Protokoll:
15022

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 15

  • date_rangeSitzungsnummer: 22

  • date_rangeDatum: 30. Januar 2003

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 17:30 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Nachträgliche Glückwünsche zum Geburtstag des Bundesministers Dr. Peter Struck sowie des Abgeordneten Norbert Königshofen . . . . 1665 A Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeord- neten Wolfgang Spanier . . . . . . . . . . . . . . . . 1665 A Erweiterung der Mitgliederzahl im Ausschuss für Kultur und Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1665 A Wiederwahl der Abgeordneten Ulrike Poppe als Mitglied des Beirats nach § 39 des Stasi- Unterlagen-Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1665 B Festlegung der Zahl der Mitglieder des Euro- päischen Parlaments, die an den Sitzungen des Ausschusses für die Angelegenheiten der Euro- päischen Union teilnehmen können . . . . . . . . 1665 B Erweiterung der Tagesordnung . . . . . . . . . . . . 1665 B Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . 1666 A Tagesordnungspunkt 3: Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Offen- sive für den Mittelstand (Drucksache 15/351) . . . . . . . . . . . . . . . . . 1666 B in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 2: Antrag der Abgeordneten Dagmar Wöhrl, Karl-Josef Laumann, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der CDU/CSU: Grundsätzliche Kehrtwende in derWirt- schaftspolitik statt neuer Sonderregeln – Mittelstand umfassend stärken (Drucksache 15/349) . . . . . . . . . . . . . . . . . 1666 C in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 3: Antrag der Abgeordneten Rainer Brüderle, Dr. Hermann Otto Solms, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der FDP: Neue Chancen für den Mittelstand – Rahmen- bedingungen verbessern statt Förder- dschungel ausweiten (Drucksache 15/357) . . . . . . . . . . . . . . . . . 1666 C Wolfgang Clement, Bundesminister BMWA 1666 D Friedrich Merz CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 1670 C Fritz Kuhn BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . 1674 A Rainer Brüderle FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1677 A Klaus Brandner SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1679 B Dagmar Wöhrl CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 1681 D Werner Schulz (Berlin) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1684 A Gudrun Kopp FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1685 D Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos . . . . . . . . . . . 1687 B Christian Lange (Backnang) SPD . . . . . . . . . 1688 A Laurenz Meyer (Hamm) CDU/CSU . . . . . . . 1690 A Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk SPD . . . . . . . . . . . 1692 A Hartmut Schauerte CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 1694 B Reinhard Schultz (Everswinkel) SPD . . . . . . 1696 D Alexander Dobrindt CDU/CSU . . . . . . . . . . . 1698 D Tagesordnungspunkt 4: a) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum optimalen Fördern und Fordern in Vermittlungsagenturen (OFFENSIV-Gesetz) (Drucksache 15/273) . . . . . . . . . . . . . . 1700 B Plenarprotokoll 15/22 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 22. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 I n h a l t : b) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Fördern und Fordern arbeits- fähiger Sozialhilfeempfänger und Ar- beitslosenhilfebezieher (Fördern-und- Fordern-Gesetz) (Drucksache 15/309) . . . . . . . . . . . . . . 1700 C c) Antrag der Abgeordneten Dr. Heinrich L. Kolb, Daniel Bahr (Münster), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Das Sozialhilferecht gerechter gestal- ten–HilfebedürftigeBürgereffizienter fördern und fordern (Drucksache 15/358) . . . . . . . . . . . . . . 1700 C Silke Lautenschläger, Staatsministerin (Hessen) 1700 D Gerd Andres, Parl. Staatssekretär BMWA . . . 1703 A Dirk Niebel FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1705 A Dr. Thea Dückert BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 1706 B Dirk Niebel FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1708 B Petra Pau fraktionslos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1709 B Johannes Singhammer CDU/CSU . . . . . . . . . 1710 B Thomas Sauer SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1712 A Dr. Heinrich L. Kolb FDP . . . . . . . . . . . . . . . 1713 D Walter Hoffmann (Darmstadt) SPD . . . . . . . . 1715 B Dr. Heinrich L. Kolb FDP . . . . . . . . . . . . 1716 C Wolfgang Meckelburg CDU/CSU . . . . . . . . . 1717 A Karin Roth (Esslingen) SPD . . . . . . . . . . . . . 1719 D Tagesordnungspunkt 12: Überweisungen im vereinfachten Ver- fahren Antrag der Abgeordneten Markus Löning, Daniel Bahr (Münster), weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der FDP: Westsahara- konflikt beilegen – UN-Friedensplan durchsetzen (Drucksache 15/316) . . . . . . . . . . . . . . . . . 1721 D Tagesordnungspunkt 13: Abschließende Beratungen ohne Aus- sprache a) Zweite Beratung und Schlussabstim- mung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 26. Juli 2001 zwi- schen der Bundesrepublik Deutsch- land und derTschechischen Republik über den Bau einer Grenzbrücke an der gemeinsamen Staatsgrenze in An- bindung an die Bundesstraße B 20 und die Staatsstraße I/26 (Drucksachen 15/12, 15/272) . . . . . . . . 1722 A b)–d) Beschlussempfehlungen des Petitions- ausschusses: Sammelübersichten 8, 9, 10 zu Petitionen (Drucksachen 15/320, 15/321, 15/322) 1722 A e) Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP: Erneute Über- weisung von Vorlagen aus früheren Wahlperioden (Drucksache 15/345) . . . . . . . . . . . . . . 1722 C Tagesordnungspunkt 5: Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP für die vom Deut- schen Bundestag zu entsendenden Mitglie- der des Beirats bei der Regulierungs- behörde für Telekommunikation und Post gemäß § 67 Abs. 1 des Telekommu- nikationsgesetzes (Drucksache 15/356) . . . . . . . . . . . . . . . . . 1722 C Zusatztagesordnungspunkt 4: Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Änderung der Vorschriften über die Straftaten gegen die sexuelle Selbst- bestimmung und zur Änderung anderer Vorschriften (Drucksache 15/350) . . . . . . . . . . . . . . . . . 1722 D Brigitte Zypries, Bundesministerin BMJ . . . . 1722 D Dr. Norbert Röttgen CDU/CSU . . . . . . . . . . . 1724 D Dr. Wolfgang Götzer CDU/CSU . . . . . . . . . . 1725 A Jerzy Montag BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 1726 D Jörg van Essen FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1729 A Michaela Noll CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 1730 A Joachim Stünker SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1731 D Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) CDU/CSU 1733 D Tagesordnungspunkt 8: Antrag der Abgeordneten Dirk Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU: Transrapid-Projekt Berlin–Ham- burg unverzüglich wieder aufnehmen (Drucksache 15/300) . . . . . . . . . . . . . . . . . 1735 D Dirk Fischer (Hamburg) CDU/CSU . . . . . . . . 1736 A Angelika Mertens, Parl. Staatssekretärin BMVBW . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1738 B Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003II Horst Friedrich (Bayreuth) FDP . . . . . . . . . . 1739 D Albert Schmidt (Ingolstadt) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1740 D Norbert Königshofen CDU/CSU . . . . . . . . . . 1742 B Reinhard Weis (Stendal) SPD . . . . . . . . . . . . 1743 B Dirk Fischer (Hamburg) CDU/CSU . . . . . 1744 A Renate Blank CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 1746 A Tagesordnungspunkt 7: Antrag der Abgeordneten Hans-Michael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: EU-Richtlinie zur Haltung von Nutztieren in nationales Recht umsetzen (Drucksache 15/226) . . . . . . . . . . . . . . . . . 1747 A Hans-Michael Goldmann FDP . . . . . . . . . . . 1747 B Uwe Bartels, Minister (Niedersachsen) . . . . . 1748 C Hans-Michael Goldmann FDP . . . . . . . . . 1750 A Peter H. Carstensen (Nordstrand) CDU/CSU 1751 A Gitta Connemann CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 1751 D Friedrich Ostendorff BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1753 B Hans-Michael Goldmann FDP . . . . . . . . . . . 1755 A Friedrich Ostendorff BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1755 D Georg Schirmbeck CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 1756 A Tagesordnungspunkt 6: Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Norbert Röttgen, Cajus Caesar, weite- ren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetz- buches – Graffiti-Bekämpfungsgesetz (Drucksache 15/302) . . . . . . . . . . . . . . . . . 1757 B Dr. Jürgen Gehb CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 1757 C Hermann Bachmaier SPD . . . . . . . . . . . . . . . 1759 A Jörg van Essen FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1760 C Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1761 B Jörg van Essen FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . 1762 C Dr. Christoph Bergner CDU/CSU . . . . . . . . . 1763 A Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1763 D Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMJ 1764 D Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1766 C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 1767 A Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 III (A) (B) (C) (D) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1665 22. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 Beginn: 9.00 Uhr
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    (A) (C) 1766 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1767 (C) (D) (A) (B) Berninger, Matthias BÜNDNIS 90/ 30.01.2003 DIE GRÜNEN Bindig, Rudolf SPD 30.01.2003* Burchardt, Ulla SPD 30.01.2003 Deittert, Hubert CDU/CSU 30.01.2003* Eymer (Lübeck), Anke CDU/CSU 30.01.2003* Dr. Gauweiler, Peter CDU/CSU 30.01.2003 Göppel, Josef CDU/CSU 30.01.2003 Granold, Ute CDU/CSU 30.01.2003 Haack (Extertal), Karl SPD 30.01.2003* Hermann Höfer, Gerd SPD 30.01.2003* Hoffmann (Chemnitz), SPD 30.01.2003* Jelena Jäger, Renate SPD 30.01.2003* Jonas, Klaus Werner SPD 30.01.2003* Kelber, Ulrich SPD 30.01.2003* Lanzinger, Barbara CDU/CSU 30.01.2003 Leibrecht, Harald FDP 30.01.2003* Lintner, Eduard CDU/CSU 30.01.2003* Dr. Lucyga, Christine SPD 30.01.2003* Möllemann, Jürgen W. FDP 30.01.2003 Müller (Düsseldorf), SPD 30.01.2003 Michael Rauber, Helmut CDU/CSU 30.01.2003* Rauen, Peter CDU/CSU 30.01.2003 Riester, Walter SPD 30.01.2003* Robbe, Reinhold SPD 30.01.2003 Rupprecht SPD 30.01.2003* (Tuchenbach), Marlene Dr. Scheer, Hermann SPD 30.01.2003* Schmidt (Fürth), CDU/CSU 30.01.2003 Christian Schröter, Gisela SPD 30.01.2003 Siebert, Bernd CDU/CSU 30.01.2003* Simm, Erika SPD 30.01.2003 Steenblock, Rainder BÜNDNIS 90/ 30.01.2003* DIE GRÜNEN Dr. Thomae, Dieter FDP 30.01.2003 Tritz, Marianne BÜNDNIS 90/ 30.01.2003* DIE GRÜNEN Volquartz, Angelika CDU/CSU 30.01.2003 Wegener, Hedi SPD 30.01.2003* Wicklein, Andrea SPD 30.01.2003 Dr. Wodarg, Wolfgang SPD 30.01.2003* * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage zum Stenografischen Bericht Druck: MuK. Medien- und Kommunikations GmbH, Berlin
Gesamtes Protokol
Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1502200000

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Sitzung ist eröffnet.
Zunächst möchte ich einigen Kollegen zur Vollendung

ihres 60. Lebensjahres gratulieren: Bundesminister
Dr. Peter Struck feierte am 24. Januar, Abgeordneter
Norbert Königshofen feierte am 25. Januar und Abgeord-
neter Wolfgang Spanier feiert heute seinen 60.Geburtstag.
Beste Glückwünsche im Namen des ganzen Hauses!


(Beifall)

Nun gibt es eine Reihe von Mitteilungen. Die Mitglie-

derzahl im Ausschuss für Kultur und Medien soll auf ein-
vernehmlichen Vorschlag aller Fraktionen von 15 auf
17 Mitglieder erhöht werden. Sind Sie mit diesem Vor-
schlag einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist so beschlossen.

Sodann teile ich mit, dass die Fraktion des Bündnis-
ses 90/Die Grünen in Abänderung ihres Wahlvorschlages
vom 16. Januar 2003 nunmehr FrauUlrike Poppe für den
Beirat nach § 39 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes vor-
schlägt. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen
Widerspruch. Damit ist Frau Poppe, die schon bisher Mit-
glied im Beirat war, wieder gewählt.

Gemäß § 93 aAbs. 6 unserer Geschäftsordnung ist vor-
gesehen, dass Mitglieder des Europäischen Parlaments an
den Sitzungen des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union teilnehmen können. Die Zahl
und Zusammensetzung ist in der Geschäftsordnung nicht
vorgesehen und muss daher vom Plenum für die 15.Wahl-
periode neu festgelegt werden. Die Fraktionen haben sich
einvernehmlich darauf verständigt, die Zahl auf insge-
samt 14 mitwirkungsberechtigte Mitglieder des Europä-
ischen Parlaments festzulegen. Davon entfallen auf die
CDU/CSU acht Mitglieder, auf die SPD fünf Mitglieder
und auf Bündnis 90/Die Grünen ein Mitglied. Sind Sie mit
diesem Vorschlag einverstanden? – Ich höre keinen Wi-
derspruch. Dann ist auch dies so beschlossen.

Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen
vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:

1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:
Haltung der Bundesregierung zu den Auswirkungen ihrer
Steuerpolitik auf die kommunalen Finanzen

2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dagmar Wöhrl, Karl-
Josef Laumann, Hartmut Schauerte, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU: Grundsätzliche Kehrtwende in
der Wirtschaftspolitik statt neuer Sonderregeln – Mittel-
stand umfassend stärken
– Drucksache 15/349 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

3. Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Brüderle,
Dr. Hermann Otto Solms, Gudrun Kopp, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP: Neue Chancen für den Mittel-
stand – Rahmenbedingungen verbessern, statt Förder-
dschungel ausweiten
– Drucksache 15/357 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

4. Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/Die GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines




Präsident Wolfgang Thierse

Gesetzes zurÄnderung derVorschriften über die Straftaten
gegen die sexuelle Selbstbesimmung und zur Änderung an-
derer Vorschriften
– Drucksache 15/350 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Von der Frist für den Beginn der Beratung soll – soweit
erforderlich – abgewichen werden.

Außerdem wurde vereinbart, dass nach der ersten Be-
ratung des Sexualstrafrechts-Änderungsgesetzes – das ist
Zusatzpunkt 4 – die Reihenfolge der Beratungen wie folgt
geändert werden soll: Tagesordnungspunkt 8 – Transra-
pidprojekt –, Tagesordnungspunkt 7 – Haltung von Nutz-
tieren – und dann Tagesordnungspunkt 6 – Graffiti-
Bekämpfungsgesetz.

Darüber hinaus mache ich auf eine nachträgliche Über-
weisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:

Der in der 16. Sitzung des Deutschen Bundestages über-
wiesene nachfolgende Entschließungsantrag soll zusätz-
lich dem Finanzausschuss, dem Ausschuss für Wirtschaft
und Arbeit und dem Ausschuss für Menschenrechte und hu-
manitäre Hilfe zurMitberatung überwiesen werden.

Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: zu derAb-
gabe einer Regierungserklärung durch den
Bundeskanzler zu den Ergebnissen des Euro-
päischen Rates in Kopenhagen am 12. und
13. Dezember 2002
– Drucksache 15/215 –
überwiesen:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft

Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –
Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 3 sowie Zu-
satzpunkte 2 und 3 – Beratung mehrerer Anträge zur Mit-
telstandspolitik – auf:
3. Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und

des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Offensive für den Mittelstand
– Drucksache 15/351 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dagmar
Wöhrl, Karl-Josef Laumann, Hartmut Schauerte,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
Grundsätzliche Kehrtwende in derWirtschafts-
politik statt neuer Sonderregeln – Mittelstand
umfassend stärken
– Drucksache 15/349 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Brüderle, Dr. Hermann Otto Solms, Gudrun Kopp,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Neue Chancen für den Mittelstand – Rahmen-
bedingungen verbessern statt Förderdschungel
ausweiten
– Drucksache 15/357 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache zweieinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort Herrn
Bundesminister Wolfgang Clement.

Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaft
und Arbeit:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Aus dem Jahreswirtschaftsbericht ist gestern deutlich
geworden, dass wir mehr Wachstum und mehr Beschäfti-
gung brauchen. Aus dem Wachstum heraus müssen mehr
Jobs entstehen. Dabei kommt dem Mittelstand, also den
kleinen und mittleren Unternehmen, eine ganz besondere
Bedeutung zu. Um dieses Thema soll es heute gehen.

Warum kommt den kleinen und mittleren Betrieben
eine so große Bedeutung zu? – Etwa 70 Prozent aller ab-


(A)



(B)



(C)



(D)


1666


(A)



(B)



(C)



(D)






hängig Beschäftigten in Deutschland arbeiten in solchen
Unternehmen. Vier von fünf Jugendlichen werden im
Mittelstand auf ihr Berufsleben vorbereitet. Rund die
Hälfte der Bruttowertschöpfung, fast 50 Prozent, kommt
aus kleinen und mittleren Unternehmen. Kurz gesagt:
Wenn wir über den Mittelstand sprechen, dann sprechen
wir über die Sicherung der wirtschaftlichen Zukunft un-
seres Landes.

Deshalb haben wir eine Mittelstandsoffensive auf den
Weg gebracht. Damit wollen wir die Gründung von Un-
ternehmen fördern. Wir brauchen eine Erneuerung, wir
brauchen eine Erweiterung unserer Unternehmensland-
schaft, wir brauchen, um es auf den Punkt zu bringen,
mehr Unternehmen. Das ist die wichtigste Voraussetzung,
um mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Dazu müssen wir
Existenzgründungen fördern und gleichzeitig die Rah-
menbedingungen für die kleinen und mittleren Unterneh-
men verbessern.

Dass der Ansatz – oder, um es Ihnen leichter zu ma-
chen, die Absicht – der Mittelstandsoffensive richtig ist,
zeigt sich an außerordentlich vielen positiven Reaktionen,
die wir auf diese Aktivität hin erhalten. Ich möchte Ihnen,
verehrte Kolleginnen und Kollegen, gerne die wichtigsten
Bausteine dieser Mittelstandsoffensive darstellen.

Der erste Baustein: Es geht uns um die Förderung von
Existenzgründungen und um die Förderung von klein-
und kleinstgewerblichen Unternehmen. Wir wollen die
Startbedingungen für Unternehmensgründungen und
gleichzeitig die Arbeitsbedingungen für das Kleinge-
werbe verbessern. Dazu wollen wir in den nächsten Wo-
chen etwas auf den Weg bringen, was wir auf eine Anre-
gung des DIHK-Präsidenten, Herrn Braun, hin einen
Small-Business-Act genannt haben. Das bedeutet, dass
es zu grundlegenden Vereinfachungen und Entlastungen
für Gründungsunternehmen und Kleinstunternehmen
kommen wird. Dabei gehen wir bewusst einen Schritt
weiter, als uns die Hartz-Kommission nahe gelegt hat. In
diese Aktivitäten beziehen wir nicht nur – wie dies bei
Hartz vorgesehen ist – die Existenzgründer, sondern auch
– wie gesagt – existierende kleine Unternehmen ein.

Das Konzept basiert auf drei Säulen:
Erstens. Kleinstunternehmen können bei der Einkom-

mensteuer künftig einen pauschalierten Betriebsausga-
benabzug in der Größenordnung von 50 Prozent der Ein-
nahmen geltend machen. Damit wird die steuerliche
Gewinnermittlung grundlegend vereinfacht.

Zweitens. Umfangreiche und komplizierte Buch-
führungs- und Aufzeichnungspflichten der Kleinstunter-
nehmen entfallen.

Drittens. In diesem Bereich fallen keine Umsatzsteuer-
pflichten mehr an, das heißt, die steuerlichen Erklärungs-
pflichten werden auf ein Minimum reduziert.

Dieses Konzept werden wir sehr rasch umsetzen. In ei-
nem ersten Schritt profitieren rückwirkend zum 1. Januar
2003 bereits solche Kleinstunternehmen, die einen Um-
satz von bis zu – diese Grenze ist allerdings sehr niedrig –
17 500 Euro aufweisen. Ein Jahr später, also zum 1. Januar
2004, wollen wir – vorbehaltlich der Zustimmung durch
die Europäische Kommission – die Umsatzgrenze für

Kleinstunternehmen in einem zweiten Schritt auf
35 000 Euro anheben.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das könnt ihr auch gleich machen!)


Wir wollen die Selbstständigkeit durch einen erleich-
terten Berufszugang im Handwerk und bei nicht hand-
werklichen Existenzgründungen fördern. Um dieses Ziel
zu erreichen, ist es notwendig, dass der Liberalisierungs-
prozess im Handwerk fortgeführt wird und dass nicht
mehr notwendige Regulierungen abgebaut werden. Darü-
ber sind wir – wie schon mehrfach besprochen – mit dem
Handwerk im Gespräch. Herr Kollege Laumann hat mich
gestern daran erinnert, dass wir im Vermittlungsverfahren
besprochen hatten, dass wir diese Gespräche gemeinsam
fortsetzen wollen. Das werden wir gerne tun.


(Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Ja, nicht vergessen!)


Im Handwerk geht es zum Beispiel um Erleichterungen
bei der Zulassung zur Meisterprüfung. Dabei stellt sich
die Frage, ob die Berufserfahrung als Zulassungsvoraus-
setzung für die Meisterprüfung gestrichen werden soll. Bis-
her müssen nach der Gesellenprüfung sieben Jahre abge-
wartet werden. Daneben geht es um Anreize für Gesellen,
die Meisterprüfung möglichst rasch nach der Gesellenprü-
fung abzulegen. Man könnte dies als Freischussregelung
– dies ist nicht martialisch gemeint – bezeichnen. Auch bei
den Juristen – diese sind schon gar nicht martialisch – exis-
tiert diese ja. Wir wollen das Bild der Meisterprüfung prä-
zisieren und klarstellen, was ein Meister für sein Gewerbe
tatsächlich beherrschen muss. Es stellt sich die Frage, ob al-
les, was heute gefordert wird, vernünftig ist. Wir wollen,
dass Teile der Gesellenprüfung auf die Meisterprüfung an-
gerechnet werden können. Andere Anrechnungsmöglich-
keiten diskutieren wir ebenfalls.

Wir sind noch nicht ganz am Ziel und suchen eine ein-
vernehmliche Lösung mit dem Handwerk. Dies soll – wie
ich zugesagt habe – nicht von oben herab geschehen. Ich
hoffe, wir kommen dabei voran.

Wir wollen Unternehmensgründer, die eine Ertrags-
grenze von 25 000 Euro aufweisen, in den ersten vier Jah-
ren von den Beitragszahlungen an die Industrie- und Han-
delskammern – diese sind damit einverstanden – und an
die Handwerkskammern – diese sind noch nicht ganz ein-
verstanden – befreien.

Ein weiteres Anliegen ist eine bessere soziale Absiche-
rung der Selbstständigen. Sie tragen nicht nur die Verant-
wortung für ihre Beschäftigten, sondern sie tragen auch
ein eigenes hohes finanzielles Risiko. Deshalb wollen wir
die Selbstständigen besser absichern und diskutieren wir
mit der Justizministerin – sie ist dafür federführend zu-
ständig – eine Verbesserung des Pfändungsschutzes, bei-
spielsweise in Bezug auf die private Altersvorsorge.

Daneben gibt es natürlich auch hier das Thema Ent-
bürokratisierung. Dabei geht es uns zunächst einmal um
eine schnellere Eintragung ins Handelsregister. Das alles
dauert viel zu lange. Des Weiteren sollen – wenn irgendwie
möglich – die Kosten für diese Eintragung gesenkt werden.

Neben diesem so genannten Small-Business-Act
planen wir weitere Maßnahmen zur Förderung der

Bundesminister Wolfgang Clement




Bundesminister Wolfgang Clement
Selbstständigkeit. Beispielsweise wollen wir für Gründe-
rinnen und Gründer sowie für den Mittelstand insgesamt
das Beratungs- und Gründungs-Know-how zu Servicean-
geboten bündeln.

Wir wollen den unternehmerischen Generationswechsel
weiter fördern. Wir fördern ihn schon heute. Wir wollen die
Einrichtung weiterer Börsen im Internetportal zur Unter-
nehmensnachfolge „nexxt“ ausweiten und uns verstärkt an
Existenzgründer wenden, denen wir über die Unterneh-
mensnachfolge – das ist sehr wichtig, weil in den Unter-
nehmen ständig Generationswechsel stattfinden, ohne die
ein existierendes Unternehmen nicht erhalten werden
kann – den Weg in die Selbstständigkeit nahe legen.

Es geht im zweiten Baustein um die Finanzierung des
Mittelstandes. Wie Sie wissen, haben wir die KfW und
die Deutsche Ausgleichsbank zusammengelegt. Bereits
bisher unterstützen sie diesen Weg faktisch. Jetzt soll dies
über die Gesetzgebung festgeschrieben werden. Damit
werden – das geschieht in der Realität schon – alle För-
derprogramme unter einem Dach der Mittelstandsbank
des Bundes zusammengeführt. Die beiden Banken bün-
deln so ihre Kraft und ihr Wissen zu einem übersichtli-
chen Förderangebot als Mittelstandsbank des Bundes in-
nerhalb der KfW-Gruppe.

Durch die Neustrukturierung der Förderprogramme
werden die Antragstellung vereinfacht und die Transpa-
renz erhöht. Dem Mittelstand steht somit in Finanzie-
rungsfragen ein Ansprechpartner zur Verfügung. Dazu
gehört beispielsweise auch ein Beratungs- und Betreu-
ungsangebot, wie wir es von der Deutschen Ausgleichs-
bank kennen, angefangen von der Gründungsberatung
über das Thema Generationswechsel bis hin zu den Run-
den Tischen, die die Deutsche Ausgleichsbank in ganz
Deutschland, insbesondere in Ostdeutschland durchge-
führt hat.

Die Tatsache, dass es nur noch einen Ansprechpartner
gibt, bedeutet natürlich auch einfachere und kostengüns-
tigere Verfahren für die Partner der Kreditwirtschaft. Da-
durch werden sich die Chancen der mittelständischen Un-
ternehmen auf günstige Finanzierungsmittel erhöhen. Das
ist eines der wichtigsten Themen, mit denen wir es zu tun
haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die kleinen und mittleren Unternehmen haben erheb-
liche Kredit- und Eigenkapitalprobleme. Das sind, wie
wir alle wissen, keine politischen Probleme, sondern Pro-
bleme des Kreditgewerbes.


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)

– Darüber mögen Sie schmunzeln. Wir können uns gerne
darüber unterhalten. Die Probleme des Kreditgewerbes
sind allerdings nicht zum Schmunzeln. Das Kreditge-
werbe, insbesondere das private Bankengewerbe, hat sich
nicht rechtzeitig auf Umstrukturierungsnotwendigkeiten
eingestellt, um das klar zu sagen.

Wir haben die Programme auf den Weg gebracht. Dazu
gehört beispielsweise auch das Programm „Kapital für Ar-
beit“, mit dem die Beschäftigung von Arbeitslosen in ei-

nem Unternehmen mit einem Kredit bis zu 100000 Euro
begleitet wird, davon bis zu 50 000 Euro zur Eigenkapi-
talbildung. Es ist gut angelaufen und läuft inzwischen im-
mer besser. Die Kreditanstalt für Wiederaufbau erwartet,
dass in diesem Jahr über dieses Kreditprogramm 1,2 Mil-
liarden Euro abgerufen werden. Damit würden über die-
ses Kreditprogramm 12 000 Arbeitsplätze eingerichtet
und gefördert. Das ist nicht wenig. Die „Richterskala“ ist
nach oben offen. Wir hoffen in diesem Sektor natürlich
auf noch mehr Bewegung.

Ich will in diesem Zusammenhang noch ein Thema an-
sprechen, das die mittelständischen Unternehmen zuneh-
mend belastet, nämlich die schlechte Zahlungsmoral in
Deutschland. Die Zahlungssäumigkeit von Auftraggebern
weitet sich für die mittelständische Wirtschaft, insbeson-
dere für das Handwerk, zu einem existenzgefährdenden
Problem aus. Leider – so muss man sagen – zeigt sich
diese Tendenz zur Zahlungssäumigkeit auch bei Aufträ-
gen der öffentlichen Hand.


(Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Leider! Leider!)


Ich trete den Kommunen nicht zu nahe, wenn ich sage,
dass dies vor allen Dingen ein Problem der Städte und Ge-
meinden ist.

Die Bundesregierung hatte bereits in der letzten Legis-
laturperiode mit dem Gesetz zur Beschleunigung fälliger
Zahlungen auf diese Entwicklung reagiert und verschie-
dene Möglichkeiten eingeführt, mit denen Gläubiger ihre
berechtigten Ansprüche schneller durchsetzen können.
Die Praxis zeigt aber leider, dass es die durchweg
schwächeren Gläubiger, beispielsweise Handwerksunter-
nehmen, aus Sorge um das Ausbleiben von Anschlussauf-
trägen oft nicht wagen, die Möglichkeiten dieses Gesetzes
zu nutzen. Manchen ist das Gesetz auch nicht bekannt.

Wir werden zunächst die mittelständische Wirtschaft,
insbesondere die kleinen Betriebe, verstärkt über die
Möglichkeiten informieren, die nach derzeitiger Geset-
zeslage die Durchsetzung praktischer und berechtigter
Ansprüche erleichtern und beschleunigen. Wir wollen uns
dann mit dem Zentralverband des Deutschen Handwerks
und dem Deutschen Industrie- und Handelskammertag in-
tensiv um die Entschärfung dieses Problems kümmern.
Wir werden dazu Gespräche mit den Ländern führen und
Vorschläge erörtern, die wir dann in diesem Hohen Haus
beraten können.

Der dritte Baustein betrifft den Bürokratieabbau.Um
mehr Wachstum und Beschäftigung zu bewirken, müssen
wir bürokratische Fesseln lösen und Hindernisse beseiti-
gen, die die Wirtschaft und insbesondere den Mittelstand
hemmen. Dieser Überzeugung haben wir bereits erste Ta-
ten folgen lassen. Gemeinsam haben wir beispielsweise
die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse von büro-
kratischem Ballast befreit.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Nachdem Sie ihn zunächst geschaffen haben!)


Diese Regelung tritt am 1. April in Kraft.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU)



(A)



(B)



(C)



(D)


1668


(A)



(B)



(C)



(D)






– Sie waren dabei eine wirkliche Hilfe.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Für den Fall, dass Sie es noch nicht gelesen haben sollten,
mache ich Sie darauf aufmerksam, dass es am 1.April Ge-
setzeskraft erlangen wird.

Unsere Vorschläge zum Langzeitthema Ladenschluss-
gesetz liegen dem Hohen Hause ebenfalls vor. Fortset-
zung folgt: Ich erwähne beispielsweise die von Frau Kol-
legin Zypries vorgesehene Reform des Gesetzes gegen
den unlauteren Wettbewerb, bei der die bislang durch und
durch geregelten Sonderaktionen von bürokratischen Fes-
seln befreit werden sollen.

Des Weiteren nenne ich den Gesetzentwurf Hartz III,
der sich mit dem Umbau der Bundesanstalt für Arbeit
zu einem wirklichen Bundesunternehmen für Arbeitsver-
mittlung beschäftigen wird. Der Vorstand der Bundes-
anstalt arbeitet bereits daran. Wir werden dies gesetzlich
fundieren.

Zum Thema Bürokratieabbau liegt uns inzwischen
eine Vielzahl von Anregungen aus der Wirtschaft und von
der gewerkschaftlichen Seite vor. Diese Anregungen wer-
den geprüft und dort umgesetzt, wo es möglich und sinn-
voll ist.

An dieser Stelle weise ich zur Klarstellung und zur Ver-
meidung allzu hoher Erwartungen hinsichtlich des Um-
setzungstempos darauf hin, dass Veröffentlichungen vom
heutigen Tage, die eine tabellarische Übersicht über alles
beim Thema Bürokratieabbau Denkbare und Wünschens-
werte enthalten, lediglich eine gute Übersicht darstellen,
aber keine politische Verbindlichkeit beanspruchen kön-
nen. Es handelt sich um ein Papier aus dem Wirtschafts-
ministerium, wie es so schön heißt, aber nicht um ein Pa-
pier des Wirtschaftsministeriums und schon gar nicht um
ein Papier des Wirtschaftsministers. Wir werden bei die-
sem Thema also weiterhin von Fall zu Fall miteinander
ringen und diskutieren müssen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, wir wollen das Ganze oh-
nehin nicht in Einzelpunkte aufdröseln, sondern unter der
Federführung des Bundesinnenministers in einem Mas-
terplan zusammenführen. Ein solches Konzept zum Bü-
rokratieabbau wird die Bundesregierung voraussichtlich
im Februar beraten; danach werden wir Ihnen unsere Vor-
schläge vorlegen.

Da ich mich nun mit diesem Thema intensiver be-
schäftigt habe, finde ich Folgendes bemerkenswert: Alle
gesellschaftlichen Gruppen haben sich mit dem Thema
Bürokratieabbau auseinander zu setzen. Wer sich bei-
spielsweise mit den Gebührenordnungen und sonstigen
Regelungen befasst, die einzelne Berufsgruppen sich auf-
erlegt haben oder vom Staat erwarten, wird auf interes-
sante Dinge stoßen, die über Jahrzehnte entstanden sind.
Das gilt nicht nur für das Handwerk, sondern beispiels-
weise auch für Architekten, Ingenieure, Rechtsanwälte,
Steuerberater und Schornsteinfeger. Alle ehrenwerten Be-
rufe haben sich in Deutschland mit einem Netz von Re-

geln und Normen umgeben und wünschen solche Normen
auch weiterhin vom Staat. Oft finde ich diejenigen, die
solche Normen vom Staat erwarten, unter denen, die rela-
tiv laut Bürokratieabbau, Deregulierung und Ähnliches
von uns fordern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es ist gut, wenn wir uns allesamt mit diesem Thema
beschäftigen und jeder in seinem Sprengel einmal schaut,
welche Regelungen man vielleicht schon freiwillig ab-
schaffen kann. Das wäre bereits ein gewaltiger Beitrag zum
Bürokratieabbau und zur Deregulierung in Deutschland.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ein vierter Baustein betrifft die Ausbildung: Die För-
derung der Berufsausbildung ist in diesen Tagen zu
Recht wieder in den Mittelpunkt gerückt. Sie ist dringend
notwendig, da wir mehr Ausbildungsplätze brauchen.
Auch brauchen wir eine Reform der Berufsausbildung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Unser Versprechen muss eingehalten werden und es ist
nur einzuhalten, wenn alle mittun – an diesem Punkt hat
Peter Hartz absolut Recht –: wenn das Problem in allen
Städten und Gemeinden angegangen wird und wenn sich
diejenigen, die Verantwortung tragen, zusammentun und
darüber nachdenken, wie man mehr Ausbildungsplätze
mobilisieren kann.

Eine gute Ausbildung – das wissen wir alle – ist die Vo-
raussetzung für einen Erfolg am Arbeitsmarkt. Um mög-
lichst allen Jugendlichen einen Ausbildungsplatz anbieten
zu können, planen auch wir einige Maßnahmen: bei-
spielsweise Erleichterungen für Betriebe und insbeson-
dere für junge Unternehmen beim Erwerb der Ausbil-
dungsbefugnis.

Meine Damen und Herren, verehrte Kolleginnen und
Kollegen, wir müssen uns folgenden Sachverhalt vor Au-
gen führen: 44 Prozent der Betriebe in den alten Bundes-
ländern und 51 Prozent der Betriebe in den neuen Bun-
desländern sind zurzeit nicht ausbildungsberechtigt. Das
heißt, rund die Hälfte der Betriebe haben überhaupt keine
Berechtigung, junge Menschen auszubilden. Dies ist
nicht vernünftig; so kann es nicht funktionieren. Deshalb
müssen, wollen und werden wir die Ausbildereignungs-
verordnung vereinfachen. Um es ganz vorsichtig zu sa-
gen: Künftig muss es möglich sein, dass auch junge Un-
ternehmen ausbilden können. Viele von ihnen haben Spaß
und Freude daran und wir müssen sie unterstützen. Man
kann sie auch finanziell unterstützen, beispielsweise aus
privaten Stiftungen, die noch aufzubauen wären. Aber
man muss es auch tun, indem wir die rechtlichen Bedin-
gungen dafür verändern. Gemeinsam mit meiner Kollegin
Bulmahn setze ich mich dafür ein, die Ausbildungsord-
nungen weiter zu entschlacken und sie konsequenter als
bisher auf die betrieblichen Möglichkeiten und auch auf
die Belange des Mittelstandes auszurichten.

Das bedeutet auch, dass wir mehr differenzierte, mehr ar-
beitsmarktfähige und mehr zweijährige Ausbildungsberufe

Bundesminister Wolfgang Clement




Bundesminister Wolfgang Clement
brauchen, um allen Jugendlichen eine Erfolg verspre-
chende Ausbildung zu ermöglichen. Nicht alle Jugendli-
chen sind – Gott sei Dank – über einen Leisten zu schla-
gen, genauso wenig wie wir. Deshalb kann man nicht alle
gleichmäßig über den Leisten einer dreieinhalbjährigen
Ausbildung schlagen. Man muss vielmehr unterschiedli-
che, differenzierte Ausbildungsmöglichkeiten anbieten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Übrigens hat es sich bewährt, Unternehmen zu ermuti-
gen, Patenschaften bzw. Partnerschaften mit Schulen ein-
zugehen. Die Unternehmen profitieren davon, weil solche
Schulen sehr viel stärker auf den Arbeitsmarkt und das
Wirtschaftsleben ausgerichtet sind. Umgekehrt können
auch die Schulen sehr davon profitieren, wenn sie mit ei-
nem Betrieb enger verbunden sind. Beispielsweise kann
sich das positiv – das zeigen Erfahrungen einer Studie, die
mit Förderung der Bertelsmann-Stiftung durchgeführt
worden ist – auf die technische Ausstattung der Schulen
auswirken.

Ich möchte – das ist der fünfte Baustein – noch gerne
auf die Außenwirtschaftsinitiative hinweisen, die wir sehr
stark auf den Mittelstand ausrichten, indem wir insbeson-
dere versuchen, den Zugang zu den Hermes-Exportbürg-
schaften und zu Investitionsgarantien zu erleichtern. Wir
machen ihn auch mittelstandsfreundlicher, indem wir nur
noch kleine und mittlere Unternehmen mit unserem Mes-
seprogramm fördern. Große Unternehmen finden ja al-
leine den Weg ins Ausland. Ich will hier besonders darauf
hinweisen, dass es für Ostdeutschland wichtig ist, den
Prozess des EU-Beitritts der mittel- und osteuropäischen
Staaten als eine große Chance für Deutschland zu verste-
hen. Wir, Herr Kollege Stolpe und ich, planen deshalb
auch in Ostdeutschland Begegnungen und Konferenzen
mit Unternehmern aus den mittel- und osteuropäischen
Beitrittsländern, um den Markt für beide Seiten transpa-
renter und damit erfolgversprechender zu machen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das sind die Kernthemen unserer Mittelstandsoffen-
sive, das heißt unseres Bemühens, mehr Existenzgrün-
dungen zuwege zu bringen. Die Selbstständigenquote in
Deutschland liegt momentan bei 9 Prozent. Wir brauchen
aber eine von 14 Prozent. Wenn wir – theoretisch gespro-
chen – diese europäische Durchschnittsquote bei den
Selbstständigen erreichen, dann haben wir eine gute
Chance, das Arbeitsmarktproblem in den Griff zu bekom-
men. Wir müssen deshalb den kleinen und mittleren Un-
ternehmen das Leben und das Arbeiten erleichtern. Das
wollen wir auch tun. Der Erfolg entscheidet über Wachs-
tum und Beschäftigung.

Ich denke, dass wir uns über die Ziele einig sind. Über
die Wege zum Erreichen der Ziele werden wir zu disku-
tieren haben. Aber es kommt darauf an, aus den Zielen so
rasch wie möglich Taten und konkrete Entwicklungen zu
machen.

Ich danke Ihnen sehr für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1502200100

Ich erteile das Wort dem Kollegen Friedrich Merz,

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Friedrich Merz (CDU):
Rede ID: ID1502200200

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Wer in diesem Haus will bestreiten, dass der Mittel-
stand in Deutschland die tragende Säule unserer Volks-
wirtschaft ist? Wer will bestreiten, dass wir gerade unser
politisches Augenmerk auf die Stärkung und Förderung
des Mittelstands richten müssen, wenn wir aus der schwe-
ren strukturellen Wachstums- und Beschäftigungskrise
unseres Landes wieder herausfinden wollen? Aber mit
kleinen Programmen lassen sich die schweren makroöko-
nomischen Verwerfungen unserer Volkswirtschaft nicht
beseitigen. Wer nicht an den grundlegenden Vorausset-
zungen für Aufschwung und Beschäftigung arbeitet, der
wird auch mit noch so gut gemeinter Mittelstandsrhetorik
und mit noch so gut gemeinten Programmen für alle mög-
lichen staatlichen Institutionen dieses Land nicht aus der
Krise führen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Herr Bundeswirtschaftsminister, Sie haben gestern

den Jahreswirtschaftsbericht vorgelegt. Wir begrüßen
ausdrücklich, dass der Bundeswirtschaftsminister wie-
der dafür zuständig ist. Aber Sie haben durch die Aus-
weitung der Zuständigkeiten Ihres Hauses nicht nur
die Zuständigkeit für die Wirtschaftspolitik im umfas-
senden Sinn und die Zuständigkeit für den Jahres-
wirtschaftsbericht zurückbekommen, sondern auch die
Zuständigkeit für die Arbeitsmarktpolitik hinzubekom-
men. Dies ist eine richtige strukturelle Entscheidung,
die in der Bundesregierung getroffen worden ist. Sie
überantwortet Ihnen aber auch im umfassenden Sinne
die Verantwortung für die Wirtschaftspolitik und die Ar-
beitsmarktpolitik.

Angesichts dessen wäre es gut gewesen, wenn Sie
heute Morgen nicht nur auf die – im Einzelnen durchaus
diskussionswürdigen – Programme der Kreditanstalt für
Wiederaufbau und auf alle möglichen Vorschläge, auch
aus Ihrem Hause, Bezug genommen hätten. Wir haben er-
wartet, dass Sie etwas zu den grundlegenden Problemen
unseres Landes sagen; wir haben erwartet, dass Sie etwas
zu der grundlegenden Wachstums- und Beschäftigungs-
krise dieses Landes sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ludwig Stiegler [SPD]: Thema verfehlt!)


Sie werden auch mit einer noch so gut gemeinten Mit-
telstandsrhetorik aus diesen strukturellen Problemen nicht
herausfinden. Deutschland hat im Jahre 2002 ein Wirt-
schaftswachstum von 0,2 Prozent gehabt. Wir lagen da-
mit wieder auf dem letzten Platz in der Europäischen
Union. Es wäre gut, wenn Sie, Herr Bundeswirtschafts-
minister, und noch mehr Sie, Herr Bundeskanzler, endlich
aufhören würden, das Problem der Wachstumsschwäche
in Deutschland damit zu erklären, dass es Unsicherheiten
in der Weltkonjunktur gibt. Das Problem, das wir in


(A)



(B)



(C)



(D)


1670


(A)



(B)



(C)



(D)






Deutschland haben, hat mit der Weltkonjunktur praktisch
nichts zu tun.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei Abgeordneten der SPD)


Die Weltwirtschaft ist im Jahre 2002 um 3,7 Prozent
gewachsen. Der Export aus Deutschland hat damit zwar
nicht Schritt gehalten; aber er ist immerhin stärker als die
Binnenwirtschaft gewachsen. Dass wir überhaupt noch
ein geringfügiges Wirtschaftswachstum – es lag knapp
oberhalb der Nachweisgrenze – gehabt haben, ist dem Ex-
port zu verdanken und nicht der Binnenkonjunktur. Mitt-
lerweile sprechen viele europäische Länder – wie ich
finde, zu Recht – von der „deutschen Krankheit“. Das ei-
gentliche Problem ist die Wirtschaftspolitik der rot-grü-
nen Bundesregierung seit vier Jahren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Herr Bundeskanzler, Sie verantworten 37 000 Kon-

kurse im Jahre 2002. Die meisten zusammengebrochenen
Unternehmen waren kleine und mittelständische Be-
triebe, also Unternehmen der mittelständischen Wirt-
schaft, und nur wenige große. Sie haben vor Jahr und Tag
das Ziel formuliert, die Anzahl der Arbeitslosen in
Deutschland auf 3,5 Millionen zu senken. Daran wollten
Sie sich über den gesamten Verlauf der letzten Wahlpe-
riode messen lassen.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Da sitzt er, der Prahlhans!)


Zu Beginn dieser Wahlperiode, in der Sie leider immer
noch regieren, haben wir 4,5 Millionen Arbeitslose. Herr
Bundeskanzler, das ist mindestens 1 Million zu viel. Es
sind Ihre Arbeitslosen, weil es Ihre Wirtschaftspolitik und
Ihre Arbeitsmarktpolitik ist, die in der Zahl der Arbeits-
losen zum Ausdruck kommt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Bedauerlicherweise sagt der Bundeswirtschaftsmi-

nister weder in seinem Jahreswirtschaftsbericht vom ges-
trigen Tag noch in seiner Rede zur Mittelstandspolitik am
heutigen Tag etwas zu den langfristigen Entwicklungen
der zentralen Rahmendaten unserer Volkswirtschaft. Da-
zu gehört – ob Sie es nun hören wollen oder nicht – die
Entwicklung der Staatsquote. Wir können in diesem
Haus – wir tun das seit langer Zeit – über Mittelstand, über
Wirtschaft sowie über Beschäftigung lange streiten und
diskutieren und dabei viele einzelne Schritte gehen. Wenn
die Staatsquote dieses Landes nicht langfristig zurückge-
führt wird, wenn die Freiräume für Wirtschaft und Be-
schäftigung nicht vergrößert werden, dann werden alle
Bemühungen vergebens sein. Ein Land, das eine Staats-
quote von fast 50 Prozent hat, bzw. eine Volkswirtschaft,
in der fast die Hälfte des Sozialprodukts durch Steuern
und Sozialversicherungsbeiträge absorbiert wird, weil die
staatlichen Institutionen dieses Geld brauchen, ist in
Wahrheit keine soziale Marktwirtschaft mehr; sie ist eine
Staatswirtschaft mit abnehmendem privaten Sektor.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Was ist mit Skandinavien? Sagen Sie das doch den Schweden und den Norwegern!)


Gerade für kleine und mittlere Unternehmen ist eine
abnehmende Staatsquote, also ein geringerer Anteil des
Staatsverbrauchs am Sozialprodukt, die Existenzbedin-
gung schlechthin.


(Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Volkwirtschaftlicher Unsinn!)


Kleine und mittlere Unternehmen werden in diesem
Lande nur dann dauerhaft eine Chance haben, wenn sie
weniger Steuern und weniger Sozialversicherungs-
beiträge zahlen müssen. Im Klartext: Kleinere und mitt-
lere Unternehmen werden in diesem Lande nur dann dau-
erhaft eine Chance haben, wenn der Staat weniger von
dem Sozialprodukt verbraucht, das die Unternehmen er-
wirtschaften.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wenn Sie diese Zusammenhänge in einer so wichtigen
Debatte über die Zukunft des Mittelstandes noch nicht
einmal erwähnen, meine Damen und Herren von der rot-
grünen Koalition, dann befürchte ich, dass es auch im
Jahre 2003 mit der Volkswirtschaft in Deutschland nicht
besser laufen wird als im Jahre 2002.

Wir haben nun in wenigen Stunden den ersten Monat
des Jahres 2003 hinter uns. Sie, Herr Bundeswirtschafts-
minister, reden zu Recht von Bürokratieabbau. Ich habe
Ihnen das vor einiger Zeit von dieser Stelle aus schon ein-
mal gesagt: Der Bund hat in der letzten Wahlperiode, der
14., insgesamt 391 neue Gesetze und 973 neue Rechts-
verordnungen erlassen. Das war sozusagen das Programm
für Bürokratieabbau in der letzten Wahlperiode. Jetzt
sprechen Sie wiederum von Bürokratieabbau.Wenn wir
morgen in das Wochenende gehen und die ersten 100Tage
der neuen rot-grünen Bundesregierung, die fast die alte
ist, vorbei sind, dann werden in diesem Land erneut
22 neue Gesetze und fast 100 Rechtsverordnungen in
Kraft getreten sein. Ein Land, in dem der Staat sich in ei-
ner solchen Überregulierung verfängt und in dem die Ge-
sellschaft daran glaubt, dass das Leben nur noch durch
Gesetze und Verordnungen und nicht mehr durch Unter-
nehmen und Arbeitnehmer, die auch frei etwas entschei-
den können, geregelt werden kann, wird aus der Beschäf-
tigungskrise nicht herausfinden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Zu den besonders schwer wiegenden Fehlentscheidun-
gen der rot-grünen Koalition gehört die Steuerpolitik.


(Franz Müntefering [SPD]: Merz war auch schon überzeugender!)


Wir haben gegen Ende des letzten Jahres den Jahres-
wirtschaftsbericht diskutiert. Der Sachverständigenrat hat
20 Vorschläge gemacht, wie man aus der Wachstums- und
Beschäftigungskrise herausfinden kann. Herr Bundesfi-
nanzminister und Herr Bundeswirtschaftsminister, Steu-
ererhöhungen sind in der Liste dieser 20 Vorschläge des
Sachverständigenrates nicht enthalten gewesen. Sie haben
zum 1. Januar 2003 eine hohe Zahl neuer Steuererhöhun-
gen in Kraft treten lassen und Sie muten uns jetzt allen
Ernstes im Zusammenhang mit dieser Mittelstandsdebatte

Friedrich Merz




Friedrich Merz
zu, dass wir in wenigen Tagen nach Ihrem Willen erneut
über mehr als 40 weitere neue Steuererhöhungen be-
schließen sollen.

Glaubt denn irgendjemand in diesem Haus im Ernst,
dass der Mittelstand in Deutschland so wieder auf die
Füße kommt? Glaubt irgendjemand im Ernst, dass Sie mit
noch höheren Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen
und noch mehr Belastungen in diesem Lande wieder mehr
Beschäftigung in den kleinen und mittleren Betrieben er-
reichen können? Das glatte Gegenteil wird eintreten:
Wenn Sie so weitermachen, stehen wir zu Beginn des Jah-
res 2003 wahrscheinlich am Anfang des Jahres mit der
schwersten Wirtschaftskrise, die dieses Land in seiner Ge-
schichte erlebt haben wird, weil Sie immer noch nicht ver-
standen haben, was die Grundbedingungen für eine ge-
sunde Volkswirtschaft sind, und immer noch nicht
eingesehen haben, welche gravierenden Fehler Sie ge-
macht haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der SPD)


Ich will das anhand eines ganz konkreten Beispiels,
Herr Bundeswirtschaftsminister, zu belegen versuchen.
Dieses Steuersubventionsabbaugesetz,was Ihr Nachbar
zur Linken jetzt vorgelegt hat, ist ein Gesetz, mit dem Sie
einen Marketingerfolg erzielt haben. So glauben aufgrund
der Überschrift immer noch einige Journalisten, es han-
dele sich um einen Beitrag zur Sanierung der Staatsfinan-
zen. In Wahrheit ist es ein Steuererhöhungsgesetz, dessen
Volumen in den nächsten vier Jahren mindestens 20, mög-
licherweise 30 Milliarden Euro an Belastungen für Wirt-
schaft und Arbeitsplätze in Deutschland entspricht. Sie
verkünden hier vor diesem Hintergrund voller Stolz, dass
Sie steuerliche Entlastungen für den Mittelstand zwischen
35 und 60 Millionen Euro mit Ihrem Mittelstandsförde-
rungsprogramm auf den Weg bringen.

Herr Bundeswirtschaftsminister, wenn in diesen Tagen
jemand seine Bilanz für das letzte Jahr erstellt, wird er
darin kaum noch Gewinne ausweisen können. Wenn er
dann unter Einbeziehung der Vorschläge des Bundeskabi-
netts und der Steuererhöhungen, die jetzt bevorstehen, in
das Jahr 2003 hineinblickt, muss es ihm wie Hohn vor-
kommen, dass Sie jetzt eine steuerliche Entlastung vor-
schlagen, der auf der anderen Seite höhere Belastungen,


(Zuruf von der FDP: 17 Milliarden!)

die auf die Volkswirtschaft und damit auf die mittelstän-
dischen Betriebe zukommen, gegenüberstehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich will in dem Zusammenhang nur der Vollständigkeit

halber sagen: Der Bundesfinanzminister konnte natürlich
leichter Hand zustimmen, bis zu einem Umsatz von
17 500 Euro im Jahr einen pauschalen Betriebsausgaben-
abzug zuzulassen. Zeigen Sie mir einmal ein Unterneh-
men, ein ganz kleines, ein kleines, ein mittleres oder ein
großes, das 50 Prozent Umsatzrendite macht, Herr Bun-
deswirtschaftsminister.
Das ist doch geradezu lächerlich. Da können Sie auch
175 000 Euro hinschreiben; es gibt kein Unternehmen,
das allen Ernstes von einem pauschalen Betriebsausga-

benabzug in der Größenordnung von 50 Prozent profitiert.
Das ist ein Popanz, den Sie hier mit schönen Worten auf-
bauen und der mit der wirtschaftlichen Realität in
Deutschland nichts, aber auch gar nichts zu tun hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie haben uns schon im Oktober des letzten Jahres

voller Stolz ein Programmmit dem Namen „Kapital für
Arbeit“ vorgestellt, das bei der Kreditanstalt für Wieder-
aufbau eingerichtet worden ist, einer Bank, die jetzt den
schönen Namen Mittelstandsbank tragen soll; das ist also
keine neue Institution, sie bekommt nur ein neues Tür-
schild. Die Bilanz dieses Programms „Kapital für Arbeit“
sieht nach zweieinhalb Monaten wie folgt aus: Bis Mitte
Januar sind in zweieinhalb Monaten, zehn Wochen, ins-
gesamt 121 Anträge bewilligt worden


(Heiterkeit des Abg. Hans Michelbach [CDU/CSU])


mit einer Fördersumme von 32,5 Millionen Euro. Damit
sind rund 860 Arbeitsplätze in Deutschland gefördert
worden.

Herr Bundeswirtschaftsminister, in Deutschland ma-
chen jeden Werktag 200 Unternehmen Pleite. Wenn man
unterstellt, dass dadurch „nur“ – in Anführungsstrichen –
zehn Arbeitsplätze pro Unternehmen damit verloren ge-
hen, dann gehen durch die Wirtschaftspolitik dieser rot-
grünen Bundesregierung jeden Tag mehr als doppelt so
viel Arbeitsplätze verloren, wie Sie in zweieinhalb Mona-
ten mit dem so aufwendig verkauften Programm „Kapital
für Arbeit“ in Deutschland neu geschaffen haben. Sehen
Sie nicht die Relationen zwischen dem, was Sie auf der ei-
nen Seite tun, und dem, was Sie auf der anderen Seite
durch die für unsere Volkswirtschaft schwer wiegenden
Verwerfungen und diesen Nachkriegsrekord an Unterneh-
menskonkursen in Deutschland zulassen?


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich weise auf eine Kostenbelastung hin, die in den letz-

ten Wochen und Monaten praktisch außerhalb des Fokus
der deutschen Öffentlichkeit und außerhalb der Betrach-
tung der politischen Diskussion geblieben ist – bedauer-
licherweise, wie ich finde –: die Entwicklung der Ener-
giekosten in Deutschland. Meine Damen und Herren, in
vier Jahren Rot-Grün hat sich die Steuer auf Strom von
ungefähr 2 Milliarden Euro im Jahr auf jetzt über 12 Mil-
liarden Euro pro Jahr fast versechsfacht. Sie haben die
Steuerbelastung auf Energie, auf Strom – damit sind alle
Unternehmen unmittelbar betroffen – in den vier Jahren
Ihrer Amtszeit fast versechsfacht.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Sie müssen sich den Saldo anschauen!)


Das heißt im Klartext, Sie haben durch diese steuerliche Be-
lastung auf den Faktor Energie – Energiekosten sind ein
wichtiger Bestandteil jedes Unternehmens, auch mit Blick
auf den unternehmerischen Erfolg – praktisch den gesamten
Rationalisierungs- und Liberalisierungsgewinn abgeschöpft


(Michael Glos [CDU/CSU]: Richtig! Für die grünen Schutzgelderpresser!)


und auf diese Weise dafür gesorgt, dass trotz des Wettbe-
werbs und sinkender Preise in Deutschland im Ergebnis


(A)



(B)



(C)



(D)


1672


(A)



(B)



(C)



(D)






mittlerweile mit die höchsten Energiepreise in der gesam-
ten Europäischen Union bestehen.

Was nützt Ihr Mittelstandsprogramm, wenn zu demsel-
ben Zeitpunkt diejenigen, die hier wettbewerbsfähige Be-
triebe aufbauen sollen, immer höhere Steuern und immer
höhere Energiekosten zu tragen haben?


(Ludwig Stiegler [SPD]: 20,3 Prozent Rentenbeiträge!)


Es nützt nichts! Sie müssen diese Kostenbelastung sen-
ken, sonst wird das beste Programm nichts nützen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf der Abg. Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD])


Meine Damen und Herren, für den Zwischenruf, den
ich gerade gehört habe, bin ich außergewöhnlich dankbar.
Sie sagen, dafür seien aber die Lohnzusatzkosten ge-
senkt worden.


(Ludwig Stiegler [SPD]: 20,3 Prozent waren eure Beiträge!)


Das hätten Sie nun besser nicht gesagt. Wir befinden uns
am Anfang des Jahres 2003 bei einer Belastung mit Lohn-
zusatzkosten, allein durch Sozialabgaben, von jetzt wie-
der über 42 Prozent. Die Wahrheit ist doch, dass beides
dramatisch ansteigt:


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

einerseits die Steuerbelastung und die Kostenbelastung
durch Energie und andererseits die Sozialversicherungs-
beiträge. Sie sind doch am Ende mit Ihrer Politik der Hin-
und Herschieberei zwischen den einzelnen Haushalts-
titeln dieses Landes!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie von der SPD brauchen sich im Übrigen doch nicht

darüber zu beklagen, dass die Spielräume in den öffent-
lichen Haushalten für eine vernünftige Steuerpolitik mit
Abgabensenkungen nicht mehr vorhanden sind. Ich will
in diesem Zusammenhang eine Zahl nennen – ich muss
immer wieder feststellen, dass die Bürgerinnen und Bür-
ger in diesem Lande sie fast nicht kennen –, die verdeut-
licht, wie der Bundeshaushalt mittlerweile durch die
Zuschüsse zur Rentenversicherung belastet wird. Das
Gesamtvolumen des Bundeshaushalts beträgt knapp
250 Milliarden Euro. Der laufende Zuschuss aus diesem
Haushalt an die Rentenversicherung und Knappschafts-
versicherung beläuft sich auf über 77 Milliarden Euro.


(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Ein Drittel!)


Das heißt, fast ein Drittel der Ausgaben des Bundes ent-
fallen auf die Zuschüsse an die Rentenversicherung.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Wollt Ihr die Renten kürzen?)


Im Klartext heißt das: Sie haben nicht ein einziges Pro-
blem gelöst. Sie haben nur die Finanzierung hin und her
geschoben.


(Klaus Brandner [SPD]: Wir haben die Fehlentwicklungen aufgehoben, Herr Merz!)


Sie haben dafür gesorgt, dass die öffentlichen Haushalte in
diesem Lande praktisch handlungsunfähig geworden sind,
weil Sie es nicht geschafft haben, die Probleme zu lösen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP– Klaus Brandner [SPD]: Eine Unmöglichkeit sondergleichen!)


Wir sollten gemeinsam handeln. Ich betone das, weil
ich meine, dass die Zeiten der kleinkarierten parteipoliti-
schen Auseinandersetzungen nun wahrlich vorbei sind.


(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Krista Sager [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist eine späte Einsicht!)


– Was die Wählerinnen und Wähler von der Art und Weise
halten, wie Sie die Auseinandersetzung führen, werden
wir uns gemeinsam am Sonntagabend anschauen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das ist ja wohl nicht zu fassen!)


Wir werden ja sehen, wie am Montagmorgen die Lage in
Deutschland ist. Trotz aller christlichen Demut bin ich schon
heute voller Schadenfreude auf Ihre Gesichter gespannt.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU – Ludwig Stiegler [SPD]: Das haben wir am 22. September gesehen!)


Die Zeiten des Klein-Kleins sind vorbei. Ich will zwei
Punkte ansprechen, die wichtig sind, um aus der Wachs-
tums- und Beschäftigungskrise herauszukommen.

Der erste Punkt. Sie müssen gerade kleinen und mitt-
leren Unternehmen das Recht verschaffen, von bestehen-
den Regelungen der Flächentarifverträge abzuweichen,


(Zurufe SPD: Oh!)

wenn die Betriebsparteien dies wollen und darin überein-
stimmen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich sage Ihnen: Dies ist eine der zentralen wirtschafts-
politischen Herausforderungen, vor der wir stehen. Sie
müssen sich in der SPD aus der Umklammerung der
DGB-Gewerkschaften lösen


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

und bereit sein, hier ein Stück Freiheit für kleine und mitt-
lere Unternehmen zu ermöglichen, damit sie nicht nur in
der Krise eine Chance haben, zu überleben, sondern da-
mit sie auch eine Chance haben, in Zeiten, in denen es den
Unternehmen relativ gut geht, neue Investitionen zu täti-
gen und neue Arbeitsplätze zu schaffen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich will Ihnen ein Zweites sagen, das besonders für den

Mittelstand gilt. Gerade imMittelstand ist eines der größten
Probleme, dass das Lohnabstandsgebot nicht eingehalten
wird und die Konkurrenz durchABM-Gesellschaften,


(Klaus Brandner [SPD]: 450 000 in 1998!)

insbesondere im Osten, das Entstehen von mittelständi-
schen Unternehmen praktisch unmöglich macht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Friedrich Merz




Friedrich Merz

Herr Bundeswirtschaftsminister, vielleicht können Sie
und andere Mitglieder der Bundesregierung nach dem kom-
mendem Sonntag über dieses Thema etwas unbefangener
mit uns sprechen. In diesem Land muss der Grundsatz wie-
der gelten, dass derjenige, der arbeitet, mehr Geld verdient
als derjenige, der nicht arbeitet und soziale Leistungen be-
zieht. Wenn Sie aber diesen Grundsatz dauerhaft verletzten,
dann wird weder Beschäftigung entstehen noch haben mitt-
lere und kleine Unternehmen in diesem Lande eine Chance.

Herzlichen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1502200300

Ich erteile das Wort dem Kollegen Fritz Kuhn, Bünd-

nis 90/Die Grünen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Da wollen wir mal gucken, was der davon weiß!)



Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502200400

Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Herr Merz, die Lebenserfahrung lehrt, dass die
Welt nicht so einfach ist, wie Sie sie gerade dargestellt
haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ihre Rede hatte ja eine einfache Grundaussage: Für alles
Positive in Deutschland ist die Union zuständig und für al-
les Negative in Deutschland ist die Regierung zuständig.
Wenn Sie mit diesem einfachen Weltbild leben wollen,
wünsche ich viel Vergnügen.

Sie haben gesagt: Wir kommen nur weiter, wenn wir
mit kleinkariertem Parteiengezänk und Hickhack auf-
hören. Ihre Rede war aber nichts anderes.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich will dies ganz konkret an den Punkten, die Sie genannt
haben, darstellen. Es weiß doch nun inzwischen jeder, der
über Wirtschaftspolitik und Arbeitslosigkeit diskutiert,
dass die hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland, die wir
bekämpfen müssen, zwei Ursachen hat und nicht eine,
wie Sie es darstellen.

Die eine ist tatsächlich die Entwicklung der Welt-
konjunktur mit dem Börsencrash, den wir erlebt haben.
Damit das Gerede, Außenfaktoren hätten keine Wirkung,
aufhört, will ich eine Zahl nennen: Der Börsencrash seit
August 2000 hat allein in der Euro-Zone Börsenwerte in
Höhe von 2 900 Milliarden Euro vernichtet. Dass dies
Auswirkungen auf die Investitionen, auf das Konsum-
klima, auf die allgemeine Stimmung und auf die Arbeits-
losigkeit hat, ist doch vollkommen logisch. Wenn Sie das
bestreiten, indem Sie sagen, an allem sei die Bundesre-
gierung schuld, dann zeigen Sie damit, dass Sie makro-
ökonomisch – das war ja Ihr Anspruch – keine Ahnung ha-
ben und Ihre Betrachtung der Wirklichkeit falsch ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Michael Glos [CDU/CSU]: Sie haben die Leute angeschmiert! Was ist mit der Telekom-Aktie?)


Am zweiten Punkt, Herr Merz, treffen wir uns. Die der-
zeitige Situation hat natürlich auch hausgemachte Ursa-
chen. Es gibt Strukturprobleme am Standort Deutsch-
land, die wir zusammen bekämpfen müssen. Ich will die
wichtigsten nennen.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Sie sind nicht auf dem Grünen-Parteitag! Bleiben Sie bei der Wahrheit!)


Wir haben die deutsche Einheit falsch finanziert, darunter
leiden die Sozialversicherungssysteme. Dazu haben Sie
nichts gesagt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


30 Milliarden Euro jährlich fehlen uns, weil wir die deut-
sche Einheit aus Kassen finanzieren, die dafür nicht vor-
gesehen sind.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Dafür habt ihr den Kohl immer beschimpft!)


Auch aus diesem Grund steigen die Lohnnebenkosten und
die Arbeitslosen sind diejenigen, die darunter zu leiden
haben.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Gehen Sie doch auf Ihren Parteitag! Da können Sie den Unfug vortragen!)


Wir finanzieren die sozialen Sicherungssysteme nach
wie vor falsch, wir koppeln die Beiträge zu stark an die
Löhne.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Ein typischer Parteitagsredner!)


Hier müssen wir gründliche Veränderungen schaffen, und
zwar zunächst aus demographischen Gründen, aber auch
deshalb, weil in einer sozialen Marktwirtschaft, die die so-
zialen Transferleistungen in den Bereichen Gesundheit,
Rente und Pflegeversicherung ausschließlich aus Beiträgen
finanziert, die Arbeitslosen die Verlierer sein werden. So-
ziale Sicherung zulasten der Arbeitslosen ist in der sozia-
len Marktwirtschaft nicht wirklich eine soziale Sicherung.
Deswegen werden wir da umbauen müssen. Das sagen wir
gerade in Bezug auf den Mittelstand, der unter den hohen
Lohnnebenkosten ja viel mehr leidet als die Großbetriebe,
die mit Produktivitätssteigerungen hohe Lohnnebenkosten
in mittlere Lohnstückkosten verwandeln können, was vie-
len kleinen Handwerksbetrieben nicht möglich ist.


(Dirk Niebel [FDP]: Wer regiert hier denn? Dann macht es doch!)


Deswegen ist das Jahr 2003 das Jahr der Reformen. Die
Grundlagen der sozialen Sicherungssysteme müssen bis
zum Ende dieses Jahres reformiert werden.

Wir haben Probleme mit den Banken. Es ist wahr, dass
sich vor allem die Großbanken und die privaten Banken,
anders als die öffentlich-rechtlichen Banken und die Ge-
nossenschaftsbanken, aus dem Kreditgeschäft für den
Mittelstand verabschiedet haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



(A)



(B)



(C)



(D)


1674


(A)



(B)



(C)



(D)






Das muss sich ändern, weil in der sozialen Marktwirt-
schaft auch hier Verantwortung übernommen werden
muss.

Herr Merz, ein weiteres Problem ist die Bürokratie,
über die wir im Zusammenhang mit der Entbürokrati-
sierungsoffensive der Regierung ausführlich zu sprechen
haben werden. Ich komme in meiner Rede auf diesen
Punkt noch zurück.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Eine Drohung! – Volker Kauder [CDU/CSU]: Aber nicht in der Jungfernrede!)


Ich sehe noch ein Problem, das Sie angehen müssen,
Herr Merz. Die Opposition in Deutschland redet die Qua-
lität des Standortes und die Qualität der Wirtschaft in
Deutschland schlecht, weil Sie daraus politischen Nutzen
ziehen will.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der SPD – Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieses Jammern, dieses Schlechtreden und dieses Mies-
machen ist ein Teil der deutschen Krankheit, die Sie be-
klagt haben. Wenn das nicht aufhört, wird genau das ein-
treten, was Sie bejammern, aber das hilft den Menschen
nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Sie sagen, Sie wollen mitarbeiten und als Opposition hel-
fen, dass es besser wird. Voraussetzung dafür ist, dass die-
ses Mobbing des Standorts Deutschland, das die Union
systematisch als Parteistrategie betreibt, unterbleibt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Michael Glos [CDU/CSU]: So ein Witzbold! Schämen Sie sich! Herr Präsident, kann hier jeder jeden Unsinn reden?)


– Aber was machen Sie denn anderes, als Deutschland
schlechtzureden, Herr Glos? Das ist alles, was Sie in den
vergangenen Monaten in politischer Hinsicht angepackt
haben. Das müssen Sie sich einmal anhören, auch wenn
es wehtut. Ich kann allerdings verstehen, dass es wehtut.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Eines war auffällig, Herr Merz. Da wir uns in einer
Konjunkturkrise befinden, können Sie nicht in Abrede
stellen, dass zum Beispiel im Jahr 2003 – in diesem
Fall durch den Bund – 18 Milliarden Euro für die Sanie-
rung der öffentlichen Haushalte aufgebracht werden
müssen.

Sie haben zum wiederholten Male festgestellt, was Sie
nicht wollen. Sie wollen keine Steuererhöhungen, wobei
Sie übrigens wieder den kleinen logischen Fehler began-
gen haben, den Abbau von Steuervergünstigungen als
Steuererhöhung zu bezeichnen. Das ist aber nicht richtig;
dabei handelt es sich um verschiedene Maßnahmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie sind wirklich ein Witzbold!)


Sie sind gegen die Sparvorschläge, die die Regierung
zum Beispiel bei der Eigenheimzulage unterbreitet hat.
Sie sind auch gegen eine Neuverschuldung, zumindest be-
treiben Sie eine heftige Polemik dagegen.


(Michael Glos [CDU/CSU]: Was habt ihr denn anders gemacht?)


Ist also alles wunderbar? Führt Herr Merz in seiner
Rede alle Möglichkeiten aus, wie der Haushalt mit
18 Milliarden Euro saniert werden kann? Nein, und das ist
die große Katastrophe! Nach Monaten der öffentlichen
Diskussion macht er noch immer keine einzige Aussage
dazu, wie er die Krise meistern will.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Dann haben Sie nicht zugehört!)


Wir befinden uns, wie gesagt, in einer Konjunkturkrise,
aber er äußert sich nicht dazu, was in Deutschland zu tun
ist. Stattdessen delektiert er sich fröhlich daran, der Re-
gierung die Schuld zuzuweisen.

Sie versteigen sich in die absolute Staatsgläubigkeit,
wenn Sie die Auffassung vertreten, der Kanzler sei an den
Konkursen schuld. Soweit kommt es noch, dass an jedem
einzelnen Konkurs in der freien sozialen Marktwirtschaft
der Bundeskanzler persönlich schuld sein soll! Die Staats-
gläubigkeit, die Sie hier vertreten, ist doch absurd!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Widerspruch bei der CDU/CSU)


Deswegen wird in den nächsten Wochen und Monaten
im Bundesrat die Stunde der Wahrheit kommen, Herr
Merz. Da muss sich die Union – für die FDP gilt im
Grunde das Gleiche – dazu äußern, was sie konkret tun
will. Sie müssen zum Beispiel dazu Stellung nehmen, ob
Ihre Aussage vom Sommer, die Körperschaftsteuer müsse
verstetigt und Einnahme des Staates werden, noch gilt.
Sie müssen der Öffentlichkeit klar machen, ob Sie dafür
sind, dass die Steuerguthaben der Betriebe, die noch aus
Ihrer Regierungszeit stammen, anders verrechnet werden,
und ob Sie die von uns vorgeschlagene Mindestbesteue-
rung befürworten. Ich will an dieser Stelle – weil wir gerade
über den Mittelstand reden – betonen, dass die Mindest-
besteuerung in Deutschland nur mit einem vernünftigen
Sockelbetrag erfolgen kann. Nur so werden Investitionen
der kleinen und mittleren Betriebe möglich und diese sind
die Grundlage für das Wachstum in unserem Land.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das steht aber nicht im Gesetz!)


Für meine Fraktion möchte ich eines klarstellen: Nur
wenn in Deutschland Reformen angepackt werden – und
zwar nicht nur hier und dort ein Progrämmchen, sondern
auch elementare Reformen zum Beispiel bei den sozialen
Sicherungssystemen –,


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: 19,5 Prozent Krankenversicherungsbeitrag!)


können wir in Deutschland die Krise überwinden. Ich
sage das auch an die Adresse unseres Koalitionspartners
gerichtet, Herr Stiegler. Wir haben uns zwar nicht an der

Fritz Kuhn




Fritz Kuhn
Diskussion zu beteiligen, welche Rolle Oskar Lafontaine
spielen wird,


(Ludwig Stiegler [SPD]: Ich auch nicht!)

aber ich möchte eines festhalten: Die Vorstellung, die
Reichen sollten mehr zahlen, dann würde in Deutschland
strukturell alles besser werden, die Oskar Lafontaine in
der „Bild-Zeitung“ verbreitet hat, bildet nicht die Basis
unserer Koalition.


(Lachen bei der CDU/CSU – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Das ist ja stark!)


Richtig ist – damit wende ich mich an Sie, Herr Merz –,
dass zwar überall Reformen notwendig sind,


(Horst Seehofer [CDU/CSU]: Weiter so!)

trotzdem möchte ich auf einen Punkt Ihrer Rede eingehen,
der nicht richtig ist. Wir haben in Deutschland nicht ir-
gendeine Marktwirtschaft, sondern eine soziale Markt-
wirtschaft. Das, was Sie getan haben – zum Beispiel die
Kürzungen bei der Arbeitslosenhilfe durchzuwinken, die
den Empfängern von Arbeitslosenhilfe wehtun,


(Dirk Niebel [FDP]: Aber Sie haben es doch vorgemacht!)


aber im Hinblick auf Maßnahmen, die die Besserverdie-
nenden bzw. den Mittelstand unserer Gesellschaft treffen,
zu erklären, damit hätten Sie nichts zu tun –, entspricht
nicht der sozialen Gerechtigkeit, wie wir sie uns vorstel-
len und wie wir sie in Deutschland brauchen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich möchte zum Abschluss auf einige Punkte der Mit-

telstandsoffensive unseres Wirtschaftsministers eingehen.
Herr Minister, wir Grüne sind Teil der von Ihnen vorge-
stellten Reformallianz für den Mittelstand. Einen zentra-
len Punkt stellt die Entbürokratisierung dar. Im Gespräch
mit mittelständischen Betrieben ist festzustellen, dass vor
allem die mangelnde Motivation aufgrund zu vieler büro-
kratischer Auflagen eines der Hauptprobleme der Be-
triebe darstellt.

Dabei ist Folgendes zu unterscheiden: Für einen Be-
trieb mit 400 Beschäftigten sind die Auflagen kein großes
Problem, weil er viele staatliche Auflagen mit eigenem
Personal bearbeiten kann. In einem Betrieb mit sechs oder
acht Angestellten ist es aber Chefsache, diese Bürokratie
zu übernehmen. Dies hindert die Betreiber der Betriebe
daran, das eigentliche Geschäft voranzutreiben. Deswe-
gen brauchen wir die Entbürokratisierung.

Ich glaube nicht, dass wir dies schaffen, wenn wir
sagen: Wir sammeln einmal ein paar Vorschläge. Wir
müssen unser Staatsverständnis überdenken. Nur
wenn wir als Staat bereit sind, im Rahmen einer Aufga-
benkritik wirklich zu überlegen, was wir permanent kon-
trollieren müssen und was dokumentiert werden muss,
und bereit sind, die eine oder andere Kontrollaufgabe
zu verringern, haben wir die Chance, dass die Entbüro-
kratisierung ein wirklich breites Programm wird und
nicht einfach eine Forderung, die man in den Raum
stellt. Wer die Politik im Bund und in den Ländern
kennt, der weiß, dass es seit vielen Jahren überall große

Entbürokratisierungskommissionen gibt, die wenig um-
gesetzt haben.

