber auch, dass es sehr kompli-ziert ist – es handelt sich nämlich um einen Finanzaus-gleich –, einen fairen Interessenausgleich zwischenKommunen, Ländern und Bund zu organisieren. Daranarbeiten wir.Heute beschäftigen wir uns mit dem Gesetzentwurf,der von Hessen in den Bundesrat eingebracht worden ist.Die Frage ist: Sind die Vorschläge neu? Dazu kann ich Ih-nen sagen – das ist schon von meinen Vorrednerinnen undVorrednern gesagt worden –, dass dieser Gesetzentwurfschon vor einem Jahr in diesem Hohen Hause ausführlichdiskutiert wurde.
Jetzt wurde er wieder wortgleich eingebracht.
Ich habe den Verdacht, dass es Ihnen bei diesem Themanicht um die Sache, sondern darum geht, uns kurz vor denWahlen in Hessen und Niedersachsen weismachen zuwollen, dass Sie einen besseren Weg gefunden hätten.
Die Wahrheit ist: Die Ministerin aus Hessen interes-siert dieses Thema, zu dem sie gesprochen hat, so sehr,
dass sie nach der Hälfte der Debatte den Saal verlassenhat, nach dem Motto: Was interessiert uns das Gerede imBundestag? Wir machen unsere Politik ohnehin!
Ich komme nachher noch auf die Ministerin zu sprechen.Ich frage Sie, meine Damen und Herren von der Op-position: Warum glauben Sie, dass dieses Gesetz, das wirdamals abgelehnt haben, so neu und so wichtig ist, dasswir ihm nun zustimmen sollten? Das machen wir natür-lich nicht. Damals war es nicht richtig und auch heutenicht.
Hier wurde ein verstaubter Ladenhüter aus dem Hutgezaubert. Dabei vergessen Sie – das hat Herr Brandnereben deutlich gesagt –, dass wir schon vieles auf den Weggebracht haben. Sie geben alte Antworten auf schon be-antwortete Fragen. Wir haben die Probleme gelöst. Ichdenke, bei Ihrem Gesetzentwurf handelt es sich nicht umalten Wein in neuen Schläuchen, sondern um alten Weinin alten Schläuchen.
Man sollte diesen Entwurf zu den Akten legen. Wir je-denfalls werden neue Projekte starten.
Herr Meckelburg, es geht Ihnen in Wahrheit nicht da-rum, Arbeit statt Sozialhilfe zu organisieren. Auf der ei-nen Seite soll zwar die Vermittlungstätigkeit beschleunigtwerden, auf der anderen Seite führen Ihre Maßnahmenaber zur Diffamierung von Sozialhilfeempfängern.
Das lassen wir nicht zu, weil wir wissen, wo das endet.
Wenn man sich die Mühe macht, den Gesetzentwurfgenauer zu prüfen, dann stellt man zwei Dinge fest:
Erstens. Ihr Vorschlag bezüglich der Instrumente ist über-holt, weil es die Jobcenter bereits gibt. Zweitens. Ihre ge-samten Vorschläge sind überflüssig, weil wir all das imRahmen der Umsetzung des Hartz-Konzepts schon aufden Weg gebracht haben. Wir blockieren nicht, sondernwir haben eine Dynamik auf dem Arbeitsmarkt ent-wickelt.Wir werden in diesem Jahr in diesem Hohen Hause dieReform von Sozial- und Arbeitslosenhilfe diskutieren. Ichbin nicht nur auf die Haltung der Länder und Kommunensehr gespannt, sondern auch darauf, ob Sie bereit sind,diesen Weg mitzugehen.
Ich sage Ihnen – es ist schade, dass Frau Lautenschlägernicht mehr anwesend ist –, dass es aufseiten der Länderinteressante Möglichkeiten gibt. Auch die Länder könnenauf dem Gebiet der Sozialhilfe die Hilfe zur Arbeit unter-stützen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, wasHessen in den letzten Jahren gemacht hat.
Die Koalition aus CDU und FDP in Hessen hat in diesemJahr – man höre und staune – die Mittel für die aktive Ar-beitsmarktpolitik deutlich reduziert. Der Landesanteil anarbeitsmarktpolitischen Maßnahmen für Sozialhilfeemp-fänger beträgt noch nicht einmal 3 Prozent.
Ich glaube, diese Zahl spricht für sich. Man kann daranerkennen, wie wichtig das Thema „Arbeit statt Sozial-hilfe“ für Frau Lautenschläger ist. Nach meiner Meinungist das ein Offenbarungseid und zeigt die fehlendeGlaubwürdigkeit. Es handelt sich um heiße Luft undWahlkampfgetöse.Anstatt Ihre Hausaufgaben zu machen, legen Sie die-sen Gesetzentwurf noch einmal vor. Letztendlich soll mit
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der Experimentierklausel versucht werden – Frau Dückerthat das schon gesagt –, bis 2007 das zu organisieren, waswir schon ab 2004 dringend brauchen. Wir brauchen keineExperimentierklausel. Erstens gibt es sie
Auch die individuellen Eingliederungsbeihilfen und Ein-gliederungsmöglichkeiten können genutzt werden.
Deshalb sage ich Ihnen: Unser Projekt „Fördern und For-dern“ muss umgesetzt werden. Es gibt eine gemeinsameVerantwortung von Bund und Ländern, das liegt nicht nurin der Verantwortung des Bundes.Die wichtigsten Schritte wurden also gemacht. DieUmsetzung der Hartz-Vorschläge wird erfolgen. Ichbin sicher, dass die Menschen in unserem Land begrei-fen und wissen, dass es nicht darum gehen kann und ge-hen darf, die Menschen, die keine Arbeit haben, zu dif-famieren,
sie auszugrenzen. Es geht darum, die Menschen durchQualifizierung in Arbeit zu bringen.
Wir müssen den Menschen Mut machen. Schließlichgeht es darum, dass Arbeit auch dazu beiträgt, die Per-sönlichkeit zu fördern, das Selbstbewusstsein zu unter-stützen
und die Teilnahme an der Gesellschaft zu realisieren. Esgeht hier um Menschen und nicht nur um Statistik.
Wir haben die Menschen im Blick und wir erwarten, dassdurch unsere Maßnahmen ihre Integration möglich ist. Wirmachen eine Politik für die Menschen und nicht gegen sie.
– Nicht „alte Leier“. Nach Ihrem Freiheitsbegriff gibt esdiese Freiheit nur für diejenigen, die besitzen, aber nichtfür diejenigen, die nichts haben.
Die Menschen in unserem Land wissen, dass sie sich aufRot-Grün verlassen können.
Wir verlieren nicht die soziale Balance, wir stehen fürModernisierung und soziale Gerechtigkeit. Das ist unserProgramm.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 15/273, 15/309 und 15/358 an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Die Vorlage auf Drucksache 15/358 soll abweichend vonder Tagesordnung an den Haushaltsausschuss lediglichzur Mitberatung überwiesen werden.Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 – es handelt sich umeine Überweisunge im vereinfachten Verfahren – auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten MarkusLöning, Daniel Bahr , Rainer Brüderle,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDPWestsaharakonflikt beilegen – UN-Friedens-plan durchsetzen– Drucksache 15/316 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage aufDrucksache 15/316 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse zu überweisen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dannsind die Überweisungen so beschlossen.Karin Roth
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Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne KastnerIch rufe die Tagesordnungspunkte 13 a bis 13 e auf. Eshandelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu de-nen keine Aussprache vorgesehen ist.Tagesordnungspunkt 13 a:Zweite Beratung und Schlussabstimmung des vonder Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei-nes Gesetzes zu dem Vertrag vom 26. Juli 2001zwischen der Bundesrepublik Deutschland undderTschechischen Republik über den Bau einerGrenzbrücke an der gemeinsamen Staatsgrenzein Anbindung an die Bundesstraße B 20 und dieStaatsstraße I/26– Drucksache 15/12 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
– Drucksache 15/272 –Berichterstattung:Abgeordnete Renate BlankDer Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesenempfiehlt auf Drucksache 15/272, den Gesetzentwurf an-zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurfzustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dage-gen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf mitden Stimmen des ganzen Hauses angenommen.Tagesordnungspunkt 13 b:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 8 zu Petitionen– Drucksache 15/320 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 8 ist mit den Stimmen desgesamten Hauses angenommen.Tagesordnungspunkt 13 c:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 9 zu Petitionen– Drucksache 15/321 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Auch die Sammelübersicht 9 ist mit den Stim-men des ganzen Hauses angenommen.Tagesordnungspunkt 13 d:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 10 zu Petitionen– Drucksache 15/322 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Damit ist die Sammelübersicht 10 mit den Stim-men der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen gegendie Stimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen.Tagesordnungspunkt 13 e:Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, derCDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENund der FDPErneute Überweisung von Vorlagen aus frühe-ren Wahlperioden– Drucksache 15/345 –Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen?– Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen desganzen Hauses angenommen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf:Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN undder FDP für die vom Deutschen Bundestag zu ent-sendenden Mitglieder des Beirats bei der Regu-lierungsbehörde für Telekommunikation undPost gemäß § 67 Abs. 1 des Telekommunika-tionsgesetzes– Drucksache 15/356 –Ergänzend schlägt die Fraktion der SPD vor, den Ab-geordneten Gerhard Rübenkönig als Stellvertreter fürPetra Bierwirth und Eike Hovermann als Stellvertreter fürKlaus Barthel zu wählen. Wer stimmt für diese Wahlvor-schläge? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Wahlvor-schläge sind mit den Stimmen des ganzen Hauses ange-nommen.Ich rufe Zusatzpunkt 4 auf:Erste Beratung des von den Fraktionen der SPDund des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderungder Vorschriften über die Straftaten gegen diesexuelle Selbstbestimmung und zur Änderunganderer Vorschriften– Drucksache 15/350 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
InnenausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundes-ministerin der Justiz, Brigitte Zypries.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren Abgeordneten. Es ist kein Zufall, dass ich gesternzwei Pressekonferenzen durchgeführt habe: eine zu demGesetzentwurf, den wir zurzeit beraten, und die anderemit meiner Kollegin Renate Schmidt zu dem Aktionsplander Bundesregierung zum Schutz von Kindern und Ju-gendlichen vor sexueller Gewalt und Ausbeutung. Denndie Bundesregierung weiß, dass die Verhütung von sexu-eller Gewalt nicht durch das Strafrecht allein gelingt. Ge-rade weil die Dunkelziffer so hoch ist, sind Aufklärungund niedrigschwellige Angebote für Kinder notwendig.
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Hinschauen, nicht wegschauen – dieses Prinzip ist ei-ner der wesentlichen Punkte des Gesetzentwurfs der Ko-alitionsfraktionen, der Ihnen heute vorliegt. Es ist auchdas Motto einer bundesweiten Aufklärungskampagne, diewir starten werden.Damit bin ich schon zu Beginn meiner Rede bei demzentralen Ziel, das wir mit der Änderung des Sexualstraf-rechts verfolgen: Straftaten gegen die sexuelle Selbstbe-stimmung sind abscheulich und verachtenswürdig. Jedersexuelle Übergriff ist einer zu viel. Deshalb wollen wirdiese Straftaten nicht nur angemessen bestrafen, sondernwir wollen sie vor allem verhindern.Menschen im Umfeld von Missbrauchsopfern habenoftmals Kenntnis von den Vorgängen oder zumindest eineAhnung. Trotzdem unternehmen viele nichts dagegen.Deshalb wollen wir mit diesem Gesetzentwurf Ver-wandte, Nachbarn und Betreuungspersonen mit in dieVerantwortung nehmen. Wir erwarten, dass sie sich ein-mischen und Missbrauch verhindern.
Denn wirksamen Schutz für Kinder erreichen wir nur,wenn sich alle verantwortlich fühlen. Nach unseren Vor-stellungen wird sich deshalb in Zukunft derjenige strafbarmachen, der von einem geplanten sexuellen Missbrauchweiß und nichts dagegen tut.Wir erweitern § 138 StGB um den sexuellen Miss-brauch von Kindern, die sexuelle Nötigung und Verge-waltigung und den sexuellen Missbrauch widerstandsun-fähiger Personen, also vor allem behinderter Menschen.Wir sind uns – das will ich auch nicht verhehlen – da-bei durchaus bewusst, dass wir uns in einem sehr sen-siblen Bereich bewegen: Es gibt Fälle – gerade bei Miss-brauch im familiären Umfeld –, in denen sich das Opfernicht nur vor dem Missbrauch fürchtet, sondern auch zudem Täter, zum Beispiel dem Stiefvater, der die Familiefinanziell unterstützt, eine persönliche Beziehung hat.Deshalb will das Kind in der Regel nicht, dass der Stief-vater ins Gefängnis kommt; es will aber natürlich, dassder Missbrauch aufhört. Das heißt, das Kind will sich je-mandem anvertrauen, der nicht sofort zur Polizei gehensoll.Um diesem Spannungsfeld gerecht zu werden, habenwir die Anzeigepflicht eingeschränkt. Diejenigen, diehäufig Ansprechpartner sind, zum Beispiel Erziehungsbe-ratungsstellen, Psychologen und Ähnliche, haben wir vonder Anzeigepflicht ausgenommen, wenn sie sich ernsthaftum die Verhinderung weiterer Taten bemühen. Aber, siemüssen es auch ernsthaft tun. So einen Fall, wie er mirletztes Wochenende geschildert wurde, dass Mitarbeitereines Jugendamtes fünf Jahre lang vom Missbrauch einesKindes in einer Familie wussten, aber nichts unternom-men haben, darf es künftig nicht mehr geben.
Wir haben eine weitere Einschränkung vorgenommen.Natürlich wollen wir nicht, dass die ersten sexuellen Kon-takte junger Menschen untereinander zur Anzeige kom-men. Deshalb ist der Personenkreis derjenigen, die anzei-geverpflichtet sind, auf die über 18-Jährigen beschränktund wir erfassen auch nur die Fälle, in denen der Täter diesexuelle Unerfahrenheit seines Opfers ausnützt. Natürlichwollen wir nicht, dass das Knutschen des 15-Jährigen mitder 13-Jährigen angezeigt werden muss.Ein zweiter Punkt des Entwurfs ist die Erhöhung derStrafrahmen zahlreicher Vorschriften. Wie Sie wissen,habe ich mich im vergangenen Jahr an dieser Stelle dafürausgesprochen, den Grundtatbestand des sexuellen Miss-brauchs vom Vergehen zum Verbrechen heraufzustufen. –Herr Kollege, Sie sollten jetzt zuhören, damit Sie das spä-ter auch bearbeiten können.
Mein Ziel war es, auch diejenigen schweren Fälle dessexuellen Missbrauchs als Verbrechen ahnden zu können,die, weil kein Eindringen in den Körper vorliegt, als ein-facher sexueller Missbrauch qualifiziert werden und des-halb mit einem Strafmaß belegt sind, das unseres Erach-tens deutlich zu niedrig ist. Die Folge der Qualifikationzum Verbrechen wäre aber die Einführung eines minder-schweren Falles. Denn darin sind wir uns auch mit derOpposition einig: Nicht jeder sexuelle Missbrauch ist alsVerbrechen zu qualifizieren.Die Praktiker haben mich in unseren Diskussionen da-von überzeugt, dass der jetzt von uns gewählte Weg rechts-technisch gesehen der bessere ist. Im vorliegenden Ge-setzentwurf wird der Grundtatbestand des sexuellenMissbrauchs mit einem Strafrahmen von sechs Monatenbis zu zehn Jahren beibehalten. Künftig wird es aber keineminderschweren Fälle des sexuellen Missbrauchs mehrgeben; diese Regelung streichen wir.Neu eingeführt wurde dagegen in § 176 Abs. 3 Straf-gesetzbuch der besonders schwere Fall des sexuellenMissbrauchs mit einer Freiheitsstrafe von mindestens ei-nem Jahr.
Damit erfassen wir vor allem die Fälle, die sich deutlichvom Grundtatbestand des einfachen sexuellen Miss-brauchs abheben, ohne dass aber schon die Voraussetzun-gen des schweren Missbrauchs nach § 176 a Strafgesetz-buch erfüllt werden. Gemeint sind also diejenigen Fälle,bei denen es nach unserer Ansicht eine Regelungslückegab. Dabei geht es darum, dass beischlafähnliche Hand-lungen stattfinden, ohne dass es zum Eindringen in denKörper kommt. Entsprechend erhöhen wir beim schwerensexuellen Missbrauch von Kindern, § 176 a, die heutigeMindeststrafe von einem Jahr auf zwei Jahre.
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Röttgen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein.Bundesministerin Brigitte Zypries
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Bundesministerin Brigitte ZypriesDer Vorteil dieser Regelung ist, dass die Ahndung vonTaten an der unteren Grenze der Strafbarkeit auch weiter-hin flexibel gehandhabt werden kann. Es wird deshalb– für Einzelfälle – die Einstellung des Verfahrens ebensozulässig bleiben wie der Strafbefehl, der dem Opfer dasAuftreten in der Hauptverhandlung erspart.Für diese Lösung spricht ein Argument der Praktiker:In den Fällen, in denen die Strafe zwischen sechs Mona-ten und einem Jahr tat- und schuldangemessen ist, müssendie Gerichte auch in Zukunft nicht wegen eines minder-schweren Falles verurteilen, wie es, würde sich Ihre Vor-stellung durchsetzen, der Fall wäre. Dies – so sagen diePraktiker – legitimiert die Täter, nach dem Motto: Es warja gar nicht so schlimm; es ist ja nur ein minderschwererFall. Dieses Argument sollten wir berücksichtigen.
Zu einem weiteren Punkt, zu § 179 Strafgesetzbuch,wo wir wie bei § 176 den Strafrahmen erhöhen: Der Bei-schlaf mit einem widerstandsunfähigen behindertenMenschen ist künftig ebenso sanktioniert wie eine Verge-waltigung, nämlich mit zwei Jahren Mindeststrafe. Damitwird einem seit vielen Jahren bestehenden Begehr der Be-hindertenverbände endlich Rechnung getragen.
Ein weiterer Schwerpunkt des Entwurfs nimmt dietechnische Entwicklung auf. Es geht um die Strafbarkeitvon Kinderpornographie im Internet. Dass dies nö-tig ist, zeigen die Fallzahlen. Im Jahr 1996 waren es663 Fälle, im Jahr 2001 bereits 2 745. Deshalb erhöhenwir die Höchststrafe für den Besitz und die Besitzver-schaffung von Kinderpornographie auf zwei Jahre stattbisher einem Jahr.
Die Zahl der Computerbesitzer und derjenigen, dieüber einen Internetzugang verfügen, nimmt stetig zu; diesbegünstigt den Handel mit kinderpornographischen Ab-bildungen. Ich spreche hier insbesondere die Weitergabevon Kinderpornographie in den so genannten geschlosse-nen Benutzerräumen des Internets an. In diesen Fällenwerden die Gerichte künftig nicht mehr lediglich auf denBesitz abstellen müssen und damit zu einem geringerenStrafrahmen kommen; vielmehr können sie die Verbrei-tung zugrunde legen. Insoweit haben wir den Tatbestanderweitert. Damit kommen wir auch zu einem höherenStrafmaß, denn bei der Weitergabe in geschlossenen Be-nutzerräumen handelt es sich um nichts anderes als umeine Verbreitung. Wir versprechen uns davon auch, dasses durch eine Reduzierung der Nachfrage zu einem Rück-gang der Produktion kommt, denn man muss sich immerklarmachen: Jedem kinderpornographischen Foto ist einsexueller Missbrauch vorausgegangen. An dieser Stellemüssen wir auch über solche Regelungen eingreifen.Meine Damen und Herren, es ist Ihnen sicherlich auf-gefallen, dass unser Entwurf die Frage der Sicherungs-verwahrung für Heranwachsende nicht behandelt.
Wir haben hierüber intensiv diskutiert. Ich will mit mei-ner Einstellung dazu nicht hinter dem Berg halten: Wenndas Gericht bei einem heranwachsenden Sexualtäter, dernach Erwachsenenstrafrecht verurteilt wird, eine beson-dere Gefährlichkeit für die Zukunft feststellt, dann solltees auch die Sicherungsverwahrung anordnen können.Aber man muss eines im Auge behalten: Wir reden voneiner verschwindend geringen Anzahl von Fällen. 80 Pro-zent der Heranwachsenden, die Taten gegen die sexuelleSelbstbestimmung oder das Leben begehen, werden nachJugendstrafrecht verurteilt; also sprechen wir von 15 bis20 Prozent. Diese müssen weitere Voraussetzungen erfül-len, denn sie müssen erhebliche Vortaten begangen habenund in Zukunft, auch über die Strafverbüßung hinaus, ge-fährlich sein. Es betrifft also nur eine ausgesprochen ge-ringe Zahl von Menschen. Allerdings sollten wir uns die-ser Option nicht begeben und uns bemühen, zu einervernünftigen Lösung zu kommen. Ich rege an, dass wirdiesen Punkt in der Sachverständigenanhörung besondersintensiv diskutieren werden; darüber waren wir uns einig.Meine Damen und Herren, ich möchte mich an dieserStelle ganz herzlich bei den Abgeordneten Stünker undMontag bedanken, mit denen wir intensive Gespräche ge-führt haben, ebenso wie mit den anderen Mitgliedern derArbeitsgruppe, denen gleichfalls mein Dank gilt. Die Her-ren werden sicherlich zu den von mir jetzt aus Zeitgrün-den nicht erwähnten Punkten dieses Gesetzes weitereAusführungen machen.
Ich gebe das Wort dem Kollegen Norbert Röttgen zu
einer Kurzintervention.
Es wird eine kurze Kurzintervention sein. – Es ist Ihrgutes Recht, Frau Ministerin, Zwischenfragen nicht zuzu-lassen, wenngleich ich das immer bedaure, weil die De-batte ja auch vom Dialog und davon lebt, dass man auf Ar-gumente eingeht.Ich habe mich an der Stelle gemeldet, an der Sie sichzu der Frage äußerten, ob sexueller Missbrauch von Kin-dern Vergehen oder Verbrechen sein soll, was mit unter-schiedlichen strafrechtlichen Konsequenzen verbundenwäre. Ich wollte eine Frage vor dem Hintergrund einesInterviews stellen, das Sie erst im letzten Monat, im De-zember 2002, im „Focus“ gegeben haben. Dort wurdenSie nach bestehenden Lücken in der Verfolgung von Ta-ten gefragt; solche Lücken haben Sie festgestellt und ge-sagt, darum müsse es zu Änderungen kommen. Dann sindSie nach Beispielen für Änderungen und für nicht erfass-te Tatbestände gefragt worden. Ich zitiere jetzt:Zypries: Dazu gehören die versuchte Anstiftung zusexuellen Handlungen mit Kindern und die Verab-redung von entsprechenden Taten. Wenn man dasstrafbar machen will, muss man den sexuellen Miss-brauch von Kindern im Gesetz grundsätzlich vomVergehen zum Verbrechen hochstufen.
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Gerade dies ist mit Ihrem jetzigen Gesetzentwurf nicht er-folgt. Der Grundfall des sexuellen Missbrauchs bleibtVergehen. Darum meine Frage an Sie: Haben Sie inner-halb dieser kurzen Zeit Ihre Meinung geändert oder konn-ten Sie sich mit Ihrer Meinung nicht durchsetzen?
Frau Ministerin, Sie können auf diese Kurzintervention
antworten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, ich habe dargestellt, dass ich meine
Auffassung geändert habe. Ich habe in meiner Rede aus-
drücklich erwähnt, dass ich das getan habe. Ich habe
außerdem gesagt, dass wir dasselbe Regelungsziel errei-
chen, das ich erreichen wollte.
Ich habe nicht erwähnt – das liegt an der Kürze der ver-
fügbaren Zeit; es kann noch ergänzt werden –, dass wir die
beiden Punkte, die sich daraus ergeben, dass wir die Tat
zum Verbrechen hochstufen, gesondert als Straftatbestand
geregelt haben.
Herr Kollege Götzer, nun haben Sie das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Jetzt ist der mit Spannung erwartete Entwurf der Regie-rungskoalition zum Sexualstrafrecht also endlich da. Manist versucht zu sagen: Allein schon die Tatsache, dass sichjetzt endlich etwas tut, ist ein Fortschritt, nachdem sichRot-Grün bisher zu keinen nennenswerten Maßnahmendurchringen konnte und beispielsweise den Gesetzent-wurf des Bundesrats dazu in der 14. Wahlperiode abge-lehnt hatte. Aber jetzt hat man es sehr eilig. Erst vor zweiTagen wurde der Entwurf vorgestellt und heute behandelnwir ihn bereits in erster Lesung.Zum wesentlichen Inhalt des rot-grünen Gesetzent-wurfs: Wenn man die Übersicht auf den ersten Seiten an-sieht, gewinnt man den Eindruck: Hier tut sich wirklich et-was. In der Tat fallen die Strafverschärfungen im Bereichdes Sexualstrafrechts, die der Entwurf der Koalition vor-sieht, grundsätzlich positiv auf. Hier nähert sich Rot-Grünzumindest in Teilen den Positionen der Union an bzw.übernimmt sie sogar.So folgt der Koalitionsentwurf dem Vorschlag derUnion, einen spezifischen Tatbestand „Anbieten vonKindern für sexuelle Handlungen“ zu schaffen. DenselbenVorschlag hatte bereits ein bayerischer Gesetzentwurf imJahr 1998 enthalten.Dass die Kinderpornographie ein eigener Straftatbe-stand mit höheren Strafen wird, findet unsere Zustim-mung.Wir begrüßen auch grundsätzlich, dass nach dem Ko-alitionsentwurf gemäß dem neu gefassten § 81 g Abs. 1Nr. 2 StPO die DNA-Analyse künftig bei allen Straftatengegen die sexuelle Selbstbestimmung erlaubt werden soll.Dies ist ein Schritt in die richtige Richtung, aber das wirdleider nicht konsequent zu Ende geführt, sodass es kaumWirkung zeigen wird. Zum einen nimmt der Koalitions-entwurf bei den Anlasstaten lediglich die in den §§ 174 ff.StGB festgelegten Tatbestände auf. Andere Delikte, dieebenfalls einen sexuellen Hintergrund haben können, zumBeispiel tätliche Sexualbeleidigungen und andere sexuelleBelästigungen, werden damit immer noch nicht erfasst.
Zum anderen darf nach dem Koalitionsentwurf eineDNA-Analyse nur dann erfolgen, wenn die Sozialpro-gnose ergibt, dass von dem Straftäter künftig Straftatenvon erheblicher Bedeutung zu erwarten sind.
Damit fällt der Grundtatbestand des Kindesmissbrauchs,der nach dem Koalitionsentwurf weiterhin lediglich alsVergehen und nicht als Verbrechen eingestuft wird, ausdiesem Raster heraus.
Rot-Grün weigert sich damit nach wie vor, die DNA-Ana-lyse im Kampf gegen den sexuellen Missbrauch von Kin-dern konsequent einzusetzen.
Unser Entwurf war insofern wesentlich umfassender underfasste alle Formen von sexuellen Vergehen.Positiv festzustellen ist zunächst auch, dass der Koali-tionsentwurf – Frau Ministerin, Sie haben es ausführlichdargestellt – die Nichtanzeige von bestimmten Sexual-delikten unter Strafe stellt.
Diese an sich begrüßenswerte Neuerung wird aber durchdie ebenfalls geplante Änderung des § 139 StGB wiederso weit eingeschränkt, dass sie praktisch kaum Wirkungzeigen wird.
– Ich glaube, die Verfasser haben das nicht verstanden odernicht gewollt. – Die von Rot-Grün geplante Änderung des§ 139 StGB sieht nämlich vor, die Nichtanzeige vonStraftaten für eine Vielzahl von Personen- oder Berufs-gruppen wie Ehe-, Familien-, Erziehungs- oder Jugend-berater straflos zu stellen. Das sind aber gerade die Grup-pen, die etwas wissen können und damit zur Aufklärungvon Sexualdelikten beitragen können und müssten.Ein ganz schwerer Mangel des Koalitionsentwurfs ist,dass der Grundfall des sexuellen Missbrauchs von Kin-dern, also der Kinderschändung, weiterhin lediglich alsVergehen und nicht als Verbrechen eingestuft wird. Ver-ehrte Kolleginnen und Kollegen, es kann doch nicht sein,dass der Kindesmissbrauch rechtlich auf dieselbe Stufewie etwa Hausfriedensbruch oder Beleidigung gestelltDr. Norbert Röttgen
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003
Dr. Wolfgang Götzerwird! Der derzeitige Strafrahmen für sexuellen Miss-brauch von Kindern entspricht lediglich dem für Woh-nungseinbruchdiebstahl.
Die im Koalitionsentwurf vorgesehene Schaffung ei-nes schweren Falls des Kindesmissbrauchs genügt hierbeinicht. Zwar führt dies zu einer Strafverschärfung – das istunbestritten –, aber gemäß § 12 Abs. 3 StGB führt daseben nicht zur Einstufung als Verbrechen mit den ent-sprechenden Konsequenzen. Der Entwurf der Unions-fraktion vermeidet diese Falschgewichtungen, indem erdie Grundfälle des Kindesmissbrauchs konsequent alsVerbrechen ausgestaltet.Verehrte Frau Justizministerin, Sie hatten sich erfreu-licherweise im Vorfeld mehrfach dafür ausgesprochen,den Kindesmissbrauch als Verbrechen auszugestalten. Esist sehr bedauerlich, dass Sie sich damit in der Koalitionoffensichtlich nicht durchsetzen konnten.Ein Punkt in diesem Gesetzentwurf, der von Rot-Grünin der Hoffnung auf Wirkung in der Öffentlichkeit als Ver-schärfung des Sexualstrafrechts präsentiert wird, ist völ-lig unverständlich.
