Gesamtes Protokol
Guten Morgen, mei-ne Damen und Herren. Die Sitzung ist eröffnet.
Am 30. Dezember 1998 verstarb nach schwererKrankheit unsere Kollegin und ehemalige Vizepräsiden-tin Michaela Geiger im Alter von erst 55 Jahren.Der Deutsche Bundestag hat mit ihr eine Repräsen-tantin verloren, die in sich klassische Tugenden desParlamentariers vereinte: Leidenschaft in der Vertretungdes Volkes, Verwurzelung in den alltäglichen Proble-men der Menschen, Augenmaß und Beharrlichkeit imVerfolgen politischer Ziele, festen Glauben an die Lö-sungskompetenz der parlamentarischen Demokratie.Am 29. September 1943 in Oberammergau geborenund in Garmisch-Partenkirchen aufgewachsen, wurdedurch die kommunalpolitische Tätigkeit des Vaters ihrInteresse an der Politik früh geweckt.Der politische Lebensweg von Michaela Geiger vonder Kommunalpolitik in die Bundespolitik begann 1971mit ihrem Eintritt in die CSU. 1980 zog sie über dieCSU-Landesliste zum erstenmal in den Deutschen Bun-destag ein. Ab 1986 vertrat sie als Direktkandidatin denWahlkreis 212, den vor ihr Franz Josef Strauß innehatte.Er wurde ihr zur politischen Heimat. Hier schuf sie sichihre Basis, die sie trug. Hier wurzelte ihre Volksnäheund Volksverbundenheit. Herausragende Wahlergebnis-se bestätigten immer wieder ihr intensives Engagement.Michaela Geiger, die sich mit Leib und Seele alsParlamentarierin fühlte, gehörte dem Deutschen Bun-destag 18 Jahre lang an. In herausgehobenen Positio-nen hat sie in dieser Zeit die Geschicke unseres Landesmitgestaltet: 1987 außenpolitische Sprecherin derCDU/CSU-Bundestagsfraktion, 1991 ParlamentarischeStaatssekretärin beim Bundesminister für wirtschaftlicheZusammenarbeit, 1993 Parlamentarische Staatssekretä-rin beim Bundesminister der Verteidigung.Ihr politischer Traum aber erfüllte sich mit ihrer Wahlzur Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages am16. Januar 1997; denn sie empfand das Parlament als dasHerz der Demokratie.Beharrlich und eindringlich mahnte Michaela Geigernach innen dringend Reformen für das Parlament an. Sieplädierte für mehr Frauen und junge Talente aus allenParteien, für mehr Spontaneität in den parlamentarischenAbläufen, für weniger Hektik. Gleichzeitig warb sienach außen für mehr Verständnis für die Parlamentsar-beit und die Abgeordneten und rief energisch dazu auf,jeder Geringschätzung oder Verächtlichmachung desParlaments entschieden entgegenzutreten.Mit bewundernswerter Tapferkeit hat Michaela Gei-ger ihrer Krankheit trotzend bis zuletzt ihre parlamenta-rischen Aufgaben erfüllt. Wir gedenken ihrer in Dank-barkeit und Respekt. – Ich danke Ihnen.Meine Damen und Herren, vor Eintritt in die Tages-ordnung gibt es einige Mitteilungen. Für die verstorbeneKollegin Michaela Geiger hat der Abgeordnete Mat-thäus Strebl am 12. Januar 1999 die Mitgliedschaft imDeutschen Bundestag erworben. Ich begrüße den unsaus der letzten Wahlperiode bereits bekannten Kollegenherzlich.
Sodann möchte ich einigen Kollegen nachträglichzum 60. Geburtstag gratulieren. Kollege EckhardtBarthel konnte ihn am 17. Dezember, KollegeNorbert Geis am 13. Januar, Kollege Ulrich Irmer am19. Januar und Kollege Dr. R. Werner Schuster ge-stern feiern. Ich gratuliere Ihnen nachträglich im Namendes ganzen Hauses sehr herzlich.