Ich will es noch einmal sagen: Unser Staatsverständnis
und die Frage, ob vom Staat alles Gute, das es bei uns gibt,
permanent überwacht und kontrolliert werden muss und
ob die damit verbundenen Dokumentationspflichten, zum
Beispiel beim Handwerk, aufrechterhalten werden müs-
sen, gehören auf den Prüfstand, wenn wir die Entbüro-
kratisierung in Deutschland wirklich ernst nehmen.

Ein weiteres Problem für viele Betriebe ist die Liqui-
dität. Den Rückzug der Privatbanken aus der Verantwor-
tung habe ich angesprochen. Es kommt darauf an, was ge-
nau die neue Mittelstandsbank tun wird. Ich glaube, dass
ein wesentliches Element sein muss, die vielen Förder-
programme in Deutschland zu vereinfachen. Hier muss
eine Interaktion, eine Zusammenarbeit mit den Landes-
banken und deren Programmen stattfinden; sonst kann
das nicht funktionieren. Wir müssen uns vor allem fragen
– das halte ich für einen wichtigen Punkt –, ob die neue
Mittelstandsbank auch Innovationen des Mittelstands fi-
nanzieren kann, soweit sie von Hausbanken nicht über-
nommen werden können.

Ich komme zum Schluss und will für meine Fraktion
feststellen: Wir glauben, dass man in Deutschland sehr
viel für den Mittelstand tun kann.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist wohl wahr!)


Strukturreformen sind dabei entscheidend. Ich fordere Sie
auf, dabei nicht die Haltung, die Bundesregierung sei
schuld, an den Tag zu legen, sondern in den nächsten Mo-
naten mit eigenen machbaren Vorschlägen, zum Beispiel
in Bezug auf die Steuerpolitik und die Haushaltskonsoli-
dierung,


(Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Sie müssen einmal die Unterlagen lesen!)


in Erscheinung zu treten. Dies sind Sie nämlich bisher
nicht.

Wir Grüne haben Lust, diesen Reformprozess mitzu-
betreiben.


(Zuruf von der CDU/CSU: Lust allein reicht nicht!)


Wir gehören zu der Allianz, die Sie, Herr Minister, einge-
fordert haben. Ich kann nur betonen: Alle Menschen in
Deutschland, die etwas unternehmen, die Risiken einge-
hen wollen, haben in meiner Partei bzw. in meiner Frak-
tion einen Bündnispartner. Denn wir wollen einen Prozess
in Gang setzen, der dazu führt, dass in Deutschland Re-
formen stattfinden und wir nicht den Status quo verteidi-
gen oder uns einfach in Wolkenkuckucksheimdiskussio-
nen, wie das Herr Merz getan hat, vergnügen. Ihre Rede,
Herr Merz, war zwar vergnüglich; aber Vorschläge der
Union sind nicht auf den Tisch gelegt worden. Diese hät-
ten heute kommen müssen, damit man sieht, was Sie vor-
haben.

Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



(A)



(B)



(C)



(D)


1676


(A)



(B)



(C)



(D)







Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1502200500

Ich erteile das Wort dem Kollegen Rainer Brüderle,

FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)



Rainer Brüderle (FDP):
Rede ID: ID1502200600

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol-

lege Kuhn, Sie haben heute eine Wutrede gehalten. Ich er-
laube mir den Hinweis: Wir können nichts dafür, dass Sie
nicht mehr Vorsitzender der Grünen sind und jetzt Herrn
Schulz, einen geschätzten Kollegen, aus der Wirtschafts-
politik verdrängen.


(Heiterkeit und Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ihre permanenten Hinweise auf die Weltwirtschaft
als Ursache der aktuellen Situation sind unerträglich. Es
gibt nicht zwei Typen von Weltwirtschaft: eine, die eine
böse Verschwörung gegen uns Deutsche ist und in der
wir arbeiten müssen, und eine wohl gesonnene Welt-
wirtschaft, in der die Engländer, die Holländer, die
Schweden und die Amerikaner arbeiten. Es gibt nur eine
Weltwirtschaft. Wenn wir in dieser einen Weltwirt-
schaft, wie sie sich heute darstellt, schlechter dastehen
als alle anderen, dann ist dies hausgemacht und dann
liegt dies an den Problemen in Deutschland und nicht
am Ausland.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ihre Ausflüchte, die Opposition rede, wenn sie ihre
Aufgabe wahrnimmt, auf Fehlentwicklungen hinzuwei-
sen und Alternativen aufzuzeigen, das Land schlecht, sind
eine Unverschämtheit.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Noch dürfen wir hier frei reden und unsere Meinung
äußern. Sie sollten nicht mit einer Attitüde auftreten, als
ob dieses Land Ihr Eigentum wäre. Verwechseln Sie nicht
Ihre Aufgabe; dieser Staat ist nicht das Eigentum von
Grün-Rot, sondern des ganzen Landes.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Nach fünf Jahren Regierungszeit wird es allmählich
unerträglich, dass Sie ständig auf die Vergangenheit ver-
weisen. Wirtschaftsgeschichte ist zwar ein interessantes
Thema, aber wer beim Autofahren ständig in den Rück-
spiegel schaut, Herr Kollege Kuhn, fährt an die Wand.
Schauen Sie einmal durch die Frontscheibe! Dann sehen
Sie die reale Lage in der Republik.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ich erlaube mir auch folgenden Hinweis, Herr Kuhn:

Wir haben keine Konjunkturkrise, wie Sie sagten, sondern
eine Strukturkrise, weil die Struktur in diesem Land nicht
stimmt, weil wir falsch aufgestellt sind. Deshalb wirken
sich die Veränderungen in der Welt in Deutschland un-

gleich stärker als in benachbarten europäischen Ländern
aus. Dafür sind Sie verantwortlich,


(Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Was ist das für ein Mist!)


weil Sie seit fünf Jahren die falsche Politik machen. Die
größte Fessel für den Mittelstand in Deutschland ist diese
grün-rote Regierung.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Jetzt, kurz vor zwei wichtigen Landtagswahlen, ent-
deckt Grün-Rot den Mittelstand. Ich habe heute etwas
über den Masterplan und den Small-Business-Act gelernt;
jeden Tag gibt es einen neuen bunten Luftballon, Herr
Clement, aber entscheidend sind Taten, nicht das Design
von Worten und ein Wortgeklingel. Reden Sie nicht nur
vom Kündigungsschutz, sondern verändern Sie etwas.
Geben Sie denen, die draußen stehen, eine Chance; wei-
chen Sie nicht zurück, wenn Ihre Betonfraktion nicht be-
reit ist, über neue Ansätze nachzudenken.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ein Bundeswirtschaftsministerium muss ein ord-
nungspolitisches Gewissen sein. Es muss von einem ganz-
heitlichen Ansatz ausgehen und darf keine Propagandama-
schine sein, die jeden Tag einen neuen Spruch erfindet,
neue Offensiven verkündet und Nebelkerzen wie den Jah-
reswirtschaftsbericht wirft. Der Minister hat bis vor weni-
gen Tagen noch von 1,5 Prozent Wachstum und 4Millionen
Arbeitslosen gesprochen. Jetzt wird das zurückgenommen;
mit einem voraussichtlichen Wachstum von 1 Prozent lie-
gen Sie immer noch am oberen Rand sämtlicher Prognosen
aller Wirtschaftsforscher und aller Bankinstitute, die sich
mit Wirtschaftsentwicklung beschäftigen. Sie können
glücklich sein, wenn dies eintritt, aber auch das werden Sie
nicht schaffen. Die Arbeitslosigkeit steigt.

Der Zusammenhang ist ganz klar: Die Steuern und Ab-
gaben steigen, die Arbeitslosigkeit steigt und das Wachs-
tum sinkt. Es gibt einen Sektor in Deutschland, der zulegt:
Das ist die Schwarzarbeit. Schwarzarbeit ist die Aus-
weichreaktion vieler, weil Sie ihnen mit unerträglichen
Belastungen, mit Abgaben und Steuern die Chance neh-
men, durch anständige, tüchtige Arbeit das zu verdienen,
was möglich wäre, wenn man entsprechende Rahmenbe-
dingungen gewährleistete.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das, was Sie im Jahreswirtschaftsbericht ansprechen,
nennen Sie Allianz für Erneuerung. Das ist schon ein
dreister Begriff. Diese grün-rote Regierung ist keine Al-
lianz der Erneuerung, sondern eine Allianz der Verteue-
rung und der Verschlechterung der Bedingungen für den
Mittelstand in Deutschland.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ihr Steuervergünstigungsabbaugesetz, das ein Steuer-
erhöhungsgesetz ist – es bringt 17 Milliarden Euro Zusatz-
belastungen –, zeigt doch, dass es in die falsche Richtung




Rainer Brüderle
geht. Ich frage mich immer wieder: Was hat der deutsche
Mittelstand dieser grün-roten Regierung getan, weswegen
er so mies behandelt wird? Irgendwo müssen Sie doch
eine psychologische Sperre haben; anderenfalls würden
Sie nicht permanent in die falsche Richtung gehen.

Die selbst ernannte Mittelstandsexpertin Frau Scheel
spricht von Mehrwertsteuererhöhung; anschließend wird
es weich dementiert. Ein anderer fordert die Vermögen-
steuer bzw. die Erhöhung der Erbschaftsteuer. Ihr wich-
tigster Koalitionspartner, der DGB, fordert in Person von
Herrn Sommer eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um
2 Prozentpunkte. Sie schaffen ein Klima, in dem die Men-
schen verzweifeln müssen und als Konsumenten ihr Geld
in einem Eichhörncheneffekt zurückhalten, weil sie nicht
wissen, ob sie ihren Job behalten oder, wenn sie ihn ver-
lieren, wieder einen bekommen. Diejenigen, die investie-
ren würden und auch müssten, sagen: Wir warten einmal
ab, was denen noch Neues einfällt, welche weitere Sau
durchs Dorf getrieben wird, welche neuen Belastungen
nach den beiden Landtagswahlen von der Regierung
kommen. – Ich ahne da nichts Gutes. Wahrscheinlich be-
treiben Sie schon die Vorbereitungen für eine Mehrwert-
steuererhöhung.


(Beifall bei der FDP – Ludwig Stiegler [SPD]: Weltuntergang!)


Unter dem Stichwort Mittelstandinitiative kündigen
Sie an, für Betriebe mit einem Umsatz von bis zu
17 000 Euro Steuererleichterungen zu gewähren.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: 17 500!)

– 17 500. – Selbst wenn man Umsatz mit Gewinn ver-
wechselt – Umsatz gleich Gewinn ist absurd –, käme man
auf monatlich nur etwas mehr als 1 000 Euro.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Almosen!)

Wo ist da der Appeal, der Anreiz, in die Existenzgründung
zu gehen, zumal ständig neue Verschlechterungen eintre-
ten?

Die Kammerbeiträge sollen für die kleinen Betriebe
abgeschafft werden. Die Realität ist, dass die meisten
Kammern in Deutschland das schon längst getan haben,
ohne dass es dazu einen Appell der Bundesregierung ge-
geben hätte.


(Beifall bei der FDP)

Zum Thema Ladenschluss. Sie kündigen an, die La-

denöffnungszeit am Samstag um vier Stunden zu verlän-
gern. Geben Sie den Ladenschluss doch in der Woche frei!


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Sehr richtig!)

Auch das geschieht nicht. Seien Sie doch konsequent!

Sie betreiben folgende Politik: Sie verschlechtern die
Bedingungen. Sie verschärfen den Kündigungsschutz. Sie
verstärken die Mitbestimmung. Sie erhöhen die Sozialab-
gaben. Dann nehmen Sie die Mehrbelastung um ein klei-
nes Stückchen zurück und sagen, das sei eine Großtat, mit
der Sie die Bedingungen in Deutschland verbesserten.
Das ist ungeheuerlich! Machen Sie es doch gleich richtig!


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Im Kern macht die Bundesregierung zwei Dinge
falsch. Sie hat erstens nicht verstanden, dass die soziale
Marktwirtschaft ein ganzheitliches System ist. Man muss
wissen, dass jede einzelne Maßnahme Auswirkungen hat.
Schon die Gründungsväter haben vor punktuellem Han-
deln und vor Interventionismus – das ist die alte indus-
triepolitische Denke – gewarnt. Sie müssen klare Rah-
menbedingungen schaffen. Die Politik muss berechenbar
sein und Vertrauen auslösen. In der Wirtschaft geht es
immer um das Rechnen. Wenn die Entwicklung nicht be-
rechenbar ist, kann man keine Entscheidung treffen. Wenn
man dennoch entscheidet, trifft man die falsche Entschei-
dung. Deshalb muss eine klare Linie erkennbar sein. Das
ist nicht der Fall, weil Sie durch hektischen Aktionismus
nur von eigenen Fehlentscheidungen ablenken wollen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zweitens. Im Kern verweigern Sie dem deutschen Mit-
telstand Freiheit. Das Steuerthema ist im Kern ein Frei-
heitsthema; denn entscheidend ist: In welchem Umfang
können die Menschen, seien es Handwerksmeister oder
auch Arbeitnehmer, selbst über die Verwendung dessen
entscheiden, was sie sich hart erarbeitet haben? Bei einer
Staatsquote von fast 50 Prozent nehmen Sie ihnen die
Freiheit. In der Tat ist die Frage: Ist es noch eine soziale
Marktwirtschaft, wenn die Hälfte dessen, was erwirt-
schaftet wird, über den Staat gelenkt wird? Ludwig Erhard
würde aus dem Grab steigen, wenn er so einen Quatsch
hörte wie den, bei einer sozialen Marktwirtschaft könnte
man einen Staatsanteil von 50 Prozent haben.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Bürokratieabbau – ein wunderschöner Ladenhüter;
davon reden wir alle schon lange. Weshalb geben Sie
Kommunen und Ländern nicht über Experimentierklau-
seln die Möglichkeit, Gesetze befristet außer Kraft zu set-
zen?


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Wir haben es beim Planungsbeschleunigungsgesetz ja ge-
habt, und zwar mit großem Erfolg. Geben Sie ihnen doch
diese Möglichkeit! Viele werden gar nicht merken, wenn
Gesetze sozusagen verschwinden, weil sie eh Unsinn sind
und weil sie nur diejenigen, die damit arbeiten müssen,
zusätzlich verunsichern.

Weshalb gehen Sie nicht konsequent an die Reform der
sozialen Sicherung heran? Die Riester-Rente ist im Kern
ein Schritt in die richtige Richtung, aber sie ist zu kom-
pliziert und reicht nicht aus. Sie müssen die Lohnneben-
kosten senken. Sie reden im Jahreswirtschaftsbericht da-
von, dass sie auf 40 Prozent gesenkt werden. Das wären
13 Milliarden Euro weniger. Machen Sie es! Ich sehe nir-
gends einen Ansatzpunkt dafür, dass Sie bei den Sozial-
beiträgen eine konkrete Entlastung in Höhe von 13 Mil-
liarden Euro, sprich: 26 Milliarden DM, vornehmen; im
Gegenteil: Die Sozialbeiträge steigen weiter. Die Quote
liegt bei dicken 42 Prozent.

Das Tarifkartell ist überholt. Sie wissen wie wir, dass
im Osten Deutschlands, aus der Not heraus, fast 70 Pro-
zent aller Arbeitsplätze außerhalb des geltenden Tarif-


(A)



(B)



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(A)



(B)



(C)



(D)






vertragsrechts sind. Die alle sind, wenn Sie so wollen,
rechtswidrig. Niemand geht daran – aus gutem Grund. Je-
der, der darangehen würde, würde die Arbeitslosigkeit im
Osten verdoppeln oder verdreifachen. Weshalb lernen Sie
daraus nicht, dass wir mehr Spielräume in den Betrieben
und auch mehr Entscheidungsmöglichkeiten der betroffe-
nen Arbeitnehmer brauchen? Es ist ihr Job. Es ist ihre Le-
bensperspektive. Geben Sie ihnen doch die Freiheit, über
ihr Schicksal ein Stück weit zu entscheiden, statt einer
Funktionärsfremdbestimmung unterworfen zu sein!


(Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP])


Zu vieles ist noch in Beton gegossen. Was wir brauchen,
sind Luft und Freiheit, damit wir uns entfalten können.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der Mittelstand ist viel besser, als Sie denken. Lassen Sie
die Leute doch endlich arbeiten, damit sie Erfolg haben
können, und legen Sie nicht ständig Handschellen an! Wir
müssen in Deutschland tausend Handschellen abnehmen.
Die Lösung heißt Freiheit und die verweigern Sie.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ludwig Stiegler [SPD]: Frische Luft!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1502200700

Ich erteile das Wort dem Kollegen Klaus Brandner,

SPD-Fraktion.


Klaus Brandner (SPD):
Rede ID: ID1502200800

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Bei dem Auftritt von Herrn Brüderle
gerade musste man Sorge haben, dass er genügend Luft
bekommt. Bei der Dröhnung, mit der Sie hier vorgetragen
haben, Herr Brüderle, haben viele vermutet, dass Ihnen
die Luft ausgeht; denn es war viel heiße Luft und Sie ha-
ben damit sicherlich keinen Beitrag dazu geleistet, dem
Mittelstand und den Menschen, die im Mittelstand be-
schäftigt sind, tatsächlich zu helfen. Ich finde, das war
kein konstruktiver Beitrag, der uns nach vorne bringt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Ludwig Stiegler [SPD]: Er hat gemeint, er ist in der Bütt!)


Es ist schon vieles in Aussicht gestellt worden, was die
Bundesregierung heute angesprochen hat. Der Wirt-
schaftsminister hat – meines Erachtens zu Recht – darauf
hingewiesen, dass die Stimmung in der Wirtschaft
– auch im Mittelstand – deutlich schlechter ist als die
tatsächliche Lage. Ich will das alles nicht wiederholen. All
diejenigen, die in den vergangenen Wochen und Monaten
das Bild der Wirtschaft geradezu lustvoll grau in grau ge-
malt haben, sollten sich fragen, ob sie ihrer Verantwortung
für das Land und für die Menschen in diesem Land ge-
recht geworden sind.

Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, sind
bei den Miesmachern in unserem Land an vorderster
Front. Man braucht sich nur den Wortlaut Ihres Antrages
für die heutige Debatte anzuschauen: von einer objektiven

Analyse der Lage keine Spur. Stattdessen unentwegt Vor-
würfe, Anklagen, Schlechtreden, Ängste Verbreiten: Das
ist Ihr Programm. Sie haben das Mittelstandsrhetorik ge-
nannt. Damit helfen Sie den Menschen in diesem Land
nicht einen Millimeter weiter.


(Beifall bei der SPD)

Sie tun so, als ob die deutsche Volkswirtschaft, umgeben
von blühenden Volkswirtschaften, wegen der Politik der
rot-grünen Bundesregierung von einer Krise in die andere
schlittert.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist es ja auch!)


Sie verlieren in Ihrem Antrag kein Wort zu der nun schon
mehr als zwei Jahre andauernden weltweiten Wirtschafts-
flaute. Das alles, meine Damen und Herren, ist nicht se-
riös. Was Sie da behaupten, hilft in der Tat nicht weiter,
Wirtschaftswachstum in diesem Land zu beflügeln.


(Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Sehr richtig!)


Richtig ist vielmehr: Wir haben mit der Wiederver-
einigung finanzielle Belastungen zu tragen, die unver-
meidlich sind.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Sag nur!)

– Sicher, Herr Schauerte. Sie sollten einmal zuhören, Sie
können hier viel lernen.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Späte Einsicht!)


Natürlich hat jeder vernünftige Mensch in diesem Lande
die Belastungen mitzutragen. Er trägt sie auch gern; das
muss immer wieder gesagt werden. Die wirtschaftliche
Entwicklung in diesem Land wird aber durch diese Belas-
tungen beeinflusst – und das schon seit über zwölf Jahren.

Was haben Sie uns übergeben? Wir haben heute große
Worte von Ihnen gehört. Herr Merz hat vergessen, dass
Sie uns 1998 1,5 Billionen DM Schulden übergeben ha-
ben, dass Sie höchste Steuerbelastungen übergeben haben
und dass die höchsten Sozialversicherungsbeiträge von
Ihnen übergeben worden sind.


(Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Alles übertroffen worden bis jetzt!)


Wir haben die Schulden gesenkt, wir haben die Steuern
zurückgeführt und wir haben die Sozialversicherungen
konsolidiert.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Von gesunder Volkswirtschaft brauchen Sie uns nichts zu
erzählen, davon haben Sie nämlich keine Ahnung.

Lassen Sie mich klar sagen: Circa 70 Milliarden Euro
an Nettotransfers gehen auch jetzt noch Jahr für Jahr in die
neuen Bundesländer. Davon werden drei Viertel für den
privaten und öffentlichen Konsum verwandt. Die Europä-
ische Kommission hat im letzten Jahr ausgerechnet, dass
zwei Drittel der Wachstumsschwäche Deutschlands im
Vergleich zu den anderen EU-Ländern den direkten und in-
direkten Auswirkungen der Belastungen aus dem Prozess

Rainer Brüderle




Klaus Brandner
der Wiedervereinigung geschuldet sind. Das ist keine
Ausrede. Vielmehr muss es uns ein Ansporn sein, das
Reformtempo in Deutschland aufrechtzuerhalten, ja zu
beschleunigen. Die Wiedervereinigung zwingt uns, ein
gegenüber unseren europäischen Partnern höheres Re-
formtempo anzuschlagen. Wir haben einen höheren Re-
formbedarf. Diesen Reformbedarf haben Sie in den
90er-Jahren nicht erkannt. Sie sind Ihren Ansprüchen
nicht gerecht geworden.


(Beifall bei der SPD – Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Wir sind langsamer!)


– Sie sind langsam, das geben Sie zu. Sehr schön, Herr
Schauerte, das ist ja schon ein Stück weit Einsicht. Es
klingt in der Tat überzeugend, wenn das ein Signal ist und
Sie sagen: Wir geben unsere Fehler zu. – Von dieser Ba-
sis aus können wir gemeinsam etwas nach vorne ent-
wickeln. Ich finde, das ist ein positives Zeichen.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Was ist das für ein törichter Mann!)


Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang ein Wort zu
den angeblich extrem hohen Abgabenbelastungen in
Deutschland sagen. Wir wissen, über die Abgabenbelas-
tungen kursieren viele, auch bewusst missverständliche
Zahlen. Für den internationalen Vergleich gebräuchlich ist
die Gesamtabgabenquote an Steuern und Sozialabgaben.

Das Institut der deutschen Wirtschaft veröffentlichte
in seinem Heft 2002 „Deutschland in Zahlen“ für
Deutschland eine Abgabenquote in Höhe von 37,8 Pro-
zent. Damit liegen wir zum Beispiel weit hinter Finnland
mit einer Abgabenquote in Höhe von 46,5 Prozent, Däne-
mark mit 45,5 Prozent, den Niederlanden mit 41,8 Pro-
zent, Schweden mit 53,3 Prozent und liegen praktisch
gleichauf mit Großbritannien mit 37,7 Prozent. Soweit die
Fakten.

Betrachtet man allein die steuerliche Entwicklung,
muss auch das Institut der deutschen Wirtschaft – dies ist
nun in der Tat kein Institut der sozialdemokratischen Par-
tei – feststellen, dass wir die Weichen für eine konse-
quente Steuersenkung in kalkulierbaren Stufen bis zum
Jahre 2005 gestellt haben. Beim Grundfreibetrag, also
dem Einkommen, für das keine Einkommensteuer gezahlt
werden muss, verbessert Deutschland seine internationale
Position auf eine Spitzenposition. Es nimmt Platz vier im
internationalen Vergleich ein.

Unabhängig davon bleibt es für uns auch in Zukunft ein
zentrales politisches Thema, weiter auf eine allmähliche
Abgabensenkung hinzuwirken.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Ganz schön langsam!)


– Wäre ich in Ihrer Situation, Herr Schauerte, würde ich
nicht solche lockeren Sprüche machen. Was Sie vorzu-
legen haben, bewirkt genau das Gegenteil.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Sie haben ganz schön schnell alles erhöht! – Franz Müntefering [SPD]: Schauerlich!)


Hier ist auch die Steuerpolitik der Bundesregierung
nach der Bundestagswahl angesprochen worden. Eines

muss klar sein: Die Bundesregierung und der Gesetzgeber
haben ein Problem zu lösen, und zwar hier und heute. Die
Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden sind un-
terfinanziert. Es besteht vordringlicher Handlungsbedarf;
wir wissen das. Hier kann man sich nicht wegmogeln.
Hier müssen Vorschläge auf den Tisch und hier müssen
Entscheidungen für unsere Bürgerinnen und Bürger ge-
troffen werden, schmerzliche Entscheidungen, wie jeder
in diesem Hause weiß.

Es ist mehr Ehrlichkeit angesagt. Es darf nicht auf der
einen Seite Subventionsabbau gefordert werden und auf
der anderen Seite dann, wenn es konkret wird, „Haltet den
Dieb!“ gerufen werden, von Zusatzbelastungen geredet,
aber nicht Ross und Reiter genannt werden. Dies ist keine
faire, solide Politik.

Ich denke an die Einnahmeverbesserungen der Länder.
Das Land Hessen beispielsweise hat eine Einnahmever-
besserung aufgrund des Steuerreformpakets in Höhe von
140 Millionen Euro in seinen Haushalt eingestellt, obwohl
das Bundesfinanzministerium für das Land Hessen eine
Verbesserung der Steuereinnahmesituation in Höhe von nur
122MillionenEuro errechnet hat. Dies zeigt nur zu gut, wie
unsozial und unsolide der hessische Haushalt finanziert ist.
Dies spricht nicht dafür, wie die Opposition hier antritt,
nämlich mehr Solidität in der Steuerpolitik zu verlangen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir haben einen Mix von Ausgabenkürzungen, die im
Übrigen alle Gruppen unserer Gesellschaft betreffen, zu-
sätzlicher Neuverschuldung und Abbau von Steuerver-
günstigungen vorgeschlagen. Man kann darüber diskutie-
ren. Wenn man aber solche Vorschläge verwirft, haben der
Bundesfinanzminister und auch die Länderfinanzminister
sowie die Gemeindekämmerer ein Recht darauf, zu wis-
sen, wie das Loch in ihrer Kasse gestopft werden soll.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Jetzt werden Sie einmal konkret, Herr Brandner!)


Beim Steuervergünstigungsabbaugesetz werden wir
im Laufe der parlamentarischen Beratungen zu Änderun-
gen kommen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Dienstwagen! – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Welche denn?)


Das ist völlig klar. Aus wirtschaftspolitischer Sicht will
ich hier nur einige Stichworte nennen. Wir wollen sicher-
stellen, dass die überwiegende Mehrheit der Unterneh-
men ihre Verluste auch weiter verrechnen kann. Von der
Mindestgewinnbesteuerung sollen daher im Wesentlichen
nur die großen Kapitalgesellschaften betroffen sein. Wir
wollen dafür sorgen, dass die Abzugsfähigkeit von Wer-
begeschenken voll erhalten bleibt. Über den abzugsfähi-
gen Betrag wird noch zu reden sein.

Ein weiteres Stichwort ist das Lifo-Verfahren. Wir sind
auch für die Beibehaltung des ermäßigten Umsatzsteuer-
satzes für Kombiprodukte sowie für gartenbauliche Er-
zeugnisse.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Dienstwagen?)



(A)



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(A)



(B)



(C)



(D)






Dies sind aus meiner Sicht diskussionswürdige Punkte,
über die wir reden müssen.

Wir machen mit unserem Antrag der mittelständischen
Wirtschaft ein Angebot, über das wir gemeinsam reden
sollten, weil wir damit dem Mittelstand und den Men-
schen in diesem Land einen guten Dienst erweisen. Der
Small-Business-Act wird zügig auf den Weg gebracht
werden, ohne den die Ich-AGs nicht vernünftig ans Lau-
fen kommen können. Entscheidend dabei sind die Novel-
lierung der Umsatz- und Einkommensteuergesetze und
die Flexibilisierung der Handwerksordnung. Dabei,
meine Damen und Herren von der Opposition, können Sie
kräftig mithelfen, damit genau dies möglichst bald in
Form von Gesetzen umgesetzt werden kann.

Wir wissen, die Finanzierungssituation kleinerer und
mittlerer Unternehmen ist dramatisch. Banken befinden
sich aufgrund ihrer eigenen Probleme selbst in einer sehr
schwierigen Lage. Die Frage, ob fremd verschuldet oder
selbst verschuldet, ist ein weites Feld. Entscheidend ist
vielmehr: Der Staat muss mit seiner Förderpolitik, insbe-
sondere der Steuerpolitik, helfen, die Eigenkapitalausstat-
tung zu verbessern. Hierzu müssen Möglichkeiten ent-
wickelt werden, wie privates Beteiligungskapital für den
Mittelstand stärker als bisher mobilisiert werden kann.

Mit dem Masterplan Bürokratieabbau muss ein
flächendeckender Ansatz für den Abbau von Bürokratie
und bürokratischen Belastungen der Wirtschaft insgesamt
und insbesondere des Mittelstandes so schnell wie möglich
auf den Weg gebracht werden. Dabei müssen Effizienz und
Kostensenkung die beiden zentralen Maßstäbe sein. Büro-
kratieabbau darf aber nicht zum puren Sozialabbau durch
die Hintertür missbraucht werden. Auch das muss in die-
sem Zusammenhang einmal deutlich gesagt werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Donnerwetter! Das ist aber eine Aussage, Herr Brandner!)


Das Erste und das Zweite Gesetz für moderne Dienst-
leistungen am Arbeitsmarkt, die wir erarbeitet haben,
werden, Herr Hinsken, zu mehr Flexibilität am Arbeits-
markt führen, die insbesondere dem Mittelstand zugute
kommen wird.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Sie mischen doch schon wieder den Beton!)


Das wird dem Mittelstand deshalb nutzen, weil er im Un-
terschied zu Großunternehmen gerade keine eigenen Per-
sonalabteilungen vorhält. Eine gute Arbeitsvermittlung
spart dem typischen Mittelstand deshalb eine enorme
Menge Geld und auch Zeit.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Da sieht man, dass Sie vom Mittelstand keine Ahnung haben!)


Deshalb ist es wichtig, dass wir das Netz der Personal-
Service-Agenturen ganz schnell leistungsfähig aus-
bauen, weil genau diese Agenturen helfen, aus dem Di-
lemma beim Kündigungsschutz herauszukommen. Auf
der einen Seite gibt es für das mittelständische Unterneh-
men, also für den Entleiher, volle Flexibilität, auf der an-

deren Seite besteht für die Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer, die bei einer Personal-Service-Agentur be-
schäftigt sind, ein sozialer Schutz.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist doch Weltwirtschaft, Herr Brandner!)


Das ist ein intelligenter Ansatz auch für Entbürokratisie-
rung und für die notwendige Flexibilisierung, die die mit-
telständische Wirtschaft zu Recht einfordert.

In diesem Zusammenhang will ich ein Wort zu Herrn
Merz sagen, der hier das Jobfloater-Modell angespro-
chen hat. Seine Rede ist wieder ein Beispiel dafür, dass er
nicht auf der Höhe der Zeit ist. Insgesamt liegen nämlich
nicht nur 121, sondern über 300 Anträge vor.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist enorm!)

Über 1 000 zusätzliche Arbeitsplätze sind ein Beispiel
dafür, dass dieses Modell funktioniert. Wir sollten es des-
halb besser „bekanntreden“ und nicht schlechtreden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das, was Herr Merz hier vorgetragen hat, ist ein Beispiel
für schlechtreden. Ich bin dankbar, dass ich die Gelegen-
heit hatte, das hier noch sagen zu können.

Lassen Sie mich zum Schluss kommen.

(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Warum darf Stiegler eigentlich nicht reden? Wegen der abschreckenden Wählerwirkung? – Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Die Bayern werden ihn vermissen! – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Ich bin extra wegen Stiegler gekommen!)


Fest steht: Mit Wahlkampfreden ist dem Mittelstand nicht
geholfen. In einer Zeit, in der Menschen Zuversicht, Mut
und Ideen erwarten, agitieren Sie das Land, verunsichern
Sie und reden klein. So helfen Sie dem Mittelstand und
den Beschäftigten dort nicht. Sie haben mit Ihrer Debatte
dem Mittelstand und den Menschen in diesem Lande
einen Bärendienst erwiesen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1502200900

Ich erteile das Wort der Kollegin Dagmar Wöhrl,

CDU/CSU-Fraktion.


Dagmar G. Wöhrl (CSU):
Rede ID: ID1502201000

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr

Clement, Sie fordern Mutmacher statt Miesmacher.

(Ludwig Stiegler [SPD]: Wahrlich! Dann dürfte die CSU nicht ans Rednerpult!)


Wenn ich mir aber Ihren Jahreswirtschaftsbericht oder
Ihre so genannte Mittelstandsoffensive anschaue, muss
ich feststellen, dass Sie keines von beiden sind. Sie sind
ein Schönredner par excellence.


(Beifall bei der CDU/CSU – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Dampfplauderer!)


Klaus Brandner




DagmarWöhrl
Diese Regierung ist doch nicht gewählt worden, um
schöne Worte zu machen oder nur über die Krise zu reden;
sie ist gewählt worden, damit sie diese Krise überwindet.
Worte allein werden nicht helfen. Sie müssen Taten folgen
lassen. Doch was diese Taten sind, das steht bis jetzt noch
immer in den Sternen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Im Jahreswirtschaftsbericht steht – ich zitiere –:
Die Rahmenbedingungen für eine Festigung von
Vertrauen der Konsumenten und Investoren sind
günstig.

Ich frage mich: In welchem Bereich sind die Rahmenbe-
dingungen denn günstig? Wo gibt es denn Vertrauen? Die
Menschen sind verunsichert. Sie trauen Ihnen nicht mehr
zu, dass Sie durch Ihre Politik die Arbeitsmarktprobleme
angehen oder die Sozialversicherungssysteme reformie-
ren. Warum gehen denn die Menschen von Flensburg bis
Passau gegen Ihre Politik auf die Straße? Das müssen Sie
sich fragen.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Ja! So ist es!)

Weiter lese ich in Ihrem Jahreswirtschaftsbericht – ich

bitte Sie aufzupassen –:
Die Bundesregierung setzt ihre wachstums- und be-
schäftigungsfreundliche Steuersenkungspolitik fort.

Meine Damen und Herren, wo leben Sie denn? Sie sa-
gen, Ihre Politik sei beschäftigungsfreundlich sowie
wachstums- und steuersenkend.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Und jede Menge Pleiten!)


Haben Sie überhaupt nicht mitbekommen, dass das
Wachstum im letzten Jahr nur 0,2 Prozent betrug? Das ist
Stagnation und kein Wachstum. Auch in Ihrem Jahres-
wirtschaftsbericht mussten Sie die Zahlen nach unten re-
vidieren. Wir alle wissen ganz genau, dass nur die Ex-
portzahl von fast 3 Prozent eine Rezession verhindert hat.
Ich muss Ihnen sagen: Hören Sie endlich mit Ihrem Am-
menmärchen auf, wonach allein die Weltkonjunktur
Schuld sei! Ohne den Außenhandel wäre in unserem Land
schon längst das Licht ausgegangen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Das war es zum Thema Wachstum.

Jetzt komme ich zu dem Thema „beschäftigungs-
freundliche Politik“. Fakt ist – es ist für uns wenigstens
ein kleiner Hoffnungsschimmer, dass Sie das inzwischen
selbst erkannt haben –, dass es in diesem Jahr 140 000 Ar-
beitslose mehr geben wird. Im Durchschnitt werden es
4,2 Millionen sein. Wo ist hier die Perspektive? Für Mil-
lionen von Arbeitslosen wird auch das Jahr 2003 ein Jahr
der Hoffnungslosigkeit bleiben.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Leider!)

Wie sieht es mit der Steuersenkung aus? In den kom-

menden Jahren wird es – dies ist so beschlossen – zu ei-
ner Mehrbelastung kommen. Allein in diesem Jahr wer-
den es 27 Milliarden Euro sein. Wo soll hier ein Zuwachs
des privaten Konsums herkommen? Wie sollen die Men-

schen die Binnenkonjunktur anregen, wenn sie netto im-
mer weniger Geld in der Tasche haben? Die Menschen
werden es am Ende des Monats merken: Sie werden wie-
der weniger Geld in der Tasche haben.

Lassen Sie uns das zusammenfassen: Was haben wir?
Beim Wachstum haben wir einen Stillstand, bei der Be-
schäftigung haben wir einen Rückschritt und bei den Steu-
ern haben wir Mehrbelastungen. Es bleiben die Sozial-
ausgaben. An die gehen Sie nicht heran, weil Sie sich
nicht an sie herantrauen. Das heißt, auch zukünftig wer-
den die Lohnnebenkosten nicht gesenkt. Aufgrund Ihrer
Politik müssen wir auch weiterhin mit steigenden Lohn-
nebenkosten rechnen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Das ist fatal für den Mittelstand, weil gerade der Mittel-
stand personalintensiv ist. Er leidet am meisten unter den
hohen Lohnnebenkosten.

Drei Viertel aller mittelständischen Betriebe wollen in
diesem Jahr noch weniger investieren als letztes Jahr, wo-
bei auch letztes Jahr schon fast nichts mehr investiert
wurde. Nur noch 17 Prozent sprechen von Personal-
einstellungen und nur 15 Prozent sprechen von steigen-
den Erträgen. Das Handwerk hat im letzten Jahr über
300 000 Menschen entlassen.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Ja, allein letztes Jahr! In diesem Jahr werden es noch einmal 100 000 sein!)


Eine Pleite jagt die nächste.
Alle, die wir hier sitzen, dürfen eines nicht vergessen:

Die Arbeitslosigkeit werden wir nur mit dem Mittelstand
bekämpfen können, sie wird im Mittelstand entschieden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Herr Clement, der Mittelstand braucht keinen Gute-

Laune-Minister, sondern er braucht einen Minister, der
anpackt,


(Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD]: Einen Beerdigungsminister aber auch nicht!)


der eine echte Mittelstandspolitik betreibt und sich gegen
die Besitzstandswahrer sowie Gewerkschaftsfunktionäre
durchsetzt. Herr Minister, wenn Sie eine echte Mittelstands-
politik auf den Weg bringen, haben Sie uns auf Ihrer Seite.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr richtig! Sonst nicht!)


Dann können Sie damit rechnen, dass wir diesen Weg ge-
meinsam gehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wenn ich mir Ihre bis jetzt vorgelegten Papiere ansehe,

frage ich mich: Wo ist das Anpacken? Wo ist das Zugrei-
fen? Wo sind wegweisende Reformen, die uns nach vorne
bringen?


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist ein Ankündigungsminister!)


Sie machen nur eine Ankündigung nach der anderen:
Kleinststeuern, Masterplan, Änderung des Kündigungs-
schutzes, Sonderwirtschaftszonen.


(A)



(B)



(C)



(D)


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(A)



(B)



(C)



(D)






Erst gab es jede Woche eine neue Idee, inzwischen
wird uns jeden Tag eine neue Idee auf den Tisch gelegt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, ich kann
Ihnen nur einen guten Rat geben: Holen Sie einmal Luft
und setzen Sie die Ideen um. Am besten setzen Sie erst
einmal eine Idee richtig um, sodass es wenigstens ein we-
nig nach vorne geht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP])


Sie loben den so genannten Small-Business-Act. Die
Grenze liegt bei einem Jahresumsatz von 17 500 Euro.
Wer ist denn zukünftig davon betroffen?


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Almosenempfänger!)


Nicht einmal 10 Prozent aller kleineren und mittleren Be-
triebe werden eine kleine Entlastung erfahren. Das Gros
des Mittelstandes bleibt außen vor. Daneben sprechen Sie
davon, Betriebsübergänge zu erleichtern. Wie das gehen
soll und was Sie vorhaben, sagen Sie aber nicht. Sie spre-
chen davon, dass die Bürokratie abgebaut werden muss.
Das ist vollkommen richtig; hier besteht ein eindeutiger
Konsens. Aber wie das gehen soll und was Sie vorhaben,
haben Sie nicht aufgeführt. Sie sprechen von Bürokra-
tieabbau; das ist vollkommen richtig. Darüber herrscht
bei uns Konsens. Aber sagen Sie doch bitte einmal, wie
Sie das machen und wann Sie endlich damit anfangen
wollen.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Der Kollege Brandner hat gesagt, was nicht geht, aber nicht, was geht!)


Sie haben die Verbesserung der Zahlungsmoral ange-
sprochen, Herr Minister. Das Einzige, was Ihnen dazu ein-
fällt, ist, eine neue Arbeitsgruppe von Bund und Ländern
einzusetzen. Damit hat es sich. Aus. Ende.

Ein anderes wichtiges Thema ist die Mittelstandsfi-
nanzierung. Das ist momentan das ganz große Problem
des Mittelstands. Er bekommt keine Kredite mehr, weil
seine Eigenkapitalquote so gering ist. 42 von 100 Unter-
nehmen in Deutschland haben eine Eigenkapitalquote
von unter 100 Prozent. Das muss angegangen werden.


(Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD]: Knapp 100 Prozent sind doch gut! – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Unter 10 Prozent!)


– Unter 10 Prozent. Wenn Sie der Deutschen Ausgleichs-
bank nur einen neuen Namen geben, nämlich den einer
Mittelstandsbank, bekommt kein einziger Mittelständler
zusätzlich einen Kredit; das sage ich Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist leider wahr! – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Etikettenschwindel ist das!)


Ich muss sagen: Es ist immerhin eine tolle Leistung,
dass der Mittelstand um 35 bis 60 Millionen Euro entlas-
tet werden soll. Auf der anderen Seite werden in Anwe-
senheit unseres Wirtschaftsministers am Kabinettstisch
allein für dieses Jahr neue Belastungen in Höhe von
27 Milliarden Euro beschlossen.

Bei Ihnen erfolgt eine Ankündigung nach der anderen.
Was ist denn jetzt mit dem Kündigungsschutz? In dem
Antrag steht nichts mehr davon. Was ist denn mit den
Sonderwirtschaftszonen? Auch davon höre ich nichts
mehr. Aber in den Zeitungen wurde das riesengroß und
plakativ angekündigt.

Jetzt wird ein neues Bündnis für Arbeit vorbereitet.
Hilft das dem Mittelstand? Der Mittelstand braucht kei-
nen neuen Debattierklub. Der Mittelstand braucht Entlas-
tungen, kein neues Bündnis für Arbeit. Er braucht weni-
ger Bürokratie, weniger Lohnnebenkosten und geringere
Steuern.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Lohnnebenkosten zu senken ist eine sehr schwie-

rige Aufgabe. Wir wissen, dass im Bereich der Kranken-
kassen und der Rente wirklich große Reformen anstehen.
Das ist uns allen in diesem Haus klar. Auch wissen wir,
dass diese großen Reformen Zeit brauchen werden.
Ebenso wie die Entlastungen können diese Reformen
nicht von heute auf morgen kommen. Deswegen müssen
wir nach einer Maßnahme suchen, mit der wir die Lohn-
nebenkosten schnell senken können. Hier bieten sich die
Arbeitslosenversicherungsbeiträge an.

Es ist notwendig, dass man die Arbeitslosenversiche-
rungsbeiträge von versicherungsfremden Leistungen ent-
lastet. Mit der Idee, diese Beiträge um 1 Prozentpunkt ab-
zusenken, stehen wir nicht alleine. Das steht sogar in einem
Papier der Bundesanstalt für Arbeit. Eine Absenkung um
1 Prozentpunkt bringt 8 Milliarden Euro. Herr Gerster geht
davon aus, dass sich die versicherungsfremden Leistungen
auf gut 6 Milliarden Euro beziffern. Das Karl-Bräuer-Insti-
tut geht sogar von 15 Milliarden Euro aus.

Zudem muss ich fragen: Wollen wir das JUMP-Pro-
grammwirklich so lassen, wie es ist? Anscheinend hat es
keinen Erfolg. Die Jugendarbeitslosigkeit steigt perma-
nent an. Dafür müssen andere Maßnahmen durchforstet
werden, um zu überprüfen, welche versicherungsfremden
Leistungen von den Arbeitslosenversicherungsbeiträgen
wirklich noch bezahlt werden müssen.

Thema Bürokratieabbau. Schauen Sie sich einmal an,
was die Länder auf diesem Gebiet machen. Hessen, Saar-
land und Bayern machen es Ihnen doch vor.


(Lachen des Budesministers Otto Schily – Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Das ist wohl ein Witz!)


Dort werden Vorschriften und Rechtsverordnungen abge-
baut. Warum erlassen Sie kein Gesetz, wonach in dieser
Wahlperiode jeden Monat mindestens zehn Verordnungen
abgeschafft werden müssen? Das ist nicht viel, aber Sie
machen damit Vorgaben.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Danach müssen für eine neue Verordnung zehn Verord-
nungen abgeschafft werden. Das wäre endlich ein Zei-
chen dafür, dass die Verwaltung Ernst macht und nicht
einfach nur daherredet. Lösen Sie Verkrustungen des Ar-
beitsmarktes auf. Betriebliche Bündnisse und das Güns-
tigkeitsprinzip sind angesprochen worden, um nur einige
Stichworte zu nennen.

DagmarWöhrl




DagmarWöhrl

Ich kann Ihnen in diesem Zusammenhang nur sagen –
wir haben es bei den Minijobs und dem Gesetz gegen
Scheinselbstständigkeit gezeigt –: Wenn Sie vernünftige
Reformen auf den Weg bringen, die dem Mittelstand und
den Menschen in unserem Land helfen, wenn wir wissen,
dass sich wirklich etwas in die richtige Richtung bewegt,
werden Sie uns immer an Ihrer Seite haben, Herr Minister.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Jawohl! So sind wir!)


Wir alle machen Ihnen dieses Angebot. Aber diese Refor-
men müssen in der Zukunft wirklich etwas bewirken und
dürfen keine Schaumschlägerei sein.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Gute Rede!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1502201100

Ich erteile dem Kollegen Werner Schulz, Bündnis 90/

Die Grünen, das Wort.

Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollegin
Wöhrl, Sie haben über das Lichtausgehen in unserem
Lande gesprochen. Aber nur dann, wenn man die Augen
vor allem verschließt, wird es richtig dunkel. Es scheint
eine beliebte Oppositionsmethode zu sein, Finsternis und
Unsicherheit zu verbreiten. In Ihrer Partei hieß das,
glaube ich, Sonthofen-Strategie.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sie wissen ja gar nicht, wo Sonthofen liegt!)


Es handelt sich um ein allgemeines Schwarzmalen, damit
man selbst als Lichtgestalt erscheinen kann. Dieses He-
runterreden hat Methode.

Ich mache mir die Dinge nicht einfach, weil die wirt-
schaftliche Lage wirklich schwierig ist.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist wohl wahr!)


Die Staatsfinanzen sind angespannt, die Arbeitslosigkeit
steigt, die Wirtschaftsprognosen sind unter einem starken
Vorbehalt zu sehen, weil wir nicht wissen, wie sich die Si-
tuation im Golfgebiet entwickeln wird. Wir stehen also
vor einer durchaus problematischen Situation.

An unseren Reformbemühungen waren Sie ja beteiligt;
ich weiß gar nicht, warum Sie hier keinen eigenen Stolz
entwickeln. Das Hartz-Konzept entfaltet auch erst mit
der Zeit Wirkung. Sie können hier keine Sofortlösung,
keine Instantwirkung erwarten. Aber im Jahreswirt-
schaftsbericht – das sollten Sie anerkennen – wurde ein
durchaus reelles Bild gezeichnet; es ist eine kritische
Würdigung der Situation. Vor allen Dingen beschreibt die
Bundesregierung, wie sie die Modernisierung und den
Strukturwandel fortsetzen will.

An dieser Stelle empfinde ich es als merkwürdig, dass
ausgerechnet diejenigen, die permanent einschneidende

Reformen fordern und nicht müde werden, Blut-,
Schweiß- und Tränenreden zu halten, also die neuen Fans
von „Blood, Sweat and Tears“, diese Flüssigkeiten nicht
in ihrem Gesicht sehen möchten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das „Handelsblatt“ schrieb richtigerweise, dass es in un-
serem Land eine gut organisierte Verantwortungsschizo-
phrenie der Eliten gebe.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Diesen Punkt müssen wir beleuchten.
Wir reden heute über eine Mittelstandsoffensive als ei-

nen Teil der Wirtschaftspolitik. Es ist unredlich, wenn Sie
darauf herumhacken, noch dazu angesichts der dürftigen
Anträge, die Sie selbst vorgelegt haben. Darin finden sich
Versatzstücke und alte Programmbausteine, die an Dürf-
tigkeit nicht zu unterbieten sind. Ihre Anträge enthalten
nur wenige konstruktive Punkte, über die man sich über-
haupt streiten könnte. Das ist wirklich „Gute Nacht,
Deutschland“, Frau Wöhrl.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Reden wir also über das akute Problem der Mittel-
standsfinanzierung. Hier ist die Regierung tätig gewor-
den und hat eine Mittelstandsbank ins Leben gerufen. Ich
frage mich, wo denn die großen Verfechter der Privatisie-
rung, die Kritiker der Staatswirtschaft, geblieben sind, als
die privaten Banken aus diesem Geschäft ausstiegen.


(Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: Das ist ja unglaublich!)


– Herr Meyer, wo ist denn Ihr Aufschrei über diese Frech-
heit der privaten Banken geblieben,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


die Zinssenkungen der EZB nicht weitergeben zu wol-
len? Wo ist Ihr Aufschrei geblieben, wo ist der Anwalt der
Mittelständler?


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Herr Schulz, wer regiert denn?)


Hier springt der Staat in die Bresche und leistet Mittel-
standsfinanzierung aus einer Hand, weil es andere nicht
tun. Das ist doch die Wahrheit.

Sie sollten bitte auch nicht vergessen, dass wir bei
Basel II einen großen Erfolg errungen haben


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Sie? Sie haben doch gar nichts davon verstanden! – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Herr Schulz, das war Gemeinschaftsarbeit!)


und dass sich 95 Prozent der Mittelständler künftig besser
stellen werden, weil die geringe Eigenkapitalausstattung
gewährleistet ist und akzeptiert wird.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Alle wollten wir das!)



(A)



(B)



(C)



(D)


1684


(A)



(B)



(C)



(D)






– Ja, aber die Bundesregierung hat es erreicht. Sie jedoch
haben es noch nicht einmal erwähnt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Für das Gute ist die Bundesregierung zuständig und für das Negative wir?)


– Diese Schwarz-Weiß-Malerei bringt uns nicht weiter.
Wir wollen natürlich nicht nur Existenzgründern den

Start erleichtern; denn Bürokratieabbau, Innovations-
schübe, Technologietransfer und Verbesserung der Zah-
lungsmoral helfen vor allen Dingen bestehenden Unter-
nehmen. Es ist uns doch klar, dass es wesentlich
kostengünstiger ist, bestehende Betriebe zu erhalten, als
neue aufzubauen und zu finanzieren. Niemand will Insol-
venzen und wir steuern dagegen, so weit es geht. Aber Sie
müssen sich immer auch die Bilanz von Neugründungen
und Insolvenzen anschauen.

In diesem Zusammenhang ist vor allen Dingen die
Außenwirtschaftsinitiative hervorzuheben. Wir wollen
den Erfolg exportieren, den wir bei den erneuerbaren
Energien erreicht haben, und einen Beitrag zum globalen
Klimaschutz leisten. Den Unternehmen, die im Zuge des
Erneuerbare-Energien-Gesetzes entstanden sind, wollen
wir eine Erweiterung ihres Marktes ermöglichen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Professor Siebert, der Präsident des Instituts für Welt-
wirtschaft in Kiel, hat in der gestrigen Ausgabe der „Welt“
einen offenen Brief mit der Frage „Was tun gegen die Ar-
beitslosigkeit?“ an uns geschrieben. Er verweist auf die
Tatsache, dass die Arbeitslosigkeit schubweise immer
weiter gestiegen sei, dass die Zahl der Arbeitslosen seit
den 70er-Jahren in jeder Rezession um etwa 1 Million an-
steige und in den guten Jahren der Konjunktur nicht ge-
senkt werde, dass hier also eine Fehlprogrammierung vor-
liege. Ich finde es in diesem Zusammenhang nun wirklich
abenteuerlich, wenn der Kollege Merz uns nach wie vor
die Chimäre erzählt, dass die Ökosteuer falsch sei. Im Ge-
genteil: Genau das ist das Instrument, mit dem wir um-
steuern, um endlich die Belastung vom Faktor Arbeit auf
den Faktor Energie zu verlagern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die eigentliche Fehlsteuerung ist doch: Arbeit ist un-
verschämt teuer und wird durch jede Rationalisierung ein-
gespart. 40 Prozent der Kosten in den Betrieben sind Ar-
beitskosten. Nur 5 Prozent sind Energiekosten. Diese
Diskrepanz müssen wir überwinden. Obwohl die Energie
ein wesentlich intensiverer Produktionsfaktor ist, belasten
Steuern und Sozialabgaben nur den Faktor Arbeit. Denje-
nigen, die immer auf Steuersenkungen drängen, sei ge-
sagt: Die Auflistung der OECD zeigt doch ganz deutlich,
dass Deutschland ein Niedrigsteuerland ist, in dem die So-
zialabgaben zu hoch sind. An dieser Stelle müssen wir an-
setzen; das ist der eigentliche neuralgische Punkt.

Wir haben das mit der Ökosteuerreform getan. Sie ist
der erste mutige Schritt in die richtige Richtung; denn wir
haben Energie verteuert, um die Lohnnebenkosten um

1,2 Prozentpunkte zu senken. Das sollten gerade Sie nicht
gering schätzen; denn Sie haben es geschafft, von 1990
bis 1998 die Lohnnebenkosten von 35 auf 42 Prozent
– das sind 7 Prozentpunkte; das muss man sich einmal
vorstellen – zu erhöhen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir haben dagegen, wie gesagt, die Lohnnebenkosten um
1,2 Prozentpunkte gesenkt. Das ist sicherlich – das gebe
ich gerne zu – noch zu wenig. Aber im Vergleich zu Ihnen
sind wir diametral vorangekommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Sie sind im Moment im Hochgefühl des zu erwarten-
den Wahlsiegs am kommenden Sonntag eigentlich nicht
mehr zu erreichen. Frau Merkel, Sie schütteln den Kopf –
ich nehme an, nicht zum Wahlergebnis, sondern zu mei-
nen Worten.


(Zustimmung der Arbg. Dr. Angela Merkel [CDU/CSU])


Ich komme Ihnen entgegen, weil ich glaube, dass Sie die
mit dem Wahlsieg verbundene größere Verantwortung
wahrnehmen möchten nach dem Motto – so kennen wir
Sie –: keine Blockade, sondern konstruktive Zusammen-
arbeit im Bundesrat! Sie wollen sich an der Lösung aller
Probleme beteiligen. Sie werden nach dem Jubel am
Wahlabend schnell feststellen, dass die Probleme in
Deutschland noch immer dieselben sind. Ich schlage Ih-
nen deshalb vor, sich zumindest an der Lösung eines Pro-
blems zu beteiligen, das Sie selbst mit verursacht haben:
Etwa 3 Prozentpunkte der Lohnnebenkosten sind noch
heute durch die Fehlfinanzierung der deutschen Einheit
bedingt, also dadurch, dass wir die Sozialkosten in Ost-
deutschland durch die Erhöhung der Lohnnebenkosten fi-
nanziert haben. Bitte schön, beteiligen Sie sich an einer
Allianz für Erneuerung in Deutschland, damit wir die
Lohnnebenkosten um 3 Prozentpunkte senken können!
Die Politik sollte mit gutem Beispiel vorangehen und zei-
gen, dass es möglich ist, sich zu einigen. Wir sollten da-
mit beim Faktor Arbeit beginnen. Das hätte auch Signal-
wirkung für das Bündnis für Arbeit; denn eine Senkung
der Lohnnebenkosten entlastet sowohl Arbeitnehmer als
auch Arbeitgeber, führt zur Schaffung neuer Arbeitsplätze
und möglicherweise zur Mäßigung in den Tarifverhand-
lungen. Das ist der Beitrag der Union, den ich ab kom-
menden Sonntag erwarte. Ich bin sehr gespannt darauf.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Herr Schulz, Sie waren schon besser!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1502201200

Ich erteile das Wort der Kollegin Gudrun Kopp, FDP-

Fraktion.


Gudrun Kopp (FDP):
Rede ID: ID1502201300

Herr Präsident! Sehr geehrte Herren und Damen! Lie-

ber Herr Kollege Schulz, ich mag nicht glauben, dass Sie

Werner Schulz (Berlin)





Gudrun Kopp
wirklich nicht verstanden haben sollen, welche Probleme
die Firmen und die Menschen am Standort Deutschland
haben.


(Dirk Niebel [FDP]: Doch, er hat es nicht verstanden!)


Sie haben ein weiteres Mal die schwache Ausstattung der
Unternehmen mit Eigenkapital beklagt. Lieber Herr Kol-
lege Schulz, daran kann auch eine neue Mittelstandsbank
nichts ändern;


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

denn eine solche Bank kann die vielen Firmen, die größte
Not leiden, gar nicht auffangen. Es fehlt an einer konse-
quenten Umsteuerung in der deutschen Politik. Sie sollten
zum Beispiel keine Politik betreiben, die die kleinen Ge-
winnmargen der Unternehmen, die hier und da vorhanden
sind, wegbesteuert, sondern mehr Freiraum schaffen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Herr Minister Clement, ich hoffe, Sie erkennen, dass
wir in Deutschland inzwischen ein weiteres riesiges Pro-
blem haben: Die Menschen in diesem Land haben das Ver-
trauen in die Kraft der politischen Entscheidungen verlo-
ren. Ich wiederhole: Es ist ein riesiges Problem, dass der
Politik, insbesondere der rot-grünen, nichts mehr zugetraut
wird. Die Menschen wenden sich enttäuscht ab. Es gab
82000 private und Firmeninsolvenzen. Im Vergleich zum
Vorjahr ist das ein Plus von 66 Prozent. Das muss man sich
einmal vorstellen! Diese Zahlen müssen in verschiedenen
Köpfen hier doch eigentlich ein Umdenken hervorrufen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Herr Minister Clement, ich möchte noch eine Zahl hin-
zufügen, Stichwort Bürokratielasten. Sie haben von ei-
nem Masterplan Bürokratieabbau gesprochen. Sie ha-
ben leider nicht erwähnt, dass die bürokratische Belastung
gerade kleiner Unternehmen laut Gutachten – es ist in-
zwischen schon sieben Jahre alt – bei 3 600 Euro pro Ar-
beitsplatz pro Jahr liegt. Die bürokratische Belastung
großer Firmen liegt bei gerade einmal 150 Euro. Die rot-
grüne Bundesregierung sollte sich diesbezüglich einmal
einen Überblick verschaffen; die aktuellen Zahlen sind
nämlich mit Sicherheit noch viel grauenvoller. Sie sollten
nicht mehr nur ankündigen, sondern tatsächlich – fernab
von ideologischen Überzeugungen – zu Potte kommen,
wie man so schön sagt.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich fordere Sie sehr konkret auf: Schaffen Sie durch
wirklich durchgreifende Maßnahmen Vertrauen! Verzich-
ten Sie zum Beispiel auf das Gesetz, mit dem das Recht
auf Teilzeitarbeit festgeschrieben wird!


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das sind alles die Ursachen!)


Ich habe in einer Debatte im Wirtschaftsausschuss darauf
verwiesen, dass dieses Recht einen Eingriff in unterneh-
merische Freiheiten darstellt. Ich habe darauf verwiesen,

dass die einseitige Möglichkeit, einen Vertrag nach sechs-
monatiger Beschäftigung zu kündigen, zulasten von
Frauen gehen wird, weil immer weniger Frauen einge-
stellt werden; schließlich sind sie es, die meistens Teil-
zeitarbeit nachfragen. Also: Schaffen Sie dieses Gesetz
ab! Die rot-grüne Bundesregierung hat ursprünglich da-
rauf gehofft, dass man bei einem Streit innerhalb eines
Unternehmens vor dem Arbeitsgericht klagen werde. Es
ist mir ein großes Anliegen, in diesem Bereich für weni-
ger Bürokratie zu sorgen.

Stichwort Lockerung des Kündigungsschutzes:Wenn
Sie das täten, was wir, die FDP-Bundestagsfraktion, vor-
geschlagen haben,


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Wir auch!)

zum Beispiel die Schwellengrenze von fünf auf 20 zu er-
höhen, dann entstünden – das sagt der Präsident des Groß-
und Einzelhandelverbandes – allein im Handel 175 000
neue Arbeitsplätze. Diesen Gedanken kann man doch
nicht einfach außen vor lassen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Thema Ladenschluss:Herr Clement, es ist inzwischen
wirklich lächerlich, dass Sie sich intern, wahrscheinlich
auch fraktionsintern, darüber streiten, ob Sie eine weitere
Lockerung um zwei, drei, vier oder fünf Stunden zulassen
sollen. Gleichzeitig kündigen die Gewerkschaften De-
monstrationen an. Ich kann Ihnen nur empfehlen: Wenn
die rot-grüne Regierung im Hinblick auf Kostenentlas-
tung und Entbürokratisierung des Standorts Deutschland
überhaupt noch etwas zustande bringen will, dann klären
Sie endlich Ihr Verhältnis zu den Gewerkschaftsfunk-
tionären. Lösen Sie sich von diesem Diktat!


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich rege ganz ausdrücklich an, dass Sie sich für eine
konsequente Stärkung des Wettbewerbs einsetzen. Wir
haben im Rahmen der Haushaltsberatungen erfahren, dass
100 Millionen Euro Mehreinnahmen durch Bußgelder zu
verzeichnen sind, die dem Bundeskartellamt zugeflossen
sind. Mit diesem Geld könnte das Bundeskartellamt mehr
Wettbewerb und gesunden Wettbewerbsstrukturen den
Weg bereiten. Warum stärken Sie mit diesem Geld nicht
das Bundeskartellamt personell, das zum Beispiel im Be-
reich des Energierechts – dort tut sich eine Menge – mitt-
lerweile viel mehr Aufgaben hat? Ein solches Vorgehen
würde den Wettbewerbsstandort Deutschland stärken.
Wir haben es nötig. Eine Politik des Klein-Klein, die darin
besteht, jegliche Mehreinnahme zur Entschuldung zu ver-
wenden, ist wirklich nicht zukunftsträchtig.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich bitte Sie, auch da tätig zu werden.
Letzter Punkt: Sonderwirtschaftszonen. Wenn Sie

wirklich planen, Verwaltungsabläufe zu optimieren und
Verfahren zu verkürzen, dann ist das hervorragend. Einige
wenige Menschen draußen, die noch den Glauben an die
wirkliche Kraft der Politik haben, fragen auf den Ämtern:
Wann ist es denn so weit? Kann ich jetzt auf bestimmte


(A)



(B)



(C)



(D)


1686


(A)



(B)



(C)



(D)






Fristverkürzungen und kürzere Antragsverfahren bauen?
Diese müssen enttäuscht feststellen: Sie haben noch nicht
einmal irgendeine gesetzliche Initiative zum Abbau der
Regulierungen, die derzeit noch am Markt gelten, gestar-
tet. Das heißt, Gesamtdeutschland müsste eigentlich zur
Sonderwirtschaftszone erklärt werden und nicht einzelne
Regionen zu Modellregionen.


(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: FDP ist für Sonderwirtschaftszonen!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1502201400

Kollegin Kopp, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Sie haben Ihre Redezeit schon deutlich überzogen.

(Ludwig Stiegler [SPD]: Setzen! Sechs!)



Gudrun Kopp (FDP):
Rede ID: ID1502201500

Letzter Satz. – Ehe wir aber gar nichts haben, würden

wir natürlich, damit Sie probieren können, dem Vorschlag
zustimmen, das in einer Modellregion zu versuchen.

Schaffen Sie Vertrauen, setzen Sie sich durch und tun
Sie nicht das, was ideologisch geboten ist, sondern end-
lich das, was den Menschen dieses Landes gut tut.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1502201600

Ich erteile das Wort der Kollegin Gesine Lötzsch.


Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1502201700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr ge-

ehrte Gäste, ich bin Abgeordnete der PDS.

(Klaus Brandner [SPD]: Ach was! Das hätten die auch so gemerkt!)

– Es ist gut, dass Sie das wissen, das sollen aber auch die
Gäste wissen.

„Der Osten steht auf der Kippe“, erklärte Herr Thierse
kurz vor der Wahl. Dafür wurde er vom Kanzler gerügt.
Seitdem ist es ruhig um sein Engagement für den Osten
geworden. Der Aufholprozess Ost ist seit Mitte der 90er-
Jahre ins Stocken geraten; der Abstand zwischen Ost und
West ist wieder größer geworden. Da bin ich auch schon
bei einem wesentlichen Problem des Antrags der Regie-
rungsfraktionen zur Mittelstandsoffensive: Die unter-
schiedlichen Voraussetzungen und Bedingungen des Mit-
telstandes in den neuen Ländern erfordern meiner
Meinung nach auch entsprechend differenzierte gesetzli-
che Regelungen. In Ostdeutschland haben 52 Prozent
der Betriebe weniger als fünf Mitarbeiter. 1997 betrug die
durchschnittliche Kreditquote, bezogen auf die Bilanz-
summe, 66 Prozent. Diese liegt im Vergleich zu west-
deutschen Unternehmen fast doppelt so hoch und sagt viel
über die Wirtschaftskraft dieser Unternehmen aus.

Ich denke, dass die Bundesregierung diesen unter-
schiedlichen Rahmenbedingungen stärker Rechnung tra-

gen muss. Schon der Begriff Mittelstand ist verwaschen.
Man braucht sich nur die Spannbreite der Unternehmen
vor Augen zu führen, die unter den Begriff kleine und
mittlere Unternehmen gefasst werden. Man kann eben
nicht ein etabliertes bayerisches Unternehmen mit mehre-
ren 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit einem ost-
deutschen Unternehmen mit fünf Mitarbeitern und fak-
tisch keinem Eigenkapital in einen Topf werfen und
vergleichen. Hier muss eine entsprechende Initiative er-
griffen werden, damit stärker differenziert wird und die
Besonderheiten Ostdeutschlands berücksichtigt werden.


(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos])

Jetzt schon wissen wir, dass die Vorhaben der Bundes-

regierung zur Flexibilisierung der Arbeit und zur Senkung
der Lohnkosten nicht zu dem gewünschten Erfolg führen
werden. Das, was ich hier vortrage, ist keine Weissagung,
sondern eine in Ostdeutschland gemachte Erfahrung. Hier
kann man nämlich vom Osten lernen, wie man es im Wes-
ten nicht machen soll. In den 90er-Jahren wurde im Osten
auf den Standortvorteil Lohnkosten gesetzt. Auf dem
ostdeutschen Arbeitsmarkt herrscht so seit Jahren in der
Realität eine hohe Flexibilität vor: niedrige Tarifbindung,
ein hoher Anteil an betrieblichen Regelungen, untertarif-
liche Bezahlung, hoher Anteil an befristeten Arbeitsver-
hältnissen usw. Doch die gewünschten Arbeitsplatzef-
fekte wurden dadurch eben nicht erzielt. Auch mit
Großinvestitionen haben wir im Osten nicht unbedingt
gute Erfahrungen gemacht. Herr Stolpe, der hier nicht an-
wesend ist, es aber trotzdem weiß, kann davon ein Lied
singen. Ich erinnere nur an Lausitzring, Flughafen Berlin-
Schönefeld, Chipfabrik, Cargo-Lifter, Filmpark Babels-
berg. Da wurden Milliarden versenkt, ohne entsprechende
Arbeitsplatzeffekte zu zeitigen.

Ein weiterer Punkt in Ihrem Antrag, meine Damen und
Herren, gilt der Entbürokratisierung. Das ist richtig und
klingt immer gut. Aber das eigentliche Problem liegt doch
viel tiefer. Die Bundesrepublik ist mit der großen Industrie,
mit Kohle, Stahl, Schiffbau usw., groß geworden. Viele Ver-
fahren und Gesetze orientieren sich an diesen alten Indus-
trien, die heute eben nicht mehr Arbeit schaffen, sondern
eher Arbeitsplätze im Mittelstand bedrohen. Doch gerade
Miniunternehmen, die in den letzten Jahren Arbeitsplätze in
beachtlichen Größenordnungen geschaffen haben, werden
von den Verwaltungen als lästig angesehen. Natürlich ist es
für eine Verwaltung immer angenehmer und zeitsparender,
den Inhalt eines Fördertopfes auf zwei oder drei Groß-
unternehmen zu verteilen, als mit mehreren 100 oder gar
1000 Miniunternehmen zu kommunizieren. Abgesehen da-
von entspricht es der Mentalität von Politikern, gerade vor
Wahlen, sich über die Generierung von Großprojekten einen
Ruf zu erwerben. Das ist einfacher und schöner, als sich mit
Miniunternehmen herumzuschlagen.

Meine Damen und Herren, ich denke, es geht nicht ein-
fach nur um Entbürokratisierung, sondern es geht um
nicht mehr und nicht weniger als eine Neudefinition der
Aufgaben des Staates.

Wir, die PDS, schlagen zur Stärkung des Mittelstandes
unter anderem Folgendes vor:


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Enteignung! Abschaffung des Erbrechts! Das ist euer Kernvorschlag!)


Gudrun Kopp




Dr. Gesine Lötzsch
erstens ein Infrastrukturprogramm der Bundesregie-
rung, das vor allem die Infrastruktur von Städten und Ge-
meinden stärkt, so wie es Herr Stolpe bereits aufgegriffen
hat und jetzt praktisch umsetzen muss; zweitens einen
neuen Finanzierungsschlüssel für die Gemeinschafts-
aufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruk-
tur“, der den Länderanteil von 50 auf 25 Prozent senkt. In
meiner Heimatstadt Berlin ist es schon jetzt nicht mehr
möglich, alle vom Bund zugestandenen Mittel der Ge-
meinschaftsaufgabe abzurufen, da das Land in einer
Haushaltsnotlage steckt, wodurch die Kofinanzierung
nicht mehr möglich ist.

Ich denke, die vorgeschlagenen Maßnahmen würden
Aufträge für kleine und mittlere Unternehmen bringen
und die Wirtschaft in den neuen Bundesländern beflügeln.
Wir brauchen eine Mittelstandsoffensive, die sehr spezi-
fische Vorschläge für Ostdeutschland enthält. Dann hätten
Sie, Herr Minister Clement, auch unsere Unterstützung,
aber nur dann.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos])



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1502201800

Ich erteile das Wort Kollegen Christian Lange, SPD-

Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Christian Lange (SPD):
Rede ID: ID1502201900

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Ich bin froh darüber, dass in die Wirtschaftspolitik
der Bundesrepublik Deutschland wieder Realismus,
Schwung und Dynamik statt Schwarzmalerei und oller
Kamellen eingezogen sind.


(Beifall bei der SPD)

Warum sage ich „Realismus“? Frau Kollegin Wöhrl,

wenn Sie sich hier hinstellen und in Ihrer Rede behaupten,
in Deutschland gebe es kein Wachstum, dann sind Sie be-
reits einer Lüge aufgesessen. Wenn Sie wenigstens so ehr-
lich gewesen wären, zu sagen, wir hätten zu wenig Wachs-
tum, dann hätten wir eine realistische Debatte haben
können. Aber wenn Sie noch nicht einmal dazu bereit
sind, sondern behaupten, wir hätten kein Wachstum, ob-
wohl alle – Sachverständigenrat, Ifo, HWWA, IfW usw. –
uns ein positives, wenn auch zu geringes Wachstum zu-
gestehen, dann macht dies deutlich, dass Ihnen nicht an ei-
ner realistischen Debatte, sondern nur an Schwarzmalerei
und Polemik gelegen ist. Das brauchen der Standort
Deutschland und der Mittelstand am wenigsten, meine
Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD – Ludwig Stiegler [SPD]: Franz Josef Strauß lässt grüßen! Sonthofen!)


Wenn wir dann von Ihrem stellvertretenden Fraktions-
vorsitzenden hören müssen, dass die Bundesregierung al-
lein die Weltwirtschaft für die wirtschaftliche Lage ver-
antwortlich mache, obwohl der Minister kein einziges
Wort dazu gesagt hat, dann finde ich das mehr als bemer-

kenswert. Und wenn zugleich Ihre Kollegen das hohe Re-
formtempo des Ministers kritisieren, dann muss ich Sie
fragen: Was meinen Sie jetzt eigentlich?


(Beifall bei der SPD)

Ist allein die Weltwirtschaft verantwortlich oder spielen
nicht doch auch die Probleme in Deutschland eine Rolle?
Wir würden uns in der Tat treffen und über eine realisti-
sche Wirtschaftspolitik sprechen können, wenn wir ge-
meinsam die Weltwirtschaft auf der einen Seite und die
Strukturprobleme in Deutschland auf der anderen Seite
als Verantwortliche sehen würden.

Genau aus diesem Grunde kommt die Mittelstands-
offensive der Bundesregierung zum richtigen Zeitpunkt.
Gerade in Zeiten tief greifenden Strukturwandels kann
und wird Deutschland von einer mittelständisch gepräg-
ten Wirtschaftsstruktur profitieren; denn es waren schon
immer die mittelständischen Unternehmen, die in ökono-
mischen Umbruchsituationen die Richtung vorgegeben
und das Tempo bestimmt haben. Unsere Aufgabe ist es,
dieses Tempo zu befördern und dafür zu sorgen, dass der
Mittelstand Jobmotor Nummer eins in Deutschland ist
und bleibt.

Deshalb – da komme ich wieder zum Realismus Ihrer
Wirtschaftspolitik zurück – finde ich es bemerkenswert,
dass Sie die Steuerquoten in Deutschland kritisieren.
Mein Kollege Brandner hat bereits auf die Zahlen des
DIW hingewiesen. Ich will Ihnen nun die Zahlen der
OECD vorhalten. Wenn Sie die gesamtwirtschaftliche
Steuerquote der OECD im internationalen Vergleich 2001
heranziehen, dann liegen wir mit 21,7 Prozent mehr als
ordentlich, sogar ganz hervorragend. Schweiz, Spanien,
USA, Irland, Portugal, Niederlande, Frankreich, Grie-
chenland, Italien, Kanada, Österreich, Luxemburg, Groß-
britannien, Belgien, Finnland, Norwegen, Schweden und
Dänemark haben wesentlich höhere Quoten. Nehmen Sie
das bitte schön endlich einmal zur Kenntnis und betreiben
Sie keine Schwarzmalerei!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


In Bezug auf den anderen Teil unseres Problems, näm-
lich die Abgabenquote, muss ich in der Tat sagen: Hier
gilt es weiterzuarbeiten. Da hat die Bundesregierung eini-
ges auf den Weg gebracht. Die Steuer- und Abgabenquote
im internationalen Vergleich rechtfertigt keinesfalls
Schwarzmalerei, wie Sie es behaupten. Wir liegen hier auf
einem ordentlichen Platz. Aber ich stimme Ihnen aus-
drücklich zu, dass wir uns verbessern müssen. Es hat je-
doch etwas mit Realismus zu tun und nichts mit Schwarz-
malerei, wenn wir etwa die Steuer- und Abgabenquote von
36,4 Prozent im internationalen Vergleich der OECD-Zah-
len sehen und zur Kenntnis nehmen, dass Großbritannien,
Niederlande, Griechenland usw. bis hin zu Schweden we-
sentlich höhere Steuer- und Abgabenquoten aufweisen.

Das heißt, wir müssen die Rahmenbedingungen ver-
bessern und wir müssen die Strukturreformen voranbrin-
gen. Deshalb wurde die Rürup-Kommission eingesetzt.
Deshalb gehen wir die Reformen im Gesundheitswesen
an. Deshalb machen wir bei der Riester-Rente weiter. All
das werden wir tun. Aber es darf bitte schön keine
Schwarz-Weiß-Malerei geben, als ob Deutschland am


(A)



(B)



(C)



(D)


1688


(A)



(B)



(C)



(D)






Ende und diese Bundesregierung dafür verantwortlich
wäre. Diese hätte nichts mit der Wirklichkeit und mit der
Situation des Mittelstandes in Deutschland zu tun.