– Herr Kollege Ströbele, Sie sagen selber, dass das ver-kehrt ist, wenn ich Sie richtig verstanden habe. Das istauch unsere Einschätzung. Wenn man das als eine Ver-schärfung des Sexualstrafrechts verkauft, dann ist daseine Mogelpackung.
Ich nenne ein Beispiel: § 176 a Abs. 1 Nr. 4 StGB sollgestrichen werden. Damit würde der Täter, der wiederholtKinder schändet, künftig nicht mehr als Verbrecher, son-dern nur noch wegen eines Vergehens bestraft werden.
Bei einem so zentralen Punkt des Vorhabens schwächtRot-Grün den Strafrechtsschutz von Kindern also sogarnoch ab.
– Ich habe den Entwurf sehr genau gelesen, Herr Kollege.Lesen Sie es nach: Sie haben den Kindesmissbrauch nichthochgestuft. Das ist ein schwerer Mangel in diesem Ent-wurf.Leider unterlässt es der Entwurf der Regierung auch, dieTelekommunikationsüberwachung nach § 100 a StPOauf alle Fälle des sexuellen Missbrauchs von Kindern aus-zudehnen. Wir wissen, besonders bei der Anbahnung vonKindesmissbrauch werden immer häufiger Telekommuni-kationsmittel eingesetzt. Auf die Verabredung im Internetfolgt in der Regel ein Telefonat. Wir brauchen also dieÜberwachung der Telekommunikation, weil sie sich als ef-fizientes Mittel im Kampf gegen Straftaten erwiesen hat.Wir dürfen sie gerade in diesem Bereich nicht einschränken.Dass Rot-Grün weiterhin auf der bisherigen Regelungbeharrt, zeigt, dass der Täterschutz offensichtlich nochimmer Vorrang vor dem Opferschutz hat.
– Das ist leider die Wahrheit.
Besonders deutlich zeigt sich dies vor allem aber da-ran, dass im Gesetzentwurf der Regierungskoalition dienachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrungwieder nicht enthalten ist. Liebe Kolleginnen und Kolle-gen, auch weiterhin hält die Regierung also an der von ihrin der letzten Wahlperiode halbherzig beschlossenen Vor-behaltslösung fest. Damit wird es nach dem Willen dieserRegierung auch künftig kein wirksames Mittel geben, ei-nen Täter, dessen Gefährlichkeit erst im Strafvollzug zu-tage tritt, in Sicherungsverwahrung zu nehmen.
Verehrte Frau Ministerin, Sie haben gesagt, das beträfenur wenige Fälle. Das ist doch ein etwas befremdendesArgument, wenn es um Menschenleben geht. In der Tathätten Menschenleben gerettet werden können, wenn eswirksame Regelungen zur Wegschließung von solchenhochgefährlichen Straftätern gegeben hätte.
Es ist hoch an der Zeit, dass diese Lücke endlich beseitigtwird.Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Insgesamtzeigt also der heute in erster Lesung diskutierte Entwurf,dass sich die Koalition in einigen Fragen unserer Positionangenähert hat. In vielen und wesentlichen Punkten aberverweigert sie sich – wohl auf Druck der Grünen – weiter-hin den zum Schutz der Kinder vor Sexualverbrechen not-wendigen Maßnahmen. Wir geben aber die Hoffnungnicht auf, dass Sie, verehrte Frau Ministerin, sich im Ver-lauf der Beratungen doch noch gegen die Bremser in Ih-rer Koalition durchsetzen können.Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,stimmen Sie dem Gesetzentwurf der CDU/CSU zu – imInteresse eines bestmöglichen Schutzes der Bevölkerungund vor allem unserer Kinder vor Sexualverbrechen.Ich bedanke mich.
Nächster Redner ist der Kollege Jerzy Montag, Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Lieber Kollege Götzer, auch wir geben die Hoff-nung nicht auf, dass wir bei der Debatte über das Sexual-strafrecht, also bei den weiteren Beratungen dieses Ge-
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setzeswerks, zu einer rationalen und an den Interessen derOpfer ausgerichteten Diskussion kommen werden, undzwar – ich sage das ganz klar und deutlich – auch mit derOpposition und mit Ihnen.Es gab erstaunlich wenig Polemik, wenn Sie sich auchnicht jede verkneifen konnten. Wenn ich mir diese weg-denke, glaube ich aufgrund vieler Punkte – dies ist eingutes Zeichen für die Arbeit im Rechtssauschuss und fürden weiteren Gesetzgebungsgang –, dass wir uns viel-leicht doch auf ein gemeinsames Gesetz werden ver-ständigen können, insbesondere dann, wenn Sie es sich inZukunft verkneifen, populistischen Neigungen nachzu-geben,
also zum Beispiel zu glauben, Sie könnten durch Strafver-schärfungen in Einzelfällen mögliche Opfer tatsächlichdavor schützen, Opfer zu werden. So simpel und einfachläuft Strafgesetzgebung nicht. Man kann Opferschutznicht ausschließlich über höhere Strafen betreiben.
– Das sagen Sie, indem Sie an erster Stelle und sich nurdarauf beziehend an den Vorschlägen der Koalitiongeißeln, dass wir mit den Strafverschärfungen nicht weitgenug gehen würden. Ich werde Ihnen dies anhand des§ 176 des Strafgesetzbuches und den guten Gründen,warum wir hier nicht zu einem Verbrechenstatbestand ge-kommen sind, noch zu beweisen versuchen.Ich freue mich ganz besonders – die Frau MinisterinZypries hat darauf hingewiesen –, dass wir heute nicht nurüber den Gesetzentwurf der Koalition reden, sondern dasswir auch den Aktionsplan zum Schutz von Kindern undJugendlichen vor sexuellem Missbrauch und Ausbeutungmitdiskutieren können. Ich danke dafür ganz ausdrück-lich. Dies ist ein Beweis dafür, dass die Koalition beimSchutz von Kindern und Jugendlichen vor sexuellerGewalt eben nicht ausschließlich ans Strafrecht denkt,sondern auch an viel wirksamere Mittel, die Kinder undJugendliche tatsächlich schützen können.
Aufklärung, Sensibilisierung der Gesellschaft, Arbeitmit Jugendlichen, Schaffen von Anlaufstellen, von Bera-tungsstellen und – das sage ich ganz bewusst – auch einegesellschaftliche Ächtung des sexuellen Missbrauchs sindmindestens genauso gute Elemente wie das Mittel desStrafrechts, wobei ich nicht sage, dass das Strafrecht keineRolle spielt. Es muss aber eingebettet werden. Es mussauf Rationalität abgeklopft werden. Das haben wir mitdiesem Gesetzentwurf versucht.Dieser Gesetzentwurf, meine Damen und Herren vonder Opposition, ist rational. Er sieht Strafverschärfungennur da vor, wo sie wirklich erforderlich sind, und auch hiernur in einem angemessenen Umfang. Er ist durchdachtund schließt Strafbarkeitslücken, er beseitigt bestehendeWidersprüche zwischen den Strafnormen. Der Gesetzent-wurf ist verantwortungsbewusst, denn er berücksichtigtdie berechtigten Interessen der Opfer.Ich will an dieser Stelle nicht eine fruchtlose und end-lose Debatte über die generalpräventive Wirkung desStrafrechts führen. Es ist klar, dass einzelfallbezogen diegeneralpräventive Wirkung gering ist. Trotzdem hat dasStrafgesetz generalpräventive Wirkungen und im Sinneeiner Normsetzung, die fragt, was wir unter Strafe stellenwollen und welches Verhalten wir für strafwürdig halten,durchaus eine Bedeutung. Deswegen unterstützen wirauch die Gedanken, die dahin gehen, dass sich die Ver-werflichkeit der Tat auch im Strafmaß ausdrücken muss.Aus diesen Gründen haben wir auch zugestimmt, dassman beim sexuellen Missbrauch von Kindern und anderenvergleichbaren Vorschriften dieses Abschnittes die Geld-strafe gestrichen hat. Denn die Geldstrafe ist ein Signalfür eine etwaige Bagatelltat.
Diese Abschaffung halten wir für richtig und haben wirunterstützt. In Richtung FDP sage ich: Dies ist keine heißeLuft, sondern hier geht es wirklich um die Frage, ob wirin der Öffentlichkeit und gegenüber der Gesellschaft sa-gen: Kindesmissbrauch ist eine Straftat, die man auch miteiner Geldstrafe aus der Welt schaffen kann. – Wir haltendies für nicht richtig. Darüber hinaus geht es uns auch da-rum, zu zeigen, dass die Herstellung und Verbreitung vonKinderpornographie – gerade durch das Internet geschiehtdas in hohem Maße – keine Bagatelle ist.Wir sind dafür, auch die Zahl der minderschwerenFälle, wenn es um sexuellen Missbrauch geht, zu redu-zieren,
weil das Opferschutz bedeutet. Wir haben die minder-schweren Fälle aus einigen Grundtatbeständen herausge-nommen, und zwar ganz bewusst, weil wir der Meinungsind, dass sich die Opfer, wenn sie mit den Straftaten, dieihnen angetan werden, schon in der Öffentlichkeit stehen,nicht auch noch damit auseinander setzen müssen, dassdas, was ihnen geschehen ist, nur ein minderschwerer Fallund folglich nicht so schlimm sei. Die Opfer empfindenes als eine ganz besonders schlimme Tat gegen sie selbst.Wir fordern Strafen, die, ganz besonders bei Straftatenim sozialen Nahraum, in der Konsequenz die Opfer nichtverängstigen und zum Schweigen bringen. Das ist dannder Fall – das übersehen Sie von der Opposition –, wennSie schon den Grundtatbestand des sexuellen Miss-brauchs zu einem Verbrechen hochstilisieren. Daraus er-gibt sich nämlich als Folge, dass keine flexible Antwortder Justiz auf bestimmte Straftaten möglich ist.
– Das habe ich verstanden. Aber auch durch Ihre Einwürfewird Ihre Argumentation nicht besser. Nehmen Sie zurKenntnis, Herr Götzer: Das, was Sie in Ihrem Beitrag als ei-nen Fall der „Kinderschändung“, als sexuellen MissbrauchJerzy Montag
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Jerzy Montagvon Kindern bezeichnet haben, umfasst im Straftatbe-stand viel mehr als das, was Sie damit zum Ausdruck brin-gen wollen und was ich mit Ihnen teile. Es gibt Fälle mitgroßem Altersunterschied, bei denen Erwachsene, meis-tens Männer, kleine Kinder sexuell in einem Ausmaß miss-brauchen, ohne dass es zu einer Vergewaltigung kommt,ohne ein Eindringen in den Körper, das in hohem Maßestrafwürdig ist. Der sexuelle Missbrauch von Kindernnach § 176 StGB umfasst allerdings auch das Petting ei-ner 15-Jährigen mit einem 13-Jährigen. Wir halten es fürfalsch, einen solchen Sachverhalt, nämlich die Sexualer-fahrung von Jugendlichen diesseits und jenseits derSchwelle des 14. Lebensjahres, pauschal zu einem Ver-brechen zu stigmatisieren.
Deswegen sage ich Ihnen: Wenn Sie sich von IhrenVorbehalten lösen und versuchen, den Text vernünftig zulesen, dann werden Sie merken, dass das, was Sie habenwollen, in der Lösung, die wir gefunden haben, enthaltenund in dem Entwurf der Koalition weitestgehend erfülltist. Wir werden darüber im Einzelnen noch im Ausschusszu sprechen haben. Sie werden feststellen: Wir liegen inder Sache nicht so weit auseinander, wenn Sie nur denVersuch aufgeben, in der Öffentlichkeit mit solchen For-derungen nach Verbrechenstatbeständen und mit Begrif-fen wie „Kinderschändung“ Punkte machen zu wollen.Das ist der Punkt.
Diskutieren Sie mit uns über die Sache. Dann werden Siemit uns zu einem gemeinsamen Ergebnis kommen kön-nen.Ich komme zum § 138 StGB und zur Nichtanzeige ge-planter Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung.Dies wird jetzt von uns unter Strafe gestellt. Wir wollen– Frau Ministerin hat darauf hingewiesen –, dass diejeni-gen zum Beispiel aus der Nachbarschaft, die auf die eineoder andere Weise von einem sexuellen Missbrauch vonKindern erfahren und einfach wegschauen wollen, diesnicht können. Sie werden nicht mehr sagen können: Wasinteressiert mich das? Das bringt mir mit der Justiz nurÄrger ein. Damit will ich nichts zu tun haben. – Diese Än-derung ist ein Signal, das ich für richtig halte. Dem kön-nen wir, wie ich glaube, folgen.Wir haben, damit das Gesetz vernünftig und rationalist, aber auch die entsprechenden Schranken eingesetzt.Wenn Sie das Gesetz genau lesen, dann werden Sie nichtsdagegen sagen können, dass wir bestimmte Berufsgrup-pen von einer strafbewehrten Anzeigepflicht ausgenom-men haben. Wir haben diese Gruppen aber nicht von einerBeistandspflicht ausgenommen. Sie bleiben verpflichtet,sich aus ihrem Arbeitsfeld heraus darum zu bemühen, undzwar effektvoll, weiteren sexuellen Missbrauch zu ver-hindern. Sie sollen dazu beitragen, dass sich solcheStraftaten nicht fortsetzen. Wir haben sie mit gutemGrund aus der strafbewährten Anzeigepflicht herausge-nommen, weil wir der Meinung sind, dass wir damit mehrGutes als Schlechtes tun. Damit erreichen wir nämlich,dass sich die Opfer, Kinder, an diese Gruppen wendenkönnen und dass ein Vertrauensverhältnis geschaffenwird. Wir wollen einen Raum dafür schaffen, dass Opfer-schutz auch tatsächlich ausgeübt werden kann.In der Redezeit, die mir verbleibt, möchte ich nocheinen weiteren Punkt ansprechen. Es geht um den Opfer-schutz für behinderte und widerstandsunfähige Perso-nen. Nach jahrelangen Diskussionen, in denen das offen-sichtlich nicht gelungen ist, haben wir jetzt endlich einenGesetzentwurf vorlegen können, in dem der Unterschiedzwischen der Vergewaltigung auf der einen Seite und denBeischlafhandlungen mit widerstandsunfähigen Personenauf der anderen Seite vom Strafgesetz auf die gleicheEbene gestellt wird.Es gibt Unterschiede: Bei der Vergewaltigung gibt es dieGewaltfrage, die es bei den Beischlafhandlungen mit wi-derstandsunfähigen Personen nicht gibt. Auf der anderenSeite gibt es dafür ein höheres Maß an Verwerflichkeit, weileine entsprechende Situation ausgenutzt wird. Das Straf-gesetzbuch kennt so etwas zum Beispiel in § 243 Abs. 1Nr. 6, wonach der Diebstahl bei widerstandsunfähigen,hilflosen Personen sehr wohl straferschwerend wirkt.
Auf der einen Seite steht also die Gewaltfrage und auf deranderen Seite steht die Verwerflichkeit der Ausnutzung ei-ner hilflosen Lage als ein straferschwerendes Moment.Deswegen sagen wir, dass die Vergewaltigung nach § 177Strafgesetzbuch und der Beischlaf mit widerstandsun-fähigen Personen gleich behandelt werden sollen. Hiersoll der gleiche Strafrahmen gelten.Die DNA-Analyse ist schon angesprochen worden.Dazu möchte ich nur ein Wort sagen: Es ist nicht so, dasssich die Anlasstat bei einer negativen Prognose auf der glei-chen Ebene wiederholen kann. Die Anlasstat kann jedesVergehen gegen die sexuelle Selbstbestimmung sein. Beider Frage der Negativprognose muss es sich um erheblicheStraftaten handeln. Sie gehen fehl, wenn Sie sagen, dass einsexueller Missbrauch von Kindern keine schwerwiegendeStraftat ist. Natürlich ist sie das im Sinne des § 81 g Straf-prozessordnung. Daran haben wir nichts geändert.
Herr Kollege Montag, Ihre Redezeit ist schon deutlich
überschritten.
Ich will nur ein Letztes sagen: Über die Frage derSicherungsverwahrung von Heranwachsenden werdenwir uns im Rechtsausschuss im Einzelnen noch unterhal-ten müssen. Wir werden Ihnen unsere Bedenken dazu vor-tragen. Im Übrigen denke ich, dass der Gesetzentwurf derKoalition die richtige Antwort auf die Probleme, die imSexualstrafrecht bestehen, ist. Deswegen bitte ich um Zu-stimmung zu unserem Entwurf.Danke.
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Nächster Redner ist der Kollege Jörg van Essen, FDP-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Kollege Montag, wir führen ja die erste Lesungdurch, weshalb es nicht um die Frage der Zustimmungzum Gesetzentwurf, sondern um eine erste Bewertungdessen, was Sie vorgelegt haben, geht.Vor einigen Wochen konnten wir in einem HamburgerNachrichtenmagazin die Geschichte lesen, dass einKunsterzieher in einer niedersächsischen Stadt offen-sichtlich über 30 Jahre hinweg männliche Jugendliche se-xuell missbraucht hatte, ohne dass diese Tatsache in den30 Jahren irgendwann einmal zur Sprache gekommen unddiesem Täter das Handwerk gelegt worden ist. Erst vorwenigen Monaten ist es durch Jugendliche, die miss-braucht worden sind, zur Anzeige gekommen.Das macht Folgendes deutlich: Der Schwerpunkt derÜberlegungen bezüglich der notwendigen Verhinderungvon sexuellem Missbrauch muss darin liegen, Kinder undJugendliche, die Opfer sind, in ihrer Bereitschaft zu stär-ken, diese Taten anzuzeigen und sich dagegen zu wehren.
Ich habe bereits in einer Debatte, die wir dazu vor einigenMonaten geführt haben, erklärt, dass für uns Liberale ein-deutig dort der Schwerpunkt liegt.Es hat mich gefreut, dass Sie, Frau Ministerin, aberauch einige meiner Vorredner dies heute angesprochenhaben. Ich habe es bedauert, dass der Aspekt, Kinder stär-ker zu machen, beim Kollegen Götzer von der CDU/CSUleider überhaupt keine Rolle gespielt hat.
Ich bin aber sicher – das habe ich auch Ihrem Beifall ent-nommen –, dass wir in diesem Punkt nicht auseinandersind.
Deshalb sollten wir das praktizieren, was wir in diesenFragen in der Vergangenheit aus gutem Grunde praktizierthaben: sachlich und fair zu prüfen und das umzusetzen,was wirklich zu einem Fortschritt führt.
Ich will für die FDP deutlich signalisieren, dass es auchunser Interesse ist, dies zu tun. Sie werden unsere Unter-stützung für alle Maßnahmen bekommen, bei denen eswirklich einen Fortschritt in unserem Bemühen gibt, se-xuellen Missbrauch von Kindern so weit wie möglich zuverhindern.Ich weiß, dass wir die Fragen, die auch heute wiederzur Diskussion stehen, in den vergangenen Jahren sehrhäufig diskutiert haben. Trotzdem sage ich: Wir sind inder Verpflichtung, alle aufgeworfenen Fragen immer wie-der neu zu prüfen. Wenn neue vernünftige Argumente vor-getragen werden, dann müssen wir möglicherweise zu ei-ner anderen Antwort kommen, als das vor zwei oder dreiJahren der Fall war.Dazu tragen natürlich auch technische Entwicklungenbei. Sie, Frau Ministerin, haben vorhin ein Beispiel ge-nannt. Dadurch, dass immer mehr Menschen Zugang zumInternet haben, ergibt sich ganz automatisch, dass zumBeispiel Kinderpornographie im Internet einen völlig an-deren Stellenwert hat, als das noch vor mehreren Jahren derFall war. Darauf gehört eine strafrechtliche Antwort. Wennwir sehen, dass zu diesem Punkt im Strafrecht Lücken sind,muss selbstverständlich dafür gesorgt werden, dass dieseLücken geschlossen werden. Wir sind dazu bereit.Im Übrigen erleben wir, dass in einem Bereich großetechnische Fortschritte gemacht werden, nämlich bei derAuswertung von Gendaten. Immer wieder können wir le-sen, dass beispielsweise Morde, die vor vielen Jahren ge-schehen sind, durch die Fortschritte in der Gentechnikaufgeklärt werden. Das ist gut so. Deshalb sind wir auchim Bereich der stärkeren Nutzung von Gentechnik offenfür Gespräche.Ich will mich nicht zum Anwalt von Tätern machen.Wer weiß, dass ich von Haus aus Oberstaatsanwalt bin,dem ist klar, dass ich meinen Beruf verfehlt hätte, wenndas so wäre.
Trotzdem will ich in dieser ersten Debatte ein paar Fragenin die Diskussion stellen. Der Strafrahmen soll erweitertwerden. Einen Punkt, den Sie angesprochen haben, halteich tatsächlich für nachdenkenswert, Herr Montag, näm-lich dass eine Geldstrafe kleinere und mittlere Krimina-lität signalisiert. Wir besitzen durchaus das Instrumenta-rium, auch kleineren Fällen gerecht zu werden. Deshalbfinde ich es nachdenkenswert, in diesem Bereich aufGeldstrafe zu verzichten, weil das ein falsches Signalwäre.Wenn wir aber den Strafrahmen erweitern, wenn wirschärfere Strafen, so wie sie in der Bevölkerung nachSexualstraftaten immer gefordert werden, in das Gesetzhineinschreiben, dann müssen wir dazu sagen, dass wirals Gesetzgeber keinerlei Möglichkeiten haben, dafür zusorgen, dass diese schärferen Strafen verhängt werden.Das ist eine Entscheidung des Richters. Wir sollten nichtden Eindruck erwecken, dass wir für schärfere Strafensorgen könnten. Wofür wir sorgen und wofür wir das Be-wusstsein schärfen können, ist, dass Richter diese Ange-legenheit nicht als Bagatelle ansehen. Ein Beispiel dafürhabe ich gerade genannt. Herr Montag hat es ausgeführt.Ich brauche es nicht noch einmal zu tun.Ich habe aber das Gefühl – auch das will ich in dieserDebatte ansprechen –, dass im Regelfall Gott sei Dank imBereich des sexuellen Missbrauchs von Kindern harteStrafen verhängt werden. Aus diesem Grunde werden wirsorgfältig prüfen, ob wir tatsächlich zu einer Verbesserungder Situation kommen.Ich möchte noch einen anderen Punkt mit einem Fra-gezeichen versehen. Ich möchte wie die Ministerin, dieKoalition und die gesamte Opposition, dass Menschen
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Jörg van EssenStraftaten früher anzeigen. Ich möchte sie dazu ermuti-gen, dies zu tun. Ob wir das allerdings mit einem Straftat-bestand erreichen, möchte ich als fraglich ansehen. DieMenschen sind natürlich in einer Zwickmühle. Sagen siezu früh etwas, wird möglicherweise der strafrechtlicheVorwurf der falschen Verdächtigung erhoben. Auf deranderen Seite besteht die Gefahr, dass sie etwas nicht an-zeigen. Ob hier aber das Schwert des Strafrechts richtigist, erscheint mir fraglich.Wir sind für die Argumente offen, die in der Diskussionvorgebracht werden. Der bisherigen Debatte habe ich ent-nommen, dass wir alle den Wunsch haben, auf dem Weg,Kinder besser zu schützen, ein Stück voranzukommen.Wir werden dabei helfen.Vielen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Michaela Noll,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!Der Umgang mit Sexualität stellt jede Gesellschaft auf dieProbe. Umgang mit Sexualstraftaten ist die Zerreißprobe.„Wegschließen, und zwar für immer“ lautet ein Zitat ei-nes Juristen: von keinem Geringerem als dem Bundes-kanzler Schröder. Eine umstrittene Äußerung – unsach-lich, aber medienwirksam.Was wollen wir eigentlich? – Wir wollen eine von Hu-manität und christlichen Werten geprägte Gesellschaft,die den Straftäter menschlich behandelt. Insoweit musssie zwingend auch den Sexualstraftäter menschlich be-handeln. Wir haben aber alle die Erfahrung machen müs-sen, dass gerade Sexualstraftäter immer wieder rückfälligwurden und neue Opfer schufen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht an ihren Wor-ten, sondern an ihren Taten sollt ihr sie erkennen. Bis vor-gestern tat sich gar nichts. Aber das hat sich buchstäblichüber Nacht geändert.
Der Entwurf der Koalitionsfraktionen liegt nun vor. Ineinzelnen Vorschlägen finden wir von der Union uns wie-der. Das gibt Hoffnung.Die Vorgehensweise allerdings spricht nicht dafür, dassSie tatsächlich an einer konstruktiven Zusammenarbeitmit der Union interessiert sind. Wie lässt es sich sonst er-klären, dass der Gesetzentwurf erst dpa vorgelegt wurde?
Nahe liegend wäre es, zu vermuten, dass es Ihnen auchhier nicht um die Sache, sondern nur um den Applaus inder Öffentlichkeit geht. Ist vielleicht der 2. Februar derGrund? Das ist kein guter parlamentarischer Stil, generellnicht und schon gar nicht in diesen speziellen Fragen.
Die Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs in sämt-lichen Formen ist uns doch allen ein gemeinsames Anlie-gen. Daher ist ein sachlicher Austausch im Interesse einesbreiten politischen und gesellschaftlichen Konsenses zuempfehlen.Der Entwurf ist in zu vielen Punkten täterorientiert undzu wenig opferorientiert.
Warum fällt es Ihnen so schwer, die Grundtatbestände dessexuellen Missbrauchs nach § 176 Abs. 1 und 2 StGB vonKindern als Verbrechen einzustufen? Durch diese Straf-schärfung würde zugleich erreicht, dass für diese Formdes Kindesmissbrauchs bereits die Verabredung und derAnstiftungsversuch unter Strafe gestellt werden könnten.Ihre Erklärungsversuche, sehr geehrter Herr Montag, kön-nen wir an dieser Stelle nicht nachvollziehen. Der vorlie-gende Entwurf stellt in diesem Punkt nur einen Kompro-miss dar. Auf die generelle Anhebung wurde verzichtet.Liebe Kolleginnen und Kollegen, eines der wichtigstenInstrumente in unserem Strafrecht ist die Sicherungsver-wahrung.
Warum hat die Ministerin in der Plenardebatte am 14. No-vember 2002 erklärt, dass sie es für richtig halte, die Si-cherungsverwahrung auch für Heranwachsende vorzuse-hen? Frau Ministerin, Sie haben doch erklärt, dass esbesonders gefährliche frühkriminelle Haupttäter gebe unddass wir für solche Fälle eine Sicherungsverwahrungfür Heranwachsende vorsehen sollten. Was tun Sie dennmit diesen tickenden Zeitbomben? Das wird im vorlie-genden Entwurf mit keinem Wort mehr erwähnt. Wie siehtes denn nun aus? Was ist denn Ihre Meinung dazu? Stehtdie SPD nach wie vor auf dem Standpunkt, die Siche-rungsverwahrung für Heranwachsende sei notwendig?Liegt es nicht nahe, dass dieser Punkt um des Koalitions-friedens willen geopfert wurde?
Frau Ministerin, in Ihrem Interview in der „Bild amSonntag“ haben Sie betont, Ihnen sei es ein besonderesAnliegen, sexuellen Missbrauch an Frauen, Kindern undBehinderten zu bekämpfen.
Dem können wir nur zustimmen. Aber wir sollten nichtvergessen, dass die frühere CDU/CSU-geführte Bundes-regierung bereits 1998 ein umfassendes Strafrechtsän-derungsgesetz verabschiedet hat.
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Darin ging es uns um zwei zentrale Punkte: Der eine be-traf den Schutz von Behinderten vor Kriminalität, derandere die Erweiterung der Sicherungsverwahrung. Dasheißt, wir haben kontinuierlich für den Schutz derSchwächeren in unserer Gesellschaft gearbeitet.Was wollen Sie mit der Erweiterung der Ausnahme-regelung des § 139 Abs. 3 Satz 2 StGB wirklich schützen?Warum reicht Ihnen ein „ernsthaftes Bemühen“, die Tat ab-zuwenden, aus, um von einer Anzeigepflicht abzusehen?
Warum wollen Sie einen so großen Personenkreis aus derVerantwortung entlassen? Wollen Sie tatsächlich den El-tern eines Opfers erklären: Der Psychotherapeut hat sichzwar bemüht, aber leider ist es dennoch zu der grauen-vollen Tat gekommen? Erwarten Sie für eine solche Er-klärung bitte kein Verständnis. Sie werden es nicht be-kommen.