(Beifall bei der SPD)

Ein wichtiger Bestandteil der Mittelstandsoffensive ist

der Small-Business-Act – das will ich ausdrücklich un-
terstreichen –, in dem alle Maßnahmen zusammengefasst
werden, die der Verbesserung der Startbedingungen für
Existenzgründer und Kleinstunternehmen dienen. Wir
wollen eine Minimalbesteuerung und einfachste Buch-
führungspflichten sowie bessere Finanzierungskonditio-
nen und Erleichterungen des unternehmerischen Genera-
tionswechsels herbeiführen.

Zur Erleichterung des unternehmerischen Generations-
wechsels werden wir die Unternehmensnachfolgeinitia-
tive weiter ausbauen und ergänzen, die es bereits gibt. Ein
Kollege hat behauptet, sie gebe es gar nicht. Sie kennen ja
noch nicht einmal die Programme, die die Bundesregie-
rung bereits in der vergangenen Legislaturperiode aufge-
legt hat. Auch das sollten Sie endlich einmal nachlesen.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Die können nur polemisieren!)


Alle Existenzgründer, also nicht nur die Ich-AGs, müs-
sen von diesen Vereinfachungen profitieren. Dafür wurde
eine sinnvolle Regelung gefunden. Bis zu einer Umsatz-
größe von 17 500 Euro wird umgehend eine Betriebsaus-
gabenpauschale von 50 Prozent für Existenzgründer
eingeführt. Damit sind die Unternehmen nicht nur von der
Umsatz- und Gewerbesteuerpflicht, sondern auch – so-
fern sie keine sonstigen Einnahmen haben – von der Ein-
kommensteuer befreit. Ab dem 1. Januar 2004 gilt diese
Befreiung vorbehaltlich der notwendigen Zustimmung
vonseiten der Europäischen Kommission bis zu einer
Umsatzhöhe von 35 000 Euro.

Wir wollen junge Existenzgründer in den ersten vier
Jahren von Beitragszahlungen an die Industrie- und Han-
delskammern sowie Handwerkskammern ausnehmen.
Herr Kollege Brüderle, es ist eben nicht so, dass dies be-
reits heute Realität ist. Ich gestehe Ihnen zu, dass bei den
Industrie- und Handelskammern in der Vergangenheit ein
sehr guter Fortschritt erreicht wurde. Dort gibt es sehr
günstige Einstiegstarife und beitragsfreie Mitgliedschaf-
ten. Aber im Bereich der Handwerkskammern muss noch
nachgelegt werden. Der Minister hat schon angekündigt,
dass wir dies gemeinsam mit dem Zentralverband des
Deutschen Handwerks erreichen wollen. Deshalb bitte ich
Sie, uns in diesem Punkt zu unterstützen und nicht nur zu
kritisieren. Auch das hat etwas mit Realismus und Ehr-
lichkeit in der Politik zu tun.

Ein genauso wichtiger Beitrag für Existenzgründer ist
die Verbesserung der sozialen Absicherung von Kleinst-
unternehmern, angefangen bei der Einführung eines Pfän-
dungsschutzes für die private Altersvorsorge von Selbst-
ständigen. Ebenso soll die Handelsregistereintragung
beschleunigt werden.


(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)

Lassen Sie mich auch noch ein Wort zu den handwerk-

lichen Tätigkeiten und zur Handwerksordnung sagen.

Wir haben bereits in der vergangenen Legislaturperiode
mit den Leipziger Beschlüssen einen ersten Schritt in die
Richtung von mehr Flexibilität getan. Wir werden in die-
ser Richtung weitergehen. Ich freue mich, dass das Hand-
werk grundsätzlich erklärt hat, es sei bereit dazu. Wenn wir
im Bereich der einfachen Dienstleistungen mehr erreichen
wollen, dann müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass diese
Menschen, die sich selbstständig machen wollen, nicht
Biotechunternehmer werden, sondern dass sie ganz einfa-
che Tätigkeiten ausüben werden. Sie werden beispiels-
weise im Gärtnereibereich oder im Malerbereich tätig wer-
den. Wir brauchen flexiblere Lösungen. Die Punkte, die
der Minister hier angedeutet hat – Anrechnungsfragen,
Freischussregelungen, die Verkürzung der siebenjährigen
Praxiszeit für Gesellen –, gehen in die Richtung, Vereinfa-
chungen zu erreichen. Ich freue mich darauf, dass wir in
diesem Punkt Ihre Unterstützung haben. Aber seien Sie
bitte schön an dieser Stelle auch so fair, diese Maßnahmen
zu begrüßen und nicht nur zu kritisieren! Auch das hat et-
was mit Realismus in der Politik zu tun.


(Beifall bei der SPD – Ernst Hinsken [CDU/ CSU]: Wir werden grundsätzlich an der Meisterprüfung festhalten!)


Wir brauchen darüber hinaus eine Initiative zur Mo-
dernisierung der Ausbildung. Auch hier ist die Bundes-
regierung auf dem richtigen Weg.

Wir brauchen Wachstum und Beschäftigung zunehmend
auch bei innovativen mittelständischen Unternehmen, zum
Beispiel in der Bio- und Informationstechnologie. Durch
eine gezielte Ausrichtung der Förderprogramme und deut-
liche Vereinfachung bei den Antragsverfahren konnte der
Anteil von kleinen und mittleren Unternehmen an der For-
schungsförderung des Bundes in den letzten Jahren um
über 50 Prozent erhöht werden. Mit einer Initiative „Inno-
vation und Zukunftstechnologien im Mittelstand“ soll die-
ser Trend weiter verstärkt werden. Es gilt, dies insbeson-
dere in den neuen Ländern und in den benachteiligten
Regionen zu forcieren.

Ich bin fest davon überzeugt, dass wir mit der Offen-
sive für den Mittelstand zusätzliche Wachstumsimpulse
für Existenzgründer, Handwerk und Mittelstand auslösen
werden. Gleichzeitig werden wir mit der Umsetzung der
Steuer- und Arbeitsmarktreformen Freiraum für mehr Ei-
genverantwortung, Kreativität und Experimentierfreude
schaffen. Die Wachstumskräfte unserer mittelständischen
Wirtschaft werden wir aktivieren. Der Arbeitsmarkt erhält
neuen Schwung.

In diesem Sinne: mehr Realismus und weniger Schwarz-
malerei, meine Damen und Herren der Opposition!

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Ach Gott, Herr Lange!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502202000

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Laurenz Meyer –

zu seiner ersten Rede hier im Plenum, wie ich mit Erstau-
nen gehört habe.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Christian Lange (Backnang)







Laurenz Meyer (CDU):
Rede ID: ID1502202100

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn

man diese Debatte verfolgt – das sage ich insbesondere an
die Adresse der Kollegen aus der SPD-Fraktion –, kommt
sie einem ein bisschen gespenstisch vor; das muss ich Ih-
nen offen sagen. Haben Sie eigentlich seit Beginn der Le-
gislaturperiode nicht einmal mit irgendeinem Mittelständ-
ler vor Ort über das, worüber Sie hier reden, gesprochen?


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Stimmung draußen hat mit dem, was Sie hier vor-

tragen, nicht das Geringste zu tun. Das hätten Sie spätes-
tens im Dezember zumindest an den Zahlen erkennen
können. Das Ifo-Institut hat im Dezember 1100 Unter-
nehmen befragt und dabei festgestellt, dass 28,9 Prozent
der Unternehmen überlegen, ihren Standort ganz oder
teilweise ins Ausland zu verlagern.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

77,2 Prozent werden Investitionen einschränken oder auf-
schieben oder wollen im Ausland investieren.


(Klaus Brandner [SPD]: Alles Mittelstand? Was ist der Mittelstand für Sie, Herr Meyer?)


– Haben Sie das nicht zur Kenntnis genommen? Herr
Brandner, wenn mich in Zukunft draußen ein Mittelständler
anspricht und mir seine Sorgen vorträgt, werde ich ihm sa-
gen: In der SPD-Fraktion sind so wichtige Leute wie Herr
Brandner und Herr Lange dafür zuständig und Herr Kuhn
hat diese Aufgabe bei den Grünen übernommen. Ihr braucht
euch überhaupt keine Sorgen zu machen. Die haben das un-
heimlich gut im Griff, die wissen, wohin es gehen soll.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Der Wirtschaftsminister, der draußen große Töne spuckt,

hat den ganzen Quatsch, die Steuer- und Abgabener-
höhungen und die Belastungen, die hier beschlossen wer-
den sollen und teilweise schon beschlossen worden sind,
mitgetragen.


(Klaus Brandner [SPD]: Der Generalagitator!)

Bei der Vorbereitung auf diese Debatte ist mir etwas

aufgefallen – und ich bitte Sie, Herr Wirtschaftsminister,
in Ihrem eigenen Laden noch einmal nachzusehen –: An-
fang der Woche hat mir ein Mittelständler, ein Modell-
bauunternehmer, eine neue Verordnung aus Ihrem Hause
zugeschickt, in der auf dreieinhalb Seiten nur Gebühren-
erhöhungen für mittelständische Unternehmen aufgelistet
sind. Gucken Sie sich diese Verordnung einmal an! Sie
stand am 23. Dezember letzten Jahres im Bundesgesetz-
blatt, von Ihnen unterschrieben.


(Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Das sind doch keine Steuern!)


Und dann stellen Sie sich hier hin und sagen: weniger
Bürokratie, weniger Abgaben für den Mittelstand. Wo ist
denn da die Glaubwürdigkeit?


(Wolfgang Clement, Bundesminister: Bei Ihnen, weil Sie uns das alles hinterlassen haben!)


Wer soll Ihnen das noch abnehmen?

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Draußen im Scheinwerferlicht reden Sie von Mittel-
standsoffensive, während Sie in Wirklichkeit immer nur
die Hand aufhalten und abkassieren. Das ist, leider Gottes,
die ganze Wahrheit, Herr Clement. Das wird hier im Bund
schneller auffallen als in Nordrhein-Westfalen, das Sie
rechtzeitig verlassen haben. Das war gut für das Land,
aber schlecht für die Bundesrepublik Deutschland.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, 80 Prozent der Unterneh-

men beklagen, dass sie heute nur noch ein halbes Jahr
Planungssicherheit für Investitionen haben. Wie soll
das denn gehen? Der Zeitraum von einem halben Jahr
reicht nicht aus. Die Unternehmen sollten für wenigstens
zwölf Monate Planungssicherheit haben. Das war schon
wenig genug in der früheren Zeit.

Wir müssen sehen, was die SPD-Fraktion mit den Grü-
nen zusammen macht. Herr Schulz, ich sage es Ihnen ganz
offen: Ich weiß ja, dass Sie untereinander Streit hatten we-
gen dieses Antrags, dass der eine oder andere bei Ihnen
weitergehen wollte. Ich wundere mich, dass Sie sich dann
wirklich darauf verständigt haben, gestern einen Antrag
einzubringen, der im Text und in den Überschriften der
Internetseite des Wirtschaftsministeriums entspricht, die
seit dem 5. Januar als Public-Relations-Maßnahme für je-
dermann zugänglich ist. Sie trauen sich allen Ernstes, das
als Mittelstandsoffensive von SPD und Grünen hier im
Plenum einzubringen. Schämen Sie sich dabei wirklich
nicht? Tun Sie sich bei den Sorgen, die der Mittelstand
hat, nicht wenigstens schwer, wenn Sie so etwas machen?


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der SPD)


– Herr Brandner, dass Sie dabei nervös werden, kann ich
verstehen.


(Klaus Brandner [SPD]: Ich bin überhaupt nicht nervös! Wir packen es an!)


Das ist wirklich eine geistige Glanzleistung, die Sie voll-
bracht haben.

Das Einzige, was Sie geschafft haben, ist, die Reihen-
folge der Kapitel Ausbildung und Innovationsoffensive
für den Mittelstand zu vertauschen; es sei dahingestellt,
ob bei der Arbeit geschlampt worden ist oder ob das be-
absichtigt war.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das haben sie nicht einmal gemerkt!)


Außerdem haben Sie aus dem alten Absatz „Verbesserung
der Zahlungsmoral“ in Clements Mittelstandsoffensive
ein neues Kapitel gemacht und fertig ist die Laube. Das ist
alles an geistiger Arbeit, was Sie als Offensive für den
Mittelstand eingebracht haben!

Sagen Sie einmal ehrlich, Herr Kuhn: Muss man sich
nicht schlecht fühlen, wenn man so etwas vertreten soll?
Ihrer Rede hat man das auch angemerkt und noch deut-
licher wurde es bei Ihrem Kollegen, der die Opposition für
alles verantwortlich gemacht hat.


(Klaus Brandner [SPD]: Und jetzt kommt der Beitrag, den Sie leisten! Jetzt haben Sie genug geredet! Was kommt von Ihnen?)



(A)



(B)



(C)



(D)


1690


(A)



(B)



(C)



(D)






Gestern fand eine Tagung des Bundes der Selbststän-
digen statt, an der auch einige von Ihnen teilgenommen
haben. Wir – der Kollege Schauerte war auch anwesend –
haben bei dieser Gelegenheit gefragt,


(Klaus Brandner [SPD]: Was wollen Sie denn jetzt?)


wer von dem Vorhaben der Bundesregierung betroffen ist,
für Unternehmen bis zu einer Umsatzgröße von 17500 Euro
bzw. 35 000 Euro eine hälftige Betriebsausgabenpau-
schale einzuführen.


(Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Wir sind doch schon dabei!)


Wir erhielten darauf zur Antwort, dass von dem, was Sie
als Großoffensive für den Mittelstand ankündigen, zwar
eine Avon-Beraterin betroffen wäre,


(Klaus Brandner [SPD]: Die freut sich auch!)

dass aber niemand davon betroffen wäre, der in Deutsch-
land Arbeitsplätze schafft. Das ist aber angesichts der
Situation in Deutschland zu wenig.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Das Thema Kündigungsschutz – der einzige Punkt, mit

dem Herr Clement in den vergangenen Wochen positiv
bei den Wirtschaftsverbänden aufgefallen ist – ist in dem
Antrag zu der Offensive für den Mittelstand mit keinem
Wort erwähnt.


(Ulrich Heinrich [FDP]: Das darf er nicht!)

Das macht deutlich, in welche Richtung der Weg führt.
Deswegen glaube ich persönlich nicht daran, dass mit die-
ser Bundesregierung auch nur eine einzige Offensive bzw.
eine einzige ernsthafte Maßnahme für den Mittelstand auf
den Weg gebracht werden kann. Bei Ihrem Vorhaben han-
delt es sich um weiße Salbe. Weniger als 10 Prozent der
Unternehmen im Mittelstand – die Kollegin Wöhrl hat da-
rauf hingewiesen – sind davon betroffen.

Es wird keinen einzigen zusätzlichen Existenzgründer
geben, wenn die Rahmenbedingungen für den Mittelstand
nicht geändert werden. Wie sollen angesichts von 38000 Fir-
menpleiten – in diesem Jahr soll die Zahl noch zunehmen –
Existenzgründer überleben, wenn unter den Rahmenbe-
dingungen, die Sie zu verantworten haben, schon beste-
hende Betriebe Pleite gehen?

Ich habe kürzlich davon gesprochen – das hat mir hin-
terher Leid getan –, dass die Bundesregierung handwerk-
lich schlechte Arbeit leistet. Die Handwerker haben dage-
gen protestiert und mir verboten, in dieser Debatte im
Zusammenhang mit dieser Bundesregierung weiterhin
das Wort „handwerklich“ zu erwähnen, weil sie sich da-
durch beleidigt fühlen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Zu Recht!)


Ich kann das nachvollziehen.

(Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Olle Kamellen! – Klaus Brandner [SPD]: Sie haben keine einzige Maßnahme vorgetragen!)


Sie brauchen sich nur die Zahlen vor Augen zu halten.
Herr Müntefering, Sie haben angekündigt, es müsse we-

niger Geld für den Konsum und mehr für den Staat aus-
gegeben werden. In Zukunft können Sie den Menschen
vorrechnen, was Sie darunter verstehen. Sie haben es
nämlich in nur zwei Jahren geschafft, dass die Menschen
neun Tage länger für den Staat arbeiten müssen, als es
noch im Jahr 2001 der Fall war. Sie müssen neun Tage
mehr für Steuern und Abgaben arbeiten. Sie haben den
Menschen innerhalb von zwei Jahren neun Tage geklaut,
die sie zuvor für Familie, Urlaub, Kleidung und ihre Kin-
der zur Verfügung hatten.


(Zuruf von der SPD: Was für ein Quatsch!)

Das haben Sie zu verantworten und das werden wir nicht
unerwähnt lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ein Punkt hat mich bei der Vorbereitung dieser Debatte
besonders nachdenklich gemacht. Vor zwei Tagen hat der
DGB seine Ausbildungsbilanz vorgelegt. Das haben Sie
gar nicht mitbekommen, weil Sie die Sorgen der Jungen
nicht mehr zur Kenntnis nehmen. Niemand von der SPD
hat darauf reagiert,


(Franz Müntefering [SPD]: Seien Sie nicht so aufgeregt, Herr Meyer! Ruhe!)


dass die Zahl der Ausbildungsplätze um 7,1 Prozent ge-
sunken ist. Im vergangenen Jahr sind 43 000 Ausbil-
dungsverträge weniger zustande gekommen. Niemand
von Ihnen hat darauf reagiert. Das ist die soziale Haltung,
die Sie an den Tag legen!


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

186 von Ihren 251 Abgeordneten sind Gewerkschaftsmit-
glied, aber niemand hat zu dieser desaströsen Bilanz des
DGB Stellung genommen.

Sie wollen die Wirklichkeit nicht mehr zur Kenntnis
nehmen. Das ist soziale Kälte, die heute in Deutschland
herrscht. Diese soziale Kälte nehmen die Menschen wahr.
Das werden Sie am kommenden Sonntag merken.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie diskutieren immer wieder – die Grünen sollten noch

einmal ernsthaft darüber nachdenken – über den großen
Befähigungsnachweis.


(Hubertus Heil [SPD]: Sie sind doch für Deregulierung!)


Dazu sage ich Ihnen im Zusammenhang mit der Ausbil-
dung: Wer im Handwerk soll eigentlich in Zukunft noch
die Ausbildung gewährleisten und die damit verbundenen
großen Leistungen erbringen, wenn Sie auch den Meis-
terbrief, der eine Grundlage für das Handwerk ist, infrage
stellen? Lassen Sie die Finger davon, wenn Sie nicht noch
mehr Ausbildungsplätze gefährden wollen!


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es ist wirklich Zeit, dass Sie einen Kurswechsel ein-

leiten. Dazu sollten Sie aber zumindest zugeben, dass Sie
die ersten 100 Tage Ihrer Regierungszeit in den Sand ge-
setzt haben. Dafür sollten Sie nicht die Opposition und das
Ausland verantwortlich machen, sondern sich ernsthaft

Laurenz Meyer (Hamm)





Laurenz Meyer (Hamm)

fragen, was bei Ihnen falsch gelaufen ist. Dies ist not-
wendig, damit die Menschen wieder Zutrauen zu dem,
was in diesem Parlament geschieht, bekommen und
Deutschland zumindest wieder in die erste Reihe der
Wirtschaftsnationen gelangt. Wir wollen nicht unbedingt
die Ersten sein, aber nach vorne kommen, anstatt das
Schlusslicht zu sein. So wie Sie bisher vorgegangen sind,
werden Sie dies nicht schaffen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Typisch Meyer! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Jetzt klatschen sie sich auch noch Mut an!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502202200

Herr Kollege Meyer, den Sitten des Hauses entspre-

chend gratuliere ich auch Ihnen zur Ihrer Rede, die man
aber nicht so recht als Jungfernrede bezeichnen kann. Sie
sind ja ein geübter Redner.


(Beifall)

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Sigrid Skarpelis-

Sperk.


Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (SPD):
Rede ID: ID1502202300

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich war

gespannt auf die Rede des Kollegen Meyer.

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Was? – Volker Kauder [CDU/CSU]: Mit Recht!)

Ich habe mir gedacht: Vielleicht wird er ja mit seiner
Jungfernrede einen realistischen, vernünftigen Debatten-
beitrag liefern.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Aber er ist seinem Ruf als Wadenbeißer gerecht geworden.


(Beifall bei der SPD)

Ich habe mir schon überlegt, ob ich ihn Kampfhund nen-
nen soll. Aber ehrlich gesagt, dafür waren seine Bisse nicht
wirksam genug. Er hat gekläfft wie ein Wadenbeißer.

Ich muss feststellen: Die bisherige Debatte enthielt
nichts anderes als – entschuldigen Sie – olle Kamellen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das sollte nicht der Ton sein, in dem wir in diesem Hause
über eine schwierige Wirtschaftssituation und die keines-
wegs einfache Lage der mittelständischen Unternehmen
diskutieren.

Herr Merz, ich sage Ihnen eines: Wenn Sie die Feier in
Versailles in der vergangenen Woche nur dazu genutzt ha-
ben sollten, Fotos zu machen und gut zu essen, anstatt mit
den französischen Kollegen über deren Besorgnisse im
Hinblick auf die Verschlechterung der Wirtschaftslage in
Frankreich zu sprechen, dann hat der Ausflug nach Ver-
sailles ein bisschen zu wenig gebracht.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Haben Sie das so gemacht?)


Ich möchte Sie auf Folgendes hinweisen: Im gesamten
Euroraum hat sich die Wirtschaftslage deutlich ver-
schlechtert. Die Länder, die immerhin 72 Prozent des Brut-
toinlandsprodukts der Eurozone produzieren – Deutsch-
land, Frankreich und Italien –, stehen vor den gleichen
Problemen. Dies ist nicht deshalb der Fall, weil die unter-
schiedlichen Regierungen das gleiche wirtschaftspolitische
Instrumentarium verwenden. Dazu haben vielmehr die
weltwirtschaftliche Lage und die Verschlechterung im
Euroraum beigetragen. Wenn Sie jede Woche einen apo-
kalyptischen Reiter durch das Land jagen, dann werden
Sie damit keine Verbesserung des Vertrauens erzielen, wie
Sie dies soeben verlangt haben.


(Beifall bei der SPD)

Uns dagegen geht es um etwas anderes, nämlich darum,

in einer keineswegs einfachen Situation zu fragen: Wie
können wir dem Mittelstand wirklich helfen? In diesem
Zusammenhang möchte ich über etwas sprechen, was
Minister Clement und auch mein Kollege von den Grünen
kurz angesprochen haben: die Finanzierungsbedingungen
und die größer gewordenen Finanzierungsprobleme der
deutschen Wirtschaft schlechthin, aber vor allem die der
mittelständischen Unternehmen. Es ist keine Frage: Viele
Wirtschaftsunternehmen haben erhebliche Schwierigkei-
ten, schon ihre normale Wirtschaftstätigkeit zu finanzie-
ren. Viele kleine und mittlere Unternehmen, selbst recht
solide Unternehmen mit guter Absatzlage und Expan-
sionsaussichten haben Probleme, von ihren Hausbanken
eine Verlängerung ihrer bisherigen Kreditlinie zu erhalten,
geschweige denn frisches Geld für neue Investitionen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist doch Ihre Schuld! – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Machen Sie mal was!)


Viele, vor allem kleine Existenzgründer, stehen vor ge-
schlossenen Banktüren.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Machen Sie mal was!)


Dabei ist es besonders beunruhigend, dass nicht nur die
privaten Großbanken kleine Unternehmen zurückweisen
– das ist nichts Neues –, sondern zunehmend auch Spar-
kassen, Raiffeisenbanken und Genossenschaftsbanken.

Zwar sprechen die Deutsche Bundesbank und auch der
Sachverständigenrat davon, dass es keine Kreditklemme
gebe, aber die im vergangenen Jahr durchgeführten Um-
fragen der Kreditanstalt für Wiederaufbau bei den Unter-
nehmen zeigen sehr deutlich eine andere Situation: Ein
Drittel der Unternehmen klagt über erhebliche Finanzie-
rungsprobleme und darüber, dass sie abgewiesen würden,
ein Drittel sagt, es habe sich nichts geändert, und ein Drit-
tel hat zum Teil sogar verbesserte Konditionen bekommen.
Das ist aber nur die Crème de la Crème des Mittelstandes.

Die Ursachen für dieses Besorgnis erregende Vorgehen
der deutschen Banken und Kreditinstitute sind schlicht
folgende – dass Herr Merz darauf mit keinem Wort ein-
gegangen ist,


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Weil es so nicht stimmt! Sie können nicht alle über einen Leisten schlagen!)



(A)



(B)



(C)



(D)


1692


(A)



(B)



(C)



(D)






erscheint mir, entschuldigen Sie bitte, schlicht provinziell,
Herr Hinsken –: Der internationale Wettbewerb im Ban-
kensektor hat stark zugenommen, wobei insbesondere die
Privatbanken von der Globalisierung und den Risiken der
internationalen Kapitalmärkte betroffen sind. Sie sind von
den weltweiten Rückgängen an den Aktienbörsen ange-
schlagen. Es ist einfach eine Tatsache, dass das, was in
den letzten zwei Jahren passiert ist, die größte Kapital-
vernichtung seit der großen Weltwirtschaftskrise im ver-
gangenen Jahrhundert gewesen ist. Das hat riesige Verlus-
te bei den Banken und bei vielen Pensionsfonds gebracht,
aber auch bei den Immobiliengeschäften in Deutschland
und weltweit.

Die Banken stehen inmitten gewaltiger Wertberichti-
gungen bei den Unternehmenskrediten, vom Neuen Markt
zur E-Commerce-Blase, von der Kirch-Pleite in Bayern bis
zu den Auswirkungen der Bilanzfälschungen in den USA.
Die deutschen Banken rationalisieren in scharfem Tempo
und bauen massiv Beschäftigte und Filialen ab, um ihre
Renditen wieder zu erhöhen und diese Verluste wenigstens
teilweise auszugleichen. Aber, verdammt noch einmal, das
ist doch nicht die Schuld dieser Bundesregierung,


(Lachen bei der CDU/CSU)

wenn einige auf internationaler Ebene an den Börsen ge-
spielt haben und die Renditen zurückgehen! Sie tun so, als
wären wir dafür verantwortlich, wenn hier gezockt wor-
den ist.


(Beifall bei der SPD)

Übrigens sprechen Sie die Probleme nie an, die im Un-

ternehmenssektor entstanden sind und die international
anstehen, weil es zu unbequem ist, sich damit auseinander
zu setzen und zu fragen, wie man Lösungen für diese
schwierigen Fragen findet.

Die Sparkassen, die typischerweise die kleinen und
mittleren Unternehmen bedienen, sind durch den von der
EU-Kommission erzwungenen Wegfall der Gewährträ-
gerhaftung getroffen und schränken die Kreditvergabe an
ihre traditionellen Kunden ein. Es war übrigens ein kon-
servativer Kommissar der EU-Kommission, der uns diese
Schwierigkeiten eingebrockt hat.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Aha, auch wieder jemand anderes!)


Die neuen internationalen Eigenkapitalrichtlinien,
kurz Basel II, sind für das Vorgehen von Banken und
Sparkassen mehr Ausrede als wahrer Grund; denn richtig
ist, dass die Banken neue, computergestützte Ratingver-
fahren entwickeln und anwenden, damit sie ihre Risiken
und Kosten besser überschauen können. Dabei sortieren
sie jetzt alles aus, was ihnen keinen Mindestprofit mehr
bringt. Es wäre wichtig, danach zu fragen.

Definitiv falsch ist, wenn die Banken ihr restriktives
Verhalten in der Kreditvergabe im Allgemeinen und ge-
genüber kleinen und mittleren Unternehmen im Besonde-
ren mit Basel II begründen. Bei der ersten Vorlage der
neuen Richtlinien waren diese Befürchtungen berechtigt,
aber mittlerweile hat die deutsche Verhandlungsführung
in Basel gewaltige und auch dringend notwendige Zuge-
ständnisse herausgeholt. Der Deutsche Bundestag hat
zweimal mit einstimmig verabschiedeten Resolutionen

wichtige Verbesserungen gefordert und damit der Bun-
desregierung und der deutschen Delegation sichtbar und
nachhaltig den Rücken gestärkt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das internationale Finanzkapital hat durch diese

Bemühungen übrigens gelernt, neben den deutschen Wör-
tern Kindergarten und Heimweh nun auch noch das Wort
Mittelstand zu buchstabieren, und das ist gut so.

Trotzdem sollten wir die Ergebnisse der Quantitative-
Impact-Study 3, QIS 3, das heißt die Simulationen zu der
Frage, wie sich die neuen Regeln auf die Banken und da-
mit auf die Unternehmen tatsächlich auswirken, abwar-
ten, bevor wir grünes Licht für ein Ja in Basel geben. Das
sind wir dem Mittelstand und den vielen Hunderttausend
Selbstständigen, Freiberuflern, Handwerkern und Exis-
tenzgründern und Bauern schuldig.

Ein weiterer Punkt sind – wenn ich das offen sagen
darf – die hohen Realzinsen, die wir in Deutschland zahlen.
Die Zinsen für den Euroraum werden mittlerweile zentral
festgelegt. Unsere Preissteigerungsraten sind deutlich
niedriger. Damit muss Deutschland und müssen deutsche
Unternehmen ein Stabilitätsopfer bringen, das heißt
höhere Realzinsen bezahlen.

Deswegen brauchen wir mehrere Schritte, um die
Finanzierungsbedingungen zu verbessern:

Erstens brauchen wir eine weitere Senkung der Zinsen
durch die Europäische Zentralbank, um die hohen Real-
zinsen zu senken und so die Unternehmen von der Kos-
tenseite her zu entlasten. – Da könnten Sie von der rech-
ten Seite auch einmal klatschen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das ist eine Forderung an eine andere Organisation, nicht
an die Bundesregierung.


(Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: Ach so!)


Also überwinden Sie sich doch einmal!
Zweitens – ich bin gespannt, ob Sie imstande sind, da

zu klatschen – brauchen wir die zügige Weitergabe der
Zinssenkungen durch die Banken an kleine und mittlere
Unternehmen.


(Beifall bei der SPD – Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: Ihr Kollege hat doch gerade kritisiert, dass sie nicht stattfindet!)


– Auch hier fehlt natürlich der Beifall von der rechten
Seite; denn damit würden Sie sich bei einigen Vorständen
unbeliebt machen. – Es geht nicht an, dass die Zinssen-
kungen der Europäischen Zentralbank nicht unver-
züglich an die Kunden weitergegeben werden. Wir kriti-
sieren hart, dass der Vorsitzende des Aufsichtsrats der
Deutschen Bank, Herr Breuer, die Banken auch noch dazu
aufgefordert hat, die Zinssenkungen nicht weiterzugeben.


(Beifall des Abg. Ludwig Stiegler [SPD])

Zu Recht ermittelt das Bundeskartellamt in dieser Frage
und auch das Parlament wird sich mit diesem Vorgang
ernsthaft befassen und gegebenenfalls als Gesetzgeber
handeln müssen.

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk




Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk

Wir appellieren an die deutschen Banken, auch in die-
ser Situation ihrer Verantwortung gerecht zu werden und
den deutschen Mittelstand angemessen zu finanzieren,
wie dies in früheren Zeiten der Fall gewesen ist. Exis-
tenzgründer sind künftige Kunden; viele von ihnen sind
erfolgversprechend und werden den Banken auch Profite
einbringen.


(Beifall bei der SPD – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist eine gnadenlose Abrechnung mit den Banken! Das ganze Bankensystem wird aus den Angeln gehoben!)


Die Bundesregierung hat mit den vorgeschlagenen
Finanzierungsbedingungen, der Schaffung einer Mittel-
standsbank, dem Programm der Kreditanstalt für Wieder-
aufbau „Kapital für Arbeit“ und dem Programm der Deut-
schen Ausgleichsbank für Mikrodarlehen entscheidende
Schritte gemacht, bringt wirkliche Hilfen und – entschul-
digen Sie bitte – nicht nur die ollen Kamellen, die Sie hier
anbieten. Wir haben den Mittelstand in den vergangenen
Jahren massiv entlastet.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Kaputtgemacht! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Davon hat der nur nichts gemerkt!)


Wir müssen jetzt darüber sprechen, konkrete Hilfestel-
lungen über die neue Mittelstandsbank zu geben, und
überlegen, wie wir mit neuen Instrumenten die Eigenka-
pitalbasis stärken.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Bei denen wird es nur noch schlechter!)


Darüber werden wir noch konkret reden. Ich hoffe, dass
das, wenn wir unter Ausschluss der Öffentlichkeit spre-
chen, auch einmal konstruktiv und vernünftig geht. In der
Verantwortung für den Mittelstand sollte uns das gele-
gentlich gelingen. Ich fordere Sie nachdrücklich dazu auf.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502202400

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hartmut Schauerte.


Hartmut Schauerte (CDU):
Rede ID: ID1502202500

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Frau Skarpelis-Sperk, Ihre Kolleginnen
und Kollegen sowie meine Kolleginnen und Kollegen
werden, denke ich, Verständnis dafür haben, dass ich
Ihren Beitrag jetzt nicht kommentiere.


(Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Das kannst du gar nicht! Dann müsstest du zustimmen! – Klaus Brandner [SPD]: Jetzt erwarten wir Vorschläge!)


Ich möchte mich zur Sache äußern und zunächst eine
kleine Vorbemerkung machen.

Herr Minister Clement, wir haben kein Problem mit
„Mangel an Ideen“ oder „Mangel an Vorschlägen“,


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Bei der CDU/CSU schon!)


sondern wir haben ein Glaubwürdigkeitsproblem und ein
Umsetzungsproblem.


(Hubertus Heil [SPD]: Sie haben ein Glaubwürdigkeitsproblem! – Zuruf von den Grünen: Ein Oppositionsproblem! – Klaus Brandner [SPD]: Aber Sie haben bisher noch keine Ideen eingebracht!)


Damit Sie das begreifen, möchte ich mich ein bisschen
mit den beiden Problemen beschäftigen.

Warum sollen die Menschen in Deutschland bei der Viel-
zahl von Vorschlägen glauben, dass jetzt etwas passiert? Bei
der Vielzahl von Vorschlägen müsste eigentlich Freude im
Lande sein, nämlich darüber, dass etwas passiert. Aber wie
wir alle wissen – Sie wissen es auch; die Wahlen am Sonn-
tag werden das vermutlich zeigen –, hält sich die Freude
durchaus in Grenzen. Zurzeit – der Befund ist wohl rich-
tig – wachsen die Enttäuschung und die Verunsicherung.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sie schüren das! Das ist doch Ihre Rede!)


Herr Clement, ich will noch einen Punkt benennen. Ich
zitiere:

Moderne Mittelstandspolitik ist für uns weniger
Bürokratie, schnellere Innovation, besserer Zugang
zu den neuen Technologien, effizientere Vermark-
tung sowie Hilfe und Unterstützung auf internatio-
nalen Märkten.

Wissen Sie, woher das Zitat stammt? – Aus einer Regie-
rungserklärung. Wissen Sie, von wann? – Von 1998. Wis-
sen Sie, von wem? – Von der SPD.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

Das könnten Sie abgeschrieben haben. Sie kommen mit
genau den gleichen Vorschlägen, fast in der gleichen Rei-
henfolge, heute wieder


(Klaus Brandner [SPD]: Die Leitlinien stimmen!)


und wundern sich, dass die Menschen – nachdem sie fest-
gestellt haben, dass vier Jahre lang nichts passiert ist, son-
dern dass es im Gegenteil eher Rückschritt gab – jetzt
nicht fröhlich erregt sagen: Toll, jetzt geht es los.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Herr Clement, jetzt wieder zu Ihnen. Das ist ja auch im-
mer eine Frage der persönlichen Glaubwürdigkeit. Sie ha-
ben in Nordrhein-Westfalen ebenfalls eine Menge ver-
nünftiger Dinge angekündigt.


(Hubertus Heil [SPD]: Auch getan!)

Ich will Sie einmal an ein paar erinnern. In Ihrer Regie-
rungserklärung vom 30. August 2000 haben Sie gesagt:

Wir wollen die Arbeitslosigkeit in den kommenden
fünf Jahren deutlich herunterbringen.

Es gibt in Nordrhein-Westfalen mittlerweile 100 000 Ar-
beitslose mehr als zu dem Zeitpunkt, als Sie das gesagt
haben.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist ja unglaublich!)



(A)



(B)



(C)



(D)


1694


(A)



(B)



(C)



(D)






Sie haben gesagt:
Jugendarbeitslosigkeit muss in unserem Land ein
Fremdwort werden.

In keinem Land ist die Jugendarbeitslosigkeit so
gestiegen wie in Nordrhein-Westfalen.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Hört! Hört! – Klaus Brandner [SPD]: In Bayern!)


Sie haben gesagt:
Wir können unser Land in die Spitzengruppe der eu-
ropäischen Regionen führen.

Nordrhein-Westfalen ist das Schlusslicht in Deutschland
und Deutschland ist das Schlusslicht in Europa.


(Widerspruch bei der SPD)

Das ist das Fazit nach zwei Jahren Regierungsankündi-
gungen von Ihnen.

Ich zitiere noch eine letzte Aussage, die das ganz be-
sonders deutlich macht. Herr Clement, Sie haben in die-
ser Regierungserklärung gesagt:

Nordrhein-Westfalen ist mehr als meine Heimat, es
ist meine Lebensaufgabe.

Zwei Jahre hat die Lebensaufgabe gedauert. Woraus soll
das Vertrauen erwachsen, dass Ihre Aussagen und Ankün-
digungen ernst gemeint sind, dass sie sich wirklich nie-
derschlagen?

Wir brauchen uns über den größten Teil Ihrer Vor-
schläge inhaltlich nicht zu streiten. Nein, sehr viele Dinge
davon sind zielgerichtet, richtig auf die Bahn gestellt.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das ist doch toll! Endlich loben Sie uns mal!)


Sie müssen aber umgesetzt werden. Das Vertrauen, dass
Sie es diesmal schaffen und dass es nicht wieder bei
Ankündigungen bleibt, ist eben unter null. Das ist Ihr Pro-
blem, Herr Clement.


(Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Brandner [SPD]: Was ist das denn für eine Statistik? Unter null?)


Wir wünschen Ihnen wirklich endlich einmal die Kraft, das,
was Sie ankündigen, auch durchzusetzen. Sie haben in
Nordrhein-Westfalen sehr viele Baustellen errichtet und
kaum eine zu Ende geführt. Das ist wirklich problematisch.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sagen Sie doch einmal, wo Sie im Deutschen Bundestag zustimmen werden? – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schneekanonen!)


– Vielleicht sind wir bei den Schneekanonen im Sauerland
vorangekommen; darüber können wir uns unterhalten.


(Franz Müntefering [SPD]: Das ist ja alles schauerlich, Herr Schauerte!)


Das war ein Masterplan. Herzlichen Glückwunsch! Das
ist aber auch das Einzige. Das ist nur deshalb gelungen,
weil wir mitgemacht haben; sonst wäre auch das wieder
schief gegangen. Sie weisen also eine „glänzende“ Bilanz
vor. Wo soll das Vertrauen herkommen?

Lassen Sie mich zu ein paar Dingen kommen, die hier
in der Debatte angesprochen worden sind. Ich fange ein-
mal mit den Banken an. Entweder ist das Ausland schuld
oder es sind die Banken. Die Banken sind Teil des Stand-
ortes Deutschland und auch denen geht es keineswegs so
gut, wie es ihnen gehen sollte.


(Klaus Brandner [SPD]: Welche Banken meinen Sie denn? Sprechen Sie jetzt als Verbandspräsident oder als Abgeordneter?)

Wir alle wissen, wovon wir da reden. Es werden bei

den Banken durchaus Fehler gemacht, zum Beispiel bei
den Großbanken und den Privatbanken; wie sie sich vom
Mittelstand verabschiedet haben, war nicht die feine eng-
lische Art.

Die Banken zeichnen bei ihrer Kreditvergabe die Kon-
junkturverläufe nach,


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Es ist ein Lobbyist, der da spricht!)


und zwar nicht übersteigert, sondern in einer sanfteren
Kurve. Die vorgenommenen Investitionen sind in Deutsch-
land deutlich stärker gesunken als die Kredite. Wenn Sie
das zu Ende denken, dann müssen Sie daraus schließen,
dass wir mehr Betriebsmittelkredite geben mussten – abso-
lut ungesichert –, weil die Wirtschaft weggebrochen ist.


(Klaus Brandner [SPD]: Jetzt sprechen Sie doch als Bankpräsident!)


Nun den Banken zu sagen, sie sollten endlich großzügig
Kredite geben, ist eine gefährliche Operation – Japan lässt
grüßen. In Japan haben die Banken Kredite gegeben auf
Teufel komm raus. Seit zehn Jahren sitzen sie in der Re-
zession.


(Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Ja, Herr Bankpräsident!)


– Ich warne Neugierige vor solch einem populistischen
Unsinn, Frau Skarpelis-Sperk.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Das, was Sie dazu vortragen, ist populistischer Unsinn.
Ich finde das schon schlimm.

Der nächste Punkt sind die EZB-Zinssätze. Sie wissen
nicht, wovon Sie da reden. Die EZB hat die Zinssätze um
einen halben Prozentpunkt gesenkt. In diesem Zusam-
menhang muss man wissen, dass das Refinanzierungsvo-
lumen der deutschen Banken nicht einmal zu 10 Prozent
EZB-gesteuert ist. Es besteht zu 90 Prozent aus dem Geld
der Sparer. Wenn wir wollen, dass die Banken die EZB-
Zinssenkung an ihre Kunden weiterreichen, müssen sie
auch die Einlagezinsen für die Sparer senken können. Da-
von habe ich bei Ihnen nichts gehört. Sie möchten doch
nur, dass die Zinssenkung der EZB an die Kreditnehmer
weitergereicht wird. Sie haben überhaupt keine Ahnung.


(Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Von Geldpolitik haben Sie keine Ahnung!)


Machen Sie sich schlau, bevor Sie hier populistischen Un-
sinn verkünden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zurufe von der SPD)


Hartmut Schauerte




Hartmut Schauerte

Ich möchte noch einen weiteren Gesichtspunkt an-
sprechen, der mir wirklich aufstößt, und zwar diese
17500-Euro-Regelung, von mir aus eines Tages die
35 000-Euro-Regelung, wenn Sie diese denn durchsetzen
können. Bis zu einem jährlichen Umsatz in Höhe von
17 500 Euro besteht für Existenzgründer und Kleinunter-
nehmen keine Aufzeichnungspflicht und es gilt eine Be-
triebsausgabenpauschale in Höhe von 50 Prozent. Was
aber passiert, wenn ein Betreiber eines solchen Mini-Un-
ternehmens über diese Grenze kommt? Wir hoffen ja, dass
diese Unternehmen möglichst schnell und möglichst häu-
fig über diese Grenze kommen. Das geschieht aber nicht
geplant, sondern plötzlich, im September oder Oktober.
Bis dahin haben diese Unternehmen keine Aufzeichnun-
gen gemacht und damit ein Problem. Denn das Finanzamt
wird im Januar nach den Aufzeichnungen fragen.

Sie werden erleben, dass die Möglichkeit, die Auf-
zeichnung zu unterlassen, gegen null läuft.


(Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD]: Sie bauen bürokratische Hürden auf!)


Auch die kleinen Unternehmen werden ihre normale
Buchhaltung machen müssen, weil alles andere mit einem
erheblichen Risiko verbunden ist.


(Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/CSU]: So ist es!)


Dieses Risiko werden Sie dann vollstrecken. Sie wissen
an dieser Stelle nicht, worauf es ankommt und was wirk-
lich helfen würde.

Ich möchte noch einen Punkt ansprechen, nämlich die
Energie- und Arbeitskosten in Deutschland. Wir haben
in diesem Bereich wirklich Erfahrungen gesammelt. Sie
haben gesagt, die Arbeit sei zu teuer, die Energie sei zu
billig. Jetzt ist beides teuer. Das ist das Ergebnis.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: So ist es!)

Energiekosten sind anders als sonstige Belastungen

immer kalkulatorische Kosten, die das Produkt belasten.
Sie belasten das Produkt, das wir um die ganze Welt
schicken, und machen es im Wettbewerb teuer. Sie belas-
ten aber nicht die Produkte, die aus der ganzen Welt nach
Deutschland kommen.


(Klaus Brandner [SPD]: Sie haben das 1996, 1997 und 1998 gemacht!)


Die Energiesteuer auf die Produkte umzulegen und zu mei-
nen, damit Probleme zu lösen, ist für ein Exportland wie die
Bundesrepublik Deutschland ein absoluter Irrweg. Wir ver-
schlechtern unsere Wettbewerbssituation auf den Märkten
der Welt und erleichtern den Import von Produkten. Dies ist
schlecht für die Arbeitsmarktsituation in Deutschland und
unsere Position beim Export. Dies ist ein schwerer Fehler.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wer die Löhne hoch halten will – die Nettolöhne sind

in Deutschland eher zu niedrig als zu hoch; unsere Ar-
beitnehmerinnen und Arbeiternehmer könnten durchaus
ein bisschen mehr gebrauchen –, darf nicht auch noch die
Energie verteuern, sonst kommen wir nicht weiter.


(Klaus Brandner [SPD]: Und Sie dürfen die deutsche Einheit nicht aus den Sozialsystemen finanzieren!)


Das, was Sie immer wieder theoretisch vortragen, zeigt,
dass Sie einen Sprung in der Schüssel haben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Lohnzusatzkosten und Steuern: Zum einen stellen

Sie sich hier hin und sagen, die Steuerbelastung in
Deutschland sei im internationalen Vergleich durchaus
niedrig.


(Hubertus Heil [SPD]: Das sagen nicht wir! Das sagt die OECD!)


Sie ist es nicht und sie ist vor allem falsch verteilt; aber las-
sen wir dies einmal. Gleichzeitig sagen Sie, die Lohnne-
benkosten – mittlerweile muss man dazu Lohnhauptkosten
sagen – seien wegen der Wiedervereinigung um 3 Prozent
zu hoch. Wenn Sie die Strukturreform angehen und diese
Kosten aus den Versicherungssystemen herausnehmen,


(Hubertus Heil [SPD]: Immer wenn wir es machen wollen, sind Sie dagegen!)


ergibt sich die Frage, ob Sie diese 3 Prozent nicht bei den
Steuern hinzufügen. Es gibt keinen anderen Vorschlag.
Entweder machen Sie diese Reform und verbilligen die
Systeme oder Sie schichten um. Ich sage Ihnen: Für den
Standort Deutschland ist auch die Umschichtung verkehrt.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502202600

Herr Kollege Schauerte, denken Sie an die Redezeit!


Hartmut Schauerte (CDU):
Rede ID: ID1502202700

Ich komme zum Schluss.
Herr Clement, ich habe den Eindruck, dass Sie an der

einen oder anderen Ecke des Tunnels, in Randbereichen,
eine Kerze anzünden wollen. Und wenn es ganz dunkel
ist, bringt eine Kerze schon viel Licht. Aber in Ihrer Re-
gierung gibt es noch sehr viele, die am anderen Ende des
Tunnels Baumaßnahmen unternehmen, um den Tunnel zu
verlängern. Deswegen geht Ihnen die Kerze aus, bevor
Sie am Ende des Tunnels ankommen.

Lafontaine steht vor der Tür, er umkreist schon die
Burg. Warten wir es einmal ab! Stiegler ist schon drin,
Lafontaine will noch rein. Sehen Sie zu, wie Sie dann die
Widerstände brechen wollen. Herzlichen Glückwunsch!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502202800

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Reinhard Schultz.


(Klaus Brandner [SPD]: Jetzt gibt es Aufklärungsunterricht!)



Reinhard Schultz (SPD):
Rede ID: ID1502202900

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es sehr be-

achtlich, wenn der mittelstandspolitische Sprecher der
Union, der gleichzeitig den Raiffeisenbanken sehr verbun-
den ist, dem interessierten Publikum erklärt, warum es aus


(A)



(B)



(C)



(D)


1696


(A)



(B)



(C)



(D)






Sicht der Banken nicht möglich ist, mehr für den Mittel-
stand zu tun. Die Vereinigung dieser Rollen in einer Per-
son war schon ein beachtlicher intellektueller Klimmzug,
den keiner verpassen sollte. Wir werden ihn deswegen
weiter verbreiten und immer wieder aus der Rede zitieren.


(Beifall bei der SPD)

Es ist keine Frage, dass es neben den weltwirtschaftli-

chen Problemen und neben der Zurückhaltung bei Inves-
titionen und Konsum, die im Zusammenhang mit den
Ängsten vor Terrorismus und Krieg steht, eine Reihe von
Faktoren in Deutschland gibt, die dazu beitragen, dass
sich die Strukturen nicht verändern oder dass Verände-
rungsprozesse nur sehr verlangsamt ablaufen. Dazu
gehören natürlich die zu hohen Kosten für den FaktorAr-
beit.An der Senkung dieser Kosten haben wir in der letz-
ten Legislaturperiode gearbeitet und wir arbeiten daran
auch bei der Strukturreform der sozialen Systeme.

Zu den wichtigen Faktoren, die strukturbremsend wir-
ken, gehört darüber hinaus leider auch die Platzhalter-
mentalität der Akteure, die bestimmte berufsständische
Organisationen und Verbände vertreten. Archetypischer
Vertreter ist Herr Schauerte. Diese Akteure reden über al-
les, zum Beispiel über Entbürokratisierung oder über
Wettbewerb. Aber wenn sie selber betroffen sind,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

wenn Wettbewerb angesagt ist, weil man die Grenzen ei-
nes bestimmten Berufsstandes etwas aufbohren will, dann
wird der Markt dicht gemacht, weil man den Wettbewerb
fürchtet.


(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Von wem reden Sie?)


– Sie, Herr Schauerte, sind ein typischer Vertreter dafür.
Das gilt aber leider auch für die Akteure der Organisa-

tionen, die Arbeitnehmer vertreten. Sie denken zunächst
nur an diejenigen, die in den Betrieben in ihrem Verband
organisiert sind, und erst in zweiter Linie an diejenigen,
die vor den Betriebstoren stehen. Dieses Problem muss
angegangen werden. Den Dialog, den Wolfgang Clement
mit den Akteuren, mit den Vertretern der alten Strukturen
auf allen Seiten aufgenommen hat, und das, was er an Re-
formvorstößen vorgelegt hat, finde ich in hohem Maße
beachtlich. Er legt dabei ein tolles Tempo vor.


(Beifall bei der SPD)

Ich bin fest davon überzeugt, dass es in Deutschland

viel zu wenig Bewusstsein gibt, Leute aufzufordern, ihr
Schicksal selber in die Hand zu nehmen. Die Menschen
sollten, anstatt arbeitslos zu sein, drei Jahre zu überwin-
tern und darauf zu warten, bis das gnädige Schicksal sie
ereilt und sie in der Großorganisation der Wirtschaft oder
im öffentlichen Dienst irgendwann einen Job bekommen,
ihr Schicksal lieber selbst in die Hand nehmen und sich
selbstständig machen. Darauf zielt die Mittelstands-
offensive. Sie soll sowohl diejenigen, die aufgrund ihres
hohen Know-hows durch eine Universitätsausbildung
oder andere Qualifikationen fähig sind, Produkte und
Dienstleistungen auf höchstem Niveau zu entwickeln, an-
regen, sich selbstständig zu machen, ebenso wie diejeni-

gen, die in der Lage sind, kleinere Dienstleistungen zu er-
bringen und all die Dinge zu verrichten, zu denen andere
aufgrund der extremen Arbeitsteilung in unserer Gesell-
schaft selber zu Hause in ihren Familien und ihren Be-
trieben nicht mehr in der Lage sind. Neue Selbstständig-
keit ist sowohl in High-Tech-Berufen als auch im
Dienstleistungsbereich gefordert. Das gilt auch im hand-
werksnahen Dienstleistungsbereich.

Sie kritisieren, dass die Schwelle für eine vereinfachte
Besteuerung von kleinen Unternehmen und Existenz-
gründern mit 17 500 Euro zu niedrig angesetzt ist. Da bin
ich Ihrer Meinung. Das muss sich weiter entwickeln; das
ist keine Frage. Zielgruppe sind aber in erster Linie dieje-
nigen, die bestimmte handwerkliche Fähigkeiten haben
und sich aus einer Situation ohne Job in die Selbststän-
digkeit bewegen wollen. Ihr einziges Kapital sind im We-
sentlichen sie selbst und die Dienstleistung, die sie ver-
kaufen wollen. Umsatz und das, was übrig bleibt, liegen
in diesem Falle sehr nah beieinander. Das ist die Wirk-
lichkeit.


(Beifall des Abg. Christian Lange [Backnang] [SPD])


Diese Regelung zielt nicht auf einen Handwerksbetrieb,
der 20 oder 25 Mitarbeiter beschäftigt. Wer Existenz-
gründungsoffensiven aus der Arbeitslosigkeit heraus för-
dern will, der muss so vorgehen und die steuerlichen und
bürokratischen Hürden so niedrig wie möglich halten, zu-
mindest zu Beginn der Existenzgründung.

Sie, Herr Schauerte, wollen aber gleich eine neue
Hürde aufbauen,


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: So sind sie!)


weil Sie sich nicht vorstellen können, wie die Abgrenzung
zwischen dem, der weniger als 17 500 Euro umgesetzt
hat, und demjenigen, der 1 Euro mehr umgesetzt hat, aus-
sehen soll. Das werden wir im Gesetzgebungsverfahren
schon hinkriegen. Regelungen, ob wir das Jahr, in dem
dieser Betrag überschritten wird, der Grundsituation
gleichstellen und erst im darauf folgenden Jahr die Buch-
führungspflicht einführen, sind doch problemlos zu tref-
fen. Wer jetzt, nachdem wir ein großes Entbürokratisie-
rungsprogramm gestartet haben, bereits ankommt und
eine neue Bürokratenfrage stellt, ist meines Erachtens als
Mittelstandsvertreter ausdrücklich fehl am Platz.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir machen das ja auch nicht erst seit jetzt. In der letz-
ten Wahlperiode haben wir sowohl bei der Altersversor-
gung als auch im Bereich des Steuerrechts angefangen,
ordentlich aufzuräumen. Laut OECD haben wir mit die
niedrigste Steuerquote aller Industrieländer, weil diese
Regierung diese Steuerpolitik gemacht hat und nicht, weil
sie sozusagen als Geschenk vom Himmel gefallen ist. Es
war ein riesengroßes Reformvorhaben.

Dass das angesichts der krisenhaften Entwicklung ins-
gesamt von den Menschen nicht so honoriert worden ist,
wie wir es uns selbst wünschen, ist gar keine Frage. Das
ändert aber nichts daran, dass in den letzten vier Jahren

Reinhard Schultz (Everswinkel)





Reinhard Schultz (Everswinkel)

zumindest die steuerpolitischen Grundlagen für die Ar-
beitnehmer, die Selbstständigen und die Mittelständler
deutlich besser geworden sind, als sie es in den 16 Jahren
vorher waren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben dafür gesorgt, dass sich Unternehmen um-
strukturieren können, ohne dabei steuerlich diskriminiert
zu werden. Man kann Beteiligungen und alle Formen, die
das Kapital haben kann – ob es sich um eine Beteiligung
an einem Anlagegut oder um etwas anderes handelt –, in-
nerhalb von Kapitalgesellschaften so tauschen, wie man
es wirtschaftlich für richtig hält, ohne dabei diskriminiert
zu werden. Durch die Einführung der Reinvestitionsrück-
lage haben wir bei den Personenunternehmen Ähn-
liches geschaffen. Durch die volle Anrechnungsmöglich-
keit der Gewerbesteuer auf die Einkommensteuer bei
Personenunternehmen haben wir eine weitgehende Waf-
fengleichheit hergestellt. Das sind fast revolutionäre Vor-
gänge im Steuerrecht, die dem Mittelstand helfen und Un-
ternehmensgründungen im Mittelstand ermöglichen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


In dieser Richtung werden wir weitermachen. Wir wer-
den das Steuervergünstigungsabbaugesetz abklopfen.
Es darf nichts beschlossen werden, was die Mobilität des
Kapitals und die Möglichkeit, Unternehmen zu sanieren
und umstrukturieren, behindert. Wir befinden uns mitten
im Verfahren. Im Ergebnis wird es mehr Möglichkeiten
der Sanierung und Beteiligung geben als jetzt. Das ist für
uns Sozialdemokraten, die den Mittelstand fördern wol-
len, überhaupt keine Frage.


(Beifall bei der SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, wir haben

Riesenprobleme bei der Finanzierung von mittelständi-
schen Unternehmen. Das stand zum Teil auch im Mittel-
punkt der Redebeiträge vonseiten der Opposition und
vonseiten der Regierung. Das liegt an der Eigenkapital-
quote. Sie ist im Wesentlichen bei Personenunternehmen
extrem niedrig. Das ist fast naturgesetzlich so. Sowohl in
der privaten Lebenssphäre als auch in der Lebenssphäre
der Personenunternehmen ist es nicht möglich, Eigen-
kapital in der Größenordnung zu haben wie in einer Ka-
pitalgesellschaft. Bei der Reform der Unternehmensteuer
– insbesondere der Gewerbesteuer – werden wir darauf
achten müssen, dass Prozesse in Gang gesetzt werden, die
die Eigenkapitalbildung steuerlich deutlich erleichtern.
Das wird einer der nächsten Schritte sein müssen.

Natürlich haben wir auch Probleme mit den Banken.
Ich bin ausdrücklich dafür, dass Banken den Kreditneh-
mer – auch den Unternehmer – zwingen, die Hosen her-
unterzulassen und zu zeigen, welche Sicherheiten er hat
und wie sein Schulden- und Vermögensstand aussieht.
Das dient auch dem Selbstschutz des Kreditnehmers. Die
andere Frage ist aber, welches Risiko die Bank selber ein-
zugehen bereit ist.


(Beifall bei der SPD)

Ich erwarte von ihr dasselbe Risikobewusstsein, wie es
dem mittelständischen Unternehmer in dieser Gesell-

schaft zugemutet wird. Dies gilt natürlich erst recht für die
Unternehmen, die aus dem Mittelstand entstanden sind,
wie die Raiffeisen- und Volksbanken, und für die öffent-
lich-rechtlichen Sparkassen.

Wer als öffentlich-rechtliches Kreditinstitut nicht be-
reit ist, den Mittelstand zu fördern, verliert im Grunde ge-
nommen den Anspruch auf seine Existenz.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die Begründung von Sparkassen beruht darauf, ihr Auf-
trag sei es, die regionale Geldversorgung für den Einzel-
nen und für die regionale Wirtschaft sicherzustellen. Ge-
meinsam mit den Ländern werden wir gesetzgeberisch
einiges tun müssen, um diese Verpflichtung, die die ein-
zige Begründung für die Existenz öffentlicher Banken ist,
aufrechtzuerhalten, so wie wir es bezüglich der bundes-
eigenen Bankinstitute und Förderbanken mit Erfolg hand-
haben.

Wir haben eine Entwicklung, in der der Mittelstand die
Finanzierung des Anlagevermögens zunehmend nicht
mehr mit Krediten, sondern über das Leasing sicherstellt.
Auch das muss man zur Kenntnis nehmen. In einer sol-
chen Situation, in der bereits fast der gesamte Fahrzeug-
park des Mittelstandes über Leasing finanziert wird – das
Gleiche gilt zunehmend für Geräte, Aggregate und Ge-
bäude –, muss man sich auch überlegen, ob die Leasing-
raten im Vergleich zu Dauerschuldzinsen auf die Gewer-
besteuer angerechnet werden.

Es muss zumindest Waffengleichheit hergestellt wer-
den. Man darf nicht über das Ziel hinausschießen. Das ist
ein Hinweis auf die aktuelle Diskussion über das Steuer-
vergünstigungsabbaugesetz. Ein alternatives Finanzie-
rungsinstrument für den Mittelstand darf nicht ins Rut-
schen geraten.

Ich bin davon überzeugt, dass diese Debatte um die Zu-
kunft des Mittelstandes, die heute ihren Anfang nimmt,
wirklich nur ein Anfang ist. Wir werden im Laufe dieser
Wahlperiode mit Wolfgang Clement und der Bundes-
regierung eine Reihe von Bremsklötzen beseitigen, Fes-
seln sprengen – um im Bild von Herrn Brüderle zu blei-
ben –, Hindernisse ausräumen, die unternehmerisches
Denken und Handeln in Verantwortung für sich selbst, die
Beschäftigten, aber auch das Gemeinwesen behindern.

Unternehmerische Freiheit bedeutet gleichzeitig unter-
nehmerische Verantwortung für das Ganze. Diese Sicht-
weise muss man sich gerade als rot-grüne Koalition er-
halten. Wir werden sie uns erhalten. Aber sie hindert uns
nicht daran, Bremsklötze zu beseitigen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502203000

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Alexander Dobrindt.


Alexander Dobrindt (CSU):
Rede ID: ID1502203100

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Da Mär-

chen immer wieder Hochkonjunktur haben, möchte ich


(A)



(B)



(C)



(D)


1698


(A)



(B)



(C)



(D)






gerne mit Jonathan Swifts „Gullivers Reisen“ beginnen.
Wie einigen von Ihnen sicherlich bekannt, findet sich
Gulliver auf seinen Reisen plötzlich gefesselt auf einer Insel
wieder, vertaut mit allerlei Seilen und Schnüren. Geknebelt
auf dem Boden liegend, musste Gulliver feststellen, dass er
vollkommen bewegungs- und handlungsunfähig war.


(Klaus Brandner [SPD]: Das haben Sie aber schön aufgeschrieben!)


Nicht genug dieses Zustandes wurde Gulliver von vielen
Liliputanern, die ihn in diese Lage gebracht hatten, ohne
dass er dies sofort bemerkte, mit Hunderten winziger Lan-
zen und Speere bedroht, die jede für sich genommen viel-
leicht nur ein wenig schmerzhaft wären, aber in der Summe
durchaus in der Lage waren, sein Leben zu bedrohen.


(Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Was sagt uns das jetzt?)


Ähnlich wie Gulliver in dieser Geschichte geht es
heute dem Mittelstand in Deutschland. Während sich die-
ser um seine Unternehmungen bemühte, Arbeitsplätze
schuf, sich in besonderem Maße um die Ausbildung un-
serer Jugend kümmerte und sich, ganz offensichtlich vom
Gerede über die Neue Mitte geblendet, auf die Schaffens-
kraft der rot-grünen Bundesregierung verließ, wurde der
Mittelstand durch immer mehr bürokratische Hinder-
nisse, durch Gesetze und Verordnungen, durch Steuer-
und Abgabenerhöhungen Zug um Zug gefesselt und letzt-
lich bewegungs- und handlungsunfähig gemacht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Märchen finden meist ein gutes Ende. Doch wie schaut
die Realität in Deutschland aus? „Die Stimmung im deut-
schen Mittelstand ist zu Jahresbeginn 2003 dramatisch
eingebrochen“, so berichtet die „Süddeutsche Zeitung“.
Die Vereinigung Mittelständischer Unternehmer resümiert,
dass auch in den vergangenen Jahren die Lage für den
Mittelstand nicht besonders gut war – ich zitiere –, „aber
die Stimmung war noch nie so schlecht“.

Anstatt in dieser bedrohlichen Lage endlich Entlastun-
gen für die Vielzahl kleiner Firmen und Selbstständigen
anzugehen, versetzt die Bundesregierung den Unterneh-
mern erst einmal eine ganze Reihe von Tiefschlägen:
Massive Steuererhöhungen werden angekündigt, die
Lohnnebenkosten drastisch erhöht. Die Einschränkung
des Verlustvortrags wird erklärt. Die Eigentumsförderung
wird als Zeichen der Familienfreundlichkeit gekürzt,
ohne dabei die Auswirkungen auf die Bauwirtschaft zu
berücksichtigen.

Obwohl Sie, Herr Minister, gestern bei der Vorstellung
des Jahreswirtschaftsberichts feststellten, dass die Lage
genauso wie die Stimmung in unserem Land ist, nämlich
geprägt von Verzweiflung und Frustration, bleiben Sie
Ihrem von mir ehrlich bewunderten Optimismus treu und
prognostizieren für 2003 ein Wirtschaftswachstum von
1 Prozent, obwohl das DIW und der BGA ihre Wachs-
tumsprognosen schon lange weit unter 1 Prozent korri-
giert haben.

Die Arbeitslosenzahlen, die diesen Monat wieder dras-
tisch gestiegen sind und bei 4,5 Millionen liegen, werden

im Jahresdurchschnitt auf jetzt 4,2 Millionen festgelegt.
An alte Versprechen von 3,5 Millionen Arbeitslosen will
man bei der Regierungskoalition in diesem Zusammen-
hang ohnehin nicht mehr erinnert werden. Sie wurden im
Vertrauen darauf gegeben, dass die Konjunktur in der
zweiten Hälfte des Jahres 2003 wieder anzieht. Ich erin-
nere an die gleiche Ankündigung vor genau einem Jahr,
die wir noch sehr gut im Gedächtnis haben.

Minister Clement hat gestern sehr richtig gesagt: „Für die
Rückgewinnung des Vertrauens muss Politik verlässlich
sein.“ Ich wünschte mir, dass diese Verlässlichkeit erkenn-
bar wäre. Dem ist aber leider nicht so. Mit einer Vielzahl von
Ankündigungen werden die Menschen und Unternehmen in
unserem Land täglich verunsichert: Besteuerung von
Dienstfahrzeugen, Erhöhung der Mehrwertsteuer, Mindest-
steuer, Kündigungsschutz und vieles mehr. Meine Damen
und Herren, diese Art verlässlicher Politik von Rot-Grün hat
der Mittelstand in Deutschland nicht verdient.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Herr Minister Clement, Sie müssen Obacht geben, dass
aus Ihrem Ministerium für Wirtschaft und Arbeit nicht das
Ministerium für Ankündigung und Rücknahme wird;
diese Gefahr besteht.

Rund 70 Prozent der Arbeitnehmer in Deutschland sind
in mittelständischen Unternehmen beschäftigt. Wenn Sie
es sich zum Ziel setzen würden, dass nur jeder fünfte Mit-
telständler einen Arbeitslosen beschäftigt, könnten Sie die
Arbeitslosenzahl in Deutschland um 600 000 senken. Mo-
mentan sieht es leider ganz anders aus: Fast jeder zweite
Mittelständler überlegt sich heute, Personal abzubauen.

Ihnen von der Regierungskoalition fällt dazu nur die so
genannte Offensive für den Mittelstand ein, die mit einer
überschaubaren Zahl von Einzelmaßnahmen ausgestattet
ist, die – das gestehe ich Ihnen durchaus zu – in Teilen
dazu beitragen mögen, die eine oder andere Fesselung des
Mittelstandes zu lockern. Aber sie ist unter keinen Um-
ständen der große Wurf, der endlich die lähmenden Fes-
seln von Bürokratie, Steuerlast und Depressionsangst
durchtrennen könnte. Der Small-Business-Act zur För-
derung von Existenzgründern im vorliegenden Antrag der
Regierungskoalition greift beim Mittelstand vollkommen
ins Leere. Wenn Sie Existenzgründer wirklich fördern
wollen, dann sorgen Sie dafür, dass in den ersten Jahren
nach der Gründung deutliche Steuererleichterungen mög-
lich sind. Das wäre ein Schritt in die richtige Richtung.

Um langfristig den Mittelstand wieder zum Beschäfti-
gungsmotor in Deutschland zu machen, ist es notwendig,
die Ausstattung mit Eigenkapital zu verbessern. Der Mit-
telstand in Deutschland hat offenbar eine zu geringe Ka-
pitaldecke. Ich erlebe es – wie viele von Ihnen mit Si-
cherheit auch – in meinem Wahlkreis, wie traditionsreiche
Unternehmen inzwischen daran scheitern, dass sie nicht
über ausreichende finanzielle Mittel verfügen. Darum ist
es dringend notwendig, neue steuerliche Regelungen für
Beteiligungs- und Chancenkapital vorzulegen. Machen
Sie einen mutigen Schritt und sorgen Sie dafür, dass Per-
sonen, die Geld in mittelständische Unternehmen inves-
tieren, für ihre Erträge aus diesen Beteiligungen von
höheren Steuerfreibeträgen bei den Kapitaleinkünften
profitieren können! Damit leisteten Sie einen ernsthaften
Beitrag dazu, die Kapitalausstattung beim Mittelstand zu

Alexander Dobrindt




Alexander Dobrindt
verbessern. Sorgen Sie ferner dafür, dass Betriebsübernah-
men durch Familienangehörige von der Erbschaftsteuer
freigestellt werden, wenn der Betrieb weiterläuft und
Arbeitsplätze sichert! Diese Maßnahmen sorgen konkret
für eine bessere finanzielle Ausstattung des Mittelstandes.

Ich bin gespannt, ob ich diese und weitere Vorschläge
bei Ihnen wiederfinden werde oder ob nicht eher, wie das
„Handelsblatt“ gestern geschrieben hat, die Bundesregie-
rung Pläne hat, bei Leasinggeschäften die Raten des Lea-
singnehmers mit einer Steuer zu belegen. Damit nähmen
Sie dem Mittelstand eine seiner letzten wichtigen Finan-
zierungsmöglichkeiten.

Begrüßen kann ich nur Ihre Willenserklärung zum
Bürokratieabbau;


(Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Aber es ist nur eine Willenserklärung!)


denn wer – wie ich selbst – in seinem Unternehmen mit
einer Vielzahl von statistischen Meldungen befasst ist und
bei den statistischen Ämtern lediglich die Auskunft be-
kommt, er solle froh sein, wenn es nicht noch mehr Mel-
depflichten würden, der kann Sie in diesem Ansinnen nur
unterstützen. Ich weise allerdings darauf hin, dass bereits
Wirtschaftsminister Müller den Abbau der Bürokratie
versprochen hat. Aber Sie, Herr Minister Clement, haben
angekündigt: „Wir sind schlichtweg in einer Situation, in
der wir alles, was wir bisher getan haben, überprüfen müs-
sen.“ Ich empfehle dieses Vorgehen auch für die vorlie-
gende Offensive für den Mittelstand.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502203200

Ich gratuliere Ihnen, Herr Kollege, im Namen des Hau-

ses zu Ihrer ersten Rede.

(Beifall)


Wir sind damit am Ende der Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf

den Drucksachen 15/351, 15/349 und 15/357 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Vorlage auf Drucksache 15/351 soll zusätzlich an den
Auswärtigen Ausschuss, den Ausschuss für Verbraucher-
schutz, Ernährung und Landwirtschaft, den Ausschuss für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie
an den Ausschuss für Tourismus überwiesen werden. Sind
Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c auf:
a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten

Entwurfs eines Gesetzes zum optimalen För-
dern und Fordern in Vermittlungsagenturen

(OFFENSIV-Gesetz)

– Drucksache 15/273 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)

Sportausschuss
Rechtsausschuss

Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zum Fördern und Fordern
arbeitsfähiger Sozialhilfeempfänger und Arbeitslo-
senhilfebezieher (Fördern-und-Fordern-Gesetz)

– Drucksache 15/309 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)

Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Heinrich
L. Kolb, Daniel Bahr (Münster), Dr. Dieter Thomae,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Das Sozialhilferecht gerechter gestalten – Hilfe-
bedürftige Bürger effizienter fördern und for-
dern
– Drucksache 15/358 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)

Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. – Es gibt kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als Erste die
hessische Sozialministerin, Frau Silke Lautenschläger.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Klaus Brandner [SPD]: Ist das eine Dienstreise?)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1502203300

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir

könnten schon viel weiter sein.

(Zuruf von der SPD: Das ist falsch!)


Als ich heute Morgen die Diskussion genau verfolgt habe,
habe ich mich – das gebe ich zu – ein bisschen in den Teil


(A)



(B)



(C)



(D)


1700


(A)



(B)



(C)



(D)






meines Ressorts versetzt gefühlt, der sich mit Gesund-
heitspolitik und Psychologie beschäftigt. Es gibt eine
Krankheit namens Schizophrenie, das heißt gespaltene
Wirklichkeitswahrnehmung. Genau an dieser Stelle, liebe
Kollegen von der SPD-Fraktion, scheinen wir uns wie-
derzufinden. Die Sozialhilfereform ist bereits vor gut ei-
nem Jahr mit dem OFFENSIV-Gesetz auf den Weg ge-
bracht worden. Tausende Sozialhilfeempfänger könnten
schon heute wieder in Arbeit sein,


(Klaus Brandner [SPD]: Warum machen Sie das dann nicht?)


wenn die rot-grüne Koalition im Bundestag nicht blockie-
ren und taktieren würde.


(Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Brandner [SPD]: Jetzt werden Sie doch einmal konkret!)


Genau an dieser Stelle heißt es, schneller zu handeln.
Sie haben die Wachstumsprognosen nach unten korrigiert.


(Klaus Brandner [SPD]: Wo leben Sie denn?)

Fast 4,5Millionen Menschen sind bereits arbeitslos. Genau
derjenigen, die besonders betroffen sind, also der Lang-
zeitarbeitslosen und Sozialhilfeempfänger, muss man sich
wieder besonders annehmen. Es sind sich doch längst alle
einig darin, dass wir hier eine Reform brauchen. Sie muss
aber auf den Weg gebracht werden. Wir brauchen auch
hier nicht ständig einen neuen Luftballon, der zerplatzt,
und können nicht auf Hartz III, IV oder Vwarten, falls Sie
die Vorschläge dieser Kommission überhaupt noch um-
setzen wollen.


(Klaus Brandner [SPD]: Sie können doch längst anfangen! Warum machen Sie es dann nicht?)


Wir brauchen vielmehr eine Sozialhilfereform,

(Klaus Brandner [SPD]: Nun lenken Sie nicht dauernd von Ihren eigenen Unaktivitäten ab!)


die tatsächlich Fördern und Fordern möglich macht.

(Klaus Brandner [SPD]: Frau Lautenschläger, Sie haben doch alle Möglichkeiten!)

Eine solche Reform ist dringend notwendig.


(Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Brandner [SPD]: Warum passiert in Hessen nicht mehr?)


– Ich werde Ihnen sehr gerne erklären, was in Hessen be-
reits alles passiert ist.


(Zuruf von der SPD: Sie kürzen die Leistungen!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502203400

Rufen Sie bitte nicht ständig dazwischen. Lassen Sie

der Rednerin ein bisschen Luft.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1502203500

Wir haben erstens ein Gesetz vorgelegt und zweitens

schon viele Pilotprojekte auf den Weg gebracht. Nur, mit

Pilotprojekten kann man zwar einiges in Gang setzen.
Aber Sie müssen endlich auch die entsprechenden bun-
desrechtlichen Rahmenbedingungen schaffen,


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

die uns die Möglichkeiten geben, besser und schneller in
den Arbeitsmarkt zu vermitteln.

Im Übrigen sprechen Sie immer so gerne – dieses
Stichwort findet man auch in einigen Ihrer Gesetze – von
Fördern und Fordern. Wenn man aber nicht fordern
kann, weil die entsprechenden Sanktionsmöglichkeiten in
Ihren Gesetzen fehlen, wenn der Datenaustausch zwi-
schen den verschiedenen Stellen noch immer nicht richtig
geregelt ist und wenn man keine Möglichkeiten hat, die
Beweislast umzukehren, damit Fördern und Fordern auch
im Bereich der Sozialhilfeempfänger und der Arbeitslo-
senhilfeempfänger möglich ist, dann kann ich nur sagen:
Auch Sie im Bund müssen Ihre Hausaufgaben machen
und mit den Bundesländern endlich zusammenarbeiten;
denn wir haben natürlich das allergrößte Interesse daran,
dass sich auf dem Arbeitsmarkt etwas tut, und zwar vor al-
lem für diejenigen, die besonders schwer zu integrieren
sind. Deshalb brauchen wir Jobcenter, die Betreuung,
Qualifizierung, Vermittlung und Leistungsgewährung an
einer Stelle zusammenführen.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Falsche Wahrnehmung! Das haben wir längst!)


Das versuchen wir bereits in vielen Pilotprojekten umzu-
setzen. Nur, Sie müssen natürlich weitere gesetzliche Mög-
lichkeiten schaffen, wenn wir eine verbindliche Eingliede-
rungsvereinbarung haben wollen, die für beide Seiten
verpflichtend ist. Das haben Sie bisher noch nicht gemacht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Überprüfung der Verfügbarkeit sowie Trainingsmög-
lichkeiten und Fortbildungsmaßnahmen sollten erst nach
dem Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung kom-
men. Eine solche Vereinbarung, die dazu dient, die Be-
troffenen in den Arbeitsmarkt zu integrieren, muss am An-
fang stehen.

Ich verstehe ja, dass Sie sich auch an dieser Stelle ein
wenig aufregen und dass Sie ein wenig unruhig werden;


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Der Einzige oder die Einzige, die hier unruhig ist, sind Sie!)


denn der 2. Februar steht kurz bevor. Danach haben Sie
endlich die Möglichkeit, es nicht bei Ankündigungen und
dem Aneinanderhängen immer neuer Reförmchen zu be-
lassen, sondern endlich umzusteuern, auch für die schwer
Vermittelbaren Chancen zu eröffnen und den Ländern ei-
gene Möglichkeiten einzuräumen. Der Kollege Clement
hat angekündigt – dafür bin ich sehr dankbar; das sage ich
sehr deutlich –, dass er zu Experimentiermöglichkeiten
bereit ist. Diese brauchen wir.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Die hat er aber nur angekündigt!)


– Genau, die sind angekündigt. Das ist der große Unter-
schied.

Ich erwarte, dass sowohl der Herr Bundeskanzler, der
gleichzeitig der Bundesvorsitzende der SPD ist, als auch

Staatsministerin Silke Lautenschläger




Staatsministerin Silke Lautenschläger
der Fraktionsvorsitzende der SPD am 3. Februar endlich
auf diesen Kurs einschwenken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es ist ein Fehler, dass das bis heute nicht geschehen ist.

Ich will Ihnen einige Punkte nennen, deren Beachtung
für die Gestaltung von Experimentiermöglichkeiten auf
Länderebene vonnöten ist. Die Länder brauchen dazu
Änderungen im SGB III. Ich denke dabei an Folgendes:
Teilnahme an Hilfsmaßnahmen, Zumutbarkeit, Bereit-
schaft zu gemeinnütziger Arbeit, den verbindlichen Ab-
schluss der Eingliederungsvereinbarung auch im SGB III.

Auch was das BSHG angeht, sieht es nicht besser aus;
denn die entsprechenden Regelungen sind noch nicht ge-
troffen worden. Noch immer ist es uns nicht möglich, das
mit Landesrecht umzusetzen. Wir brauchen die Länder-
öffnungsklauseln, damit es möglich sein wird, dass die
Arbeitsvermittlung eine Pflichtaufgabe der örtlichen So-
zialhilfeträger ist.

Sie sollten sich an dieser Stelle vielleicht einmal mit
dem auseinander setzen, was der Deutsche Landkreistag
längst beschlossen hat. Es geht darum, dass der gesamte
Sachverstand der auf der kommunalen Ebene Tätigen
nicht einfach ausgeschlossen wird. Sie sollten nicht mei-
nen, alles auf die Bundesanstalt verlagern zu müssen. Da-
mit bilden Sie einen neuen Moloch. Wir wollen die Zu-
sammenarbeit der auf der kommunalen Ebene Tätigen,
der Sozialhilfeträger und der Arbeitsämter, um besser und
schneller vermitteln zu können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich gebe zu: Ich verstehe natürlich auch Ihre Angst an

dieser Stelle. Wir könnten schon seit einem Jahr Erfolge
aufweisen, wir könnten schon wesentlich mehr Menschen
vermittelt haben,


(Dirk Niebel [FDP]: Schon seit fünf Jahren, wenn die nicht gewählt worden wären!)


wenn Sie uns an dieser Stelle Experimentiermöglichkei-
ten gegeben hätten. Sie können dafür sorgen, dass nur die
Hessen das ausprobieren.


(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch schon Bundesgesetz!)


Wenn es nicht funktioniert, dann können Sie sich ins
Fäustchen lachen. Wir sind noch nicht von dem Ziel ab-
gekommen, mehr Menschen in Arbeit zu bringen, indem
wir einen Wettbewerb um diejenigen, die außen vor sind,
starten.

Sie reden von verriegelten Arbeitsmärkten. Wir hören
viel von Bürokratieabbau. Darüber wurde heute Morgen
diskutiert.


(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Handwerksordnung, sage ich da nur!)


Gerade die Bundesländer wollen mithelfen, die Bürokratie
abzubauen. Bei den Verhandlungen über die Hartz-Ge-
setze konnten wir wenigstens in dem Bereich Schein-
selbstständigkeit etwas erreichen. Es ging dabei um Dinge,
die Sie wieder eingeführt hatten. Jetzt helfen wir Ihnen,
Bürokratie abzubauen, die Sie in den vergangenen vier
Jahren aufgebaut haben.

Es ist schön und gut, über Erfolge zu reden. Wir nehmen
Sie gern an die Hand. Nur: Geben Sie uns doch die Mög-
lichkeiten zu experimentieren! Geben Sie uns die Möglich-
keiten, die es in anderen Staaten schon längst gibt! Dort ha-
ben Länder die Möglichkeit bekommen, den Arbeitsmarkt
selbst zu gestalten. Wir müssen dahin kommen, dass es auf
dem Arbeitsmarkt tatsächlich einen Wettbewerb gibt, zum
Beispiel dadurch, dass Jobcenter versuchen, schneller zu
vermitteln und freie Träger einzuschalten.

Ich fordere Sie dazu auf mitzumachen. Ich verweise
auf einen Kollegen aus der SPD-Fraktion, der bei unseren
Pilotprojekten mitmacht. Er reist im Moment durch die
Gegend und sagt: Das, was die Bundesregierung an die-
ser Stelle macht, ist falsch. Ich fordere Sie auch dazu auf,
sich einmal freie Träger anzuschauen, die wir in die Ar-
beit der Jobcenter einbinden. Sie bringen dort beispiels-
weise ihre Erfahrungen aus der Drogen- und Suchthilfe
ein. Sie tragen dazu bei, dass Menschen schneller wieder
in Arbeit gebracht werden. Auch im Bereich Drogen- und
Suchthilfe ist Arbeit das Entscheidende.

Sie können uns auf unserem Weg begleiten. Sie können
auch hoffen, dass wir auf die Nase fallen. Sie sollten es
aber im Interesse derjenigen, die wieder Arbeit haben
wollen, nicht bei Ankündigungen, Experimentiermög-
lichkeiten zu schaffen, belassen. Sie haben die Chance,
zum ersten Mal Experimentiermöglichkeiten der Länder
zu schaffen.

Meine Damen und Herren, wir haben an dieser Stelle
die Tür aufgemacht. In unserem Sinne ist es nicht, im
Bundesrat Blockade à la Lafontaine zu üben. Uns geht es
vielmehr darum, zusammenzuarbeiten und Reformen auf
den Weg zu bringen. Aber was hilft es uns, wenn die Re-
gierung die Reformen ankündigt, der Nächste das wieder
zurücknimmt und die SPD-Fraktion hier im Bundestag
sagt, man habe es überhaupt nicht nötig, an dieser Stelle
etwas zu tun? Lassen Sie uns doch auch im Bereich der
Sozialhilfe endlich die Chancen nutzen, wie wir es bei
Hartz mit der 400-Euro-Regelung, die vorher schon so im
CDU/CSU-Programm stand, getan haben!


(Dirk Niebel [FDP]: Auch sehr bürokratisch geworden!)


Ein letzter Punkt. Sie kündigen die Sozialhilfereform
für 2004, vielleicht auch 2005 an. Wir können sofort an-
fangen. Das kann parallel laufen, wenn Sie den Ländern
Experimentiermöglichkeiten geben, wenn Sie an dieser
Stelle mit uns zusammenarbeiten. Da ist tatsächlich die
Chance gegeben, dass wir uns endlich wieder richtig um
die benachteiligten Gruppen kümmern. Wir haben in
Hessen gute Erfolge vorzuweisen, gerade bei der Vermitt-
lung von Schwerbehinderten und Langzeitarbeitslosen in
den Arbeitsmarkt. Aber wir wollen noch besser werden.
Wir stecken unsere Ziele hoch. Wir haben immer noch
den Anspruch, mit diesen Reformen die Zahl der er-
werbsfähigen Sozialhilfeempfänger zu halbieren, indem
wir sie wieder in den Arbeitsmarkt integrieren. Wenn Sie
das aufgegeben haben, würde mir persönlich das sehr
Leid tun. Denn ich denke, man muss sich darum
bemühen, genau diese Gruppen wieder in den Arbeits-
markt zu integrieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



(A)



(B)



(C)



(D)


1702


(A)



(B)



(C)



(D)






Ich lade Sie herzlich dazu ein, mit uns über dieses Ge-
setz, über die Experimentiermöglichkeiten endlich einmal
wirklich nachzudenken. Die Tür im Bundesrat ist offen
und sie wird am 2. Februar mit Sicherheit noch ein Stück
größer werden. Ich hoffe, dass Ihre Seite sich bewegt und
dass wir dazu kommen, einen verriegelten Arbeitsmarkt
endlich zu öffnen und zu entbürokratisieren und auch eine
Sozialhilfereform, die ihren Namen verdient, auf den Weg
zu bringen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502203600

Für die Bundesregierung hat jetzt der Parlamentarische

Staatssekretär Gerd Andres das Wort.

(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Sagen Sie einfach, dass das gut war! – Gegenruf von der SPD: Das wäre gelogen! – Klaus Brandner [SPD]: Was gut war, das sagt er auch! Dafür ist er bekannt! – Dr. Uwe Küster [SPD]: Gerd, bleibe ehrlich!)


G
Dr. h.c. Gerd Andres (SPD):
Rede ID: ID1502203700


Meine sehr verehrten Damen und Herren! OFFENSIV-
Gesetz zum Dritten! Das vom Bundesrat im November
auf Initiative der Länder Hessen und Bayern beschlossene
OFFENSIV-Gesetz


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Ist gut!)

liegt uns nun zum dritten Mal hier vor. Das ist natürlich
kein Zufall; denn am Wochenende sind Wahlen.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Ihr habt doch die Mehrheit! Ihr könnt doch die Tagesordnung bestimmen! Das macht ihr doch immer!)


Ich bin sehr versucht, Ihnen, sehr verehrte Kollegin
Lautenschläger, ein bisschen Nachhilfeunterricht zu ge-
ben. Das schenke ich mir. Viele der Dinge, die Sie hier be-
hauptet haben, stimmen hinten und vorne nicht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie können experimentieren, so viel Sie wollen. Wir ha-
ben dafür die gesetzlichen Grundlagen geschaffen. Wir
sind längst dabei, entsprechende Modellversuche durch-
zuführen, zum Beispiel die MoZArT-Projekte. Das kön-
nen Sie alles machen; daran werden Sie überhaupt nicht
gehindert. Das läuft auch in Hessen. Vieles von dem, was
Sie hier geschildert haben, ist also einfach dummes Zeug.
Es tut mir sehr Leid, Ihnen das so sagen zu müssen.


(Beifall bei der SPD)

„Zum Dritten“ sage ich, weil wir schon im Sommer da-

rüber geredet haben und Sie das Ganze im Bundestags-
wahlkampf als Aufguss noch einmal eingebracht haben.
Nun diskutieren wir zum dritten Mal darüber.

Beide Gesetzentwürfe des Bundesrates zielen darauf
ab, Arbeitslosenhilfebezieher und Sozialhilfeempfän-
ger schneller in Arbeit zu bringen. Da kann ich nur sagen:

Recht so! Damit wir uns richtig verstehen: Das will auch
die Bundesregierung. Ich stimme mit den Zielen der bei-
den Gesetzentwürfe durchaus überein, die Strukturen der
Arbeitsvermittlung effizienter zu machen, die Beschäfti-
gungssituation für Arbeitslosenhilfebezieher und Sozial-
hilfeempfänger zu verbessern und deren Arbeitslosigkeit
nachhaltig abzubauen.

Die Gesetzentwürfe gehen dazu aber trotz erwägens-
werter Vorschläge im Detail grundsätzlich den falschen
Weg. Der wird auch beim dritten Aufguss nicht besser. Ich
will das begründen.

Im August vergangenen Jahres hat die Kommission
„Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ einen be-
merkenswerten Bericht vorgelegt, den Ihr Kandidat ja öf-
fentlich richtig abqualifiziert hat, wie ich meine, völlig zu
Unrecht. Wir haben in der Zwischenzeit zwei Gesetze auf
den Weg gebracht und umgesetzt – ich will ausdrücklich
hinzufügen: auch mit Ihrer Hilfe, was den zustimmungs-
pflichtigen Teil angeht.

Nun arbeiten wir konsequent an der weiteren Umset-
zung der Hartz-Vorschläge. Die beiden Gesetzentwürfe
des Bundesrates setzen im Wesentlichen lediglich an den
bestehenden Systemen der Arbeitslosenhilfe und der So-
zialhilfe an und würden damit das dauerhafte Nebenein-
ander von zwei Hilfesystemen für einen vergleichbaren
Personenkreis verfestigen. Deswegen greifen Sie mit die-
sen Vorschlägen zu kurz.

Die Bundesregierung hingegen wird als dritte Stufe der
Umsetzung der Hartz-Vorschläge noch in diesem Jahr ei-
nen Gesetzentwurf zur Zusammenführung von Arbeits-
losenhilfe und Sozialhilfe vorlegen, der nach unserer
Vorstellung am 1. Januar des kommenden Jahres in Kraft
treten kann.

Demgegenüber könnte aufgrund des OFFENSIV-Ge-
setzentwurfes eine Reform der Hilfesysteme frühestens
2008 beginnen, weil die vorgeschlagene Experimentier-
klausel, die Sie eben so heftig gelobt haben, zur modell-
haften Erprobung von Vermittlungsagenturen bis Ende
2007 gelten soll. So steht es in Ihrem Entwurf; wenn Sie
dort nachlesen, werden Sie das feststellen.

Ein Großteil der von beiden Gesetzentwürfen vorgese-
henen Änderungen sind zudem bereits geltende Rechts-
praxis bzw. wurden im Rahmen des Ersten und des Zweiten
Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt
geregelt.

Der Gesetzentwurf zum Fördern und Fordern ist ins-
besondere bei den Änderungen im Bundessozialhilfe-
gesetz inhaltlich nicht schlüssig. Er ist letztlich nur ein un-
vollständiger Vorgriff auf die für diese Legislaturperiode
von der Koalition vorgesehene umfassende BSHG-
Reform.

Der Grundsatz des Förderns und Forderns steht übrigens
bereits sowohl im geltenden Arbeitsförderungsrecht als
auch im Sozialhilferecht. Es gibt kein Wahlrecht zwischen
Arbeitsaufnahme und Leistungsbezug. Erwerbsfähige
Hilfebedürftige müssen schon nach geltendem Recht zur
Bestreitung ihres Lebensunterhalts in erster Linie ihre Ar-
beitskraft einsetzen.

Staatsministerin Silke Lautenschläger




Parl. Staatssekretär Gerd Andres

Nehmen wir das konkrete Beispiel der Jobcenter.Wir
brauchen solche integrierten Anlaufstellen für alle er-
werbslosen und erwerbsfähigen Personen, um Verwal-
tungsabläufe effizienter zu gestalten und Verschiebebahn-
höfe zu vermeiden. Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf
aber würde das genaue Gegenteil erreicht: Indem den
Ländern überlassen werden soll, zu entscheiden, ob die
Arbeitsvermittlung durch die Sozialämter oder die Ar-
beitsämter durchgeführt wird, würde eine unübersichtli-
che Doppelbürokratie für die Vermittlung von Arbeitslo-
sen geschaffen.


(Beifall bei der SPD)

Auch die Einführung von regelmäßigen Meldekontrollen
– von Ihnen eben noch einmal stark betont – führt, wie die
Vergangenheit gezeigt hat, nicht zu besseren Vermitt-
lungsergebnissen.

Im Gegensatz dazu stellt das geltende Arbeitsförde-
rungsrecht bereits die passgenaue Arbeitsvermittlung zum
Beispiel durch Profiling, Eingliederungsvereinbarung und
Beteiligung Dritter im Vermittlungsprozess für alle Ar-
beitslosen in den Mittelpunkt. Im Übrigen können wir dann
– ich habe das eingangs schon gesagt – auf Experimentier-
klauseln in diesem Zusammenhang wirklich verzichten.

Einzelne Vorschläge der Gesetzentwürfe des Bundes-
rates sind auch verfassungsrechtlich nicht unproblema-
tisch. Das wissen Sie sehr genau, Frau Lautenschläger.
Regelungen über die Zumutbarkeit von Arbeit, über
Sperrzeiten und über Leistungskürzungen müssen zur
Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse
nach Auffassung der Bundesregierung bundeseinheitlich
geregelt bleiben und dürfen nicht von Land zu Land un-
terschiedlichen Maßstäben unterworfen sein.

Besonders fragwürdig sind für mich aber die in dem
OFFENSIV-Gesetzentwurf enthaltenen Vorschläge zur
Organisation und Finanzierung der Vermittlungsagentu-
ren. Das ist wirklich ein Geniestreich Ihrerseits.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Sie haben ja noch nicht einmal einen Streich hingelegt!)


Die Jobcenter sollen zwar im Sinne einer Bundesauf-
tragsverwaltung Landesbehörden sein, das Personal und
die Sachmittel aber sollen anteilig von der Bundesanstalt
für Arbeit und den Trägern der Sozialhilfe gestellt werden.
Das zuständige Bundesministerium soll kein Weisungs-
recht gegenüber den Jobcentern haben, obwohl der Bund
die Arbeitslosenhilfe finanziert, die die Bundesanstalt für
Arbeit ja nur im Auftrag des Bundes erbringt.


(Dr. Margrit Spielmann [SPD]: Hört! Hört!)

Bei der Finanzierung ist es dagegen genau umgekehrt.

Der im Gesetzentwurf vorgesehene finanzielle Beitrag
der Länder wird gar nicht erst konkretisiert; dazu sagen
Sie überhaupt nichts. Die Bundesanstalt für Arbeit soll
aber über die Landesarbeitsämter 30 Prozent der Mittel
für aktive Arbeitsförderung für die nach Landesrecht er-
richteten Vermittlungsagenturen bereitstellen


(Dr. Margrit Spielmann [SPD]: Aha!)

und der Bund soll sogar die bewilligte Arbeitslosenhilfe
an die Vermittlungsagenturen erstatten, ohne irgendwel-

che Steuerungsmöglichkeiten bei der Erbringung der Leis-
tung zu haben. Dazu sage ich Ihnen, Frau Lautenschläger:
Auch wenn Sie das noch fünfmal hier einbringen, so geht
es nicht; Sie werden hier auch keine Mehrheit dafür
finden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ein derartiges Auseinanderklaffen von Organisations-
und Finanzhoheit halte ich verfassungsrechtlich für
äußerst problematisch. Wie soll eine vernünftige Steue-
rung eines solchen Systems überhaupt gewährleistet wer-
den?

Wie ich eingangs bereits ausgeführt habe, hat die Bun-
desregierung mit den ersten zwei Gesetzen für moderne
Dienstleistungen am Arbeitsmarkt bereits bewiesen, dass
wir die Arbeitsmarktpolitik durchgreifend reformieren
wollen und können. Wir werden dafür sorgen, dass der
Umbau der Bundesanstalt für Arbeit zu einem modernen
Dienstleister richtig Fahrt aufnimmt. Wir werden auch
dafür sorgen, dass Bürger und Unternehmen von Büro-
kratie entlastet werden. Insgesamt wird es uns gelingen,
mit der Umsetzung des Hartz-Konzepts die dringend not-
wendigen Impulse zur Belebung des Arbeitsmarktes zu
setzen, was durch die beiden von der Opposition vorge-
legten Gesetzentwürfe nicht geleistet wird.

Frau Lautenschläger, ich will noch etwas zu Ihrer For-
derung sagen, dass gehandelt werden muss. Ich kann
diese Forderung – Stichwort: Wisconsin – ein bisschen
nachvollziehen.


(Klaus Brandner [SPD]: Schönes Land! Aber als Dienstreise zu teuer!)


Sie sind dorthin gefahren und haben sich die Situation vor
Ort angesehen. Es hat lange gedauert, bis Sie den Gesetz-
entwurf auf den Weg gebracht haben. Nach meiner Wahr-
nehmung kreißte der Berg und gebar eine Maus.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Ihr kreißt ja nur und gebärt überhaupt nichts!)


Was Sie an gesetzlichen Konstruktionen vorgelegt haben,
ist absolut untauglich. Sie sind doch darüber informiert,
dass wir in der Kommission zur Reform der Gemeinde-
finanzen und in deren Arbeitsgruppe „Arbeitslosenhilfe/
Sozialhilfe“ längst viel weiter sind.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Tagt sie endlich mal, Herr Staatssekretär?)


– Ich kann Ihnen sagen, dass die Arbeitsgruppe schon
viermal getagt hat.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Im Dunkeln!)


Was die Rechenmodelle und bestimmte Kriterien angeht,
sind wir uns dort weitgehend einig. Die hessische Sozial-
ministerin hat bei der Vorstellung Ihres tollen Modells
vom Landkreistag gesprochen. Interessant ist, dass der
Landkreistag die einzige kommunale Spitzenorganisation
ist, die eine andere Position einnimmt.


(Doris Barnett [SPD]: Was sagt Frau Roth aus Frankfurt?)



(A)



(B)



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1704


(A)



(B)



(C)



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Ich bin sehr gespannt, Frau Kollegin aus Hessen, was
Sie mit den beiden Gesetzentwürfen machen, die Sie er-
neut eingebracht haben; denn Sie müssen uns die Hand
reichen, damit eine Reform auf diesem Gebiet zustande
kommen kann. Ich habe in diesem Zusammenhang eine
Bitte: Ersparen Sie uns, dass wir darüber zum vierten oder
zum fünften Mal diskutieren müssen. Glauben Sie mir: Es
wird nicht besser.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Solange Sie nichts tun, wird es so bleiben!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502203800

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dirk Niebel.

(Zurufe von der SPD: Oh! – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das tut euch schon vorher weh!)



Dr. h.c. Dirk Niebel (FDP):
Rede ID: ID1502203900

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Die FDP ist die Partei der sozialen Verantwor-
tung,


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Der sozialen Kälte! Niebel, der Kühlschrank!)


weil wir dafür sorgen wollen, dass sich die Menschen
ihren Lebensunterhalt durch ihrer eigenen Hände Arbeit
erwirtschaften können. Deshalb ist es notwendig, dass wir
gerade für diejenigen, die sich am wenigsten helfen kön-
nen, erst einmal die organisatorischen Möglichkeiten
schaffen, dass sie die Chance bekommen, im Arbeits-
marktprozess integriert zu werden.


(Beifall bei der FDP – Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie werden die Partei der sozialen Kälte bleiben! – Weiterer Zuruf von der SPD: Zahnärztepartei!)


Selbstverständlich brauchen wir nicht nur die Zusam-
menführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe,
sondern wir brauchen mittel- und langfristig auch die Zu-
sammenführung der beiden Behörden, die diese Hilfen zu
erbringen haben. Wir brauchen One-Stop-Career-Center,
also etwas Weitergehendes als das, was Sie mit den Job-
centern im Rahmen der Umsetzung des Hartz-Konzepts
erreichen werden. Wir benötigen eine Anlaufstelle, wo
die Menschen ein umfassendes Dienstleistungsangebot
erhalten.

An dieser einen Stelle muss es sowohl die Arbeitsver-
mittlung als auch – nach der Zusammenführung von Ar-
beitslosen- und Sozialhilfe wird es nur noch ein An-
sprechpartner sein – die Leistungsgewährung durch den
jeweils zuständigen Träger geben. Die Menschen müssen
die Möglichkeit haben, an einer Stelle Bildungsmaßnah-
men in Anspruch nehmen zu können, Zeitarbeitsverträge
abschließen zu können oder die notwendigen sozialen
Maßnahmen von der Schuldnerberatung bis hin zur Dro-
gentherapie oder zu Alkoholentziehungskuren beantragen
zu können. Deswegen ist es richtig und notwendig, dass
dieses Gesetz wieder eingebracht wurde. Es geht in die
richtige Richtung, aber einige wichtige Punkte fehlen.

Aus diesem Grund haben wir einen eigenen Antrag vor-
gelegt.


(Beifall bei der FDP)

Auch hier gilt – der Herr Staatssekretär hat es schon an-

gesprochen –: Zu viel Koch verdirbt den Brei.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Deswegen müssen wir das Ganze noch etwas nachwür-
zen. Wir brauchen eine flächendeckende Regelung für
ebendiese Maßnahmen und keine Experimentierklauseln.
Wir müssen endlich dazu kommen, dass die Reform der
Organisationsstruktur der Bundesanstalt für Arbeit
greift, dass sie also umgesetzt und nicht immer nur an-
gekündigt wird. Dass die Landesarbeitsämter und die
Selbstverwaltung abgeschafft werden, ist eine Margina-
lie, die man nur am Rande erwähnen muss.


(Beifall bei der FDP)

Die Bundesregierung kündigt an, all das, was noch

nicht geregelt ist, werde mit Hartz III und Hartz IV be-
handelt. Angesichts von Hartz I und Hartz II würde ich
empfehlen, nicht darauf zu warten. Was gibt es denn außer
vielen Ankündigungen? Wenn ich Walter Riester wäre,
der leider nicht anwesend ist, würde ich heulend durch
den Plenarsaal laufen. Denn alles, was hier an Reform-
schritten angekündigt wird, ist doch nichts anderes als die
nicht ausreichende Rücknahme der arbeitsmarktpoliti-
schen „Großereignisse“ der letzten Legislaturperiode.
Das ist nichts anderes als der Beweis, dass Sie vier Jahre
lang arbeitsmarktpolitisch die Weichen in die falsche
Richtung gestellt haben.

Wenn Sie schon bereit sind, einen Teil davon zu korri-
gieren, dann machen Sie es auch noch hasenfüßig, halb-
herzig und teilweise handwerklich falsch, sodass man mit
großer Freude in der heutigen „Welt“ die Liste des Bun-
deswirtschaftsministeriums sieht, in der die nächsten Re-
formschritte angekündigt werden.

Ich möchte die erforderlichen Maßnahmen einmal Re-
vue passieren lassen, denn um die Menschen, die Hilfe
brauchen, in Arbeit vermitteln zu können, brauchen wir
auch einen Arbeitsmarkt, der Arbeitsplätze überhaupt ge-
nerieren kann. Der erste Schritt wäre eine umfassende und
vereinfachende Steuerreform, die Sie strikt verweigern,
im Gegenteil: Sie gehen in die andere Richtung und er-
höhen die Steuern. Der zweite Schritt wäre eine umfas-
sende Deregulierung des Arbeitsrechts. Hier kündigt
Herr Clement einiges an und nimmt es wieder zurück.
Frau Lautenschläger war wie ich Mitglied der Arbeits-
gruppe im Vermittlungsausschuss zur Umsetzung der
Hartz-Vorschläge. In der ersten Sitzung hat Herr Clement
angekündigt: Das Scheinselbstständigengesetz, das Sie
perfiderweise Gesetz zur Förderung der Selbstständigkeit
genannt haben, wird abgeschafft. – In der zweiten Runde
haben Sie ihn zurückgepfiffen. Jetzt entfällt nur die Ver-
mutungsregelung, der ganze andere Schrott steht immer
noch im Gesetz.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist es!)

So geht es Schritt für Schritt weiter. Herr Clement kündigt
die Aufhebung der gesetzlichen Bestimmungen über den

Parl. Staatssekretär Gerd Andres




Dirk Niebel
Ladenschluss an, das liegt gerade bei Verdi im Genehmi-
gungsverfahren fest.


(Heiterkeit und Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Er kündigt in der Arbeitsmarktpolitik eine Reform pro
Monat an.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Drei Monate sind vergangenen und nichts ist passiert!)


Zu der für den Monat Januar geplanten Reform des Kün-
digungsschutzes hat er, wie wir der gestrigen Regierungs-
befragung entnehmen konnten, versprochen, dass sie
Ende Februar abgeschlossen sei. Das werden wir uns an-
schauen.

Jetzt kündigt er an oder lässt sein Ministerium zwei
Tage vor der Wahl an die Presse lancieren, man müsse
über das Teilzeitpflichtgesetz und das Betriebsverfas-
sungsgesetz reden. Richtig, sage ich Ihnen. Ich bin ja froh,
wenn Sie auf den richtigen Weg kommen. Aber machen
Sie es und machen Sie es vernünftig, denn die Menschen
in unserem Land haben das, was Sie mit ihnen tun, nicht
verdient. Man muss sich ja wirklich dafür schämen, wie
schlecht es den Leuten in diesem Land geht. Es geht ih-
nen so schlecht, dass der Bauer, dem Sie die Sau vom Hof
klauen und dem Sie hinterher drei Schnitzel zurückbrin-
gen, damit auch noch zufrieden sein muss. Es ist un-
glaublich, was Sie mit den Menschen in Deutschland an-
zustellen versuchen. Deswegen sage ich Ihnen offen und
ehrlich: Ihre Arbeitsmarktpolitik wird den Menschen
nicht die Möglichkeit geben, in den Arbeitsprozess
zurückzukehren.

Ihr Staatsverständnis – wir haben es vorhin in der De-
batte von Herrn Kuhn, dem grünen Chefarbeitsmarktpoli-
tiker, der auch nicht mehr da ist, gehört –, wonach man
Deutschland schlechtredet, wenn man als Opposition die
Regierungspolitik kritisiert, ist hochherrschaftliches
Staatsverständnis. Wenn Sie sich als Deutschland empfin-
den, dann ist mir angst und bange um dieses Land und
dann kann man wirklich nicht mehr ruhig schlafen.

Nein, Sie sind einfach nur eine schlechte Regierung.
Das Land ist gut und mit einer guten, verantwortungsvol-
len Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik bekommen die
Menschen auch wieder Chancen, selbst dabei zu sein.
Deswegen unterstützen wir vom Ansatz her die vorgeleg-
ten Gesetze, verbessern sie mit unseren eigenen Vorschlä-
gen und hoffen auf ein gutes Ergebnis am 2. Februar in
Niedersachsen und Hessen – für Deutschland.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502204000

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Thea Dückert.


Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502204100

Frau Präsidentin! Meine verehrten Damen und Herren!

Lassen Sie mich eine Bemerkung vorab machen. Frau
Lautenschläger, wir haben uns in der Arbeitsgruppe des

Vermittlungsausschusses kennen gelernt, als es um die
Umsetzung der Hartz-Vorschläge ging. Da habe ich
durchaus Ihre konstruktive Mitdiskussion schätzen ge-
lernt.

Ich habe allerdings gehofft, dass Sie im Zuge dieser
Auseinandersetzung endlich bemerken, dass das, was Sie
in Ihrem OFFENSIV-Gesetz zusammengeschrieben ha-
ben, an vielen Stellen schon Gesetz ist oder dass wir in der
Umsetzung sind, dass es also schlichtweg vollständig
überholt ist. Ich habe auch gedacht, Sie hätten in der Ver-
gangenheit die Chance wahrgenommen, zu begreifen, dass
die Experimentiermöglichkeiten für Ihr Land, für Hessen,
die Sie hier einklagen, längst bestehen. Wir haben ein
MoZArT-Projekt; wir brauchen kein Köchelverzeichnis.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir haben ein MoZArT-Projekt, in dem nicht nur in
Hessen, sondern in vielen anderen Ländern, beispiels-
weise in Nordrhein-Westfalen, in Niedersachsen und an
anderer Stelle


(Klaus Brandner [SPD]: Auch in Berlin!)

– genau, auch in Berlin; danke, Herr Kollege –, die Zu-
sammenführung der Arbeitsämter und der Sozialämter
gerade bei der Vermittlung von Langzeitarbeitslosen
längst Realität ist. Dort werden unterschiedliche Erfah-
rungen gesammelt, die in das eingehen werden, was wir
mit Hartz III geplant haben.

Wie gesagt, was Sie hier einbringen, ist wirklich alles
überholt.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Was überholt ist, ist Ihre Regierung!)


Ich glaube, Sie wissen alle, wen Wilhelm Busch meinte,
als er schrieb: Wofür sie besonders schwärmt, wenn es
wieder aufgewärmt. Die Köchin, die von Wilhelm Busch
beschrieben wird, ist Witwe Bolte.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sauerkraut schmeckt am besten, wenn es aufgewärmt ist! Sie kochen scheinbar nicht selber!)


Ich glaube, dass sich Ihr Koch von der CDU an der Witwe
Bolte orientiert, weil er uns das OFFENSIV-Gesetz zum
dritten Mal aufgekocht lancieren lässt. Aber leider ist es
nur beim Sauerkraut so, dass es durch Aufwärmen besser
wird,


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Haben Sie Wilhelm Busch gelesen?)


in der Arbeitsmarktpolitik ist das jedoch nicht der Fall. In
der Arbeitsmarktpolitik muss man mit dem, was man in
Angriff nimmt, auf der Höhe der Zeit sein. Ihr OFFEN-
SIV-Gesetz aber ist bereits verköchelt.

Schauen wir uns das Gesetz noch einmal an. Herr
Andres hat das bereits getan, deshalb muss ich es nicht im
Detail erläutern. Wir beraten es schließlich schon zum
dritten Mal.

Sie fordern die Einführung einer privaten Arbeitsver-
mittlung. Dabei ist bereits zum 1. Januar 2002 das Job-
AQTIV-Gesetz in Kraft getreten. Wir haben damit den


(A)



(B)



(C)



(D)


1706


(A)



(B)



(C)



(D)






Weg für die private Arbeitsvermittlung geebnet und im
vergangenen Jahr mit Vermittlungsgutscheinen nachge-
legt.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Alles Schnellschüsse!)


Ich sage in aller grünen Bescheidenheit: Das hat auch viel
mit dem zu tun, was wir in diesem Zusammenhang ein-
gebracht haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, Sie fordern verschärfte
Sanktionen. Das scheint Ihnen in Hessen besonders
wichtig zu sein, Frau Lautenschläger. Ist Ihnen entgangen,
dass wir im Zuge der Hartz-Gesetzgebung und der neuen
Arbeitsmarktgesetze, die inzwischen Realität geworden
sind, die Zumutbarkeit nicht einfach undifferenziert ver-
schärft haben, wie Sie es immer wieder gefordert haben?
Vielmehr haben wir differenzierte Lösungen gefunden,
mit den Arbeitslosen so umzugehen, wie es ihren Mög-
lichkeiten entspricht. Zum Beispiel müssen junge Men-
schen eine höhere Mobilität aufbringen, wenn sie in den
Arbeitsmarkt einsteigen wollen.

Des Weiteren haben Sie die Schaffung von Jobcentern
gefordert. Als Oldenburgerin kann ich verkünden, dass
wir vor zwei Wochen das erste niedersächsische Jobcen-
ter ins Leben gerufen haben. Sie fordern für Hessen etwas,
das wir für Niedersachsen längst auf den Weg gebracht
haben, Frau Lautenschläger.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Wie hoch ist die Arbeitslosigkeit in Niedersachsen?)


Natürlich bestehen Unterschiede zwischen dem, was
wir verfolgen und was bereits verwirklicht worden ist,
und dem, was Sie fordern. Es wurde bereits deutlich ge-
macht, woran Sie sich orientieren. Sie orientieren sich an
einem Reisebericht aus Wisconsin, an einem Modell, das
Sie dort kennen gelernt haben. Wenn man sich damit aber
stärker befasst, wird deutlich, dass Sie einen Pferdefuß
des Wisconsin-Modells verschweigen, nämlich dass die-
jenigen, die in diese Förderung hineingekommen sind,
dann, wenn sie zu einem späteren Zeitpunkt möglicher-
weise wieder herausfallen, den Anspruch auf Sozialhilfe
auf einem vernünftigen Niveau verwirkt haben. Sie haben
diesen Anspruch verwirkt, weil die Förderung befristet
ist. Ich meine, dass Sie die Idee, das Fördern und Fordern
zu kappen und den kruden Sozialabbau an das Ende die-
ser Kette zu stellen, letztlich immer im Hinterkopf haben
und sie nur deshalb nicht deutlich formulieren, weil Sie
nicht den Mut dazu haben.

Herr Merz geht etwas anders damit um. Er äußert sich
zu diesem Thema erfrischend deutlich. Er hat im April vor
zwei Jahren an dieser Stelle deutlich gemacht, dass es je-
mandem, der die Arbeit verweigert, zwar ein Dach über
dem Kopf und Essen zu garantieren gilt, dass er aber den
Anspruch auf Sozialhilfe verwirkt hat. Interessant er-
scheint mir in diesem Zusammenhang, dass Herr Merz
gestern auf einer Podiumsdiskussion über die Notwen-
digkeit von Einschnitten durch Reformen der sozialen Si-

cherungssysteme ein verräterisches Bild benutzt hat. Er
hat festgestellt: Wer ein Feuchtbiotop austrocknen will,
darf nicht die Frösche fragen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber die Frösche sind doch grün!)


Was für ein soziales Verständnis verbirgt sich hinter
diesem Bild? Ich meine, dass Sie, wenn Sie über die Idee
des Förderns und Forderns reden, die wir gesetzlich ver-
ankert haben und in vielen Schritten verfolgen, letztlich
sehr stark den Sozialabbau angehen wollen.

Wir wollen und werden mit dem Arbeitslosengeld II
die Zusammenführung der Sozialhilfe und der Arbeitslo-
senhilfe bewerkstelligen. Wir werden diese Schritte gehen
und bestreiten nicht, dass es dadurch zu sozialen Ein-
schnitten in einzelnen Bereichen, auch bei der Arbeitslo-
senhilfe, kommen wird. Das ist ganz sicherlich so.

Hierbei kommt es aber auf Folgendes an: Wir werden
erstens der Idee – sie wird immer wieder in die Welt ge-
setzt –, einen zeitlichen Schnitt zu machen, das heißt, die
betroffenen Personen letzten Endes irgendwann aus der
sozialen Grundsicherung hinauszuwerfen, nicht folgen.
Uns ist zweitens wichtig, dass mit der Zusammenlegung
von Arbeitslosen- und Sozialhilfe ein Angebot an die
Langzeitarbeitslosen, an die Sozialhilfeempfänger ver-
bunden ist. Mit der heutigen Situation, die schon wäh-
rend Ihrer langjährigen Regierungsverantwortung be-
stand und an der Sie nichts geändert haben, nämlich dass
Arbeitslosenhilfeempfängern, die arbeitsfähig sind, der
Zugang zu den aktiven Maßnahmen der Arbeitsmarkt-
politik verwehrt wird, werden wir Schluss machen.
Frau Lautenschläger, es wird genau das passieren, was
Sie einklagen: Langzeitarbeitslose und auch die heutigen
Sozialhilfeempfänger werden in die Beratung zum Bei-
spiel über Eingliederungspläne integriert. Deswegen
sage ich noch einmal: Ihr OFFENSIV-Gesetz ist Schnee
von gestern, der mit einem Hauch sozialer Kälte verse-
hen ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wenn Sie Kürzungen vornehmen, ist es notwendig und bei uns ist es soziale Kälte!)


Meine Damen und Herren, wir haben heute Morgen
über den Jahreswirtschaftsbericht diskutiert. Die wirt-
schaftliche Situation ist natürlich in vielerlei Weise aus-
schlaggebend für die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt;
das ist völlig klar.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: 4,5 Millionen in sozialer Kälte!)


Eine Folgerung, die man aus diesem Jahreswirtschaftsbe-
richt ziehen muss, ist: Es macht keinen Sinn, nur auf die
zukünftigen Wachstumserwartungen zu starren, wenn
man die Langzeitarbeitslosigkeit und die Probleme auf
dem Arbeitsmarkt beseitigen will.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber irgendwoher müssen die Arbeitsplätze doch kommen!)


– Das scheinen Sie nicht gelernt zu haben. Ich erinnere an
Herrn Wulff. Vor zwei Tagen hat er in den Nachrichten
behauptet, dass es mit der Wirtschaft und dem Wachstum

Dr. Thea Dückert




Dr. Thea Dückert
allein dadurch besser werden würde, dass die CDU ge-
wählt würde.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Schlechter wird es auf keinen Fall!)


Das entblößt Ihre gesamte Konzeptlosigkeit und die
Überzogenheit Ihrer Personen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


In Wirklichkeit geht es um Folgendes: Wenn wir, wie
in diesem Jahr, mit einem Wachstum zu rechnen haben,
das, wenn auch immerhin positiv, unterhalb der Beschäf-
tigungsschwelle – sie beträgt 2 Prozent – liegt, dann müs-
sen wir es auf die Hörner nehmen, alle Anstrengungen zu
unternehmen, die Beschäftigungsschwelle von 2 Prozent
herunterzudrücken. Wir müssen noch etwas tun: Wir müs-
sen die Dauer der Arbeitslosigkeit, die bei uns heute im
Durchschnitt 32 Wochen beträgt, senken und wir müssen
die Schwarzarbeit zurückdrängen.

Das sind die Hebel, die Ansatzpunkte, die wir mit dem
Hartz-Konzept in Angriff genommen haben. Aber das
reicht nicht aus. Wir brauchen „Hartz plus“; wir müssen
in vielen Punkten weitergehen. Ein Beispiel: Die Zeitar-
beit ist auf den Weg gebracht; wir Grüne haben uns sehr
dafür eingesetzt. Aber natürlich geht es jetzt darum, um-
zusetzen, dass im Rahmen der Zeitarbeit vernünftige Ein-
stiegstarife für Langzeitarbeitslose festgelegt werden.
Auch ich bin der Auffassung, dass die Einstiegstarife 30
Prozent niedriger sein sollten als die Normaltarife. Aber
im Unterschied zu Ihnen, meine Damen und Herren von
der FDP, wollen wir das nicht staatsdirigistisch vorgeben.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was? Seit wann sind wir denn die Staatsdirigisten? Ganz neue Situation!)


Vielmehr wollen wir den Gewerkschaften und den Ar-
beitgebern das Vertrauen entgegenbringen, vernünftige
und verantwortungsvolle Bedingungen auszuhandeln.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir sagen nur, dass das so nicht funktionieren wird, Frau Dückert!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502204200

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Niebel?


Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502204300

Ja.


Dr. h.c. Dirk Niebel (FDP):
Rede ID: ID1502204400

Vielen Dank, Frau Präsidentin, und vielen Dank, Frau

Dückert.
Frau Dückert, Sie haben uns als FDP in dieser Frage

Staatsdirigismus vorgeworfen. Würden Sie sich erinnern
und mir das dann gegebenenfalls auch bestätigen, dass es
die Bundesregierung, die von der Fraktion der Grünen

und der Fraktion der SPD getragen wird, war, die in der
Hartz-Gesetzgebung festgeschrieben hat, dass entgegen
Art. 9 Grundgesetz der Tarif eines anderen, also der eines
Kunden, den man nicht selbst ausgehandelt hat, per Ge-
setz für die Zeitarbeitsbranche gilt, wenn man keinen an-
deren Tarifvertrag aushandelt? Würden Sie mir weiter
darin zustimmen, dass in Art. 9 Grundgesetz, in dem die
Koalitionsfreiheit geregelt wird, nicht nur dafür gesorgt
wird, dass man das Recht hat, Tarifverträge abzuschließen,
sondern auch, dass man das Recht hat, keine Tarifverträge
abzuschließen, und dass Sie als Bundesregierung dagegen
staatsdirigistisch verstoßen haben?


(Doris Barnett [SPD]: Nein!)



Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502204500

Herr Niebel, ich gebe Ihnen erstens darin Recht, dass

die rot-grüne Regierung die in diesem Hause mit Mehr-
heit verabschiedeten Hartz-Gesetze auf den Weg gebracht
hat, wenn auch nicht mit Ihrer Hilfe, aber doch mit der der
CDU.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein, wir sind da konsequent, Frau Dückert! – Dirk Niebel [FDP]: Wir sind ordnungspolitisch klar!)


Zweitens möchte ich Sie angesichts dessen, was Sie
hier vorgetragen haben, an Folgendes erinnern: Die rot-
grüne Regierung hat auf den Weg gebracht, dass die büro-
kratischen Verkrustungen, die Sie in den letzten Jahren
wie Ihren Augapfel gehütet haben – ich denke hier an die
Regelungen des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes im
Verbund mit dem, was Sie hier gerade vorgetragen haben –,
im nächsten Jahr in zentralen Punkten aufgebrochen
werden.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Jetzt verwechseln Sie etwas, Frau Dückert!)


Wenn wir über mehr Dynamik am Arbeitsmarkt reden,
Herr Niebel, dann wird nur im Zusammenhang aller Maß-
nahmen ein Schuh daraus. Ich halte es für gut, dass wir
überflüssige Regulierungen im Bereich der Arbeitneh-
merüberlassung abgeschafft haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir machen mehr und wir gehen weiter, zum Beispiel
bei der Unterstützung von Selbstständigen im Rahmen
der – ich gebe zu, es war ein Unwort des letzten Jahres –
Ich-AG. Es ist ein guter Einstieg, wenn den Leuten in ei-
ner solchen Situation zu kleinen Einkommen verholfen
wird; denn ansonsten werden solche Leistungen schwarz
erbracht. Das ist unabhängig von einem Wachstumspfad.
Hiermit können wir Menschen helfen, aus der Schwarz-
arbeit herauszukommen.

Außerdem haben wir wesentliche Schritte bei der Ent-
bürokratisierung der geringfügigen Beschäftigung und
mit der Einführung von Gleitzonen gemacht. Sie alle
wissen, dass die Grünen immer vorgeschlagen haben, die
Teilzeitmauer aufzubrechen, die am Arbeitsmarkt durch
plötzlich einsetzende Sozialabgaben besteht. Wir werden
das tun, aber wir sind nicht so blauäugig wie zum Beispiel
Ihr Kandidat Wulff in Niedersachsen, der nunmehr wei-


(A)



(B)



(C)



(D)


1708


(A)



(B)



(C)



(D)






tere Versprechungen macht und Einkommensgrenzen
oberhalb von 800 Euro – bis zu 1 500 Euro – in den Blick
nimmt, und zwar ohne einen Vorschlag zur Gegenfinan-
zierung.


(Doris Barnett [SPD]: Er hofft, dass er nicht drankommt!)


Aber das ist ja ohnehin das beliebteste Spiel bei der CDU:
Vorschläge zur Subventionierung der Sozialabgaben zu
machen.

Nein, meine Damen und Herren, unsere Modelle sind
realistisch. Wir haben uns vorgenommen, die hohen Lohn-
nebenkosten gerade im Bereich der kleinen Einkommen
zu senken. Wir haben bereits erste Reformen vorgenom-
men und werden bei den Reformen der Sozialsysteme wei-
ter vorangehen – wir Grüne haben das sehr hartnäckig ver-
folgt –, um insbesondere einen Beitrag dazu zu leisten,
dass die hohen Lohnnebenkosten gesenkt werden.

Das wird noch ein weiter Weg werden, weil wir uns Re-
formen der sozialen Sicherungssysteme vorgenommen ha-
ben, die in den 90er-Jahren verschlafen worden sind, und
weil wir es gleichzeitig mit einer hohen Staatsverschul-
dung zu tun haben, die wir nicht weiter aufstocken können.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Was haben Sie denn 2002 mit der Verschuldung gemacht?)


Wir wollen nämlich eine Politik machen, die nicht nur Be-
schäftigung bringt, sondern auch nachhaltig ist und im In-
teresse der künftigen Generationen nicht das Kapital ver-
spielt, das man morgen braucht.

Schönen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502204600

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Pau.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1502204700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es

geht darum, „Erwerbsarbeit ... zu fördern und nicht ... Ar-
beitslosigkeit zu finanzieren.“ So heißt es im vorliegen-
den Gesetzentwurf des Bundesrates. Wer will das nicht?

Berlins Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner, PDS, hat
in dieser Woche die ersten drei regionalen Jobcenter vor-
gestellt. Sie sollen helfen, Sozialhilfeempfänger schneller
in Arbeit zu vermitteln – und das ist auch gut so, um ein
geflügeltes Berliner Wort zu verwenden.

Auch das gehört zum Problem: Sozialhilfekosten fallen
in den Kommunen an. Wir alle wissen – nicht erst seit den
jüngsten Stellungnahmen des Städte- und Gemeindetages –,
dass über allzu vielen Dörfern und Städten der Pleitegeier
kreist. Jede Sozialhilfeempfängerin, die in Erwerbsarbeit
kommt, ist daher auch für die gebeutelten Stadt- und Ge-
meindekassen eine willkommene Entlastung.

Die Frage ist nur: Welche Besserung bietet der nun vor-
liegende Gesetzentwurf? Der Bundesrat will, dass die
Zwänge zur Arbeitssuche, die damit verbundenen Zumu-

tungen und die angedrohten Sanktionen noch größer wer-
den, als sie es ohnehin schon sind. Das ist der Kern der
vorliegenden Gesetze.

Man geht von erwerbslosen Sozialhilfeempfängern
aus, denen der Sinn nach Arbeit abhanden gekommen ist,


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das ist völlig falsch gelesen!)


nicht zuletzt deshalb, weil das bestehende Arbeitslosen-
hilfesystem zum Faulenzen und Schmarotzen ermutige.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das ist ein Teil des Problems!)


– Auch wenn es Ihnen längst aus den Ohren quillt, Herr
Kollege, sage ich Ihnen: Wer so argumentiert, hat vom
Osten dieses Landes überhaupt keine Ahnung. – Das ist
der erste Grund dafür, dass wir diese Gesetzentwürfe ab-
lehnen.


(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos])


Sozialhilfeempfänger sollen verschärft nachweisen,
dass sie sich hinreichend um einen Job bemühen. Wie
wäre es denn einmal mit einer Umkehrung der Beweis-
last – ich weiß, es ist polemisch –, also damit, dass Re-
gierung, Banken und Unternehmen verpflichtet wären,
nachzuweisen, dass sie sich ausreichend um die Schaf-
fung von Arbeitsplätzen bemühen?


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das wäre Populistik!)


Wie wäre es mit entsprechenden Sanktionen für den Fall,
dass sie den dafür notwendigen Eifer nicht aufbringen?


(Dirk Niebel [FDP]: Machen Sie es wie in der DDR: keine Arbeitslosen und keine Produktivität!)


Damit es nicht nur polemisch bleibt, will ich es Ihnen an
einem Beispiel illustrieren, Kollege Niebel. Am Beginn der
Arbeitslosigkeit und vor einer so genannten Sozialhilfekar-
riere steht inzwischen allzu häufig die schlichte Tatsache,
dass Jugendliche nicht einmal einen Ausbildungsplatz be-
kommen, weil es an Angeboten mangelt. Auch deshalb for-
dert die PDS seit Jahren eine Umlagefinanzierung.Mit ihr
würden Betriebe begünstigt, die ausbilden, und Unterneh-
men zur Kasse gebeten, die sich verweigern.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist auch nichts anderes als eine Abgabenerhöhung!)


Sie lehnen eine Umlagefinanzierung ab und be-
schwören stattdessen das freiwillige Engagement der Un-
ternehmer. Das beschreibt die Scheinmoral in dieser
ganzen Debatte: Zwang bei den Betroffenen und Freibriefe
für die Zuständigen. – Das ist der zweite Grund dafür, dass
wir die vorliegenden Gesetzentwürfe ablehnen.

Nun ein dritter Grund. Nahezu alles, was CDU/CSU
hier via Bundesrat anstrebt, ist längst geregelt. SPD und
Grüne haben es gerade noch einmal bestätigt, und zwar
– wenn ich die Redebeiträge richtig verstanden habe –
nicht ohne Stolz.


(Dirk Niebel [FDP]: Seit wann glauben Sie denen denn?)


Dr. Thea Dückert




Petra Pau

Der vierte Grund dafür, dass wir Nein sagen, ist ganz
simpel. Sozialhilfe gilt als Mindeststandard für ein men-
schenwürdiges Leben. Wer diesen Mindeststandard zur
Disposition stellt, spielt mit der Würde des Menschen.
Sie tun das mit diesen Gesetzentwürfen.

Wir können gern einmal darüber reden, dass es Men-
schen gibt, die sich am Sozialstaat bereichern – ich kenne
da ebenfalls Beispiele –,


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Aha!)

und zuweilen sollen auch Sozialhilfeempfänger darunter
sein. Aber: Den großen Reibach machen in dieser Gesell-
schaft andere. Deshalb mein Angebot: Wenn der Bundes-
rat hier einen Gesetzentwurf zur Wiedereinführung der
Vermögensteuer vorlegt, wird die PDS im Bundestag zu-
stimmen. Soziale Gerechtigkeit hat bekanntlich auch im-
mer etwas mit Steuergerechtigkeit zu tun. Im Berliner Ab-
geordnetenhaus haben die SPD, die PDS und Bündnis 90/
Die Grünen gemeinsam für die Wiedereinführung der
Vermögensteuer gestimmt. Warum soll das nicht auch hier
im zuständigen Bundestag geschehen? Das würde der
PDS im Bundestag einmal die Möglichkeit geben, aus
vollem Herzen Ja zu sagen.


(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos])



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502204800

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Johannes

Singhammer.


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1502204900

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Der Redner der Bundesregierung, Herr Staatssekretär
Andres, und Frau Dr. Dückert haben kritisiert, dass diese
Debatte hier stattfindet, und gesagt, das alles sei ein Wie-
derholungseffekt, die vorgelegten Gesetzentwürfe seien
unnötig und im Übrigen sei die Problematik bereits gere-
gelt. Ich sage Ihnen Folgendes: Wir werden nach exakt
viereinhalb Jahren rot-grüner Bundesregierung am Ende
dieses Monats exakt 4,5 Millionen Arbeitslose haben.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Oh, wenn man das hochrechnet!)


Deshalb halte ich diese Problematik nicht für geregelt. Es
geht um die Schicksalsfrage für Deutschland. Wir müssen
uns Gedanken darüber machen, wie es besser wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dirk Niebel [FDP]: Hoffentlich regieren die nicht acht Jahre! Wenn man das hochrechnet!)


Die Debatte ist Ihnen unangenehm, weil alle Ihre Re-
zepte erkennbar gescheitert sind. Wäre es anders, hätten
wir nicht das ständige Wachsen der Arbeitslosenzahlen.
Auch der Jahreswirtschaftsbericht von gestern war alles
andere als hoffnungweckend. Der Bundeswirtschaftsmi-
nister hat die Wachstumsprognosen korrigiert. Prognos-
tiziert wird nun ein Wachstum von 1 Prozent.

Ich möchte an dieser Stelle erinnern: Noch vor weni-
gen Wochen, nämlich am 5. Dezember, hat der gleiche

Bundeswirtschaftsminister an dieser Stelle an die Opposi-
tion gewandt erklärt:

Nicht einmal 1,5 Prozent Wachstum, wie Sie es,
meine Damen und Herren von der Opposition, im
Schnitt zwischen 1995 und 1998 trotz boomender
US-Konjunktur eingefahren haben – das ist einfach
zu wenig.

Meine Damen und Herren, das erwartete Wachstum von
1 Prozent ist auch zu wenig. Es wird wahrscheinlich noch
weniger werden. Allein bei einem um ein halbes Prozent
geringeren Wachstum sind 3Milliarden Euro an Steueraus-
fällen und eine gesamtstaatliche Belastung von fast 5 Mil-
liarden Euro zu erwarten. Das bedeutet: mehr Arbeitslose,
noch weniger Beschäftigung, mehr Steuerausfälle und
mehr Finanzprobleme. Die Arbeitsmarktkatastrophe und
die Wirtschaftsmisere dulden keinen Aufschub mehr.

Wir haben in Deutschland kein Analyseproblem, son-
dern wir haben ein Umsetzungsproblem. Deshalb bringen
wir heute diese zwei Gesetzentwürfe in den Bundestag
ein: das Gesetz zum optimalen Fördern und Fordern in
Vermittlungsagenturen und das Gesetz zum Fördern und
Fordern arbeitsfähiger Sozialhilfeempfänger und Arbeits-
losenhilfebezieher. Dahinter steckt eine klare Konzep-
tion: Wer arbeitet, soll immer mehr in der Tasche haben
als derjenige, der nicht arbeitet. Wer die Ärmel aufkrem-
pelt und mitmacht, der soll besser leben als jemand, der
von staatlichen Transferleistungen lebt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das ist ein geschlossenes Konzept. Deshalb bitten wir Sie
eindringlich, nicht bei halben Sachen zu bleiben.

Sie haben immerhin zwei Säulen unseres vorgeschla-
genen Drei-Säulen-Modells akzeptiert, und zwar die Steu-
erbefreiung bei Mini-Jobs bis 400 Euro und das so ge-
nannte Einschleifmodell, das heißt, mit geringeren
Lohnnebenkosten zu beginnen, um den Einstieg in ein re-
guläres Arbeitsverhältnis zu erleichtern. Das ist gut so. Ich
bitte Sie jetzt aber, auch die dritte Säule – darum geht es in
diesem Gesetzespaket –, nämlich das Lohnabstands-
gebot zu regeln. Ohne die dritte Säule werden die beiden
anderen nicht die gewünschte Wirkung haben. Deshalb ist
das so entscheidend und deshalb legen wir so viel Wert da-
rauf, dass heute auch diese dritte Säule auf den Weg ge-
bracht wird.

Im Übrigen brauchen Sie nicht allzu weit zurückzu-
blicken. Sie haben unsere Anträge zu dem früheren 630-
DM-Gesetz und zur Scheinselbstständigkeit zunächst
auch immer abgelehnt, sie für überflüssig erachtet, sie als
Teufelszeug bezeichnet, und dann haben Sie zugestimmt.
Ich zitiere noch einmal den Kollegen Peter Dreßen; er hat
am 12. November 1999 gesagt:

Der Gipfel Ihrer Alternativvorschläge ist ... , dass ...
wir das 630-DM-Gesetz zurückziehen sollen.

Sie haben weitere drei Jahre gebraucht und unermess-
licher Schaden ist in Deutschland eingetreten, dann haben
Sie es zurückgezogen. Warten Sie bei der dritten Säule
nicht so lange, sondern schließen Sie sich unserem Pro-
gramm an, meine sehr verehrten Damen und Herren!


(Beifall bei der CDU/CSU)



(A)



(B)



(C)



(D)


1710


(A)



(B)



(C)



(D)






Die Ziele unserer Entwürfe sind klar:
Erstens. Statt eines Daueraufenthalts im zweiten Ar-

beitsmarkt – bei ABM und bei ständiger Fort- und Wei-
terbildung – wollen wir einen Wiedereintritt in den ersten
Arbeitsmarkt fördern.

Zweitens. Wir wollen die Arbeitsaufnahme finanzie-
ren, anstatt die Arbeitslosigkeit zu subventionieren.

Drittens. Eigeninitiative soll belohnt, eigene Leistung
und staatliche Gegenleistung sollen stärker miteinander
verknüpft werden.

Viertens. Mit einer sinnvollen Verzahnung von Löhnen
und Zuschuss – so genannten Kombilöhnen – wollen wir
die Bereitschaft arbeitsfähiger Hilfeempfänger stärken,
selbst aktiv zu werden, selbst mitzumachen.

Wir erheben keinen Anspruch auf das politische Copy-
right. Uns liegt Deutschland am Herzen. Wenn Sie unsere
Entwürfe Punkt für Komma so übernehmen, wie wir sie
vorschlagen, dann wird sich die Situation in Deutschland
bessern. Darüber würden wir uns freuen.

Es ist aber auch klar, dass Deutschland nicht allein
durch die Umsetzung dieser Pläne wieder eine blühende
Landschaft wird. Zuallererst ist es deshalb nötig, dafür
Sorge zu tragen, dass uns nicht weitere falsche Entschei-
dungen in eine wirtschaftspolitisch falsche Richtung
führen. Vor kurzem ist vom Chef des Deutschen Gewerk-
schaftsbundes öffentlich eine Reihe von Vorschlägen ge-
macht worden. Diese werden von der Bundesregierung
immer sehr ernst genommen, denn viele Kolleginnen und
Kollegen der SPD-Bundestagsfraktion gehören dem DGB
an. Der DGB-Chef Sommer hat vor kurzem erklärt: „Ar-
beitnehmer, die es sich leisten können, sollten weniger ar-
beiten.“ Dies stellt man sich wie folgt vor: Zwischen
1 und 1,5 Millionen Arbeitnehmer verzichten für einige
Zeit auf 20 Prozent ihres Einkommens. Mit den so gespar-
ten Personalkosten schaffen die Unternehmer neue Jobs.

Diesem Unsinn und der dahinter stehenden Philosophie
müssen Sie ernsthaft und deutlich wiedersprechen!
Deutschland braucht nicht die Stückelung der Arbeit,
nicht die Mangelverwaltung bei Jobs, nicht weniger Arbeit,
sondern ausschließlich und allein mehr Wachstum. Dies ist
die richtige Weichenstellung für eine bessere Zukunft.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Dass in Deutschland genügend Arbeit vorhanden ist,

zeigt die Schwarzarbeit. Von 350 Milliarden Euro

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: 370 Milliarden Euro!)

– ja, bis 370 Milliarden Euro – Umsatz und einem Wachs-
tum von 6 Prozent im Jahr ist die Rede. Schwarzarbeit ist
also eine boomende Branche. Die dort geleisteten Ar-
beitsstunden entsprechen umgerechnet mittlerweile mehr
als 9 Millionen Vollzeitjobs. Wenn die Rechnung erlaubt
wäre, könnte man sagen: Bei 4,5 Millionen Arbeitslosen
könnte man jedem Arbeitslosen zwei Jobs zur Auswahl
geben, wenn die Schwarzarbeit entsprechend zurückge-
führt werden könnte. Genau hier liegt das Problem, näm-
lich bei den hohen Lohnnebenkosten. Deshalb müssen Sie
diese drei Säulen in einem Zusammenhang sehen.

Der Bundeswirtschaftsminister ist heute exakt 100Tage
im Amt und hat sich einen Ruf als Medienstar erworben.
Er gibt sich als politischer Pferdeflüsterer.


(Zuruf von der SPD: Aua!)

Er erzählt, was er alles tun will, wie nett er ist und wie
leicht all diese Probleme anzupacken seien.


(Peter Dreßen [SPD]: Das tut euch weh!)

Herr Clement – das gestehe ich ihm zu – muss einen Groß-
teil des Riestererbes abtragen. Aber wenn es Ihnen wirk-
lich ernst ist, dann räumen Sie nicht nur das fehlgeleitete
Scheinselbstständigkeitsgesetz und das unselige 630-
Mark-Gesetz weg, sondern machen mit mindestens drei
ganz konkreten Maßnahmen weiter: Das als Wundermit-
tel gepriesene Job-AQTIV-Gesetz,welches Sie noch vor
wenigen Monaten als das Heilmittel für den Arbeitsmarkt
gepriesen haben, hat die Erwartungen nicht erfüllt. Von
den 180 000 ausgegebenen Vermittlungsgutscheinen wur-
den bis Ende 2002 gerade einmal 11 000 bei privaten Ver-
mittlern eingelöst. Die Hilfen und Wirkungen, die Sie sich
versprochen haben, sind nicht eingetreten.

Auch die Bilanz Ihres nächsten Vorzeigeprojektes, des
Mainzer Modells, könnte nicht dürftiger sein: In gerade
einmal 7 000 Fällen ist dieses Fördermodell umgesetzt
worden. Selbst die Bundesanstalt für Arbeit bescheinigt
dem rot-grünen Vorzeigemodell offiziell das Versagen.
Kurz und bündig wird festgestellt, „ ... die in dieses Pro-
gramm gesetzten Erwartungen sind nicht erfüllt“.

Das JUMP-Programmwar ebenfalls ein Flop. Hier ist
nirgends gesprungen worden.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber viel Geld ausgegeben worden!)


Vielmehr gab es mit diesem Programm eine harte Bauch-
landung. Wie immer, wenn man auf englische Bezeich-
nungen ausweicht, zeigt sich, dass mehr vernebelt als
Klarheit in der Sache geschaffen werden soll.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das liegt an dem Wetter dort drüben!)


Wenn Sie wirklich effizient und wirksam eine Verrin-
gerung der Arbeitslosenzahlen erreichen wollen, müssen
Sie all die Gesetze, die Sie in den vergangen vier Jahren
beschlossen haben, die aber wirkungslos geblieben sind,
korrigieren und zurücknehmen.


(Dirk Niebel [FDP]: Das wird so sein!)

Die Zeit läuft uns davon. Viel Zeit bleibt nicht mehr

und die Menschen in Deutschland spüren dies. Sie, meine
Damen und Herren, werden dies bei den Wahlen am
Sonntag zu spüren bekommen. Im Jahre 2004 werden sich
die Grenzen der EU für 75 Millionen Osteuropäer öffnen.
In Deutschland wird es eine wachsende Niedriglohnkon-
kurrenz geben. Kapital wird in die Niedriglohngebiete
des Ostens abwandern. Die Herausforderungen werden
wachsen und nicht geringer.

Wir sind der Meinung, dass Deutschland die Kraft für ei-
nen neuen Aufbruch hat. Die Arbeitnehmer in unserem Land
sind fleißig und hervorragend ausgebildet. Die Unterneh-
mer sind kenntnisreich und brauchen den internationalen

Johannes Singhammer




Johannes Singhammer
Wettbewerb nicht zu scheuen. Deutschlands Substanz ist
intakt. Aber sie darf nicht Tag für Tag durch die falschen
Rahmenbedingungen dieser Regierung aufgezehrt wer-
den. Wir brauchen einen anderen wirtschaftlichen Rah-
men. Dann geht es mit Deutschland auch wieder aufwärts.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502205000

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Thomas Sauer.


Thomas Sauer (SPD):
Rede ID: ID1502205100

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Auch wenn hier zu Recht bemerkt wurde, dass
wir heute Gesetzentwürfe diskutieren, die schon öfter auf
der Tagesordnung standen, muss ich sagen: Ich bin froh
darüber, dass wir heute wieder einmal Gelegenheit haben,
über einen wichtigen Politikbereich zu sprechen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich auch!)

Wenn ich Ihre Vorschläge Revue passieren lasse und

unsere Initiativen, die wir in den letzten Jahren unter-
nommen haben und die wir in den kommenden Jahren un-
ternehmen werden, gegenüberstelle, dann schneiden wir
gut ab und brauchen eine Diskussion nicht zu scheuen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dass die Union bis heute kein wirklichkeitstaugliches
Konzept hat, das zeigen die Gesetzentwürfe, die wir dis-
kutieren und die Sie, wie schon gesagt wurde, zum dritten
Mal in die Beratungen des Bundestages einbringen. Die
Opposition musste in der Öffentlichkeit einen Nachweis
für Aktivitäten auch in Bezug auf Reformen des Ar-
beitsmarktes abliefern; das verstehe ich. Sie sollte aber
dennoch in der Lage sein, den aktuellen Stand der Regie-
rungspolitik wenigstens zur Kenntnis zu nehmen. Auch da
hapert es. Sie kann – Frau Lautenschläger ist nicht mehr
da und nimmt an der Debatte nicht mehr teil


(Walter Hoffmann [Darmstadt] [SPD]: Sie kommt gleich wieder!)


– alle möglichen Dinge nutzen; sie sollte aber angesichts
ihrer eigenen Untätigkeit nicht mit dem Finger auf die
Bundesregierung zeigen.

Offensichtlich ist die Opposition bei dem Reform-
tempo, das wir vorlegen, leider überfordert.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Haben Sie Fieber, Herr Kollege? Sie fantasieren!)


Sonst würde sie kaum einen Entwurf erneut diskutieren,
der nur abgestandene Vorschläge aufwärmt und in der
Substanz nichts Neues zu bieten hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


In Wahrheit ist es noch viel schlimmer; Herr Andres hat
das vorgestellt. Denn wenn wir Ihren Vorschlägen tatsäch-
lich folgen würden, dann würden wir das Reformtempo
bei einer an den Interessen derArbeitslosen orientierten
Reform des Arbeitsmarktes, die so dringend notwendig

ist, drosseln und Gefahr laufen, in die Stagnation zurück-
fallen, wie wir sie aus der letzten Zeit der Kohl-Ära noch
in schlechter Erinnerung haben. Die Zeiten des Aussitzens
und der halbherzigen Experimente ist vorbei. Zumindest
sind wir Sozialdemokraten nicht bereit, neue Verzögerun-
gen hinzunehmen, wie Sie sie uns heute vorschlagen. Wir
halten an einer seriösen und zügigen Umsetzung der Re-
formen am Arbeitsmarkt fest.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Im Kern wollen wir die Beschäftigungschancen von
Arbeitslosenhilfe- und erwerbsfähigen Sozialhilfebezie-
hern weiter verbessern und damit die Arbeitslosigkeit ab-
bauen. Die schnelle und effiziente Integration von ar-
beitslosen und erwerbsfähigen Sozialhilfebeziehern war
das Ziel unserer Politik in der vergangenen Legislaturpe-
riode und sie ist es auch in der jetzigen. Von dieser Kraft-
anstrengung werden wir nicht abrücken. Das haben die
Beratungen und Gesetze für moderne Dienstleistungen
am Arbeitsmarkt gezeigt, die wir in den vergangenen Mo-
naten verabschiedet haben. Das werden auch unsere Ini-
tiativen zeigen, die wir noch in diesem Jahr auf den Weg
bringen werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dabei fällt allerdings ein wirklich wichtiger Unter-
schied zwischen Regierung und Opposition ins Auge
– Frau Dückert hat das dankenswerterweise schon ange-
sprochen –: Wir wollen zusammen mit den Akteuren in
erster Linie Anreize und Förderungen schaffen, um An-
strengungen zu generieren, die Arbeitslose zurück ins Er-
werbsleben bringen. Wir wollen alle Akteure motivieren,
die Anforderungen zu meistern. Das wollen wir aber nicht
gegen die betroffenen Menschen tun. Auch Arbeitslose
und Sozialhilfeempfängermüssen – das ist richtig – An-
reize und Förderung erfahren, um wieder in Arbeit zu
kommen. Das ist Gegenstand unserer Politik. Aber es sind
in erster Linie der Mangel an Arbeitsplätzen und die ver-
krusteten Strukturen, die es zu modernisieren gilt und die
schuld sind an der viel zu hohen und zu langen Arbeitslo-
sigkeit. Es sind nicht die Arbeitslosen selber, wie es im-
mer wieder aus den Papieren von Union und FDP heraus-
zulesen ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es ist einigermaßen frech, wenn die Union und die
FDP vorgeben, sie wollten mit ihrer Politik die Akzeptanz
der Sozial- und der Arbeitslosenhilfe in der Bevölkerung
stärken. Sie provozieren doch durch Ihre Politik einen Ge-
neralverdacht gegenüber den Leistungsbeziehern. Frau
Lautenschläger, Sie haben im Bundesrat das böse Wort
„soziale Hängematte“ gebraucht.


(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner)


Ich glaube, das macht deutlich, dass Sie in erster Linie ein
Schwergewicht auf die Sanktion von Arbeitslosen und
Leistungsbeziehern legen wollen.


(Dirk Niebel [FDP]: Hat nicht der Bundeskanzler den Begriff erfunden?)



(A)



(B)



(C)



(D)


1712


(A)



(B)



(C)



(D)






Wir brauchen eine ausgewogene Politik des Förderns
und Forderns, und zwar genau in dieser Reihenfolge.


(Dirk Niebel [FDP]: Ich meine, das war sogar Ihr Kanzler!)


Wir wollen alle erwerbsfähigen Menschen fördern und
die Brocken wegräumen, die einer erfolgreichen Integra-
tion in das Erwerbsleben im Weg stehen. Deshalb können
wir zielführende Eigenbemühungen erwarten und diese
mit Instrumenten einfordern.

Nach dem Vorschlag der Union sollen die Sozialhilfe-
bezieher, die ein Anrecht auf Arbeitslosengeld erworben
haben, zukünftig keine Ansprüche mehr auf erneutes Ar-
beitslosengeld erwerben können. Das geht nicht. Man
kann vieles diskutieren. Man kann aber keine Vorschläge
ernsthaft in die Diskussion einbringen, die eine Bevölke-
rungsgruppe so eklatant vom Gleichheitsgrundsatz aus-
schließt, wie Sie es mit Ihrem Vorschlag tun.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Im Gegenteil: Ich denke, wir müssen in diesem Bereich
darauf achten, dass die kommunalen Beschäftigungs-
strukturen und die kommunale Beschäftigungspolitik er-
halten bleiben, um Arbeit statt Sozialhilfe zu organisieren.
Eine wichtige Reform für eine bessere und schnellere Ver-
mittlung sehen wir in der Schaffung von Jobcentern als
integrierten Anlaufstellen für alle erwerbsfähigen und er-
werbslosen Personen. Das wurde im Hartz-Konzept vor-
geschlagen; wir setzen dies um. Auf diese Art und Weise
können und sollen schlanke Verwaltungsstrukturen ge-
schaffen und Verschiebebahnhöfe vermieden werden so-
wie eine effiziente Vermittlung, orientiert am ersten Ar-
beitsmarkt, erfolgen.

Die Vermittlungsorientierung ist durch die Entbürokra-
tisierung von uns bereits gestärkt worden. Aus meiner
Sicht besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass durch
die einheitliche Verantwortung eine bessere und schnel-
lere Vermittlung möglich wird. Ihr Offensivgesetz stellt
dies nicht sicher.

Die Vermittlung wird zukünftig einsetzen, sobald die
Kündigung des betroffenen Arbeitnehmers ausgespro-
chen wurde, und nicht mehr erst Monate später, wenn die
Arbeitslosigkeit eingetreten ist. Wir setzen auf eine hö-
here Mobilität derjenigen, die mobil sein können, um die
regionalen Arbeitsmarktdifferenzen für die Vermittlung
zu nutzen. Wir stärken die Qualifizierung und Weiterbil-
dung und setzen den Akzent deutlich auf die Vermittlung
in den ersten Arbeitsmarkt und nicht auf die Verwaltung
von Arbeitslosigkeit.

Sie haben die Idee ins Spiel gebracht, Meldekontrollen
wieder einzuführen. Das zeigt mir, dass Sie den Weg in
die erneute Bürokratie gehen wollen. Mit Ihrer Idee, die
Meldekontrollen wieder einzuführen, zeigen Sie, dass
Ihnen bürokratische Verwaltungsvorgänge wichtiger
sind als die Arbeitsvermittlung. Die Erfahrung hat uns
doch gezeigt, dass dieses Verfahren nicht zu mehr Ver-
mittlungen führt. Es belastet die Arbeitsämter nur mit
neuen Aufgaben und lenkt sie von ihrer Kernfunktion,
nämlich auf unbürokratische Art und Weise Arbeit zu
vermitteln, ab.

Der Vorsitzende der Bundesanstalt für Arbeit, Herr
Gerster, hat im Wirtschaftsausschuss sehr interessante
Ausführungen gemacht.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Er ist bei Ihnen aber in Ungnade gefallen!)


Er hat gesagt, er sei dem Gesetzgeber dankbar dafür, dass
er ihm und seiner Bundesanstalt die Arbeit erleichtert hat;
er beabsichtige, in den kommenden Jahren 5 000 Mitar-
beiter durch Umschichtung von der Verwaltung in die
Vermittlung zu bringen.


(Dirk Niebel [FDP]: 3 000 davon sind Neueinstellungen!)


Diesen Weg müssen wir gehen: weniger Bürokratie und
mehr Vermittlung und nicht umgekehrt, wie es in Ihrem
Offensivgesetz vorgeschlagen wird.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Mir läuft komischerweise die Zeit davon.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Dieses Schicksal teilen Sie mit Ihrer Regierung!)