Sie müssen sich schon die Frage gefallen lassen, in-wieweit Sie dem Vertrauensverhältnis zum Täter einenhöheren Stellenwert beimessen als der Verbrechensverhü-tung. Das, was Sie in ihrem Gesetzentwurf vorsehen, führtzu einer ausgesprochenen Täterorientierung. Die Opfer-orientierung kommt dagegen zu kurz.Leider ist auch bei dem jetzt vorliegenden Entwurffestzustellen, dass die jährlich Tausenden sexuellen Über-griffe auf Kinder und Frauen, die direkt hinter der Haustürgeschehen, nicht wahrgenommen werden. Oftmals ge-schehen sie im so genannten sozialen Umfeld, im Nahfeldder Familie, im Verwandten- oder Bekanntenkreis.
Im Bereich des sexuellen Missbrauchs von Kindern undJugendlichen kommen rund 94 Prozent der Täter aus derFamilie und ihrer Umgebung und nur 6 Prozent der Tätersind Fremde. Auch noch heute werden diese Formen dersexuellen Übergriffe in unserer Gesellschaft nicht wahr-genommen und tabuisiert. Diese Erkenntnis versucht dieBundesjustizministerin jetzt umzusetzen, indem sie einenwirksameren Schutz der Kinder dadurch erreichenmöchte, dass sich alle in der Gesellschaft verantwortlichfühlen und kümmern. Der Altbundespräsident RomanHerzog, der Vorsitzende der Stiftung „Bündnis für Kin-der – gegen Gewalt“, hat sich in der gleichen Art undWeise geäußert. Er sagte:Wenn jeder mit wachem Auge auf seine Umgebungschaute, wäre es eher möglich, solche Verbrechen zuverhindern.Dem stimmen wir uneingeschränkt zu.
Opferschutz vor Täterschutz, das muss besonders inden Fällen gelten, in denen der Täter aus dem unmittel-baren sozialen Umfeld des Kindes stammt. Das, was ichan diesem Punkt bei Ihnen vermisse, ist, dass auf den Ge-danken der Vorbeugung oder der Prävention eingegan-gen wird. Dabei ist gerade hier der Aspekt, Kinder starkzu machen, von grundlegender Bedeutung. Wir sind hierauf Ihrer Seite, Herr Kollege van Essen. Es ist wichtig,dass sich Kinder wehren, sich offenbaren und bereits beiden ersten Versuchen offensiv damit umgehen, also selbstaktiv werden, um sich zu schützen. Jeder Kriminalbeamteund Psychologe kann Ihnen bestätigen, dass es wichtig ist,einem potenziellen Täter gegenüber Selbstbewusstseinund Sicherheit auszustrahlen. Täter suchen keine Gegner.Täter suchen Opfer.
Kinder müssen auch ihren nahen Angehörigen Grenzenaufzeigen und den Mut haben, Nein zu sagen.Wir müssen im Bereich der Erziehung sowohl die Kin-der als auch die Eltern stärken. Das besondere Vertrau-ensverhältnis zwischen Eltern und Kindern ist die Grund-lage für eine erfolgreiche Prävention.
Aber diese wichtige Erkenntnis ist in Ihrem Entwurf voll-ständig unter den Tisch gefallen. Sie haben in der Debatteüber unseren Gesetzentwurf am 14. November einen ver-besserten Opferschutz angekündigt. Ihr Gesetzentwurflässt aber die Belange der Opfer nach meinem Dafür-halten außer Acht.Abschließend möchte ich feststellen: Ihr Gesetzent-wurf enthält zwar einige diskussionswürdige Punkte.Aber dem eigentlichen Ziel sind wir nur einen kleinenSchritt näher gekommen. Fazit: Ihr Koalitionsentwurf istzwar umfangreich, aber nicht aufschlussreich. Mit IhremGesetzentwurf haben Sie nicht alles getan, was Sie tunkönnen. Handeln Sie endlich! Es ist höchste Zeit.Danke.
Nächster Redner ist der Kollege Joachim Stünker,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Die bisherige Debatte hatmich in meiner tiefen Überzeugung bestätigt, dass der Ge-setzgeber mehrfach und gründlich nachdenken muss, be-vor er Änderungen im Strafrecht vornimmt; denn dasStrafrecht ist – daran sollten wir uns immer erinnern – dieUltima Ratio des Staates, auf Fehlverhalten seiner Bürge-rinnen und Bürger zu reagieren. Dabei gilt es, immer dieBalance zwischen den Freiheitsrechten jedes Einzelnenund seinem berechtigten Anspruch auf persönliche Si-cherheit und Unversehrtheit zu halten.Dabei müssen wir wiederum das verfassungsrechtlicheGebot der Verhältnismäßigkeit beachten. Ich gehe ein-mal davon aus, dass Sie diese Abwägung in den 16 Jahren,Michaela Noll
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Joachim Stünkerin denen Sie regiert haben, immer vorgenommen haben;denn Sie haben entsprechende Verschärfungen des Se-xualstrafrechts – Stichwort Kindesmissbrauch – in dieserZeit nicht vorgenommen. Um es einmal ganz deutlich zusagen: Kindesmissbrauch gibt es nicht erst seit 1998, seit-dem wir regieren.
Ich möchte auch sehr deutlich sagen – der Kollegin, dievor mir gesprochen hat, muss ich da widersprechen –: Wirbegrüßen es sehr, dass die Bundesregierung gestern – pa-rallel zu den strafrechtlichen Regelungen, die wir Ihnenvorschlagen – den Aktionsplan zum besseren Schutz vonKindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt vorgelegthat; denn die Frau Justizministerin und die KolleginSchmidt werden mit diesem Aktionsplan der von Ihneneingeforderten Prävention voll und ganz gerecht. Ich darfIhnen sagen, Herr van Essen: Wir unterstützen diese ge-samtgesellschaftliche Offensive zum Opferschutz, zumbesseren Schutz von Kindern, von Schutzbefohlenen undvon widerstandsunfähigen Menschen. Es handelt sich so-zusagen um eine konzertierte Aktion in dem sehr sen-siblen Bereich des Sexualstrafrechts.Im Rahmen dieser konzertierten Aktion sind die Be-stimmungen des Strafrechts, über die wir heute reden, nurein Mosaikstein von vielen. Wir bemühen uns um eine an-gemessene Strafandrohung und insbesondere um eineverstärkte Kriminalprävention.
Die Überschrift des Paketes, das wir Ihnen hier vorlegen,lautet – darin stimme ich Herrn van Essen zu –: Opfer-schutz.Lassen Sie mich nun etwas zu einem Ihrer Haupt-kritikpunkte sagen. Wir haben festgestellt, dass wir in vie-len Bereichen Gemeinsamkeiten haben. Während Sie inIhrem Entwurf dem § 176 StGB dogmatisch einen Ver-brechenstatbestand zugrunde gelegt haben, liegt ihm inunserem Gesetzentwurf im Ergebnis weiterhin ein Ver-gehenstatbestand zugrunde. Man kann darüber sicherlichweidlich streiten.Was haben wir gemacht? Was schlagen wir Ihnen hierfür die weitere Diskussion und auch für die Sachverstän-digenanhörung vor? Wir haben die Strafrahmen bei Miss-brauch heraufgesetzt. Zukünftig gibt es in Bezug auf dievon mir genannten Personengruppen keinen minderschweren Fall des sexuellen Missbrauchs mehr. Das heißt,Täter kommen nicht mehr mit einer Geldstrafe davon. Ichdenke, davon geht ein wichtiges Signal aus. Ihr Entwurfenthält eine solche Regelung nicht.
– Nein, das ist nicht falsch.Des Weiteren wird in unserem Gesetzentwurf der ein-fache sexuelle Missbrauch von Kindern als besondersschwerwiegender Tatbestand bewertet. Dadurch sollendie Handlungen derjenigen erfasst werden, die bisher dieSchwelle des Eindringens in den Körper nicht überschrit-ten haben. Der Bundesgerichtshof hat in diesem Zusam-menhang von allgemeinem Tatbestand gesprochen. Mitdieser Neuregelung werden die angesprochenen Fälle er-fasst. Die Täter werden zukünftig mit einer Freiheitsstrafevon – mindestens – einem Jahr bis zu 15 Jahren bestraft.Um genau diesen Tatbestand geht es Ihnen; allerdingswird dafür nicht die Bezeichnung Verbrechen verwendet.Dennoch erzielen wir dieselbe Wirkung.
– Natürlich.Unser Gesetzentwurf enthält zusätzlich den Straftat-bestand des Einwirkens auf ein Kind durch Schriften, umes zu sexuellen Handlungen zu bringen. Darüber hinauswird sich künftig jemand strafbar machen, der ein Kindfür einen Missbrauch anbietet, nachzuweisen versprichtoder sich mit anderen zu einer solchen Tat verabredet. Wirerreichen damit im Ergebnis diejenigen Fälle, um die es inder Praxis eigentlich geht, ohne dass wir damit den Tat-bestand strafrechtlich dogmatisch zum Verbrechen he-raufgestuft haben.Warum ist es sinnvoll, diesen Tatbestand nicht zumVerbrechen zu erklären? Ich will versuchen, Ihnen auchdas darzulegen. Es ist deshalb sinnvoll, weil es gerade beisexuellem Missbrauch Fälle gibt – wir alle wissen, dassdie überwiegende Zahl dieser Taten im familiären Umfeld,im nahen persönlichen Umfeld der Opfer geschehen –, indenen es notwendig ist, dass man mit den Mitteln der§§ 153 ff. StPO – Täter-Opfer-Ausgleich und Ähnli-ches – reagieren kann. Entsprechend reagieren kann mannicht mehr, wenn ein Verbrechenstatbestand vorliegt.Wenn Sie das uns schon nicht glauben wollen, weil für Siealles das, was von Rot-Grün kommt, irgendwie Teufels-zeug ist, dann glauben Sie Ihren eigenen Sachverstän-digen. Wir haben zu Ihrem Gesetzentwurf, der ja nicht neuist, in der letzten Legislaturperiode, der 14., schon einmaleine Sachverständigenanhörung durchgeführt. Da habenIhre Sachverständigen, zum Beispiel Professor Krey ausTrier, der ja nun nicht verdächtig ist, Sozialdemokratensehr nahe zu stehen, genau darauf hingewiesen und ge-sagt: Seid vorsichtig und begebt euch nicht der Möglich-keiten von Mediation und Täter-Opfer-Ausgleich. Wennihr einen Verbrechenstatbestand schafft, habt ihr sie hin-terher nicht mehr. Genau das ist der Hintergrund.
– Lesen Sie das doch nach, Herr Kollege Kauder, dannwerden Sie es feststellen. Wir können es ja in der Sach-verständigenanhörung diskutieren. Es verhält sich genau-so, wie ich es gesagt habe.
– Doch.Einen weiteren Punkt möchte ich ansprechen: Wir sa-gen, dass sich in Zukunft jemand, der einen sexuellen
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Missbrauch, von dem er Kenntnis hat, nicht anzeigt, mög-licherweise strafbar macht. Das ist übrigens ein neuerVorschlag von unserer Seite, der in Ihrem Entwurf nichtenthalten ist. Sie werfen uns nun vor, wir würden von die-sem möglichen Straftatbestand, den Sie gar nicht vorge-sehen haben, zu viele Personen ausnehmen. Das ist ja derVorwurf, den Sie, Herr Götzer, heute Mittag hier erhobenhaben. Wenn Sie in unseren Entwurf hineinschauen, wer-den Sie feststellen, dass wir genau den Personenkreis, dernach der Strafprozessordnung ein Zeugnisverweige-rungsrecht hätte, von der möglichen Strafbarkeit ausneh-men. Das ist auch sinnvoll. Sie können doch nicht sagen:Du machst dich zwar auf der einen Seite strafbar, wenn dudas nicht anzeigst, auf der anderen Seite hättest du aber alsZeuge vor Gericht die Möglichkeit, das Zeugnis zu ver-weigern. Man muss die Zusammenhänge sehen, wennman das Gesetz analysiert. Ich halte auch das für eine sehrsinnvolle Regelung und hoffe, dass wir uns darüber in derDiskussion noch verständigen.
Dann lassen Sie mich noch etwas zu Ihrer Kritik andem Punkt DNA-Analyse sagen. Wir machen meinerMeinung nach einen sehr sinnvollen Vorschlag, indem wirsagen, dass alle Straftaten, die gegen die sexuelle Selbst-bestimmung des Menschen gerichtet sind, zukünftig zumAnlass für eine DNA-Analyse genommen werden kön-nen, wenn der Richter aufgrund konkreter Tatsachen inseiner Prognose zu dem Ergebnis kommt, dieser Täterkönne zukünftig schwere andere Straftaten begehen. Dasist in sich schlüssig. Was Sie wollen, wäre schwierig mitdem von mir vorhin schon genannten Gebot, dass Strafenoder in diesem Fall Eingriffe immer auch verhältnismäßigsein müssen, zu vereinbaren.
Nach Ihrer Konstruktion wäre der Diebstahl von Damen-unterwäsche ein Grund, eine DNA-Analyse durchzu-führen. Ich denke, unser Vorschlag ist sehr wohl verfas-sungsrechtlich ausgewogen. Ich bin gespannt, was dieSachverständigen zu unseren Vorschlägen sagen werden.Ich bin sehr sicher, dass wir hier auf einem guten Wegsind.Lassen Sie mich zum Schluss noch Anmerkungen zuThemen machen, die Sie auch heute wieder vorgetragenhaben.Erstens. Ausweitung der Telefonüberwachung, § 100 aStrafprozessordnung, auf Fälle des sexuellen Missbrauchs.Zunächst ist es für mich schwer vorstellbar, wenn manmeint, auf diese Weise Verabredungen oder Ähnliches amTelefon aufdecken zu können. Das erschließt sich mirschon vom Praktischen her nicht so ganz; rechtlich be-trachtet sage ich Ihnen, wir sollten hier sehr vorsichtigsein. Auch Sie kennen wohl das Gutachten, das in Biele-feld zum § 100 a der Strafprozessordnung vorgelegt wor-den ist, also wie in der Praxis mit diesem hohen Schutz-gut umgegangen wird. Wir sollten also sehr vorsichtigsein, ehe wir da Änderungen vornehmen. Darum bleibenwir dabei, dass wir, bevor nicht eine Gesamtschau derAuswirkungen des § 100 a StPO vorliegt, auch mithilfedes Gutachtens des Max-Planck-Instituts, hier keinerleiVeränderungen vornehmen werden.Zweitens zur Sicherungsverwahrung.Wir führen, wieich glaube, heute die fünfte, sechste oder siebte Debattezum Thema Sicherungsverwahrung. Sie bringen diesesThema gebetsmühlenartig immer wieder auf den Tisch.
Nochmals: Die Frage der nachträglichen Sicherungsver-wahrung haben wir für uns endgültig mit dem Gesetz, daswir hier im letzten Sommer beschlossen haben, abge-schlossen. Da haben wir die vorbehaltene Sicherungs-verwahrung neu geregelt und ins Strafgesetzbuch aufge-nommen.
Wenn Sie da mehr wollen, müssen Sie sich an die Länderwenden, die für den Personenkreis, der von dieser Rege-lung nicht mehr erfasst wird, zuständig sind.
– Wieso? Was heißt „Verantwortung“? Es gibt verfas-sungsrechtliche Zuständigkeiten. Die Länder sind ja auchsonst immer sehr darauf bedacht, dass wir nicht in ihreZuständigkeiten eingreifen. Das Problem ist nur – deshalbsind Sie so nervös –, dass Baden-Württemberg und Bay-ern Gesetze verabschiedet haben, die schlecht sind undgegenwärtig beim Bundesverfassungsgericht überprüftwerden. Deshalb möchten Sie Regelungen vom Bundes-gesetzgeber haben.Einen Satz noch, Frau Präsidentin.
Aber nur einen kurzen Satz, Herr Kollege Stünker.
Was die Frage der Sicherungsverwahrung von Heran-
wachsenden, die von den Gerichten nach allgemeinem
Strafrecht beurteilt werden, angeht, sind wir der Mei-
nung – damit gehen wir auch in die Sachverständigen-
anhörung –, dass hier das von uns geschaffene Instrument
der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung genau die rich-
tige Lösung ist.
Schönen Dank.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Siegfried Kauder, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! Die richtige Botschaft zu diesem Thema kam vonJoachim Stünker
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003
Siegfried Kauder
einem Sozialdemokraten, allerdings nicht von einem, derheute unter uns sitzt, Herr Stünker. Es war Ihr General-sekretär, der gefordert hat, der Staat solle die Lufthoheitüber Kinderbetten haben.
– Doch, meine Damen und Herren, das war die richtigeBotschaft, nur zum falschen Thema. Wir wollen keineLufthoheit über das Erziehungsrecht der Eltern, aber Luft-hoheit über Kinderbetten, soweit es um die richtige sexu-elle Entfaltung und Entwicklung sowie den Schutz vonKindern unter 14 Jahren geht.Wir müssen erst einmal festhalten, welche Gesetzes-lage wir im Augenblick haben. Damit kommen wir zu derjuristischen Argumentation, die uns offensichtlich etwasschwerer fällt als die politische. Wir haben § 176 StGB,den sexuellen Missbrauch von Kindern, als Vergehen aus-gestaltet und damit qualitativ nicht anders als Diebstahlbewertet.
Ich weiß, wo das Herz der Frau Bundesjustizministerinschlägt, denn sie gehört der gleichen Opferschutzorgani-sation an wie ich. Wir wissen: Sexueller Missbrauch vonKindern ist Mord an einer kindlichen Seele und Mord istein Verbrechen. Deswegen muss auch sexueller Miss-brauch von Kindern ein Verbrechen werden.
– Das war ein Opfer schützendes Argument; ich werdedazu noch etwas sagen.
– Manchmal muss man sich, wenn es um kindliche Opfergeht, auch ereifern; vielleicht tun Sie das zu wenig.
Wir haben § 176 a StGB, in dem als selbstständigerQualifikationstatbestand besonders schwere Fälle mit ei-ner Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedachtwerden.
Das ist die Gesetzeslage. Jetzt passen Sie bitte genauauf: Was Sie nach Ihrem Entwurf machen wollen, istrechtstechnisch ein furchtbarer, nicht korrigierbarerFehler. Sie brechen aus § 176 a StGB einen Verbre-chenstatbestand, die Wiederholungstat, heraus und inte-grieren ihn in § 176 als besonders schweren Fall. Wir ha-ben darüber in unserer Fraktion diskutiert. Wer dieGesetzessystematik kennt, weiß, dass dieser besondersschwere Fall damit vom Verbrechen zum Vergehen wird.Jeder Jurist im ersten Semester weiß, dass das so in § 12Abs. 3 StGB steht.
– Ich werde es Ihnen noch erklären, Herr Kollege Montag.Das hat zur Folge, dass der Wiederholungstäter ge-genüber denjenigen Tätern, die gemeinschaftlich über einKind herfallen, privilegiert ist. Es bleibt zwar bei der ein-jährigen Freiheitsstrafe, aber es ist kein Verbrechen mehr.Wissen Sie, welche inakzeptable Konsequenz das für daskindliche Tatopfer hat? – Die Folge ist, dass dieses Verge-hen im Falle eines Wiederholungstäters beim Amtsgerichtangeklagt werden kann und dass Staatsanwälte und Richterdieses Verfahren nach § 153 a StPO wie bei einem Kauf-hausdiebstahl gegen eine Geldbuße einstellen können. Daswollen wir nicht und das dürfen wir nicht zulassen, weil eshier um Kinder geht, die sexuell missbraucht werden.
– Das tut ein Staatsanwalt, wenn die Beweislage schlechtist.
Bei einem Verbrechen kann er das Verfahren nicht nach§ 153 a StPO einstellen.
– Hören Sie doch bitte einfach erst einmal zu! Sie warendoch schon dran mit Ihrem Redebeitrag!Sie wollen den minderschweren Fall abschaffen.Nennen Sie mir bitte einen Verbrechenstatbestand imStGB, der den minderschweren Fall nicht kennt.
Wir schlagen in unserem Entwurf keine Geldstrafe für ei-nen minderschweren Fall vor. Wir denken nämlich nach,bevor wir Gesetzesänderungen anregen. Wir fordern viel-mehr, dass der minderschwere Fall mit mindestens dreiMonaten bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe belegt werdenmuss. Das ist der Unterschied zu Ihrem Gesetzentwurf.
Die Beibehaltung des minderschweren Falles ist not-wendig. Damit erhält der Täter einen Anreiz, ein Ge-ständnis abzulegen. Ein minderschwerer Fall kann nachder Rechtsprechung nämlich schon dann angenommenwerden, wenn der Täter dem Tatopfer das Erscheinen inder Hauptverhandlung erspart. Ein Kind muss also nichtals Zeuge vernommen werden. Diese Möglichkeit schaf-fen wir, indem wir die Einstufung als minderschwerenFall erhalten und so dem Täter einen Anreiz geben, einGeständnis abzulegen.
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Meine Damen und Herren von Rot-Grün, ich versteheSie nicht. Warum fürchten Sie wie der Teufel das Weih-wasser, den sexuellen Missbrauch von Kindern zu einemVerbrechenstatbestand zu erheben?
Es gibt genügend Milderungsgründe. Einen wichtigen ha-ben Sie übersehen, Herr Kollege. Den Täter-Opfer-Aus-gleich gibt es auch bei Verbrechen. Das ist unsere Philo-sophie: Ein Täter, der sich an einem Kind vergangen hat,muss laufen; er muss sich bemühen und Punkte sammeln.Er soll ein Geständnis ablegen
und sich um den Täter-Opfer-Ausgleich kümmern. Danngibt es Milderungsgründe, die ihm die Chance eröffnen,dass seine Strafe unter der Freiheitsstrafe von sechs Mo-naten, die nach Ihrem Entwurf verhängt werden muss,liegt. In einem minderschweren Fall kann der Täter mitTäter-Opfer-Ausgleich und beim Vorliegen einer beson-deren Fallkonstellation sogar mit einer Freiheitsstrafe vonunter drei Monaten davonkommen.Ich verstehe Sie auch in einem anderen Punkt nicht;auch da scheuen Sie eine Gesetzesänderung wie derTeufel das Weihwasser. Was spricht eigentlich gegen dieEinführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung?
Was spricht dagegen, die Sicherungsverwahrung auf He-ranwachsende anzuwenden, wenn sie nach Erwachsenen-strafrecht verurteilt werden?
Wir haben schon jetzt einen Anknüpfungspunkt. Bei derFrage der Sicherungsverwahrung darf nämlich auch eineverhängte Jugendstrafe berücksichtigt werden. Gehen wiralso den nächsten Schritt und sagen, dass die Sicherungs-verwahrung gegen Heranwachsende bei Anwendung desErwachsenenstrafrechts zulässig ist.Ich gebe der Frau Bundesjustizministerin Recht: Essind nur ganz wenige Fälle, die dafür in Betracht kommen,weil ein Heranwachsender im Alter von 18 bis 21 Jahrenkaum die Gelegenheit zu einer kriminellen Karriere hatte,die notwendig ist, um eine Sicherungsverwahrung zu ver-hängen. Prüfen Sie einmal die in der Presse hochgekom-menen spektakulären Fälle, in denen Kinder nach sexuel-lem Missbrauch zu Tode gekommen sind. In drei von fünfdieser Fälle wäre die Straftat nicht geschehen, wenn die Si-cherungsverwahrung für Heranwachsende möglich gewe-sen wäre. Sie sind also auf dem falschen Weg.
Wir wägen in unserem Gesetzesvorschlag sehr detail-liert Täterrechte und Opferrechte gegeneinander ab. DieOpfersicht geht bei Ihrem Gesetzentwurf völlig verloren.Wir wünschen, dass der Grundtatbestand des § 176 StGBals Verbrechen ausgelegt wird.Aus Opfersicht gibt es dafür einen weiteren wichtigenGrund. Die Staatsanwälte neigen dazu, sexuellen Miss-brauch von Kindern beim Amtsgericht anzuklagen, waszulässig ist. § 24 des Gerichtsverfassungsgesetzes gibtaber die Möglichkeit – das sollte bei Verbrechen mitsexuellem Hintergrund ohnehin die Regel werden –, inerster Instanz beim Landgericht anzuklagen. Über demLandgericht gibt es keine weitere Tatsacheninstanz. Manvermeidet damit eine sekundäre Viktimisierung des Tat-opfers, indem man ihm eine weitere Vernehmung er-spart.Kommen Sie mir bitte nicht mit dem Argument, esgebe jetzt schon die Videografie. Frau Justizministerin,ich möchte Sie in diesem Punkt um Mithilfe bitten. Wirwissen aus unserer praktischen Erfahrung, dass dieRichter die Videografie nicht so anwenden, wie wir unsdas als Gesetzgeber gewünscht haben.
Ich freue mich, dass diese Diskussion angefangenwurde. Ich freue mich auch auf eine konstruktive Zusam-menarbeit. Aber erlauben Sie mir bitte, dass ich rechts-technische Fehler in Ihrem Gesetzentwurf aufgreife undIhnen sage: Wenn Sie den ersten Schritt tun, müssen Sieim Interesse von Tatopfern auch den zweiten Schritt tun.Sexueller Missbrauch ist Mord an der Seele von kleinenKindern. Unsere Kinder müssen es uns wert sein, darüberim Rechtsausschuss sachlich zu diskutieren.Ich danke Ihnen, dass Sie mir zugehört haben.
Ich möchte Ihnen, Herr Kollege Kauder, zu Ihrer ers-ten Rede in diesem Hohen Haus im Namen des ganzenHauses gratulieren.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 15/350 an die in der Tagesordnungaufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu an-derweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann istdie Überweisung so beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten DirkFischer , Eduard Oswald, GeorgBrunnhuber, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der CDU/CSUTransrapid-Projekt Berlin–Hamburg unver-züglich wieder aufnehmen– Drucksache 15/300 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für TourismusAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussSiegfried Kauder
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Vizepräsidentin Dr. Antje VollmerNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Wider-spruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst derAbgeordnete Dirk Fischer.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Hocherfreut habe ich die Äußerung von Minister Stolpeim NDR-Info-Radio vernommen, die TransrapidstreckeHamburg–Berlin sei auch seine Traumstrecke, er halteden Bau einer Transrapidstrecke zwischen Hamburg undBerlin weiterhin für denkbar. Wann hat es das seitMatthias Wissmann schon gegeben, dass ich in dieserFrage mit dem Verkehrsminister einer Meinung bin?
Nach vier Jahren Rot-Grün und vier Verkehrsministerspäter endlich einmal wieder eine vernünftige Aussagezum Transrapid zwischen Haupt- und Hansestadt.
Dabei sagte noch am 10. August 2002 die Parlamenta-rische Staatssekretärin Mertens in der „taz Hamburg“, derTransrapid sei auf der Strecke Berlin–Hamburg verkehrs-politisch nicht zu begründen und zu teuer. Es besteht alsoein tief greifender Meinungskonflikt in der Spitze des zu-ständigen Ministeriums.
Ich vertraue nun aber auf das Ministerwort und fordereein, dass den Liebesschwüren seit der Jungfernfahrt inSchanghai nun endlich auch Taten in der BundesrepublikDeutschland selbst folgen.
Die negative Entscheidung zum Bau der Transrapid-verbindung Hamburg–Berlin am 5. Februar 2000 warfalsch. Der Technologie- und Wirtschaftsstandort Deutsch-land hat großen Schaden genommen. Dass BahnvorstandMehdorn mit Billigung der Bundesregierung durch Rück-nahme sämtlicher Anträge auf Planfeststellung 350 Mil-lionen DM Planungsaufwand von Industrie und Bundquasi in den Ascheimer geworfen hat,
statt für zehn Jahre die Baurechte zu sichern, ist eigentlicheines eigenen parlamentarischen Untersuchungsaus-schusses würdig.
Nach knapp 1,3 Milliarden Euro Entwicklungskostenvon Bund und Industrie in Deutschland und nochmals rund100 Millionen Euro Entwicklungshilfe an China existiertbislang nur eine Anwendungsstrecke im Ausland. Hättedie rot-grüne Bundesregierung nicht die ReferenzstreckeHamburg–Berlin bösartig zerstört, hätten BundeskanzlerSchröder und Verkehrsminister Stolpe die Anwendungdieses deutschen Hightechproduktes nicht im fernenChina bewundern müssen; sie hätten stattdessen nur ein-mal zum Lehrter Bahnhof hinüberlaufen müssen.
Anscheinend hat aber wenigstens die Eröffnungsfahrtin China die Bundesregierung von diesem deutschen Spit-zenprodukt überzeugt. Ich zitiere aus der Neujahrsanspra-che von Bundeskanzler Schröder:Am heutigen Silverstertag haben wir in Schanghaiden Transrapid eingeweiht – eine bei uns in Deutsch-land entwickelte Zukunftstechnologie, die eine vor-zügliche Lösung der Mobilitätsprobleme bietet.Auch das zeigt deutlich: Wir in Deutschland habenalles, was zum Erfolg notwendig ist. Wir müssen ihnaber auch tatsächlich wollen. Niemand darf blockie-ren oder behindern. Jeder sollte mit seinen Möglich-keiten vorangehen, damit das Ganze vorankommt.So Schröder.
Hamburg–Berlin ist unverändert das einzige durchge-plante und bewertete Fernverkehrsprojekt des Transrapid.Hamburg–Berlin könnte auch die Kernstrecke anderer öf-fentlich diskutierter Verbindungen, zum Beispiel einesEurorapid, sein.