Meine Damen und Herren, die Union schlägt vor, die

Finanzierungslasten der Arbeitsmarktpolitik länderfreund-
lich auszugestalten und einseitig auf den Haushalt der
Bundesanstalt und auf den Bundeshaushalt zu verschie-
ben. Gleichzeitig sollen dem Bund Steuerungskompe-
tenzen entzogen werden. Das mag aus der Sicht eines
Wettbewerbsföderalismus folgerichtig sein. Es zeigt viel-
leicht aber auch nur, dass Sie in erster Linie an Länder-
interessen denken, solange Sie im Bund keine Verantwor-
tung tragen. Ich glaube, wir müssen dieses Lagerdenken
im Interesse der betroffenen Menschen und des sozialen
Zusammenhalts überwinden.

Lassen Sie mich abschließend sagen: Die Regierung
und die sie tragenden Parteien wissen, dass die Probleme
auf dem Arbeitsmarkt nur mit einem Bündel von Maß-
nahmen beseitigt werden können.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber Sie tun nichts!)


Hinter den nackten Zahlen der Arbeitsmarktstatistik ver-
bergen sich Menschen, denen wir uns verpflichtet fühlen.
Die kommenden Jahre werden auf dem Feld der Arbeits-
marktpolitik zu weiteren wesentlichen Neuerungen füh-
ren. Wir haben diesen Reformprozess produktiv eingeleitet
und wir werden ihn im Sinne der Arbeitslosen fortsetzen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1502205200

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Heinrich L. Kolb,

FDP-Fraktion.


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1502205300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit

Beginn ihrer Regierungszeit 1998 kündigt die rot-grüne

Thomas Sauer




Dr. Heinrich L. Kolb
Koalition immer wieder eine Reform der Sozialhilfe an.
Aber außer der Verlängerung von Fristen bei Modellver-
suchen ist Ihnen bisher leider nichts eingefallen, Herr
Brandner.


(Beifall bei der FDP – Klaus Brandner [SPD]: Wo leben Sie denn?)


– Sie brauchen gar nicht zu lachen. – Deswegen ist es
wichtig und richtig, Herr Staatssekretär Andres, dass wir
heute die Gelegenheit nutzen, auf die Notwendigkeit, jetzt
zu handeln, hinzuweisen. Sie haben im Rahmen dieser
Gesetzesinitiativen die Möglichkeit, auf den Reformzug
aufzuspringen.

Wir lassen uns auch nicht madig dafür machen, Frau
Dückert, dass wir Dinge angeblich zum dritten Mal dis-
kutieren. Ich erinnere daran, wie lange es bei geringfü-
giger Beschäftigung, Kündigungsschutz, Scheinselbst-
ständigkeit, Arbeitnehmerüberlassung und privater
Arbeitsvermittlung gedauert hat, wie viele Anträge wir
einbringen und diskutieren mussten, bis es am Schluss so
weit war. Das Problem ist, Frau Dückert: Der eine kapiert
schneller, der andere braucht ein bisschen länger. Offen-
sichtlich gibt es in der rot-grünen Koalition viele, die et-
was mehr Zeit brauchen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dirk Niebel [FDP]: Murks und Marx regieren! – Klaus Brandner [SPD]: Wir haben es solide gemacht! Das ist der Unterschied! Jetzt funktioniert es! – Dr. Uwe Küster [SPD]: Herr Kolb, Sie brauchen lange Zeit, um es zu begreifen!)


– Herr Brandner, es ist nun einmal so: Die Zeit drängt. Wir
befinden uns in einer Notlage. Die Finanzen der Kommu-
nen sind desaströs.


(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Realität ist anders, als Sie sie beschreiben!)


Das ist auch das Ergebnis der rot-grünen Steuerreform.
Das muss man einmal sagen. Sie lassen die Kommunen
nachhaltig im Stich. Das haben die Kommunen nicht ver-
dient.


(Beifall bei der FDP)

Deswegen muss die angekündigte Zusammenlegung

von Arbeitslosen- und Sozialhilfe schnell passieren.
Der Presse ist zu entnehmen, dass Sie das frühestens
Ende 2004 realisieren wollen. Das ist schon deswegen be-
merkenswert, weil Sie die dann vielleicht einzusparenden
Mittel in Höhe von 1,5 Milliarden Euro bereits für das
Jahr 2004 für die Förderung der Betreuung von Kindern
unter drei Jahren eingeplant haben. Auch daher müssten
Sie ein Interesse daran haben, schnell etwas zu tun.


(Doris Barnett [SPD]: Was denn jetzt: schnell oder langsam?)


– Wir müssen das schnell, aber sorgfältig machen. Das
schließt sich nicht aus. Bei Ihnen war es allerdings bisher
oft so, dass Sie im Schweinsgalopp Gesetze mit der
heißen Nadel gestrickt haben. Hinterher mussten wir dann
nachbessern. Wenn wir diese Sache gemeinsam anpacken
und wenn Sie als Vorlage das nehmen, was die FDP die-

sem Hause in fünf Punkten klar vorlegt, dann bekommen
wir eine gute Reform zustande und erreichen trotzdem
schnell Ergebnisse.


(Beifall bei der FDP)

Die FDP ist der Ansicht – das steht auch in unserem

Antrag –, dass die Sozialhilfe so ausgestaltet werden
muss, dass sie einerseits den wirklich Bedürftigen ein Le-
ben in Würde ermöglicht, aber andererseits die Selbst-
ständigkeit aller Sozialhilfeempfänger stetig stärkt und
Leistungsmissbrauch vermeidet.


(Beifall bei der FDP)

Subsidiäre Hilfegewährung – das sage ich hier deutlich –
darf keine Kultur der Unselbstständigkeit hervorbringen.


(Beifall bei der FDP)

Deswegen ist es wichtig – das ist für uns Leitlinie einer
Sozialhilfereform –, dass derjenige, der arbeitet, deutlich
mehr in der Tasche hat als derjenige, der von Leistungen
der Gesellschaft lebt.


(Beifall des Abg. Dirk Niebel [FDP])

Wir haben schon in der letzten Legislaturperiode meh-

rere Anträge eingebracht, um die verschiedenen steuer-
finanzierten Systeme der existenziellen Sicherung neu zu
ordnen. Wir müssen also nicht bei null anfangen, um das
noch einmal deutlich hervorzuheben. Ich will ergänzend
zu dem, was der Kollege Niebel gesagt hat, drei Punkte
nennen.

Erstens. Von den rund 2,7 Millionen Sozialhilfeemp-
fängern sind mindestens 800 000 grundsätzlich arbeits-
fähig. Aber warum lohnt es sich für diese 800000 arbeits-
fähigen Sozialhilfeempfänger nicht, Arbeit anzunehmen?
Zum einen weil bei niedriger Qualifikation, die mit dem
Empfang von Sozialhilfe regelmäßig einhergeht, und da-
mit einem niedrigen Einkommen der Lohnabstand ein-
fach zu gering ist. Zum anderen kann ein arbeitswilliger
Sozialhilfeempfänger im Monat nur bis zur Hälfte seines
Regelsatzes etwas hinzuverdienen. Alles, was er darüber
hinaus verdient, wird ihm zu 100 Prozent angerechnet.
Das ist schlicht und einfach demotivierend.


(Beifall bei der FDP)

Wir haben dazu präzise Vorschläge: Freibeträge er-

höhen, Anrechnungssätze langsamer steigen lassen, und
zwar temporär, um diejenigen, die auf Dauer ohne Ar-
beitslosen- oder Sozialhilfe zu arbeiten bereit sind, zu mo-
tivieren. Zudem wollen wir, dass der Eingangssteuersatz
auf 15 Prozent gesenkt wird.


(Beifall des Abg. Dirk Niebel [FDP])

All das wird nicht ohne Gegenfinanzierung möglich sein.
Darin sind wir vollkommen Ihrer Meinung. Deswegen
brauchen wir einen neuen dauerhaften föderalen Finanz-
ausgleich. Aber das Thema ist ohnehin auf der Agenda.
Daran kommen wir nicht vorbei.

Zweitens. Wir wollen bessere Kinderbetreuungs-
angebote – ich betone: Angebote – in Kooperation mit
den Ländern. Gemeint ist die ganze Palette von Krippen
über Kindergärten und Horte bis hin zur Tagespflege. Ver-
lässliche Schulzeiten sind zum Beispiel in Hessen mitt-


(A)



(B)



(C)



(D)


1714


(A)



(B)



(C)



(D)






lerweile vorbildlich realisiert. Auch muss es Ganztags-
schulen in unterschiedlicher Trägerschaft geben, sowohl
privater, staatlicher als auch freier. Schauen wir einmal,
was die sozialliberale Regierung in Rheinland-Pfalz
macht. Auch das ist durchaus vorbildlich.

Wir wollen drittens keine Leistung ohne grundsätz-
liche Bereitschaft zur Gegenleistung. Hier wird es nach
unserer Auffassung allerdings nicht ohne eine Umkehr der
Beweislast gehen. Der Sozialhilfeempfänger wird, wenn
er vom Staat und damit vom Steuerzahler Hilfe erhalten
möchte, künftig darlegen müssen, dass er seinen Lebens-
unterhalt nicht selbst bestreiten kann.


(Doris Barnett [SPD]: Macht er doch!)

Bisher scheuen sich die Kommunen davor, Frau Kollegin
Barnett, weil der Prüfungsaufwand hoch und auch das
Prozessrisiko nicht unerheblich ist.

Alles in allem brauchen wir weniger Streuverluste. Wir
müssen Leistungsmissbräuche bekämpfen.


(Zuruf der Abg. Doris Barnett [SPD])

– Wenn die einzige Boombranche in diesem Land die
Schwarzarbeit mit einem Umsatz von 370 Milliarden Euro
und einem Anteil am Bruttoinlandsprodukt in Höhe von
16 Prozent ist, Frau Kollegin Barnett, dann stimmt ein-
fach etwas nicht.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1502205400

Herr Kollege Kolb, schauen Sie bitte einmal auf die Uhr

am Rednerpult. Ihre Redezeit ist deutlich überschritten.

(Dirk Niebel [FDP]: Ich könnte ihm noch ewig zuhören, Frau Präsidentin!)



Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1502205500

Noch wenige Sätze: Wir brauchen mehr Eigenverant-

wortung und müssen das Solidaritätsprinzip stärken. Für
uns ist Solidarität keine Einbahnstraße. Deswegen bitte
ich Sie, unserem Antrag zuzustimmen. Er zeigt den Weg
in eine gute Zukunft der Sozialhilfe.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1502205600

Nächster Redner ist der Kollege Walter Hoffmann,

SPD-Fraktion.


Walter Hoffmann (SPD):
Rede ID: ID1502205700

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Herr Kolb, mit einer Aussage haben Sie in der Tat
Recht: Die Zeit drängt. Deswegen sollten wir sie auch
nicht mit völlig überflüssigen, nutzlosen und ineffizienten
Diskussionen vergeuden.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Der Koalition wäre es natürlich am liebsten, wenn die Opposition nichts täte! Aber da könnt ihr lange warten!)


Wenn man sich den Hintergrund anschaut, vor dem wir
heute diese Diskussion führen – der Staatssekretär hat es
vorhin schon sehr vorsichtig und diplomatisch angedeu-
tet –, dann kristallisiert sich heraus, dass der hessische Mi-
nisterpräsident zum Jahreswechsel 2001/2002 in einem
Bundesstaat der USAwar, sich dort die Arbeitsmarktpoli-
tik angeguckt hat, mit leuchtenden Augen zurückkam und
erklärte, dieses Modell sollten wir nicht nur in Hessen,
sondern in der ganzen Bundesrepublik umsetzen. Die Be-
troffenen vor Ort waren alle sichtlich erstaunt und haben
deutlich gemacht, dass man zum Beispiel in Kassel, in
Hanau, in Marburg, in Hofheim und in Darmstadt viel
weiter sei; überall gebe es Modellversuche, bei denen die
Integration von Arbeitslosenhilfeempfängern und Sozial-
hilfeempfängern zum Teil gut funktioniere,


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Hessen ist halt vorbildlich!)


nicht zuletzt aufgrund der hervorragenden Förderkondi-
tionen des Bundes. Keiner der Betroffenen und der han-
delnden Akteure hat verstanden, warum man nach Amerika
fahren muss, um dann ein Modell, das in einer völlig an-
deren wirtschaftlichen und sozialen Situation entwickelt
worden ist, auf die in Deutschland vorhandenen Bedin-
gungen zu übertragen.


(Klaus Brandner [SPD]: Koch ist zu oft in Wisconsin und zu selten in seinem eigenen Bundesland!)


Meine Damen, meine Herren, ich sage es jetzt zum
fünften Mal, mache es aber sehr kurz und werde meine
Redezeit nicht ausschöpfen. Seit dem Jahre 2001 – viel-
leicht hat die Diskussion damals noch Sinn gemacht; in
diesem Punkt gebe ich Ihnen Recht –


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Bei Ihnen vor allem! Das ist wohl wahr!)


hat sich eine Menge verändert. Nehmen wir nur das Job-
AQTIV-Gesetz: Herr Singhammer, im Hinblick auf des-
sen Instrumente finden Sie fast wortgleiche Formulie-
rungen im Job-AQTIV-Gesetz und im Entwurf des
Fördern-und-Fordern-Gesetzes. Wir haben in diesem Be-
reich also kein Theorie- oder Beschlussproblem, sondern
wir haben ein operatives Problem, ein Umsetzungspro-
blem. Jetzt benötigen wir eine Phase, in der das, was wir
beschlossen haben, sinnvoll und effektiv in die Praxis um-
gesetzt werden kann. Das Hartz-Konzept stellt doch auch
eine große Chance dar. Teile davon werden erst im Laufe
des Jahres in Kraft treten.

Gehen wir einmal theoretisch davon aus, wir würden
diesen Gesetzentwurf beschließen – Frau Lautenschläger,
die in meinem Bundestagswahlkreis wohnt, ist jetzt nicht
mehr anwesend; Herr Kolb, auch Sie kennen die regiona-
len Bedingungen – und die Länder verfügten dann über
eine Experimentierklausel. Ich komme aus Südhessen.
Südhessen wird von drei Bundesländern eingerahmt. Hier
treffen also vier Bundesländer aufeinander. Meine Da-
men, meine Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, stel-
len Sie sich einmal vor, in allen vier Bundesländern gäbe
es unterschiedliche Regelungen bei den Sperrzeiten, bei
der Zumutbarkeit und möglicherweise sogar bei der Kür-
zung von Leistungen. Jetzt will ich gar nicht mit dem

Dr. Heinrich L. Kolb




Walter Hoffmann (Darmstadt)

Argument der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse
kommen – gegen dieses Gebot würde klar verstoßen –,
sondern nur darauf hinweisen, dass es in der Praxis für die
Betroffenen einen völlig unzumutbaren Zustand bedeuten
würde. Auch aus solchen Erwägungen der Praktikabilität
heraus gibt es kein sinnvolles Argument, diesem Gesetz
zuzustimmen.

Da dieser Gesetzentwurf ein hessisches Baby ist,
möchte ich ein paar Worte zur Situation in Hessen sagen,
und zwar in der Hoffnung, dass dies am Sonntag positive
Wirkungen zeitigen wird.


(Lachen bei der CDU/CSU – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Da sollten Sie nicht reden, sondern beten, Herr Hoffmann! – Zuruf von der CDU/ CSU: Jetzt kippt die Stimmung in Hessen!)


Ich kenne die Arbeitsmarktpolitik, die in Hessen betrieben
wird, relativ gut. Ich finde es unredlich, in Hessen die
Landesmittel für eine aktive Arbeitsmarktpolitik konse-
quent zu kürzen


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Vom Bund auf Null gesetzt!)


– es gibt ein einziges Programm in Hessen, dessen Mittel
vorsichtig aufgestockt wurden; die Mittel für alle anderen
Programme, auch diejenigen für das Programm „Arbeit
statt Sozialhilfe“, wurden konsequent gekürzt –, dann ei-
nen Forderungskatalog aufzustellen, nach Berlin zu fah-
ren und zu sagen: Bitte schön, Bundesgesetzgeber, setz
das doch um! Ich denke, die hessischen Kolleginnen und
Kollegen sollten erst einmal ihre Hausaufgaben vor Ort
machen. Diese bestehen schlicht und ergreifend darin, die
mit viel Fantasie und Kreativität entwickelte Arbeits-
marktpolitik in den Regionen durch ein entsprechendes
Landesgesetz zu vereinheitlichen – warum macht man das
nicht? – und Gelder für eine aktive Arbeitsmarktpolitik
zur Verfügung zu stellen. Ich sage es noch einmal: Die jet-
zige hessische Arbeitsmarktpolitik ist ein einziger Stein-
bruch. Man hat, seitdem man an der Regierung ist, fast
alle Programme konsequent zurückgefahren, was sich
verheerend für die Personen auswirkt, die eigentlich drin-
gend unserer Unterstützung bedürfen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Trotzdem hat Hessen den stärksten Rückgang der Erwerbslosen!)


– Herr Kolb, es stimmt zwar, dass Hessen im bundeswei-
ten Vergleich relativ gut dasteht, wenn man sich die Zah-
len anschaut. Trotzdem gibt es Zuwächse bei denjenigen
Personengruppen, die ich gerade angesprochen habe.
Deshalb sage ich ganz bewusst noch einmal: Diese brau-
chen auch die Unterstützung des Landes Hessen. Es ist
nicht in Ordnung, Forderungen an den Bund zu richten
und selber vor Ort kaum etwas zu tun.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1502205800

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kolb?


Walter Hoffmann (SPD):
Rede ID: ID1502205900

Natürlich.


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1502206000

Dafür bedanke ich mich ausdrücklich, Herr Kollege

Hoffmann. – Mich drängt es, Sie zu fragen – das liegt mir
auf dem Herzen –: Wenn es in Hessen tatsächlich so
schlimm ist – Sie haben zum Beispiel behauptet, dass die
Mittel für eine aktive Arbeitsmarktpolitik stark herunter-
gefahren worden seien –, wie erklären Sie sich dann die
Erfolge, die Hessen bei der Bekämpfung der Arbeitslo-
sigkeit vorzuweisen hat? Die Arbeitslosigkeit ist doch in
Hessen am stärksten zurückgegangen. Die Konzepte der
hessischen Landesregierung scheinen also nicht so falsch
zu sein.


Walter Hoffmann (SPD):
Rede ID: ID1502206100

Herr Kolb, die jetzige hessische Landesregierung hat ja

nicht beim Punkt null begonnen, sondern eine relativ gute
Situation vorgefunden.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Eichel?)

Schon damals war Hessen in dem angesprochenen Sektor
nach meinen Informationen an der dritten Stelle in der
Rangliste der Bundesländer. Das ist der erste Punkt.

Zweiter Punkt. Es ist ja bekannt, dass gerade Südhes-
sen – Sie kennen sich in diesem Bereich mindestens ge-
nauso gut aus wie ich – eine hervorragende Mischstruktur
im industriellen Sektor, beim Handel und im Handwerk
aufzuweisen hat. Diese gute Situation in Verbindung mit
einer stark exportorientierten Wirtschaft bedeutet auto-
matisch Standortvorteile gegenüber vielen anderen Bun-
desländern. Daher sage ich noch einmal: Das sind nicht
die Erfolge der hessischen Landesregierung, sondern die
aller Akteure in diesem Bundesland, die im Grunde ge-
nommen versucht haben, etwas Produktives zu machen.
Ich denke, das ist ihnen auch ein Stück weit gelungen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist das Prinzip Schröder: Mein Aufschwung!)


– Das würde ich an diesem Punkt nicht so sagen.
Die hessische Landesregierung – ich sage das noch ein-

mal – hat die Mittel für alle wichtigen Programme im Be-
reich der Arbeitsmarktpolitik gekürzt. Sie hat wichtige
Hausaufgaben – ich habe bereits das Landesgesetz zur
Einführung von Jobcentern erwähnt – nicht gemacht. Sie
hat in der Kinderbetreuung – diese ist wichtig für Sozial-
hilfeempfängerinnen, damit sie arbeiten können – Milli-
onen gestrichen. Das weiß man vor Ort auch; das ist all-
gemein bekannt. Daher ist sie kein guter Ratgeber bei der
Umsetzung des vorliegenden Gesetzentwurfs.

In der Tat steckt viel heiße Luft in dem Gesetzentwurf.
Mich persönlich stört aber am meisten das Menschenbild,
das hinter dem Gesetzentwurf zum Vorschein kommt;
denn wenn man diesen Entwurf liest, hat man den Ein-
druck, dass die überwiegende Mehrheit der 900 000 ar-
beitsfähigen Sozialhilfebezieher in der Bundesrepublik
– 70 000 gibt es wohl in Hessen – schlicht und ergreifend
nicht arbeitswillig ist. Ich denke, bei aller Kritik und bei
allen Problemen im Einzelfall darf dies kein Men-
schenbild für den Gesetzgeber sein. Der Schwerpunkt des
Gesetzentwurfs liegt eigentlich auf Kürzen und Fordern.


(A)



(B)



(C)



(D)


1716


(A)



(B)



(C)



(D)






So müsste Ihr Motto korrekt lauten. Ich vermisse hier ei-
gentlich einen Akzent im Bereich der Förderung.

Wir alle wissen, dass es viele Gründe gibt, warum
Menschen nicht arbeiten können. Diese Gründe können in
der Betreuung, in der Qualifizierung und in der mangeln-
den Bereitschaft vieler Betriebe liegen, gerade diese
Personengruppe zu beschäftigen. Die schwierige kon-
junkturelle Situation – viele Vorredner haben sie ange-
sprochen – ist in der Tat ein Problem und es gibt auch viele
individuelle Probleme, die man in einer freien Gesell-
schaft klar benennen muss. Das alles spielt in der Philo-
sophie dieses Gesetzes überhaupt keine Rolle. Von daher
werden wir an unserer Haltung nichts ändern können. Ich
sage klar und deutlich: Unsere Fraktion kann nicht nur,
aber auch aus diesem Grund hier nicht zustimmen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1502206200

Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Meckelburg,

CDU/CSU-Fraktion.


Wolfgang Meckelburg (CDU):
Rede ID: ID1502206300

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! Herr Kollege Hoffmann, Sie haben in einem Teil
Ihrer Rede gesagt, Sie hofften noch auf Auswirkungen auf
die Hessenwahl. Eine von mir soeben durchgeführte Blitz-
umfrage hat aber ergeben: Das war nichts. Die Politik in
Hessen ist schon besser geworden. Dass Sie auf Herrn
Eichel verwiesen haben, zeigt, dass Sie nicht realistisch
sind. Ich sage ganz deutlich: Ich finde, es ist dringend not-
wendig, dass wir – unabhängig von der bevorstehenden
Wahl in Hessen – heute im Bundestag über das Thema
„Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozial-
hilfe“ reden.


(Walter Hoffmann [Darmstadt] [SPD]: Das ist klar! Aber wir müssen das Gesetz nicht verabschieden! Das ist kontraproduktiv!)


Nach der Wahl 1998 haben wir Ihren ersten Fehlstart
erlebt. Mittlerweile haben Sie Ihren zweiten Fehlstart hin-
gelegt. Zwischen den beiden Fehlstarts gibt es einen Un-
terschied: Beim zweiten Fehlstart haben Sie sich geradezu
ins Zeug gelegt, ein Stückchen Erfahrung mit Fehlstarts
einzubringen. Sie haben für ein so großes Durcheinander
gesorgt, dass die Bürger verunsichert sind. Täglich neue
Vorschläge, täglich neue Rückzieher – ein Konzept, das
Ihrer Politik zugrunde liegt, ist nicht erkennbar.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich wiederhole: Das Ergebnis des zweiten Fehlstarts ist,
dass die Bürger verunsichert sind.


(Klaus Brandner [SPD]: Glauben Sie das wirklich, Herr Meckelburg? Sie als Christ!)


– Das glaube ich.
Diese Verunsicherung kann man an den Stellen erken-

nen, wo der Bürger sie zum Ausdruck bringt: bei der
Kaufzurückhaltung und bei der Scheu vor Investitionen.
Damit Arbeitsplätze geschaffen werden, müssen Käufe

getätigt und muss Handel betrieben werden. Die Verunsi-
cherung hat dazu geführt, dass Investitionen zurückgehal-
ten werden.


(Klaus Brandner [SPD]: Hören Sie doch auf mit dem Schlechtreden! Als Pädagoge sollten Sie wissen, der Schwerpunkt ist Loben und Fördern!)


Auch die insgesamt fehlenden Rahmenbedingungen ha-
ben dazu geführt, dass manche Dinge, die wir auf den Weg
gebracht haben, nicht funktionieren können.

Meine Damen und Herren von Rot-Grün, unser Haupt-
vorwurf an Sie bleibt: Sie leben von der Hand in den
Mund, Sie haben wirklich kein Konzept und keine Zu-
kunftsvision.


(Doris Barnett [SPD]: Doch, Herr Meckelburg!)


Die Erfahrung der letzten vier Jahre – ich bin nicht neu
hier – lässt mich befürchten, dass die nächsten vier Jahre
ähnlich ablaufen wie die letzten vier.


(Doris Barnett [SPD]: Die werden noch besser!)


Deswegen ist es notwendig, hier über die Zusammenle-
gung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zu reden. Wir
machen über Anträge und Gesetzentwürfe im Bundesrat
und über Anträge und Gesetzentwürfe der Unionsfraktion
im Bundestag Druck auf Rot-Grün.

Das Hauptproblem scheint mir wirklich darin zu lie-
gen, dass die Reformfähigkeit von Rot-Grün im Hinblick
auf strukturelle Fragen sehr blockiert ist. Ich denke an die
Rentenreform. Was ist da nicht alles hin- und hergescho-
ben worden? Eine wirkliche Reform war es am Ende
nicht. Ich denke an die Sozialhilfereform in der letzten Le-
gislaturperiode. Herr Brandner, Sie haben daran mitge-
wirkt. Diese Reform ist zweimal verschoben worden und
zweimal ist ein Übergangsmodell verlängert worden.
Strukturell haben Sie nichts zustande gebracht.


(Klaus Brandner [SPD]: Das war nicht der Auftrag!)


Die Reform der Arbeitsförderung wurde während
der letzten Legislaturperiode zwar mehrfach angekündigt;
am Schluss kam aber lediglich das schlappe so genannte
Job-AQTIV-Gesetz zustande. Dass es nicht wirkt, können
Sie an den Zahlen ablesen. Herr Schröder hat die Senkung
der Anzahl der Arbeitslosen auf 3,5 Millionen verspro-
chen; 4,5 Millionen Arbeitslose werden es in diesem Ja-
nuar sein.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist leider noch nicht das Ende! Februar wird noch schlimmer!)


Alles, was Sie auf den Weg gebracht haben, hat nicht
funktioniert.

Sie sind – auch das muss man vielleicht in Erinnerung
rufen – in Hektik geraten. Die Hartz-Kommission ist nicht
eingesetzt worden, weil Sie erkannt haben: Wir müssen in
diesem Bereich etwas tun.


(Klaus Brandner [SPD]: Das ist die Fortsetzung vom Job-AQTIV-Gesetz! Das wissen Sie doch! Hören Sie mit dem Schlechtreden auf!)


Walter Hoffmann (Darmstadt)





Wolfgang Meckelburg
Vielmehr haben Sie, als Sie zu Beginn des letzten Jahres
merkten, dass sich auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr viel
bewegen wird, aus der Not eine Tugend gemacht und die
Krise der Bundesanstalt für Arbeit genutzt, um eine große
Kommission einzusetzen. Dann sind plötzlich Themen
und am Ende an vielen Stellen auch Reformvorschläge
diskutiert worden, die wir hier in den letzten vier Jahren
praktisch Monat für Monat eingefordert hatten, die Sie
aber über vier Jahre blockiert hatten. Wir wären vier Jahre
weiter, wenn Sie jeweils vier Jahre früher die Erkenntnis
gehabt hätten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP– Klaus Brandner [SPD]: Sie wissen das doch besser! Reden Sie nicht gegen eigenes Wissen!)


Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und
Sozialhilfe ist eines dieser Themen. Lesen Sie doch ein-
mal nach, wie häufig wir darüber debattiert haben und wie
häufig Sie das auf die lange Bank geschoben haben.


(Klaus Brandner [SPD]: Bei der Geschwindigkeit, mit der wir die Arbeitsmarktreform durchgesetzt haben, haben Sie doch nur mit den Ohren gewackelt!)


Wir können fast froh sein, dass dieses Thema in der Hartz-
Kommission vorkam und Sie sich gezwungen fühlten,
sich damit auseinander zu setzen.

Was ist das Ziel der Zusammenlegung von Arbeitslo-
senhilfe und Sozialhilfe? Das Ziel ist es – ich sage das
noch einmal deutlich, weil eben missverständlicher-
weise immer Teilbereiche als Hauptziel herausgestellt
wurden –, Menschen aus der Arbeitslosigkeit in Arbeit
auf dem ersten Arbeitsmarkt zu bringen, ihnen ein Stück
Selbstständigkeit, nein, eigentlich die entscheidende Vo-
raussetzung für selbstständige Lebensführung zurückzu-
geben,


(Klaus Brandner [SPD]: So weit, so gut!)

nämlich aus eigener Arbeit – das muss man deutlich ge-
nug sagen, weil das das Ziel ist und nicht das, was hier
dauernd vorgeführt wird – ein eigenes Einkommen zu er-
zielen, das die Basis für die eigene Lebensgestaltung ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP– Klaus Brandner [SPD]: Wo unterscheiden wir uns da?)


Was ist dazu notwendig? Erstens. Die Politik muss
Rahmenbedingungen schaffen, unter denen in der Wirt-
schaft Arbeitsplätze entstehen. Da unterscheiden wir uns
wirklich.


(Klaus Brandner [SPD]: Jetzt einmal ganz konkret! Jetzt ein paar Hinweise!)


Sie können noch so viel Hartz-Vorschläge aufgreifen und
Job-AQTIV-Gesetzgebung machen, Sie können noch so
viel fördern: Wenn Sie keine Arbeitsplätze haben, wird es
schwierig. Das ist das Hauptproblem, unter dem Deutsch-
land leidet. Die Hauptverantwortung für diesen Bereich
tragen wirklich Sie. Es ist nicht zu erkennen, dass Sie an
dieser Stelle viel täten. Das ist das eigentliche Problem.


(Beifall bei der CDU/CSU Ich nenne ein Beispiel: Eine Steuerpolitik, die Bürger und Wirtschaft nicht entlastet, sondern belastet, ist eine falsche Politik. Eine Politik, die kein Wirtschaftswachstum bringt – Sie haben gerade gestern im Jahreswirtschaftsbericht das Wirtschaftswachstum auf 1 Prozent korrigieren müssen, nachdem es im letzten Jahr 0,2 Prozent waren –, (Klaus Brandner [SPD]: Nachdem wir bei Ihnen Minuswachstum hatten!)


ist eine falsche Politik. Bei den Sozialversicherungen sind
Entlastungen statt neuer Belastungen erforderlich. Fragen
Sie doch einmal die Bürger, die gerade ihre Gehaltszettel
bekommen! Sie bekommen die Mehrbelastungen doch
gerade schriftlich.


(Klaus Brandner [SPD]: Sie haben sie doch auf Deubel komm raus belastet! Das wissen Sie doch!)


Dann sagen Sie hier, die Bürger nähmen das nicht wahr.
Das ist der wichtigste Punkt: Die Rahmenbedingungen

an dieser Stelle müssen sich wirklich ändern, damit sich
auf dem Arbeitsmarkt etwas bewegt und die arbeits-
marktpolitischen Instrumente funktionieren können.


(Klaus Brandner [SPD]: Dann blockieren Sie doch nicht! Unterstützen Sie den Prozess!)


Davon sind Sie weit entfernt.
Wir müssen zweitens ganz klar sagen: Es entspricht

nicht unserer gesellschaftlichen Vorstellung vom Leben,
in Abhängigkeit von Sozialsystemen zu bleiben. Unsere
Vorstellung ist vielmehr, dass Sozialhilfe eine Hilfe zur
Überbrückung, zur Integration in den ersten Arbeitsmarkt
ist, aber keine Einrichtung, in deren Abhängigkeit man
verharrt. Deswegen nenne ich einmal ein paar Zahlen, die
eine deutliche Sprache sprechen.

Es gab im Jahr 2000 rund 2,7 Millionen Sozialhilfe-
empfänger. Davon sind 60 Prozent in erwerbsfähigem Al-
ter. Wir können uns doch nicht erlauben, so zu tun, als
wenn wir die 60 Prozent – das sind 1,6 Millionen – auf
Dauer in Sozialhilfe lassen wollten. Genau das ist der
Handlungsbereich.

Die Dauer des Sozialhilfebezuges ist gestiegen. 1997
lag die durchschnittliche Bezugsdauer – man spricht in-
zwischen von Sozialhilfekarriere – bei 25,4 Monate; das
sind über zwei Jahre. Innerhalb von drei Jahren, bis 2000
– das ist die jüngste Zahl, die ich gefunden habe –, ist die
Dauer auf 31 Monate gestiegen. Meine Damen und Her-
ren, wollen Sie sagen, das sei kein Problem?

Wenn wir feststellen, dass 60 Prozent der Sozialhilfe-
empfänger in erwerbsfähigem Alter sind, müssen wir al-
les tun, um diese Menschen wirklich in Arbeit zu bringen
und ihnen ein Stückchen Freiheit und Unabhängigkeit
vom Sozialsystem zurückzugeben. Das muss unser ge-
meinsames Ziel sein.


(Klaus Brandner [SPD]: Herr Meckelburg, wir sind schon viel weiter! Die Problembeschreibung haben wir schon 23-mal gehört! Es kommt auf die Lösung an! Sie beschreiben, beschreiben, beschreiben! Wir sind viel weiter!)



(A)



(B)



(C)



(D)


1718


(A)



(B)



(C)



(D)






– Genau das ist das Problem, Herr Brandner. Wir als Uni-
onsfraktion haben die Problembeschreibung in den letz-
ten Jahren dauernd per Antrag eingebracht.


(Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Der Sockel war viel zu hoch! Das war die Ursache!)


Sie haben das verschoben.
Jetzt haben wir gehört, dass es möglicherweise Mitte

des Jahres endlich eine Vorlage der Bundesregierung ge-
ben wird, mit der wir uns beschäftigen können und die
verwertbar ist, um Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe zu-
sammenzubringen. Das hat lange gedauert, aber sie soll
jetzt endlich kommen.

I
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1502206400
Wir be-
kommen relativ schnell etwas auf den Tisch gelegt und
müssen es innerhalb von zwei Wochen im Ausschuss be-
raten.


(Klaus Brandner [SPD]: Jetzt beklagt ihr, dass es zu schnell geht! Was wollt ihr denn?)


– Ich möchte, dass wir Zeit zur Beratung haben. Die In-
ternkommission, die sich im November und Dezember
erst einmal vertagt hatte, hat inzwischen möglicherweise
im Schnellverfahren fünfmal getagt. Es freut mich, wenn
das so ist. Aber ich erwarte, dass wir die Vorlagen recht-
zeitig bekommen, damit wir das Problem und seine Lö-
sungsvorschläge gründlich beraten können, statt das, wie
bisher, im Zwei-Wochen-Schweinsgalopp durchzujubeln.
Da haben Sie völlig Recht: Das ist mir zu wenig Zeit;
dafür haben wir zu lange Vordiskussionen geführt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es kommt auch darauf an – das ist der dritte Punkt –,

Anreize zu schaffen. Die beiden Bundesratsgesetzent-
würfe geben Hilfestellung, hier noch etwas zu unterneh-
men.

Viertens müssen wir die Kostenfrage näher beleuch-
ten. Denn bei den Sozialhilfeausgaben liegen wir inzwi-
schen – das ist ebenfalls eine Zahl aus dem Jahr 2000 –
bei 20,9 Milliarden Euro.


(Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Wir sind bei 2002!)


– Wenn Sie neuere Zahlen haben, nennen Sie diese; ich
vermute, dass sie nicht darunter liegen. Aber die Zahlen
von 2000 sind die letzten, die ich gefunden habe.

Wir hatten in diesem Bereich in 2001 – ich sehe hier
gerade eine weitere Zahl – einen Anstieg um 2,7 Prozent.
Im ersten Halbjahr 2002 waren es 4,4 Prozent. Es ist also
mehr geworden.

Deswegen ist es notwendig, sich mit den beiden Ge-
setzentwürfen des Bundesrates zu beschäftigen. Dass ei-
niges davon bereits erledigt ist – darauf ist hingewiesen
worden –, hat auch damit zu tun, dass diese beiden Ge-
setzentwürfe Anfang bzw. Ende November im Bundesrat
eingebracht worden sind. In der Zwischenzeit hat es im
Bundestag eine Hartz-Gesetzgebung gegeben – übrigens
ebenfalls im Schweinsgalopp, innerhalb von zwei Wo-
chen –, zu der es im Bundesrat und im Vermittlungsaus-

schuss, dem ich angehöre, Vereinbarungen gegeben hat,
in denen Teile der hier vorliegenden Gesetzentwürfe über-
nommen worden sind.

Ich erwähne das in dieser Debatte deswegen so ausführ-
lich, weil ich glaube, dass wir ab Montag, ab dem 3. Fe-
bruar, in Deutschland in einer neuen politischen Welt sind.


(Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Ach was!)

Wir werden stärker aufeinander zugehen müssen, wenn
wir Reformen auf den Weg bringen wollen. Friedrich
Merz hat heute Morgen ein entsprechendes Angebot ge-
macht.


(Klaus Brandner [SPD]: Ist das mit Frau Merkel und Herrn Stoiber abgesprochen?)


Das bedeutet aber nicht, dass wir als Opposition nicht
weiterhin ständig kritisch das anmahnen, was uns an die-
ser Stelle fehlt. Was uns bis jetzt fehlt, ist eine Vorlage der
Bundesregierung für die Zusammenfügung von Arbeits-
losenhilfe und Sozialhilfe.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Deswegen habe ich die Bitte, dass wir diese Bundes-
ratsinitiativen heute an den zuständigen Ausschuss über-
weisen, mit dem Ziel – angesichts der neuen Welt ab
nächster Woche – einer gemeinsamen Beratung aller
Fraktionen, und dass Sie die bisherige Blockadepolitik an
dieser Stelle aufgeben. Es gab kein Expertentreffen in den
letzten Jahren, bei dem nicht alle gesagt hätten, dass etwas
passieren muss; es dauert nur zu lange. Wir haben in der
Tat ein Umsetzungsproblem. Das liegt aber daran, dass
Sie von Rot-Grün nicht schnell genug aus dem Quark
kommen. Das ist das Problem.

Jetzt muss Schluss sein mit dem verbalen Behandeln
des Problems. Wir brauchen endlich eine Vorlage. Ich
bitte Sie, Herr Staatssekretär, alles daranzusetzen, dass
wir im Ausschuss so rechtzeitig wie möglich mit der Dis-
kussion über die Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe
und Sozialhilfe beginnen können. Da können Sie einen ent-
scheidenden Beitrag leisten, was die Gemeinsamkeit aller
Fraktionen angeht.

Schönen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1502206500

Letzte Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Karin

Roth, SPD-Fraktion.


Karin Roth (SPD):
Rede ID: ID1502206600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Meckelburg, Sie haben in Ihren Ausführungen ver-
gessen, dass wir im Jahre 1997 fast 5 Millionen Arbeits-
lose in diesem Land hatten und dass Sie bis dahin durch-
aus die Möglichkeit hatten, die Arbeitslosenhilfe und die
Sozialhilfe zusammenzulegen. Wir haben das in unser
Programm aufgenommen,


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Und dann nichts gemacht!)


Wolfgang Meckelburg




Karin Roth (Esslingen)

weil wir wussten und wissen, dass diese Reform not-
wendig ist. Wir wissen aber auch, dass es sehr kompli-
ziert ist – es handelt sich nämlich um einen Finanzaus-
gleich –, einen fairen Interessenausgleich zwischen
Kommunen, Ländern und Bund zu organisieren. Daran
arbeiten wir.

Heute beschäftigen wir uns mit dem Gesetzentwurf,
der von Hessen in den Bundesrat eingebracht worden ist.
Die Frage ist: Sind die Vorschläge neu? Dazu kann ich Ih-
nen sagen – das ist schon von meinen Vorrednerinnen und
Vorrednern gesagt worden –, dass dieser Gesetzentwurf
schon vor einem Jahr in diesem Hohen Hause ausführlich
diskutiert wurde.


(Klaus Brandner [SPD]: Alter Wein!)

Jetzt wurde er wieder wortgleich eingebracht.


(Klaus Brandner [SPD]: Abgestandenes Bier! – Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das haben wir bewusst getan!)


Ich habe den Verdacht, dass es Ihnen bei diesem Thema
nicht um die Sache, sondern darum geht, uns kurz vor den
Wahlen in Hessen und Niedersachsen weismachen zu
wollen, dass Sie einen besseren Weg gefunden hätten.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Sie hätten letztes Jahr zustimmen können! Dann wäre er weg gewesen!)


Die Wahrheit ist: Die Ministerin aus Hessen interes-
siert dieses Thema, zu dem sie gesprochen hat, so sehr,


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie ist schon weg!)

dass sie nach der Hälfte der Debatte den Saal verlassen
hat, nach dem Motto: Was interessiert uns das Gerede im
Bundestag? Wir machen unsere Politik ohnehin!


(Klaus Brandner [SPD]: Wahlkampf!)

Ich komme nachher noch auf die Ministerin zu sprechen.

Ich frage Sie, meine Damen und Herren von der Op-
position: Warum glauben Sie, dass dieses Gesetz, das wir
damals abgelehnt haben, so neu und so wichtig ist, dass
wir ihm nun zustimmen sollten? Das machen wir natür-
lich nicht. Damals war es nicht richtig und auch heute
nicht.


(Widerspruch des Abg. Dirk Niebel [FDP])

Hier wurde ein verstaubter Ladenhüter aus dem Hut

gezaubert. Dabei vergessen Sie – das hat Herr Brandner
eben deutlich gesagt –, dass wir schon vieles auf den Weg
gebracht haben. Sie geben alte Antworten auf schon be-
antwortete Fragen. Wir haben die Probleme gelöst. Ich
denke, bei Ihrem Gesetzentwurf handelt es sich nicht um
alten Wein in neuen Schläuchen, sondern um alten Wein
in alten Schläuchen.


(Klaus Brandner [SPD]: Abgestanden! Ungenießbar!)


Man sollte diesen Entwurf zu den Akten legen. Wir je-
denfalls werden neue Projekte starten.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Aber die Arbeitslosigkeit steigt!)


Herr Meckelburg, es geht Ihnen in Wahrheit nicht da-
rum, Arbeit statt Sozialhilfe zu organisieren. Auf der ei-
nen Seite soll zwar die Vermittlungstätigkeit beschleunigt
werden, auf der anderen Seite führen Ihre Maßnahmen
aber zur Diffamierung von Sozialhilfeempfängern.


(Klaus Brandner [SPD]: So ist es!)

Das lassen wir nicht zu, weil wir wissen, wo das endet.


(Beifall bei der SPD – Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das ist unverschämt!)


Wenn man sich die Mühe macht, den Gesetzentwurf
genauer zu prüfen, dann stellt man zwei Dinge fest:


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was haben Sie die Teilzeitarbeit diffamiert! Heute ist das für Sie das Patentrezept!)


Erstens. Ihr Vorschlag bezüglich der Instrumente ist über-
holt, weil es die Jobcenter bereits gibt. Zweitens. Ihre ge-
samten Vorschläge sind überflüssig, weil wir all das im
Rahmen der Umsetzung des Hartz-Konzepts schon auf
den Weg gebracht haben. Wir blockieren nicht, sondern
wir haben eine Dynamik auf dem Arbeitsmarkt ent-
wickelt.

Wir werden in diesem Jahr in diesem Hohen Hause die
Reform von Sozial- und Arbeitslosenhilfe diskutieren. Ich
bin nicht nur auf die Haltung der Länder und Kommunen
sehr gespannt, sondern auch darauf, ob Sie bereit sind,
diesen Weg mitzugehen.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Sie sind neu in diesem Haus! Sie haben die Erfahrung der letzten vier Jahre nicht!)


Ich sage Ihnen – es ist schade, dass Frau Lautenschläger
nicht mehr anwesend ist –, dass es aufseiten der Länder
interessante Möglichkeiten gibt. Auch die Länder können
auf dem Gebiet der Sozialhilfe die Hilfe zur Arbeit unter-
stützen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, was
Hessen in den letzten Jahren gemacht hat.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Erfolgreich die Arbeitslosigkeit abgebaut! Das hat Hessen gemacht!)


Die Koalition aus CDU und FDP in Hessen hat in diesem
Jahr – man höre und staune – die Mittel für die aktive Ar-
beitsmarktpolitik deutlich reduziert. Der Landesanteil an
arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen für Sozialhilfeemp-
fänger beträgt noch nicht einmal 3 Prozent.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber die Arbeitsmarktpolitik ist doch kein Selbstzweck! Wenn die Arbeitslosigkeit trotzdem gesenkt wird, sollte man das nicht schlechtreden!)


Ich glaube, diese Zahl spricht für sich. Man kann daran
erkennen, wie wichtig das Thema „Arbeit statt Sozial-
hilfe“ für Frau Lautenschläger ist. Nach meiner Meinung
ist das ein Offenbarungseid und zeigt die fehlende
Glaubwürdigkeit. Es handelt sich um heiße Luft und
Wahlkampfgetöse.

Anstatt Ihre Hausaufgaben zu machen, legen Sie die-
sen Gesetzentwurf noch einmal vor. Letztendlich soll mit


(A)



(B)



(C)



(D)


1720


(A)



(B)



(C)



(D)






der Experimentierklausel versucht werden – Frau Dückert
hat das schon gesagt –, bis 2007 das zu organisieren, was
wir schon ab 2004 dringend brauchen. Wir brauchen keine
Experimentierklausel. Erstens gibt es sie


(Klaus Brandner [SPD]: Das ist lange genug gemacht worden! Wir haben ja die Projekte gehabt! und zweitens wollen wir ab 2004 flächendeckend die Sozialhilfe und die Arbeitslosenhilfe zusammenführen. Von daher ist das, was wir hier planen und organisieren, wichtig und notwendig. Ich hoffe auch, dass wir zu diesem Thema zu einer Einigung im Bundesrat und im Bundestag kommen. Lassen Sie mich noch zu drei oder vier Punkten, die aus unserer Sicht wichtig sind, etwas sagen. Wir haben die Rahmenbedingungen geschaffen. Wir haben die Einrichtung von Jobcentern organisiert. Diejenigen Bundesländer, die das noch nicht umgesetzt haben, sollten nicht beiseite stehen, sondern die Möglichkeiten nutzen. Gleichzeitig haben wir das Job-AQTIV-Gesetz auf den Weg gebracht und Instrumente zur passgenauen Arbeit entwickelt. (Dirk Niebel [FDP]: Ist ja prima, dass die Arbeitslosigkeit so drastisch sinkt!)


Auch die individuellen Eingliederungsbeihilfen und Ein-
gliederungsmöglichkeiten können genutzt werden.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wenn jetzt noch die Arbeitslosenzahl zurückgeht, haben wir Vollbeschäftigung!)


Deshalb sage ich Ihnen: Unser Projekt „Fördern und For-
dern“ muss umgesetzt werden. Es gibt eine gemeinsame
Verantwortung von Bund und Ländern, das liegt nicht nur
in der Verantwortung des Bundes.

Die wichtigsten Schritte wurden also gemacht. Die
Umsetzung der Hartz-Vorschläge wird erfolgen. Ich
bin sicher, dass die Menschen in unserem Land begrei-
fen und wissen, dass es nicht darum gehen kann und ge-
hen darf, die Menschen, die keine Arbeit haben, zu dif-
famieren,


(Dirk Niebel [FDP]: Das macht ja auch keiner! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich verstehe nur nicht, wenn alles so gut ist, warum dann die Jahresarbeitslosenzahl steigt!)


sie auszugrenzen. Es geht darum, die Menschen durch
Qualifizierung in Arbeit zu bringen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir müssen den Menschen Mut machen. Schließlich
geht es darum, dass Arbeit auch dazu beiträgt, die Per-
sönlichkeit zu fördern, das Selbstbewusstsein zu unter-
stützen


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich glaub‘, jetzt hat sie’s!)


und die Teilnahme an der Gesellschaft zu realisieren. Es
geht hier um Menschen und nicht nur um Statistik.


(Beifall bei der SPD)


Wir haben die Menschen im Blick und wir erwarten, dass
durch unsere Maßnahmen ihre Integration möglich ist. Wir
machen eine Politik für die Menschen und nicht gegen sie.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Hoffentlich spüren die das auch! – Dirk Niebel [FDP]: Immer die alte Leier!)


– Nicht „alte Leier“. Nach Ihrem Freiheitsbegriff gibt es
diese Freiheit nur für diejenigen, die besitzen, aber nicht
für diejenigen, die nichts haben.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist ja aus der Mottenkiste des Klassenkampfes, Frau Roth! – Dirk Niebel [FDP]: Das ist tiefster Klassenkampf, Frau Roth!)


Die Menschen in unserem Land wissen, dass sie sich auf
Rot-Grün verlassen können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir verlieren nicht die soziale Balance, wir stehen für
Modernisierung und soziale Gerechtigkeit. Das ist unser
Programm.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dirk Niebel [FDP]: Das ist unglaublich! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nur schade, dass die Menschen das anders sehen!)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1502206700

Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf

den Drucksachen 15/273, 15/309 und 15/358 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Vorlage auf Drucksache 15/358 soll abweichend von
der Tagesordnung an den Haushaltsausschuss lediglich
zur Mitberatung überwiesen werden.

Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 – es handelt sich um
eine Überweisunge im vereinfachten Verfahren – auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Löning, Daniel Bahr (Münster), Rainer Brüderle,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Westsaharakonflikt beilegen – UN-Friedens-
plan durchsetzen
– Drucksache 15/316 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 15/316 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse zu überweisen.


(Dr. Werner Hoyer [FDP]: Eine sehr gute Idee!)


Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.

Karin Roth (Esslingen)





Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a bis 13 e auf. Es
handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu de-
nen keine Aussprache vorgesehen ist.

Tagesordnungspunkt 13 a:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei-
nes Gesetzes zu dem Vertrag vom 26. Juli 2001
zwischen der Bundesrepublik Deutschland und
derTschechischen Republik über den Bau einer
Grenzbrücke an der gemeinsamen Staatsgrenze
in Anbindung an die Bundesstraße B 20 und die
Staatsstraße I/26
– Drucksache 15/12 –

(Erste Beratung 12. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

(14. Ausschuss)

– Drucksache 15/272 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Renate Blank

Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
empfiehlt auf Drucksache 15/272, den Gesetzentwurf an-
zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf mit
den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.

Tagesordnungspunkt 13 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 8 zu Petitionen
– Drucksache 15/320 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 8 ist mit den Stimmen des
gesamten Hauses angenommen.

Tagesordnungspunkt 13 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 9 zu Petitionen
– Drucksache 15/321 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Auch die Sammelübersicht 9 ist mit den Stim-
men des ganzen Hauses angenommen.

Tagesordnungspunkt 13 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 10 zu Petitionen
– Drucksache 15/322 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Damit ist die Sammelübersicht 10 mit den Stim-
men der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen
die Stimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen.

Tagesordnungspunkt 13 e:
Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der
CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
und der FDP
Erneute Überweisung von Vorlagen aus frühe-
ren Wahlperioden
– Drucksache 15/345 –

Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen?
– Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf:
Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD, der CDU/
CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und
der FDP für die vom Deutschen Bundestag zu ent-
sendenden Mitglieder des Beirats bei der Regu-
lierungsbehörde für Telekommunikation und
Post gemäß § 67 Abs. 1 des Telekommunika-
tionsgesetzes
– Drucksache 15/356 –

Ergänzend schlägt die Fraktion der SPD vor, den Ab-
geordneten Gerhard Rübenkönig als Stellvertreter für
Petra Bierwirth und Eike Hovermann als Stellvertreter für
Klaus Barthel zu wählen. Wer stimmt für diese Wahlvor-
schläge? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Wahlvor-
schläge sind mit den Stimmen des ganzen Hauses ange-
nommen.

Ich rufe Zusatzpunkt 4 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
der Vorschriften über die Straftaten gegen die
sexuelle Selbstbestimmung und zur Änderung
anderer Vorschriften
– Drucksache 15/350 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundes-
ministerin der Justiz, Brigitte Zypries.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1502206800

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren Abgeordneten. Es ist kein Zufall, dass ich gestern
zwei Pressekonferenzen durchgeführt habe: eine zu dem
Gesetzentwurf, den wir zurzeit beraten, und die andere
mit meiner Kollegin Renate Schmidt zu dem Aktionsplan
der Bundesregierung zum Schutz von Kindern und Ju-
gendlichen vor sexueller Gewalt und Ausbeutung. Denn
die Bundesregierung weiß, dass die Verhütung von sexu-
eller Gewalt nicht durch das Strafrecht allein gelingt. Ge-
rade weil die Dunkelziffer so hoch ist, sind Aufklärung
und niedrigschwellige Angebote für Kinder notwendig.


(A)



(B)



(C)



(D)


1722


(A)



(B)



(C)



(D)






Hinschauen, nicht wegschauen – dieses Prinzip ist ei-
ner der wesentlichen Punkte des Gesetzentwurfs der Ko-
alitionsfraktionen, der Ihnen heute vorliegt. Es ist auch
das Motto einer bundesweiten Aufklärungskampagne, die
wir starten werden.

Damit bin ich schon zu Beginn meiner Rede bei dem
zentralen Ziel, das wir mit der Änderung des Sexualstraf-
rechts verfolgen: Straftaten gegen die sexuelle Selbstbe-
stimmung sind abscheulich und verachtenswürdig. Jeder
sexuelle Übergriff ist einer zu viel. Deshalb wollen wir
diese Straftaten nicht nur angemessen bestrafen, sondern
wir wollen sie vor allem verhindern.

Menschen im Umfeld von Missbrauchsopfern haben
oftmals Kenntnis von den Vorgängen oder zumindest eine
Ahnung. Trotzdem unternehmen viele nichts dagegen.
Deshalb wollen wir mit diesem Gesetzentwurf Ver-
wandte, Nachbarn und Betreuungspersonen mit in die
Verantwortung nehmen. Wir erwarten, dass sie sich ein-
mischen und Missbrauch verhindern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Denn wirksamen Schutz für Kinder erreichen wir nur,
wenn sich alle verantwortlich fühlen. Nach unseren Vor-
stellungen wird sich deshalb in Zukunft derjenige strafbar
machen, der von einem geplanten sexuellen Missbrauch
weiß und nichts dagegen tut.

Wir erweitern § 138 StGB um den sexuellen Miss-
brauch von Kindern, die sexuelle Nötigung und Verge-
waltigung und den sexuellen Missbrauch widerstandsun-
fähiger Personen, also vor allem behinderter Menschen.

Wir sind uns – das will ich auch nicht verhehlen – da-
bei durchaus bewusst, dass wir uns in einem sehr sen-
siblen Bereich bewegen: Es gibt Fälle – gerade bei Miss-
brauch im familiären Umfeld –, in denen sich das Opfer
nicht nur vor dem Missbrauch fürchtet, sondern auch zu
dem Täter, zum Beispiel dem Stiefvater, der die Familie
finanziell unterstützt, eine persönliche Beziehung hat.
Deshalb will das Kind in der Regel nicht, dass der Stief-
vater ins Gefängnis kommt; es will aber natürlich, dass
der Missbrauch aufhört. Das heißt, das Kind will sich je-
mandem anvertrauen, der nicht sofort zur Polizei gehen
soll.

Um diesem Spannungsfeld gerecht zu werden, haben
wir die Anzeigepflicht eingeschränkt. Diejenigen, die
häufig Ansprechpartner sind, zum Beispiel Erziehungsbe-
ratungsstellen, Psychologen und Ähnliche, haben wir von
der Anzeigepflicht ausgenommen, wenn sie sich ernsthaft
um die Verhinderung weiterer Taten bemühen. Aber, sie
müssen es auch ernsthaft tun. So einen Fall, wie er mir
letztes Wochenende geschildert wurde, dass Mitarbeiter
eines Jugendamtes fünf Jahre lang vom Missbrauch eines
Kindes in einer Familie wussten, aber nichts unternom-
men haben, darf es künftig nicht mehr geben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben eine weitere Einschränkung vorgenommen.
Natürlich wollen wir nicht, dass die ersten sexuellen Kon-
takte junger Menschen untereinander zur Anzeige kom-

men. Deshalb ist der Personenkreis derjenigen, die anzei-
geverpflichtet sind, auf die über 18-Jährigen beschränkt
und wir erfassen auch nur die Fälle, in denen der Täter die
sexuelle Unerfahrenheit seines Opfers ausnützt. Natürlich
wollen wir nicht, dass das Knutschen des 15-Jährigen mit
der 13-Jährigen angezeigt werden muss.

Ein zweiter Punkt des Entwurfs ist die Erhöhung der
Strafrahmen zahlreicher Vorschriften. Wie Sie wissen,
habe ich mich im vergangenen Jahr an dieser Stelle dafür
ausgesprochen, den Grundtatbestand des sexuellen Miss-
brauchs vom Vergehen zum Verbrechen heraufzustufen. –
Herr Kollege, Sie sollten jetzt zuhören, damit Sie das spä-
ter auch bearbeiten können.


(Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Jawohl!)

Mein Ziel war es, auch diejenigen schweren Fälle des

sexuellen Missbrauchs als Verbrechen ahnden zu können,
die, weil kein Eindringen in den Körper vorliegt, als ein-
facher sexueller Missbrauch qualifiziert werden und des-
halb mit einem Strafmaß belegt sind, das unseres Erach-
tens deutlich zu niedrig ist. Die Folge der Qualifikation
zum Verbrechen wäre aber die Einführung eines minder-
schweren Falles. Denn darin sind wir uns auch mit der
Opposition einig: Nicht jeder sexuelle Missbrauch ist als
Verbrechen zu qualifizieren.

Die Praktiker haben mich in unseren Diskussionen da-
von überzeugt, dass der jetzt von uns gewählte Weg rechts-
technisch gesehen der bessere ist. Im vorliegenden Ge-
setzentwurf wird der Grundtatbestand des sexuellen
Missbrauchs mit einem Strafrahmen von sechs Monaten
bis zu zehn Jahren beibehalten. Künftig wird es aber keine
minderschweren Fälle des sexuellen Missbrauchs mehr
geben; diese Regelung streichen wir.

Neu eingeführt wurde dagegen in § 176 Abs. 3 Straf-
gesetzbuch der besonders schwere Fall des sexuellen
Missbrauchs mit einer Freiheitsstrafe von mindestens ei-
nem Jahr.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Damit erfassen wir vor allem die Fälle, die sich deutlich
vom Grundtatbestand des einfachen sexuellen Miss-
brauchs abheben, ohne dass aber schon die Voraussetzun-
gen des schweren Missbrauchs nach § 176 a Strafgesetz-
buch erfüllt werden. Gemeint sind also diejenigen Fälle,
bei denen es nach unserer Ansicht eine Regelungslücke
gab. Dabei geht es darum, dass beischlafähnliche Hand-
lungen stattfinden, ohne dass es zum Eindringen in den
Körper kommt. Entsprechend erhöhen wir beim schweren
sexuellen Missbrauch von Kindern, § 176 a, die heutige
Mindeststrafe von einem Jahr auf zwei Jahre.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1502206900

Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Röttgen?


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1502207000

Nein.

Bundesministerin Brigitte Zypries




Bundesministerin Brigitte Zypries

Der Vorteil dieser Regelung ist, dass die Ahndung von
Taten an der unteren Grenze der Strafbarkeit auch weiter-
hin flexibel gehandhabt werden kann. Es wird deshalb
– für Einzelfälle – die Einstellung des Verfahrens ebenso
zulässig bleiben wie der Strafbefehl, der dem Opfer das
Auftreten in der Hauptverhandlung erspart.

Für diese Lösung spricht ein Argument der Praktiker:
In den Fällen, in denen die Strafe zwischen sechs Mona-
ten und einem Jahr tat- und schuldangemessen ist, müssen
die Gerichte auch in Zukunft nicht wegen eines minder-
schweren Falles verurteilen, wie es, würde sich Ihre Vor-
stellung durchsetzen, der Fall wäre. Dies – so sagen die
Praktiker – legitimiert die Täter, nach dem Motto: Es war
ja gar nicht so schlimm; es ist ja nur ein minderschwerer
Fall. Dieses Argument sollten wir berücksichtigen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Zu einem weiteren Punkt, zu § 179 Strafgesetzbuch,

wo wir wie bei § 176 den Strafrahmen erhöhen: Der Bei-
schlaf mit einem widerstandsunfähigen behinderten
Menschen ist künftig ebenso sanktioniert wie eine Verge-
waltigung, nämlich mit zwei Jahren Mindeststrafe. Damit
wird einem seit vielen Jahren bestehenden Begehr der Be-
hindertenverbände endlich Rechnung getragen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ein weiterer Schwerpunkt des Entwurfs nimmt die
technische Entwicklung auf. Es geht um die Strafbarkeit
von Kinderpornographie im Internet. Dass dies nö-
tig ist, zeigen die Fallzahlen. Im Jahr 1996 waren es
663 Fälle, im Jahr 2001 bereits 2 745. Deshalb erhöhen
wir die Höchststrafe für den Besitz und die Besitzver-
schaffung von Kinderpornographie auf zwei Jahre statt
bisher einem Jahr.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Zahl der Computerbesitzer und derjenigen, die
über einen Internetzugang verfügen, nimmt stetig zu; dies
begünstigt den Handel mit kinderpornographischen Ab-
bildungen. Ich spreche hier insbesondere die Weitergabe
von Kinderpornographie in den so genannten geschlosse-
nen Benutzerräumen des Internets an. In diesen Fällen
werden die Gerichte künftig nicht mehr lediglich auf den
Besitz abstellen müssen und damit zu einem geringeren
Strafrahmen kommen; vielmehr können sie die Verbrei-
tung zugrunde legen. Insoweit haben wir den Tatbestand
erweitert. Damit kommen wir auch zu einem höheren
Strafmaß, denn bei der Weitergabe in geschlossenen Be-
nutzerräumen handelt es sich um nichts anderes als um
eine Verbreitung. Wir versprechen uns davon auch, dass
es durch eine Reduzierung der Nachfrage zu einem Rück-
gang der Produktion kommt, denn man muss sich immer
klarmachen: Jedem kinderpornographischen Foto ist ein
sexueller Missbrauch vorausgegangen. An dieser Stelle
müssen wir auch über solche Regelungen eingreifen.

Meine Damen und Herren, es ist Ihnen sicherlich auf-
gefallen, dass unser Entwurf die Frage der Sicherungs-
verwahrung für Heranwachsende nicht behandelt.


(Zuruf von der CDU/CSU: Richtig! Das ist uns sehr aufgefallen!)


Wir haben hierüber intensiv diskutiert. Ich will mit mei-
ner Einstellung dazu nicht hinter dem Berg halten: Wenn
das Gericht bei einem heranwachsenden Sexualtäter, der
nach Erwachsenenstrafrecht verurteilt wird, eine beson-
dere Gefährlichkeit für die Zukunft feststellt, dann sollte
es auch die Sicherungsverwahrung anordnen können.

Aber man muss eines im Auge behalten: Wir reden von
einer verschwindend geringen Anzahl von Fällen. 80 Pro-
zent der Heranwachsenden, die Taten gegen die sexuelle
Selbstbestimmung oder das Leben begehen, werden nach
Jugendstrafrecht verurteilt; also sprechen wir von 15 bis
20 Prozent. Diese müssen weitere Voraussetzungen erfül-
len, denn sie müssen erhebliche Vortaten begangen haben
und in Zukunft, auch über die Strafverbüßung hinaus, ge-
fährlich sein. Es betrifft also nur eine ausgesprochen ge-
ringe Zahl von Menschen. Allerdings sollten wir uns die-
ser Option nicht begeben und uns bemühen, zu einer
vernünftigen Lösung zu kommen. Ich rege an, dass wir
diesen Punkt in der Sachverständigenanhörung besonders
intensiv diskutieren werden; darüber waren wir uns einig.

Meine Damen und Herren, ich möchte mich an dieser
Stelle ganz herzlich bei den Abgeordneten Stünker und
Montag bedanken, mit denen wir intensive Gespräche ge-
führt haben, ebenso wie mit den anderen Mitgliedern der
Arbeitsgruppe, denen gleichfalls mein Dank gilt. Die Her-
ren werden sicherlich zu den von mir jetzt aus Zeitgrün-
den nicht erwähnten Punkten dieses Gesetzes weitere
Ausführungen machen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1502207100

Ich gebe das Wort dem Kollegen Norbert Röttgen zu

einer Kurzintervention.


Dr. Norbert Röttgen (CDU):
Rede ID: ID1502207200

Es wird eine kurze Kurzintervention sein. – Es ist Ihr

gutes Recht, Frau Ministerin, Zwischenfragen nicht zuzu-
lassen, wenngleich ich das immer bedaure, weil die De-
batte ja auch vom Dialog und davon lebt, dass man auf Ar-
gumente eingeht.

Ich habe mich an der Stelle gemeldet, an der Sie sich
zu der Frage äußerten, ob sexueller Missbrauch von Kin-
dern Vergehen oder Verbrechen sein soll, was mit unter-
schiedlichen strafrechtlichen Konsequenzen verbunden
wäre. Ich wollte eine Frage vor dem Hintergrund eines
Interviews stellen, das Sie erst im letzten Monat, im De-
zember 2002, im „Focus“ gegeben haben. Dort wurden
Sie nach bestehenden Lücken in der Verfolgung von Ta-
ten gefragt; solche Lücken haben Sie festgestellt und ge-
sagt, darum müsse es zu Änderungen kommen. Dann sind
Sie nach Beispielen für Änderungen und für nicht erfass-
te Tatbestände gefragt worden. Ich zitiere jetzt:

Zypries: Dazu gehören die versuchte Anstiftung zu
sexuellen Handlungen mit Kindern und die Verab-
redung von entsprechenden Taten. Wenn man das
strafbar machen will, muss man den sexuellen Miss-
brauch von Kindern im Gesetz grundsätzlich vom
Vergehen zum Verbrechen hochstufen.


(A)



(B)



(C)



(D)


1724


(A)



(B)



(C)



(D)






Gerade dies ist mit Ihrem jetzigen Gesetzentwurf nicht er-
folgt. Der Grundfall des sexuellen Missbrauchs bleibt
Vergehen. Darum meine Frage an Sie: Haben Sie inner-
halb dieser kurzen Zeit Ihre Meinung geändert oder konn-
ten Sie sich mit Ihrer Meinung nicht durchsetzen?


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1502207300

Frau Ministerin, Sie können auf diese Kurzintervention

antworten.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1502207400

Herr Abgeordneter, ich habe dargestellt, dass ich meine

Auffassung geändert habe. Ich habe in meiner Rede aus-
drücklich erwähnt, dass ich das getan habe. Ich habe
außerdem gesagt, dass wir dasselbe Regelungsziel errei-
chen, das ich erreichen wollte.

Ich habe nicht erwähnt – das liegt an der Kürze der ver-
fügbaren Zeit; es kann noch ergänzt werden –, dass wir die
beiden Punkte, die sich daraus ergeben, dass wir die Tat
zum Verbrechen hochstufen, gesondert als Straftatbestand
geregelt haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1502207500

Herr Kollege Götzer, nun haben Sie das Wort.


Dr. Wolfgang Götzer (CSU):
Rede ID: ID1502207600

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Jetzt ist der mit Spannung erwartete Entwurf der Regie-
rungskoalition zum Sexualstrafrecht also endlich da. Man
ist versucht zu sagen: Allein schon die Tatsache, dass sich
jetzt endlich etwas tut, ist ein Fortschritt, nachdem sich
Rot-Grün bisher zu keinen nennenswerten Maßnahmen
durchringen konnte und beispielsweise den Gesetzent-
wurf des Bundesrats dazu in der 14. Wahlperiode abge-
lehnt hatte. Aber jetzt hat man es sehr eilig. Erst vor zwei
Tagen wurde der Entwurf vorgestellt und heute behandeln
wir ihn bereits in erster Lesung.

Zum wesentlichen Inhalt des rot-grünen Gesetzent-
wurfs: Wenn man die Übersicht auf den ersten Seiten an-
sieht, gewinnt man den Eindruck: Hier tut sich wirklich et-
was. In der Tat fallen die Strafverschärfungen im Bereich
des Sexualstrafrechts, die der Entwurf der Koalition vor-
sieht, grundsätzlich positiv auf. Hier nähert sich Rot-Grün
zumindest in Teilen den Positionen der Union an bzw.
übernimmt sie sogar.

So folgt der Koalitionsentwurf dem Vorschlag der
Union, einen spezifischen Tatbestand „Anbieten von
Kindern für sexuelle Handlungen“ zu schaffen. Denselben
Vorschlag hatte bereits ein bayerischer Gesetzentwurf im
Jahr 1998 enthalten.

Dass die Kinderpornographie ein eigener Straftatbe-
stand mit höheren Strafen wird, findet unsere Zustim-
mung.

Wir begrüßen auch grundsätzlich, dass nach dem Ko-
alitionsentwurf gemäß dem neu gefassten § 81 g Abs. 1

Nr. 2 StPO die DNA-Analyse künftig bei allen Straftaten
gegen die sexuelle Selbstbestimmung erlaubt werden soll.
Dies ist ein Schritt in die richtige Richtung, aber das wird
leider nicht konsequent zu Ende geführt, sodass es kaum
Wirkung zeigen wird. Zum einen nimmt der Koalitions-
entwurf bei den Anlasstaten lediglich die in den §§ 174 ff.
StGB festgelegten Tatbestände auf. Andere Delikte, die
ebenfalls einen sexuellen Hintergrund haben können, zum
Beispiel tätliche Sexualbeleidigungen und andere sexuelle
Belästigungen, werden damit immer noch nicht erfasst.


(Joachim Stünker [SPD]: Und Kaufhausdiebstahl!)


Zum anderen darf nach dem Koalitionsentwurf eine
DNA-Analyse nur dann erfolgen, wenn die Sozialpro-
gnose ergibt, dass von dem Straftäter künftig Straftaten
von erheblicher Bedeutung zu erwarten sind.


(Joachim Stünker [SPD]: Das verlangt die Verfassung von uns!)


Damit fällt der Grundtatbestand des Kindesmissbrauchs,
der nach dem Koalitionsentwurf weiterhin lediglich als
Vergehen und nicht als Verbrechen eingestuft wird, aus
diesem Raster heraus.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist falsch!)


Rot-Grün weigert sich damit nach wie vor, die DNA-Ana-
lyse im Kampf gegen den sexuellen Missbrauch von Kin-
dern konsequent einzusetzen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Unser Entwurf war insofern wesentlich umfassender und
erfasste alle Formen von sexuellen Vergehen.

Positiv festzustellen ist zunächst auch, dass der Koali-
tionsentwurf – Frau Ministerin, Sie haben es ausführlich
dargestellt – die Nichtanzeige von bestimmten Sexual-
delikten unter Strafe stellt.


(Joachim Stünker [SPD]: Das haben Sie ganz vergessen!)


Diese an sich begrüßenswerte Neuerung wird aber durch
die ebenfalls geplante Änderung des § 139 StGB wieder
so weit eingeschränkt, dass sie praktisch kaum Wirkung
zeigen wird.


(Joachim Stünker [SPD]: Das haben Sie nicht verstanden!)


– Ich glaube, die Verfasser haben das nicht verstanden oder
nicht gewollt. – Die von Rot-Grün geplante Änderung des
§ 139 StGB sieht nämlich vor, die Nichtanzeige von
Straftaten für eine Vielzahl von Personen- oder Berufs-
gruppen wie Ehe-, Familien-, Erziehungs- oder Jugend-
berater straflos zu stellen. Das sind aber gerade die Grup-
pen, die etwas wissen können und damit zur Aufklärung
von Sexualdelikten beitragen können und müssten.

Ein ganz schwerer Mangel des Koalitionsentwurfs ist,
dass der Grundfall des sexuellen Missbrauchs von Kin-
dern, also der Kinderschändung, weiterhin lediglich als
Vergehen und nicht als Verbrechen eingestuft wird. Ver-
ehrte Kolleginnen und Kollegen, es kann doch nicht sein,
dass der Kindesmissbrauch rechtlich auf dieselbe Stufe
wie etwa Hausfriedensbruch oder Beleidigung gestellt

Dr. Norbert Röttgen




Dr. Wolfgang Götzer
wird! Der derzeitige Strafrahmen für sexuellen Miss-
brauch von Kindern entspricht lediglich dem für Woh-
nungseinbruchdiebstahl.


(Jörg van Essen [FDP]: Ja, das ist auch daneben!)


Die im Koalitionsentwurf vorgesehene Schaffung ei-
nes schweren Falls des Kindesmissbrauchs genügt hierbei
nicht. Zwar führt dies zu einer Strafverschärfung – das ist
unbestritten –, aber gemäß § 12 Abs. 3 StGB führt das
eben nicht zur Einstufung als Verbrechen mit den ent-
sprechenden Konsequenzen. Der Entwurf der Unions-
fraktion vermeidet diese Falschgewichtungen, indem er
die Grundfälle des Kindesmissbrauchs konsequent als
Verbrechen ausgestaltet.

Verehrte Frau Justizministerin, Sie hatten sich erfreu-
licherweise im Vorfeld mehrfach dafür ausgesprochen,
den Kindesmissbrauch als Verbrechen auszugestalten. Es
ist sehr bedauerlich, dass Sie sich damit in der Koalition
offensichtlich nicht durchsetzen konnten.

Ein Punkt in diesem Gesetzentwurf, der von Rot-Grün
in der Hoffnung auf Wirkung in der Öffentlichkeit als Ver-
schärfung des Sexualstrafrechts präsentiert wird, ist völ-
lig unverständlich.


(Zuruf des Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


– Herr Kollege Ströbele, Sie sagen selber, dass das ver-
kehrt ist, wenn ich Sie richtig verstanden habe. Das ist
auch unsere Einschätzung. Wenn man das als eine Ver-
schärfung des Sexualstrafrechts verkauft, dann ist das
eine Mogelpackung.


(Beifall bei der CDU/CSU – Joachim Stünker [SPD]: Na, na!)


Ich nenne ein Beispiel: § 176 a Abs. 1 Nr. 4 StGB soll
gestrichen werden. Damit würde der Täter, der wiederholt
Kinder schändet, künftig nicht mehr als Verbrecher, son-
dern nur noch wegen eines Vergehens bestraft werden.


(Joachim Stünker [SPD]: Das stimmt doch gar nicht!)


Bei einem so zentralen Punkt des Vorhabens schwächt
Rot-Grün den Strafrechtsschutz von Kindern also sogar
noch ab.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben den Entwurf nicht gelesen!)


– Ich habe den Entwurf sehr genau gelesen, Herr Kollege.
Lesen Sie es nach: Sie haben den Kindesmissbrauch nicht
hochgestuft. Das ist ein schwerer Mangel in diesem Ent-
wurf.

Leider unterlässt es der Entwurf der Regierung auch, die
Telekommunikationsüberwachung nach § 100 a StPO
auf alle Fälle des sexuellen Missbrauchs von Kindern aus-
zudehnen. Wir wissen, besonders bei der Anbahnung von
Kindesmissbrauch werden immer häufiger Telekommuni-
kationsmittel eingesetzt. Auf die Verabredung im Internet
folgt in der Regel ein Telefonat. Wir brauchen also die
Überwachung der Telekommunikation, weil sie sich als ef-
fizientes Mittel im Kampf gegen Straftaten erwiesen hat.
Wir dürfen sie gerade in diesem Bereich nicht einschränken.

Dass Rot-Grün weiterhin auf der bisherigen Regelung
beharrt, zeigt, dass der Täterschutz offensichtlich noch
immer Vorrang vor dem Opferschutz hat.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Herr Götzer, was soll denn das?)


– Das ist leider die Wahrheit.

(Joachim Stünker [SPD]: Das ist doch unter Ihrem Niveau, Herr Götzer!)