Ich denke auch an Strecken wie Hamburg–Groningen–Amsterdam, Hamburg–Kopenhagen–Stockholm oder anostgängige Strecken von Berlin aus nach Warschau oderüber Dresden, Prag und Wien nach Budapest.
Die Strecke bietet die einmalige Attraktivität, zwischenden Ballungsräumen Hamburg und Berlin einen Nahver-kehrstakt mit halbierter Fahrzeit einzurichten. Herr KollegeKönigshofen, wie unterscheidet sich ein solches Projektvon dem Metrorapid, bei dem diese Technologie bei einerdurchschnittlichen Reisegeschwindigkeit von 50 Stunden-kilometern – also knapp oberhalb der einer Postkutsche –zur Anwendung gebracht wird? Das ist doch lächerlich.
Dieses Projekt würde auch die Option einer späterenAnbindung des Berliner Zentralflughafens Schönefeldbeinhalten und Entwicklungsperspektiven und Chancenfür neue hochwertige Arbeitsplätze, davon allein 400 imBetriebswerk Perleberg in Brandenburg, bieten. Bau undBetrieb des Transrapids hätten zudem direkte Beschäfti-gungswirkungen. Der Transrapid hätte auf der Strecke ei-nen Konkurrenzvorsprung gegenüber der Rad-Schiene-
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Technik, dem Auto und Luftverkehr und würde eine echteAlternative zu Kurzstreckenflügen darstellen. Nur dieLangstreckenverbindung Hamburg–Berlin von 292 kmkann die Systemvorteile dieser Highspeed-Technologievoll zur Geltung bringen. Außerdem gäbe es wenigstensauf dieser Strecke keinen Parallelverkehr, wie er derzeitauf anderen Strecken geplant ist.
Mit dem Transrapid wären zudem eine geringere Lärmemis-sion und eine vermehrte Energieeinsparung verbunden.Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, nichtnur Minister Stolpe, sondern auch MinisterpräsidentRingstorff hat mittlerweile seine Liebe zur Strecke Ham-burg–Berlin entdeckt;
denn nur so würde seine Hauptstadt, die derzeit völlig ab-gekoppelt ist, an den Highspeed-Personenverkehr ange-bunden werden.In seiner Rede im mecklenburg-vorpommerischen Land-tag am 24. April 2002 hat Ministerpräsident Ringstorffausgeführt:Der Transrapid ist eine faszinierende Technik. DieIdee, die Strecke Hamburg–Berlin im Rahmen eineseuropäischen Transrapidnetzes zu realisieren, findeich höchst interessant.
Wir in Mecklenburg-Vorpommern haben unsereHausaufgaben gemacht – das Planfeststellungsver-fahren ist abgeschlossen. Von mir aus könnte morgender erste Spatenstich erfolgen ...
Das sind wahrlich späte Einsichten.Mehdorn stellte am 3. Februar 2000 – zwei Tage, be-vor das Projekt zerstört wurde – im „Stern“ fest:
Innerhalb von eineinhalb Jahren können wir dieFahrzeit von zweieinhalb auf gut eineinhalb Stundenverkürzen. Der Ausbau würde 350 Millionen DMkosten.Demnach müsste dieser Zustand bereits seit Mitte 2001herrschen. Insofern gilt für alle drei Behauptungen: Wort-bruch, Wortbruch, Wortbruch! Das ist skandalös, weil dasProjekt durch Dumpingzusagen kaputtgemacht wordenist, die später nicht eingelöst worden sind.Am 26. Januar 2000 stellte Mehdorn im Verkehrsaus-schuss fest:Ich will diese Technologie in meinem System nichthaben.Damit hat er doch die Maske vollständig fallen gelassen.Auf der ICE-Ausbaustrecke Hamburg–Berlin ist bisherwenig geschehen. Nun soll bis 2004 eine Ausbaustreckemit einer Fahrzeit von 90 Minuten bei Tempo 230 km/hdurch geschlossene Ortschaften befahren werden. Ichgehe davon aus – das ist überprüfbar –, dass diese Zusa-gen erneut gebrochen werden. Das ist die Realität.Man kann aber die Leute nicht für dumm verkaufen.Für die Strecke Hamburg–Berlin wurden 6,1 Milliar-den DM gewährt und kein Pfennig mehr. Die Preisgleit-klausel im Konzept wurde von Rot-Grün gestrichen. DieQualitätsverbesserung durch eine Aufständerung ausStahl anstelle von Beton sollte nach den Erfahrungen aufder Teststrecke im Emsland ebenso wie die in dem Projektunterstellte Inflationsrate zurückverdient werden. Dage-gen eilen Bund und Industrie beim Metrorapid nach Be-kanntwerden einer Finanzierungslücke wie selbstver-ständlich mit weiteren Fördermitteln in Höhe von250 Millionen Euro bzw. 200 Millionen Euro der Indus-trie herbei. Dort wird völlig anders gehandelt. Dort wirdzugelegt, während für das andere Projekt kein Pfennigmehr gewährt wird.
Hartherziger und bösartiger als in diesem Fall kann einProjekt nicht kaputtgemacht werden.
Lassen Sie mich kurz Vergleiche mit dem Rad-Schiene-Projekt Köln–Rhein/Main anstellen. Schätzkos-ten für die politische Entscheidung: 1991 3,4 Milliar-den DM, Vergabepreis 1995 7,8 Milliarden DM,Abrechnungspreis beträgt 11,8 Milliarden DM. Rad-Schiene-Technik Hannover–Fulda–Würzburg: geplanteGesamtkosten 1973 4,2 Milliarden DM, Abrechnungs-preis 11,2 Milliarden DM.
Kilometerkosten: Transrapid Hamburg–Berlin20,9 Millionen DM pro Kilometer, Metrorapid 79 Milli-onen DM pro Kilometer, Transrapid München 85 Milli-onen DM pro Kilometer. Rad-Schiene-Technik Köln–Rhein/Main: Schätzkosten kilometerbezogen 19,2 Milli-onen DM, Vergabepreis 43,8 Millionen DM pro Kilome-ter, Abrechnungspreis 66,5 Millionen DM pro Kilometer.
Ich könnte nun noch die Zahlen für die Strecke Hanno-ver–Fulda–Würzburg anführen; dort ist es genauso.Das heißt also: Es wird zwar überall gebaut, aberMehrkosten haben nie eine Rolle gespielt.
Ausgerechnet beim Erstlingsanwendungsfall Transrapidsollte, was es noch nie in der Vergangenheit gegeben hat,exakt zum Schätzkostenpreis abgerechnet werden. Das istein Skandal.
Dirk Fischer
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Dirk Fischer
Ich komme zum Ende.
Das Transrapidprojekt Berlin–Hamburg ist nicht nur daseinzige, sondern verglichen mit anderen unverändert dasverkehrlich und betriebswirtschaftlich beste Fernver-kehrsprojekt, das es überhaupt gibt. Es besteht eine volleEntscheidungsoption. Deswegen sollte heute im Rahmender Abstimmung über unseren Antrag der Lackmustest imHinblick auf die Glaubwürdigkeit der Worte von Schröderund Stolpe stattfinden, darüber also, ob sie bereit sind,ihre Ankündigungen umzusetzen.
Stolpe im „Focus“ am 30. Dezember 2002:Das hat ausgereicht, zum Transrapidfan für Ber-lin–Hamburg zu werden. Ich wollte die Streckebauen. Denn wir hatten in rasanter Zeit alle Verfah-ren bis zur Baureife durchgezogen.Es muss also Wort gehalten werden; sonst ist das einneuer Fall nach dem Motto: Versprochen und dann wiedergebrochen! Ich kann Minister Stolpe nur auffordern: Er-füllen Sie sich Ihren Traum! Ich fordere die Koalitions-fraktionen auf: –
Herr Kollege, Sie sind jetzt zwei Minuten über der Zeit.
– Helfen Sie mit, dass Stolpes Träume und Schröders
Wünsche erfüllt werden!
Herr Kollege!
Lassen Sie uns das Projekt wieder aufgreifen! Stimmen
Sie für unseren Antrag!
Das Wort hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretä-
rin Angelika Mertens.
A
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit über30 Jahren fördern die verschiedenen Bundesregierungendie Entwicklung und Erprobung der Magnetschwebetech-nik, und zwar ideell und finanziell. Die staatliche Unter-stützung beginnt im Jahre 1969 mit der Studie über einHochleistungsschnellverkehrssystem, die so genannteHSB-Studie, die vom damaligen Verkehrsminister GeorgLeber initiiert wurde.
Zur Internationalen Verkehrsausstellung im Jahre 1979in Hamburg fährt die weltweit erste für den Personenver-kehr zugelassene Magnetschwebebahn auf einer Streckevon 900 Metern. 1981 wird eine Versuchs- und Planungs-gesellschaft für Magnetschwebebahnsysteme gegründet.Die Gesellschafter sind die Deutsche Bundesbahn und dieDeutsche Lufthansa.Von 1984 bis 1987 wird die Transrapidversuchsanlageim Emsland gebaut. 1989 gibt die damalige Bundesregie-rung grünes Licht für die Strecke zwischen den FlughäfenDüsseldorf und Köln/Bonn, die bekanntlich nicht reali-siert wurde. 1994 beschließt die damalige Bundesregie-rung die Realisierung der Strecke Hamburg–Berlin undim Februar 2000 stellen der Bund, die DBAG und die In-dustrie, damals Daimler-Chrysler mit Adtranz, Siemensund Thyssen, gemeinsam, Herr Fischer, fest, die Streckenicht zu realisieren.
– Ich würde Ihnen anraten: Lesen Sie einfach einmalmeine Pressemitteilung dazu nach! Sie sammeln ja solchePressemitteilungen.Das führt zu drei weiteren Beschlüssen. Aus den ver-anschlagten Haushaltsmitteln für das Transrapidprojektwerden 1 Milliarde DM für den Ausbau der schnellenSchienenverbindung Hamburg–Büchen–Berlin reser-viert. Die zweite Verabredung lautet: Mit der DBAG undder Industrie werden Vereinbarungen für den Weiterbe-trieb der Versuchsanlage Lathen getroffen. Es wird weiterdie Vereinbarung getroffen, zügig eine neue Anwen-dungsstrecke zu finden und im Rahmen eines Technolo-giesicherungsprogramms Ressourcen vorzuhalten. Diesedritte Entscheidung lautet, im Zusammenhang mit denLändern neue Anwendungsstrecken zu finden. Das Er-gebnis kennen Sie: die Transrapidstrecke München–Mün-chen/Flughafen und der Metrorapid.Ich denke, dass dieser kurze Rückblick zeigt, dass dieUnion die Diskussion nicht redlich führt. Nämlich egal obsozialdemokratisch oder unionsgeführte Regierungen, siealle haben sich bemüht, dieses Projekt in Deutschland aufdie Spur zu bringen. Zumindest ist es uns gelungen, esschon einmal in China zu realisieren.Ich werfe Ihnen übrigens keine Technikfeindlichkeitvor, obwohl Sie es in 16 Jahren nicht geschafft haben,diese oder irgendeine andere Anwendungsstrecke Realitätwerden zu lassen. Der Wunsch allein reicht eben nicht; ergenügt bei keinem Verkehrsprojekt.
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Sie hätten das Eckpunktepapier für die Strecke Ham-burg–Berlin vor der Wahl 1998 zu einer Finanzierungs-vereinbarung machen können. Sie haben es nicht getan.Sie haben auch keinen der sonst üblichen und beliebtenSpatenstiche gemacht. Dafür muss ich Sie fast loben,denn Sie haben damit wirklich sehr verantwortungsvollgehandelt. Sie verschweigen nämlich, dass in diesemEckpunktepapier einige Sachverhalte stehen, die Sie jetztnicht mehr wahrhaben wollen. Die dort vorgesehene Risi-koaufteilung war abenteuerlich. Wir haben damals ver-sucht, das Projekt zu retten und sind Klinken putzen ge-gangen. Ich war damals verkehrspolitische Sprecherin derFraktion. Mir ist besonders die Hamburger Handelskam-mer im Gedächtnis geblieben. Mit so viel heißer Luft hätteich mir auch die Haare föhnen können.
Ich finde das umso bedauerlicher, als es gerade in Ham-burg eine Menge Vorzeigeunternehmer gibt.Um die Jahreswende flammte dann mit den üblichenVerdächtigen das Thema Transrapid Hamburg–Berlinwieder auf. Der erste Höhepunkt war ein Interview mitdem verkehrspolitischen Sprecher Dirk Fischer, der gleich-zeitig Landesvorsitzender der CDU Hamburg ist. Er be-hauptete in diesem Interview zum Beispiel, der Unterhaltfür die Schienenwege werde aus dem Staatshaushalt be-zahlt.
– Große Frage: Wofür erhebt dann die DB AG Trassen-preise? Es ist auch egal.Das Interview hat den Bürgermeister jedenfalls unterDruck gesetzt.
Es gab dann im Senat eine große Debatte darüber undeinen Beschluss. Ich zitiere das „Hamburger Abendblatt“vom 8. Januar, das unter der Überschrift „Transrapid –Beust gibt nicht auf“ schreibt:Bürgermeister Ole von Beust , CDU, will einenBrief an das Transrapidkonsortium schreiben. Darinerfragt er die Bedingungen, zu denen die bereits ver-worfene Strecke Hamburg–Berlin doch noch gebautwerden könnte.Ich hatte eine Nachmeldung zum Bundesverkehrs-wegeplan erwartet, aber der Berg kreißte nur. Es geht aberinsofern noch weiter, als es einen Bericht über eine Fahrtdes Bürgermeisters mit dem ICE 3 von Hamburg nachBerlin gibt – ich zitiere –:Wenn die Fahrzeit der Eisenbahn von Hamburg nachBerlin wesentlich verkürzt wird, dann hat die Trans-rapidverbindung zwischen den beiden größten Städ-ten Deutschlands für den Hamburger Senat nichtmehr Priorität.
– Was denn nun, Herr Fischer? Mit welcher Seriosität Siedieses Thema behandeln, haben Sie vorhin schon vorge-führt. Ich habe es gar nicht für möglich gehalten, dass Siedas, was Sie im Interview gesagt haben und was ich mirnoch einmal herausgesucht habe, auch noch wiederholenwürden.
Ich rufe es noch einmal ins Gedächtnis. Sie haben ge-sagt: Im gleichen Moment bauen wir die StreckeKöln–Rhein/Main; bei der Grundsatzentscheidung habeder Schätzpreise 3,35 Milliarden DM betragen, der Ver-gabepreis habe 7,71 Milliarden DM betragen und abge-rechnet würden jetzt über 10 Milliarden DM. Deswegensagen Sie: Hätte man den Transrapid gleich behandelt,hätte die Strecke über 18 Milliarden DM kosten können.Das wäre Gleichbehandlung gewesen.Genau das ist Ihr Problem. Die VerbindungKöln–Rhein/Main ist übrigens nicht unser, sondern IhrProjekt. Das war Ihre Verantwortung. Wir haben damalsnicht regiert.
Was ist das eigentlich für eine Argumentation? Beim Um-gang mit Steuergeldern gehen Sie nach dem Motto vor:Darf es vielleicht ein bisschen mehr sein? Wir haben deut-lich gesagt, Hamburg–Berlin werde sich nicht wiederho-len. Es muss für beide jetzt anstehenden Projekte klareKonditionierungen geben. Die Projekte werden Schritt fürSchritt abgearbeitet. Der erste Stichtag ist der 4. Februardieses Jahres, wenn NRWsein Finanzierungskonzept vor-legt.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Horst Friedrich.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Ich habe heute zum ersten Mal etwasProbleme – das gebe ich zu –, einen Antrag, der feder-führend von meinem Freund Dirk Fischer formuliert wor-den ist, inhaltlich ausführlich zu behandeln. Man kann mitheißem Herzen darangehen und sagen: Augen zu unddurch, volle Unterstützung.Niemand kann der FDP und insbesondere mir vorwer-fen, dieses Projekt nicht in allen Phasen der Planung un-terstützt zu haben.
Man kann aber auch mit kühlem Kopf darangehen stattmit heißer Luft, wie von Frau Staatssekretärin angeboten.Dazu kann ich übrigens nur sagen: Was der Minister imZusammenhang mit dem Metrorapid derzeit an heißerParl. Staatssekretärin Angelika Mertens
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Horst Friedrich
Luft produziert, reicht mindestens aus, um sich die Haarezu föhnen.
Bei Abwägung aller Fakten muss man realistischer-weise aber einmal zur Kenntnis nehmen, wie der Sach-stand ist. Der Sachstand ist: 19 von 20 Planfeststellungs-abschnitten für den Transrapid Hamburg–Berlin sindabgeschlossen. Die Planfeststellung ist aufgehoben. DasMagnetschwebebahnbedarfsgesetz ist aufgehoben.In die Bahnstrecke Hamburg–Berlin, das VDE-Pro-jekt 2, sind seit 1991 1 935 Millionen Euro verbaut wor-den, also auch ein bisschen mehr, als bei den Anhörungenzum Transrapid damals genannt worden ist. Das war not-wendig, damit dort mit einer Geschwindigkeit von230 Stundenkilometern gefahren werden kann. Nun sindweitere knapp 700 Millionen Euro nötig, damit dorttatsächlich 230 Stundenkilometer gefahren werden kön-nen. Die Finanzierungsvereinbarung geht bis ins Jahr 2004.Dann werden wir 2,6 bis 2,7 Milliarden Euro in die Eisen-bahn investiert haben und wird – hoffentlich – mit einerGeschwindigkeit von 230 Stundenkilometern gefahrenwerden können. Angesichts dessen ist zu fragen: Ist da-nach – die Realisierung wird sicherlich später sein – derTransrapid noch zu finanzieren?Vor dem Hintergrund hätte ich mir gewünscht, dass wirals Opposition Herrn Stolpe einmal festnageln, was seineAussagen zu den beiden von der jetzigen Mehrheit insAuge gefassten Transrapidprojekten angeht. Was sich täg-lich aus dem Blätterwald, aus Agenturmeldungen zu Aus-sagen des Verkehrsministers, zu Dementis, zu wider-sprüchlichen Aussagen der Landesregierung NRW überdie staunende Öffentlichkeit ergießt, ist fast schon Legion.
Offensichtlich wird von Ihnen, liebe Kollegen von Rot-Grün, genau das vollzogen, was Sie uns bei der StreckeHamburg–Berlin immer vorgeworfen haben. Offensicht-lich gilt das Prinzip: Augen zu und durch! Auf Teufelkomm raus, egal welche Unterlagen vorliegen, diesesProjekt soll offensichtlich gepuscht werden. Gleichzeitigerklärt der Verkehrsminister immer wieder, dass die Zah-len natürlich belastbar sein müssen. Nur, was belastbar ist,definiert offensichtlich er.Wenn man alles zusammen nimmt, ist eines sicher: DasLand NRWwird, wenn es denn auch nur eine Chance ha-ben will, den Metrorapid zu realisieren, zumindest eineBürgschaftsverpflichtung in Höhe von 600 bis 700 Milli-onen Euro eingehen müssen. Ohne das wird sich das Pro-jekt – da können Sie rechnen, was Sie wollen – nicht rea-lisieren lassen. Dazu aber gibt es Landtagsbeschlüsse inNRW, die ganz anders aussehen. Der grüne Koalitions-partner hat es ja schon abgelehnt, dass das Land auch nurbürgschaftsmäßig eine Verpflichtung übernimmt.
Ich wünsche viel Vergnügen bei den Diskussionen.Ich halte das übrigens insgesamt für eine unseriöseDiskussion. Sie führen wieder eine Diskussion, bei derniemand weiß, wohin Sie eigentlich wollen. Ich sage Ih-nen hier: Nach wie vor wollen Sie die Technik eigentlichnicht.
Was Sie bisher betreiben, ist, um Herrn Gabriel zuzitieren, tatsächlich Voodoo-Mathematik. Sie sagen:2,3 Milliarden Euro stehen im Bundeshaushalt zur Verfü-gung, irgendwann ab dem Jahr 2006. Sie versprechenNordrhein-Westfalen mehr. Sie versprechen aber auch,dass das nicht zulasten des Projekts in Bayern geht. Ichkann der Antwort der Bundesregierung vom 24. Januarentnehmen: Verpflichtungsermächtigungen in Höhe von2,3Milliarden Euro sind in folgenden Fälligkeiten zu zah-len: im Haushaltsjahr 2004 200Millionen Euro, im Haus-haltsjahr 2005 300 Millionen Euro, im Haushaltsjahr2006 400 Millionen Euro. Das sind zusammen, wenn ichrichtig rechne, 900 Millionen Euro. Im Jahr 2006 aber sollnach Aussagen der Landesregierung NRWder Metrorapidbereits fahren, weil dann die Fußballweltmeisterschaftdort stattfindet. Wie das funktionieren soll, nachdem Sienoch nicht einmal mit der Planfeststellung begonnen ha-ben, müssen Sie der schlauen Öffentlichkeit erklären.Nein, liebe Freunde, wenn wir tatsächlich lernen wol-len, dann müssen wir uns ein Beispiel an China nehmen:Die haben es in zwei Jahren nicht nur geschafft, denTransrapid zu planen, sie haben ihn auch noch gebaut undinzwischen in Betrieb genommen.
Wir diskutieren in zwei Jahren – das sage ich Ihnen vo-raus – immer noch, ob eine Finanzierung des Metrorapidseriös dargestellt werden kann oder nicht. Das ist unser ei-gentliches Problem in Deutschland. Daran sollten wir ar-beiten.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ali Schmidt, Bünd-nis 90/Die Grünen.Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Kollege Fischer, man sollte nicht versuchen, verlo-rene Schlachten von gestern noch einmal schlagen und imNachhinein gewinnen zu wollen. Sie kommen mit Ih-rem Antrag und mit Ihrem Redebeitrag heute drei bisvier Jahre zu spät.
Der Transrapid Hamburg–Berlin ist aus heutiger Sichteine Geisterbahn. Die Debatte darüber ist eine Geister-debatte. An Geisterdebatten beteilige ich mich nicht.
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Gestatten Sie eine Zwischenfrage des KollegenFischer?Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Ich habe noch gar nichts gesagt, insofern kann er nochgar nichts Vernünftiges fragen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach den zig Debat-ten, die wir zum Thema Hamburg–Berlin schon hattenund die wir nicht um eine weitere Debatte verlängern soll-ten, will ich zu dem Thema reden – –
– Sie lassen mich ja nicht reden.
– Herr Stolpe hat gesagt, das sei seine Traumstrecke.Träumen darf man ja, aber hier im Plenum des DeutschenBundestages wollen wir hart und vernünftig miteinanderrechnen und entscheiden.
Jetzt aber zur Sache. Um was geht es? Lassen Sie michhier realistisch von den möglichen Anwendungsper-spektiven dieser Technologie in Deutschland reden, diehier und heute zur Diskussion stehen. Kollege HorstFriedrich hat mit Recht angemahnt, dass man von einercleveren Opposition eigentlich einen ganz anderen Antraghätte erwarten müssen; das ist aber Ihr Problem.Ich möchte Ihnen sagen, dass wir sehr bewusst nichtdas Verfahren „Augen zu und durch“ gewählt haben undwählen werden.
Vielmehr haben wir bereits im Februar letzten Jahresdie prinzipielle Zusage gemacht – wir haben sie im Koa-litionsvertrag zu Beginn dieser Legislaturperiode erneu-ert –, dass der Bund bereit ist, an der Anwendung dieserTechnologie in Deutschland mitzuwirken und sie mit biszu 2,3 Milliarden Euro an Bundeszuschüssen zu unter-stützen.
Wir alle sollten uns hier aber, liebe Frau KolleginBlank, einig sein, dass wir bei Finanzierungszusagenin einer solchen Größenordnung selbstverständlich be-stimmte Grundlagen brauchen, das heißt, dass wir solideBedingungen definieren müssen.
Diese Bedingungen sind ein – was die Investitionen anbe-trifft – belastbares Finanzierungskonzept und darauf auf-setzend Wirtschaftlichkeitsberechnungen – die im Laufeder Planungen fortzuschreiben sind –, die auch zeigen,dass nachher im Betrieb, nachdem eine solche Technolo-gie in Deutschland irgendwo zur Anwendung gekommenist, nicht dauernd rote Zahlen eingefahren bzw. weitereSubventionen des Steuerzahlers verlangt werden. Überdiese beiden Grundlagen sollten wir uns im ganzen Hauseeinig sein. Alles andere würde in der Tat bedeuten, dassman nach dem Motto „Augen zu und durch“ handelt. Daswäre dann unseriös.Im Vorfeld des für den 4. Februar angekündigten Finan-zierungskonzeptes aus Nordrhein-Westfalen hatte ich nunerwartet, dass seitens der Industrie ein klares Signal kommt,dass man mit dem Wort von der Public Private Partnership,also der Partnerschaft zwischen öffentlichen Investoren undprivaten Investoren, Ernst macht und wirklich einen sub-stanziellen Beitrag einbringt. Das, was bisher zu hören undzu lesen ist, dass es zweimal 100 Millionen Euro als Darle-hen – rückzahlbar – seitens der Industrie geben soll oder ge-ben könnte, ist enttäuschend. Im Klartext: Die Enttäu-schung all derjenigen, die erwartet hatten, die privatenInvestoren würden jetzt Schlange stehen, um an dieser,Herr Kollege Fischer, so erfolgreichen Technologie undauch nachher an der Rendite beteiligt zu sein, ist groß. Wirstellen stattdessen fest, dass die Wirtschaft, die Industrienicht mit Risikobereitschaft zur Sache geht, sondern dasRisiko auf die Steuerzahler abwälzt. Erhoffte Gewinne hin-gegen sollen privatisiert werden.
– Lieber Herr Kollege Fischer, das ist nicht Public PrivatePartnership, sondern eine falsche Akzentsetzung. Das istunseres Erachtens keine gute Grundlage für ein solchesKonzept.
– Herr Kollege Fischer, regen Sie sich doch ab! ImGrunde genommen äußere ich doch die gleiche Kritik wieIhre Freunde in Nordrhein-Westfalen.Ich will darauf aufmerksam machen, dass der Bundbereit ist, über die 2,3 Milliarden Euro hinaus nochmals338 Millionen Euro in die so genannten Sowieso-Maß-nahmen, die Infrastrukturmaßnahmen nach dem Bundes-schienenwegeausbaugesetz, zu investieren. Wenn den-noch ein Kreditbedarf in Höhe von knapp 700 MillionenEuro übrig bleibt, müssen schon ein paar Fragen offen undehrlich beantwortet werden.Die erste Frage lautet: Wer ist eigentlich der Kreditneh-mer dieser 679 Millionen Euro? Denn der Kreditnehmer ist
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Albert Schmidt
nachher Rückzahlungspflichtiger und Zinsschuldner. Werist das eigentlich? Das Land? Wieder der Bund? Oder ist dieIndustrie vielleicht bereit, als Kreditnehmer und damit alsRisikoträger einzusteigen? Diese schlichte Frage sehe ichbis heute nicht beantwortet. Soll diese Rückzahlungspflichtetwa auf den möglichen Betreiber, die Deutsche Bahn AG,verlagert werden, was bedeuten würde, dass Mindererlösezu einer entsprechenden Zins- und Tilgungslast gegenüberden Investitionsvorleistungen geltend gemacht werden kön-nen? All diese Fragen werden wir in Ruhe prüfen.Genauso müssen wir prüfen, ob sich die erneute Ver-kürzung der Züge von einstmals sechs Sektionen proZug in der Vorstudie 2000 auf jetzt nur noch drei Sektio-nen pro Zug,
die für die Fahrgäste mehr Stehplätze bedeutet, auf denKomfort, auf die Nachfrage und damit die Erlössituationauswirkt. Diese Frage muss man rational diskutieren. Daswerden wir tun. Wir werden uns das in aller Ruhe an-schauen.
Dann werden alle an dem Projekt Beteiligten eine sehrverantwortliche Entscheidung zu treffen haben.Lassen Sie uns die Planungen vertiefen, um eine Ent-scheidungsgrundlage mit präzisen Daten und realitätsnahenKosten- und Risikoabschätzungen herzustellen! Lassen Sieuns dafür Sorge tragen, dass der Bund bei den Planungsmit-teln mithilft, damit wir gemeinsam entscheiden können, obdas entstehende Projekt wirklich tragfähig ist! Lassen Sieuns auch darauf achten, dass es im Verlauf der weiteren Pla-nungen, bei der Planfeststellung und bei der Ausschreibung,Revisionspunkte gibt, an denen wir gemeinsam feststellenkönnen und sollten, ob die Grundannahmen bestätigt wur-den oder die Kosten aus dem Ruder laufen. Diese Korrek-turmöglichkeiten müssen wir uns im Interesse aller Betei-ligten offen halten. Auch dafür werden wir uns einsetzen.Kollege Fischer, in diesem Sinne sage ich: Nicht dieStrecke Hamburg–Berlin ist das Thema, sondern ein ver-nünftiger Umgang mit den anderen möglichen Anwen-dungsstrecken.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Norbert
Königshofen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Wenn man die Einlassungender Vertreter der rot-grünen Koalition hört, kann man ei-gentlich nur noch mit dem Kopf schütteln. Sie bekämpfenunseren Antrag und sind gleichzeitig bereit, in ein unsin-niges Verkehrsprojekt in Nordrhein-Westfalen, in ein Fassohne Boden, 2 Milliarden Euro Bundesmittel zu stecken.