Besonders deutlich zeigt sich dies vor allem aber da-

ran, dass im Gesetzentwurf der Regierungskoalition die
nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung
wieder nicht enthalten ist. Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, auch weiterhin hält die Regierung also an der von ihr
in der letzten Wahlperiode halbherzig beschlossenen Vor-
behaltslösung fest. Damit wird es nach dem Willen dieser
Regierung auch künftig kein wirksames Mittel geben, ei-
nen Täter, dessen Gefährlichkeit erst im Strafvollzug zu-
tage tritt, in Sicherungsverwahrung zu nehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Verehrte Frau Ministerin, Sie haben gesagt, das beträfe

nur wenige Fälle. Das ist doch ein etwas befremdendes
Argument, wenn es um Menschenleben geht. In der Tat
hätten Menschenleben gerettet werden können, wenn es
wirksame Regelungen zur Wegschließung von solchen
hochgefährlichen Straftätern gegeben hätte.


(Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist die Unwahrheit, Herr Kollege!)


Es ist hoch an der Zeit, dass diese Lücke endlich beseitigt
wird.

Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Insgesamt
zeigt also der heute in erster Lesung diskutierte Entwurf,
dass sich die Koalition in einigen Fragen unserer Position
angenähert hat. In vielen und wesentlichen Punkten aber
verweigert sie sich – wohl auf Druck der Grünen – weiter-
hin den zum Schutz der Kinder vor Sexualverbrechen not-
wendigen Maßnahmen. Wir geben aber die Hoffnung
nicht auf, dass Sie, verehrte Frau Ministerin, sich im Ver-
lauf der Beratungen doch noch gegen die Bremser in Ih-
rer Koalition durchsetzen können.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
stimmen Sie dem Gesetzentwurf der CDU/CSU zu – im
Interesse eines bestmöglichen Schutzes der Bevölkerung
und vor allem unserer Kinder vor Sexualverbrechen.

Ich bedanke mich.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1502207700

Nächster Redner ist der Kollege Jerzy Montag, Bünd-

nis 90/Die Grünen.


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502207800

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren! Lieber Kollege Götzer, auch wir geben die Hoff-
nung nicht auf, dass wir bei der Debatte über das Sexual-
strafrecht, also bei den weiteren Beratungen dieses Ge-


(A)



(B)



(C)



(D)


1726


(A)



(B)



(C)



(D)






setzeswerks, zu einer rationalen und an den Interessen der
Opfer ausgerichteten Diskussion kommen werden, und
zwar – ich sage das ganz klar und deutlich – auch mit der
Opposition und mit Ihnen.

Es gab erstaunlich wenig Polemik, wenn Sie sich auch
nicht jede verkneifen konnten. Wenn ich mir diese weg-
denke, glaube ich aufgrund vieler Punkte – dies ist ein
gutes Zeichen für die Arbeit im Rechtssauschuss und für
den weiteren Gesetzgebungsgang –, dass wir uns viel-
leicht doch auf ein gemeinsames Gesetz werden ver-
ständigen können, insbesondere dann, wenn Sie es sich in
Zukunft verkneifen, populistischen Neigungen nachzu-
geben,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


also zum Beispiel zu glauben, Sie könnten durch Strafver-
schärfungen in Einzelfällen mögliche Opfer tatsächlich
davor schützen, Opfer zu werden. So simpel und einfach
läuft Strafgesetzgebung nicht. Man kann Opferschutz
nicht ausschließlich über höhere Strafen betreiben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Wolfgang Götzer [CDU/ CSU]: Wer sagt das?)


– Das sagen Sie, indem Sie an erster Stelle und sich nur
darauf beziehend an den Vorschlägen der Koalition
geißeln, dass wir mit den Strafverschärfungen nicht weit
genug gehen würden. Ich werde Ihnen dies anhand des
§ 176 des Strafgesetzbuches und den guten Gründen,
warum wir hier nicht zu einem Verbrechenstatbestand ge-
kommen sind, noch zu beweisen versuchen.

Ich freue mich ganz besonders – die Frau Ministerin
Zypries hat darauf hingewiesen –, dass wir heute nicht nur
über den Gesetzentwurf der Koalition reden, sondern dass
wir auch den Aktionsplan zum Schutz von Kindern und
Jugendlichen vor sexuellem Missbrauch und Ausbeutung
mitdiskutieren können. Ich danke dafür ganz ausdrück-
lich. Dies ist ein Beweis dafür, dass die Koalition beim
Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller
Gewalt eben nicht ausschließlich ans Strafrecht denkt,
sondern auch an viel wirksamere Mittel, die Kinder und
Jugendliche tatsächlich schützen können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Jörg van Essen [FDP])


Aufklärung, Sensibilisierung der Gesellschaft, Arbeit
mit Jugendlichen, Schaffen von Anlaufstellen, von Bera-
tungsstellen und – das sage ich ganz bewusst – auch eine
gesellschaftliche Ächtung des sexuellen Missbrauchs sind
mindestens genauso gute Elemente wie das Mittel des
Strafrechts, wobei ich nicht sage, dass das Strafrecht keine
Rolle spielt. Es muss aber eingebettet werden. Es muss
auf Rationalität abgeklopft werden. Das haben wir mit
diesem Gesetzentwurf versucht.

Dieser Gesetzentwurf, meine Damen und Herren von
der Opposition, ist rational. Er sieht Strafverschärfungen
nur da vor, wo sie wirklich erforderlich sind, und auch hier
nur in einem angemessenen Umfang. Er ist durchdacht
und schließt Strafbarkeitslücken, er beseitigt bestehende

Widersprüche zwischen den Strafnormen. Der Gesetzent-
wurf ist verantwortungsbewusst, denn er berücksichtigt
die berechtigten Interessen der Opfer.

Ich will an dieser Stelle nicht eine fruchtlose und end-
lose Debatte über die generalpräventive Wirkung des
Strafrechts führen. Es ist klar, dass einzelfallbezogen die
generalpräventive Wirkung gering ist. Trotzdem hat das
Strafgesetz generalpräventive Wirkungen und im Sinne
einer Normsetzung, die fragt, was wir unter Strafe stellen
wollen und welches Verhalten wir für strafwürdig halten,
durchaus eine Bedeutung. Deswegen unterstützen wir
auch die Gedanken, die dahin gehen, dass sich die Ver-
werflichkeit der Tat auch im Strafmaß ausdrücken muss.

Aus diesen Gründen haben wir auch zugestimmt, dass
man beim sexuellen Missbrauch von Kindern und anderen
vergleichbaren Vorschriften dieses Abschnittes die Geld-
strafe gestrichen hat. Denn die Geldstrafe ist ein Signal
für eine etwaige Bagatelltat.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Diese Abschaffung halten wir für richtig und haben wir
unterstützt. In Richtung FDP sage ich: Dies ist keine heiße
Luft, sondern hier geht es wirklich um die Frage, ob wir
in der Öffentlichkeit und gegenüber der Gesellschaft sa-
gen: Kindesmissbrauch ist eine Straftat, die man auch mit
einer Geldstrafe aus der Welt schaffen kann. – Wir halten
dies für nicht richtig. Darüber hinaus geht es uns auch da-
rum, zu zeigen, dass die Herstellung und Verbreitung von
Kinderpornographie – gerade durch das Internet geschieht
das in hohem Maße – keine Bagatelle ist.

Wir sind dafür, auch die Zahl der minderschweren
Fälle, wenn es um sexuellen Missbrauch geht, zu redu-
zieren,


(Zuruf von der CDU/CSU: Und zu streichen!)

weil das Opferschutz bedeutet. Wir haben die minder-
schweren Fälle aus einigen Grundtatbeständen herausge-
nommen, und zwar ganz bewusst, weil wir der Meinung
sind, dass sich die Opfer, wenn sie mit den Straftaten, die
ihnen angetan werden, schon in der Öffentlichkeit stehen,
nicht auch noch damit auseinander setzen müssen, dass
das, was ihnen geschehen ist, nur ein minderschwerer Fall
und folglich nicht so schlimm sei. Die Opfer empfinden
es als eine ganz besonders schlimme Tat gegen sie selbst.

Wir fordern Strafen, die, ganz besonders bei Straftaten
im sozialen Nahraum, in der Konsequenz die Opfer nicht
verängstigen und zum Schweigen bringen. Das ist dann
der Fall – das übersehen Sie von der Opposition –, wenn
Sie schon den Grundtatbestand des sexuellen Miss-
brauchs zu einem Verbrechen hochstilisieren. Daraus er-
gibt sich nämlich als Folge, dass keine flexible Antwort
der Justiz auf bestimmte Straftaten möglich ist.


(Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/ CSU]: „Stilisieren“? Das ist unglaublich! Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Deswegen wollen wir die minderschweren Fälle lassen!)


– Das habe ich verstanden. Aber auch durch Ihre Einwürfe
wird Ihre Argumentation nicht besser. Nehmen Sie zur
Kenntnis, Herr Götzer: Das, was Sie in Ihrem Beitrag als ei-
nen Fall der „Kinderschändung“, als sexuellen Missbrauch

Jerzy Montag




Jerzy Montag
von Kindern bezeichnet haben, umfasst im Straftatbe-
stand viel mehr als das, was Sie damit zum Ausdruck brin-
gen wollen und was ich mit Ihnen teile. Es gibt Fälle mit
großem Altersunterschied, bei denen Erwachsene, meis-
tens Männer, kleine Kinder sexuell in einem Ausmaß miss-
brauchen, ohne dass es zu einer Vergewaltigung kommt,
ohne ein Eindringen in den Körper, das in hohem Maße
strafwürdig ist. Der sexuelle Missbrauch von Kindern
nach § 176 StGB umfasst allerdings auch das Petting ei-
ner 15-Jährigen mit einem 13-Jährigen. Wir halten es für
falsch, einen solchen Sachverhalt, nämlich die Sexualer-
fahrung von Jugendlichen diesseits und jenseits der
Schwelle des 14. Lebensjahres, pauschal zu einem Ver-
brechen zu stigmatisieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Wolfgang Götzer [CDU/ CSU]: Dafür haben wir doch den minderschweren Fall, Herr Kollege!)


Deswegen sage ich Ihnen: Wenn Sie sich von Ihren
Vorbehalten lösen und versuchen, den Text vernünftig zu
lesen, dann werden Sie merken, dass das, was Sie haben
wollen, in der Lösung, die wir gefunden haben, enthalten
und in dem Entwurf der Koalition weitestgehend erfüllt
ist. Wir werden darüber im Einzelnen noch im Ausschuss
zu sprechen haben. Sie werden feststellen: Wir liegen in
der Sache nicht so weit auseinander, wenn Sie nur den
Versuch aufgeben, in der Öffentlichkeit mit solchen For-
derungen nach Verbrechenstatbeständen und mit Begrif-
fen wie „Kinderschändung“ Punkte machen zu wollen.
Das ist der Punkt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Diskutieren Sie mit uns über die Sache. Dann werden Sie
mit uns zu einem gemeinsamen Ergebnis kommen kön-
nen.

Ich komme zum § 138 StGB und zur Nichtanzeige ge-
planter Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung.
Dies wird jetzt von uns unter Strafe gestellt. Wir wollen
– Frau Ministerin hat darauf hingewiesen –, dass diejeni-
gen zum Beispiel aus der Nachbarschaft, die auf die eine
oder andere Weise von einem sexuellen Missbrauch von
Kindern erfahren und einfach wegschauen wollen, dies
nicht können. Sie werden nicht mehr sagen können: Was
interessiert mich das? Das bringt mir mit der Justiz nur
Ärger ein. Damit will ich nichts zu tun haben. – Diese Än-
derung ist ein Signal, das ich für richtig halte. Dem kön-
nen wir, wie ich glaube, folgen.

Wir haben, damit das Gesetz vernünftig und rational
ist, aber auch die entsprechenden Schranken eingesetzt.
Wenn Sie das Gesetz genau lesen, dann werden Sie nichts
dagegen sagen können, dass wir bestimmte Berufsgrup-
pen von einer strafbewehrten Anzeigepflicht ausgenom-
men haben. Wir haben diese Gruppen aber nicht von einer
Beistandspflicht ausgenommen. Sie bleiben verpflichtet,
sich aus ihrem Arbeitsfeld heraus darum zu bemühen, und
zwar effektvoll, weiteren sexuellen Missbrauch zu ver-
hindern. Sie sollen dazu beitragen, dass sich solche
Straftaten nicht fortsetzen. Wir haben sie mit gutem
Grund aus der strafbewährten Anzeigepflicht herausge-
nommen, weil wir der Meinung sind, dass wir damit mehr

Gutes als Schlechtes tun. Damit erreichen wir nämlich,
dass sich die Opfer, Kinder, an diese Gruppen wenden
können und dass ein Vertrauensverhältnis geschaffen
wird. Wir wollen einen Raum dafür schaffen, dass Opfer-
schutz auch tatsächlich ausgeübt werden kann.

In der Redezeit, die mir verbleibt, möchte ich noch
einen weiteren Punkt ansprechen. Es geht um den Opfer-
schutz für behinderte und widerstandsunfähige Perso-
nen. Nach jahrelangen Diskussionen, in denen das offen-
sichtlich nicht gelungen ist, haben wir jetzt endlich einen
Gesetzentwurf vorlegen können, in dem der Unterschied
zwischen der Vergewaltigung auf der einen Seite und den
Beischlafhandlungen mit widerstandsunfähigen Personen
auf der anderen Seite vom Strafgesetz auf die gleiche
Ebene gestellt wird.

Es gibt Unterschiede: Bei der Vergewaltigung gibt es die
Gewaltfrage, die es bei den Beischlafhandlungen mit wi-
derstandsunfähigen Personen nicht gibt. Auf der anderen
Seite gibt es dafür ein höheres Maß an Verwerflichkeit, weil
eine entsprechende Situation ausgenutzt wird. Das Straf-
gesetzbuch kennt so etwas zum Beispiel in § 243 Abs. 1
Nr. 6, wonach der Diebstahl bei widerstandsunfähigen,
hilflosen Personen sehr wohl straferschwerend wirkt.


(Jörg van Essen [FDP]: So ist es, genau!)

Auf der einen Seite steht also die Gewaltfrage und auf der
anderen Seite steht die Verwerflichkeit der Ausnutzung ei-
ner hilflosen Lage als ein straferschwerendes Moment.
Deswegen sagen wir, dass die Vergewaltigung nach § 177
Strafgesetzbuch und der Beischlaf mit widerstandsun-
fähigen Personen gleich behandelt werden sollen. Hier
soll der gleiche Strafrahmen gelten.

Die DNA-Analyse ist schon angesprochen worden.
Dazu möchte ich nur ein Wort sagen: Es ist nicht so, dass
sich die Anlasstat bei einer negativen Prognose auf der glei-
chen Ebene wiederholen kann. Die Anlasstat kann jedes
Vergehen gegen die sexuelle Selbstbestimmung sein. Bei
der Frage der Negativprognose muss es sich um erhebliche
Straftaten handeln. Sie gehen fehl, wenn Sie sagen, dass ein
sexueller Missbrauch von Kindern keine schwerwiegende
Straftat ist. Natürlich ist sie das im Sinne des § 81 g Straf-
prozessordnung. Daran haben wir nichts geändert.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1502207900

Herr Kollege Montag, Ihre Redezeit ist schon deutlich

überschritten.


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502208000

Ich will nur ein Letztes sagen: Über die Frage der

Sicherungsverwahrung von Heranwachsenden werden
wir uns im Rechtsausschuss im Einzelnen noch unterhal-
ten müssen. Wir werden Ihnen unsere Bedenken dazu vor-
tragen. Im Übrigen denke ich, dass der Gesetzentwurf der
Koalition die richtige Antwort auf die Probleme, die im
Sexualstrafrecht bestehen, ist. Deswegen bitte ich um Zu-
stimmung zu unserem Entwurf.

Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



(A)



(B)



(C)



(D)


1728


(A)



(B)



(C)



(D)







Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1502208100

Nächster Redner ist der Kollege Jörg van Essen, FDP-

Fraktion.


Jörg van Essen (FDP):
Rede ID: ID1502208200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Kollege Montag, wir führen ja die erste Lesung
durch, weshalb es nicht um die Frage der Zustimmung
zum Gesetzentwurf, sondern um eine erste Bewertung
dessen, was Sie vorgelegt haben, geht.

Vor einigen Wochen konnten wir in einem Hamburger
Nachrichtenmagazin die Geschichte lesen, dass ein
Kunsterzieher in einer niedersächsischen Stadt offen-
sichtlich über 30 Jahre hinweg männliche Jugendliche se-
xuell missbraucht hatte, ohne dass diese Tatsache in den
30 Jahren irgendwann einmal zur Sprache gekommen und
diesem Täter das Handwerk gelegt worden ist. Erst vor
wenigen Monaten ist es durch Jugendliche, die miss-
braucht worden sind, zur Anzeige gekommen.

Das macht Folgendes deutlich: Der Schwerpunkt der
Überlegungen bezüglich der notwendigen Verhinderung
von sexuellem Missbrauch muss darin liegen, Kinder und
Jugendliche, die Opfer sind, in ihrer Bereitschaft zu stär-
ken, diese Taten anzuzeigen und sich dagegen zu wehren.


(Beifall bei der FDP, der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich habe bereits in einer Debatte, die wir dazu vor einigen
Monaten geführt haben, erklärt, dass für uns Liberale ein-
deutig dort der Schwerpunkt liegt.

Es hat mich gefreut, dass Sie, Frau Ministerin, aber
auch einige meiner Vorredner dies heute angesprochen
haben. Ich habe es bedauert, dass der Aspekt, Kinder stär-
ker zu machen, beim Kollegen Götzer von der CDU/CSU
leider überhaupt keine Rolle gespielt hat.


(Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Doch!)

Ich bin aber sicher – das habe ich auch Ihrem Beifall ent-
nommen –, dass wir in diesem Punkt nicht auseinander
sind.


(Joachim Stünker [SPD]: Sehr gut!)

Deshalb sollten wir das praktizieren, was wir in diesen

Fragen in der Vergangenheit aus gutem Grunde praktiziert
haben: sachlich und fair zu prüfen und das umzusetzen,
was wirklich zu einem Fortschritt führt.


(Beifall des Abg. Joachim Stünker [SPD])

Ich will für die FDP deutlich signalisieren, dass es auch
unser Interesse ist, dies zu tun. Sie werden unsere Unter-
stützung für alle Maßnahmen bekommen, bei denen es
wirklich einen Fortschritt in unserem Bemühen gibt, se-
xuellen Missbrauch von Kindern so weit wie möglich zu
verhindern.

Ich weiß, dass wir die Fragen, die auch heute wieder
zur Diskussion stehen, in den vergangenen Jahren sehr
häufig diskutiert haben. Trotzdem sage ich: Wir sind in
der Verpflichtung, alle aufgeworfenen Fragen immer wie-
der neu zu prüfen. Wenn neue vernünftige Argumente vor-

getragen werden, dann müssen wir möglicherweise zu ei-
ner anderen Antwort kommen, als das vor zwei oder drei
Jahren der Fall war.

Dazu tragen natürlich auch technische Entwicklungen
bei. Sie, Frau Ministerin, haben vorhin ein Beispiel ge-
nannt. Dadurch, dass immer mehr Menschen Zugang zum
Internet haben, ergibt sich ganz automatisch, dass zum
Beispiel Kinderpornographie im Internet einen völlig an-
deren Stellenwert hat, als das noch vor mehreren Jahren der
Fall war. Darauf gehört eine strafrechtliche Antwort. Wenn
wir sehen, dass zu diesem Punkt im Strafrecht Lücken sind,
muss selbstverständlich dafür gesorgt werden, dass diese
Lücken geschlossen werden. Wir sind dazu bereit.

Im Übrigen erleben wir, dass in einem Bereich große
technische Fortschritte gemacht werden, nämlich bei der
Auswertung von Gendaten. Immer wieder können wir le-
sen, dass beispielsweise Morde, die vor vielen Jahren ge-
schehen sind, durch die Fortschritte in der Gentechnik
aufgeklärt werden. Das ist gut so. Deshalb sind wir auch
im Bereich der stärkeren Nutzung von Gentechnik offen
für Gespräche.

Ich will mich nicht zum Anwalt von Tätern machen.
Wer weiß, dass ich von Haus aus Oberstaatsanwalt bin,
dem ist klar, dass ich meinen Beruf verfehlt hätte, wenn
das so wäre.


(Joachim Stünker [SPD]: Sie sind unverdächtig!)


Trotzdem will ich in dieser ersten Debatte ein paar Fragen
in die Diskussion stellen. Der Strafrahmen soll erweitert
werden. Einen Punkt, den Sie angesprochen haben, halte
ich tatsächlich für nachdenkenswert, Herr Montag, näm-
lich dass eine Geldstrafe kleinere und mittlere Krimina-
lität signalisiert. Wir besitzen durchaus das Instrumenta-
rium, auch kleineren Fällen gerecht zu werden. Deshalb
finde ich es nachdenkenswert, in diesem Bereich auf
Geldstrafe zu verzichten, weil das ein falsches Signal
wäre.

Wenn wir aber den Strafrahmen erweitern, wenn wir
schärfere Strafen, so wie sie in der Bevölkerung nach
Sexualstraftaten immer gefordert werden, in das Gesetz
hineinschreiben, dann müssen wir dazu sagen, dass wir
als Gesetzgeber keinerlei Möglichkeiten haben, dafür zu
sorgen, dass diese schärferen Strafen verhängt werden.
Das ist eine Entscheidung des Richters. Wir sollten nicht
den Eindruck erwecken, dass wir für schärfere Strafen
sorgen könnten. Wofür wir sorgen und wofür wir das Be-
wusstsein schärfen können, ist, dass Richter diese Ange-
legenheit nicht als Bagatelle ansehen. Ein Beispiel dafür
habe ich gerade genannt. Herr Montag hat es ausgeführt.
Ich brauche es nicht noch einmal zu tun.

Ich habe aber das Gefühl – auch das will ich in dieser
Debatte ansprechen –, dass im Regelfall Gott sei Dank im
Bereich des sexuellen Missbrauchs von Kindern harte
Strafen verhängt werden. Aus diesem Grunde werden wir
sorgfältig prüfen, ob wir tatsächlich zu einer Verbesserung
der Situation kommen.

Ich möchte noch einen anderen Punkt mit einem Fra-
gezeichen versehen. Ich möchte wie die Ministerin, die
Koalition und die gesamte Opposition, dass Menschen




Jörg van Essen
Straftaten früher anzeigen. Ich möchte sie dazu ermuti-
gen, dies zu tun. Ob wir das allerdings mit einem Straftat-
bestand erreichen, möchte ich als fraglich ansehen. Die
Menschen sind natürlich in einer Zwickmühle. Sagen sie
zu früh etwas, wird möglicherweise der strafrechtliche
Vorwurf der falschen Verdächtigung erhoben. Auf der
anderen Seite besteht die Gefahr, dass sie etwas nicht an-
zeigen. Ob hier aber das Schwert des Strafrechts richtig
ist, erscheint mir fraglich.

Wir sind für die Argumente offen, die in der Diskussion
vorgebracht werden. Der bisherigen Debatte habe ich ent-
nommen, dass wir alle den Wunsch haben, auf dem Weg,
Kinder besser zu schützen, ein Stück voranzukommen.
Wir werden dabei helfen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1502208300

Nächste Rednerin ist die Kollegin Michaela Noll,

CDU/CSU-Fraktion.


Michaela Tadjadod (CDU):
Rede ID: ID1502208400

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!

Der Umgang mit Sexualität stellt jede Gesellschaft auf die
Probe. Umgang mit Sexualstraftaten ist die Zerreißprobe.
„Wegschließen, und zwar für immer“ lautet ein Zitat ei-
nes Juristen: von keinem Geringerem als dem Bundes-
kanzler Schröder. Eine umstrittene Äußerung – unsach-
lich, aber medienwirksam.

Was wollen wir eigentlich? – Wir wollen eine von Hu-
manität und christlichen Werten geprägte Gesellschaft,
die den Straftäter menschlich behandelt. Insoweit muss
sie zwingend auch den Sexualstraftäter menschlich be-
handeln. Wir haben aber alle die Erfahrung machen müs-
sen, dass gerade Sexualstraftäter immer wieder rückfällig
wurden und neue Opfer schufen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht an ihren Wor-
ten, sondern an ihren Taten sollt ihr sie erkennen. Bis vor-
gestern tat sich gar nichts. Aber das hat sich buchstäblich
über Nacht geändert.


(Jörg van Essen [FDP]: Die christlich-liberale Koalition hat enorme Fortschritte gemacht!)


Der Entwurf der Koalitionsfraktionen liegt nun vor. In
einzelnen Vorschlägen finden wir von der Union uns wie-
der. Das gibt Hoffnung.

Die Vorgehensweise allerdings spricht nicht dafür, dass
Sie tatsächlich an einer konstruktiven Zusammenarbeit
mit der Union interessiert sind. Wie lässt es sich sonst er-
klären, dass der Gesetzentwurf erst dpa vorgelegt wurde?


(Joachim Stünker [SPD]: Stimmt doch gar nicht!)


Nahe liegend wäre es, zu vermuten, dass es Ihnen auch
hier nicht um die Sache, sondern nur um den Applaus in
der Öffentlichkeit geht. Ist vielleicht der 2. Februar der

Grund? Das ist kein guter parlamentarischer Stil, generell
nicht und schon gar nicht in diesen speziellen Fragen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie man es macht, ist es verkehrt!)


Die Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs in sämt-
lichen Formen ist uns doch allen ein gemeinsames Anlie-
gen. Daher ist ein sachlicher Austausch im Interesse eines
breiten politischen und gesellschaftlichen Konsenses zu
empfehlen.

Der Entwurf ist in zu vielen Punkten täterorientiert und
zu wenig opferorientiert.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welcher?)


Warum fällt es Ihnen so schwer, die Grundtatbestände des
sexuellen Missbrauchs nach § 176 Abs. 1 und 2 StGB von
Kindern als Verbrechen einzustufen? Durch diese Straf-
schärfung würde zugleich erreicht, dass für diese Form
des Kindesmissbrauchs bereits die Verabredung und der
Anstiftungsversuch unter Strafe gestellt werden könnten.
Ihre Erklärungsversuche, sehr geehrter Herr Montag, kön-
nen wir an dieser Stelle nicht nachvollziehen. Der vorlie-
gende Entwurf stellt in diesem Punkt nur einen Kompro-
miss dar. Auf die generelle Anhebung wurde verzichtet.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, eines der wichtigsten
Instrumente in unserem Strafrecht ist die Sicherungsver-
wahrung.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was? – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Völlig abwegig! – Joachim Stünker [SPD]: Das tut weh!)


Warum hat die Ministerin in der Plenardebatte am 14. No-
vember 2002 erklärt, dass sie es für richtig halte, die Si-
cherungsverwahrung auch für Heranwachsende vorzuse-
hen? Frau Ministerin, Sie haben doch erklärt, dass es
besonders gefährliche frühkriminelle Haupttäter gebe und
dass wir für solche Fälle eine Sicherungsverwahrung
für Heranwachsende vorsehen sollten. Was tun Sie denn
mit diesen tickenden Zeitbomben? Das wird im vorlie-
genden Entwurf mit keinem Wort mehr erwähnt. Wie sieht
es denn nun aus? Was ist denn Ihre Meinung dazu? Steht
die SPD nach wie vor auf dem Standpunkt, die Siche-
rungsverwahrung für Heranwachsende sei notwendig?
Liegt es nicht nahe, dass dieser Punkt um des Koalitions-
friedens willen geopfert wurde?


(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: So ist es!)

Frau Ministerin, in Ihrem Interview in der „Bild am

Sonntag“ haben Sie betont, Ihnen sei es ein besonderes
Anliegen, sexuellen Missbrauch an Frauen, Kindern und
Behinderten zu bekämpfen.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und an Jungen!)


Dem können wir nur zustimmen. Aber wir sollten nicht
vergessen, dass die frühere CDU/CSU-geführte Bundes-
regierung bereits 1998 ein umfassendes Strafrechtsän-
derungsgesetz verabschiedet hat.


(Joachim Stünker [SPD]: Bruch haben Sie gemacht!)



(A)



(B)



(C)



(D)


1730


(A)



(B)



(C)



(D)






Darin ging es uns um zwei zentrale Punkte: Der eine be-
traf den Schutz von Behinderten vor Kriminalität, der
andere die Erweiterung der Sicherungsverwahrung. Das
heißt, wir haben kontinuierlich für den Schutz der
Schwächeren in unserer Gesellschaft gearbeitet.

Was wollen Sie mit der Erweiterung der Ausnahme-
regelung des § 139 Abs. 3 Satz 2 StGB wirklich schützen?
Warum reicht Ihnen ein „ernsthaftes Bemühen“, die Tat ab-
zuwenden, aus, um von einer Anzeigepflicht abzusehen?


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat der Kollege van Essen versucht zu erklären!)


Warum wollen Sie einen so großen Personenkreis aus der
Verantwortung entlassen? Wollen Sie tatsächlich den El-
tern eines Opfers erklären: Der Psychotherapeut hat sich
zwar bemüht, aber leider ist es dennoch zu der grauen-
vollen Tat gekommen? Erwarten Sie für eine solche Er-
klärung bitte kein Verständnis. Sie werden es nicht be-
kommen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Sie müssen sich schon die Frage gefallen lassen, in-
wieweit Sie dem Vertrauensverhältnis zum Täter einen
höheren Stellenwert beimessen als der Verbrechensverhü-
tung. Das, was Sie in ihrem Gesetzentwurf vorsehen, führt
zu einer ausgesprochenen Täterorientierung. Die Opfer-
orientierung kommt dagegen zu kurz.

Leider ist auch bei dem jetzt vorliegenden Entwurf
festzustellen, dass die jährlich Tausenden sexuellen Über-
griffe auf Kinder und Frauen, die direkt hinter der Haustür
geschehen, nicht wahrgenommen werden. Oftmals ge-
schehen sie im so genannten sozialen Umfeld, im Nahfeld
der Familie, im Verwandten- oder Bekanntenkreis.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Meistens!)


Im Bereich des sexuellen Missbrauchs von Kindern und
Jugendlichen kommen rund 94 Prozent der Täter aus der
Familie und ihrer Umgebung und nur 6 Prozent der Täter
sind Fremde. Auch noch heute werden diese Formen der
sexuellen Übergriffe in unserer Gesellschaft nicht wahr-
genommen und tabuisiert. Diese Erkenntnis versucht die
Bundesjustizministerin jetzt umzusetzen, indem sie einen
wirksameren Schutz der Kinder dadurch erreichen
möchte, dass sich alle in der Gesellschaft verantwortlich
fühlen und kümmern. Der Altbundespräsident Roman
Herzog, der Vorsitzende der Stiftung „Bündnis für Kin-
der – gegen Gewalt“, hat sich in der gleichen Art und
Weise geäußert. Er sagte:

Wenn jeder mit wachem Auge auf seine Umgebung
schaute, wäre es eher möglich, solche Verbrechen zu
verhindern.

Dem stimmen wir uneingeschränkt zu.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Opferschutz vor Täterschutz, das muss besonders in

den Fällen gelten, in denen der Täter aus dem unmittel-
baren sozialen Umfeld des Kindes stammt. Das, was ich

an diesem Punkt bei Ihnen vermisse, ist, dass auf den Ge-
danken der Vorbeugung oder der Prävention eingegan-
gen wird. Dabei ist gerade hier der Aspekt, Kinder stark
zu machen, von grundlegender Bedeutung. Wir sind hier
auf Ihrer Seite, Herr Kollege van Essen. Es ist wichtig,
dass sich Kinder wehren, sich offenbaren und bereits bei
den ersten Versuchen offensiv damit umgehen, also selbst
aktiv werden, um sich zu schützen. Jeder Kriminalbeamte
und Psychologe kann Ihnen bestätigen, dass es wichtig ist,
einem potenziellen Täter gegenüber Selbstbewusstsein
und Sicherheit auszustrahlen. Täter suchen keine Gegner.
Täter suchen Opfer.


(Jörg van Essen [FDP]: So ist es!)

Kinder müssen auch ihren nahen Angehörigen Grenzen
aufzeigen und den Mut haben, Nein zu sagen.

Wir müssen im Bereich der Erziehung sowohl die Kin-
der als auch die Eltern stärken. Das besondere Vertrau-
ensverhältnis zwischen Eltern und Kindern ist die Grund-
lage für eine erfolgreiche Prävention.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Aber diese wichtige Erkenntnis ist in Ihrem Entwurf voll-
ständig unter den Tisch gefallen. Sie haben in der Debatte
über unseren Gesetzentwurf am 14. November einen ver-
besserten Opferschutz angekündigt. Ihr Gesetzentwurf
lässt aber die Belange der Opfer nach meinem Dafür-
halten außer Acht.

Abschließend möchte ich feststellen: Ihr Gesetzent-
wurf enthält zwar einige diskussionswürdige Punkte.
Aber dem eigentlichen Ziel sind wir nur einen kleinen
Schritt näher gekommen. Fazit: Ihr Koalitionsentwurf ist
zwar umfangreich, aber nicht aufschlussreich. Mit Ihrem
Gesetzentwurf haben Sie nicht alles getan, was Sie tun
können. Handeln Sie endlich! Es ist höchste Zeit.

Danke.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1502208500

Nächster Redner ist der Kollege Joachim Stünker,

SPD-Fraktion.


Joachim Stünker (SPD):
Rede ID: ID1502208600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Die bisherige Debatte hat
mich in meiner tiefen Überzeugung bestätigt, dass der Ge-
setzgeber mehrfach und gründlich nachdenken muss, be-
vor er Änderungen im Strafrecht vornimmt; denn das
Strafrecht ist – daran sollten wir uns immer erinnern – die
Ultima Ratio des Staates, auf Fehlverhalten seiner Bürge-
rinnen und Bürger zu reagieren. Dabei gilt es, immer die
Balance zwischen den Freiheitsrechten jedes Einzelnen
und seinem berechtigten Anspruch auf persönliche Si-
cherheit und Unversehrtheit zu halten.

Dabei müssen wir wiederum das verfassungsrechtliche
Gebot der Verhältnismäßigkeit beachten. Ich gehe ein-
mal davon aus, dass Sie diese Abwägung in den 16 Jahren,

Michaela Noll




Joachim Stünker
in denen Sie regiert haben, immer vorgenommen haben;
denn Sie haben entsprechende Verschärfungen des Se-
xualstrafrechts – Stichwort Kindesmissbrauch – in dieser
Zeit nicht vorgenommen. Um es einmal ganz deutlich zu
sagen: Kindesmissbrauch gibt es nicht erst seit 1998, seit-
dem wir regieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich möchte auch sehr deutlich sagen – der Kollegin, die
vor mir gesprochen hat, muss ich da widersprechen –: Wir
begrüßen es sehr, dass die Bundesregierung gestern – pa-
rallel zu den strafrechtlichen Regelungen, die wir Ihnen
vorschlagen – den Aktionsplan zum besseren Schutz von
Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt vorgelegt
hat; denn die Frau Justizministerin und die Kollegin
Schmidt werden mit diesem Aktionsplan der von Ihnen
eingeforderten Prävention voll und ganz gerecht. Ich darf
Ihnen sagen, Herr van Essen: Wir unterstützen diese ge-
samtgesellschaftliche Offensive zum Opferschutz, zum
besseren Schutz von Kindern, von Schutzbefohlenen und
von widerstandsunfähigen Menschen. Es handelt sich so-
zusagen um eine konzertierte Aktion in dem sehr sen-
siblen Bereich des Sexualstrafrechts.

Im Rahmen dieser konzertierten Aktion sind die Be-
stimmungen des Strafrechts, über die wir heute reden, nur
ein Mosaikstein von vielen. Wir bemühen uns um eine an-
gemessene Strafandrohung und insbesondere um eine
verstärkte Kriminalprävention.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Überschrift des Paketes, das wir Ihnen hier vorlegen,
lautet – darin stimme ich Herrn van Essen zu –: Opfer-
schutz.

Lassen Sie mich nun etwas zu einem Ihrer Haupt-
kritikpunkte sagen. Wir haben festgestellt, dass wir in vie-
len Bereichen Gemeinsamkeiten haben. Während Sie in
Ihrem Entwurf dem § 176 StGB dogmatisch einen Ver-
brechenstatbestand zugrunde gelegt haben, liegt ihm in
unserem Gesetzentwurf im Ergebnis weiterhin ein Ver-
gehenstatbestand zugrunde. Man kann darüber sicherlich
weidlich streiten.

Was haben wir gemacht? Was schlagen wir Ihnen hier
für die weitere Diskussion und auch für die Sachverstän-
digenanhörung vor? Wir haben die Strafrahmen bei Miss-
brauch heraufgesetzt. Zukünftig gibt es in Bezug auf die
von mir genannten Personengruppen keinen minder
schweren Fall des sexuellen Missbrauchs mehr. Das heißt,
Täter kommen nicht mehr mit einer Geldstrafe davon. Ich
denke, davon geht ein wichtiges Signal aus. Ihr Entwurf
enthält eine solche Regelung nicht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Wolfgang Götzer [CDU/ CSU]: Das stimmt doch nicht! Der minder schwere Fall ist selbstverständlich in unserem Entwurf enthalten!)


– Nein, das ist nicht falsch.
Des Weiteren wird in unserem Gesetzentwurf der ein-

fache sexuelle Missbrauch von Kindern als besonders

schwerwiegender Tatbestand bewertet. Dadurch sollen
die Handlungen derjenigen erfasst werden, die bisher die
Schwelle des Eindringens in den Körper nicht überschrit-
ten haben. Der Bundesgerichtshof hat in diesem Zusam-
menhang von allgemeinem Tatbestand gesprochen. Mit
dieser Neuregelung werden die angesprochenen Fälle er-
fasst. Die Täter werden zukünftig mit einer Freiheitsstrafe
von – mindestens – einem Jahr bis zu 15 Jahren bestraft.
Um genau diesen Tatbestand geht es Ihnen; allerdings
wird dafür nicht die Bezeichnung Verbrechen verwendet.
Dennoch erzielen wir dieselbe Wirkung.


(Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Nur im Strafrahmen, Herr Kollege!)


– Natürlich.
Unser Gesetzentwurf enthält zusätzlich den Straftat-

bestand des Einwirkens auf ein Kind durch Schriften, um
es zu sexuellen Handlungen zu bringen. Darüber hinaus
wird sich künftig jemand strafbar machen, der ein Kind
für einen Missbrauch anbietet, nachzuweisen verspricht
oder sich mit anderen zu einer solchen Tat verabredet. Wir
erreichen damit im Ergebnis diejenigen Fälle, um die es in
der Praxis eigentlich geht, ohne dass wir damit den Tat-
bestand strafrechtlich dogmatisch zum Verbrechen he-
raufgestuft haben.

Warum ist es sinnvoll, diesen Tatbestand nicht zum
Verbrechen zu erklären? Ich will versuchen, Ihnen auch
das darzulegen. Es ist deshalb sinnvoll, weil es gerade bei
sexuellem Missbrauch Fälle gibt – wir alle wissen, dass
die überwiegende Zahl dieser Taten im familiären Umfeld,
im nahen persönlichen Umfeld der Opfer geschehen –, in
denen es notwendig ist, dass man mit den Mitteln der
§§ 153 ff. StPO – Täter-Opfer-Ausgleich und Ähnli-
ches – reagieren kann. Entsprechend reagieren kann man
nicht mehr, wenn ein Verbrechenstatbestand vorliegt.
Wenn Sie das uns schon nicht glauben wollen, weil für Sie
alles das, was von Rot-Grün kommt, irgendwie Teufels-
zeug ist, dann glauben Sie Ihren eigenen Sachverstän-
digen. Wir haben zu Ihrem Gesetzentwurf, der ja nicht neu
ist, in der letzten Legislaturperiode, der 14., schon einmal
eine Sachverständigenanhörung durchgeführt. Da haben
Ihre Sachverständigen, zum Beispiel Professor Krey aus
Trier, der ja nun nicht verdächtig ist, Sozialdemokraten
sehr nahe zu stehen, genau darauf hingewiesen und ge-
sagt: Seid vorsichtig und begebt euch nicht der Möglich-
keiten von Mediation und Täter-Opfer-Ausgleich. Wenn
ihr einen Verbrechenstatbestand schafft, habt ihr sie hin-
terher nicht mehr. Genau das ist der Hintergrund.


(Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/ CSU]: Stimmt doch gar nicht! Das geht auch beim Verbrechen! Das geht nach dem Gesetz!)


– Lesen Sie das doch nach, Herr Kollege Kauder, dann
werden Sie es feststellen. Wir können es ja in der Sach-
verständigenanhörung diskutieren. Es verhält sich genau-
so, wie ich es gesagt habe.


(Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/CSU]: Es stimmt nicht!)


– Doch.
Einen weiteren Punkt möchte ich ansprechen: Wir sa-

gen, dass sich in Zukunft jemand, der einen sexuellen


(A)



(B)



(C)



(D)


1732


(A)



(B)



(C)



(D)






Missbrauch, von dem er Kenntnis hat, nicht anzeigt, mög-
licherweise strafbar macht. Das ist übrigens ein neuer
Vorschlag von unserer Seite, der in Ihrem Entwurf nicht
enthalten ist. Sie werfen uns nun vor, wir würden von die-
sem möglichen Straftatbestand, den Sie gar nicht vorge-
sehen haben, zu viele Personen ausnehmen. Das ist ja der
Vorwurf, den Sie, Herr Götzer, heute Mittag hier erhoben
haben. Wenn Sie in unseren Entwurf hineinschauen, wer-
den Sie feststellen, dass wir genau den Personenkreis, der
nach der Strafprozessordnung ein Zeugnisverweige-
rungsrecht hätte, von der möglichen Strafbarkeit ausneh-
men. Das ist auch sinnvoll. Sie können doch nicht sagen:
Du machst dich zwar auf der einen Seite strafbar, wenn du
das nicht anzeigst, auf der anderen Seite hättest du aber als
Zeuge vor Gericht die Möglichkeit, das Zeugnis zu ver-
weigern. Man muss die Zusammenhänge sehen, wenn
man das Gesetz analysiert. Ich halte auch das für eine sehr
sinnvolle Regelung und hoffe, dass wir uns darüber in der
Diskussion noch verständigen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dann lassen Sie mich noch etwas zu Ihrer Kritik an
dem Punkt DNA-Analyse sagen. Wir machen meiner
Meinung nach einen sehr sinnvollen Vorschlag, indem wir
sagen, dass alle Straftaten, die gegen die sexuelle Selbst-
bestimmung des Menschen gerichtet sind, zukünftig zum
Anlass für eine DNA-Analyse genommen werden kön-
nen, wenn der Richter aufgrund konkreter Tatsachen in
seiner Prognose zu dem Ergebnis kommt, dieser Täter
könne zukünftig schwere andere Straftaten begehen. Das
ist in sich schlüssig. Was Sie wollen, wäre schwierig mit
dem von mir vorhin schon genannten Gebot, dass Strafen
oder in diesem Fall Eingriffe immer auch verhältnismäßig
sein müssen, zu vereinbaren.


(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Prävention!)


Nach Ihrer Konstruktion wäre der Diebstahl von Damen-
unterwäsche ein Grund, eine DNA-Analyse durchzu-
führen. Ich denke, unser Vorschlag ist sehr wohl verfas-
sungsrechtlich ausgewogen. Ich bin gespannt, was die
Sachverständigen zu unseren Vorschlägen sagen werden.
Ich bin sehr sicher, dass wir hier auf einem guten Weg
sind.

Lassen Sie mich zum Schluss noch Anmerkungen zu
Themen machen, die Sie auch heute wieder vorgetragen
haben.

Erstens. Ausweitung der Telefonüberwachung, § 100 a
Strafprozessordnung, auf Fälle des sexuellen Missbrauchs.
Zunächst ist es für mich schwer vorstellbar, wenn man
meint, auf diese Weise Verabredungen oder Ähnliches am
Telefon aufdecken zu können. Das erschließt sich mir
schon vom Praktischen her nicht so ganz; rechtlich be-
trachtet sage ich Ihnen, wir sollten hier sehr vorsichtig
sein. Auch Sie kennen wohl das Gutachten, das in Biele-
feld zum § 100 a der Strafprozessordnung vorgelegt wor-
den ist, also wie in der Praxis mit diesem hohen Schutz-
gut umgegangen wird. Wir sollten also sehr vorsichtig
sein, ehe wir da Änderungen vornehmen. Darum bleiben
wir dabei, dass wir, bevor nicht eine Gesamtschau der
Auswirkungen des § 100 a StPO vorliegt, auch mithilfe

des Gutachtens des Max-Planck-Instituts, hier keinerlei
Veränderungen vornehmen werden.

Zweitens zur Sicherungsverwahrung.Wir führen, wie
ich glaube, heute die fünfte, sechste oder siebte Debatte
zum Thema Sicherungsverwahrung. Sie bringen dieses
Thema gebetsmühlenartig immer wieder auf den Tisch.


(Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Führen wir sie endlich in die Realität!)


Nochmals: Die Frage der nachträglichen Sicherungsver-
wahrung haben wir für uns endgültig mit dem Gesetz, das
wir hier im letzten Sommer beschlossen haben, abge-
schlossen. Da haben wir die vorbehaltene Sicherungs-
verwahrung neu geregelt und ins Strafgesetzbuch aufge-
nommen.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das ist doch etwas anderes!)


Wenn Sie da mehr wollen, müssen Sie sich an die Länder
wenden, die für den Personenkreis, der von dieser Rege-
lung nicht mehr erfasst wird, zuständig sind.


(Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Drücken Sie sich nicht vor der Verantwortung!)


– Wieso? Was heißt „Verantwortung“? Es gibt verfas-
sungsrechtliche Zuständigkeiten. Die Länder sind ja auch
sonst immer sehr darauf bedacht, dass wir nicht in ihre
Zuständigkeiten eingreifen. Das Problem ist nur – deshalb
sind Sie so nervös –, dass Baden-Württemberg und Bay-
ern Gesetze verabschiedet haben, die schlecht sind und
gegenwärtig beim Bundesverfassungsgericht überprüft
werden. Deshalb möchten Sie Regelungen vom Bundes-
gesetzgeber haben.

Einen Satz noch, Frau Präsidentin.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1502208700

Aber nur einen kurzen Satz, Herr Kollege Stünker.


Joachim Stünker (SPD):
Rede ID: ID1502208800

Was die Frage der Sicherungsverwahrung von Heran-

wachsenden, die von den Gerichten nach allgemeinem
Strafrecht beurteilt werden, angeht, sind wir der Mei-
nung – damit gehen wir auch in die Sachverständigen-
anhörung –, dass hier das von uns geschaffene Instrument
der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung genau die rich-
tige Lösung ist.

Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1502208900

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege

Siegfried Kauder, CDU/CSU-Fraktion.


Siegfried Kauder (CDU):
Rede ID: ID1502209000

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! Die richtige Botschaft zu diesem Thema kam von

Joachim Stünker




Siegfried Kauder (Bad Dürrheim)

einem Sozialdemokraten, allerdings nicht von einem, der
heute unter uns sitzt, Herr Stünker. Es war Ihr General-
sekretär, der gefordert hat, der Staat solle die Lufthoheit
über Kinderbetten haben.


(Widerspruch bei der SPD)

– Doch, meine Damen und Herren, das war die richtige
Botschaft, nur zum falschen Thema. Wir wollen keine
Lufthoheit über das Erziehungsrecht der Eltern, aber Luft-
hoheit über Kinderbetten, soweit es um die richtige sexu-
elle Entfaltung und Entwicklung sowie den Schutz von
Kindern unter 14 Jahren geht.

Wir müssen erst einmal festhalten, welche Gesetzes-
lage wir im Augenblick haben. Damit kommen wir zu der
juristischen Argumentation, die uns offensichtlich etwas
schwerer fällt als die politische. Wir haben § 176 StGB,
den sexuellen Missbrauch von Kindern, als Vergehen aus-
gestaltet und damit qualitativ nicht anders als Diebstahl
bewertet.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat das denn 1998 gemacht? – Joachim Stünker [SPD]: Das haben Sie selber verbrochen!)


Ich weiß, wo das Herz der Frau Bundesjustizministerin
schlägt, denn sie gehört der gleichen Opferschutzorgani-
sation an wie ich. Wir wissen: Sexueller Missbrauch von
Kindern ist Mord an einer kindlichen Seele und Mord ist
ein Verbrechen. Deswegen muss auch sexueller Miss-
brauch von Kindern ein Verbrechen werden.


(Beifall bei der CDU/CSU – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war aber kein juristisches Argument! Wahrhaft nicht!)


– Das war ein Opfer schützendes Argument; ich werde
dazu noch etwas sagen.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht einmal das! – Joachim Stünker [SPD]: Ein Eiferer sind Sie!)


– Manchmal muss man sich, wenn es um kindliche Opfer
geht, auch ereifern; vielleicht tun Sie das zu wenig.


(Joachim Stünker [SPD]: Aber an der richtigen Stelle!)


Wir haben § 176 a StGB, in dem als selbstständiger
Qualifikationstatbestand besonders schwere Fälle mit ei-
ner Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedacht
werden.


(Joachim Stünker [SPD]: Das fällt Ihnen alles nach 1998 ein! Sie haben 1998 den Tatbestand gemacht, wir doch nicht!)


Das ist die Gesetzeslage. Jetzt passen Sie bitte genau
auf: Was Sie nach Ihrem Entwurf machen wollen, ist
rechtstechnisch ein furchtbarer, nicht korrigierbarer
Fehler. Sie brechen aus § 176 a StGB einen Verbre-
chenstatbestand, die Wiederholungstat, heraus und inte-
grieren ihn in § 176 als besonders schweren Fall. Wir ha-
ben darüber in unserer Fraktion diskutiert. Wer die
Gesetzessystematik kennt, weiß, dass dieser besonders
schwere Fall damit vom Verbrechen zum Vergehen wird.

Jeder Jurist im ersten Semester weiß, dass das so in § 12
Abs. 3 StGB steht.


(Beifall bei der CDU/CSU – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist trotzdem eine Mindeststrafe von einem Jahr!)


– Ich werde es Ihnen noch erklären, Herr Kollege Montag.
Das hat zur Folge, dass der Wiederholungstäter ge-

genüber denjenigen Tätern, die gemeinschaftlich über ein
Kind herfallen, privilegiert ist. Es bleibt zwar bei der ein-
jährigen Freiheitsstrafe, aber es ist kein Verbrechen mehr.

Wissen Sie, welche inakzeptable Konsequenz das für das
kindliche Tatopfer hat? – Die Folge ist, dass dieses Verge-
hen im Falle eines Wiederholungstäters beim Amtsgericht
angeklagt werden kann und dass Staatsanwälte und Richter
dieses Verfahren nach § 153 a StPO wie bei einem Kauf-
hausdiebstahl gegen eine Geldbuße einstellen können. Das
wollen wir nicht und das dürfen wir nicht zulassen, weil es
hier um Kinder geht, die sexuell missbraucht werden.


(Beifall bei der CDU/CSU – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das tut kein Staatsanwalt!)


– Das tut ein Staatsanwalt, wenn die Beweislage schlecht
ist.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann hilft auch kein Landgericht!)


Bei einem Verbrechen kann er das Verfahren nicht nach
§ 153 a StPO einstellen.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das muss er doch, wenn die Beweislage nicht reicht! – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch Unsinn, was Sie hier erzählen! – Joachim Stünker [SPD]: Was erzählen Sie eigentlich?)


– Hören Sie doch bitte einfach erst einmal zu! Sie waren
doch schon dran mit Ihrem Redebeitrag!

Sie wollen den minderschweren Fall abschaffen.
Nennen Sie mir bitte einen Verbrechenstatbestand im
StGB, der den minderschweren Fall nicht kennt.


(Joachim Stünker [SPD]: Das hat damit nichts zu tun! Was erzählen Sie hier eigentlich?)


Wir schlagen in unserem Entwurf keine Geldstrafe für ei-
nen minderschweren Fall vor. Wir denken nämlich nach,
bevor wir Gesetzesänderungen anregen. Wir fordern viel-
mehr, dass der minderschwere Fall mit mindestens drei
Monaten bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe belegt werden
muss. Das ist der Unterschied zu Ihrem Gesetzentwurf.


(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)

Die Beibehaltung des minderschweren Falles ist not-

wendig. Damit erhält der Täter einen Anreiz, ein Ge-
ständnis abzulegen. Ein minderschwerer Fall kann nach
der Rechtsprechung nämlich schon dann angenommen
werden, wenn der Täter dem Tatopfer das Erscheinen in
der Hauptverhandlung erspart. Ein Kind muss also nicht
als Zeuge vernommen werden. Diese Möglichkeit schaf-
fen wir, indem wir die Einstufung als minderschweren
Fall erhalten und so dem Täter einen Anreiz geben, ein
Geständnis abzulegen.


(A)



(B)



(C)



(D)


1734


(A)



(B)



(C)



(D)






Meine Damen und Herren von Rot-Grün, ich verstehe
Sie nicht. Warum fürchten Sie wie der Teufel das Weih-
wasser, den sexuellen Missbrauch von Kindern zu einem
Verbrechenstatbestand zu erheben?


(Joachim Stünker [SPD]: Das habe ich Ihnen gerade erklärt! Sie haben nicht zugehört! Keine Ahnung!)


Es gibt genügend Milderungsgründe. Einen wichtigen ha-
ben Sie übersehen, Herr Kollege. Den Täter-Opfer-Aus-
gleich gibt es auch bei Verbrechen. Das ist unsere Philo-
sophie: Ein Täter, der sich an einem Kind vergangen hat,
muss laufen; er muss sich bemühen und Punkte sammeln.
Er soll ein Geständnis ablegen


(Joachim Stünker [SPD]: Ja, im Prozess!)

und sich um den Täter-Opfer-Ausgleich kümmern. Dann
gibt es Milderungsgründe, die ihm die Chance eröffnen,
dass seine Strafe unter der Freiheitsstrafe von sechs Mo-
naten, die nach Ihrem Entwurf verhängt werden muss,
liegt. In einem minderschweren Fall kann der Täter mit
Täter-Opfer-Ausgleich und beim Vorliegen einer beson-
deren Fallkonstellation sogar mit einer Freiheitsstrafe von
unter drei Monaten davonkommen.

Ich verstehe Sie auch in einem anderen Punkt nicht;
auch da scheuen Sie eine Gesetzesänderung wie der
Teufel das Weihwasser. Was spricht eigentlich gegen die
Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung?


(Joachim Stünker [SPD]: Die Verfassung!)

Was spricht dagegen, die Sicherungsverwahrung auf He-
ranwachsende anzuwenden, wenn sie nach Erwachsenen-
strafrecht verurteilt werden?


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lesen Sie mal die Urteile des Bundesverfassungsgerichts nach!)


Wir haben schon jetzt einen Anknüpfungspunkt. Bei der
Frage der Sicherungsverwahrung darf nämlich auch eine
verhängte Jugendstrafe berücksichtigt werden. Gehen wir
also den nächsten Schritt und sagen, dass die Sicherungs-
verwahrung gegen Heranwachsende bei Anwendung des
Erwachsenenstrafrechts zulässig ist.

Ich gebe der Frau Bundesjustizministerin Recht: Es
sind nur ganz wenige Fälle, die dafür in Betracht kommen,
weil ein Heranwachsender im Alter von 18 bis 21 Jahren
kaum die Gelegenheit zu einer kriminellen Karriere hatte,
die notwendig ist, um eine Sicherungsverwahrung zu ver-
hängen. Prüfen Sie einmal die in der Presse hochgekom-
menen spektakulären Fälle, in denen Kinder nach sexuel-
lem Missbrauch zu Tode gekommen sind. In drei von fünf
dieser Fälle wäre die Straftat nicht geschehen, wenn die Si-
cherungsverwahrung für Heranwachsende möglich gewe-
sen wäre. Sie sind also auf dem falschen Weg.


(Beifall bei der CDU/CSU – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Faktisch falsch!)


Wir wägen in unserem Gesetzesvorschlag sehr detail-
liert Täterrechte und Opferrechte gegeneinander ab. Die
Opfersicht geht bei Ihrem Gesetzentwurf völlig verloren.
Wir wünschen, dass der Grundtatbestand des § 176 StGB
als Verbrechen ausgelegt wird.

Aus Opfersicht gibt es dafür einen weiteren wichtigen
Grund. Die Staatsanwälte neigen dazu, sexuellen Miss-
brauch von Kindern beim Amtsgericht anzuklagen, was
zulässig ist. § 24 des Gerichtsverfassungsgesetzes gibt
aber die Möglichkeit – das sollte bei Verbrechen mit
sexuellem Hintergrund ohnehin die Regel werden –, in
erster Instanz beim Landgericht anzuklagen. Über dem
Landgericht gibt es keine weitere Tatsacheninstanz. Man
vermeidet damit eine sekundäre Viktimisierung des Tat-
opfers, indem man ihm eine weitere Vernehmung er-
spart.

Kommen Sie mir bitte nicht mit dem Argument, es
gebe jetzt schon die Videografie. Frau Justizministerin,
ich möchte Sie in diesem Punkt um Mithilfe bitten. Wir
wissen aus unserer praktischen Erfahrung, dass die
Richter die Videografie nicht so anwenden, wie wir uns
das als Gesetzgeber gewünscht haben.


(Jörg van Essen [FDP]: Das ist richtig!)

Ich freue mich, dass diese Diskussion angefangen

wurde. Ich freue mich auch auf eine konstruktive Zusam-
menarbeit. Aber erlauben Sie mir bitte, dass ich rechts-
technische Fehler in Ihrem Gesetzentwurf aufgreife und
Ihnen sage: Wenn Sie den ersten Schritt tun, müssen Sie
im Interesse von Tatopfern auch den zweiten Schritt tun.
Sexueller Missbrauch ist Mord an der Seele von kleinen
Kindern. Unsere Kinder müssen es uns wert sein, darüber
im Rechtsausschuss sachlich zu diskutieren.

Ich danke Ihnen, dass Sie mir zugehört haben.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502209100

Ich möchte Ihnen, Herr Kollege Kauder, zu Ihrer ers-

ten Rede in diesem Hohen Haus im Namen des ganzen
Hauses gratulieren.


(Beifall)

Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 15/350 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu an-
derweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, Georg
Brunnhuber, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU
Transrapid-Projekt Berlin–Hamburg unver-
züglich wieder aufnehmen
– Drucksache 15/300 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

Siegfried Kauder (Bad Dürrheim)





Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Wider-
spruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Dirk Fischer.


Dirk Fischer (CDU):
Rede ID: ID1502209200

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Hocherfreut habe ich die Äußerung von Minister Stolpe
im NDR-Info-Radio vernommen, die Transrapidstrecke
Hamburg–Berlin sei auch seine Traumstrecke, er halte
den Bau einer Transrapidstrecke zwischen Hamburg und
Berlin weiterhin für denkbar. Wann hat es das seit
Matthias Wissmann schon gegeben, dass ich in dieser
Frage mit dem Verkehrsminister einer Meinung bin?


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist sehr wahr!)


Nach vier Jahren Rot-Grün und vier Verkehrsminister
später endlich einmal wieder eine vernünftige Aussage
zum Transrapid zwischen Haupt- und Hansestadt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Dabei sagte noch am 10. August 2002 die Parlamenta-
rische Staatssekretärin Mertens in der „taz Hamburg“, der
Transrapid sei auf der Strecke Berlin–Hamburg verkehrs-
politisch nicht zu begründen und zu teuer. Es besteht also
ein tief greifender Meinungskonflikt in der Spitze des zu-
ständigen Ministeriums.


(Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Das hättest du gern!)


Ich vertraue nun aber auf das Ministerwort und fordere
ein, dass den Liebesschwüren seit der Jungfernfahrt in
Schanghai nun endlich auch Taten in der Bundesrepublik
Deutschland selbst folgen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die negative Entscheidung zum Bau der Transrapid-

verbindung Hamburg–Berlin am 5. Februar 2000 war
falsch. Der Technologie- und Wirtschaftsstandort Deutsch-
land hat großen Schaden genommen. Dass Bahnvorstand
Mehdorn mit Billigung der Bundesregierung durch Rück-
nahme sämtlicher Anträge auf Planfeststellung 350 Mil-
lionen DM Planungsaufwand von Industrie und Bund
quasi in den Ascheimer geworfen hat,


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das wird uns nicht noch einmal passieren!)


statt für zehn Jahre die Baurechte zu sichern, ist eigentlich
eines eigenen parlamentarischen Untersuchungsaus-
schusses würdig.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!)


Nach knapp 1,3 Milliarden Euro Entwicklungskosten
von Bund und Industrie in Deutschland und nochmals rund
100 Millionen Euro Entwicklungshilfe an China existiert
bislang nur eine Anwendungsstrecke im Ausland. Hätte

die rot-grüne Bundesregierung nicht die Referenzstrecke
Hamburg–Berlin bösartig zerstört, hätten Bundeskanzler
Schröder und Verkehrsminister Stolpe die Anwendung
dieses deutschen Hightechproduktes nicht im fernen
China bewundern müssen; sie hätten stattdessen nur ein-
mal zum Lehrter Bahnhof hinüberlaufen müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Anscheinend hat aber wenigstens die Eröffnungsfahrt

in China die Bundesregierung von diesem deutschen Spit-
zenprodukt überzeugt. Ich zitiere aus der Neujahrsanspra-
che von Bundeskanzler Schröder:

Am heutigen Silverstertag haben wir in Schanghai
den Transrapid eingeweiht – eine bei uns in Deutsch-
land entwickelte Zukunftstechnologie, die eine vor-
zügliche Lösung der Mobilitätsprobleme bietet.
Auch das zeigt deutlich: Wir in Deutschland haben
alles, was zum Erfolg notwendig ist. Wir müssen ihn
aber auch tatsächlich wollen. Niemand darf blockie-
ren oder behindern. Jeder sollte mit seinen Möglich-
keiten vorangehen, damit das Ganze vorankommt.

So Schröder.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Beifall nur bei der Union! Wo bleibt der Beifall bei den Sozialdemokraten, wenn schon nicht bei ihrem eigenen Kanzler?)


Hamburg–Berlin ist unverändert das einzige durchge-
plante und bewertete Fernverkehrsprojekt des Transrapid.
Hamburg–Berlin könnte auch die Kernstrecke anderer öf-
fentlich diskutierter Verbindungen, zum Beispiel eines
Eurorapid, sein.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sie sollten ein Geschichtsbuch schreiben!)


Ich denke auch an Strecken wie Hamburg–Groningen–
Amsterdam, Hamburg–Kopenhagen–Stockholm oder an
ostgängige Strecken von Berlin aus nach Warschau oder
über Dresden, Prag und Wien nach Budapest.


(Beifall bei der CDU/CSU – Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oder Moskau!)


Die Strecke bietet die einmalige Attraktivität, zwischen
den Ballungsräumen Hamburg und Berlin einen Nahver-
kehrstakt mit halbierter Fahrzeit einzurichten. Herr Kollege
Königshofen, wie unterscheidet sich ein solches Projekt
von dem Metrorapid, bei dem diese Technologie bei einer
durchschnittlichen Reisegeschwindigkeit von 50 Stunden-
kilometern – also knapp oberhalb der einer Postkutsche –
zur Anwendung gebracht wird? Das ist doch lächerlich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dieses Projekt würde auch die Option einer späteren

Anbindung des Berliner Zentralflughafens Schönefeld
beinhalten und Entwicklungsperspektiven und Chancen
für neue hochwertige Arbeitsplätze, davon allein 400 im
Betriebswerk Perleberg in Brandenburg, bieten. Bau und
Betrieb des Transrapids hätten zudem direkte Beschäfti-
gungswirkungen. Der Transrapid hätte auf der Strecke ei-
nen Konkurrenzvorsprung gegenüber der Rad-Schiene-


(A)



(B)



(C)



(D)


1736


(A)



(B)



(C)



(D)






Technik, dem Auto und Luftverkehr und würde eine echte
Alternative zu Kurzstreckenflügen darstellen. Nur die
Langstreckenverbindung Hamburg–Berlin von 292 km
kann die Systemvorteile dieser Highspeed-Technologie
voll zur Geltung bringen. Außerdem gäbe es wenigstens
auf dieser Strecke keinen Parallelverkehr, wie er derzeit
auf anderen Strecken geplant ist.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Mit dem Transrapid wären zudem eine geringere Lärmemis-
sion und eine vermehrte Energieeinsparung verbunden.

Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, nicht
nur Minister Stolpe, sondern auch Ministerpräsident
Ringstorff hat mittlerweile seine Liebe zur Strecke Ham-
burg–Berlin entdeckt;


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Ja, damit man wenigstens mal irgendwas von dem Kerl hört!)


denn nur so würde seine Hauptstadt, die derzeit völlig ab-
gekoppelt ist, an den Highspeed-Personenverkehr ange-
bunden werden.

In seiner Rede im mecklenburg-vorpommerischen Land-
tag am 24. April 2002 hat Ministerpräsident Ringstorff
ausgeführt:

Der Transrapid ist eine faszinierende Technik. Die
Idee, die Strecke Hamburg–Berlin im Rahmen eines
europäischen Transrapidnetzes zu realisieren, finde
ich höchst interessant.

(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Wir auch!)

Wir in Mecklenburg-Vorpommern haben unsere
Hausaufgaben gemacht – das Planfeststellungsver-
fahren ist abgeschlossen. Von mir aus könnte morgen
der erste Spatenstich erfolgen ...

(Beifall bei der CDU/CSU – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Kein Beifall bei den Sozialdemokraten!)


Das sind wahrlich späte Einsichten.
Mehdorn stellte am 3. Februar 2000 – zwei Tage, be-

vor das Projekt zerstört wurde – im „Stern“ fest:

(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sie sollten ein Geschichtsbuch schreiben!)

Innerhalb von eineinhalb Jahren können wir die
Fahrzeit von zweieinhalb auf gut eineinhalb Stunden
verkürzen. Der Ausbau würde 350 Millionen DM
kosten.

Demnach müsste dieser Zustand bereits seit Mitte 2001
herrschen. Insofern gilt für alle drei Behauptungen: Wort-
bruch, Wortbruch, Wortbruch! Das ist skandalös, weil das
Projekt durch Dumpingzusagen kaputtgemacht worden
ist, die später nicht eingelöst worden sind.

Am 26. Januar 2000 stellte Mehdorn im Verkehrsaus-
schuss fest:

Ich will diese Technologie in meinem System nicht
haben.

Damit hat er doch die Maske vollständig fallen gelassen.
Auf der ICE-Ausbaustrecke Hamburg–Berlin ist bisher

wenig geschehen. Nun soll bis 2004 eine Ausbaustrecke
mit einer Fahrzeit von 90 Minuten bei Tempo 230 km/h
durch geschlossene Ortschaften befahren werden. Ich
gehe davon aus – das ist überprüfbar –, dass diese Zusa-
gen erneut gebrochen werden. Das ist die Realität.

Man kann aber die Leute nicht für dumm verkaufen.
Für die Strecke Hamburg–Berlin wurden 6,1 Milliar-
den DM gewährt und kein Pfennig mehr. Die Preisgleit-
klausel im Konzept wurde von Rot-Grün gestrichen. Die
Qualitätsverbesserung durch eine Aufständerung aus
Stahl anstelle von Beton sollte nach den Erfahrungen auf
der Teststrecke im Emsland ebenso wie die in dem Projekt
unterstellte Inflationsrate zurückverdient werden. Dage-
gen eilen Bund und Industrie beim Metrorapid nach Be-
kanntwerden einer Finanzierungslücke wie selbstver-
ständlich mit weiteren Fördermitteln in Höhe von
250 Millionen Euro bzw. 200 Millionen Euro der Indus-
trie herbei. Dort wird völlig anders gehandelt. Dort wird
zugelegt, während für das andere Projekt kein Pfennig
mehr gewährt wird.


(Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Du hast wohl die Zeitungen nicht richtig gelesen!)


Hartherziger und bösartiger als in diesem Fall kann ein
Projekt nicht kaputtgemacht werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Lassen Sie mich kurz Vergleiche mit dem Rad-

Schiene-Projekt Köln–Rhein/Main anstellen. Schätzkos-
ten für die politische Entscheidung: 1991 3,4 Milliar-
den DM, Vergabepreis 1995 7,8 Milliarden DM,
Abrechnungspreis beträgt 11,8 Milliarden DM. Rad-
Schiene-Technik Hannover–Fulda–Würzburg: geplante
Gesamtkosten 1973 4,2 Milliarden DM, Abrechnungs-
preis 11,2 Milliarden DM.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wissmann, Waigel!)


Kilometerkosten: Transrapid Hamburg–Berlin
20,9 Millionen DM pro Kilometer, Metrorapid 79 Milli-
onen DM pro Kilometer, Transrapid München 85 Milli-
onen DM pro Kilometer. Rad-Schiene-Technik Köln–
Rhein/Main: Schätzkosten kilometerbezogen 19,2 Milli-
onen DM, Vergabepreis 43,8 Millionen DM pro Kilome-
ter, Abrechnungspreis 66,5 Millionen DM pro Kilometer.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wissmann, Waigel!)


Ich könnte nun noch die Zahlen für die Strecke Hanno-
ver–Fulda–Würzburg anführen; dort ist es genauso.

Das heißt also: Es wird zwar überall gebaut, aber
Mehrkosten haben nie eine Rolle gespielt.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wissmann, Waigel!)


Ausgerechnet beim Erstlingsanwendungsfall Transrapid
sollte, was es noch nie in der Vergangenheit gegeben hat,
exakt zum Schätzkostenpreis abgerechnet werden. Das ist
ein Skandal.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dirk Fischer (Hamburg)





Dirk Fischer (Hamburg)


Ich komme zum Ende.

(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Zum Schluss reicht schon! Zum Ende müssen Sie nicht kommen!)


Das Transrapidprojekt Berlin–Hamburg ist nicht nur das
einzige, sondern verglichen mit anderen unverändert das
verkehrlich und betriebswirtschaftlich beste Fernver-
kehrsprojekt, das es überhaupt gibt. Es besteht eine volle
Entscheidungsoption. Deswegen sollte heute im Rahmen
der Abstimmung über unseren Antrag der Lackmustest im
Hinblick auf die Glaubwürdigkeit der Worte von Schröder
und Stolpe stattfinden, darüber also, ob sie bereit sind,
ihre Ankündigungen umzusetzen.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Richtig!)


Stolpe im „Focus“ am 30. Dezember 2002:
Das hat ausgereicht, zum Transrapidfan für Ber-
lin–Hamburg zu werden. Ich wollte die Strecke
bauen. Denn wir hatten in rasanter Zeit alle Verfah-
ren bis zur Baureife durchgezogen.

Es muss also Wort gehalten werden; sonst ist das ein
neuer Fall nach dem Motto: Versprochen und dann wieder
gebrochen! Ich kann Minister Stolpe nur auffordern: Er-
füllen Sie sich Ihren Traum! Ich fordere die Koalitions-
fraktionen auf: –


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502209300

Herr Kollege, Sie sind jetzt zwei Minuten über der Zeit.


Dirk Fischer (CDU):
Rede ID: ID1502209400

– Helfen Sie mit, dass Stolpes Träume und Schröders
Wünsche erfüllt werden!


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502209500

Herr Kollege!


Dirk Fischer (CDU):
Rede ID: ID1502209600

Lassen Sie uns das Projekt wieder aufgreifen! Stimmen

Sie für unseren Antrag!

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Der Kollege Fischer ist nicht zu bremsen! Da bremst man leichter den Transrapid, aber nicht den Kollegen Fischer!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502209700

Das Wort hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretä-

rin Angelika Mertens.

A
Angelika Mertens (SPD):
Rede ID: ID1502209800


Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit über
30 Jahren fördern die verschiedenen Bundesregierungen

die Entwicklung und Erprobung der Magnetschwebetech-
nik, und zwar ideell und finanziell. Die staatliche Unter-
stützung beginnt im Jahre 1969 mit der Studie über ein
Hochleistungsschnellverkehrssystem, die so genannte
HSB-Studie, die vom damaligen Verkehrsminister Georg
Leber initiiert wurde.


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Respekt! – Renate Blank [CDU/CSU]: Da wart ihr noch zukunftsweisend!)


Zur Internationalen Verkehrsausstellung im Jahre 1979
in Hamburg fährt die weltweit erste für den Personenver-
kehr zugelassene Magnetschwebebahn auf einer Strecke
von 900 Metern. 1981 wird eine Versuchs- und Planungs-
gesellschaft für Magnetschwebebahnsysteme gegründet.
Die Gesellschafter sind die Deutsche Bundesbahn und die
Deutsche Lufthansa.

Von 1984 bis 1987 wird die Transrapidversuchsanlage
im Emsland gebaut. 1989 gibt die damalige Bundesregie-
rung grünes Licht für die Strecke zwischen den Flughäfen
Düsseldorf und Köln/Bonn, die bekanntlich nicht reali-
siert wurde. 1994 beschließt die damalige Bundesregie-
rung die Realisierung der Strecke Hamburg–Berlin und
im Februar 2000 stellen der Bund, die DBAG und die In-
dustrie, damals Daimler-Chrysler mit Adtranz, Siemens
und Thyssen, gemeinsam, Herr Fischer, fest, die Strecke
nicht zu realisieren.


(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Das ist schlicht und ergreifend die Unwahrheit! Der Bund ist ausgestiegen! Das konnte die Industrie nicht allein!)


– Ich würde Ihnen anraten: Lesen Sie einfach einmal
meine Pressemitteilung dazu nach! Sie sammeln ja solche
Pressemitteilungen.

Das führt zu drei weiteren Beschlüssen. Aus den ver-
anschlagten Haushaltsmitteln für das Transrapidprojekt
werden 1 Milliarde DM für den Ausbau der schnellen
Schienenverbindung Hamburg–Büchen–Berlin reser-
viert. Die zweite Verabredung lautet: Mit der DBAG und
der Industrie werden Vereinbarungen für den Weiterbe-
trieb der Versuchsanlage Lathen getroffen. Es wird weiter
die Vereinbarung getroffen, zügig eine neue Anwen-
dungsstrecke zu finden und im Rahmen eines Technolo-
giesicherungsprogramms Ressourcen vorzuhalten. Diese
dritte Entscheidung lautet, im Zusammenhang mit den
Ländern neue Anwendungsstrecken zu finden. Das Er-
gebnis kennen Sie: die Transrapidstrecke München–Mün-
chen/Flughafen und der Metrorapid.

Ich denke, dass dieser kurze Rückblick zeigt, dass die
Union die Diskussion nicht redlich führt. Nämlich egal ob
sozialdemokratisch oder unionsgeführte Regierungen, sie
alle haben sich bemüht, dieses Projekt in Deutschland auf
die Spur zu bringen. Zumindest ist es uns gelungen, es
schon einmal in China zu realisieren.

Ich werfe Ihnen übrigens keine Technikfeindlichkeit
vor, obwohl Sie es in 16 Jahren nicht geschafft haben,
diese oder irgendeine andere Anwendungsstrecke Realität
werden zu lassen. Der Wunsch allein reicht eben nicht; er
genügt bei keinem Verkehrsprojekt.


(A)



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(D)


1738


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Sie hätten das Eckpunktepapier für die Strecke Ham-
burg–Berlin vor der Wahl 1998 zu einer Finanzierungs-
vereinbarung machen können. Sie haben es nicht getan.
Sie haben auch keinen der sonst üblichen und beliebten
Spatenstiche gemacht. Dafür muss ich Sie fast loben,
denn Sie haben damit wirklich sehr verantwortungsvoll
gehandelt. Sie verschweigen nämlich, dass in diesem
Eckpunktepapier einige Sachverhalte stehen, die Sie jetzt
nicht mehr wahrhaben wollen. Die dort vorgesehene Risi-
koaufteilung war abenteuerlich. Wir haben damals ver-
sucht, das Projekt zu retten und sind Klinken putzen ge-
gangen. Ich war damals verkehrspolitische Sprecherin der
Fraktion. Mir ist besonders die Hamburger Handelskam-
mer im Gedächtnis geblieben. Mit so viel heißer Luft hätte
ich mir auch die Haare föhnen können.


(Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich finde das umso bedauerlicher, als es gerade in Ham-
burg eine Menge Vorzeigeunternehmer gibt.