Der Metrorapid hat keine verkehrspolitischen Vorteile.Die Fernreisenden müssen in Dortmund oder Düsseldorfumsteigen. Die Autofahrer werden kaum genötigt umzu-steigen; denn 80 Prozent aller Autofahrten im Ruhrgebietfinden in einem Radius von 10 Kilometern statt. Zu glau-ben, dass die Autofahrer zwischendurch auf den Metrora-pid umsteigen, ist so töricht wie das ganze Projekt.Der Bundesrechnungshof – ich hoffe, Sie haben das ge-lesen; ansonsten würde ich Ihnen, vor allem der Regie-rung, empfehlen, das nachzulesen – kommt zu einem ver-nichtenden Urteil.
– Wenn Sie das gelesen haben, kann ich nicht verstehen,warum Sie sich noch dafür einsetzen können. Obwohl derBundesrechnungshof noch nicht einmal die Prognose fürdas Fahrgastaufkommen und das Kostenrisiko für denFahrweg überprüft hat, kommt er zu dem Ergebnis, dassdas Projekt nicht realisierungswürdig ist.Die Fachkompetenz des Wissenschaftlichen Beiratsbeim Bundesminister für Verkehr wurde nicht genutzt, sostellt der Bundesrechnungshof fest. Die Alternativlösun-gen modernerer Rad-Schienen-Technik sind nicht unter-sucht worden. Die versprochene Inbetriebnahme zur Fuß-ballweltmeisterschaft 2006 ist unrealistisch.
Der Kosten-Nutzen-Quotient liegt bei unter 1 Prozent,sagt der Bundesrechnungshof.
Dabei sind Kosten für Park-and-Ride-Anlagen, Schall-schutz und Instandhaltung von Fahrweg und Bahn garnicht erst untersucht worden.Der Bahnexperte Reimeier warnt ebenfalls vor derRealisierung. Er sagt einen Verlust in Höhe von jährlich90 Millionen Euro voraus.In diesem Zusammenhang sind Fragen an die Indus-trie, was sie dazugeben werde, unsinnig. Eine Industrie,die in ein Projekt investiert, das nachweislich defizitärsein wird, wird in Deutschland nicht mehr lange Arbeits-plätze vorhalten können.Wir haben es also mit Dauerinvestitionen in riesigerHöhe zu tun, die angesichts geringer Verkehrswirkungennicht zu verantworten sind, so das Urteil der Fachleute.Das sagt auch Herr Mehdorn, der im Übrigen als Betrei-ber auftreten soll. Er war es übrigens, der die Strecke Ham-burg–Berlin kaputtgemacht hat, nicht die Industrie. Es wardie Bahn AG, die mithilfe des Bundes das Projekt kaputt-gemacht hat. Das will ich festhalten, Frau Staatssekretärin.
Herr Mehdorn sagt jetzt, das Projekt Metrorapid sei miterheblichem finanziellen Risiko verbunden und er glaubenicht, dass der Bund mit den Mitteln für die Infrastruk-turmaßnahmen auskommen werde. Wir sind uns dabei si-
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cher; in diesem Punkt hat er Recht. Es stehen mittlerweile3,5 Milliarden Euro zur Verfügung. Jetzt soll gekürztwerden; Kollege Schmidt hat das angesprochen. Es solldeswegen nur noch drei Sektionen geben. Laut „WAZ“müssen die meisten Fahrgäste stehen. Es wird sehr an-schaulich sein, wenn die ausländischen Gäste kommenund sehen, dass wir die modernste Technik in Deutsch-land haben, die Leute aber über 78 km stehen müssen.Die interessanteste Haltung in dieser Sache nehmen aberdie Grünen ein. Kollege Schmidt sagt beispielsweise,80 Millionen Euro für Planung und Berechnung könntenwir noch zahlen. Das sei zu verkraften, wenn am Ende Sub-ventionen in Milliardenhöhe verhindert werden könnten.
Erst einmal sollen also 80 Millionen Euro ausgegebenwerden. Dabei haben Sie gesagt – ich zitiere Sie wörtlich –:Ich bin überzeugt, dass mit jedem konkreten Pla-nungsschritt die Unwirtschaftlichkeit bewiesen wird.Wenn Sie davon überzeugt sind, Herr Schmidt, dann weißich nicht, wie Sie überhaupt noch einen Eurocent für dasProjekt Metrorapid ausgeben können.Meine Damen und Herren, machen Sie Schluss mitdiesen unsinnigen Projekten und stimmen Sie unseremAntrag zu! Wir haben eine Strecke ins Auge gefasst, diesinnvoll ist. Im Ruhrgebiet würde der Metrorapid die Si-tuation nur verschlechtern.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Reinhard Weis.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Dirk Fischer, dass du dir deine schönen Träume
von der kalten Realität nicht zerstören lässt, ehrt dich.
Mir scheint der von der CDU/CSU-Fraktion vorgeleg-
te Antrag „Transrapid-Projekt Berlin–Hamburg unverzüg-
lich wieder aufnehmen“ dem Geist der Kinotraumwelt und
der Erwartung auf das Happy End entsprungen zu sein.
Wenigstens im Kino ist immer ein Happy End zu sehen,
auch wenn dafür Fakten, Logik und die Realität noch so
sehr strapaziert werden müssen. Wir hier im Deutschen
Bundestag sind von Ihnen schon zigmal zu den Vorfüh-
rungen Ihres Lieblingsfilms Transrapid Hamburg–Berlin
eingeladen worden: Transrapid Hamburg–Berlin die Erste;
Transrapid Hamburg–Berlin die Zweite; heute sind wir, wie
ich glaube, bei Transrapid Hamburg–Berlin die 25. Das
mag Sie, Kollege Fischer, vielleicht dazu veranlasst haben,
jetzt alles auf den Anfang zurückdrehen zu wollen.
Für die beiden aussichtsreichen Landesprojekte Me-
trorapid in Nordrhein-Westfalen und die Flughafenanbin-
dung in München ist Ihr Antrag als Störfeuer zu betrach-
ten. Die Rede, die Norbert Königshofen hier gehalten hat,
bestätigt dies. Deshalb scheint mir, Kollege Fischer: Sie
sind ein schlechter Verlierer.
Wenn schon das Projekt Hamburg–Berlin nicht realisiert
werden kann, dann soll wohl auch kein anderes Projekt in
Deutschland realisiert werden. Anders kann man Ihren
Antrag und den Beitrag, den wir eben von Norbert
Königshofen gehört haben, nicht verstehen.
Die Vorstellung in Ihrem Antrag, man könne jetzt so-
fort an die Planungen vom Februar 2000 anknüpfen, ist so
absurd, dass man nur mit dem Kopf schütteln kann. Sie
wissen doch sehr genau, warum das Magnetschwebe-
bahnprojekt Hamburg–Berlin, das ursprünglich mit circa
3 Milliarden Euro veranschlagt wurde, gescheitert ist.
Es beruhte auf einer Finanzierungsvereinbarung, die so-
wohl dem Bund als auch der DB AG unkalkulierbare Ri-
siken zuschob.
Hingegen wollte die Wirtschaft nur minimale Risiken bei
maximaler Sicherheit für die Refinanzierung und die Ge-
winne eingehen. So kann man kein Public-Private-Part-
nership-Projekt durchführen.
Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesminister für
Verkehr hat 1994, also zur Zeit Ihrer Regierungsverant-
wortung, festgestellt – und an dem Finanzierungskon-
zept bemängelt –, dass man von der Industrie, wenn sie
von der Weltmarktfähigkeit des Magnetbahnprodukts
überzeugt ist, eine höhere Risikobereitschaft erwarten
darf.
Dieser Satz ist wahrhaftig von hoher Aktualität.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fischer?
Bitte schön.Norbert Königshofen
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Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, dass durch das Kon-
zept Public Private Partnership die Aufgabenteilung so
gestaltet wurde, dass die öffentliche Hand in der Vorfi-
nanzierung der Strecke und die Industrie in der Finanzie-
rung der Betriebseinrichtungen ihre Pflichten hatten
und dass sich diese Bemerkung nicht auf Streckeninvesti-
tionen, sondern nur auf die Betriebseinrichtungen bezog,
wohingegen später von der Industrie verlangt wurde, in
den Verantwortungsbereich der öffentlichen Hand einzu-
treten und sich auch an der Strecke zu beteiligen? Können
Sie mir darin zustimmen?
Das kann ich so nicht anerkennen, lieber KollegeFischer,
da wir den Bau einer Strecke nicht von dem Betrieb, derspäter auf ihr stattfinden soll, trennen können. Ich werdein meinem Beitrag später noch einmal darauf hinweisen,wie die unsichere Kalkulationsbasis für den Betrieb unddie Finanzierungsbedingungen für die Strecke miteinan-der verwoben sind.
Auch der Bundesrechnungshof hat zu der übermäßi-gen Risikobelastung der DB AG – jetzt bin ich bei demThema – und des Bundes sehr kritisch Stellung genom-men. Die Systemhersteller hatten von der DB AG seiner-zeit ein garantiertes Nutzungsentgelt zur Refinanzierungihres Einsatzes verlangt. Die Zahlungen sollten unabhän-gig von den tatsächlichen Erlösen erfolgen und notfallssogar aus den DB-Mitteln an die Industrie entrichtet wer-den. Diese Kritik des Bundesrechnungshofes machte da-mals Furore. Ich verweise auch hier auf die Parallelität zuraktuellen Debatte.
Zu einer endgültigen Finanzierungsvereinbarung zwi-schen dem Bund, der DB AG und den privaten Herstellernist es im Sommer 1998, als die Beteiligten es eigentlicherwartet hatten, übrigens nicht mehr gekommen, weil dieIndustrie keine Risiken eingehen und sie beim Bund undbei der DB AG abladen wollte.
– Ja, unter Minister Wissmann. – Die Staatssekretärin hatdarauf hingewiesen, dass Sie es in Ihrer Regierungsver-antwortung in der Hand gehabt haben, die von Ihnenheute eingeklagten Schritte einzuleiten. Sie müssenBundesminister Wissmann, der die Finanzierungsverein-barung seinerzeit nicht unterschrieben hat, dankbar sein,dass er dieses Risiko in Ihrem Namen nicht eingegangenist.
Interessanterweise hat er Ihren Antrag nicht unterzeich-net. Wahrscheinlich hat er sich etwas dabei gedacht.Erneute detaillierte Überprüfungen der Wirtschaft-lichkeit der Strecke Hamburg–Berlin führten im Sommer2000 zum endgültigen Aus für das Projekt. Ich wiederholees: Dies geschah einvernehmlich zwischen den Partnernder trilateralen Vereinbarung, also der Industrie, der DBAG und dem Bund. Wir hatten uns die damalige Ent-scheidung nicht leicht gemacht; darüber haben wir hier imPlenum bereits debattiert.
Von Beginn an war klar, dass eine Magnetbahnstrecke inDeutschland kein reines Verkehrsprojekt ist. Vielmehrging und geht es auch heute noch um die Technologiepo-litik. Aus diesem Grunde waren unter Ihrer Verantwor-tung 1994 alle Bundesressorts aufgefordert, zur Finanzie-rung des Projektes rund 40 Prozent der Investitionsmittelbeizusteuern. Logischerweise kam der größte Anteil ausdem Verkehrshaushalt.Dieses Konzept der Technologiepolitik ist weiterhinaktuell. Das ist auch die Begründung dafür, dass wir in un-serer Koalitionsvereinbarung einen Bundeszuschuss inHöhe von 2,3 Milliarden Euro vereinbart haben.Nach der Entscheidung gegen die Strecke Ham-burg–Berlin, zu der meine Fraktion nachdrücklich stehtund nach der wir konsequenterweise das Magnetschwe-bebahnbedarfsgesetz außer Kraft gesetzt haben, war esuns wichtig, sicherzustellen, das angesammelte Know-how in Sachen Magnetschwebetechnik für den Industrie-standort Deutschland zu erhalten. Deswegen sollten wirheute lieber über zukunftsfähige Projekte als über begra-bene Träume reden.
Von den durch die Bundesländer vorgeschlagenen kur-zen Referenzstrecken erschienen die in Nordrhein-West-falen und Bayern am aussichtsreichsten. Ende Februar fieldeshalb die Entscheidung, die ausgewählten Landespro-jekte mit den industriepolitisch begründeten Zusagen zubezuschussen.Nun hat die öffentliche Diskussion über die Magnet-schwebebahntechnik durch die erfolgreiche Probefahrt inSchanghai enormen Rückenwind bekommen. Es wäregut, wenn beide Landesprojekte, Metrorapid und Anbin-dung an den Flughafen München, realisiert werden könn-ten. Beide Projekte sind, obwohl Nahverkehrsprojekte,
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unterschiedlich strukturiert, sodass mit beiden Projektendie Anwendungsbreite dieser Technologie demonstriertwerden könnte.Aber es ist doch interessant, dass zurzeit aus der CSUZweifel an der Wirtschaftlichkeit der Magnetschwebe-bahnverbindung zum Flughafen München geäußert wer-den.
Wir stehen also mit unseren Bedenken nicht allein.
– Reden Sie einmal mit dem Finanzminister des Freistaa-tes Bayern!Das Land Bayern muss ein schlüssiges Finanzierungs-konzept vorlegen.
– Weil der Zeitpunkt noch nicht reif ist – die Entwicklungdauert noch an –, können wir heute noch nicht darüber re-den.Positiv ist der Planungsfortschritt beim Metrorapid zubewerten. Eigentlich hatten wir damit gerechnet, erst2004 Barmittel in den Bundeshaushalt einstellen zu müs-sen.
Wir freuen uns, dass der Prozess in Fahrt gekommen ist.Deshalb werden wir uns dafür einsetzen, nötige Pla-nungsmittel aus dem zugesagten Plafond für Nordrhein-Westfalen in Höhe von 1,75 Milliarden Euro bereits ab2003 zur Verfügung zu stellen, sofern ein tragfähigesFinanzierungskonzept vorgelegt wird. Wir erwarten dasoffiziell am 4. Februar.Umso unverständlicher ist die weiter zögerliche Hal-tung der beteiligten Industrie, bei der Realisierung desMetrorapid echte Risiken zu übernehmen. Wir unterstüt-zen ausdrücklich Bundesminister Stolpe, für den die Be-teiligung von Thyssen-Krupp und Siemens am Risiko tra-genden Kapital – im Gespräch sind 200 Millionen Euro –eine unabdingbare Voraussetzung ist, um zusätzliche Mit-tel für das Metrorapidprojekt bereitzustellen. Für ihn istdas eine Conditio sine qua non. In diesem Sinne lehnt esMinister Stolpe ab, der DB AG als zukünftigem Betreiberdie Übernahme des Betriebsrisikos und die Last der Refi-nanzierung eines Kredites der Industrie für deren ver-meintliche zusätzliche Risikobeteiligung aufzuerlegen.Auch darin hat er unsere Unterstützung.Die Presse bemüht sich zurzeit – das kam vorhin auchin dieser Debatte zum Ausdruck –, einen Dissens zwi-schen der SPD-Bundestagsfraktion und der Regierung zukonstruieren. Das ist Unsinn. Wir sind uns darin einig,dass es der verbindlichen Zusage der Industrie bedarf,wenn es eine Erhöhung des Zuschussbedarfs geben soll.Wir sind uns auch darin einig, dass eine solche Mitteler-höhung nicht 2003, sondern erst zu einem späteren Zeit-punkt ansteht, nämlich dann, wenn alle relevanten Faktennach Durchführung des Planfeststellungsverfahrens aufdem Tisch liegen. Wir wollen eine verantwortbare Ent-scheidung zur Magnetschwebetechnik. Deshalb mussman einen Revisionspunkt bestimmen, an dem man nochergebnisoffen entscheiden kann, an dem man dann aberauch entscheiden muss. Dieses Verfahren wenden wirübrigens auch bei dem Projekt „Stuttgart 21“ an.
Wenn das erforderliche finanzielle Engagement derIndustrie verbrieft ist und das Land NRW Planung undFinanzierung garantiert, wird die SPD-Bundestagsfrak-tion nicht abseits stehen. Wir werden dann die Mittel imvereinbarten Umfang bereitstellen, aber erst dann undnicht vorher.
In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal daranerinnern, dass es sich um ein Technologieprojekt für denStandort Deutschland handelt. Der Bundesbeitrag zu die-sem Projekt, der heute zur Verfügung steht, ist von allenRessorts gemeinsam aufgebracht worden. Das mussselbstverständlich auch für eventuell anfallende Mehrkos-ten gelten.Nordrhein-Westfalen wird in den nächsten Tagen alleHausaufgaben machen und sie uns vorlegen. Wir rechnenauch mit einer verbindlichen Erklärung über die finanzi-ellen Verpflichtungen des Landes. Bisher ist dies durch ei-nen Landtagsbeschluss aus dem vorigen Jahr ausge-schlossen. Das kann so nicht bleiben.
So weit der Stand der beiden Landesprojekte, die wir mitgroßen Hoffnungen hinsichtlich ihres verkehrstechnolo-gischen Entwicklungspotenzials begleiten und natürlichauch mit den unter den genannten Konditionen zugesag-ten Bundesmitteln unterstützen werden.
Meine Damen und Herren, hier in Berlin startet in die-sen Tagen die Berlinale. Ihr Antrag, Herr Fischer, war dererste Beitrag in der Rubrik „Play it again“.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Renate Blank.
Reinhard Weis
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! KollegeWeis, da Sie die Transrapidstrecke in München überhauptnicht erwähnt haben,
frage ich Sie: Vergessen Sie eigentlich, dass Bayern auchzum Aufbau Ost beiträgt?
Kollege Weis, sie praktizieren hier dieselbe Verschiebe-technik wie im Jahr 2000, als Sie das Aus für die Transra-pidstrecke Hamburg–Berlin beschlossen hatten. Dies warein unverzeihlicher Fehler; denn wie sich jetzt zeigt, istder Verkehrsminister plötzlich zu einem großen Fan die-ser Strecke geworden.
Sie sollten Ihren Verkehrsminister ernst nehmen und
auf ihn hören, meine Damen und Herren.Die damalige Fehlentscheidung hat auch deutlich ge-macht, dass die Grünen diese zukunftsweisende Technikin Deutschland absolut nicht haben wollen. Frau Staatsse-kretärin, im Jahr 2000 wollten Sie uns noch weismachen,dass „man im Herbst nächsten Jahres“, also im Jahr 2001,in 90 Minuten von Berlin nach Hamburg gelangen könne,wie Sie auch sonst hier schon unqualifizierte Äußerungengemacht haben. Denn noch heute braucht man für dieFahrt von Hamburg nach Berlin und umgekehrt weit überzwei Stunden. Um dies nachzuvollziehen, braucht mannur den Fahrplan zu lesen.Nun kommen die Grünen in NRW, die den Transrapidstets abgelehnt haben, ein bisschen in die Zwickmühle.Ich weiß gar nicht, wie sie sich daraus befreien wollen.Aber auch die Bundesregierung, deren Herz nur für dieStrecke in NRW schlägt, was sie bei der Zusammenset-zung der Delegation für die Eröffnungsfahrt in Schanghaideutlich zum Ausdruck brachte, gerät in Bedrängnis; dennAnfang Februar wird die bayerische Staatsregierung einFinanzierungskonzept für den bayerischen Transrapidbeschließen, während in NRW die Finanzierung absolutnoch nicht gesichert ist.
Die nicht gesicherte Finanzierung in NRW kann abernicht bedeuten, dass die Bundesregierung plötzlich fürNRW bei heruntergerechneten Kosten von 3,2 MilliardenEuro den Zuschuss von 1,75 Milliarden Euro um 250 Mil-lionen Euro auf 2 Milliarden Euro erhöht, um Rot-Grünaus der Patsche zu helfen. Das wäre eine eindeutige Be-nachteiligung Bayerns und kann nur mit rot-grünem Filzbezeichnet werden.
Diese verfilzte Kungelei war doch schon im Gange, alsdie ersten Bundeszuschüsse zugesagt wurden: für NRWfast50 Prozent, nach der Zusage des Bundeskanzlers nun weitüber 50 Prozent, und für Bayern mit 550 Millionen Euro nurein Drittel der Gesamtkosten von 1,6 Milliarden Euro.
Es kann doch nicht sein, dass der Kanzler der Genos-sen nur noch seine Genossen kennt! Welches Demokra-tieverständnis in einem föderalen Staat steckt hinter derStirn des Kanzlers, der den Bayern schon „Steine stattBrot“ angekündigt hat, nur weil die Bayern sowohl beiden Landtags- als auch bei den Bundestagswahlen richtigentscheiden.
Der Kanzler hat doch in seinem Amtseid, wenn auch ohneGott, geschworen, dem Wohle des ganzen Volkes zu die-nen. Dies scheint er mehr und mehr zu vergessen.Tatsache ist, dass der Transrapid in Bayern kommenwird, denn das CSU-Kabinett hat die Weichen für eineschnelle Verwirklichung gestellt. Dies ist allein schon da-raus ersichtlich, dass die Vorfinanzierung der Planungs-kosten von 40 Millionen Euro übernommen worden ist.
Bayern handelt und Berlin schläft.
Bayern wird mit einer schnelleren Planung, die für denTransrapid in München erheblich einfacher als die Pla-nungen für den Metrorapid in NRW ist, einer sicherenFinanzierung und, was besonders wichtig ist, einer höhe-ren Wirtschaftlichkeit dafür sorgen, dass der Transrapidin Bayern schneller als in Nordrhein-Westfalen auf denWeg gebracht wird.
Ich bin davon überzeugt, dass die erste Transrapidstreckein Bayern in Betrieb gehen wird, da Sie unseren heutigenAntrag zu Berlin–Hamburg ablehnen.Es ist doch grotesk, wenn die Bundesregierung aufmeine schriftliche Frage am 17. Januar antwortet:Nach derzeitigem Kenntnisstand des Bundes plantdas Land Nordrhein-Westfalen die Inbetriebnahmeim Jahr 2006.Welche Leichtgläubigkeit im Verkehrsministerium offen-bart sich hier! Drei Jahre für Planung und Bau sind inDeutschland eine viel zu kurze Zeit. Dies ist nur in Chinazu verwirklichen. Die Einschätzung Bayerns,
dass der Transrapid erst im Jahr 2008/09 fahren wird, istberechtigt. Ich bin gespannt, ob die Bundesregierung be-reit ist, die Transrapidstrecken in den Bundesverkehrswe-geplan aufzunehmen, damit sich das Parlament damit be-
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fassen kann. Wir jedenfalls haben damals den FahrwegBerlin–Hamburg als wichtige Strecke aufgenommen.Der Transrapid ist ein Projekt mit Signalwirkung fürunser Land. Diese Technologie steht für die Innovations-und Erneuerungsfähigkeit unseres Landes und ist zu-gleich ein gewaltiges Konjunkturprogramm. Rot-Grünsollte danach handeln und nicht nur die Parteischienefahren.
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/300 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-
Michael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan,
Gudrun Kopp, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
EU-Richtlinie zur Haltung von Nutztieren in
nationales Recht umsetzen
– Drucksache 15/226 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die FDP
fünf Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wider-
spruch. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als Erster der
Abgeordnete Hans-Michael Goldmann.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter HerrMinister Bartels aus Niedersachsen,
ich freue mich uneingeschränkt, dass Sie heute hier sind.Dass ich mich auch freuen würde, wenn Sie nach denWahlen am kommenden Sonntag nicht mehr Minister inNiedersachsen wären, werden Sie mir sicherlich nichtübel nehmen;
denn ich gehöre einer anderen Partei an. Aber ich finde esgut, dass Sie sich dem Thema der Tierhaltung zuwenden.Ich weiß auch, welche Position Sie in dieser Frage haben.Auch wenn es der eine oder andere noch nicht gemerkthat: Wir nähern uns jetzt dem absoluten Höhepunkt desheutigen Plenartages; denn wir waren mit dem jetzt zurDiskussion stehenden Thema nicht nur in der britischen„Times“, sondern auch in vielen anderen europäischenMedien vertreten. Die Überschriften waren ein bisschenverwirrend. Eine lautete zum Beispiel: Müssen SchweineBasketball spielen? – Worum geht es? Es geht um die Um-setzung einer europäischen Richtlinie zur Haltung vonNutztieren in nationales Recht. Das hätte die tierschutz-orientierte rot-grüne Bundesregierung eigentlich schonbis zum November 2001 tun müssen. Aber leider hat siewie so oft bei diesem Thema kläglich versagt.
– Nein, Herr Kollege, das hat Ihre Regierung nicht vonuns gelernt. Ich hoffe, dass Sie so etwas nicht ernsthaft be-haupten; denn das, was ich angesprochen habe, ist ja er-schreckend.Es ist nach unserem Verständnis absolut notwendig, dieeuropäische Richtlinie eins zu eins in nationales Rechtumzusetzen; denn es macht keinen Sinn, nationale Al-leingänge zu machen. Solche führen nur zu Verunrechtli-chung und dazu, dass eine gesetzliche Grundlage für ei-nen vernünftigen Tierschutz in Deutschland nicht mehrgegeben ist.
Das hat gerade das Beispiel einer Auseinandersetzung voreinem Gericht in Minden gezeigt. Dort hat ein Schweine-halter gegen das Land Nordrhein-Westfalen prozessiertund gewonnen. Es wurde festgestellt, dass das Land re-gionales Sonderrecht geschaffen hat. Solche regionalenSonderrechte sind häufig auch weit entfernt von jederForm von Fachlichkeit. Das liegt daran, dass sehr vieleMenschen überhaupt keine Ahnung davon haben, wel-chen Anspruch Tiere bei der Haltung haben. Das gilt vorallen Dingen für die Grünen, die dieses Thema immer ineine bestimmte ideologische Richtung schieben und diebeispielsweise suggerieren, dass sich Schweine darüberfreuten, wenn sie auf Stroh lägen. Das ist überhaupt nichtder Fall. Schweine spielen mit Stroh, legen sich aber nichtins Stroh, weil sie es als störend empfinden. Es gibt aucheine Diskussion darüber, wie viel Fläche einem Schweinzur Verfügung zu stellen ist. Die Grünen behaupten, dassSchweine besonders viel Fläche bräuchten. Auch das istfalsch. Das Schwein ist nämlich kein Läufer. Es ist einTier, das sich außerordentlich ungerne bewegt. Wenn essich bewegt, dann nur, um Nahrung zu suchen.Deswegen muss in einer solchen Richtlinie fachlichkorrekt festgeschrieben sein – –
– Lieber Kollege, ich spreche vor dem Hintergrund einesreichen Erfahrungsschatzes; denn ich habe im BereichTiermedizin geforscht und ich fand den Umgang mit die-sen Tieren hochinteressant. Lieber Kollege, wir haben ander tierärztlichen Hochschule schon zu einem Zeitpunktbei Schweinen Lebertransplantationen vorgenommen, alsdie Humanmedizin von Lebertransplantationen nochRenate Blank
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003
Hans-Michael Goldmanngeträumt hat. Erzählen Sie mir also nichts über die Qua-lität dieser Tiere!
Akzeptieren Sie vielmehr einfach einmal, dass diese Tierebestimmte Ansprüche haben und dass man dafür sorgenmuss – das wäre Ihre Verpflichtung gewesen –, dass dieseTiere – nebenbei gesagt, sie sind sehr intelligent – tierge-recht gehalten werden. Sie haben die Haltung dieser Tieremit Verordnungen und Bestimmungen überzogen, die we-der fachlich noch sachlich sind.
– Ich weiß nicht, warum Sie an dieser Stelle lachen. Siescheinen diesem Thema nicht so interessiert gegen-überzustehen, wie es eigentlich nötig ist.
Soweit ich weiß, sind Sie Mitglied in dem Ausschuss, indem diese Dinge entschieden werden.Sie scheinen nicht verstanden zu haben, wie drama-tisch die Auswirkungen dieser EU-Richtlinie für deutscheTierhalter und für die Landwirtschaft sind. Lieber Kol-lege, ich bin dafür, dass die Regionen, in denen eine zu-kunftsorientierte Landwirtschaft und in denen eine zu-kunftsorientierte Tierhaltung betrieben wird, auf demMarkt bleiben. Die Region Vechta – Herr Bartels kommtdort her – hat das höchste wirtschaftliche Wachstum allerniedersächsischen Regionen. Das ist so, weil man in die-sem Bereich nach wie vor eine kluge, marktorientierteAgrarpolitik betreibt, und daran wollen wir festhalten.
– Der Herr Minister Bartels wird Ihnen gleich sagen, dassdie FDP und er in diesem Punkt völlig einer Meinungsind. Außerdem wird der Minister Ihnen gleich sagen,dass er das, was die Grünen seiner Landespolitik antun,ganz furchtbar findet. Das hat er bei jeder Veranstaltungmit Landwirten – wir haben solche Veranstaltungen zumTeil gemeinsam wahrgenommen – gesagt. Die Front ver-läuft nicht zwischen uns und ihm, sondern zwischen Ih-nen und den Grünen, weil die Grünen eine rein ideologi-sche Politik verfolgen,
die eine zukunftsfähige Agrarwirtschaft in Deutschlandim Grunde genommen mit Füßen tritt. Deswegen habenwir diesen Antrag vorgelegt.
Stimmen Sie unserem Antrag ganz einfach zu! SorgenSie endlich dafür, dass – an dieser Stelle ist das sinnvollund klug – europäisches Recht in nationales Recht umge-setzt wird! Tun Sie endlich etwas für den Tierschutz indiesem Bereich! Tun Sie etwas dafür, dass die deutschenSchweinehalter und die deutschen Schweinezüchter, dietüchtige Leute sind, Investitionssicherheit haben und dassdieser Markt den Deutschen erhalten bleibt.Herzlichen Dank.
Jetzt hat der niedersächsische Landwirtschaftsminister
Uwe Bartels das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Das scheint hier eine niedersächsische Veranstal-tung zu werden. Ich will versuchen, die Diskussion auf dienationale Ebene zu heben.Klar ist – das will ich gleich unmissverständlich sagen –:Deutschland muss handeln in Sachen Regelungen zurHaltung von Schweinen.
Da gibt es dringenden Handlungsbedarf, insbesonderenachdem die Schweinehaltungsverordnung im Novem-ber des letzten Jahres aufgehoben worden ist. Seitdemfehlen bundeseinheitliche Regelungen. Darüber, dassdringender Handlungsbedarf besteht, gibt es gar keinenStreit; das haben wir alle miteinander festgestellt.
Natürlich hat die Aufhebung der Schweinehaltungs-verordnung Konsequenzen gehabt, die für uns als diejeni-gen, die für die Durchführung vor Ort zuständig sind,nicht immer erfreulich waren. Man muss ganz klar sagen:Über uns schwebt das Damoklesschwert eines Vertrags-verletzungsverfahrens, weil die EU-Richtlinie nicht frist-gerecht umgesetzt worden ist. Aber das ist in der Bundes-republik ja nichts Neues. Das war ja auch bei derVorgängerregierung schon so.Richtig ist natürlich, dass auf der Länderebene Umset-zungsschwierigkeiten bestanden haben. Vor allen Dingenden Genehmigungsbehörden vor Ort fehlen derzeit ver-lässliche bundeseinheitliche Vorgaben insbesondere fürden Umgang mit Anträgen zum Um- oder Neubau vonSchweineställen. Das ist sicherlich ein Problem und ichhoffe, dass es alsbald zu einer Klärung kommt.Es nützt uns überhaupt nichts, diesen Zustand zu be-klagen. Vielmehr geht es jetzt darum, was wir aus den EU-Vorgaben machen.
Wir, die Vertreter der Länder, mussten Abhilfe schaffen,weil wir in der Zwischenzeit handeln mussten. Nieder-sachsen hat gehandelt. Herr Goldmann hat natürlichRecht, wenn er sagt, Niedersachsen handelt immer gutund richtig sowie wettbewerbsorientiert.
Ich brauche ja nur den Präsidenten des Deutschen Bau-ernverbandes, Herrn Sonnleitner, zu zitieren, Herr
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Schirmbeck, der gesagt hat: Bartels steht für Wettbe-werbsfähigkeit und Marktorientiertheit der niedersächsi-schen Landwirtschaft.
Das ist kein unbedeutender Mensch, keiner, der den Sozi-aldemokraten angehört. Dessen Urteil ist fundiert undtrifft zu. Ich kann nur wiederholen, dass ich froh darüberbin, dass er das erkannt hat.
Sie wissen ja, dass bei Landwirten Schweigen die höchsteForm von Zustimmung ist. Wenn dann der oberste Bauern-präsident sagt, das ist gut, kann man sich darüber nur freuen.Wir haben also die Dinge auf dem Erlasswege geregelt.
– Aber selbstverständlich. – Wir brauchen aber ganz klarund eindeutig Vorschriften, die über die EU-Vorgabennicht hinausgehen.
– Nicht deutlich hinausgehen. Hören Sie genau zu. Sienehmen Ihre Zustimmung zurück, wenn ich das gleichweiter ausführe.
Ich will damit nämlich nicht sagen, dass ich mit allen De-tails in der europäischen Richtlinie einverstanden bin. Dasmuss ich hier ganz klar und deutlich sagen.Meine fachliche Kritik bezieht sich zum Beispiel aufdie Definition eines ausreichenden Tageslichteinfalls undauch auf die Problematik der Platzanforderung insbeson-dere für Mastschweine. Herr Goldmann, auch wenn SieVeterinär sind, Sie liegen nicht richtig. Das, was ich Ihnenjetzt sage, beruht auf wissenschaftlichen und praktischenErkenntnissen in Niedersachsen. Sie liegen nicht richtig,wenn Sie sagen, jüngere Mastschweine hätten kein Be-wegungsbedürfnis.
Gerade die haben ein entsprechendes Bewegungsbedürf-nis. Gerade bei denen müssen wir zusehen, dass die Platz-erfordernisse angemessen berücksichtigt werden. Hierplädiere ich also durchaus für eine Abweichung von denEU-Vorgaben nach oben, wie sie im Übrigen in Nieder-sachsen in der Praxis – schauen Sie einmal in die Betriebehinein – gang und gäbe ist.Meine Damen und Herren, die EU-Vorgaben stellen be-reits einen erheblichen Schritt in Sachen verbindliche Vor-gaben für den Tierschutz dar. Wir sollten nicht – jetzt kön-nen Sie wieder freudig klatschen – in denselben Fehler wiebei der Legehennenhaltungsverordnung verfallen
und meinen, dass wir besondere Lorbeeren bekommenund besonders Gutes für die Tiere tun,
wenn wir zu deutlich über eine Eins-zu-eins-Umsetzungvon EU-Recht hinausgehen.
– Nun einmal langsam. – Die Auswirkungen sehen wirnämlich bei uns im Lande: Die professionelle Legehen-nenhaltung wird woandershin verlagert. Das können wirfeststellen; darüber werden wir ja auch in diesem Jahrnoch einmal im Bundesrat diskutieren.
Ich bedauere ja, Herr Goldmann – Sie haben sich hier ge-rade hingestellt und so getan, als hätten Sie daran nichtmitgewirkt –, dass auch Ihre rheinland-pfälzischen Par-teifreunde, die ja dort an der Regierung beteiligt sind, ge-nauso gegen die niedersächsischen Vorschläge gestimmtund sie abgelehnt haben.
– Aber selbstverständlich. Sehen Sie, meine Damen undHerren, der biegt sich die Wahrheit so hin, wie er sie gernehaben möchte. Aber das ist manchmal so bei der FDP.
– Ich sage ganz klar und eindeutig: Meine Anträge sindvon Bayern, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalzabgelehnt worden.
Damit sind sozusagen die zukunftsfähigen Anträge abge-lehnt worden, Herr Goldmann.Nein, meine Damen und Herren, schon damals habeich für den behutsameren niedersächsischen Weg plädiert,der die Tierhalter mitnimmt. Das ist meine Auffassung.Wir müssen die Tierhalter bei Verbesserungen mitneh-men. Bedauerlicherweise haben, wie gesagt, die nieder-sächsischen Anträge keine Mehrheit im Bundesrat be-kommen. Auf diese Weise hätte die Wettbewerbsfähigkeitunserer niedersächsischen – sogar unserer deutschen –Betriebe gesichert und es hätte erheblich zum Verbrau-cher- und Tierschutz in unserem Land und in Europa bei-getragen werden können.Ich warne jetzt nur davor – deshalb habe ich das zitiert –,heute im Zusammenhang mit der Schweinehaltungsver-ordnung einen ähnlichen Fehler zu wiederholen. Denn beider Schweinefleischproduktion haben wir einen Selbst-versorgungsgrad von 87 Prozent, das heißt, wir sind aufImporte angewiesen. Lassen Sie uns also gemeinsam dieGelegenheit nutzen, dafür zu sorgen, dass das wichtigeMinister Uwe Bartels
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Minister Uwe BartelsNahrungsmittel Schweinefleisch zu einem überwiegen-den Teil in deutschen Ställen produziert wird. Nur dannkönnen wir auf so wichtige Bereiche wie den Tierschutz,die Lebensmittelsicherheit und den Umweltschutz wirk-lich umfassend Einfluss nehmen. Das erreichen wirnicht, wenn wir die Wettbewerbsfähigkeit unserer Be-triebe in der EU dadurch stärker beschneiden, dass wirEU-Vorgaben – ich sage es nochmals – bedeutend ver-schärfen.Wir machen in Niedersachsen sehr gute Erfahrungenmit Haltungsanforderungen, die in Zusammenarbeit mitden Betroffenen, das heißt Behörden, Wissenschaftlern,Praktikern, Verbänden und Landwirten, erarbeitet wer-den. Wir erreichen auf diesem Wege sogar viel mehr, alswir auf gesetzlichem Wege überhaupt erreichen können.So haben wir zum Beispiel Vereinbarungen über die Hal-tung von Hähnchen und von Puten.
Herr Minister, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Goldmann zu?
Ja, aber sicher doch.
Herr Minister Bartels, stimmen Sie mit mir dahin ge-
hend überein, dass Sie und die Freien Demokraten der
Meinung waren, dass sich bei der Legehennenhaltung et-
was tun muss und dass das bis 2012 umgesetzt werden
sollte, und sind Sie wie ich der Meinung, dass das Vorzie-
hen der rot-grünen Bundesregierung auf 2006, vor allen
Dingen durch Frau Ministerin Künast, ein dicker Fehler
ist, der dazu beitragen wird, dass die Legehennenhaltung
aus Deutschland verschwindet, wodurch wir dann über-
haupt keine Möglichkeit mehr haben, Einfluss darauf zu
nehmen, dass die Tiere, die die Eier legen, die wir brau-
chen, artgerecht gehalten werden?
Herr Goldmann, ich bin mit Ihnen einer Meinung, dass
wir in Deutschland einen solchen Alleingang in der Form,
wie er geschehen ist, nicht hätten machen sollen. Aber das
Datum 2006 ist überhaupt nicht das Entscheidende. Sie
haben noch immer nicht verstanden, worum es bei der
Auseinandersetzung ging. Es ging darum, die Kleingrup-
penvoliere in der Legehennenhaltung im Jahre 2003 in die
Verordnung aufnehmen zu können. Ich hätte sogar für
Übergangszeiträume bis zum Jahr 2012 gestimmt. Das
haben wir im Bundesrat gemacht. Entscheidend für mich
war erstens der Punkt, dass jedes Haltungssystem einer
Tierschutzüberprüfung standhalten muss, und zweitens,
dass die Kleingruppenvoliere ab dem Jahre 2003 tatsäch-
lich zugelassen wird. Nur auf diesem Wege wäre sicher-
gestellt, dass wir den hohen Selbstversorgungsanteil, den
wir in Deutschland im Bereich der Hühnerhaltung noch
haben, halten können. Auf anderem Wege ist das nicht si-
chergestellt. Das ist ein fundamentaler Unterschied zu
dem, was Sie gerade hier gesagt haben.
Sie hatten einen langen Redebeitrag und haben eine
Frage gestellt. Ich glaube, dass das ausreicht.
Wie gesagt, meine Damen und Herren, wir agieren ge-
meinsam mit den Betroffenen und erreichen auf diesem
Wege viel mehr. Auch unsere derzeitige Übergangsrege-
lung – damit komme ich auf unseren Erlass zurück – zur
Haltung von Schweinen ist mit der Wissenschaft und den
Betroffenen abgestimmt worden. Das heißt, wir ziehen in
Niedersachsen an einem Strang und haben eine hohe Ak-
zeptanz für den derzeitigen Erlass.
Wir haben aber noch mehr erreicht. In einigen Punk-
ten gehen wir einen Schritt weiter, und zwar betrifft
das die Details der Schweinehaltungsverordnung. Das
ist dort der Fall, wo wir es fachlich für geboten hal-
ten, zum Beispiel bei der Vorgabe zum Tageslichteinfall
in Schweineställen. Damit tragen wir in besonderer
Weise dem Tierschutzgedanken und gleichzeitig in
hohem Maße den gesellschaftlichen Anforderun-
gen Rechnung, und zwar unter Berücksichtigung der
ökonomischen Interessen der Landwirte in Niedersach-
sen. Dies wird mir ausdrücklich auch von Präsident
Sonnleitner bestätigt; einen besseren Kronzeugen gibt
es nicht.
Der Grundsatz des Tierschutzgesetzes besagt, dass der
Mensch aus der Verantwortung für das Tier als Mitge-
schöpf heraus dessen Leben und dessen Wohlbefinden zu
schützen hat. Das heißt auch, dass bei der Festlegung bun-
deseinheitlicher Anforderungen an die Haltung von Tie-
ren – das sage ich ganz deutlich – das Tierverhalten und
nicht das Wunschdenken der Menschen entscheidend ist.
Ich denke, dass wir an einer Eins-zu-eins-Umsetzung eu-
ropäischer Vorschriften grundsätzlich, aber insbesondere
bei der Schweinehaltung gut tun. Über fachlich sinnvolle
Abänderungen in Detailregelungen kann und sollte man
reden, wie wir es bei uns im Lande auch getan haben und
weiter tun werden.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Carstensen?
Wenn Herr Carstensen fragen möchte, bin ich immergern bereit.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1751
Ich wollte auf jeden Fall die Gelegenheit noch einmal
nutzen, Herr Minister.
Wollen Sie aus dem Bundestag ausscheiden?
Nein!
Aber wenn ich in die Zukunft schaue, weiß ich nicht, ob
ich Sie in dieser Richtung noch einmal sehe. Das ist das
Problem.
Haben Sie Vertrauen!
Genau das haben wir!
Herr Minister, wenn Sie in Niedersachsen so gute Ar-
beit leisten – dazu möchte ich im Moment nichts sagen –
und von Herrn Sonnleitner so gelobt werden,
können Sie mir dann einen Grund sagen – denn das habe
ich in Ihrer Rede noch nicht gehört –, warum Sie nicht der
SPD-Fraktion und meinetwegen auch den Grünen hier im
Bundestag empfehlen, dem Antrag der FDP zuzustim-
men?
Herr Abgeordneter, ich wollte gerade in dem Schluss-
teil meiner Rede deutlich machen, was der Bundestag bei
seiner Entscheidung über den FDP-Antrag insgesamt
berücksichtigen sollte. Wenn Sie nicht gefragt hätten,
wäre ich schon mit meinen Ausführungen fertig. Ihre
Frage hat uns immerhin die Gelegenheit gegeben, dass
wir beide noch einmal miteinander geredet haben. Das ist
ja auch nicht schlecht.
Über sinnvolle Änderungen bei Detailregelungen kön-
nen und müssen wir miteinander reden, wie das bei uns im
Lande durch Gespräche mit den Landwirten und mit der
Wissenschaft geschehen ist. Ich habe heute den Präsi-
denten der Landwirtschaftskammer Weser-Ems, Herrn
Scholten, gesprochen. Ich habe ihm mitgeteilt, dass ich im
Deutschen Bundestag über die Schweinehaltungsverord-
nung reden werde und dass ich der FDP sagen werde, dass
wir ein bisschen anders verfahren müssen, als es in der
von ihr vorgeschlagenen reinen Eins-zu-eins-Umsetzung
vorgesehen ist. Er hat mich gebeten, zu sagen, dass er das
durchführt, was in unserem Erlass enthalten ist, und dass
er mit der praktischen Umsetzung höchst zufrieden ist.
Auch er ist also ein Kronzeuge für die Richtigkeit dieses
Erlasses.
Lassen Sie mich Ihnen unseren niedersächsischen Weg
ans Herz legen.
Hiermit lässt sich eine gute Balance zwischen einem fach-
lich ausgewogenen Tierschutz, einem angemessenen Tier-
halterschutz und dem Schutz unserer wirtschaftlichen Wett-
bewerbsinteressen finden. Der niedersächsische Erlass, der
auch von den Landwirten mitgetragen wird, ist dafür eine
gute Grundlage. Er ist eine gute Orientierungshilfe, um die-
sem hohen Anspruch und auch den gesellschaftlichen An-
forderungen bei diesem Thema gerecht zu werden.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gitta Connemann.
Es ist ihre erste Rede.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch ichkomme wie Herr Bartels aus Niedersachsen. Vor 50 Jahrenzählte der Nordwesten unseres Landes zu den Armenhäu-sern Deutschlands. Danach setzte ein einzigartiger Auf-schwung ein. Heute gelten Landkreise wie zum Beispiel dasEmsland, Cloppenburg und Vechta als Vorzeigeregionen.Einer der Hauptmotoren für das Wachstum war und istdie Veredlungswirtschaft, insbesondere die Geflügel-und Schweinehaltung durch landwirtschaftliche Betriebe.Denn rund um diese haben sich Dienstleister, Gewerbeund Industrie angesiedelt. Nachdem die Kommunen auchdurch die Politik der Bundesregierung vor dem Kollapsstehen, sind die Landwirte dort für das Bauhandwerk dieentscheidenden Investitionsträger.Allein in einem Landkreis wie zum Beispiel dem Ems-land beläuft sich die Gesamtbruttowertschöpfung derLandwirtschaft und ihrer nachgelagerten Bereiche aufcirca 820 Millionen Euro.
Zudem hat sich in diesen Regionen ein erhebliches Know-how in Forschung, Entwicklung und Beratung angesam-melt, geballte Kompetenz, die auch dazu genutzt worden
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Gitta Connemannist, den möglichen Belastungen der Intensivtierhaltungfür Gesundheit, Umwelt und Tier entgegenzuwirken, nach-weisbar und wirtschaftlich tragbar.Die Landwirte und ihr Umfeld erbringen Leistungen,anders als die Bundesregierung.
Deren Aufgabe wäre es gewesen, bis zum 1. Januar 2003die EU-Richtlinie in nationales Recht umzusetzen. Wasist aber passiert? Nichts. Das ist ein Novum bei einer Bun-desregierung, die sonst durch Regulierungswut auffällt.
Nach Erlass der EU-Richtlinie wurde die bis dato gel-tende Schweinehaltungsverordnung aufgehoben, aber kei-ne neue Rechtsverordnung erlassen. Was ist die Folge?Landwirte, Schweine und Kommunen bewegen sich imrechtsfreien Raum.
Die Bundesregierung hat eine Rechtsunsicherheit zuverantworten, die dazu führt, dass Landwirte die Planungvon Bauvorhaben und damit Investitionen stoppen müs-sen, dass Kreisveterinäre ohne Rechtsgrundlage im Ein-zelfall entscheiden müssen und – schließlich – dass vierBundesländer die Haltungsbedingungen im Alleinganggeregelt haben.
Den Vogel hat aber das Land Nordrhein-Westfalen mitseinem ersten Schweinehaltungserlass, dem so genanntenKuschelerlass, abgeschossen.
Darin wurde den Schweinehaltern vorgeschrieben, jedesSchwein pro Tag 20 Sekunden individuell zu betreuen.Frei nach Bogart: Schau mir in die Augen, Schweinchen.
Hier gab es nur ein Urteil: ideologisch verbrämt und ander Praxis vorbei. Deshalb ist dieser Erlass überarbeitetworden. Er war auch rechtlich nicht haltbar. Das hat dasVerwaltungsgericht Minden am 11. Dezember 2002 ent-schieden. Dies ist eine richtige Entscheidung; denn dieLandwirtschaft hat es nicht mit Kuscheltieren, sondernmit landwirtschaftlichen Nutztieren zu tun. Ein Schweinist und bleibt nun einmal ein Schwein.Das Urteil ist aber auch ein wichtiges Signal für dieBundesregierung, nicht aus ideologischen Gründen undeinseitig zu weit über die europäischen Vorgaben hinaus-zupreschen.Meine Damen und Herren, einen solchen Alleinganghatten wir bereits mit der Legehennenverordnung. Damitist – ich zitiere den zurzeit in Niedersachsen noch amtie-renden Ministerpräsidenten – „der Sündenfall erfolgt, dersich mit der Schweinehaltungsverordnung nicht wieder-holen darf.“ Zwar haben die vergangenen Wochen ge-zeigt, dass Aussagen von Herrn Gabriel regelmäßig nureine Halbwertzeit von einigen Stunden haben, aber in die-sem Fall hat er ausnahmsweise einmal Recht.Herr Minister Bartels, mich wundert es schon etwas,wenn Sie jetzt sagen, es sollte keinen Alleingang, jeden-falls keinen deutlichen Alleingang, geben. In Ihrer schrift-lichen Stellungnahme gegenüber dem niedersächsischenLandvolk lese ich: Gerade im Bereich des Tierschutzes– darauf kommt es mir an – muss aber auf nationale Al-leingänge verzichtet werden.
Die Folge einer Verordnung wird wie bei der Legehen-nenverordnung sein, dass die deutsche Produktion insAusland abwandern wird. Damit ist weder den Tierennoch den Verbrauchern gedient. Denn die Eier werdenauch zukünftig aus Käfigen kommen, aber eben aus pol-nischen, rumänischen, wie auch immer.Meine Damen und Herren, eine Verordnung wie dieLegehennenverordnung vernichtet aber auch Arbeits-plätze und Betriebe in Deutschland. Nationale Allein-gänge sind schädlich für unsere Wirtschaft. Unsere Land-wirte fürchten nicht die Konkurrenz in Europa, sondernden Würgegriff aus Berlin.
Die einseitigen Verschärfungen treiben lediglich die Kos-ten der Tierhaltung hierzulande hoch und führen damitzu gravierenden Wettbewerbsnachteilen gegenüber aus-ländischen Betrieben. Das dürfen wir nicht zulassen unddas wollen wir auch nicht zulassen.
Die EU-Vorgaben sind deshalb direkt und ohne zusätz-liche Auflagen in nationales Recht umzusetzen.Mindestanforderungen an die Schweinehaltung und anandere Nutztierhaltungen festzulegen ist sinnvoll und er-forderlich. Diese Festlegung darf aber nicht nach gefühl-tem Tierschutz oder gefühltem Umweltschutz geschehen.Auch sozialromantische Träumereien oder Sehnsuchtnach einer vermeintlichen landwirtschaftlichen Idylle sindkeine vernünftigen Vorgaben. Die einzige Basis fürMindestanforderungen müssen nachvollziehbare wissen-schaftliche Erkenntnisse sein, nichts anderes. Diese Er-kenntnisse hatte die EU beim Erlass ihrer Richtlinie. Siehat sich auf ihre wissenschaftlichen Gremien gestützt, indenen alle Länder vertreten sind.Das war auch eine der Kernaussagen des Verwaltungs-gerichts Minden. Im Urteil hieß es: Es gibt keine neuenwissenschaftlichen Erkenntnisse, nach denen Schweine-haltungssysteme, die diesen Forderungen nicht entspre-chen, eine angemessene verhaltensgerechte Unterbrin-gung der Tiere nicht sicherstellen können.
Deswegen hat die Eins-zu-eins-Umsetzung der EU-Vor-gaben nicht nur den Vorteil, dass damit Wettbewerbsver-zerrungen innerhalb der EU vermieden werden; es ist
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damit auch gewährleistet, dass der wissenschaftlicheSachverstand in die Entscheidungen eingeflossen ist.Meine Damen und Herren, wenn die Bundesregierungwissenschaftlich begründen kann, dass EU-Vorgabennicht oder nicht mehr ausreichend sind, dann hat sie die-ses auf europäischer Ebene durchzusetzen, aber nicht ein-seitig in Deutschland durch nationale Vorgaben.
Abschließend weise ich darauf hin, dass mit der Fest-legung von Mindestvorgaben kein Verbot freiwilligerweiter gehender komfortabler Haltungsbedingungen ver-bunden ist.
Dieses sollte aber in der Tat freiwillig bleiben. Es wirddann erfolgen, wenn sich ein Markt für die so erzeugtenProdukte findet. Aber diesen Markt, dieses Verbraucher-verhalten wollen zumindest wir nicht erzwingen. UnserStaat braucht mündige Bürger und Verbraucher. Wir wol-len sie nicht bevormunden. Deshalb kann es nur eine Ent-scheidung geben, nämlich die EU-Richtlinie eins zu einsin nationales Recht umzusetzen. Wir werden deshalb demAntrag in allen Punkten zustimmen.Vielen Dank.
Frau Kollegin, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede
im Namen des ganzen Hauses.
Jetzt hat der Abgeordnete Friedrich Ostendorff das
Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin Antje Vollmer! Sehr ge-ehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kol-legen! Werter Herr Goldmann, zuerst einmal: Ich binSchweinehalter. Meine Schweine liegen im Sommer aufStroh, im Winter im Stroh. Das tun Schweine so. KommenSie zu mir, gucken Sie sich das an. Da können Sie eineMenge lernen.Ich weiß nicht, wie viele Schweine Sie zu Hause hal-ten, Frau Connemann. Aus meiner Erfahrung kann ich Ih-nen versichern, dass meine Schweine die saubersten Tieresind, die ich auf dem Hof halte. Vielleicht – weil Sie sag-ten: Schwein bleibt Schwein – ist das bei Ihnen anders.Es gibt einen weiteren Punkt, zu dem ich mich äußernmöchte: Heute haben hier viele Niedersachsen gespro-chen. Ich bin zwar Westfale, besuche aber häufig mit UweBartels zusammen Veranstaltungen in Niedersachsen. Wirkennen uns gut. Ich kenne auch das Land sehr gut.Des Weiteren wurden Gerichtsurteile zitiert. Es gab da-rüber hinaus aber noch andere Gerichtsurteile. So hat dasGericht in Arnsberg – jetzt müssen Sie zuhören, HerrGoldmann! – in seinem Urteil festgestellt, dass das LandNordrhein-Westfalen sehr wohl das Recht hat, eine eigeneLandesverordnung zu erlassen bzw. einen eigenen Schwei-nehaltungserlass zu verfügen.
Es muss schlecht um die Umfragewerte der FDP beiden Bauern und Bäuerinnen im Lande stehen, HerrGoldmann.
– Lassen Sie mich weiterreden! Anders ist Ihr populisti-scher Antrag insbesondere im Zusammenhang mit derSchweinehaltung nicht zu verstehen. Zwischen der Bun-desregierung und dem Deutschen Bauernverband ist zwarnoch keine Liebe entflammt, aber die Grüne Woche hatdoch wohl deutlich gemacht – das haben Sie sicherlichauch mitbekommen –, dass die Zeit der plumpen Feind-bilder endgültig vorbei ist.
Ministerin Künast hat für ihren Anstoß, über den Zu-sammenhang von Preis, Markt und Qualität zu reden, aufder Grünen Woche zu Recht viel Lob von DBV-Präsi-dent Sonnleitner bekommen. Zeitgleich haben inWestfalen Bäuerinnen und Bauern mit Aktionen auf dieProblematik von Dumpingangeboten des Handels auf-merksam gemacht.
Die Bauern und Bäuerinnen ziehen mit der Politik an ei-nem Strang. Das scheint dem Kollegen Goldmann und derFDPAngst zu machen. Glauben Sie aber nicht, Herr Kol-lege, dass die Bauern und Bäuerinnen auf Ihre Inszenie-rung und billige Stimmungsmache hereinfallen werden!Sie müssen sich schon mit der eigentlichen Materie derTiere befassen, wenn Sie sich Anerkennung in dem Be-rufsstand verschaffen wollen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir arbeiten in Ber-lin an einer neuen nationalen Verordnung für dieSchweinehaltung.
Das oberste Ziel ist eine moderne und zukunftsfähigeSchweinezucht und -mast, die wir Bäuerinnen und Bau-ern den Verbraucherinnen und Verbrauchern jederzeit mitgutem Gewissen vorzeigen können. Wir setzen dabei denTierschutz als Überschrift.Landwirtschaftliche Ställe, die wir besser nicht öffnen,fallen nicht nur im Berufsstand unten durch. Sie zerstörenauch das Vertrauen der Kunden und damit unsere Märkte.Ställe, in denen sich die Tiere wohl fühlen, sind auch eineInvestition in den Markt. Deshalb will Rot-Grün mit demGitta Connemann
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Friedrich OstendorffBundesprogramm „Artgerechte Tierhaltung“ in Zukunftauch für Schweine tiergerechte Stallbauten fördern.
Das machen uns aber auch die führenden Akteure aufden internationalen Schweinemärkten, die Niederländerund Dänen, erfolgreich vor. Die Niederländer haben be-sonders für die Schweinemast Vorschriften erlassen, dieweit über die EU-Norm hinausgehen. Die Dänen sind inder Schweinehaltung bzw. in der Sauen- und Ferkelhal-tung weit vorangegangen. Anders als bei uns wirbt dortdie Branche offensiv damit, dass die dänische Gesetz-gebung deutlich über das allgemeine europäische Niveauhinausgeht.
Im Vergleich zu den dortigen Regeln sind selbst die desnordrhein-westfälischen Erlasses noch sehr zurückhal-tend. Man kann nicht ernsthaft behaupten, dass diese of-fensive Strategie der dänischen Fleischwirtschaft gescha-det hätte. Im Gegenteil: Sie war damit auch im deutschenHandel sehr erfolgreich.Ich möchte hier den Vorsitzenden des Zentralverbandesder deutschen Schweinezüchter, Helmut Ehlen, zitieren:Kürzlich bin ich sehr nachdenklich aus Dänemarkzurückgekehrt. Unsere Kollegen expandieren dortweiter. Sie tun dies trotz vergleichbar hoher Umwelt-standards und trotz schärferer Tierschutzbestimmun-gen.Dieses Zitat zeigt nicht nur, dass in Dänemark schärfereGesetze gelten als bei uns, sondern auch, dass diese kei-neswegs investitionshemmend wirken.Reden Sie nicht immer von Investitionsstau, meineDamen und Herren von der FDP, sondern begreifen Sieendlich die Chancen!