Um die Jahreswende flammte dann mit den üblichen
Verdächtigen das Thema Transrapid Hamburg–Berlin
wieder auf. Der erste Höhepunkt war ein Interview mit
dem verkehrspolitischen Sprecher Dirk Fischer, der gleich-
zeitig Landesvorsitzender der CDU Hamburg ist. Er be-
hauptete in diesem Interview zum Beispiel, der Unterhalt
für die Schienenwege werde aus dem Staatshaushalt be-
zahlt.


(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Das ist doch so!)


– Große Frage: Wofür erhebt dann die DB AG Trassen-
preise? Es ist auch egal.

Das Interview hat den Bürgermeister jedenfalls unter
Druck gesetzt.


(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Ist das denn nicht so?)


Es gab dann im Senat eine große Debatte darüber und
einen Beschluss. Ich zitiere das „Hamburger Abendblatt“
vom 8. Januar, das unter der Überschrift „Transrapid –
Beust gibt nicht auf“ schreibt:

Bürgermeister Ole von Beust (47), CDU, will einen
Brief an das Transrapidkonsortium schreiben. Darin
erfragt er die Bedingungen, zu denen die bereits ver-
worfene Strecke Hamburg–Berlin doch noch gebaut
werden könnte.

Ich hatte eine Nachmeldung zum Bundesverkehrs-
wegeplan erwartet, aber der Berg kreißte nur. Es geht aber
insofern noch weiter, als es einen Bericht über eine Fahrt
des Bürgermeisters mit dem ICE 3 von Hamburg nach
Berlin gibt – ich zitiere –:

Wenn die Fahrzeit der Eisenbahn von Hamburg nach
Berlin wesentlich verkürzt wird, dann hat die Trans-
rapidverbindung zwischen den beiden größten Städ-
ten Deutschlands für den Hamburger Senat nicht
mehr Priorität.

(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Da ist ja nichts! Wir haben ja die Entscheidungsoption!)


– Was denn nun, Herr Fischer? Mit welcher Seriosität Sie
dieses Thema behandeln, haben Sie vorhin schon vorge-
führt. Ich habe es gar nicht für möglich gehalten, dass Sie
das, was Sie im Interview gesagt haben und was ich mir
noch einmal herausgesucht habe, auch noch wiederholen
würden.


(Heiterkeit bei der SPD)

Ich rufe es noch einmal ins Gedächtnis. Sie haben ge-

sagt: Im gleichen Moment bauen wir die Strecke
Köln–Rhein/Main; bei der Grundsatzentscheidung habe
der Schätzpreise 3,35 Milliarden DM betragen, der Ver-
gabepreis habe 7,71 Milliarden DM betragen und abge-
rechnet würden jetzt über 10 Milliarden DM. Deswegen
sagen Sie: Hätte man den Transrapid gleich behandelt,
hätte die Strecke über 18 Milliarden DM kosten können.
Das wäre Gleichbehandlung gewesen.

Genau das ist Ihr Problem. Die Verbindung
Köln–Rhein/Main ist übrigens nicht unser, sondern Ihr
Projekt. Das war Ihre Verantwortung. Wir haben damals
nicht regiert.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Was heißt „unser Projekt“? – Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wissmann, Waigel, Dürr!)


Was ist das eigentlich für eine Argumentation? Beim Um-
gang mit Steuergeldern gehen Sie nach dem Motto vor:
Darf es vielleicht ein bisschen mehr sein? Wir haben deut-
lich gesagt, Hamburg–Berlin werde sich nicht wiederho-
len. Es muss für beide jetzt anstehenden Projekte klare
Konditionierungen geben. Die Projekte werden Schritt für
Schritt abgearbeitet. Der erste Stichtag ist der 4. Februar
dieses Jahres, wenn NRWsein Finanzierungskonzept vor-
legt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502209900

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Horst Friedrich.


Horst Friedrich (FDP):
Rede ID: ID1502210000

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Ich habe heute zum ersten Mal etwas
Probleme – das gebe ich zu –, einen Antrag, der feder-
führend von meinem Freund Dirk Fischer formuliert wor-
den ist, inhaltlich ausführlich zu behandeln. Man kann mit
heißem Herzen darangehen und sagen: Augen zu und
durch, volle Unterstützung.

Niemand kann der FDP und insbesondere mir vorwer-
fen, dieses Projekt nicht in allen Phasen der Planung un-
terstützt zu haben.


(Beifall bei der FDP)

Man kann aber auch mit kühlem Kopf darangehen statt
mit heißer Luft, wie von Frau Staatssekretärin angeboten.
Dazu kann ich übrigens nur sagen: Was der Minister im
Zusammenhang mit dem Metrorapid derzeit an heißer

Parl. Staatssekretärin Angelika Mertens




Horst Friedrich (Bayreuth)

Luft produziert, reicht mindestens aus, um sich die Haare
zu föhnen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Renate Blank [CDU/CSU]: Um uns allen die Haare zu föhnen!)


Bei Abwägung aller Fakten muss man realistischer-
weise aber einmal zur Kenntnis nehmen, wie der Sach-
stand ist. Der Sachstand ist: 19 von 20 Planfeststellungs-
abschnitten für den Transrapid Hamburg–Berlin sind
abgeschlossen. Die Planfeststellung ist aufgehoben. Das
Magnetschwebebahnbedarfsgesetz ist aufgehoben.

In die Bahnstrecke Hamburg–Berlin, das VDE-Pro-
jekt 2, sind seit 1991 1 935 Millionen Euro verbaut wor-
den, also auch ein bisschen mehr, als bei den Anhörungen
zum Transrapid damals genannt worden ist. Das war not-
wendig, damit dort mit einer Geschwindigkeit von
230 Stundenkilometern gefahren werden kann. Nun sind
weitere knapp 700 Millionen Euro nötig, damit dort
tatsächlich 230 Stundenkilometer gefahren werden kön-
nen. Die Finanzierungsvereinbarung geht bis ins Jahr 2004.
Dann werden wir 2,6 bis 2,7 Milliarden Euro in die Eisen-
bahn investiert haben und wird – hoffentlich – mit einer
Geschwindigkeit von 230 Stundenkilometern gefahren
werden können. Angesichts dessen ist zu fragen: Ist da-
nach – die Realisierung wird sicherlich später sein – der
Transrapid noch zu finanzieren?

Vor dem Hintergrund hätte ich mir gewünscht, dass wir
als Opposition Herrn Stolpe einmal festnageln, was seine
Aussagen zu den beiden von der jetzigen Mehrheit ins
Auge gefassten Transrapidprojekten angeht. Was sich täg-
lich aus dem Blätterwald, aus Agenturmeldungen zu Aus-
sagen des Verkehrsministers, zu Dementis, zu wider-
sprüchlichen Aussagen der Landesregierung NRW über
die staunende Öffentlichkeit ergießt, ist fast schon Legion.


(Detlef Parr [FDP]: Stolpe stolpert!)

Offensichtlich wird von Ihnen, liebe Kollegen von Rot-

Grün, genau das vollzogen, was Sie uns bei der Strecke
Hamburg–Berlin immer vorgeworfen haben. Offensicht-
lich gilt das Prinzip: Augen zu und durch! Auf Teufel
komm raus, egal welche Unterlagen vorliegen, dieses
Projekt soll offensichtlich gepuscht werden. Gleichzeitig
erklärt der Verkehrsminister immer wieder, dass die Zah-
len natürlich belastbar sein müssen. Nur, was belastbar ist,
definiert offensichtlich er.

Wenn man alles zusammen nimmt, ist eines sicher: Das
Land NRWwird, wenn es denn auch nur eine Chance ha-
ben will, den Metrorapid zu realisieren, zumindest eine
Bürgschaftsverpflichtung in Höhe von 600 bis 700 Milli-
onen Euro eingehen müssen. Ohne das wird sich das Pro-
jekt – da können Sie rechnen, was Sie wollen – nicht rea-
lisieren lassen. Dazu aber gibt es Landtagsbeschlüsse in
NRW, die ganz anders aussehen. Der grüne Koalitions-
partner hat es ja schon abgelehnt, dass das Land auch nur
bürgschaftsmäßig eine Verpflichtung übernimmt.


(Detlef Parr [FDP]: Sehr richtig! So ist das!)

Ich wünsche viel Vergnügen bei den Diskussionen.

Ich halte das übrigens insgesamt für eine unseriöse
Diskussion. Sie führen wieder eine Diskussion, bei der

niemand weiß, wohin Sie eigentlich wollen. Ich sage Ih-
nen hier: Nach wie vor wollen Sie die Technik eigentlich
nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP sowie der Abg. Renate Blank [CDU/CSU] – Zuruf von der SPD: Das ist falsch!)


Was Sie bisher betreiben, ist, um Herrn Gabriel zu
zitieren, tatsächlich Voodoo-Mathematik. Sie sagen:
2,3 Milliarden Euro stehen im Bundeshaushalt zur Verfü-
gung, irgendwann ab dem Jahr 2006. Sie versprechen
Nordrhein-Westfalen mehr. Sie versprechen aber auch,
dass das nicht zulasten des Projekts in Bayern geht. Ich
kann der Antwort der Bundesregierung vom 24. Januar
entnehmen: Verpflichtungsermächtigungen in Höhe von
2,3Milliarden Euro sind in folgenden Fälligkeiten zu zah-
len: im Haushaltsjahr 2004 200Millionen Euro, im Haus-
haltsjahr 2005 300 Millionen Euro, im Haushaltsjahr
2006 400 Millionen Euro. Das sind zusammen, wenn ich
richtig rechne, 900 Millionen Euro. Im Jahr 2006 aber soll
nach Aussagen der Landesregierung NRWder Metrorapid
bereits fahren, weil dann die Fußballweltmeisterschaft
dort stattfindet. Wie das funktionieren soll, nachdem Sie
noch nicht einmal mit der Planfeststellung begonnen ha-
ben, müssen Sie der schlauen Öffentlichkeit erklären.

Nein, liebe Freunde, wenn wir tatsächlich lernen wol-
len, dann müssen wir uns ein Beispiel an China nehmen:
Die haben es in zwei Jahren nicht nur geschafft, den
Transrapid zu planen, sie haben ihn auch noch gebaut und
inzwischen in Betrieb genommen.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Na ja, einmal!)


Wir diskutieren in zwei Jahren – das sage ich Ihnen vo-
raus – immer noch, ob eine Finanzierung des Metrorapid
seriös dargestellt werden kann oder nicht. Das ist unser ei-
gentliches Problem in Deutschland. Daran sollten wir ar-
beiten.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502210100

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ali Schmidt, Bünd-

nis 90/Die Grünen.

Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Fischer, man sollte nicht versuchen, verlo-
rene Schlachten von gestern noch einmal schlagen und im
Nachhinein gewinnen zu wollen. Sie kommen mit Ih-
rem Antrag und mit Ihrem Redebeitrag heute drei bis
vier Jahre zu spät.


(Annette Faße [SPD]: Rückwärtsgewandt!)

Der Transrapid Hamburg–Berlin ist aus heutiger Sicht
eine Geisterbahn. Die Debatte darüber ist eine Geister-
debatte. An Geisterdebatten beteilige ich mich nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



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Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502210200

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen

Fischer?

Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Ich habe noch gar nichts gesagt, insofern kann er noch
gar nichts Vernünftiges fragen.


(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Dann kann er dich ja nie etwas fragen! – Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach den zig Debat-
ten, die wir zum Thema Hamburg–Berlin schon hatten
und die wir nicht um eine weitere Debatte verlängern soll-
ten, will ich zu dem Thema reden – –


(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Die entscheidende Frage ist, wie Sie die Äußerungen des Ministers bewerten!)


– Sie lassen mich ja nicht reden.

(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Was sagen Sie zu Stolpes Zitaten?)

– Herr Stolpe hat gesagt, das sei seine Traumstrecke.
Träumen darf man ja, aber hier im Plenum des Deutschen
Bundestages wollen wir hart und vernünftig miteinander
rechnen und entscheiden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Herr Stolpe hat gesagt, er hält die Strecke für machbar!)


Jetzt aber zur Sache. Um was geht es? Lassen Sie mich
hier realistisch von den möglichen Anwendungsper-
spektiven dieser Technologie in Deutschland reden, die
hier und heute zur Diskussion stehen. Kollege Horst
Friedrich hat mit Recht angemahnt, dass man von einer
cleveren Opposition eigentlich einen ganz anderen Antrag
hätte erwarten müssen; das ist aber Ihr Problem.

Ich möchte Ihnen sagen, dass wir sehr bewusst nicht
das Verfahren „Augen zu und durch“ gewählt haben und
wählen werden.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Warten wir es mal ab! – Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/ CSU]: Wir haben keine Unterlage! Nichts!)


Vielmehr haben wir bereits im Februar letzten Jahres
die prinzipielle Zusage gemacht – wir haben sie im Koa-
litionsvertrag zu Beginn dieser Legislaturperiode erneu-
ert –, dass der Bund bereit ist, an der Anwendung dieser
Technologie in Deutschland mitzuwirken und sie mit bis
zu 2,3 Milliarden Euro an Bundeszuschüssen zu unter-
stützen.


(Renate Blank [CDU/CSU]: Ohne Beteiligung des Parlaments!)


Wir alle sollten uns hier aber, liebe Frau Kollegin
Blank, einig sein, dass wir bei Finanzierungszusagen
in einer solchen Größenordnung selbstverständlich be-

stimmte Grundlagen brauchen, das heißt, dass wir solide
Bedingungen definieren müssen.


(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Sie haben den Antrag doch abgelehnt!)


Diese Bedingungen sind ein – was die Investitionen anbe-
trifft – belastbares Finanzierungskonzept und darauf auf-
setzend Wirtschaftlichkeitsberechnungen – die im Laufe
der Planungen fortzuschreiben sind –, die auch zeigen,
dass nachher im Betrieb, nachdem eine solche Technolo-
gie in Deutschland irgendwo zur Anwendung gekommen
ist, nicht dauernd rote Zahlen eingefahren bzw. weitere
Subventionen des Steuerzahlers verlangt werden. Über
diese beiden Grundlagen sollten wir uns im ganzen Hause
einig sein. Alles andere würde in der Tat bedeuten, dass
man nach dem Motto „Augen zu und durch“ handelt. Das
wäre dann unseriös.

Im Vorfeld des für den 4. Februar angekündigten Finan-
zierungskonzeptes aus Nordrhein-Westfalen hatte ich nun
erwartet, dass seitens der Industrie ein klares Signal kommt,
dass man mit dem Wort von der Public Private Partnership,
also der Partnerschaft zwischen öffentlichen Investoren und
privaten Investoren, Ernst macht und wirklich einen sub-
stanziellen Beitrag einbringt. Das, was bisher zu hören und
zu lesen ist, dass es zweimal 100 Millionen Euro als Darle-
hen – rückzahlbar – seitens der Industrie geben soll oder ge-
ben könnte, ist enttäuschend. Im Klartext: Die Enttäu-
schung all derjenigen, die erwartet hatten, die privaten
Investoren würden jetzt Schlange stehen, um an dieser,
Herr Kollege Fischer, so erfolgreichen Technologie und
auch nachher an der Rendite beteiligt zu sein, ist groß. Wir
stellen stattdessen fest, dass die Wirtschaft, die Industrie
nicht mit Risikobereitschaft zur Sache geht, sondern das
Risiko auf die Steuerzahler abwälzt. Erhoffte Gewinne hin-
gegen sollen privatisiert werden.


(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Wie ist das eigentlich bei der Bahn? Das kann doch wohl nicht wahr sein!)


– Lieber Herr Kollege Fischer, das ist nicht Public Private
Partnership, sondern eine falsche Akzentsetzung. Das ist
unseres Erachtens keine gute Grundlage für ein solches
Konzept.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Sie sind doch völlig unglaubwürdig! Bei der Bahn wird genau das Gegenteil gemacht!)


– Herr Kollege Fischer, regen Sie sich doch ab! Im
Grunde genommen äußere ich doch die gleiche Kritik wie
Ihre Freunde in Nordrhein-Westfalen.

Ich will darauf aufmerksam machen, dass der Bund
bereit ist, über die 2,3 Milliarden Euro hinaus nochmals
338 Millionen Euro in die so genannten Sowieso-Maß-
nahmen, die Infrastrukturmaßnahmen nach dem Bundes-
schienenwegeausbaugesetz, zu investieren. Wenn den-
noch ein Kreditbedarf in Höhe von knapp 700 Millionen
Euro übrig bleibt, müssen schon ein paar Fragen offen und
ehrlich beantwortet werden.

Die erste Frage lautet: Wer ist eigentlich der Kreditneh-
mer dieser 679 Millionen Euro? Denn der Kreditnehmer ist




Albert Schmidt (Ingolstadt)

nachher Rückzahlungspflichtiger und Zinsschuldner. Wer
ist das eigentlich? Das Land? Wieder der Bund? Oder ist die
Industrie vielleicht bereit, als Kreditnehmer und damit als
Risikoträger einzusteigen? Diese schlichte Frage sehe ich
bis heute nicht beantwortet. Soll diese Rückzahlungspflicht
etwa auf den möglichen Betreiber, die Deutsche Bahn AG,
verlagert werden, was bedeuten würde, dass Mindererlöse
zu einer entsprechenden Zins- und Tilgungslast gegenüber
den Investitionsvorleistungen geltend gemacht werden kön-
nen? All diese Fragen werden wir in Ruhe prüfen.

Genauso müssen wir prüfen, ob sich die erneute Ver-
kürzung der Züge von einstmals sechs Sektionen pro
Zug in der Vorstudie 2000 auf jetzt nur noch drei Sektio-
nen pro Zug,


(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Woher wissen Sie das eigentlich alles?)


die für die Fahrgäste mehr Stehplätze bedeutet, auf den
Komfort, auf die Nachfrage und damit die Erlössituation
auswirkt. Diese Frage muss man rational diskutieren. Das
werden wir tun. Wir werden uns das in aller Ruhe an-
schauen.


(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Wir haben bisher keine Informationen!)


Dann werden alle an dem Projekt Beteiligten eine sehr
verantwortliche Entscheidung zu treffen haben.

Lassen Sie uns die Planungen vertiefen, um eine Ent-
scheidungsgrundlage mit präzisen Daten und realitätsnahen
Kosten- und Risikoabschätzungen herzustellen! Lassen Sie
uns dafür Sorge tragen, dass der Bund bei den Planungsmit-
teln mithilft, damit wir gemeinsam entscheiden können, ob
das entstehende Projekt wirklich tragfähig ist! Lassen Sie
uns auch darauf achten, dass es im Verlauf der weiteren Pla-
nungen, bei der Planfeststellung und bei der Ausschreibung,
Revisionspunkte gibt, an denen wir gemeinsam feststellen
können und sollten, ob die Grundannahmen bestätigt wur-
den oder die Kosten aus dem Ruder laufen. Diese Korrek-
turmöglichkeiten müssen wir uns im Interesse aller Betei-
ligten offen halten. Auch dafür werden wir uns einsetzen.

Kollege Fischer, in diesem Sinne sage ich: Nicht die
Strecke Hamburg–Berlin ist das Thema, sondern ein ver-
nünftiger Umgang mit den anderen möglichen Anwen-
dungsstrecken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502210300

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Norbert

Königshofen.


Norbert Königshofen (CDU):
Rede ID: ID1502210400

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Wenn man die Einlassungen
der Vertreter der rot-grünen Koalition hört, kann man ei-
gentlich nur noch mit dem Kopf schütteln. Sie bekämpfen
unseren Antrag und sind gleichzeitig bereit, in ein unsin-
niges Verkehrsprojekt in Nordrhein-Westfalen, in ein Fass
ohne Boden, 2 Milliarden Euro Bundesmittel zu stecken.


(Beifall bei der CDU/CSU – Ute Kumpf [SPD]: Sie scheinen nicht zugehört zu haben!)


Der Metrorapid hat keine verkehrspolitischen Vorteile.
Die Fernreisenden müssen in Dortmund oder Düsseldorf
umsteigen. Die Autofahrer werden kaum genötigt umzu-
steigen; denn 80 Prozent aller Autofahrten im Ruhrgebiet
finden in einem Radius von 10 Kilometern statt. Zu glau-
ben, dass die Autofahrer zwischendurch auf den Metrora-
pid umsteigen, ist so töricht wie das ganze Projekt.

Der Bundesrechnungshof – ich hoffe, Sie haben das ge-
lesen; ansonsten würde ich Ihnen, vor allem der Regie-
rung, empfehlen, das nachzulesen – kommt zu einem ver-
nichtenden Urteil.


(Zuruf des Abg. Reinhard Weis [Stendal] [SPD])


– Wenn Sie das gelesen haben, kann ich nicht verstehen,
warum Sie sich noch dafür einsetzen können. Obwohl der
Bundesrechnungshof noch nicht einmal die Prognose für
das Fahrgastaufkommen und das Kostenrisiko für den
Fahrweg überprüft hat, kommt er zu dem Ergebnis, dass
das Projekt nicht realisierungswürdig ist.

Die Fachkompetenz des Wissenschaftlichen Beirats
beim Bundesminister für Verkehr wurde nicht genutzt, so
stellt der Bundesrechnungshof fest. Die Alternativlösun-
gen modernerer Rad-Schienen-Technik sind nicht unter-
sucht worden. Die versprochene Inbetriebnahme zur Fuß-
ballweltmeisterschaft 2006 ist unrealistisch.


(Zuruf von der SPD: Sie sollen über Berlin–Hamburg reden!)


Der Kosten-Nutzen-Quotient liegt bei unter 1 Prozent,
sagt der Bundesrechnungshof.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: 1 Prozent!)


Dabei sind Kosten für Park-and-Ride-Anlagen, Schall-
schutz und Instandhaltung von Fahrweg und Bahn gar
nicht erst untersucht worden.

Der Bahnexperte Reimeier warnt ebenfalls vor der
Realisierung. Er sagt einen Verlust in Höhe von jährlich
90 Millionen Euro voraus.

In diesem Zusammenhang sind Fragen an die Indus-
trie, was sie dazugeben werde, unsinnig. Eine Industrie,
die in ein Projekt investiert, das nachweislich defizitär
sein wird, wird in Deutschland nicht mehr lange Arbeits-
plätze vorhalten können.

Wir haben es also mit Dauerinvestitionen in riesiger
Höhe zu tun, die angesichts geringer Verkehrswirkungen
nicht zu verantworten sind, so das Urteil der Fachleute.
Das sagt auch Herr Mehdorn, der im Übrigen als Betrei-
ber auftreten soll. Er war es übrigens, der die Strecke Ham-
burg–Berlin kaputtgemacht hat, nicht die Industrie. Es war
die Bahn AG, die mithilfe des Bundes das Projekt kaputt-
gemacht hat. Das will ich festhalten, Frau Staatssekretärin.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Herr Mehdorn sagt jetzt, das Projekt Metrorapid sei mit

erheblichem finanziellen Risiko verbunden und er glaube
nicht, dass der Bund mit den Mitteln für die Infrastruk-
turmaßnahmen auskommen werde. Wir sind uns dabei si-


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cher; in diesem Punkt hat er Recht. Es stehen mittlerweile
3,5 Milliarden Euro zur Verfügung. Jetzt soll gekürzt
werden; Kollege Schmidt hat das angesprochen. Es soll
deswegen nur noch drei Sektionen geben. Laut „WAZ“
müssen die meisten Fahrgäste stehen. Es wird sehr an-
schaulich sein, wenn die ausländischen Gäste kommen
und sehen, dass wir die modernste Technik in Deutsch-
land haben, die Leute aber über 78 km stehen müssen.

Die interessanteste Haltung in dieser Sache nehmen aber
die Grünen ein. Kollege Schmidt sagt beispielsweise,
80 Millionen Euro für Planung und Berechnung könnten
wir noch zahlen. Das sei zu verkraften, wenn am Ende Sub-
ventionen in Milliardenhöhe verhindert werden könnten.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das habe ich nicht gesagt!)


Erst einmal sollen also 80 Millionen Euro ausgegeben
werden. Dabei haben Sie gesagt – ich zitiere Sie wörtlich –:

Ich bin überzeugt, dass mit jedem konkreten Pla-
nungsschritt die Unwirtschaftlichkeit bewiesen wird.

Wenn Sie davon überzeugt sind, Herr Schmidt, dann weiß
ich nicht, wie Sie überhaupt noch einen Eurocent für das
Projekt Metrorapid ausgeben können.

Meine Damen und Herren, machen Sie Schluss mit
diesen unsinnigen Projekten und stimmen Sie unserem
Antrag zu! Wir haben eine Strecke ins Auge gefasst, die
sinnvoll ist. Im Ruhrgebiet würde der Metrorapid die Si-
tuation nur verschlechtern.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Die Strecke ist total verkehrt! – Weiterer Zuruf von der SPD: Dazu haben Sie doch noch kein Wort gesagt, Herr Königshofen!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502210500

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Reinhard Weis.


Reinhard Weis (SPD):
Rede ID: ID1502210600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lieber Dirk Fischer, dass du dir deine schönen Träume
von der kalten Realität nicht zerstören lässt, ehrt dich.


(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Stolpe hat vom Traum gesprochen, nicht von der Realität!)


Mir scheint der von der CDU/CSU-Fraktion vorgeleg-
te Antrag „Transrapid-Projekt Berlin–Hamburg unverzüg-
lich wieder aufnehmen“ dem Geist der Kinotraumwelt und
der Erwartung auf das Happy End entsprungen zu sein.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wenigstens im Kino ist immer ein Happy End zu sehen,
auch wenn dafür Fakten, Logik und die Realität noch so
sehr strapaziert werden müssen. Wir hier im Deutschen
Bundestag sind von Ihnen schon zigmal zu den Vorfüh-
rungen Ihres Lieblingsfilms Transrapid Hamburg–Berlin
eingeladen worden: Transrapid Hamburg–Berlin die Erste;
Transrapid Hamburg–Berlin die Zweite; heute sind wir, wie
ich glaube, bei Transrapid Hamburg–Berlin die 25. Das
mag Sie, Kollege Fischer, vielleicht dazu veranlasst haben,
jetzt alles auf den Anfang zurückdrehen zu wollen.

Für die beiden aussichtsreichen Landesprojekte Me-
trorapid in Nordrhein-Westfalen und die Flughafenanbin-
dung in München ist Ihr Antrag als Störfeuer zu betrach-
ten. Die Rede, die Norbert Königshofen hier gehalten hat,
bestätigt dies. Deshalb scheint mir, Kollege Fischer: Sie
sind ein schlechter Verlierer.


(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Was? Schlecht? – Renate Blank [CDU/CSU]: Das ist das Letzte, was man dem Kollegen Fischer unterstellen kann!)


Wenn schon das Projekt Hamburg–Berlin nicht realisiert
werden kann, dann soll wohl auch kein anderes Projekt in
Deutschland realisiert werden. Anders kann man Ihren
Antrag und den Beitrag, den wir eben von Norbert
Königshofen gehört haben, nicht verstehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Was hat das denn damit zu tun? Sie haben eine Fehlentscheidung getroffen!)


Die Vorstellung in Ihrem Antrag, man könne jetzt so-
fort an die Planungen vom Februar 2000 anknüpfen, ist so
absurd, dass man nur mit dem Kopf schütteln kann. Sie
wissen doch sehr genau, warum das Magnetschwebe-
bahnprojekt Hamburg–Berlin, das ursprünglich mit circa
3 Milliarden Euro veranschlagt wurde, gescheitert ist.


(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Es ist nicht gescheitert! Es ist zerstört worden!)


Es beruhte auf einer Finanzierungsvereinbarung, die so-
wohl dem Bund als auch der DB AG unkalkulierbare Ri-
siken zuschob.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das ist beim Metrorapid aber nicht anders!)


Hingegen wollte die Wirtschaft nur minimale Risiken bei
maximaler Sicherheit für die Refinanzierung und die Ge-
winne eingehen. So kann man kein Public-Private-Part-
nership-Projekt durchführen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesminister für

Verkehr hat 1994, also zur Zeit Ihrer Regierungsverant-
wortung, festgestellt – und an dem Finanzierungskon-
zept bemängelt –, dass man von der Industrie, wenn sie
von der Weltmarktfähigkeit des Magnetbahnprodukts
überzeugt ist, eine höhere Risikobereitschaft erwarten
darf.


(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Bei den Betriebseinrichtungen und nicht bei der Strecke!)


Dieser Satz ist wahrhaftig von hoher Aktualität.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502210700

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fischer?


Reinhard Weis (SPD):
Rede ID: ID1502210800

Bitte schön.

Norbert Königshofen






Dirk Fischer (CDU):
Rede ID: ID1502210900

Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, dass durch das Kon-

zept Public Private Partnership die Aufgabenteilung so
gestaltet wurde, dass die öffentliche Hand in der Vorfi-
nanzierung der Strecke und die Industrie in der Finanzie-
rung der Betriebseinrichtungen ihre Pflichten hatten


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie tun ja nicht einmal das!)


und dass sich diese Bemerkung nicht auf Streckeninvesti-
tionen, sondern nur auf die Betriebseinrichtungen bezog,
wohingegen später von der Industrie verlangt wurde, in
den Verantwortungsbereich der öffentlichen Hand einzu-
treten und sich auch an der Strecke zu beteiligen? Können
Sie mir darin zustimmen?


Reinhard Weis (SPD):
Rede ID: ID1502211000

Das kann ich so nicht anerkennen, lieber Kollege

Fischer,

(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Das steht aber so im Konzept!)

da wir den Bau einer Strecke nicht von dem Betrieb, der
später auf ihr stattfinden soll, trennen können. Ich werde
in meinem Beitrag später noch einmal darauf hinweisen,
wie die unsichere Kalkulationsbasis für den Betrieb und
die Finanzierungsbedingungen für die Strecke miteinan-
der verwoben sind.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Auch der Bundesrechnungshof hat zu der übermäßi-
gen Risikobelastung der DB AG – jetzt bin ich bei dem
Thema – und des Bundes sehr kritisch Stellung genom-
men. Die Systemhersteller hatten von der DB AG seiner-
zeit ein garantiertes Nutzungsentgelt zur Refinanzierung
ihres Einsatzes verlangt. Die Zahlungen sollten unabhän-
gig von den tatsächlichen Erlösen erfolgen und notfalls
sogar aus den DB-Mitteln an die Industrie entrichtet wer-
den. Diese Kritik des Bundesrechnungshofes machte da-
mals Furore. Ich verweise auch hier auf die Parallelität zur
aktuellen Debatte.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Richtig! Sehr gut!)


Zu einer endgültigen Finanzierungsvereinbarung zwi-
schen dem Bund, der DB AG und den privaten Herstellern
ist es im Sommer 1998, als die Beteiligten es eigentlich
erwartet hatten, übrigens nicht mehr gekommen, weil die
Industrie keine Risiken eingehen und sie beim Bund und
bei der DB AG abladen wollte.


(Annette Faße [SPD]: Unter Minister Wissmann! – Gegenruf des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das ist aber lange her!)


– Ja, unter Minister Wissmann. – Die Staatssekretärin hat
darauf hingewiesen, dass Sie es in Ihrer Regierungsver-
antwortung in der Hand gehabt haben, die von Ihnen
heute eingeklagten Schritte einzuleiten. Sie müssen
Bundesminister Wissmann, der die Finanzierungsverein-
barung seinerzeit nicht unterschrieben hat, dankbar sein,

dass er dieses Risiko in Ihrem Namen nicht eingegangen
ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/ CSU]: Es wurden Staatsgarantien verlangt! – Werner Kuhn [Zingst] [CDU/CSU]: Wer hat das denn in unverantwortlicher Weise zurückgezogen, sodass ein Millionenschaden entstanden ist? Das war die SPD!)


Interessanterweise hat er Ihren Antrag nicht unterzeich-
net. Wahrscheinlich hat er sich etwas dabei gedacht.

Erneute detaillierte Überprüfungen der Wirtschaft-
lichkeit der Strecke Hamburg–Berlin führten im Sommer
2000 zum endgültigen Aus für das Projekt. Ich wiederhole
es: Dies geschah einvernehmlich zwischen den Partnern
der trilateralen Vereinbarung, also der Industrie, der DB
AG und dem Bund. Wir hatten uns die damalige Ent-
scheidung nicht leicht gemacht; darüber haben wir hier im
Plenum bereits debattiert.


(Renate Blank [CDU/CSU]: Das war der Beschluss der Grünen! Ihr seid gefolgt!)


Von Beginn an war klar, dass eine Magnetbahnstrecke in
Deutschland kein reines Verkehrsprojekt ist. Vielmehr
ging und geht es auch heute noch um die Technologiepo-
litik. Aus diesem Grunde waren unter Ihrer Verantwor-
tung 1994 alle Bundesressorts aufgefordert, zur Finanzie-
rung des Projektes rund 40 Prozent der Investitionsmittel
beizusteuern. Logischerweise kam der größte Anteil aus
dem Verkehrshaushalt.

Dieses Konzept der Technologiepolitik ist weiterhin
aktuell. Das ist auch die Begründung dafür, dass wir in un-
serer Koalitionsvereinbarung einen Bundeszuschuss in
Höhe von 2,3 Milliarden Euro vereinbart haben.

Nach der Entscheidung gegen die Strecke Ham-
burg–Berlin, zu der meine Fraktion nachdrücklich steht
und nach der wir konsequenterweise das Magnetschwe-
bebahnbedarfsgesetz außer Kraft gesetzt haben, war es
uns wichtig, sicherzustellen, das angesammelte Know-
how in Sachen Magnetschwebetechnik für den Industrie-
standort Deutschland zu erhalten. Deswegen sollten wir
heute lieber über zukunftsfähige Projekte als über begra-
bene Träume reden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Das ist doch der Metrorapid nicht!)


Von den durch die Bundesländer vorgeschlagenen kur-
zen Referenzstrecken erschienen die in Nordrhein-West-
falen und Bayern am aussichtsreichsten. Ende Februar fiel
deshalb die Entscheidung, die ausgewählten Landespro-
jekte mit den industriepolitisch begründeten Zusagen zu
bezuschussen.

Nun hat die öffentliche Diskussion über die Magnet-
schwebebahntechnik durch die erfolgreiche Probefahrt in
Schanghai enormen Rückenwind bekommen. Es wäre
gut, wenn beide Landesprojekte, Metrorapid und Anbin-
dung an den Flughafen München, realisiert werden könn-
ten. Beide Projekte sind, obwohl Nahverkehrsprojekte,


(A)



(B)



(C)



(D)


1744


(A)



(B)



(C)



(D)






unterschiedlich strukturiert, sodass mit beiden Projekten
die Anwendungsbreite dieser Technologie demonstriert
werden könnte.

Aber es ist doch interessant, dass zurzeit aus der CSU
Zweifel an der Wirtschaftlichkeit der Magnetschwebe-
bahnverbindung zum Flughafen München geäußert wer-
den.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Zum Glück!)


Wir stehen also mit unseren Bedenken nicht allein.

(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Von wem wurden Zweifel geäußert?)

– Reden Sie einmal mit dem Finanzminister des Freistaa-
tes Bayern!

Das Land Bayern muss ein schlüssiges Finanzierungs-
konzept vorlegen.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Schlüssiger als das in NRW!)


– Weil der Zeitpunkt noch nicht reif ist – die Entwicklung
dauert noch an –, können wir heute noch nicht darüber re-
den.

Positiv ist der Planungsfortschritt beim Metrorapid zu
bewerten. Eigentlich hatten wir damit gerechnet, erst
2004 Barmittel in den Bundeshaushalt einstellen zu müs-
sen.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das ist der Stand von vor vier Wochen! Du bist nicht auf dem aktuellen Stand!)


Wir freuen uns, dass der Prozess in Fahrt gekommen ist.
Deshalb werden wir uns dafür einsetzen, nötige Pla-
nungsmittel aus dem zugesagten Plafond für Nordrhein-
Westfalen in Höhe von 1,75 Milliarden Euro bereits ab
2003 zur Verfügung zu stellen, sofern ein tragfähiges
Finanzierungskonzept vorgelegt wird. Wir erwarten das
offiziell am 4. Februar.

Umso unverständlicher ist die weiter zögerliche Hal-
tung der beteiligten Industrie, bei der Realisierung des
Metrorapid echte Risiken zu übernehmen. Wir unterstüt-
zen ausdrücklich Bundesminister Stolpe, für den die Be-
teiligung von Thyssen-Krupp und Siemens am Risiko tra-
genden Kapital – im Gespräch sind 200 Millionen Euro –
eine unabdingbare Voraussetzung ist, um zusätzliche Mit-
tel für das Metrorapidprojekt bereitzustellen. Für ihn ist
das eine Conditio sine qua non. In diesem Sinne lehnt es
Minister Stolpe ab, der DB AG als zukünftigem Betreiber
die Übernahme des Betriebsrisikos und die Last der Refi-
nanzierung eines Kredites der Industrie für deren ver-
meintliche zusätzliche Risikobeteiligung aufzuerlegen.
Auch darin hat er unsere Unterstützung.

Die Presse bemüht sich zurzeit – das kam vorhin auch
in dieser Debatte zum Ausdruck –, einen Dissens zwi-
schen der SPD-Bundestagsfraktion und der Regierung zu
konstruieren. Das ist Unsinn. Wir sind uns darin einig,
dass es der verbindlichen Zusage der Industrie bedarf,
wenn es eine Erhöhung des Zuschussbedarfs geben soll.
Wir sind uns auch darin einig, dass eine solche Mitteler-

höhung nicht 2003, sondern erst zu einem späteren Zeit-
punkt ansteht, nämlich dann, wenn alle relevanten Fakten
nach Durchführung des Planfeststellungsverfahrens auf
dem Tisch liegen. Wir wollen eine verantwortbare Ent-
scheidung zur Magnetschwebetechnik. Deshalb muss
man einen Revisionspunkt bestimmen, an dem man noch
ergebnisoffen entscheiden kann, an dem man dann aber
auch entscheiden muss. Dieses Verfahren wenden wir
übrigens auch bei dem Projekt „Stuttgart 21“ an.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn das erforderliche finanzielle Engagement der
Industrie verbrieft ist und das Land NRW Planung und
Finanzierung garantiert, wird die SPD-Bundestagsfrak-
tion nicht abseits stehen. Wir werden dann die Mittel im
vereinbarten Umfang bereitstellen, aber erst dann und
nicht vorher.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Aus welchem Haushalt denn?)


In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal daran
erinnern, dass es sich um ein Technologieprojekt für den
Standort Deutschland handelt. Der Bundesbeitrag zu die-
sem Projekt, der heute zur Verfügung steht, ist von allen
Ressorts gemeinsam aufgebracht worden. Das muss
selbstverständlich auch für eventuell anfallende Mehrkos-
ten gelten.

Nordrhein-Westfalen wird in den nächsten Tagen alle
Hausaufgaben machen und sie uns vorlegen. Wir rechnen
auch mit einer verbindlichen Erklärung über die finanzi-
ellen Verpflichtungen des Landes. Bisher ist dies durch ei-
nen Landtagsbeschluss aus dem vorigen Jahr ausge-
schlossen. Das kann so nicht bleiben.


(Norbert Königshofen [CDU/CSU]: Die sind doch pleite!)


So weit der Stand der beiden Landesprojekte, die wir mit
großen Hoffnungen hinsichtlich ihres verkehrstechnolo-
gischen Entwicklungspotenzials begleiten und natürlich
auch mit den unter den genannten Konditionen zugesag-
ten Bundesmitteln unterstützen werden.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das ist genau das, was die Bürger ärgert! Dummes Zeug ist das!)


Meine Damen und Herren, hier in Berlin startet in die-
sen Tagen die Berlinale. Ihr Antrag, Herr Fischer, war der
erste Beitrag in der Rubrik „Play it again“.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Hoffentlich holt Sie diese Aussage nicht noch ein, Herr Weis!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502211100

Das Wort hat jetzt die Kollegin Renate Blank.

(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Jetzt kommt die Stimme Bayerns! – Lachen bei der SPD)


Reinhard Weis (Stendal)







Renate Blank (CSU):
Rede ID: ID1502211200

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kollege

Weis, da Sie die Transrapidstrecke in München überhaupt
nicht erwähnt haben,


(Annette Faße [SPD]: Hat er erwähnt!)

frage ich Sie: Vergessen Sie eigentlich, dass Bayern auch
zum Aufbau Ost beiträgt?


(Lachen und Widerspruch bei der SPD)

Kollege Weis, sie praktizieren hier dieselbe Verschiebe-
technik wie im Jahr 2000, als Sie das Aus für die Transra-
pidstrecke Hamburg–Berlin beschlossen hatten. Dies war
ein unverzeihlicher Fehler; denn wie sich jetzt zeigt, ist
der Verkehrsminister plötzlich zu einem großen Fan die-
ser Strecke geworden.


(Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Er hat vorhin von seinem Traum gesprochen!)


Sie sollten Ihren Verkehrsminister ernst nehmen und

(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Ihn loben!)


auf ihn hören, meine Damen und Herren.
Die damalige Fehlentscheidung hat auch deutlich ge-

macht, dass die Grünen diese zukunftsweisende Technik
in Deutschland absolut nicht haben wollen. Frau Staatsse-
kretärin, im Jahr 2000 wollten Sie uns noch weismachen,
dass „man im Herbst nächsten Jahres“, also im Jahr 2001,
in 90 Minuten von Berlin nach Hamburg gelangen könne,
wie Sie auch sonst hier schon unqualifizierte Äußerungen
gemacht haben. Denn noch heute braucht man für die
Fahrt von Hamburg nach Berlin und umgekehrt weit über
zwei Stunden. Um dies nachzuvollziehen, braucht man
nur den Fahrplan zu lesen.

Nun kommen die Grünen in NRW, die den Transrapid
stets abgelehnt haben, ein bisschen in die Zwickmühle.
Ich weiß gar nicht, wie sie sich daraus befreien wollen.
Aber auch die Bundesregierung, deren Herz nur für die
Strecke in NRW schlägt, was sie bei der Zusammenset-
zung der Delegation für die Eröffnungsfahrt in Schanghai
deutlich zum Ausdruck brachte, gerät in Bedrängnis; denn
Anfang Februar wird die bayerische Staatsregierung ein
Finanzierungskonzept für den bayerischen Transrapid
beschließen, während in NRW die Finanzierung absolut
noch nicht gesichert ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Darüber werden wir ja noch reden!)


Die nicht gesicherte Finanzierung in NRW kann aber
nicht bedeuten, dass die Bundesregierung plötzlich für
NRW bei heruntergerechneten Kosten von 3,2 Milliarden
Euro den Zuschuss von 1,75 Milliarden Euro um 250 Mil-
lionen Euro auf 2 Milliarden Euro erhöht, um Rot-Grün
aus der Patsche zu helfen. Das wäre eine eindeutige Be-
nachteiligung Bayerns und kann nur mit rot-grünem Filz
bezeichnet werden.


(Beifall des Abg. Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP])


Diese verfilzte Kungelei war doch schon im Gange, als
die ersten Bundeszuschüsse zugesagt wurden: für NRWfast

50 Prozent, nach der Zusage des Bundeskanzlers nun weit
über 50 Prozent, und für Bayern mit 550 Millionen Euro nur
ein Drittel der Gesamtkosten von 1,6 Milliarden Euro.


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist unglaublich!)


Es kann doch nicht sein, dass der Kanzler der Genos-
sen nur noch seine Genossen kennt! Welches Demokra-
tieverständnis in einem föderalen Staat steckt hinter der
Stirn des Kanzlers, der den Bayern schon „Steine statt
Brot“ angekündigt hat, nur weil die Bayern sowohl bei
den Landtags- als auch bei den Bundestagswahlen richtig
entscheiden.


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Er sollte zurücktreten! – Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Bei den Landtagswahlen müssen wir erst mal gucken! Die kommen erst noch!)


Der Kanzler hat doch in seinem Amtseid, wenn auch ohne
Gott, geschworen, dem Wohle des ganzen Volkes zu die-
nen. Dies scheint er mehr und mehr zu vergessen.

Tatsache ist, dass der Transrapid in Bayern kommen
wird, denn das CSU-Kabinett hat die Weichen für eine
schnelle Verwirklichung gestellt. Dies ist allein schon da-
raus ersichtlich, dass die Vorfinanzierung der Planungs-
kosten von 40 Millionen Euro übernommen worden ist.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Von Bayern im Gegensatz zu NRW!)


Bayern handelt und Berlin schläft.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Bayern wird mit einer schnelleren Planung, die für den
Transrapid in München erheblich einfacher als die Pla-
nungen für den Metrorapid in NRW ist, einer sicheren
Finanzierung und, was besonders wichtig ist, einer höhe-
ren Wirtschaftlichkeit dafür sorgen, dass der Transrapid
in Bayern schneller als in Nordrhein-Westfalen auf den
Weg gebracht wird.


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Genau!)

Ich bin davon überzeugt, dass die erste Transrapidstrecke
in Bayern in Betrieb gehen wird, da Sie unseren heutigen
Antrag zu Berlin–Hamburg ablehnen.

Es ist doch grotesk, wenn die Bundesregierung auf
meine schriftliche Frage am 17. Januar antwortet:

Nach derzeitigem Kenntnisstand des Bundes plant
das Land Nordrhein-Westfalen die Inbetriebnahme
im Jahr 2006.

Welche Leichtgläubigkeit im Verkehrsministerium offen-
bart sich hier! Drei Jahre für Planung und Bau sind in
Deutschland eine viel zu kurze Zeit. Dies ist nur in China
zu verwirklichen. Die Einschätzung Bayerns,


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Die CSU ist die letzte große Staatspartei, die es noch in Deutschland gibt!)


dass der Transrapid erst im Jahr 2008/09 fahren wird, ist
berechtigt. Ich bin gespannt, ob die Bundesregierung be-
reit ist, die Transrapidstrecken in den Bundesverkehrswe-
geplan aufzunehmen, damit sich das Parlament damit be-


(A)



(B)



(C)



(D)


1746


(A)



(B)



(C)



(D)






fassen kann. Wir jedenfalls haben damals den Fahrweg
Berlin–Hamburg als wichtige Strecke aufgenommen.

Der Transrapid ist ein Projekt mit Signalwirkung für
unser Land. Diese Technologie steht für die Innovations-
und Erneuerungsfähigkeit unseres Landes und ist zu-
gleich ein gewaltiges Konjunkturprogramm. Rot-Grün
sollte danach handeln und nicht nur die Parteischiene
fahren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Jetzt können wir den Antrag gleich beschließen!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502211300

Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 15/300 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-
Michael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan,
Gudrun Kopp, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
EU-Richtlinie zur Haltung von Nutztieren in
nationales Recht umsetzen
– Drucksache 15/226 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft (f)

Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die FDP
fünf Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wider-
spruch. Dann verfahren wir so.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als Erster der
Abgeordnete Hans-Michael Goldmann.


Hans-Michael Goldmann (FDP):
Rede ID: ID1502211400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr

Minister Bartels aus Niedersachsen,

(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Noch-Minister!)

ich freue mich uneingeschränkt, dass Sie heute hier sind.
Dass ich mich auch freuen würde, wenn Sie nach den
Wahlen am kommenden Sonntag nicht mehr Minister in
Niedersachsen wären, werden Sie mir sicherlich nicht
übel nehmen;


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

denn ich gehöre einer anderen Partei an. Aber ich finde es
gut, dass Sie sich dem Thema der Tierhaltung zuwenden.
Ich weiß auch, welche Position Sie in dieser Frage haben.

Auch wenn es der eine oder andere noch nicht gemerkt
hat: Wir nähern uns jetzt dem absoluten Höhepunkt des

heutigen Plenartages; denn wir waren mit dem jetzt zur
Diskussion stehenden Thema nicht nur in der britischen
„Times“, sondern auch in vielen anderen europäischen
Medien vertreten. Die Überschriften waren ein bisschen
verwirrend. Eine lautete zum Beispiel: Müssen Schweine
Basketball spielen? – Worum geht es? Es geht um die Um-
setzung einer europäischen Richtlinie zur Haltung von
Nutztieren in nationales Recht. Das hätte die tierschutz-
orientierte rot-grüne Bundesregierung eigentlich schon
bis zum November 2001 tun müssen. Aber leider hat sie
wie so oft bei diesem Thema kläglich versagt.


(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Warum ist denn Frau Künast nicht da? Sie könnte bei diesem Thema noch etwas lernen! – Zuruf von der SPD)


– Nein, Herr Kollege, das hat Ihre Regierung nicht von
uns gelernt. Ich hoffe, dass Sie so etwas nicht ernsthaft be-
haupten; denn das, was ich angesprochen habe, ist ja er-
schreckend.

Es ist nach unserem Verständnis absolut notwendig, die
europäische Richtlinie eins zu eins in nationales Recht
umzusetzen; denn es macht keinen Sinn, nationale Al-
leingänge zu machen. Solche führen nur zu Verunrechtli-
chung und dazu, dass eine gesetzliche Grundlage für ei-
nen vernünftigen Tierschutz in Deutschland nicht mehr
gegeben ist.


(Beifall bei der FDP)

Das hat gerade das Beispiel einer Auseinandersetzung vor
einem Gericht in Minden gezeigt. Dort hat ein Schweine-
halter gegen das Land Nordrhein-Westfalen prozessiert
und gewonnen. Es wurde festgestellt, dass das Land re-
gionales Sonderrecht geschaffen hat. Solche regionalen
Sonderrechte sind häufig auch weit entfernt von jeder
Form von Fachlichkeit. Das liegt daran, dass sehr viele
Menschen überhaupt keine Ahnung davon haben, wel-
chen Anspruch Tiere bei der Haltung haben. Das gilt vor
allen Dingen für die Grünen, die dieses Thema immer in
eine bestimmte ideologische Richtung schieben und die
beispielsweise suggerieren, dass sich Schweine darüber
freuten, wenn sie auf Stroh lägen. Das ist überhaupt nicht
der Fall. Schweine spielen mit Stroh, legen sich aber nicht
ins Stroh, weil sie es als störend empfinden. Es gibt auch
eine Diskussion darüber, wie viel Fläche einem Schwein
zur Verfügung zu stellen ist. Die Grünen behaupten, dass
Schweine besonders viel Fläche bräuchten. Auch das ist
falsch. Das Schwein ist nämlich kein Läufer. Es ist ein
Tier, das sich außerordentlich ungerne bewegt. Wenn es
sich bewegt, dann nur, um Nahrung zu suchen.

Deswegen muss in einer solchen Richtlinie fachlich
korrekt festgeschrieben sein – –


(Zuruf von der SPD: Wo haben Sie denn Ihre Erfahrung her?)


– Lieber Kollege, ich spreche vor dem Hintergrund eines
reichen Erfahrungsschatzes; denn ich habe im Bereich
Tiermedizin geforscht und ich fand den Umgang mit die-
sen Tieren hochinteressant. Lieber Kollege, wir haben an
der tierärztlichen Hochschule schon zu einem Zeitpunkt
bei Schweinen Lebertransplantationen vorgenommen, als
die Humanmedizin von Lebertransplantationen noch

Renate Blank




Hans-Michael Goldmann
geträumt hat. Erzählen Sie mir also nichts über die Qua-
lität dieser Tiere!


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Akzeptieren Sie vielmehr einfach einmal, dass diese Tiere
bestimmte Ansprüche haben und dass man dafür sorgen
muss – das wäre Ihre Verpflichtung gewesen –, dass diese
Tiere – nebenbei gesagt, sie sind sehr intelligent – tierge-
recht gehalten werden. Sie haben die Haltung dieser Tiere
mit Verordnungen und Bestimmungen überzogen, die we-
der fachlich noch sachlich sind.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD)

– Ich weiß nicht, warum Sie an dieser Stelle lachen. Sie
scheinen diesem Thema nicht so interessiert gegen-
überzustehen, wie es eigentlich nötig ist.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wir haben ausschließlich über Sie gelacht!)


Soweit ich weiß, sind Sie Mitglied in dem Ausschuss, in
dem diese Dinge entschieden werden.

Sie scheinen nicht verstanden zu haben, wie drama-
tisch die Auswirkungen dieser EU-Richtlinie für deutsche
Tierhalter und für die Landwirtschaft sind. Lieber Kol-
lege, ich bin dafür, dass die Regionen, in denen eine zu-
kunftsorientierte Landwirtschaft und in denen eine zu-
kunftsorientierte Tierhaltung betrieben wird, auf dem
Markt bleiben. Die Region Vechta – Herr Bartels kommt
dort her – hat das höchste wirtschaftliche Wachstum aller
niedersächsischen Regionen. Das ist so, weil man in die-
sem Bereich nach wie vor eine kluge, marktorientierte
Agrarpolitik betreibt, und daran wollen wir festhalten.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Der Herr Minister Bartels wird Ihnen gleich sagen, dass
die FDP und er in diesem Punkt völlig einer Meinung
sind. Außerdem wird der Minister Ihnen gleich sagen,
dass er das, was die Grünen seiner Landespolitik antun,
ganz furchtbar findet. Das hat er bei jeder Veranstaltung
mit Landwirten – wir haben solche Veranstaltungen zum
Teil gemeinsam wahrgenommen – gesagt. Die Front ver-
läuft nicht zwischen uns und ihm, sondern zwischen Ih-
nen und den Grünen, weil die Grünen eine rein ideologi-
sche Politik verfolgen,


(Beifall des Abg. Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU])


die eine zukunftsfähige Agrarwirtschaft in Deutschland
im Grunde genommen mit Füßen tritt. Deswegen haben
wir diesen Antrag vorgelegt.


(Beifall bei der FDP)

Stimmen Sie unserem Antrag ganz einfach zu! Sorgen

Sie endlich dafür, dass – an dieser Stelle ist das sinnvoll
und klug – europäisches Recht in nationales Recht umge-
setzt wird! Tun Sie endlich etwas für den Tierschutz in
diesem Bereich! Tun Sie etwas dafür, dass die deutschen
Schweinehalter und die deutschen Schweinezüchter, die
tüchtige Leute sind, Investitionssicherheit haben und dass
dieser Markt den Deutschen erhalten bleibt.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502211500

Jetzt hat der niedersächsische Landwirtschaftsminister

Uwe Bartels das Wort.


Dr. Hans-Peter Bartels (SPD):
Rede ID: ID1502211600

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Das scheint hier eine niedersächsische Veranstal-
tung zu werden. Ich will versuchen, die Diskussion auf die
nationale Ebene zu heben.

Klar ist – das will ich gleich unmissverständlich sagen –:
Deutschland muss handeln in Sachen Regelungen zur
Haltung von Schweinen.


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr richtig!)


Da gibt es dringenden Handlungsbedarf, insbesondere
nachdem die Schweinehaltungsverordnung im Novem-
ber des letzten Jahres aufgehoben worden ist. Seitdem
fehlen bundeseinheitliche Regelungen. Darüber, dass
dringender Handlungsbedarf besteht, gibt es gar keinen
Streit; das haben wir alle miteinander festgestellt.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Rot-Grün hat nichts getan!)


Natürlich hat die Aufhebung der Schweinehaltungs-
verordnung Konsequenzen gehabt, die für uns als diejeni-
gen, die für die Durchführung vor Ort zuständig sind,
nicht immer erfreulich waren. Man muss ganz klar sagen:
Über uns schwebt das Damoklesschwert eines Vertrags-
verletzungsverfahrens, weil die EU-Richtlinie nicht frist-
gerecht umgesetzt worden ist. Aber das ist in der Bundes-
republik ja nichts Neues. Das war ja auch bei der
Vorgängerregierung schon so.

Richtig ist natürlich, dass auf der Länderebene Umset-
zungsschwierigkeiten bestanden haben. Vor allen Dingen
den Genehmigungsbehörden vor Ort fehlen derzeit ver-
lässliche bundeseinheitliche Vorgaben insbesondere für
den Umgang mit Anträgen zum Um- oder Neubau von
Schweineställen. Das ist sicherlich ein Problem und ich
hoffe, dass es alsbald zu einer Klärung kommt.

Es nützt uns überhaupt nichts, diesen Zustand zu be-
klagen. Vielmehr geht es jetzt darum, was wir aus den EU-
Vorgaben machen.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das ist doch ganz einfach! Stimmen Sie unserem Antrag zu!)


Wir, die Vertreter der Länder, mussten Abhilfe schaffen,
weil wir in der Zwischenzeit handeln mussten. Nieder-
sachsen hat gehandelt. Herr Goldmann hat natürlich
Recht, wenn er sagt, Niedersachsen handelt immer gut
und richtig sowie wettbewerbsorientiert.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich brauche ja nur den Präsidenten des Deutschen Bau-
ernverbandes, Herrn Sonnleitner, zu zitieren, Herr


(A)



(B)



(C)



(D)


1748


(A)



(B)



(C)



(D)






Schirmbeck, der gesagt hat: Bartels steht für Wettbe-
werbsfähigkeit und Marktorientiertheit der niedersächsi-
schen Landwirtschaft.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das ist kein unbedeutender Mensch, keiner, der den Sozi-
aldemokraten angehört. Dessen Urteil ist fundiert und
trifft zu. Ich kann nur wiederholen, dass ich froh darüber
bin, dass er das erkannt hat.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Nur leider tanzen Ihnen die Grünen auf der Nase herum!)


Sie wissen ja, dass bei Landwirten Schweigen die höchste
Form von Zustimmung ist. Wenn dann der oberste Bauern-
präsident sagt, das ist gut, kann man sich darüber nur freuen.
Wir haben also die Dinge auf dem Erlasswege geregelt.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Können Sie nicht auf dem Erlasswege regeln!)


– Aber selbstverständlich. – Wir brauchen aber ganz klar
und eindeutig Vorschriften, die über die EU-Vorgaben
nicht hinausgehen.


(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Jawohl! – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Eins zu eins!)


– Nicht deutlich hinausgehen. Hören Sie genau zu. Sie
nehmen Ihre Zustimmung zurück, wenn ich das gleich
weiter ausführe.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wollen Sie weniger?)


Ich will damit nämlich nicht sagen, dass ich mit allen De-
tails in der europäischen Richtlinie einverstanden bin. Das
muss ich hier ganz klar und deutlich sagen.

Meine fachliche Kritik bezieht sich zum Beispiel auf
die Definition eines ausreichenden Tageslichteinfalls und
auch auf die Problematik der Platzanforderung insbeson-
dere für Mastschweine. Herr Goldmann, auch wenn Sie
Veterinär sind, Sie liegen nicht richtig. Das, was ich Ihnen
jetzt sage, beruht auf wissenschaftlichen und praktischen
Erkenntnissen in Niedersachsen. Sie liegen nicht richtig,
wenn Sie sagen, jüngere Mastschweine hätten kein Be-
wegungsbedürfnis.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Habe ich überhaupt nicht gesagt!)


Gerade die haben ein entsprechendes Bewegungsbedürf-
nis. Gerade bei denen müssen wir zusehen, dass die Platz-
erfordernisse angemessen berücksichtigt werden. Hier
plädiere ich also durchaus für eine Abweichung von den
EU-Vorgaben nach oben, wie sie im Übrigen in Nieder-
sachsen in der Praxis – schauen Sie einmal in die Betriebe
hinein – gang und gäbe ist.

Meine Damen und Herren, die EU-Vorgaben stellen be-
reits einen erheblichen Schritt in Sachen verbindliche Vor-
gaben für den Tierschutz dar. Wir sollten nicht – jetzt kön-
nen Sie wieder freudig klatschen – in denselben Fehler wie
bei der Legehennenhaltungsverordnung verfallen


(Beifall des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP])


und meinen, dass wir besondere Lorbeeren bekommen
und besonders Gutes für die Tiere tun,


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Aber im Bundesrat sind Sie umgefallen!)


wenn wir zu deutlich über eine Eins-zu-eins-Umsetzung
von EU-Recht hinausgehen.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sehr richtig! Das müssen Sie einmal Ihren Freunden sagen!)


– Nun einmal langsam. – Die Auswirkungen sehen wir
nämlich bei uns im Lande: Die professionelle Legehen-
nenhaltung wird woandershin verlagert. Das können wir
feststellen; darüber werden wir ja auch in diesem Jahr
noch einmal im Bundesrat diskutieren.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ihr nicht mehr!)


Ich bedauere ja, Herr Goldmann – Sie haben sich hier ge-
rade hingestellt und so getan, als hätten Sie daran nicht
mitgewirkt –, dass auch Ihre rheinland-pfälzischen Par-
teifreunde, die ja dort an der Regierung beteiligt sind, ge-
nauso gegen die niedersächsischen Vorschläge gestimmt
und sie abgelehnt haben.


(Zurufe von der SPD: Hört! Hört! – HansMichael Goldmann [FDP]: Stimmt doch gar nicht!)


– Aber selbstverständlich. Sehen Sie, meine Damen und
Herren, der biegt sich die Wahrheit so hin, wie er sie gerne
haben möchte. Aber das ist manchmal so bei der FDP.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Wofür haben Sie denn gestimmt?)


– Ich sage ganz klar und eindeutig: Meine Anträge sind
von Bayern, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz
abgelehnt worden.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie haben die Legehennenhaltungsverordnung abgelehnt!)


Damit sind sozusagen die zukunftsfähigen Anträge abge-
lehnt worden, Herr Goldmann.

Nein, meine Damen und Herren, schon damals habe
ich für den behutsameren niedersächsischen Weg plädiert,
der die Tierhalter mitnimmt. Das ist meine Auffassung.
Wir müssen die Tierhalter bei Verbesserungen mitneh-
men. Bedauerlicherweise haben, wie gesagt, die nieder-
sächsischen Anträge keine Mehrheit im Bundesrat be-
kommen. Auf diese Weise hätte die Wettbewerbsfähigkeit
unserer niedersächsischen – sogar unserer deutschen –
Betriebe gesichert und es hätte erheblich zum Verbrau-
cher- und Tierschutz in unserem Land und in Europa bei-
getragen werden können.

Ich warne jetzt nur davor – deshalb habe ich das zitiert –,
heute im Zusammenhang mit der Schweinehaltungsver-
ordnung einen ähnlichen Fehler zu wiederholen. Denn bei
der Schweinefleischproduktion haben wir einen Selbst-
versorgungsgrad von 87 Prozent, das heißt, wir sind auf
Importe angewiesen. Lassen Sie uns also gemeinsam die
Gelegenheit nutzen, dafür zu sorgen, dass das wichtige

Minister Uwe Bartels




Minister Uwe Bartels
Nahrungsmittel Schweinefleisch zu einem überwiegen-
den Teil in deutschen Ställen produziert wird. Nur dann
können wir auf so wichtige Bereiche wie den Tierschutz,
die Lebensmittelsicherheit und den Umweltschutz wirk-
lich umfassend Einfluss nehmen. Das erreichen wir
nicht, wenn wir die Wettbewerbsfähigkeit unserer Be-
triebe in der EU dadurch stärker beschneiden, dass wir
EU-Vorgaben – ich sage es nochmals – bedeutend ver-
schärfen.

Wir machen in Niedersachsen sehr gute Erfahrungen
mit Haltungsanforderungen, die in Zusammenarbeit mit
den Betroffenen, das heißt Behörden, Wissenschaftlern,
Praktikern, Verbänden und Landwirten, erarbeitet wer-
den. Wir erreichen auf diesem Wege sogar viel mehr, als
wir auf gesetzlichem Wege überhaupt erreichen können.
So haben wir zum Beispiel Vereinbarungen über die Hal-
tung von Hähnchen und von Puten.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502211700

Herr Minister, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kol-

legen Goldmann zu?


Dr. Hans-Peter Bartels (SPD):
Rede ID: ID1502211800

Ja, aber sicher doch.


Hans-Michael Goldmann (FDP):
Rede ID: ID1502211900

Herr Minister Bartels, stimmen Sie mit mir dahin ge-

hend überein, dass Sie und die Freien Demokraten der
Meinung waren, dass sich bei der Legehennenhaltung et-
was tun muss und dass das bis 2012 umgesetzt werden
sollte, und sind Sie wie ich der Meinung, dass das Vorzie-
hen der rot-grünen Bundesregierung auf 2006, vor allen
Dingen durch Frau Ministerin Künast, ein dicker Fehler
ist, der dazu beitragen wird, dass die Legehennenhaltung
aus Deutschland verschwindet, wodurch wir dann über-
haupt keine Möglichkeit mehr haben, Einfluss darauf zu
nehmen, dass die Tiere, die die Eier legen, die wir brau-
chen, artgerecht gehalten werden?


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hans-Peter Bartels (SPD):
Rede ID: ID1502212000

Herr Goldmann, ich bin mit Ihnen einer Meinung, dass

wir in Deutschland einen solchen Alleingang in der Form,
wie er geschehen ist, nicht hätten machen sollen. Aber das
Datum 2006 ist überhaupt nicht das Entscheidende. Sie
haben noch immer nicht verstanden, worum es bei der
Auseinandersetzung ging. Es ging darum, die Kleingrup-
penvoliere in der Legehennenhaltung im Jahre 2003 in die
Verordnung aufnehmen zu können. Ich hätte sogar für
Übergangszeiträume bis zum Jahr 2012 gestimmt. Das
haben wir im Bundesrat gemacht. Entscheidend für mich
war erstens der Punkt, dass jedes Haltungssystem einer
Tierschutzüberprüfung standhalten muss, und zweitens,
dass die Kleingruppenvoliere ab dem Jahre 2003 tatsäch-
lich zugelassen wird. Nur auf diesem Wege wäre sicher-
gestellt, dass wir den hohen Selbstversorgungsanteil, den
wir in Deutschland im Bereich der Hühnerhaltung noch
haben, halten können. Auf anderem Wege ist das nicht si-

chergestellt. Das ist ein fundamentaler Unterschied zu
dem, was Sie gerade hier gesagt haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Kann ich noch eine Frage stellen?)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502212100

Sie hatten einen langen Redebeitrag und haben eine

Frage gestellt. Ich glaube, dass das ausreicht.


Dr. Hans-Peter Bartels (SPD):
Rede ID: ID1502212200

Wie gesagt, meine Damen und Herren, wir agieren ge-

meinsam mit den Betroffenen und erreichen auf diesem
Wege viel mehr. Auch unsere derzeitige Übergangsrege-
lung – damit komme ich auf unseren Erlass zurück – zur
Haltung von Schweinen ist mit der Wissenschaft und den
Betroffenen abgestimmt worden. Das heißt, wir ziehen in
Niedersachsen an einem Strang und haben eine hohe Ak-
zeptanz für den derzeitigen Erlass.

Wir haben aber noch mehr erreicht. In einigen Punk-
ten gehen wir einen Schritt weiter, und zwar betrifft
das die Details der Schweinehaltungsverordnung. Das
ist dort der Fall, wo wir es fachlich für geboten hal-
ten, zum Beispiel bei der Vorgabe zum Tageslichteinfall
in Schweineställen. Damit tragen wir in besonderer
Weise dem Tierschutzgedanken und gleichzeitig in
hohem Maße den gesellschaftlichen Anforderun-
gen Rechnung, und zwar unter Berücksichtigung der
ökonomischen Interessen der Landwirte in Niedersach-
sen. Dies wird mir ausdrücklich auch von Präsident
Sonnleitner bestätigt; einen besseren Kronzeugen gibt
es nicht.


(Beifall bei der SPD – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Auch das stimmt nicht! Das wird von Herrn Niemeyer sehr kritisiert!)


Der Grundsatz des Tierschutzgesetzes besagt, dass der
Mensch aus der Verantwortung für das Tier als Mitge-
schöpf heraus dessen Leben und dessen Wohlbefinden zu
schützen hat. Das heißt auch, dass bei der Festlegung bun-
deseinheitlicher Anforderungen an die Haltung von Tie-
ren – das sage ich ganz deutlich – das Tierverhalten und
nicht das Wunschdenken der Menschen entscheidend ist.
Ich denke, dass wir an einer Eins-zu-eins-Umsetzung eu-
ropäischer Vorschriften grundsätzlich, aber insbesondere
bei der Schweinehaltung gut tun. Über fachlich sinnvolle
Abänderungen in Detailregelungen kann und sollte man
reden, wie wir es bei uns im Lande auch getan haben und
weiter tun werden.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502212300

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Carstensen?


Dr. Hans-Peter Bartels (SPD):
Rede ID: ID1502212400

Wenn Herr Carstensen fragen möchte, bin ich immer

gern bereit.


(A)



(B)



(C)



(D)


1750


(A)



(B)



(C)



(D)







Peter H. Carstensen (CDU):
Rede ID: ID1502212500

Ich wollte auf jeden Fall die Gelegenheit noch einmal

nutzen, Herr Minister.


Dr. Hans-Peter Bartels (SPD):
Rede ID: ID1502212600

Wollen Sie aus dem Bundestag ausscheiden?


Peter H. Carstensen (CDU):
Rede ID: ID1502212700

Nein!


(Heiterkeit – Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Aber wenn ich in die Zukunft schaue, weiß ich nicht, ob
ich Sie in dieser Richtung noch einmal sehe. Das ist das
Problem.


Dr. Hans-Peter Bartels (SPD):
Rede ID: ID1502212800

Haben Sie Vertrauen!


Peter H. Carstensen (CDU):
Rede ID: ID1502212900

Genau das haben wir!


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Herr Minister, wenn Sie in Niedersachsen so gute Ar-

beit leisten – dazu möchte ich im Moment nichts sagen –
und von Herrn Sonnleitner so gelobt werden,


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Tut er ja gar nicht!)


können Sie mir dann einen Grund sagen – denn das habe
ich in Ihrer Rede noch nicht gehört –, warum Sie nicht der
SPD-Fraktion und meinetwegen auch den Grünen hier im
Bundestag empfehlen, dem Antrag der FDP zuzustim-
men?


(Beifall des Abg. Ernst Burgbacher [FDP])



Dr. Hans-Peter Bartels (SPD):
Rede ID: ID1502213000

Herr Abgeordneter, ich wollte gerade in dem Schluss-

teil meiner Rede deutlich machen, was der Bundestag bei
seiner Entscheidung über den FDP-Antrag insgesamt
berücksichtigen sollte. Wenn Sie nicht gefragt hätten,
wäre ich schon mit meinen Ausführungen fertig. Ihre
Frage hat uns immerhin die Gelegenheit gegeben, dass
wir beide noch einmal miteinander geredet haben. Das ist
ja auch nicht schlecht.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Über sinnvolle Änderungen bei Detailregelungen kön-
nen und müssen wir miteinander reden, wie das bei uns im
Lande durch Gespräche mit den Landwirten und mit der
Wissenschaft geschehen ist. Ich habe heute den Präsi-
denten der Landwirtschaftskammer Weser-Ems, Herrn
Scholten, gesprochen. Ich habe ihm mitgeteilt, dass ich im
Deutschen Bundestag über die Schweinehaltungsverord-
nung reden werde und dass ich der FDP sagen werde, dass
wir ein bisschen anders verfahren müssen, als es in der

von ihr vorgeschlagenen reinen Eins-zu-eins-Umsetzung
vorgesehen ist. Er hat mich gebeten, zu sagen, dass er das
durchführt, was in unserem Erlass enthalten ist, und dass
er mit der praktischen Umsetzung höchst zufrieden ist.
Auch er ist also ein Kronzeuge für die Richtigkeit dieses
Erlasses.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Aber das spricht doch für unseren Antrag!)


Lassen Sie mich Ihnen unseren niedersächsischen Weg
ans Herz legen.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ihr Weg hat keine Rechtssicherheit! Das wissen Sie genau!)


Hiermit lässt sich eine gute Balance zwischen einem fach-
lich ausgewogenen Tierschutz, einem angemessenen Tier-
halterschutz und dem Schutz unserer wirtschaftlichen Wett-
bewerbsinteressen finden. Der niedersächsische Erlass, der
auch von den Landwirten mitgetragen wird, ist dafür eine
gute Grundlage. Er ist eine gute Orientierungshilfe, um die-
sem hohen Anspruch und auch den gesellschaftlichen An-
forderungen bei diesem Thema gerecht zu werden.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Zur nächsten Sitzung wird dieser Minister wieder eingeladen!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502213100

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gitta Connemann.

Es ist ihre erste Rede.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Gitta Connemann (CDU):
Rede ID: ID1502213200

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch ich

komme wie Herr Bartels aus Niedersachsen. Vor 50 Jahren
zählte der Nordwesten unseres Landes zu den Armenhäu-
sern Deutschlands. Danach setzte ein einzigartiger Auf-
schwung ein. Heute gelten Landkreise wie zum Beispiel das
Emsland, Cloppenburg und Vechta als Vorzeigeregionen.

Einer der Hauptmotoren für das Wachstum war und ist
die Veredlungswirtschaft, insbesondere die Geflügel-
und Schweinehaltung durch landwirtschaftliche Betriebe.
Denn rund um diese haben sich Dienstleister, Gewerbe
und Industrie angesiedelt. Nachdem die Kommunen auch
durch die Politik der Bundesregierung vor dem Kollaps
stehen, sind die Landwirte dort für das Bauhandwerk die
entscheidenden Investitionsträger.

Allein in einem Landkreis wie zum Beispiel dem Ems-
land beläuft sich die Gesamtbruttowertschöpfung der
Landwirtschaft und ihrer nachgelagerten Bereiche auf
circa 820 Millionen Euro.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Zudem hat sich in diesen Regionen ein erhebliches Know-
how in Forschung, Entwicklung und Beratung angesam-
melt, geballte Kompetenz, die auch dazu genutzt worden




Gitta Connemann
ist, den möglichen Belastungen der Intensivtierhaltung
für Gesundheit, Umwelt und Tier entgegenzuwirken, nach-
weisbar und wirtschaftlich tragbar.

Die Landwirte und ihr Umfeld erbringen Leistungen,
anders als die Bundesregierung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Obwohl die genau so viel Mist machen!)


Deren Aufgabe wäre es gewesen, bis zum 1. Januar 2003
die EU-Richtlinie in nationales Recht umzusetzen. Was
ist aber passiert? Nichts. Das ist ein Novum bei einer Bun-
desregierung, die sonst durch Regulierungswut auffällt.


(Zuruf von der SPD: Ach, Gitta!)

Nach Erlass der EU-Richtlinie wurde die bis dato gel-

tende Schweinehaltungsverordnung aufgehoben, aber kei-
ne neue Rechtsverordnung erlassen. Was ist die Folge?
Landwirte, Schweine und Kommunen bewegen sich im
rechtsfreien Raum.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Heiterkeit bei der SPD)


Die Bundesregierung hat eine Rechtsunsicherheit zu
verantworten, die dazu führt, dass Landwirte die Planung
von Bauvorhaben und damit Investitionen stoppen müs-
sen, dass Kreisveterinäre ohne Rechtsgrundlage im Ein-
zelfall entscheiden müssen und – schließlich – dass vier
Bundesländer die Haltungsbedingungen im Alleingang
geregelt haben.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sehr richtig!)


Den Vogel hat aber das Land Nordrhein-Westfalen mit
seinem ersten Schweinehaltungserlass, dem so genannten
Kuschelerlass, abgeschossen.


(Ilse Falk [CDU/CSU]: Das ist wohl wahr!)

Darin wurde den Schweinehaltern vorgeschrieben, jedes
Schwein pro Tag 20 Sekunden individuell zu betreuen.
Frei nach Bogart: Schau mir in die Augen, Schweinchen.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Hier gab es nur ein Urteil: ideologisch verbrämt und an
der Praxis vorbei. Deshalb ist dieser Erlass überarbeitet
worden. Er war auch rechtlich nicht haltbar. Das hat das
Verwaltungsgericht Minden am 11. Dezember 2002 ent-
schieden. Dies ist eine richtige Entscheidung; denn die
Landwirtschaft hat es nicht mit Kuscheltieren, sondern
mit landwirtschaftlichen Nutztieren zu tun. Ein Schwein
ist und bleibt nun einmal ein Schwein.

Das Urteil ist aber auch ein wichtiges Signal für die
Bundesregierung, nicht aus ideologischen Gründen und
einseitig zu weit über die europäischen Vorgaben hinaus-
zupreschen.

Meine Damen und Herren, einen solchen Alleingang
hatten wir bereits mit der Legehennenverordnung. Damit
ist – ich zitiere den zurzeit in Niedersachsen noch amtie-
renden Ministerpräsidenten – „der Sündenfall erfolgt, der
sich mit der Schweinehaltungsverordnung nicht wieder-

holen darf.“ Zwar haben die vergangenen Wochen ge-
zeigt, dass Aussagen von Herrn Gabriel regelmäßig nur
eine Halbwertzeit von einigen Stunden haben, aber in die-
sem Fall hat er ausnahmsweise einmal Recht.