Die Dänen haben im Gegensatz zu Ihnen scheinbar frühererkannt, dass der Markt diesen Weg will. Das sollte unsein Vorbild sein. Nach langen und heftigen Diskussionenhaben das auch die Bauernverbände in Nordrhein-West-falen erkannt. Sie tragen den mit Ministerin Bärbel Höhnausgehandelten Kompromiss inzwischen mit.Ich selbst habe in einer Arbeitsgruppe von Praktikern,Ministeriums-, Kammer- und Verbandsvertretern mit-gearbeitet, die von dem neuen schleswig-holsteinischenStaatssekretär Peter Knitsch geleitet wurde. Diese Arbeits-gruppe hat für Nordrhein-Westfalen einen Schweine-haltungserlass für Mastschweine und Sauen erarbeitet,in dem im Wesentlichen fünf Bereiche neu geregelt wur-den:Erstens. Es gibt mehr Tageslicht in den Ställen.Zweitens. Der Stallboden darf nicht mehr ganz aus Be-tonspaltenboden bestehen, das heißt, es muss befestigteLiegeflächen oder Auslauf geben.Drittens. Schweine sind sehr neugierige und höchstaktive Tiere. Um diesem Bewegungsdrang etwas bessergerecht zu werden, müssen den Schweinen Beschäfti-gungsmöglichkeiten, zum Beispiel Strohraufen oder Spiel-ketten, zur Verfügung gestellt werden.Viertens. Wer einen neuen Stall bauen will, muss nach-weisen, dass eine Arbeitskraft des Betriebs nicht mehr als1 500 Schweine versorgt und betreut. Das sichert den Tie-ren eine Mindestbetreuung und bietet den Bauern, die sichordentlich um ihre Tiere kümmern, einen gewissen Schutzvor der agrarindustriellen Produktion.Fünftens. Der Platzanspruch für ein Schwein wurdevon 0,65 Quadratmeter auf rund 1 Quadratmeter – je nachGröße – angehoben. Um es mit den Worten von Ministe-rin Höhn zu sagen: Drei Schweine in einem Normalbettvon 2 Quadratmetern sind eines zu viel. Eines muss raus.Zwei Schweine sind genug.Meine Damen und Herren, das Bundesministerium hatintensive Gespräche mit Ministerien der europäischenNachbarländer geführt. Es gibt also eine enge Abstim-mung, die der Wettbewerbsfähigkeit unserer Schweine-halter zugute kommen wird. Die EU verordnet Mindest-standards. Es wird deshalb sicherlich keine Verordnunggeben, in der die Standards so tief wie möglich angesetztwerden. Denn das ist auf Dauer weder zum Wohle derTiere noch ökonomisch sinnvoll.Die Verbraucher bestimmen die Nachfrage. Wenn Sieein Schwein zeichnen würden, würden Sie es mit Sicher-heit mit einem Ringelschwanz malen. Der Ringelschwanzund die „Steckdose“ sind die Erkennungszeichen desSchweines. Wenn alle Haltungsbedingungen so tollwären, wie von der FDP behauptet, warum sind dann weitmehr als 90 Prozent der Schweineschwänze abgeschnit-ten, Herr Goldmann? Das heißt, die Tiere werden ver-stümmelt.
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Zeit!
Ich bin sofort fertig. – Sie als Tierarzt, Herr Goldmann,
müssten doch wissen, dass diese Praxis etwas mit falschen
Haltungsbedingungen zu tun hat. Umgekehrt wäre es
richtig. Bisher gehen aber leider fast nur Neuland- und
Biobetriebe den anderen Weg.
Meine Damen und Herren, wir müssen die Ställe den
Tieren anpassen, nicht die Tiere den Ställen. Wir vom
Bündnis 90/Die Grünen lehnen deshalb den Antrag der
FDP ab.
Zu einer Kurzintervention, bezogen auf eine bestimmteÄußerung, erhält der Kollege Goldmann das Wort.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1755
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich stelle zunächst einmal fest, dass Herr Bartels – meiner
Auffassung nach völlig zu Recht – gesagt hat: „Wir set-
zen eins zu eins um“, und dass Sie, Herr Ostendorff, sa-
gen: „Wir wollen mehr als eins zu eins.“ Deswegen haben
sie 50 Millionen Euro für alternative Haltungsformen in
den Bundeshaushalt eingebracht.
Herr Kollege Goldmann, mir ist angekündigt worden,
Sie wollten sich auf eine bestimmte Äußerung beziehen.
Herr Ostendorff, Sie haben soeben behauptet, dass die
FDP mit ihrem Antrag Wählertäuschung betreibe
und es mit der Wahrheit nicht so genau nehme.
Herr Ostendorff, ich möchte Sie auf einen Vorfall gestern
im Ausschuss ansprechen. Ist Ihnen bekannt, dass die So-
zialdemokraten in Niedersachsen ein Schriftstück vertei-
len, das von der Aufmachung her einem Bundestagsantrag
entspricht – ich habe es hier; es ist mit „Änderungsantrag“
überschrieben, mit einer Drucksachennummer versehen
und mit „Berlin“ sowie einer Namenszeichnung, der von
Franz Müntefering, unterschrieben –, in dem steht,
der Bundestag wolle beschließen – –
Herr Kollege Goldmann, ich glaube nicht, dass sich
Ihre Ausführungen auf die Richtigstellung einer Äuße-
rung beziehen.
Doch. Das ist der Vorwurf – –
Der Punkt ist folgender: Sie haben einen Redebeitrag
gemacht. Wenn Sie einen Vorgang aus dem Ausschuss an-
sprechen wollen, dann hätten Sie das in Ihrer Rede tun
sollen. Sie dürfen nicht einfach Ihre Redezeit verlängern.
Es handelt sich um einen Sachverhalt, der sich im Aus-
schuss dargestellt hat. Herr Ostendorff hat soeben be-
hauptet, wir würden Wahlbetrug betreiben. Ich stelle fest,
dass die Sozialdemokraten und das Bündnis 90/Die Grü-
nen Wahlbetrug betreiben, weil sie in Niedersachsen ein
Schriftstück verteilen, das so aussieht wie ein Antrag, der
zum Steuervergünstigungsabbaugesetz gestellt wird.
Dies ist ein massiver, bösartiger Wahlbetrug. Denn die
gleichen Vertreter der SPD und des Bündnisses 90/Die
Grünen haben gestern im Ausschuss einen Antrag, der ge-
nau das beinhaltet, was sie in Niedersachsen verteilen, ab-
gelehnt. Das ist eine ganz böse Sache, die auf dem Rücken
der Bauern und des grünen Bereiches ausgetragen wird.
Ich bitte Herrn Ostendorff und Vertreter der SPD, dazu
Stellung zu nehmen, sich für diesen Vorgang zu entschul-
digen und klipp und klar zu erklären, dass ein solcher An-
trag wahrscheinlich gefälscht worden ist.
Auch ich denke, wir sollten darüber noch einmal spre-
chen. Denn Ihr Geschäftsführer, Herr Goldmann, hat mir
angekündigt, dass Sie sich gegen einen für Sie ungerecht-
fertigten Vorwurf wenden. Deshalb habe ich Ihnen das
Rederecht gegeben. Das hat sich jetzt aber offensichtlich
anders entwickelt.
Ich gebe jetzt dem Kollegen Ostendorff die Gelegen-
heit, darauf zu antworten.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich weiß
nicht, ob das eine Kurzintervention war. Ich denke, das
wird das Präsidium feststellen. Ich bitte darum. Ich
glaube, dass es keine war.
Ich habe nicht von Wahlbetrug gesprochen, sondern
von Nervosität bei der FDP. Wir werden das gleich im
Protokoll nachlesen können. Ich habe in Niedersachsen
keine Flugblätter verteilt. Ich denke, da müsste jetzt je-
mand anderes aufzeigen. Ich kenne dieses Flugblatt nicht.
– Herr Goldmann, überlassen Sie es mir! Ich werde es mit
Interesse lesen. Ich kenne es nicht. Ich kann dazu nichts
sagen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Georg Schirmbeck.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HerrMinister Bartels, bei uns zu Hause würde man sagen: Dasversteht kein Schwein. – Sie sind aus Niedersachsen hier-her angereist und haben Ihre kostbare Wahlkampfzeit ge-opfert, dann aber die ganze Zeit zum Kollegen Goldmanngesprochen, obwohl Sie sich mit ihm in der Sache im We-sentlichen einig zu sein scheinen. Sie hätten die Leute an-sprechen müssen, die Sie überzeugen müssen: Ihre rot-grünen Unterstützer und vor allem die Ministerin Künast,die uns hier mit Abwesenheit bestraft.
Meine Damen und Herren, schon der SchweizerSchriftsteller Friedrich Dürrenmatt wusste: Ideologie istOrdnung auf Kosten des Weiterdenkens. In kaum einemanderen Bereich wird dies deutlicher als in der Agrar- undErnährungspolitik dieser Bundesregierung.
Mittels staatlicher Vorgaben versucht Ministerin Künast,die in den letzten Jahrzehnten gewachsenen landwirt-schaftlichen Strukturen tief greifend umzuwälzen, und ver-hindert so die positive Weiterentwicklung des ländlichenRaums. Anstatt auf Konsens setzt die Bundesregierung aufKonfrontation; anstatt Vernunft herrscht Ideologie.Herr Minister Bartels, ich stimme Ihnen ausdrücklichzu, dass wir die Tierhalter, dass wir die Bauern bei derEntwicklung der Landwirtschaft mitnehmen müssen. DieMinisterin für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-wirtschaft aber macht genau das Gegenteil: Anstelle einerpraxisorientierten und ausgewogenen Politik steht ökolo-gisch verblendeter Dogmatismus.
Gekonnt ignoriert die rot-grüne Bundesregierung dabeiden Sachverstand aller Experten und Landwirte.Seit dem Legehennenurteil des Bundesverfassungsge-richts vom Juni 1999 ist die Schweinehaltungsverordnungals nichtig anzusehen. Seit dreieinhalb Jahren bedarf esdaher einer bundeseinheitlichen Regelung zur Haltungvon Nutztieren, doch wegen der verantwortungslosenUntätigkeit der Bundesregierung existieren bis heutekeine einheitlichen nationalen Rahmenbedingungen fürdie Haltung von Nutztieren.
Das haben Sie eben bestätigt, Herr Minister.Um die Rechtslücke zu füllen, sind einige SPD-regierte Bundesländer durch den Erlass eigener Verordnun-gen vorgeprescht, mit teils katastrophalen Auswirkungenfür die betroffenen Landwirte. Eben wurde bereits die aben-teuerlich anmutende nordrhein-westfälische Schweine-haltungsverordnung erwähnt: Sie ist so praxisfern undvon so tiefer Unkenntnis geprägt, dass man darüber nurden Kopf schütteln kann.
Um den Landwirten endlich Rechtssicherheit zu ge-ben, muss die EU-Richtlinie zur Haltung von Nutztierenunverzüglich in nationales Recht umgesetzt werden. Jedeweitere Verzögerung bedroht bis zu 300 000 Arbeitsplätzein der Wertschöpfungskette Schweinefleisch. KollegeGoldmann, Kollegin Connemann und ich, die wir das an-gemahnt haben, kommen aus den Regionen, in denen dieSchweinehaltung mindestens so wichtig ist wie VW inWolfsburg.
Damit Sie eine Vorstellung davon bekommen, über wel-ches Volumen wir sprechen: Hier geht es nicht um Peanuts;das ist eine Branche mit einem jährlichen Umsatz von20 Milliarden Euro. Wenn aufgrund der bei uns bestehen-den Rechtsunsicherheit Produktionsverlagerungen ins Aus-land stattfinden, dann greift das tief in den Wohlstand die-ser Regionen ein. Zynischerweise führt es dazu, dass dieseProduktionen in Länder abwandern, in denen die Tiere vonden hohen deutschen Standards nur träumen können.
Jede weitere Verzögerung führt zu nachhaltigen Wett-bewerbsnachteilen und zu nicht wieder gutzumachendenFolgen für die Landwirtschaft und die gesamte Branche.Bereits jetzt ist durch die Untätigkeit großer Schaden ent-standen. Anhand der Baugenehmigungen können wir fest-stellen, dass eine große Zurückhaltung herrscht: Wer in-vestiert schon in Anlagen, Maschinen und Geräte, wenner nicht weiß, ob er diese morgen oder übermorgen nochgesetzeskonform betreiben kann?
Mit anderen Worten, meine Damen und Herren: Dierot-grüne Verblendung und Anmaßung führen nicht nurfür die Landwirte zu Verzerrungen des ökonomischenWettbewerbs, sondern laufen auch den Interessen derUmwelt, der Tiergesundheit und des Tierschutzes zuwi-der. Das Ergebnis ist genau das Gegenteil dessen, was Siehier vorgeben erreichen zu wollen.Die nun von der Ministerin angekündigte Verschärfungder Haltungsbedingungen im nationalen Alleingang gehtallerdings noch weit über den herkömmlichen rot-grünenUnfug hinaus. Es führt dazu, dass die Zukunftschancenunserer Landwirte in schon bösartiger Weise mit Füßengetreten werden. Dagegen müssen wir unsere Stimme er-heben und uns wehren.
Wie jeder Unternehmer brauchen unsere Landwirte klarePerspektiven für ihre Investitionen. Das kommt dann denMenschen im ländlichen Raum, also den Landwirten,aber auch den Menschen, die im vor- und nachgelagertenBereich arbeiten, sowie den Tieren und damit dem Tier-schutz zugute. Wir brauchen keine arroganten Politikerund keine arrogante Ministerin, die den Fachleuten etwasvorschreiben wollen, sondern wir brauchen eine sachge-rechte Politik.
Noch im Koalitionsvertrag haben Sie, meine Damenund Herren von Rot-Grün, festgehalten, dass Sie eine leis-
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tungsfähige und wettbewerbsfähige Landwirtschaft undgleichzeitig einheitlich hohe Standards für den Verbrau-cher-, Umwelt- und Tierschutz wollen. Was Sie jetzt aufBundesebene angekündigt haben, geht genau in diefalsche Richtung. Wir fordern daher, dass die EU-Richtli-nie unverzüglich eins zu eins umgesetzt wird. Das dientden Landwirten, der Umwelt und auch dem Wohl derTiere.Herr Minister Bartels, wir haben im NiedersächsischenLandtag 13 Jahre lang unsere Klingen kreuzen dürfen,wenn ich das einmal so sagen darf. Sie haben – das darfman ruhig einmal so festhalten – an der einen oder ande-ren Stelle größeren Schaden von unseren Landwirten unddem ländlichen Raum abgewendet, aber – das muss mangenauso sagen – Sie haben auch an ganz entscheidendenStellen gekniffen. Es hilft uns überhaupt nicht weiter, dassbeispielsweise Ihr Vorgänger, der ehemalige Bundesland-wirtschaftsminister Funke, heute für gutes Geld bei land-wirtschaftlichen Veranstaltungen die rot-grüne Bundes-regierung beschimpft und dass Sie da, wo Sie meinen, dasgeeignete Publikum zu haben, versuchen, die katastro-phale Politik der rot-grünen Bundesregierung für denländlichen Raum schönzureden.
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.
Die Politik, die von der Ministerin Künast betrieben
wird, ist zum Schaden des ländlichen Raums, ohne dass
man mehr Tierschutz erreicht.
Deshalb hätten Sie allen Grund gehabt, das Ihren Partei-
genossen einmal deutlich ins Stammbuch zu schreiben.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin.
Herr Kollege, ich möchte Ihnen im Namen des Hauses,
wie das so üblich ist, zu Ihrer ersten Rede gratulieren.
Weil es Ihre erste Rede war, war ich auch mit der Zeit et-
was großzügiger. Allgemein gilt: Wenn die rote Lampe
leuchtet, heißt das, dass Ihre Redezeit überschritten ist.
Das als Hinweis für die Zukunft.
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/226 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Norbert Röttgen, Cajus Caesar, Dr. Wolfgang
Götzer, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches
– Graffiti-Bekämpfungsgesetz –
– Drucksache 15/302 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Widerspruch
höre ich nicht. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Dr. Jürgen Gehb.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LassenSie mich meinen Redebeitrag mit der Wiedergabe zweierZitate beginnen:Erstens.Damit komme ich zu einem weiteren Zitat, diesmalaus „Max und Moritz“ von Wilhelm Busch, nämlichüber das Sauerkraut der Witwe Bolte, „wovon sie be-sonders schwärmt, wenn es wieder aufgewärmt“.Zweitens.Alle Jahre wieder kommt das Graffito auf dieMenschheit nieder und belästigt sie.Das sind nicht etwa Passagen aus einer Büttenrede, wieman annehmen könnte,
und auch nicht aus der Jungfernrede einer Kollegin odereines Kollegen, die ein besonders poetisch veranlagterwissenschaftlicher Mitarbeiter aufgeschrieben hat; nein,es sind Passagen aus einer Rede unseres Parlamentari-schen Staatssekretärs im Justizministerium zur Debatteüber Graffitischmierereien am 20. Dezember letzten Jah-res. Nachzulesen ist das im Plenarprotokoll 15/17 auf denSeiten 1 352 folgende. Die einschlägige Passage von Ih-nen, Herr Hartenbach, kann man auf Seite 1 358 nachle-sen.
Ich sage das vor einem bestimmten Hintergrund. Zurgleichen Zeit, am 20. Dezember, fand dazu auch eineDebatte im Bundesrat statt. Dort hat Ihr Kollege von derSPD, der Minister Wolfgang Gerhards aus Nordrhein-Westfalen – nicht „Gerhardt“ –,
gesagt, er freue sich sehr darüber, wie sachlich die Debatteüber Graffiti geführt werde. Er hat betont, wie wichtig essei, dass die Vorschriften über die SachbeschädigungGeorg Schirmbeck
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Dr. Jürgen Gehbergänzt würden. Er hat erklärt, das könne und müsse jedereigentlich unterstützen. Das ist der Unterschied zwischender Sachlichkeit einer Debatte im Bundesrat und einerDebatte mit den Mitgliedern der rot-grünen Fraktionenhier im Deutschen Bundestag. Da fällt mein Blick natür-lich auf wen? – Auf den Obergraffitischützer, HerrnStröbele.
Heute Morgen konnte man in der „Berliner Zeitung“ lesen,dass Sie diese Debatte als PR-Gag ansehen,
der kurz vor den Landtagswahlen noch einmal richtigplatziert werden müsste. Nach dem 2. Februar wird Ihnendie Munition ausgehen, dann können Sie nicht mehr be-haupten, der „Lügenausschuss“ oder diese Initiative zumGraffiti fänden allein wegen der Landtagswahlen statt.
Schön wäre es gewesen, wenn Sie sich mit diesem Themasachlich auseinander gesetzt hätten.Bisher wird immer sehr vollmundig gesagt, man müsseetwas gegen Graffitischmierereien tun. Herr Bachmaier,mein Blick fällt dabei auch auf Sie;
das ist ja auch leicht angesichts der Besetzung und derrhetorischen Feuerwerke, die heute sicherlich noch ge-zündet werden. Sie haben gesagt, es bestehe kein signifi-kantes Bedürfnis, den Graffitischmierereien mit dem ma-teriellen Strafrecht zu begegnen, weil – das ist wörtlichin dem Plenarbericht nachzulesen – man bei diesem Katz-und-Maus-Spiel der Täter gar nicht habhaft werdenkönne.
Meine Damen und Herren, wenn die Frage der materiel-len Strafbewehrung davon abhängen soll, ob man im Er-mittlungsverfahren oder im Vollzug der Täter habhaftwerden kann, dann könnten Sie die Hälfte der materiellenStraftatbestände streichen, Herr Ströbele. In einigen Fäl-len wäre Ihnen das wahrscheinlich ganz besonders lieb.
Herr Bachmaier, wenn Sie an anderer Stelle sagen, dasStrafrecht brauche man gar nicht und man könne diesenDingen mit der zivilrechtlichen Haftung begegnen, dannmuss ich Sie fragen: Wer soll als Zivilgeschädigter ei-gentlich dieser Täter habhaft werden? Soll denn der Ei-gentümer hinterherlaufen?
Oder liegt es nicht vielmehr im staatlichen Justizgewäh-rungsanspruch, dass die Staatsanwaltschaft diesem Tatbe-stand in einem Ermittlungsverfahren mit den Vollzugsbe-amten der Polizei nachgeht?
Das ist keine Frage des Zivilrechts.Ein weiterer Einwand, den man immer wieder hört – dashat zum Beispiel Herr Ströbele gesagt –, ist, dass Graffitiauch jetzt schon nach § 303 StGB bestraft werde,
etwa wenn jemand mit der Sprühflasche die Wände desReichstags bemalt, weil die Wand so porös ist. Was istdenn, wenn derjenige zehn Meter weiter geht und eineglatte Wand besprüht? Dann ist es keine Sachbeschädi-gung mehr.
Meine Damen und Herren, man kann doch die Beurtei-lung der Frage, ob Graffiti Sachbeschädigung ist und un-ter den § 303 StGB subsumiert werden muss, nicht vonder Tiefenwirkung der Farbe, von der Beschaffenheit desUntergrundes, vom Lösungsmittel und vom Aufwand derEigentümer, die dagegen vorgehen, abhängig machen.
Sie wenden immer wieder dagegen ein – Herr Ströbele,Sie haben das in mindestens fünfzehn Zwischenrufen be-hauptet –, Graffiti sei Kunst.
Was würden Sie eigentlich sagen, wenn nachts um 3 Uhrein Geigenvirtuose bei Ihnen ins Haus kommt und Ihnenauf der Geige „Fiddler on the roof“ vorspielt?
Selbst unter der Hand eines Künstlers darf das Unrechtnicht zum Recht werden. Es kommt überhaupt nicht da-rauf an, ob diese Graffitischmierereien oder -malereienkünstlerisch oder ästhetisch besonders wertvoll sind. Siemachen ja immer den Einwand, die Strafverfahren seienso aufwendig, weil man Sachverständige hören müsse.Darauf kommt es nicht an. Es kommt einzig und allein da-rauf an, ob sich der Eigentümer unter Wahrung seinesnach Art. 14 GG und § 903 BGB geschützten Eigentumsdaran stört oder nicht.
Mit der Strafanzeige und dem Strafantrag hat der Berech-tigte zu erkennen gegeben, dass das Erscheinungsbild sei-
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nes Eigentums in einer Art und Weise beeinträchtigt wor-den ist, die ihm nicht gefällt. Das – und nur das – ist dasgeschützte Rechtsgut und muss in Zukunft durch die Er-weiterung des § 303 StGB einem besonderen Schutz un-terworfen werden.Deshalb, meine Damen und Herren – Sie reden ja auchnoch, Herr Staatssekretär –, kann ich nur hoffen – jetzt istja Weihnachten vorbei, aber die Faschingszeit fängt an –,dass Sie Ihre Einlassungen weniger an Wilhelm Buschund Witwe Bolte orientieren als vielmehr an der ständigenRechtsprechung, der Literatur und den Gesetzen diesesStaates.Herzlichen Dank, meine Damen und Herren.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hermann
Bachmaier.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn
Herr Gehb redet, muss man immer ein wenig Sorge ha-
ben, dass ihm etwas zustößt. Das ist ein größeres Problem.
– Sie dürfen alles. Das haben Sie aber nicht getan.
Lieber Herr Gehb, um es ganz kurz zu machen: Das,
was Sie gesagt haben, hat mit Ihrem Gesetzentwurf prak-
tisch gar nichts zu tun. Das ist das Problem, mit dem Sie
sich herumzuschlagen haben. Dies hier ist schließlich
kein Wahlkampftermin.
Mit dem Kollegen van Essen bin ich einig, wenn er
fragt, warum wir eine solche Debatte innerhalb eines kur-
zen Zeitraumes zum zweiten Mal führen müssen. Offen-
sichtlich haben Sie ein Profilierungsbedürfnis.
Es gibt kaum ein rechtspolitisches Thema, über das wir
im Parlament häufiger diskutiert haben – das muss man
sich einmal überlegen –, als über das der Graffitisprühe-
rei. Erst in der vorletzten Sitzungswoche haben wir über
einen fast gleich lautenden Entwurf der FDP-Fraktion in
erster Lesung beraten. In Kürze werden wir uns mit einem
Entwurf des Bundesrates befassen, der sich allerdings in
einem nicht unwesentlichen Punkt von den beiden uns
vorliegenden Entwürfen unterscheidet. Darin wird näm-
lich vernünftigerweise auf den schillernden und zen-
surähnlichen Begriff der Verunstaltung verzichtet.
Im vergangenen Jahrhundert war Graffiti – darüber
habe ich mich in diesen Tagen von einem kunstsinnigen
Staatssekretär aufklären lassen – eine hoch angesehene
Richtung in der italienischen Malerei.
Heute allerdings ist es ein Ärgernis, wenn – Herr Gehb,
darin sind wir uns einig – bisweilen fast flächendeckend
Häuserwände, Brücken, Busse und Bahnwaggons be-
sprüht werden.
Alle bisherigen Versuche, diese – vorwiegend von Ju-
gendlichen zu verantwortenden – Aktivitäten einzugren-
zen und zu bekämpfen, haben keine allzu großen Erfolge
gezeitigt. Seit Jahren wird uns nunmehr suggeriert, dass
eine Ergänzung des Straftatbestandes der Sachbe-
schädigung – in den 80er-Jahren ging es um das Ord-
nungswidrigkeitenrecht – Abhilfe schaffen könnte. Dabei
sind bereits die weitaus meisten Fälle – das können Sie
nicht bestreiten – mit der geltenden Fassung des § 303 des
StGB zu ahnden.
– Schauen Sie in die Rechtsprechung!
Sie sollten deshalb nicht so tun, als würde eine Ergän-
zung des Sachbeschädigungstatbestandes das Problem
der Graffiti aus der Welt schaffen.
Wir wissen doch alle, dass die größte Schwierigkeit darin
besteht, die Täter überhaupt zu fassen. Das bleibt das
Hauptproblem. Schauen Sie sich doch die Aufklärungs-
rate an! Dann werden Sie ganz schnell merken, dass da-
ran auch ein ergänzter Straftatbestand der Sachbeschädi-
gung nichts ändern wird.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Bergner?
Die Zwischenfragen des Herrn Bergner sind mir aus derletzten Beratung bekannt. Er wird nachher selbst reden.
Ich habe eigentlich keine Scheu; Zwischenfragen belebendie Reden. Ich möchte nur nicht ständig auf andere Punktegebracht werden; denn sonst bekomme ich Probleme,meine Rede in der mir vorgegebenen Zeit zu beenden.Wir sollten nicht so tun, als würde lediglich eine Er-gänzung des Straftatbestandes Abhilfe schaffen.
Dr. Jürgen Gehb
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003
Hermann BachmaierEin ergänzter Tatbestand der Sachbeschädigung wird da-ran nicht viel ändern. Wenn man die Täter erst einmal ge-fasst hat, kann man sie meist auch bestrafen
und sie dazu zwingen – das ist für die Eigentümer amwichtigsten –, den angerichteten Schaden zu beseitigen.Wir haben bereits anlässlich der Beratung des FDP-Entwurfes deutlich gemacht – das sollten Sie nicht ver-schweigen –, dass wir durchaus bereit sind, den § 303StGB so zu ergänzen, dass auch die geringe Anzahl derFälle, bei denen es sich nicht um eine Substanzverletzunghandelt, strafrechtlich erfasst werden kann.Wir sind allerdings nicht bereit – auch das sage ich hierklar und deutlich – den von Ihnen wiederum vorgeschla-genen Begriff der Verunstaltung in das Strafgesetzbuchaufzunehmen. Dieser Begriff gibt den Strafverfolgungs-behörden und Gerichten Steine statt Brot.
Ein Tatbestandsmerkmal der Verunstaltung würdedazu führen, dass sich die Polizei, die Staatsanwaltschaf-ten und die Gerichte mit der Frage herumschlagen müss-ten, ob die jeweiligen Graffiti verunstaltender Natur sindoder nicht. Dieser Begriff hat in unserem Strafgesetzbuchwahrlich nichts zu suchen.
– Ja, aber in einem anderen Zusammenhang. Mein Gott!
Der Entwurf des Bundesrates verzichtet aus gutemGrund auf diesen Begriff. Allerdings kommt auch derBundesrat nicht ohne unbestimmte Rechtsbegriffe aus,die einer weiteren Interpretation durch die Rechtspre-chung bedürfen. Wenn wir also den Straftatbestand derSachbeschädigung ergänzen, sollten wir alles daran set-zen, die bisherige klare Formulierung dieses Straftatbe-standes nicht durch unbestimmte Rechtsbegriffe zu ver-wässern.Aber auch dann, wenn § 303 StGB entsprechend er-gänzt wird, wird kein Täter mehr gefasst werden als heute.Das sollten wir der Bevölkerung nicht verschweigen.
Entscheidend für die Bekämpfung von Graffitisprühe-reien sind vernünftige Präventions- und Strafverfol-gungsmaßnahmen durch die Bundesländer. Wir solltenden Menschen also nicht vorgaukeln, dass eine Ergänzungdes materiellen Strafrechtes alle Probleme in der Praxisbeseitigen würde.
Das tun Sie mit großer Vorliebe immer kurz vor Wahlen.
Wir werden noch in diesem Jahr zusammen mit Ihnennach einer sachgerechten Lösung suchen. Es wird leidertrotzdem Graffitischmierereien geben, wenn die Aufklä-rungsmethoden nicht verbessert werden.
– Regen Sie sich bitte nur in Maßen auf, lieber Herr Gehb.Vielen Dank.
Als nächster Redner hat der Kollege Jörg van Essen das
Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wieder Kollege Bachmaier habe auch ich mich sehr darübergewundert, dass wir heute diese Debatte führen müssen,und zwar nicht deshalb, weil ich mich nicht über Graffitisund die Verunstaltung unserer unmittelbaren Umgebung,von Fahrzeugen und vielen anderen Dingen ärgern würde– das tue ich genauso wie die Kolleginnen und Kollegender CDU/CSU-Fraktion –, sondern weil wir in der vor-letzten Sitzungswoche hier eine, wie ich finde, gute De-batte zu diesem Thema hatten, in der wir wirklich alle Ar-gumente ausgetauscht haben.
Wir sind hier doch ein oberstes Verfassungsorgan undkein Tourneetheater, das immer das gleiche Stück aufführt.Ich denke, dass dieses Haus Anspruch darauf hat, dass wirbestimmte Dinge wie beispielsweise Würde wahren.
Dazu gehört, dass Debatten, die vor kurzer Zeit stattge-funden haben und wozu es praktisch keine neuen Argu-mente gibt, nicht neu geführt werden. Ich ärgere michwirklich sehr darüber.Ich möchte mich aber auch in der Sache äußern. DieDebatte in der vorletzten Sitzungswoche hat gezeigt– da gebe ich dem Kollegen Bachmaier Recht; darüberhabe ich mich gefreut –, dass die Bundesregierung bereitist nachzudenken. Allerdings hat sie Kritik an unseremund Ihrem Vorschlag geübt, den Begriff des Verunstal-tens zu verwenden. Ich signalisiere hier aber sehr deut-lich: Wenn wir tatsächlich dazu kommen, die vorhandeneStrafbarkeitslücke – auf die hat der Präsident des Ober-landesgerichtes Brandenburg in der letzten Woche aus-drücklich hingewiesen; wir sprechen also nicht über eineChimäre – gemeinsam zu schließen, dann bin ich damitzufrieden.Ich wehre mich allerdings gegen die vom KollegenBachmaier wieder vorgetragene Kritik an dem Vorschlagder FDP und auch der CDU/CSU, den Begriff des Verun-staltens ins Strafgesetzbuch aufzunehmen. Das ist näm-
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lich kein neuer Begriff für das deutsche Strafgesetzbuch,wie Sie tun.
§ 134 StGB enthält diesen Begriff bereits. Jeder kann ein-mal nachsehen, wie lange er dort schon vorkommt. Des-halb soll niemand so tun, als ob die FDP – wir haben denVorschlag zuerst gemacht – und nun auch die CDU/CSUirgendeinen Begriff in das deutsche Strafgesetzbuch ein-führen wollten, der Richtern und Staatsanwälten Pro-bleme machen würde. Diese hat es bei der Einführung des§ 134 in das Strafgesetzbuch nicht gegeben und diesewürde es auch jetzt nicht geben.Wir wollen – das will ich ganz deutlich sagen – ein kla-res politisches Signal, dass wir das Ganze nicht für Kunsthalten. Dass es mit Kunst wirklich nichts zu tun hat, zeigtsich ganz deutlich am so genannten Scratchen von Fens-tern. Das hat in Gegenden angefangen, in denen esS-Bahnen gibt. Dabei wird natürlich überhaupt keineKunst produziert,
sondern schlicht und einfach ein Fenster zerstört. Genaudas gleiche Ziel wird auch mit den Graffitis verfolgt. Hiergeht es um pure Zerstörungslust, um pure Beschädi-gungslust.
Deshalb ist es ganz wichtig, dass wir das politischeSignal setzen, dass wir nicht bereit sind, das hinzuneh-men; denn die Leidtragenden sind häufig Menschen, dieunter großem finanziellen Aufwand – sie leben nichtunbedingt in rosigen finanziellen Verhältnissen – bei-spielsweise ihr Haus neu gestrichen haben und nach kur-zer Zeit erleben müssen, dass ihr Haus in einer geradezuunerträglichen Weise von Graffitisprayern beschädigtworden ist. Ihnen fehlt dann häufig das Geld, das wiederzu beseitigen.Wir als FDP sagen dazu ein klares Nein. Wir wollen,dass die entsprechenden strafrechtlichen Lücken ge-schlossen werden.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Christian Ströbelevom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Ich gestehe, dass auch ich das Problem habe, heute wie-der zu demselben Thema wie vor 14 Tagen zu reden. Diesmuss wohl deshalb schon wieder sein, weil am Wochen-ende in Hessen und Niedersachsen Wahlen sind. Der zeit-liche Zusammenhang ist so eindeutig, dass man ihn ei-gentlich gar nicht mehr benennen muss.
Sie sehen ja auch, dass sich das Interesse der Öffentlich-keit an diesem im wahrsten Sinne des Wortes so spritzi-gen Thema in Grenzen hält.Ich habe mir einen bekannten Strafrechtskommentarmitgebracht, um der Sache einmal auf den Grund zu ge-hen.
Sie tun immer so, als ob das zehntausendfache Sprayenund die Sachbeschädigungen in U-Bahnen sowie an öf-fentlichen und privaten Gebäuden von der Bundesregie-rung, die angeblich aus einer schwachen SPD und
einer grünen Partei, die so etwas gerne erhalten möchte,besteht, einfach hingenommen würden, und sie deshalbnicht zu Potte komme. Deshalb gebe es auch keine Ge-setze und könne es immer so weitergehen.
Das Gegenteil ist wahr:
Schon heute wird das Zerkratzen von Fensterschei-ben, das man in fast allen S-Bahnen von Berlin sehenkann und über das auch ich mich immer sehr ärgere, miterheblichen Strafen bedroht.
In diesem Buch steht, dass dies mit einer Freiheitsstrafevon bis zu drei Jahren geahndet werden kann.
Dasselbe gilt grundsätzlich auch für das Sprayen.
Dass das Sprayen grundsätzlich strafbar ist, wenndie Beseitigung einen erheblichen Aufwand erfordert,wird mit unendlich vielen Zitaten aus der Rechtsprechungbelegt.
Das Sprayen ist heute schon – um bei dem Beispiel, dasich in der Tat beim letzten Mal gebracht habe, um den Un-terschied klar zu machen, zu bleiben – nicht nur dannstrafbar,
wenn es an der porösen Fassade des Reichstags geschieht,sondern auch dann, wenn man zum Beispiel das äußereJörg van Essen
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003
Hans-Christian StröbeleErscheinungsbild einer Sache ganz erheblich anders ge-staltet, als das der Eigentümer will
– es ist egal, ob das ein öffentlicher oder ein privater Ei-gentümer ist –, und ein erheblicher Aufwand erforderlichist, um das wieder zu beseitigen.Das Problem – an diesem reden Sie vorbei – ist, dass mandie Leute in aller Regel nicht fasst. Die Aufklärungsquoteist regional unterschiedlich und liegt zwischen 10 und35 Prozent. Hier kommen Sie mit Ihren Strafen nicht weiter.Sie versuchen Signale zu setzen und so zu tun, als ob Sie miteiner solchen Gesetzesergänzung oder einer neuen Geset-zesvorschrift dagegen ankämen. Das schaffen Sie leidernicht. Sie träufeln den Leuten Sand in die Augen und tun wieimmer so, als ob Sie mit einer Gesetzesverschärfung gegensolche gesellschaftlichen Phänomene angehen könnten.
Die Beseitigung dieser Zerstörungen und die Wieder-herstellung der besprühten Fläche sind in der Tat sehr häu-fig nicht nur ein Ärgernis, sondern für die betroffenen Ei-gentümer und die öffentliche Hand mit erheblichenKosten verbunden. – Es handelt sich um einen mehrstel-ligen Millionenbetrag.
Das kann niemand wollen. Niemand kann dem Eigentü-mer oder der öffentlichen Hand zumuten wollen, dass dasGeld, das man in anderen Bereichen ganz dringendbenötigt, dafür ausgegeben wird.Ich habe heute in der Zeitung gelesen, dass die Kinderin Berlin einen Teil ihrer Schulbücher selbst bezahlensollen. Mit dem Geld, das jetzt für die Beseitigung derdurch das Sprayen entstandenen Schäden ausgegebenwird, könnte man den Kindern ihr Schulmaterial auch inZukunft gratis zur Verfügung stellen.
Das kann nicht sein. Das will auch keiner. Auch die Grü-nen wollen das nicht.Trotzdem, Herr Kollege van Essen, sind einigeSprayereien Kunst. In Berlin – ich habe schon mehrfach da-rauf hingewiesen – gab es ein riesiges Bauwerk, das wir allenicht haben wollten und bei dem wir froh waren, als es wegwar, nämlich die BerlinerMauer. Sie ist unendlich viel be-sprayt worden. Später wurden diese Werke, die darauf zusehen waren, in Kunstkalendern verbreitet. Auch ich habeeinen solchen Kalender bei mir im Büro hängen. In einzel-nen Fällen war dies tatsächlich Kunst. Ich will diese Graffitinicht verteidigen, aber wir sollten vor der Tatsache, dassauch Kunstwerke darunter sind, die Augen nicht ver-schließen. Das hat auch die Rechtsprechung so entschieden.
Herr Kollege Ströbele, erlauben Sie eine Zwi-
schenfrage des Kollegen van Essen?
Ja, es ist schön, mit ihm zu diskutieren.
Herr Kollege Ströbele, Sie haben gerade über Kunstgesprochen. Ist Ihnen bekannt, dass die Deutsche Bahn,die in besonderer Weise unter Graffitischmierereien zuleiden hat, Graffitikünstlern Flächen zur Verfügung ge-stellt hat, um sie künstlerisch zu gestalten, aber dieses An-gebot nicht angenommen worden ist? Offensichtlich hatteman etwas ganz anderes vor, nämlich Sachbeschädigungund nicht Kunst.
Nein, das stimmt nicht. Herr Kollege van Essen, mir istbekannt, dass viele öffentliche Stellen, nicht nur die Deut-sche Bahn, sondern beispielsweise auch viele Bezirke inBerlin, Sprayern Wände zur Verfügung gestellt haben.Dass das nicht angenommen worden ist, ist nicht richtig.Leider ist aber das sonstige Sprayen nicht viel weniger ge-worden.Dazu will ich eine letzte Bemerkung machen. Ich habeviele Menschen verteidigt, die wegen solcher Vorwürfe vorGericht standen. Daher weiß ich, dass das Strafgesetzbuchin solchen Fällen in aller Regel zur Anwendung kommt undStrafen ausgesprochen werden. Warum sprayen dieseLeute? – Die meisten sprayen nicht, weil sie Kunstwerkevollbringen wollen, sondern weil sie ihr Markenzeichen inder Öffentlichkeit sichtbar machen wollen. Ich habe daseinmal mit Hunden verglichen. So wie diese ihr Marken-zeichen an Bäumen hinterlassen, so wollen viele Sprayerihr Markenzeichen überall in der Stadt hinterlassen. Dasmüssen wir nicht gut finden und auch nicht billigen. Aberwir dürfen uns nicht dem Irrglauben hingeben, dass dieGraffiti dann, wenn eine zusätzliche Vorschrift ins Strafge-setzbuch aufgenommen wird, weniger werden.Das Interessante für viele dieser Sprayer ist leider dasRäuber-und-Gendarm-Spiel. Sie reizt das Verbotene.Wir alle wollen das verhindern. Deshalb sollten wir unsGedanken darüber machen – diese Idee haben auch Siegehabt –, den Gutwilligen unter den Sprayern Ersatz-flächen zur Verfügung zu stellen. Zudem müssen wir inder Öffentlichkeit, gerade auch bei Schülern und jungenLeuten, die so etwas machen, möglichst drastisch klar ma-chen, dass durch die Beseitigung von Graffiti und die da-mit verbundenen Kosten eine anderweitige und sinnvol-lere Nutzung von öffentlichen Geldern verhindert wird.Ich glaube, viele kann man überzeugen, nicht dort zusprayen, wo es unmittelbar beseitigt werden muss, weilsonst der Gebrauchswert der Gegenstände wie bei U- undS-Bahnen ganz erheblich vermindert wird.All das wollen wir nicht. Wir wollen andere Wege ge-hen. Wir wollen schädliches Sprayen verhindern, abernicht immer mit dem Hammer des Strafgesetzbuches undder Kriminalisierung.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1763
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Christoph Bergner
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol-
lege Ströbele, Sie haben diesen Antrag als einen PR-Gag
bezeichnet.
Als jemand, der lautstark plebiszitäre Elemente im
Grundgesetz fordert, sollten Sie für eine Massenpetition
aus meinem Wahlkreis, die folgenden Wortlaut hat, be-
sondere Aufgeschlossenheit zeigen:
Die Unterzeichner fordern den Deutschen Bundestag
auf, die Regelungen des Strafgesetzbuches so zu än-
dern, dass unerlaubtes Besprühen oder Bemalen von
fremdem Eigentum, so genannte Graffiti-Tags und
andere, regelmäßig als Sachbeschädigung gelten und
damit als Straftat verfolgt werden können.
Diese Massenpetition, Herr Kollege Ströbele, liegt seit
über einem Jahr im Deutschen Bundestag und hat bisher
noch keine sachgerechte Behandlung gefunden.
Dies sage ich mit Hinweis darauf, dass offenbar auch der
Petitionsausschuss den Sachverhalt als im Rechtsaus-
schuss noch nicht ausreichend diskutiert betrachtet.
Die Unterzeichner, zu denen ich gerne noch etwas sa-
gen möchte,
hätten für alles Mögliche Verständnis, aber nicht dafür,
dass wir das Thema einfach liegen lassen. Vielmehr muss
es immer wieder aufgegriffen werden. Zu den Unter-
zeichnern, um auch dies klar zu sagen, gehören ehren-
werte Bürger der Stadt, aus der ich komme – Künstler,
Vertreter von Verbänden und Vereinigungen der Stadt –,
die vor allen Dingen ein Anliegen haben: dass wir uns mit
solchen Anträgen und einer solchen Debatte der Dimen-
sion der Problematik bewusst werden.
Die Dimension hat jetzt die Größenordnung einer ge-
sellschaftlichen Herausforderung erreicht. Die gesell-
schaftliche Herausforderung lautet aus der Sicht dieser
Unterzeichner: Bleibt der Anblick einer Stadt so etwas
wie das Gemeingut seiner Bürgerinnen und Bürger oder
fällt er unter das Faustrecht einer Minderheit, die sich mit
gemalten Albträumen an jeder sichtbaren Fläche verewi-
gen möchte? Dieses Anliegen macht deutlich, dass es hier
nicht nur um die Einzelbelange eines Hauseigentümers,
sondern um die Frage geht, wie ernst wir den Umstand
nehmen, dass wir über Denkmalschutzgesetze, über Sa-
nierungs- und Gestaltungssatzungen der Kommunen,
über bauaufsichtliche Vorgaben und über die Berufung
von Gestaltungsbeiräten gemeinschaftlich versuchen, das
Bild einer Stadt in einem Prozess konsensualer Mei-
nungsbildung zu einer besonderen Ausprägung zu brin-
gen, und dann eine Horde von Spraydosenvandalen
kommt und diesen Anblick in einer einzigen Nacht zu-
nichte macht. Mit diesem Problem haben wir uns ausei-
nander zu setzen.
Aus meiner Sicht wird die Dimension des Problems in
der Frage deutlich, ob der Staat bereit und in der Lage ist,
diese Willkürhandlung gegen die Gemeinschaft einer
städtischen Bürgerschaft mit einer zweifelsfreien Ant-
wort des Strafrechts zu unterbinden und zu verfolgen.
Herr Ströbele, ich weiß nicht, von welchen Auf-
klärungsquoten Sie sprechen. Ich habe Zahlenangaben
aus der Stadt Halle, die besagen, dass polizeiliche Auf-
klärungsquoten in einzelnen Jahren durchaus bei 70 Pro-
zent lagen. Aber die Erfolgsquote bei der strafrechtli-
chen Verfolgung ist aufgrund der Zweifelhaftigkeit der
Strafrechtsregelung so erbärmlich, dass inzwischen auch
diejenigen, die die Ermittlungen zu betreiben haben, frus-
triert und nicht mehr motiviert sind, diesen Dingen wirk-
lich nachzugehen.
Strafrechtliche Verfolgung wird auch derjenige für un-
entbehrlich halten, der begriffen hat – auch dafür gibt es
Belege –, dass diese Graffitisprühereien oft genug Ein-
stiegs- und Wegbereitungsdelikte für Vandalismus und
kriminelles Handeln sind.
Herr Kollege Bergner, erlauben Sie eine Zwi-
schenfrage des Kollegen Ströbele?
Bitte.
Bitte schön, Herr Ströbele.
Herr Kollege, können Sie mir sagen, in welchen Jahrendie Aufklärungsquote in der Stadt Halle bei Graffiti oderanderen Sachbeschädigungen 70 Prozent betragen hatund in wie vielen Fällen Täter zweifelsfrei festgestelltHans-Christian Ströbele
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003
Hans-Christian Ströbeleworden sind, es aber nicht zu einer Verurteilung gekom-men ist, weil angeblich die Vorschriften des Strafgesetz-buches nicht ausreichen?
Herr Kollege Ströbele, ich bin gern bereit, Ihnen die
Zahlen zu liefern, die wir bei einer Anhörung im Mai 2000
in der Stadt Halle zur Kenntnis bekamen. Damals wurde
uns von der Polizei erklärt, dass wir mit einer Auf-
klärungsquote von bis zu 70 Prozent rechnen könnten und
dass insgesamt drei Tatverdächtige tatsächlich verurteilt
worden seien. Mit einem solchen Verhältnis haben wir es
zu tun.
Ich habe noch keinen Polizisten erlebt – die Polizisten
bemühen sich bei diesen Ermittlungen ja beträchtlich –,
der, wenn er nicht das Gefühl hat, für den Papierkorb zu
arbeiten, nicht mit demselben Nachdruck, mit dem ich es
über Jahre tue, an dieser Stelle eine Strafrechtsverschär-
fung fordert.
– Die Motivlage ist völlig eindeutig.
Herr Kollege Ströbele, mir macht aber Sorgen – hier
stehen wir in der Gefahr der Bagatellisierung; auch dies
haben über Jahre geführte Gespräche mit der Polizei er-
geben –, dass wir es mit einem Einstiegs- und Weg-
bereitungsdelikt zu tun haben. Das Kratzen geschieht
dort, wo man Sorge hat, dass die Sprayereien leicht abzu-
waschen sind. Nach dem Kratzen kommt das Zertrüm-
mern und nach dem Zertrümmern kommen weiter ge-
hende Sachbeschädigungen.
Herr Kollege Ströbele, Folgendes hat mich in den Jah-
ren, in denen ich mich mit diesem Problem beschäftige,
nachdenklich gemacht: Inzwischen gibt es eine Szene –
das betrifft sicherlich nur eine Minderheit des Täterkrei-
ses –, die hoch organisiert ist. Als wir unsere Bemühun-
gen im Internet präsentierten, sind wir durch einen Link
auf eine Seite gestoßen – die Internetadresse ist
www.halle.crime.de; inzwischen habe ich ähnliche Seiten
gefunden –, auf der Sprayer die Hauswände, auf die sie
ihre Tags gesetzt haben, wie Trophäen ausstellen. Außer-
dem werden in einem Vorspann die Sicherungsbemühun-
gen der Polizei in einer solch zotigen Weise verhöhnt,
dass ich mich scheue, das in diesem Hohen Hause zu zi-
tieren. Auch so etwas fordert aus meiner Sicht, dass der
Staat beim Strafrecht eine eindeutige Antwort nicht schul-
dig bleiben darf.
Zum Abschluss möchte ich noch sagen: Die Straf-
rechtsverschärfung ist nur ein Teil eines Handlungskon-
zepts. Ich selbst habe mich um die Gründung eines
Vereins bemüht, der beispielsweise versucht, eine zivil-
rechtliche Entscheidung über die Anerkennung der Säu-
berung von Denkmälern als gemeinnütziges Anliegen
herbeizuführen und darüber finanzielle Hilfe zu bekom-
men. Nur, wenn immer Sie so etwas tun, werden Sie fest-
stellen: Allein mit bürgerschaftlichem Engagement lässt
sich dieses Problem nicht lösen. Der Staat ist gefordert,
mit dem Strafrecht eine zweifelsfreie Antwort zu geben.
Um eine solche Antwort sollten wir uns bemühen; denn
die Resignation der Bürger – das erlebe ich leider in den
Stadtteilen, in denen unbesprühte Wände zur Seltenheit
geworden sind – führt zu Wegzug und Verslumung ganzer
Stadtteile. Insofern stehen wir hier vor einer grundsätzli-
chen Entscheidung. Ich kann nur dazu auffordern, dass
wir dem Anliegen, das mir in den letzten Jahren in einer
ostdeutschen Großstadt vermittelt wurde, gerecht werden,
und zwar in seiner ganzen Dimension.
Danke schön.
Herr Kollege Dr. Bergner, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer
ersten Rede im Deutschen Bundestag. Herzlichen Glück-
wunsch!
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
nun der Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach
das Wort.
A
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-nen und Kollegen! Herr Gehb, ich zitiere heute einmalnicht Wilhelm Busch, sondern beginne mit Karl Valentin,damit ich Ihren Wissensschatz noch ein bisschen erwei-tere. Karl Valentin hat gesagt: „Es ist alles gesagt, abernoch nicht von allen.“ Ich möchte zu dem Gesetzentwurf,den Sie heute vorgelegt haben, sagen: Es ist alles gesagt,und zwar von allen.
Wir diskutieren heute über das Gleiche wie schon inder letzten Legislaturperiode oder wie vor fast sechs Wo-chen. Nun zitiere ich Goethe: „Getretener Quark wirdbreit, nicht stark.“ Vor gut einem Monat haben wir alle Ar-gumente ausgetauscht. Sie erwecken heute trotzdem wie-der den Eindruck, dass mit dem Begriff der Verunstal-tung das Problem in den Griff zu bekommen ist.
Sie befinden sich ein weiteres Mal auf dem Holzweg.
Beim Lesen Ihres Gesetzentwurfes bekommt man denEindruck, Farbschmierereien und Graffiti würden nurselten vom Tatbestand der Sachbeschädigung erfasst undseien aus diesem Grunde regelmäßig straflos. Wir alle
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wissen, dass das so nicht stimmt. Wenn Graffitisprayergefasst werden, können sie in vielen Fällen wegen Sach-beschädigung verurteilt werden. Ich weiß im Gegensatzzu Ihnen, Kollege Bergner, als Staatsanwalt und Richter,dass das so ist. Für eine Verurteilung reicht schon aus,dass die Substanz der besprühten Fläche durch die Reini-gung geringfügig beschädigt wird.Ich habe die Aussage eines Berliner Malermeistersbei einer Sachverständigenanhörung im Jahre 1999noch sehr gut in Erinnerung. Dieser Malermeister hatgesagt, der heute handelsübliche Außenputz sei beiFarbschmierereien nur durch Abschleifen und damit nurdurch eine Verletzung der Substanz zu beseitigen. Da-mit haben wir es mit dem Tatbestand der Sachbeschädi-gung zu tun.
Es ist deshalb nicht redlich, wenn Sie immer wieder sotun, als klaffte hier eine Gesetzeslücke und als genügteein Federstrich des Gesetzgebers, um sämtlichen Farb-schmierereien bis in alle Ewigkeit ein Ende zu bereiten.Nicht die Rechtslage ist das Problem bei der Graffiti-bekämpfung, sondern die Schwierigkeit, die Täter zu fas-sen. Wenn Täter nicht ermittelt werden können, dann kön-nen sie nicht bestraft werden. An diesem Problem werdenalle Eingriffe in das materielle Strafrecht nichts ändern.Vorrangig ist es deshalb – gerade aus jugendpolitischerSicht –, eine wirksame Prävention sicherzustellen. Da-rauf sollten wir uns konzentrieren.Herr Gehb, ich zitiere aus der „Hessischen Nieder-sächsischen Allgemeinen“ – Ort ist Hofgeismar, wo icheinmal Amtsrichter war –:„Das war ein gutes Beispiel von Zivilcourage. Da-rauf sind wir angewiesen, um unsere Ermittlungsar-beiten auch zum Erfolg zu führen.“ Gerhard Wöhrl,Erster Hauptkommissar und Leiter der Polizeistationin Hofgeismar, spricht von einer Zeugin aus Immen-hausen,– da wohne ich –die der Polizei einen entscheidenden Hinweis gege-ben hat.Der Artikel schließt folgendermaßen:Um diese Straftaten aber aufklären zu können, soll-ten die Bürger Mut beweisen und ihre Beobachtun-gen melden. Wöhrl: „Es ist nicht damit getan, die Au-gen zu schließen oder gleichgültig weiterzugehen,wenn man etwas gesehen hat.“Sicherlich kann man über eine Gesetzesänderungnachdenken, um auch die wenigen Fälle zu erfassen, dieausnahmsweise einmal nicht die Voraussetzungen derSubstanzverletzung erfüllen. Der Begriff des Verunstal-tens ist – auch das hat bereits die Sachverständigenan-hörung im Jahre 1999 ergeben – als Grundlage für eineAusdehnung der Sachbeschädigungsdelikte aber nicht ge-eignet. Er ist in diesem Zusammenhang für einen Straf-rechtsbegriff zu stark an ein ästhetisches Werturteil ge-bunden. Der Kollege Bachmaier hat unsere Haltung dazuausgeführt. Ich möchte darauf nicht weiter eingehen. Vorallen Dingen möchte ich Staatsanwälten und Richternnicht zumuten, dass sie sich zu Kunstsachverständigenmachen müssen.
Herr van Essen, der Einwand, dass der Begriff des Ver-unstaltens bereits im Strafgesetzbuch existiert, greift zukurz.
– Hören Sie zu! § 134 StGB, der damit gemeint ist, hilftfür unseren Fall nicht weiter. Dort geht es um den Schutzder öffentlichen Wirksamkeit amtlicher Kundmachungen.Die Missachtung des dienstlichen Schriftstücks steht imVordergrund und nicht die Frage, ob die Veränderung alsästhetisch gelungen erscheint oder nicht.
Anders wäre es bei dem Tatbestand der Sachbeschädi-gung. Dort würde das Moment der Ästhetik für den Be-griff des Verunstaltens eben nicht von vornherein als un-beachtlich angesehen werden können.
Ich verstehe deshalb nicht, weshalb die Fraktionen vonCDU/CSU und FDPam Begriff des Verunstaltens hängen.Das eigentliche Problem ist doch nicht die Frage
– hören Sie doch einmal zu! –, ob Graffiti uns oder denRichtern und Staatsanwälten gefallen oder nicht. Das Är-gernis für den konkreten Eigentümer oder den Berechtig-ten ist doch die nicht unerhebliche Veränderung des Er-scheinungsbildes einer Sache, also der Hauswand oderwas auch immer, gegen seinen Willen. Wir sollten deshalbdarüber nachdenken, ob wir den Tatbestand der Sachbe-schädigung in diese Richtung rechtsstaatlich einwandfreiweiterentwickeln können.Verehrter Kollege Gehb, wenn Sie das Protokoll mei-ner Rede vom 20. Dezember 2002 richtig gelesen hätten,dann hätten Sie festgestellt, dass ich schon zu diesemZeitpunkt das Gleiche gesagt habe. Wir werden uns aufdiesen Weg begeben. Wenn das geschehen ist, sind,meine Damen und Herren von der Union, die von derCDU oder von der CSU regierten Länder am Zuge, ord-nungsgemäße Polizeivorschriften zu finden, um Graffitizu verhindern.Ich möchte zum Schluss kommen. Danach bin ich fer-tig und ich bedanke mich, dass mir Herr Gehb so gut zu-gehört hat.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
A
Nein.Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach
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Parl. Staatssekretär Alfred HartenbachZu Ihrem Gesetzentwurf ist im Grunde schon in derBibel alles gesagt. Nun müssen Sie dem ehemaligenTheologiestudenten auch noch gestatten, dass er die Bibelzitiert. Im Buch Daniel, in Kapitel 5, Vers 25, wird wohlzum ersten Mal in der Weltliteratur ein Graffiti erwähnt.Da steht:Mene mene tekel – gezählt, gezählt, gewogen und zuleicht befunden.Das gilt auch für Ihren Gesetzentwurf.Danke schön.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 15/302 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu ander-
weitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord-
nung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf morgen, Freitag, den 31. Januar 2003, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.