Herr Minister Bartels, mich wundert es schon etwas,
wenn Sie jetzt sagen, es sollte keinen Alleingang, jeden-
falls keinen deutlichen Alleingang, geben. In Ihrer schrift-
lichen Stellungnahme gegenüber dem niedersächsischen
Landvolk lese ich: Gerade im Bereich des Tierschutzes
– darauf kommt es mir an – muss aber auf nationale Al-
leingänge verzichtet werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Folge einer Verordnung wird wie bei der Legehen-

nenverordnung sein, dass die deutsche Produktion ins
Ausland abwandern wird. Damit ist weder den Tieren
noch den Verbrauchern gedient. Denn die Eier werden
auch zukünftig aus Käfigen kommen, aber eben aus pol-
nischen, rumänischen, wie auch immer.

Meine Damen und Herren, eine Verordnung wie die
Legehennenverordnung vernichtet aber auch Arbeits-
plätze und Betriebe in Deutschland. Nationale Allein-
gänge sind schädlich für unsere Wirtschaft. Unsere Land-
wirte fürchten nicht die Konkurrenz in Europa, sondern
den Würgegriff aus Berlin.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die einseitigen Verschärfungen treiben lediglich die Kos-
ten der Tierhaltung hierzulande hoch und führen damit
zu gravierenden Wettbewerbsnachteilen gegenüber aus-
ländischen Betrieben. Das dürfen wir nicht zulassen und
das wollen wir auch nicht zulassen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Die EU-Vorgaben sind deshalb direkt und ohne zusätz-
liche Auflagen in nationales Recht umzusetzen.

Mindestanforderungen an die Schweinehaltung und an
andere Nutztierhaltungen festzulegen ist sinnvoll und er-
forderlich. Diese Festlegung darf aber nicht nach gefühl-
tem Tierschutz oder gefühltem Umweltschutz geschehen.
Auch sozialromantische Träumereien oder Sehnsucht
nach einer vermeintlichen landwirtschaftlichen Idylle sind
keine vernünftigen Vorgaben. Die einzige Basis für
Mindestanforderungen müssen nachvollziehbare wissen-
schaftliche Erkenntnisse sein, nichts anderes. Diese Er-
kenntnisse hatte die EU beim Erlass ihrer Richtlinie. Sie
hat sich auf ihre wissenschaftlichen Gremien gestützt, in
denen alle Länder vertreten sind.

Das war auch eine der Kernaussagen des Verwaltungs-
gerichts Minden. Im Urteil hieß es: Es gibt keine neuen
wissenschaftlichen Erkenntnisse, nach denen Schweine-
haltungssysteme, die diesen Forderungen nicht entspre-
chen, eine angemessene verhaltensgerechte Unterbrin-
gung der Tiere nicht sicherstellen können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Deswegen hat die Eins-zu-eins-Umsetzung der EU-Vor-
gaben nicht nur den Vorteil, dass damit Wettbewerbsver-
zerrungen innerhalb der EU vermieden werden; es ist


(A)



(B)



(C)



(D)


1752


(A)



(B)



(C)



(D)






damit auch gewährleistet, dass der wissenschaftliche
Sachverstand in die Entscheidungen eingeflossen ist.

Meine Damen und Herren, wenn die Bundesregierung
wissenschaftlich begründen kann, dass EU-Vorgaben
nicht oder nicht mehr ausreichend sind, dann hat sie die-
ses auf europäischer Ebene durchzusetzen, aber nicht ein-
seitig in Deutschland durch nationale Vorgaben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Völlig richtig!)


Abschließend weise ich darauf hin, dass mit der Fest-
legung von Mindestvorgaben kein Verbot freiwilliger
weiter gehender komfortabler Haltungsbedingungen ver-
bunden ist.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig!)

Dieses sollte aber in der Tat freiwillig bleiben. Es wird
dann erfolgen, wenn sich ein Markt für die so erzeugten
Produkte findet. Aber diesen Markt, dieses Verbraucher-
verhalten wollen zumindest wir nicht erzwingen. Unser
Staat braucht mündige Bürger und Verbraucher. Wir wol-
len sie nicht bevormunden. Deshalb kann es nur eine Ent-
scheidung geben, nämlich die EU-Richtlinie eins zu eins
in nationales Recht umzusetzen. Wir werden deshalb dem
Antrag in allen Punkten zustimmen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502213300

Frau Kollegin, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede

im Namen des ganzen Hauses.

(Beifall)


Jetzt hat der Abgeordnete Friedrich Ostendorff das
Wort.


Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502213400

Sehr geehrte Frau Präsidentin Antje Vollmer! Sehr ge-

ehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kol-
legen! Werter Herr Goldmann, zuerst einmal: Ich bin
Schweinehalter. Meine Schweine liegen im Sommer auf
Stroh, im Winter im Stroh. Das tun Schweine so. Kommen
Sie zu mir, gucken Sie sich das an. Da können Sie eine
Menge lernen.

Ich weiß nicht, wie viele Schweine Sie zu Hause hal-
ten, Frau Connemann. Aus meiner Erfahrung kann ich Ih-
nen versichern, dass meine Schweine die saubersten Tiere
sind, die ich auf dem Hof halte. Vielleicht – weil Sie sag-
ten: Schwein bleibt Schwein – ist das bei Ihnen anders.

Es gibt einen weiteren Punkt, zu dem ich mich äußern
möchte: Heute haben hier viele Niedersachsen gespro-
chen. Ich bin zwar Westfale, besuche aber häufig mit Uwe
Bartels zusammen Veranstaltungen in Niedersachsen. Wir
kennen uns gut. Ich kenne auch das Land sehr gut.

Des Weiteren wurden Gerichtsurteile zitiert. Es gab da-
rüber hinaus aber noch andere Gerichtsurteile. So hat das

Gericht in Arnsberg – jetzt müssen Sie zuhören, Herr
Goldmann! – in seinem Urteil festgestellt, dass das Land
Nordrhein-Westfalen sehr wohl das Recht hat, eine eigene
Landesverordnung zu erlassen bzw. einen eigenen Schwei-
nehaltungserlass zu verfügen.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das bestreitet auch niemand, aber daraus ergibt sich keine Rechtsbindung!)


Es muss schlecht um die Umfragewerte der FDP bei
den Bauern und Bäuerinnen im Lande stehen, Herr
Goldmann.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie erzählen hier die Unwahrheit!)


– Lassen Sie mich weiterreden! Anders ist Ihr populisti-
scher Antrag insbesondere im Zusammenhang mit der
Schweinehaltung nicht zu verstehen. Zwischen der Bun-
desregierung und dem Deutschen Bauernverband ist zwar
noch keine Liebe entflammt, aber die Grüne Woche hat
doch wohl deutlich gemacht – das haben Sie sicherlich
auch mitbekommen –, dass die Zeit der plumpen Feind-
bilder endgültig vorbei ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Darum geht es doch gar nicht!)


Ministerin Künast hat für ihren Anstoß, über den Zu-
sammenhang von Preis, Markt und Qualität zu reden, auf
der Grünen Woche zu Recht viel Lob von DBV-Präsi-
dent Sonnleitner bekommen. Zeitgleich haben in
Westfalen Bäuerinnen und Bauern mit Aktionen auf die
Problematik von Dumpingangeboten des Handels auf-
merksam gemacht.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wollen Sie nun eins zu eins umsetzen?)


Die Bauern und Bäuerinnen ziehen mit der Politik an ei-
nem Strang. Das scheint dem Kollegen Goldmann und der
FDPAngst zu machen. Glauben Sie aber nicht, Herr Kol-
lege, dass die Bauern und Bäuerinnen auf Ihre Inszenie-
rung und billige Stimmungsmache hereinfallen werden!
Sie müssen sich schon mit der eigentlichen Materie der
Tiere befassen, wenn Sie sich Anerkennung in dem Be-
rufsstand verschaffen wollen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir arbeiten in Ber-
lin an einer neuen nationalen Verordnung für die
Schweinehaltung.


(Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ CSU]: Von „arbeiten“ kann ja wohl keine Rede sein!)


Das oberste Ziel ist eine moderne und zukunftsfähige
Schweinezucht und -mast, die wir Bäuerinnen und Bau-
ern den Verbraucherinnen und Verbrauchern jederzeit mit
gutem Gewissen vorzeigen können. Wir setzen dabei den
Tierschutz als Überschrift.

Landwirtschaftliche Ställe, die wir besser nicht öffnen,
fallen nicht nur im Berufsstand unten durch. Sie zerstören
auch das Vertrauen der Kunden und damit unsere Märkte.
Ställe, in denen sich die Tiere wohl fühlen, sind auch eine
Investition in den Markt. Deshalb will Rot-Grün mit dem

Gitta Connemann




Friedrich Ostendorff
Bundesprogramm „Artgerechte Tierhaltung“ in Zukunft
auch für Schweine tiergerechte Stallbauten fördern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das machen uns aber auch die führenden Akteure auf
den internationalen Schweinemärkten, die Niederländer
und Dänen, erfolgreich vor. Die Niederländer haben be-
sonders für die Schweinemast Vorschriften erlassen, die
weit über die EU-Norm hinausgehen. Die Dänen sind in
der Schweinehaltung bzw. in der Sauen- und Ferkelhal-
tung weit vorangegangen. Anders als bei uns wirbt dort
die Branche offensiv damit, dass die dänische Gesetz-
gebung deutlich über das allgemeine europäische Niveau
hinausgeht.


(Peter Hettlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hört! Hört!)


Im Vergleich zu den dortigen Regeln sind selbst die des
nordrhein-westfälischen Erlasses noch sehr zurückhal-
tend. Man kann nicht ernsthaft behaupten, dass diese of-
fensive Strategie der dänischen Fleischwirtschaft gescha-
det hätte. Im Gegenteil: Sie war damit auch im deutschen
Handel sehr erfolgreich.

Ich möchte hier den Vorsitzenden des Zentralverbandes
der deutschen Schweinezüchter, Helmut Ehlen, zitieren:

Kürzlich bin ich sehr nachdenklich aus Dänemark
zurückgekehrt. Unsere Kollegen expandieren dort
weiter. Sie tun dies trotz vergleichbar hoher Umwelt-
standards und trotz schärferer Tierschutzbestimmun-
gen.

Dieses Zitat zeigt nicht nur, dass in Dänemark schärfere
Gesetze gelten als bei uns, sondern auch, dass diese kei-
neswegs investitionshemmend wirken.

Reden Sie nicht immer von Investitionsstau, meine
Damen und Herren von der FDP, sondern begreifen Sie
endlich die Chancen!


(Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ CSU]: Begreifen Sie die Chancen von der FDP!)


Die Dänen haben im Gegensatz zu Ihnen scheinbar früher
erkannt, dass der Markt diesen Weg will. Das sollte uns
ein Vorbild sein. Nach langen und heftigen Diskussionen
haben das auch die Bauernverbände in Nordrhein-West-
falen erkannt. Sie tragen den mit Ministerin Bärbel Höhn
ausgehandelten Kompromiss inzwischen mit.

Ich selbst habe in einer Arbeitsgruppe von Praktikern,
Ministeriums-, Kammer- und Verbandsvertretern mit-
gearbeitet, die von dem neuen schleswig-holsteinischen
Staatssekretär Peter Knitsch geleitet wurde. Diese Arbeits-
gruppe hat für Nordrhein-Westfalen einen Schweine-
haltungserlass für Mastschweine und Sauen erarbeitet,
in dem im Wesentlichen fünf Bereiche neu geregelt wur-
den:

Erstens. Es gibt mehr Tageslicht in den Ställen.
Zweitens. Der Stallboden darf nicht mehr ganz aus Be-

tonspaltenboden bestehen, das heißt, es muss befestigte
Liegeflächen oder Auslauf geben.

Drittens. Schweine sind sehr neugierige und höchst
aktive Tiere. Um diesem Bewegungsdrang etwas besser
gerecht zu werden, müssen den Schweinen Beschäfti-
gungsmöglichkeiten, zum Beispiel Strohraufen oder Spiel-
ketten, zur Verfügung gestellt werden.

Viertens. Wer einen neuen Stall bauen will, muss nach-
weisen, dass eine Arbeitskraft des Betriebs nicht mehr als
1 500 Schweine versorgt und betreut. Das sichert den Tie-
ren eine Mindestbetreuung und bietet den Bauern, die sich
ordentlich um ihre Tiere kümmern, einen gewissen Schutz
vor der agrarindustriellen Produktion.

Fünftens. Der Platzanspruch für ein Schwein wurde
von 0,65 Quadratmeter auf rund 1 Quadratmeter – je nach
Größe – angehoben. Um es mit den Worten von Ministe-
rin Höhn zu sagen: Drei Schweine in einem Normalbett
von 2 Quadratmetern sind eines zu viel. Eines muss raus.
Zwei Schweine sind genug.

Meine Damen und Herren, das Bundesministerium hat
intensive Gespräche mit Ministerien der europäischen
Nachbarländer geführt. Es gibt also eine enge Abstim-
mung, die der Wettbewerbsfähigkeit unserer Schweine-
halter zugute kommen wird. Die EU verordnet Mindest-
standards. Es wird deshalb sicherlich keine Verordnung
geben, in der die Standards so tief wie möglich angesetzt
werden. Denn das ist auf Dauer weder zum Wohle der
Tiere noch ökonomisch sinnvoll.

Die Verbraucher bestimmen die Nachfrage. Wenn Sie
ein Schwein zeichnen würden, würden Sie es mit Sicher-
heit mit einem Ringelschwanz malen. Der Ringelschwanz
und die „Steckdose“ sind die Erkennungszeichen des
Schweines. Wenn alle Haltungsbedingungen so toll
wären, wie von der FDP behauptet, warum sind dann weit
mehr als 90 Prozent der Schweineschwänze abgeschnit-
ten, Herr Goldmann? Das heißt, die Tiere werden ver-
stümmelt.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502213500

Herr Kollege, denken Sie bitte an die Zeit!


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich bin sofort fertig. – Sie als Tierarzt, Herr Goldmann,
müssten doch wissen, dass diese Praxis etwas mit falschen
Haltungsbedingungen zu tun hat. Umgekehrt wäre es
richtig. Bisher gehen aber leider fast nur Neuland- und
Biobetriebe den anderen Weg.

Meine Damen und Herren, wir müssen die Ställe den
Tieren anpassen, nicht die Tiere den Ställen. Wir vom
Bündnis 90/Die Grünen lehnen deshalb den Antrag der
FDP ab.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502213600

Zu einer Kurzintervention, bezogen auf eine bestimmte

Äußerung, erhält der Kollege Goldmann das Wort.


(A)



(B)



(C)



(D)


1754


(A)



(B)



(C)



(D)







Hans-Michael Goldmann (FDP):
Rede ID: ID1502213700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich stelle zunächst einmal fest, dass Herr Bartels – meiner
Auffassung nach völlig zu Recht – gesagt hat: „Wir set-
zen eins zu eins um“, und dass Sie, Herr Ostendorff, sa-
gen: „Wir wollen mehr als eins zu eins.“ Deswegen haben
sie 50 Millionen Euro für alternative Haltungsformen in
den Bundeshaushalt eingebracht.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502213800

Herr Kollege Goldmann, mir ist angekündigt worden,

Sie wollten sich auf eine bestimmte Äußerung beziehen.


Hans-Michael Goldmann (FDP):
Rede ID: ID1502213900

Herr Ostendorff, Sie haben soeben behauptet, dass die

FDP mit ihrem Antrag Wählertäuschung betreibe

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das stimmt!)

und es mit der Wahrheit nicht so genau nehme.


(Manfred Helmut Zöllmer [SPD]: Das ist doch bekannt!)


Herr Ostendorff, ich möchte Sie auf einen Vorfall gestern
im Ausschuss ansprechen. Ist Ihnen bekannt, dass die So-
zialdemokraten in Niedersachsen ein Schriftstück vertei-
len, das von der Aufmachung her einem Bundestagsantrag
entspricht – ich habe es hier; es ist mit „Änderungsantrag“
überschrieben, mit einer Drucksachennummer versehen
und mit „Berlin“ sowie einer Namenszeichnung, der von
Franz Müntefering, unterschrieben –, in dem steht,


(Annette Faße [SPD]: Das ist nicht öffentlich! – Manfred Helmut Zöllmer [SPD]: Das geht nicht! Das ist aus dem Ausschuss!)


der Bundestag wolle beschließen – –


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502214000

Herr Kollege Goldmann, ich glaube nicht, dass sich

Ihre Ausführungen auf die Richtigstellung einer Äuße-
rung beziehen.


Hans-Michael Goldmann (FDP):
Rede ID: ID1502214100

Doch. Das ist der Vorwurf – –


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502214200

Der Punkt ist folgender: Sie haben einen Redebeitrag

gemacht. Wenn Sie einen Vorgang aus dem Ausschuss an-
sprechen wollen, dann hätten Sie das in Ihrer Rede tun
sollen. Sie dürfen nicht einfach Ihre Redezeit verlängern.


Hans-Michael Goldmann (FDP):
Rede ID: ID1502214300

Es handelt sich um einen Sachverhalt, der sich im Aus-

schuss dargestellt hat. Herr Ostendorff hat soeben be-
hauptet, wir würden Wahlbetrug betreiben. Ich stelle fest,
dass die Sozialdemokraten und das Bündnis 90/Die Grü-
nen Wahlbetrug betreiben, weil sie in Niedersachsen ein

Schriftstück verteilen, das so aussieht wie ein Antrag, der
zum Steuervergünstigungsabbaugesetz gestellt wird.


(Hermann Bachmaier [SPD]: Untersuchungsausschuss!)


Dies ist ein massiver, bösartiger Wahlbetrug. Denn die
gleichen Vertreter der SPD und des Bündnisses 90/Die
Grünen haben gestern im Ausschuss einen Antrag, der ge-
nau das beinhaltet, was sie in Niedersachsen verteilen, ab-
gelehnt. Das ist eine ganz böse Sache, die auf dem Rücken
der Bauern und des grünen Bereiches ausgetragen wird.

Ich bitte Herrn Ostendorff und Vertreter der SPD, dazu
Stellung zu nehmen, sich für diesen Vorgang zu entschul-
digen und klipp und klar zu erklären, dass ein solcher An-
trag wahrscheinlich gefälscht worden ist.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist am Rande der Legalität, was Sie da jetzt alles veranstalten!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502214400

Auch ich denke, wir sollten darüber noch einmal spre-

chen. Denn Ihr Geschäftsführer, Herr Goldmann, hat mir
angekündigt, dass Sie sich gegen einen für Sie ungerecht-
fertigten Vorwurf wenden. Deshalb habe ich Ihnen das
Rederecht gegeben. Das hat sich jetzt aber offensichtlich
anders entwickelt.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Herr Goldmann muss eine Rüge bekommen! – Gegenruf des Abg. Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Du bist hier nicht mehr in der Sonderschule! – Weitere Gegenrufe von der FDP und der CDU/CSU: Wieso denn das?)


Ich gebe jetzt dem Kollegen Ostendorff die Gelegen-
heit, darauf zu antworten.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich weiß
nicht, ob das eine Kurzintervention war. Ich denke, das
wird das Präsidium feststellen. Ich bitte darum. Ich
glaube, dass es keine war.

Ich habe nicht von Wahlbetrug gesprochen, sondern
von Nervosität bei der FDP. Wir werden das gleich im
Protokoll nachlesen können. Ich habe in Niedersachsen
keine Flugblätter verteilt. Ich denke, da müsste jetzt je-
mand anderes aufzeigen. Ich kenne dieses Flugblatt nicht.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ihr habt das doch gestern im Ausschuss gelesen!)


– Herr Goldmann, überlassen Sie es mir! Ich werde es mit
Interesse lesen. Ich kenne es nicht. Ich kann dazu nichts
sagen.


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Haben wir doch gestern im Ausschuss gesehen!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502214500

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Georg Schirmbeck.


(Beifall bei der CDU/CSU)







Georg Schirmbeck (CDU):
Rede ID: ID1502214600

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr

Minister Bartels, bei uns zu Hause würde man sagen: Das
versteht kein Schwein. – Sie sind aus Niedersachsen hier-
her angereist und haben Ihre kostbare Wahlkampfzeit ge-
opfert, dann aber die ganze Zeit zum Kollegen Goldmann
gesprochen, obwohl Sie sich mit ihm in der Sache im We-
sentlichen einig zu sein scheinen. Sie hätten die Leute an-
sprechen müssen, die Sie überzeugen müssen: Ihre rot-
grünen Unterstützer und vor allem die Ministerin Künast,
die uns hier mit Abwesenheit bestraft.


(Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ CSU]: Nein, belohnt! – Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, schon der Schweizer
Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt wusste: Ideologie ist
Ordnung auf Kosten des Weiterdenkens. In kaum einem
anderen Bereich wird dies deutlicher als in der Agrar- und
Ernährungspolitik dieser Bundesregierung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Mittels staatlicher Vorgaben versucht Ministerin Künast,
die in den letzten Jahrzehnten gewachsenen landwirt-
schaftlichen Strukturen tief greifend umzuwälzen, und ver-
hindert so die positive Weiterentwicklung des ländlichen
Raums. Anstatt auf Konsens setzt die Bundesregierung auf
Konfrontation; anstatt Vernunft herrscht Ideologie.

Herr Minister Bartels, ich stimme Ihnen ausdrücklich
zu, dass wir die Tierhalter, dass wir die Bauern bei der
Entwicklung der Landwirtschaft mitnehmen müssen. Die
Ministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-
wirtschaft aber macht genau das Gegenteil: Anstelle einer
praxisorientierten und ausgewogenen Politik steht ökolo-
gisch verblendeter Dogmatismus.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Gekonnt ignoriert die rot-grüne Bundesregierung dabei
den Sachverstand aller Experten und Landwirte.

Seit dem Legehennenurteil des Bundesverfassungsge-
richts vom Juni 1999 ist die Schweinehaltungsverordnung
als nichtig anzusehen. Seit dreieinhalb Jahren bedarf es
daher einer bundeseinheitlichen Regelung zur Haltung
von Nutztieren, doch wegen der verantwortungslosen
Untätigkeit der Bundesregierung existieren bis heute
keine einheitlichen nationalen Rahmenbedingungen für
die Haltung von Nutztieren.


(Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ CSU]: Sehr richtig! Weil sie Angst haben, Angst vor Höhn!)


Das haben Sie eben bestätigt, Herr Minister.
Um die Rechtslücke zu füllen, sind einige SPD-

regierte Bundesländer durch den Erlass eigener Verordnun-
gen vorgeprescht, mit teils katastrophalen Auswirkungen
für die betroffenen Landwirte. Eben wurde bereits die aben-
teuerlich anmutende nordrhein-westfälische Schweine-
haltungsverordnung erwähnt: Sie ist so praxisfern und
von so tiefer Unkenntnis geprägt, dass man darüber nur
den Kopf schütteln kann.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Um den Landwirten endlich Rechtssicherheit zu ge-
ben, muss die EU-Richtlinie zur Haltung von Nutztieren
unverzüglich in nationales Recht umgesetzt werden. Jede
weitere Verzögerung bedroht bis zu 300 000 Arbeitsplätze
in der Wertschöpfungskette Schweinefleisch. Kollege
Goldmann, Kollegin Connemann und ich, die wir das an-
gemahnt haben, kommen aus den Regionen, in denen die
Schweinehaltung mindestens so wichtig ist wie VW in
Wolfsburg.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Damit Sie eine Vorstellung davon bekommen, über wel-
ches Volumen wir sprechen: Hier geht es nicht um Peanuts;
das ist eine Branche mit einem jährlichen Umsatz von
20 Milliarden Euro. Wenn aufgrund der bei uns bestehen-
den Rechtsunsicherheit Produktionsverlagerungen ins Aus-
land stattfinden, dann greift das tief in den Wohlstand die-
ser Regionen ein. Zynischerweise führt es dazu, dass diese
Produktionen in Länder abwandern, in denen die Tiere von
den hohen deutschen Standards nur träumen können.


(Zuruf von der CDU/CSU: Wenn überhaupt!)

Jede weitere Verzögerung führt zu nachhaltigen Wett-

bewerbsnachteilen und zu nicht wieder gutzumachenden
Folgen für die Landwirtschaft und die gesamte Branche.
Bereits jetzt ist durch die Untätigkeit großer Schaden ent-
standen. Anhand der Baugenehmigungen können wir fest-
stellen, dass eine große Zurückhaltung herrscht: Wer in-
vestiert schon in Anlagen, Maschinen und Geräte, wenn
er nicht weiß, ob er diese morgen oder übermorgen noch
gesetzeskonform betreiben kann?


(Beifall bei der CDU/CSU)

Mit anderen Worten, meine Damen und Herren: Die

rot-grüne Verblendung und Anmaßung führen nicht nur
für die Landwirte zu Verzerrungen des ökonomischen
Wettbewerbs, sondern laufen auch den Interessen der
Umwelt, der Tiergesundheit und des Tierschutzes zuwi-
der. Das Ergebnis ist genau das Gegenteil dessen, was Sie
hier vorgeben erreichen zu wollen.

Die nun von der Ministerin angekündigte Verschärfung
der Haltungsbedingungen im nationalen Alleingang geht
allerdings noch weit über den herkömmlichen rot-grünen
Unfug hinaus. Es führt dazu, dass die Zukunftschancen
unserer Landwirte in schon bösartiger Weise mit Füßen
getreten werden. Dagegen müssen wir unsere Stimme er-
heben und uns wehren.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wie jeder Unternehmer brauchen unsere Landwirte klare
Perspektiven für ihre Investitionen. Das kommt dann den
Menschen im ländlichen Raum, also den Landwirten,
aber auch den Menschen, die im vor- und nachgelagerten
Bereich arbeiten, sowie den Tieren und damit dem Tier-
schutz zugute. Wir brauchen keine arroganten Politiker
und keine arrogante Ministerin, die den Fachleuten etwas
vorschreiben wollen, sondern wir brauchen eine sachge-
rechte Politik.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Noch im Koalitionsvertrag haben Sie, meine Damen

und Herren von Rot-Grün, festgehalten, dass Sie eine leis-


(A)



(B)



(C)



(D)


1756


(A)



(B)



(C)



(D)






tungsfähige und wettbewerbsfähige Landwirtschaft und
gleichzeitig einheitlich hohe Standards für den Verbrau-
cher-, Umwelt- und Tierschutz wollen. Was Sie jetzt auf
Bundesebene angekündigt haben, geht genau in die
falsche Richtung. Wir fordern daher, dass die EU-Richtli-
nie unverzüglich eins zu eins umgesetzt wird. Das dient
den Landwirten, der Umwelt und auch dem Wohl der
Tiere.

Herr Minister Bartels, wir haben im Niedersächsischen
Landtag 13 Jahre lang unsere Klingen kreuzen dürfen,
wenn ich das einmal so sagen darf. Sie haben – das darf
man ruhig einmal so festhalten – an der einen oder ande-
ren Stelle größeren Schaden von unseren Landwirten und
dem ländlichen Raum abgewendet, aber – das muss man
genauso sagen – Sie haben auch an ganz entscheidenden
Stellen gekniffen. Es hilft uns überhaupt nicht weiter, dass
beispielsweise Ihr Vorgänger, der ehemalige Bundesland-
wirtschaftsminister Funke, heute für gutes Geld bei land-
wirtschaftlichen Veranstaltungen die rot-grüne Bundes-
regierung beschimpft und dass Sie da, wo Sie meinen, das
geeignete Publikum zu haben, versuchen, die katastro-
phale Politik der rot-grünen Bundesregierung für den
ländlichen Raum schönzureden.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502214700

Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.


Georg Schirmbeck (CDU):
Rede ID: ID1502214800

Die Politik, die von der Ministerin Künast betrieben

wird, ist zum Schaden des ländlichen Raums, ohne dass
man mehr Tierschutz erreicht.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Deshalb hätten Sie allen Grund gehabt, das Ihren Partei-
genossen einmal deutlich ins Stammbuch zu schreiben.

Herzlichen Dank, Frau Präsidentin.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502214900

Herr Kollege, ich möchte Ihnen im Namen des Hauses,

wie das so üblich ist, zu Ihrer ersten Rede gratulieren.

(Beifall)


Weil es Ihre erste Rede war, war ich auch mit der Zeit et-
was großzügiger. Allgemein gilt: Wenn die rote Lampe
leuchtet, heißt das, dass Ihre Redezeit überschritten ist.
Das als Hinweis für die Zukunft.

Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 15/226 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Norbert Röttgen, Cajus Caesar, Dr. Wolfgang

Götzer, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches
– Graffiti-Bekämpfungsgesetz –
– Drucksache 15/302 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Widerspruch
höre ich nicht. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Dr. Jürgen Gehb.


Dr. Jürgen Gehb (CDU):
Rede ID: ID1502215000

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen

Sie mich meinen Redebeitrag mit der Wiedergabe zweier
Zitate beginnen:

Erstens.
Damit komme ich zu einem weiteren Zitat, diesmal
aus „Max und Moritz“ von Wilhelm Busch, nämlich
über das Sauerkraut der Witwe Bolte, „wovon sie be-
sonders schwärmt, wenn es wieder aufgewärmt“.

Zweitens.
Alle Jahre wieder kommt das Graffito auf die
Menschheit nieder und belästigt sie.

Das sind nicht etwa Passagen aus einer Büttenrede, wie
man annehmen könnte,


(Peter H. Carstensen [Nordstrand][CDU/CSU]: Von einem Niedersachsen geschrieben!)


und auch nicht aus der Jungfernrede einer Kollegin oder
eines Kollegen, die ein besonders poetisch veranlagter
wissenschaftlicher Mitarbeiter aufgeschrieben hat; nein,
es sind Passagen aus einer Rede unseres Parlamentari-
schen Staatssekretärs im Justizministerium zur Debatte
über Graffitischmierereien am 20. Dezember letzten Jah-
res. Nachzulesen ist das im Plenarprotokoll 15/17 auf den
Seiten 1 352 folgende. Die einschlägige Passage von Ih-
nen, Herr Hartenbach, kann man auf Seite 1 358 nachle-
sen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt kommen Sie schon wieder damit!)


Ich sage das vor einem bestimmten Hintergrund. Zur
gleichen Zeit, am 20. Dezember, fand dazu auch eine
Debatte im Bundesrat statt. Dort hat Ihr Kollege von der
SPD, der Minister Wolfgang Gerhards aus Nordrhein-
Westfalen – nicht „Gerhardt“ –,


(Hermann Bachmaier [SPD]: Wir kennen den schon!)


gesagt, er freue sich sehr darüber, wie sachlich die Debatte
über Graffiti geführt werde. Er hat betont, wie wichtig es
sei, dass die Vorschriften über die Sachbeschädigung

Georg Schirmbeck




Dr. Jürgen Gehb
ergänzt würden. Er hat erklärt, das könne und müsse jeder
eigentlich unterstützen. Das ist der Unterschied zwischen
der Sachlichkeit einer Debatte im Bundesrat und einer
Debatte mit den Mitgliedern der rot-grünen Fraktionen
hier im Deutschen Bundestag. Da fällt mein Blick natür-
lich auf wen? – Auf den Obergraffitischützer, Herrn
Ströbele.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der ist doch fürs Hanf zuständig!)


Heute Morgen konnte man in der „Berliner Zeitung“ lesen,
dass Sie diese Debatte als PR-Gag ansehen,


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Als Versuch eines PR-Gags von Ihnen! Ein schlechter PR-Gag!)


der kurz vor den Landtagswahlen noch einmal richtig
platziert werden müsste. Nach dem 2. Februar wird Ihnen
die Munition ausgehen, dann können Sie nicht mehr be-
haupten, der „Lügenausschuss“ oder diese Initiative zum
Graffiti fänden allein wegen der Landtagswahlen statt.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist aber so!)


Schön wäre es gewesen, wenn Sie sich mit diesem Thema
sachlich auseinander gesetzt hätten.

Bisher wird immer sehr vollmundig gesagt, man müsse
etwas gegen Graffitischmierereien tun. Herr Bachmaier,
mein Blick fällt dabei auch auf Sie;


(Hermann Bachmaier [SPD]: Na endlich, ich wäre schon fast beleidigt gewesen!)


das ist ja auch leicht angesichts der Besetzung und der
rhetorischen Feuerwerke, die heute sicherlich noch ge-
zündet werden. Sie haben gesagt, es bestehe kein signifi-
kantes Bedürfnis, den Graffitischmierereien mit dem ma-
teriellen Strafrecht zu begegnen, weil – das ist wörtlich
in dem Plenarbericht nachzulesen – man bei diesem Katz-
und-Maus-Spiel der Täter gar nicht habhaft werden
könne.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es! Wo er Recht hat, hat er Recht!)


Meine Damen und Herren, wenn die Frage der materiel-
len Strafbewehrung davon abhängen soll, ob man im Er-
mittlungsverfahren oder im Vollzug der Täter habhaft
werden kann, dann könnten Sie die Hälfte der materiellen
Straftatbestände streichen, Herr Ströbele. In einigen Fäl-
len wäre Ihnen das wahrscheinlich ganz besonders lieb.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Herr Bachmaier, wenn Sie an anderer Stelle sagen, das

Strafrecht brauche man gar nicht und man könne diesen
Dingen mit der zivilrechtlichen Haftung begegnen, dann
muss ich Sie fragen: Wer soll als Zivilgeschädigter ei-
gentlich dieser Täter habhaft werden? Soll denn der Ei-
gentümer hinterherlaufen?


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sollen hinterherlaufen!)


Oder liegt es nicht vielmehr im staatlichen Justizgewäh-
rungsanspruch, dass die Staatsanwaltschaft diesem Tatbe-
stand in einem Ermittlungsverfahren mit den Vollzugsbe-
amten der Polizei nachgeht?


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die haben nichts Wichtigeres zu tun!)


Das ist keine Frage des Zivilrechts.
Ein weiterer Einwand, den man immer wieder hört – das

hat zum Beispiel Herr Ströbele gesagt –, ist, dass Graffiti
auch jetzt schon nach § 303 StGB bestraft werde,


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So steht es im Gesetz!)


etwa wenn jemand mit der Sprühflasche die Wände des
Reichstags bemalt, weil die Wand so porös ist. Was ist
denn, wenn derjenige zehn Meter weiter geht und eine
glatte Wand besprüht? Dann ist es keine Sachbeschädi-
gung mehr.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kommt darauf an, womit er gesprüht hat!)


Meine Damen und Herren, man kann doch die Beurtei-
lung der Frage, ob Graffiti Sachbeschädigung ist und un-
ter den § 303 StGB subsumiert werden muss, nicht von
der Tiefenwirkung der Farbe, von der Beschaffenheit des
Untergrundes, vom Lösungsmittel und vom Aufwand der
Eigentümer, die dagegen vorgehen, abhängig machen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie wenden immer wieder dagegen ein – Herr Ströbele,

Sie haben das in mindestens fünfzehn Zwischenrufen be-
hauptet –, Graffiti sei Kunst.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Manchmal!)


Was würden Sie eigentlich sagen, wenn nachts um 3 Uhr
ein Geigenvirtuose bei Ihnen ins Haus kommt und Ihnen
auf der Geige „Fiddler on the roof“ vorspielt?


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann träume ich wunderbar! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wunderschön! Sagen Sie uns mal die Adresse!)


Selbst unter der Hand eines Künstlers darf das Unrecht
nicht zum Recht werden. Es kommt überhaupt nicht da-
rauf an, ob diese Graffitischmierereien oder -malereien
künstlerisch oder ästhetisch besonders wertvoll sind. Sie
machen ja immer den Einwand, die Strafverfahren seien
so aufwendig, weil man Sachverständige hören müsse.
Darauf kommt es nicht an. Es kommt einzig und allein da-
rauf an, ob sich der Eigentümer unter Wahrung seines
nach Art. 14 GG und § 903 BGB geschützten Eigentums
daran stört oder nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann ist es eine Störung!)


Mit der Strafanzeige und dem Strafantrag hat der Berech-
tigte zu erkennen gegeben, dass das Erscheinungsbild sei-


(A)



(B)



(C)



(D)


1758


(A)



(B)



(C)



(D)






nes Eigentums in einer Art und Weise beeinträchtigt wor-
den ist, die ihm nicht gefällt. Das – und nur das – ist das
geschützte Rechtsgut und muss in Zukunft durch die Er-
weiterung des § 303 StGB einem besonderen Schutz un-
terworfen werden.

Deshalb, meine Damen und Herren – Sie reden ja auch
noch, Herr Staatssekretär –, kann ich nur hoffen – jetzt ist
ja Weihnachten vorbei, aber die Faschingszeit fängt an –,
dass Sie Ihre Einlassungen weniger an Wilhelm Busch
und Witwe Bolte orientieren als vielmehr an der ständigen
Rechtsprechung, der Literatur und den Gesetzen dieses
Staates.

Herzlichen Dank, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502215100

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hermann

Bachmaier.


Hermann Bachmaier (SPD):
Rede ID: ID1502215200

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn

Herr Gehb redet, muss man immer ein wenig Sorge ha-
ben, dass ihm etwas zustößt. Das ist ein größeres Problem.


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Widerlegen Sie meine Einlassung! Soll ich aus der Drucksache vorlesen?)


– Sie dürfen alles. Das haben Sie aber nicht getan.

(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Ich kann es frei!)

Lieber Herr Gehb, um es ganz kurz zu machen: Das,

was Sie gesagt haben, hat mit Ihrem Gesetzentwurf prak-
tisch gar nichts zu tun. Das ist das Problem, mit dem Sie
sich herumzuschlagen haben. Dies hier ist schließlich
kein Wahlkampftermin.

Mit dem Kollegen van Essen bin ich einig, wenn er
fragt, warum wir eine solche Debatte innerhalb eines kur-
zen Zeitraumes zum zweiten Mal führen müssen. Offen-
sichtlich haben Sie ein Profilierungsbedürfnis.


(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Stimmen Sie einfach zu!)


Es gibt kaum ein rechtspolitisches Thema, über das wir
im Parlament häufiger diskutiert haben – das muss man
sich einmal überlegen –, als über das der Graffitisprühe-
rei. Erst in der vorletzten Sitzungswoche haben wir über
einen fast gleich lautenden Entwurf der FDP-Fraktion in
erster Lesung beraten. In Kürze werden wir uns mit einem
Entwurf des Bundesrates befassen, der sich allerdings in
einem nicht unwesentlichen Punkt von den beiden uns
vorliegenden Entwürfen unterscheidet. Darin wird näm-
lich vernünftigerweise auf den schillernden und zen-
surähnlichen Begriff der Verunstaltung verzichtet.


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das ist ja nun eine Exegese!)


Im vergangenen Jahrhundert war Graffiti – darüber
habe ich mich in diesen Tagen von einem kunstsinnigen

Staatssekretär aufklären lassen – eine hoch angesehene
Richtung in der italienischen Malerei.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hört! Hört!)


Heute allerdings ist es ein Ärgernis, wenn – Herr Gehb,
darin sind wir uns einig – bisweilen fast flächendeckend
Häuserwände, Brücken, Busse und Bahnwaggons be-
sprüht werden.

Alle bisherigen Versuche, diese – vorwiegend von Ju-
gendlichen zu verantwortenden – Aktivitäten einzugren-
zen und zu bekämpfen, haben keine allzu großen Erfolge
gezeitigt. Seit Jahren wird uns nunmehr suggeriert, dass
eine Ergänzung des Straftatbestandes der Sachbe-
schädigung – in den 80er-Jahren ging es um das Ord-
nungswidrigkeitenrecht – Abhilfe schaffen könnte. Dabei
sind bereits die weitaus meisten Fälle – das können Sie
nicht bestreiten – mit der geltenden Fassung des § 303 des
StGB zu ahnden.


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Nein!)

– Schauen Sie in die Rechtsprechung!


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Warum wollen es Ihre Kollegen im Bundesrat denn anders machen?)


Sie sollten deshalb nicht so tun, als würde eine Ergän-
zung des Sachbeschädigungstatbestandes das Problem
der Graffiti aus der Welt schaffen.


(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)


Wir wissen doch alle, dass die größte Schwierigkeit darin
besteht, die Täter überhaupt zu fassen. Das bleibt das
Hauptproblem. Schauen Sie sich doch die Aufklärungs-
rate an! Dann werden Sie ganz schnell merken, dass da-
ran auch ein ergänzter Straftatbestand der Sachbeschädi-
gung nichts ändern wird.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1502215300

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Bergner?

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Der redet doch gleich noch!)



Hermann Bachmaier (SPD):
Rede ID: ID1502215400

Die Zwischenfragen des Herrn Bergner sind mir aus der

letzten Beratung bekannt. Er wird nachher selbst reden.

(Dr. Christoph Bergner [CDU/CSU]: Ich wollte Ihnen nur die Gelegenheit zur Antwort geben!)


Ich habe eigentlich keine Scheu; Zwischenfragen beleben
die Reden. Ich möchte nur nicht ständig auf andere Punkte
gebracht werden; denn sonst bekomme ich Probleme,
meine Rede in der mir vorgegebenen Zeit zu beenden.

Wir sollten nicht so tun, als würde lediglich eine Er-
gänzung des Straftatbestandes Abhilfe schaffen.


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das tut doch keiner!)


Dr. Jürgen Gehb




Hermann Bachmaier
Ein ergänzter Tatbestand der Sachbeschädigung wird da-
ran nicht viel ändern. Wenn man die Täter erst einmal ge-
fasst hat, kann man sie meist auch bestrafen


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Nein!)

und sie dazu zwingen – das ist für die Eigentümer am
wichtigsten –, den angerichteten Schaden zu beseitigen.

Wir haben bereits anlässlich der Beratung des FDP-
Entwurfes deutlich gemacht – das sollten Sie nicht ver-
schweigen –, dass wir durchaus bereit sind, den § 303
StGB so zu ergänzen, dass auch die geringe Anzahl der
Fälle, bei denen es sich nicht um eine Substanzverletzung
handelt, strafrechtlich erfasst werden kann.

Wir sind allerdings nicht bereit – auch das sage ich hier
klar und deutlich – den von Ihnen wiederum vorgeschla-
genen Begriff der Verunstaltung in das Strafgesetzbuch
aufzunehmen. Dieser Begriff gibt den Strafverfolgungs-
behörden und Gerichten Steine statt Brot.


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Quatsch!)

Ein Tatbestandsmerkmal der Verunstaltung würde
dazu führen, dass sich die Polizei, die Staatsanwaltschaf-
ten und die Gerichte mit der Frage herumschlagen müss-
ten, ob die jeweiligen Graffiti verunstaltender Natur sind
oder nicht. Dieser Begriff hat in unserem Strafgesetzbuch
wahrlich nichts zu suchen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Es gibt ihn aber schon!)


– Ja, aber in einem anderen Zusammenhang. Mein Gott!

(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Seien Sie doch nicht so gereizt!)

Der Entwurf des Bundesrates verzichtet aus gutem

Grund auf diesen Begriff. Allerdings kommt auch der
Bundesrat nicht ohne unbestimmte Rechtsbegriffe aus,
die einer weiteren Interpretation durch die Rechtspre-
chung bedürfen. Wenn wir also den Straftatbestand der
Sachbeschädigung ergänzen, sollten wir alles daran set-
zen, die bisherige klare Formulierung dieses Straftatbe-
standes nicht durch unbestimmte Rechtsbegriffe zu ver-
wässern.

Aber auch dann, wenn § 303 StGB entsprechend er-
gänzt wird, wird kein Täter mehr gefasst werden als heute.
Das sollten wir der Bevölkerung nicht verschweigen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Es würden aber mehr Täter bestraft!)


Entscheidend für die Bekämpfung von Graffitisprühe-
reien sind vernünftige Präventions- und Strafverfol-
gungsmaßnahmen durch die Bundesländer. Wir sollten
den Menschen also nicht vorgaukeln, dass eine Ergänzung
des materiellen Strafrechtes alle Probleme in der Praxis
beseitigen würde.


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das tut auch keiner!)


Das tun Sie mit großer Vorliebe immer kurz vor Wahlen.

(Beifall bei der SPD)


Wir werden noch in diesem Jahr zusammen mit Ihnen
nach einer sachgerechten Lösung suchen. Es wird leider
trotzdem Graffitischmierereien geben, wenn die Aufklä-
rungsmethoden nicht verbessert werden.


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Es wird auch weiter Mörder geben trotz § 211!)


– Regen Sie sich bitte nur in Maßen auf, lieber Herr Gehb.
Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1502215500

Als nächster Redner hat der Kollege Jörg van Essen das

Wort.


Jörg van Essen (FDP):
Rede ID: ID1502215600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie

der Kollege Bachmaier habe auch ich mich sehr darüber
gewundert, dass wir heute diese Debatte führen müssen,
und zwar nicht deshalb, weil ich mich nicht über Graffitis
und die Verunstaltung unserer unmittelbaren Umgebung,
von Fahrzeugen und vielen anderen Dingen ärgern würde
– das tue ich genauso wie die Kolleginnen und Kollegen
der CDU/CSU-Fraktion –, sondern weil wir in der vor-
letzten Sitzungswoche hier eine, wie ich finde, gute De-
batte zu diesem Thema hatten, in der wir wirklich alle Ar-
gumente ausgetauscht haben.


(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir sind hier doch ein oberstes Verfassungsorgan und
kein Tourneetheater, das immer das gleiche Stück aufführt.
Ich denke, dass dieses Haus Anspruch darauf hat, dass wir
bestimmte Dinge wie beispielsweise Würde wahren.


(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dazu gehört, dass Debatten, die vor kurzer Zeit stattge-
funden haben und wozu es praktisch keine neuen Argu-
mente gibt, nicht neu geführt werden. Ich ärgere mich
wirklich sehr darüber.

Ich möchte mich aber auch in der Sache äußern. Die
Debatte in der vorletzten Sitzungswoche hat gezeigt
– da gebe ich dem Kollegen Bachmaier Recht; darüber
habe ich mich gefreut –, dass die Bundesregierung bereit
ist nachzudenken. Allerdings hat sie Kritik an unserem
und Ihrem Vorschlag geübt, den Begriff des Verunstal-
tens zu verwenden. Ich signalisiere hier aber sehr deut-
lich: Wenn wir tatsächlich dazu kommen, die vorhandene
Strafbarkeitslücke – auf die hat der Präsident des Ober-
landesgerichtes Brandenburg in der letzten Woche aus-
drücklich hingewiesen; wir sprechen also nicht über eine
Chimäre – gemeinsam zu schließen, dann bin ich damit
zufrieden.

Ich wehre mich allerdings gegen die vom Kollegen
Bachmaier wieder vorgetragene Kritik an dem Vorschlag
der FDP und auch der CDU/CSU, den Begriff des Verun-
staltens ins Strafgesetzbuch aufzunehmen. Das ist näm-


(A)



(B)



(C)



(D)


1760


(A)



(B)



(C)



(D)






lich kein neuer Begriff für das deutsche Strafgesetzbuch,
wie Sie tun.


(Hermann Bachmaier [SPD]: Nein, so tue ich nicht!)


§ 134 StGB enthält diesen Begriff bereits. Jeder kann ein-
mal nachsehen, wie lange er dort schon vorkommt. Des-
halb soll niemand so tun, als ob die FDP – wir haben den
Vorschlag zuerst gemacht – und nun auch die CDU/CSU
irgendeinen Begriff in das deutsche Strafgesetzbuch ein-
führen wollten, der Richtern und Staatsanwälten Pro-
bleme machen würde. Diese hat es bei der Einführung des
§ 134 in das Strafgesetzbuch nicht gegeben und diese
würde es auch jetzt nicht geben.

Wir wollen – das will ich ganz deutlich sagen – ein kla-
res politisches Signal, dass wir das Ganze nicht für Kunst
halten. Dass es mit Kunst wirklich nichts zu tun hat, zeigt
sich ganz deutlich am so genannten Scratchen von Fens-
tern. Das hat in Gegenden angefangen, in denen es
S-Bahnen gibt. Dabei wird natürlich überhaupt keine
Kunst produziert,


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat niemand behauptet!)


sondern schlicht und einfach ein Fenster zerstört. Genau
das gleiche Ziel wird auch mit den Graffitis verfolgt. Hier
geht es um pure Zerstörungslust, um pure Beschädi-
gungslust.


(Hermann Bachmaier [SPD]: Darüber sind wir uns einig!)


Deshalb ist es ganz wichtig, dass wir das politische
Signal setzen, dass wir nicht bereit sind, das hinzuneh-
men; denn die Leidtragenden sind häufig Menschen, die
unter großem finanziellen Aufwand – sie leben nicht
unbedingt in rosigen finanziellen Verhältnissen – bei-
spielsweise ihr Haus neu gestrichen haben und nach kur-
zer Zeit erleben müssen, dass ihr Haus in einer geradezu
unerträglichen Weise von Graffitisprayern beschädigt
worden ist. Ihnen fehlt dann häufig das Geld, das wieder
zu beseitigen.

Wir als FDP sagen dazu ein klares Nein. Wir wollen,
dass die entsprechenden strafrechtlichen Lücken ge-
schlossen werden.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1502215700

Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Christian Ströbele

vom Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich gestehe, dass auch ich das Problem habe, heute wie-
der zu demselben Thema wie vor 14 Tagen zu reden. Dies
muss wohl deshalb schon wieder sein, weil am Wochen-
ende in Hessen und Niedersachsen Wahlen sind. Der zeit-

liche Zusammenhang ist so eindeutig, dass man ihn ei-
gentlich gar nicht mehr benennen muss.


(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Der Gesetzentwurf ist aus der letzten Legislaturperiode!)


Sie sehen ja auch, dass sich das Interesse der Öffentlich-
keit an diesem im wahrsten Sinne des Wortes so spritzi-
gen Thema in Grenzen hält.

Ich habe mir einen bekannten Strafrechtskommentar
mitgebracht, um der Sache einmal auf den Grund zu ge-
hen.


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Von Wilhelm Busch oder was?)


Sie tun immer so, als ob das zehntausendfache Sprayen
und die Sachbeschädigungen in U-Bahnen sowie an öf-
fentlichen und privaten Gebäuden von der Bundesregie-
rung, die angeblich aus einer schwachen SPD und


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Noch schwächeren Grünen!)


einer grünen Partei, die so etwas gerne erhalten möchte,
besteht, einfach hingenommen würden, und sie deshalb
nicht zu Potte komme. Deshalb gebe es auch keine Ge-
setze und könne es immer so weitergehen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Das Gegenteil ist wahr:


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Schon heute wird das Zerkratzen von Fensterschei-

ben, das man in fast allen S-Bahnen von Berlin sehen
kann und über das auch ich mich immer sehr ärgere, mit
erheblichen Strafen bedroht.


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Darüber streiten wir doch auch nicht!)


In diesem Buch steht, dass dies mit einer Freiheitsstrafe
von bis zu drei Jahren geahndet werden kann.


(Jörg van Essen [FDP]: Sie wissen aber, dass sie nicht verhängt werden!)


Dasselbe gilt grundsätzlich auch für das Sprayen.

(Jörg van Essen [FDP]: „Grundsätzlich“ heißt ja, dass es Ausnahmen gibt!)

Dass das Sprayen grundsätzlich strafbar ist, wenn

die Beseitigung einen erheblichen Aufwand erfordert,
wird mit unendlich vielen Zitaten aus der Rechtsprechung
belegt.


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Wer soll das denn prüfen?)


Das Sprayen ist heute schon – um bei dem Beispiel, das
ich in der Tat beim letzten Mal gebracht habe, um den Un-
terschied klar zu machen, zu bleiben – nicht nur dann
strafbar,


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das wäre unsinnig, gell?)


wenn es an der porösen Fassade des Reichstags geschieht,
sondern auch dann, wenn man zum Beispiel das äußere

Jörg van Essen




Hans-Christian Ströbele
Erscheinungsbild einer Sache ganz erheblich anders ge-
staltet, als das der Eigentümer will


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Wenn man zum Beispiel auf das Glas des Paul-Löbe-Hauses spritzt!)


– es ist egal, ob das ein öffentlicher oder ein privater Ei-
gentümer ist –, und ein erheblicher Aufwand erforderlich
ist, um das wieder zu beseitigen.

Das Problem – an diesem reden Sie vorbei – ist, dass man
die Leute in aller Regel nicht fasst. Die Aufklärungsquote
ist regional unterschiedlich und liegt zwischen 10 und
35 Prozent. Hier kommen Sie mit Ihren Strafen nicht weiter.
Sie versuchen Signale zu setzen und so zu tun, als ob Sie mit
einer solchen Gesetzesergänzung oder einer neuen Geset-
zesvorschrift dagegen ankämen. Das schaffen Sie leider
nicht. Sie träufeln den Leuten Sand in die Augen und tun wie
immer so, als ob Sie mit einer Gesetzesverschärfung gegen
solche gesellschaftlichen Phänomene angehen könnten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Beseitigung dieser Zerstörungen und die Wieder-

herstellung der besprühten Fläche sind in der Tat sehr häu-
fig nicht nur ein Ärgernis, sondern für die betroffenen Ei-
gentümer und die öffentliche Hand mit erheblichen
Kosten verbunden. – Es handelt sich um einen mehrstel-
ligen Millionenbetrag.


(Jörg van Essen [FDP]: Richtig!)

Das kann niemand wollen. Niemand kann dem Eigentü-
mer oder der öffentlichen Hand zumuten wollen, dass das
Geld, das man in anderen Bereichen ganz dringend
benötigt, dafür ausgegeben wird.

Ich habe heute in der Zeitung gelesen, dass die Kinder
in Berlin einen Teil ihrer Schulbücher selbst bezahlen
sollen. Mit dem Geld, das jetzt für die Beseitigung der
durch das Sprayen entstandenen Schäden ausgegeben
wird, könnte man den Kindern ihr Schulmaterial auch in
Zukunft gratis zur Verfügung stellen.


(Jörg van Essen [FDP]: Richtig! Genauso ist es!)


Das kann nicht sein. Das will auch keiner. Auch die Grü-
nen wollen das nicht.

Trotzdem, Herr Kollege van Essen, sind einige
Sprayereien Kunst. In Berlin – ich habe schon mehrfach da-
rauf hingewiesen – gab es ein riesiges Bauwerk, das wir alle
nicht haben wollten und bei dem wir froh waren, als es weg
war, nämlich die BerlinerMauer. Sie ist unendlich viel be-
sprayt worden. Später wurden diese Werke, die darauf zu
sehen waren, in Kunstkalendern verbreitet. Auch ich habe
einen solchen Kalender bei mir im Büro hängen. In einzel-
nen Fällen war dies tatsächlich Kunst. Ich will diese Graffiti
nicht verteidigen, aber wir sollten vor der Tatsache, dass
auch Kunstwerke darunter sind, die Augen nicht ver-
schließen. Das hat auch die Rechtsprechung so entschieden.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1502215800

Herr Kollege Ströbele, erlauben Sie eine Zwi-

schenfrage des Kollegen van Essen?


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ja, es ist schön, mit ihm zu diskutieren.


Jörg van Essen (FDP):
Rede ID: ID1502215900

Herr Kollege Ströbele, Sie haben gerade über Kunst

gesprochen. Ist Ihnen bekannt, dass die Deutsche Bahn,
die in besonderer Weise unter Graffitischmierereien zu
leiden hat, Graffitikünstlern Flächen zur Verfügung ge-
stellt hat, um sie künstlerisch zu gestalten, aber dieses An-
gebot nicht angenommen worden ist? Offensichtlich hatte
man etwas ganz anderes vor, nämlich Sachbeschädigung
und nicht Kunst.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Nein, das stimmt nicht. Herr Kollege van Essen, mir ist
bekannt, dass viele öffentliche Stellen, nicht nur die Deut-
sche Bahn, sondern beispielsweise auch viele Bezirke in
Berlin, Sprayern Wände zur Verfügung gestellt haben.
Dass das nicht angenommen worden ist, ist nicht richtig.
Leider ist aber das sonstige Sprayen nicht viel weniger ge-
worden.

Dazu will ich eine letzte Bemerkung machen. Ich habe
viele Menschen verteidigt, die wegen solcher Vorwürfe vor
Gericht standen. Daher weiß ich, dass das Strafgesetzbuch
in solchen Fällen in aller Regel zur Anwendung kommt und
Strafen ausgesprochen werden. Warum sprayen diese
Leute? – Die meisten sprayen nicht, weil sie Kunstwerke
vollbringen wollen, sondern weil sie ihr Markenzeichen in
der Öffentlichkeit sichtbar machen wollen. Ich habe das
einmal mit Hunden verglichen. So wie diese ihr Marken-
zeichen an Bäumen hinterlassen, so wollen viele Sprayer
ihr Markenzeichen überall in der Stadt hinterlassen. Das
müssen wir nicht gut finden und auch nicht billigen. Aber
wir dürfen uns nicht dem Irrglauben hingeben, dass die
Graffiti dann, wenn eine zusätzliche Vorschrift ins Strafge-
setzbuch aufgenommen wird, weniger werden.

Das Interessante für viele dieser Sprayer ist leider das
Räuber-und-Gendarm-Spiel. Sie reizt das Verbotene.
Wir alle wollen das verhindern. Deshalb sollten wir uns
Gedanken darüber machen – diese Idee haben auch Sie
gehabt –, den Gutwilligen unter den Sprayern Ersatz-
flächen zur Verfügung zu stellen. Zudem müssen wir in
der Öffentlichkeit, gerade auch bei Schülern und jungen
Leuten, die so etwas machen, möglichst drastisch klar ma-
chen, dass durch die Beseitigung von Graffiti und die da-
mit verbundenen Kosten eine anderweitige und sinnvol-
lere Nutzung von öffentlichen Geldern verhindert wird.
Ich glaube, viele kann man überzeugen, nicht dort zu
sprayen, wo es unmittelbar beseitigt werden muss, weil
sonst der Gebrauchswert der Gegenstände wie bei U- und
S-Bahnen ganz erheblich vermindert wird.

All das wollen wir nicht. Wir wollen andere Wege ge-
hen. Wir wollen schädliches Sprayen verhindern, aber
nicht immer mit dem Hammer des Strafgesetzbuches und
der Kriminalisierung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Jürgen 1762 Gehb [CDU/CSU]: Lieber mit Hammer und Stemmeisen als mit dem Hammer des Strafgesetzbuches!)


(A)


(B)


(C)


(D)


(A)


(B)


(C)


(D)






Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1502216000

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Christoph Bergner

von der CDU/CSU-Fraktion.


Dr. Christoph Bergner (CDU):
Rede ID: ID1502216100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol-

lege Ströbele, Sie haben diesen Antrag als einen PR-Gag
bezeichnet.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)


Als jemand, der lautstark plebiszitäre Elemente im
Grundgesetz fordert, sollten Sie für eine Massenpetition
aus meinem Wahlkreis, die folgenden Wortlaut hat, be-
sondere Aufgeschlossenheit zeigen:

Die Unterzeichner fordern den Deutschen Bundestag
auf, die Regelungen des Strafgesetzbuches so zu än-
dern, dass unerlaubtes Besprühen oder Bemalen von
fremdem Eigentum, so genannte Graffiti-Tags und
andere, regelmäßig als Sachbeschädigung gelten und
damit als Straftat verfolgt werden können.

(Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie die Leute aufgeklärt?)


Diese Massenpetition, Herr Kollege Ströbele, liegt seit
über einem Jahr im Deutschen Bundestag und hat bisher
noch keine sachgerechte Behandlung gefunden.


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das ist es!)

Dies sage ich mit Hinweis darauf, dass offenbar auch der
Petitionsausschuss den Sachverhalt als im Rechtsaus-
schuss noch nicht ausreichend diskutiert betrachtet.

Die Unterzeichner, zu denen ich gerne noch etwas sa-
gen möchte,


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie in die Irre geführt!)


hätten für alles Mögliche Verständnis, aber nicht dafür,
dass wir das Thema einfach liegen lassen. Vielmehr muss
es immer wieder aufgegriffen werden. Zu den Unter-
zeichnern, um auch dies klar zu sagen, gehören ehren-
werte Bürger der Stadt, aus der ich komme – Künstler,
Vertreter von Verbänden und Vereinigungen der Stadt –,
die vor allen Dingen ein Anliegen haben: dass wir uns mit
solchen Anträgen und einer solchen Debatte der Dimen-
sion der Problematik bewusst werden.

Die Dimension hat jetzt die Größenordnung einer ge-
sellschaftlichen Herausforderung erreicht. Die gesell-
schaftliche Herausforderung lautet aus der Sicht dieser
Unterzeichner: Bleibt der Anblick einer Stadt so etwas
wie das Gemeingut seiner Bürgerinnen und Bürger oder
fällt er unter das Faustrecht einer Minderheit, die sich mit
gemalten Albträumen an jeder sichtbaren Fläche verewi-
gen möchte? Dieses Anliegen macht deutlich, dass es hier

nicht nur um die Einzelbelange eines Hauseigentümers,
sondern um die Frage geht, wie ernst wir den Umstand
nehmen, dass wir über Denkmalschutzgesetze, über Sa-
nierungs- und Gestaltungssatzungen der Kommunen,
über bauaufsichtliche Vorgaben und über die Berufung
von Gestaltungsbeiräten gemeinschaftlich versuchen, das
Bild einer Stadt in einem Prozess konsensualer Mei-
nungsbildung zu einer besonderen Ausprägung zu brin-
gen, und dann eine Horde von Spraydosenvandalen
kommt und diesen Anblick in einer einzigen Nacht zu-
nichte macht. Mit diesem Problem haben wir uns ausei-
nander zu setzen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Aus meiner Sicht wird die Dimension des Problems in

der Frage deutlich, ob der Staat bereit und in der Lage ist,
diese Willkürhandlung gegen die Gemeinschaft einer
städtischen Bürgerschaft mit einer zweifelsfreien Ant-
wort des Strafrechts zu unterbinden und zu verfolgen.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das schaffen Sie nicht!)


Herr Ströbele, ich weiß nicht, von welchen Auf-
klärungsquoten Sie sprechen. Ich habe Zahlenangaben
aus der Stadt Halle, die besagen, dass polizeiliche Auf-
klärungsquoten in einzelnen Jahren durchaus bei 70 Pro-
zent lagen. Aber die Erfolgsquote bei der strafrechtli-
chen Verfolgung ist aufgrund der Zweifelhaftigkeit der
Strafrechtsregelung so erbärmlich, dass inzwischen auch
diejenigen, die die Ermittlungen zu betreiben haben, frus-
triert und nicht mehr motiviert sind, diesen Dingen wirk-
lich nachzugehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Strafrechtliche Verfolgung wird auch derjenige für un-

entbehrlich halten, der begriffen hat – auch dafür gibt es
Belege –, dass diese Graffitisprühereien oft genug Ein-
stiegs- und Wegbereitungsdelikte für Vandalismus und
kriminelles Handeln sind.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1502216200

Herr Kollege Bergner, erlauben Sie eine Zwi-

schenfrage des Kollegen Ströbele?


Dr. Christoph Bergner (CDU):
Rede ID: ID1502216300

Bitte.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1502216400

Bitte schön, Herr Ströbele.

(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Für eine völlig überflüssige Debatte ist das erstaunlich!)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Kollege, können Sie mir sagen, in welchen Jahren
die Aufklärungsquote in der Stadt Halle bei Graffiti oder
anderen Sachbeschädigungen 70 Prozent betragen hat
und in wie vielen Fällen Täter zweifelsfrei festgestellt

Hans-Christian Ströbele




Hans-Christian Ströbele
worden sind, es aber nicht zu einer Verurteilung gekom-
men ist, weil angeblich die Vorschriften des Strafgesetz-
buches nicht ausreichen?


Dr. Christoph Bergner (CDU):
Rede ID: ID1502216500

Herr Kollege Ströbele, ich bin gern bereit, Ihnen die

Zahlen zu liefern, die wir bei einer Anhörung im Mai 2000
in der Stadt Halle zur Kenntnis bekamen. Damals wurde
uns von der Polizei erklärt, dass wir mit einer Auf-
klärungsquote von bis zu 70 Prozent rechnen könnten und
dass insgesamt drei Tatverdächtige tatsächlich verurteilt
worden seien. Mit einem solchen Verhältnis haben wir es
zu tun.

Ich habe noch keinen Polizisten erlebt – die Polizisten
bemühen sich bei diesen Ermittlungen ja beträchtlich –,
der, wenn er nicht das Gefühl hat, für den Papierkorb zu
arbeiten, nicht mit demselben Nachdruck, mit dem ich es
über Jahre tue, an dieser Stelle eine Strafrechtsverschär-
fung fordert.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörg van Essen [FDP]: Die Gewerkschaft der Polizei tut das zum Beispiel auch!)


– Die Motivlage ist völlig eindeutig.
Herr Kollege Ströbele, mir macht aber Sorgen – hier

stehen wir in der Gefahr der Bagatellisierung; auch dies
haben über Jahre geführte Gespräche mit der Polizei er-
geben –, dass wir es mit einem Einstiegs- und Weg-
bereitungsdelikt zu tun haben. Das Kratzen geschieht
dort, wo man Sorge hat, dass die Sprayereien leicht abzu-
waschen sind. Nach dem Kratzen kommt das Zertrüm-
mern und nach dem Zertrümmern kommen weiter ge-
hende Sachbeschädigungen.


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Und Körperverletzungen!)


Herr Kollege Ströbele, Folgendes hat mich in den Jah-
ren, in denen ich mich mit diesem Problem beschäftige,
nachdenklich gemacht: Inzwischen gibt es eine Szene –
das betrifft sicherlich nur eine Minderheit des Täterkrei-
ses –, die hoch organisiert ist. Als wir unsere Bemühun-
gen im Internet präsentierten, sind wir durch einen Link
auf eine Seite gestoßen – die Internetadresse ist
www.halle.crime.de; inzwischen habe ich ähnliche Seiten
gefunden –, auf der Sprayer die Hauswände, auf die sie
ihre Tags gesetzt haben, wie Trophäen ausstellen. Außer-
dem werden in einem Vorspann die Sicherungsbemühun-
gen der Polizei in einer solch zotigen Weise verhöhnt,
dass ich mich scheue, das in diesem Hohen Hause zu zi-
tieren. Auch so etwas fordert aus meiner Sicht, dass der
Staat beim Strafrecht eine eindeutige Antwort nicht schul-
dig bleiben darf.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Zum Abschluss möchte ich noch sagen: Die Straf-

rechtsverschärfung ist nur ein Teil eines Handlungskon-
zepts. Ich selbst habe mich um die Gründung eines
Vereins bemüht, der beispielsweise versucht, eine zivil-
rechtliche Entscheidung über die Anerkennung der Säu-
berung von Denkmälern als gemeinnütziges Anliegen
herbeizuführen und darüber finanzielle Hilfe zu bekom-

men. Nur, wenn immer Sie so etwas tun, werden Sie fest-
stellen: Allein mit bürgerschaftlichem Engagement lässt
sich dieses Problem nicht lösen. Der Staat ist gefordert,
mit dem Strafrecht eine zweifelsfreie Antwort zu geben.
Um eine solche Antwort sollten wir uns bemühen; denn
die Resignation der Bürger – das erlebe ich leider in den
Stadtteilen, in denen unbesprühte Wände zur Seltenheit
geworden sind – führt zu Wegzug und Verslumung ganzer
Stadtteile. Insofern stehen wir hier vor einer grundsätzli-
chen Entscheidung. Ich kann nur dazu auffordern, dass
wir dem Anliegen, das mir in den letzten Jahren in einer
ostdeutschen Großstadt vermittelt wurde, gerecht werden,
und zwar in seiner ganzen Dimension.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1502216600

Herr Kollege Dr. Bergner, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer

ersten Rede im Deutschen Bundestag. Herzlichen Glück-
wunsch!


(Beifall)

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat

nun der Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach
das Wort.


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Ach, was muss man oft von bösen Buben hören oder lesen? Jetzt kommt doch bestimmt wieder Wilhelm Busch!)


A
Alfred Hartenbach (SPD):
Rede ID: ID1502216700


Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-
nen und Kollegen! Herr Gehb, ich zitiere heute einmal
nicht Wilhelm Busch, sondern beginne mit Karl Valentin,
damit ich Ihren Wissensschatz noch ein bisschen erwei-
tere. Karl Valentin hat gesagt: „Es ist alles gesagt, aber
noch nicht von allen.“ Ich möchte zu dem Gesetzentwurf,
den Sie heute vorgelegt haben, sagen: Es ist alles gesagt,
und zwar von allen.


(Beifall bei der SPD)

Wir diskutieren heute über das Gleiche wie schon in

der letzten Legislaturperiode oder wie vor fast sechs Wo-
chen. Nun zitiere ich Goethe: „Getretener Quark wird
breit, nicht stark.“ Vor gut einem Monat haben wir alle Ar-
gumente ausgetauscht. Sie erwecken heute trotzdem wie-
der den Eindruck, dass mit dem Begriff der Verunstal-
tung das Problem in den Griff zu bekommen ist.


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das hat überhaupt keiner gesagt!)


Sie befinden sich ein weiteres Mal auf dem Holzweg.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Beim Lesen Ihres Gesetzentwurfes bekommt man den
Eindruck, Farbschmierereien und Graffiti würden nur
selten vom Tatbestand der Sachbeschädigung erfasst und
seien aus diesem Grunde regelmäßig straflos. Wir alle


(A)



(B)



(C)



(D)


1764


(A)



(B)



(C)



(D)






wissen, dass das so nicht stimmt. Wenn Graffitisprayer
gefasst werden, können sie in vielen Fällen wegen Sach-
beschädigung verurteilt werden. Ich weiß im Gegensatz
zu Ihnen, Kollege Bergner, als Staatsanwalt und Richter,
dass das so ist. Für eine Verurteilung reicht schon aus,
dass die Substanz der besprühten Fläche durch die Reini-
gung geringfügig beschädigt wird.

Ich habe die Aussage eines Berliner Malermeisters
bei einer Sachverständigenanhörung im Jahre 1999
noch sehr gut in Erinnerung. Dieser Malermeister hat
gesagt, der heute handelsübliche Außenputz sei bei
Farbschmierereien nur durch Abschleifen und damit nur
durch eine Verletzung der Substanz zu beseitigen. Da-
mit haben wir es mit dem Tatbestand der Sachbeschädi-
gung zu tun.


(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das hängt vom Material ab!)


Es ist deshalb nicht redlich, wenn Sie immer wieder so
tun, als klaffte hier eine Gesetzeslücke und als genügte
ein Federstrich des Gesetzgebers, um sämtlichen Farb-
schmierereien bis in alle Ewigkeit ein Ende zu bereiten.
Nicht die Rechtslage ist das Problem bei der Graffiti-
bekämpfung, sondern die Schwierigkeit, die Täter zu fas-
sen. Wenn Täter nicht ermittelt werden können, dann kön-
nen sie nicht bestraft werden. An diesem Problem werden
alle Eingriffe in das materielle Strafrecht nichts ändern.
Vorrangig ist es deshalb – gerade aus jugendpolitischer
Sicht –, eine wirksame Prävention sicherzustellen. Da-
rauf sollten wir uns konzentrieren.

Herr Gehb, ich zitiere aus der „Hessischen Nieder-
sächsischen Allgemeinen“ – Ort ist Hofgeismar, wo ich
einmal Amtsrichter war –:

„Das war ein gutes Beispiel von Zivilcourage. Da-
rauf sind wir angewiesen, um unsere Ermittlungsar-
beiten auch zum Erfolg zu führen.“ Gerhard Wöhrl,
Erster Hauptkommissar und Leiter der Polizeistation
in Hofgeismar, spricht von einer Zeugin aus Immen-
hausen,

– da wohne ich –
die der Polizei einen entscheidenden Hinweis gege-
ben hat.

Der Artikel schließt folgendermaßen:
Um diese Straftaten aber aufklären zu können, soll-
ten die Bürger Mut beweisen und ihre Beobachtun-
gen melden. Wöhrl: „Es ist nicht damit getan, die Au-
gen zu schließen oder gleichgültig weiterzugehen,
wenn man etwas gesehen hat.“

Sicherlich kann man über eine Gesetzesänderung
nachdenken, um auch die wenigen Fälle zu erfassen, die
ausnahmsweise einmal nicht die Voraussetzungen der
Substanzverletzung erfüllen. Der Begriff des Verunstal-
tens ist – auch das hat bereits die Sachverständigenan-
hörung im Jahre 1999 ergeben – als Grundlage für eine
Ausdehnung der Sachbeschädigungsdelikte aber nicht ge-
eignet. Er ist in diesem Zusammenhang für einen Straf-
rechtsbegriff zu stark an ein ästhetisches Werturteil ge-
bunden. Der Kollege Bachmaier hat unsere Haltung dazu
ausgeführt. Ich möchte darauf nicht weiter eingehen. Vor

allen Dingen möchte ich Staatsanwälten und Richtern
nicht zumuten, dass sie sich zu Kunstsachverständigen
machen müssen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Herr van Essen, der Einwand, dass der Begriff des Ver-
unstaltens bereits im Strafgesetzbuch existiert, greift zu
kurz.


(Jörg van Essen [FDP]: Nein!)

– Hören Sie zu! § 134 StGB, der damit gemeint ist, hilft
für unseren Fall nicht weiter. Dort geht es um den Schutz
der öffentlichen Wirksamkeit amtlicher Kundmachungen.
Die Missachtung des dienstlichen Schriftstücks steht im
Vordergrund und nicht die Frage, ob die Veränderung als
ästhetisch gelungen erscheint oder nicht.


(Jörg van Essen [FDP]: Trotzdem haben wir den Begriff des Verunstaltens!)


Anders wäre es bei dem Tatbestand der Sachbeschädi-
gung. Dort würde das Moment der Ästhetik für den Be-
griff des Verunstaltens eben nicht von vornherein als un-
beachtlich angesehen werden können.


(Jörg van Essen [FDP]: Österreich macht es doch auch so!)


Ich verstehe deshalb nicht, weshalb die Fraktionen von
CDU/CSU und FDPam Begriff des Verunstaltens hängen.
Das eigentliche Problem ist doch nicht die Frage


(Unruhe bei der CDU/CSU und der FDP)

– hören Sie doch einmal zu! –, ob Graffiti uns oder den
Richtern und Staatsanwälten gefallen oder nicht. Das Är-
gernis für den konkreten Eigentümer oder den Berechtig-
ten ist doch die nicht unerhebliche Veränderung des Er-
scheinungsbildes einer Sache, also der Hauswand oder
was auch immer, gegen seinen Willen. Wir sollten deshalb
darüber nachdenken, ob wir den Tatbestand der Sachbe-
schädigung in diese Richtung rechtsstaatlich einwandfrei
weiterentwickeln können.

Verehrter Kollege Gehb, wenn Sie das Protokoll mei-
ner Rede vom 20. Dezember 2002 richtig gelesen hätten,
dann hätten Sie festgestellt, dass ich schon zu diesem
Zeitpunkt das Gleiche gesagt habe. Wir werden uns auf
diesen Weg begeben. Wenn das geschehen ist, sind,
meine Damen und Herren von der Union, die von der
CDU oder von der CSU regierten Länder am Zuge, ord-
nungsgemäße Polizeivorschriften zu finden, um Graffiti
zu verhindern.

Ich möchte zum Schluss kommen. Danach bin ich fer-
tig und ich bedanke mich, dass mir Herr Gehb so gut zu-
gehört hat.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1502216800

Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

A
Alfred Hartenbach (SPD):
Rede ID: ID1502216900


Nein.

Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach




Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach

Zu Ihrem Gesetzentwurf ist im Grunde schon in der
Bibel alles gesagt. Nun müssen Sie dem ehemaligen
Theologiestudenten auch noch gestatten, dass er die Bibel
zitiert. Im Buch Daniel, in Kapitel 5, Vers 25, wird wohl
zum ersten Mal in der Weltliteratur ein Graffiti erwähnt.
Da steht:

Mene mene tekel – gezählt, gezählt, gewogen und zu
leicht befunden.

Das gilt auch für Ihren Gesetzentwurf.
Danke schön.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Sagenhaft! Klasse!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1502217000

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs

auf Drucksache 15/302 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu ander-
weitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord-
nung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf morgen, Freitag, den 31. Januar 2003, 9 Uhr, ein.

Die Sitzung ist geschlossen.