Die Kollegin Antje Hermenau hat ihr Amt als Schrift-führerin niedergelegt. Die Fraktion Bündnis 90/DieGrünen schlägt als Nachfolgerin die Kollegin Irmin-gard Schewe-Gerigk vor. Sind Sie damit einverstan-den? – Ich höre keinen Widerspruch. Damit ist die Kol-legin Irmingard Schewe-Gerigk als Schriftführerin ge-wählt.Gemäß § 93a Abs. 6 unserer Geschäftsordnung kön-nen Mitglieder des Europäischen Parlaments an den Sit-zungen des Ausschusses für die Angelegenheiten derEuropäischen Union teilnehmen. Die Zahl und Zu-
Metadaten/Kopzeile:
1028 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
sammensetzung ist in der Geschäftsordnung nicht vor-gesehen und muß daher vom Plenum festgelegt werden.Die Fraktionen haben sich darauf verständigt, die Zahlauf insgesamt 11 mitwirkungsberechtigte Mitglieder desEuropäischen Parlaments festzulegen. Davon entfallenauf die CDU/CSU und SPD jeweils 5 Mitglieder und aufBündnis 90/Die Grünen ein Mitglied. Sind Sie mit die-sem Vorschlag einverstanden? – Ich höre keinen Wider-spruch. Dann ist so beschlossen.Für den Stiftungsrat der „Stiftung CAESAR“ müssendrei neue Mitglieder des Bundestages benannt werden.Die Fraktion der SPD, die eine Position an die FraktionBündnis 90/Die Grünen abgetreten hat, benennt denKollegen Jörg Tauss, die CDU/CSU den KollegenNorbert Hauser und die Fraktion Bündnis90/Die Grünen den Kollegen Dr. Reinhard Loske alsMitglieder für den Stiftungsrat. Ich gehe davon aus, daßSie mit diesen Benennungen einverstanden sind.Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundeneTagesordnung um die Ihnen in einer Zusatzpunktlistevorliegenden Punkte zu erweitern:ZP1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der F.D.P.: Hal-tung der Bundesregierung zu den Vorkommnissen in derEuropäischen Kommission und deren Behandlung im Eu-ropaparlament
ZP2 Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines . . . Gesetzeszur Änderung des Grundgesetzes –Drucksache 14/282 –ZP3 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren
Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus-JürgenHedrich, Dr. Christian Ruck, Karl Lamers, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der CDU/CSU: Demokratische Ent-wicklung in Nigeria unterstützen – Drucksache 14/283 –ZP4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:Äußerungen des Bundesumweltministers Trittin zu denKernenergieausstiegsplänen der Bundesregierung unddem Verbot der Wiederaufarbeitung ohne Entschädi-gungsleistungen an Frankreich sowie der daraus entste-hende außenpolitische Schaden und die großangelegtenRücktransporte bestrahlter Brennelemente nachDeutschlandZP5 Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU: Beschäfti-gung fördern – soziale Sicherung verbessern – Flexibilisie-rung erhalten – Drucksache 14/290 –ZP6 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der PDS: Hal-tung der Bundesregierung zu dem Urteil des Bundesver-fassungsgerichts vom 19. Januar 1999 zur steuerlichenBehandlung von Kinderbetreuungskosten und Haushalts-freibetrag bei Ehepaaren im Zusammenhang mit der ak-tuellen Behandlung des Steuerentlastungsgesetzes undseinen haushälterischen AuswirkungenDes weiteren ist vereinbart worden, die Beratung desTagesordnungspunktes 11 – es handelt sich um dieÜberlassung der Akten der Hauptverwaltung Aufklärungdes Ministeriums für Staatssicherheit – abzusetzen. Au-ßerdem mache ich auf nachträgliche Ausschußüberwei-sungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam.Der unbehandelte Teil des Koalitionsentwurfs zum Steuer-entlastungsgesetz soll nachträglich dem Rechtsausschußund dem Ausschuß für Kultur und Medien zur Mitberatungüberwiesen werden.Gesetzentwurf der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN zum Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 –Drucksache 14/23 –
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1029
(C)
(D)
– Herr Kollege Schäuble, das war jetzt keine Kritik anIhrer Politik als CDU-Vorsitzender. Das haben Sie miß-verstanden. Es war eine generelle Aussage zur wirt-schaftlichen Lage.
Bei den Fragen der grundsätzlichen Orientierungder Wirtschaftspolitik – auch dies will ich in allerKlarheit ansprechen – vertritt der Sachverständigenrateine andere Auffassung als die Bundesregierung. DerSachverständigenrat hat sich in mehreren Jahresgutach-ten dazu bekannt, einer angebotsorientierten Wirt-schaftspolitik den Vorzug zu geben. Er führt die negati-ve Entwicklung bei den Arbeitslosenzahlen in erster Li-nie darauf zurück, daß die Vorgängerregierung zwarversucht hat, angebotsorientierte Politik zu machen, sieaber in ihrer Politik nicht weit genug gegangen ist. Da-her wäre es notwendig, diese angebotspolitische Orien-tierung weiter zu verschärfen und noch grundsätzlichervorzugehen.Wir halten diesen Standpunkt nicht für richtig. Wirhalten es mit einem der großen Nationalökonomen Ame-rikas, Paul Samuelson, der sagt: Gott gab uns zwei Au-gen; eins für die Nachfrage und eins für das Angebot.
Jede Politik, die dies nicht berücksichtigt, ist unsererMeinung nach falsch.Wir sind vielmehr der Auffassung, daß die hohe Ar-beitslosenzahl, die auch das Ergebnis der Wirtschafts-politik der letzten Jahre ist, darauf zurückzuführen ist,daß die Wirtschaftspolitik im Grundsatz falsch angelegtwar. Wer immer nur auf eine Seite schaut, bekommt diein den letzten Jahren eingetretenen Ergebnisse: überbor-dende Staatsverschuldung und viel zu hohe Arbeitslo-sigkeit.
Ich möchte hier nur einmal sagen: Wenn die Wirt-schaftspolitik beurteilt werden soll, dann muß man ebenauf die Arbeitslosenzahlen schauen. Wenn sich diesepositiv entwickeln, dann ist zumindest viel Veranlassunggegeben, die wirtschaftspolitische Orientierung imGrundsatz für richtig zu halten. Wenn die Arbeitslosen-zahlen allerdings eine Rekordhöhe erreichen, wie es inden letzten Jahren am Jahresabschluß immer wiederfestzustellen war, dann, so meine ich, ist Veranlassunggegeben, den wirtschaftspolitischen Kurs grundsätzlichzu überdenken. Dies tut die neue Bundesregierung mitihrer Wirtschafts- und Finanzpolitik.
Meine Damen und Herren, zu diesem Thema wird oftdie Entwicklung der amerikanischen Wirtschaft her-angezogen. Es wird immer wieder gesagt, daß uns diesedoch Hinweise geben könnte, wie wir zu mehr Wachs-tum und Beschäftigung kommen können. Das ist sicher-lich richtig. Wenn man aber zu einer solchen Auffassunggelangt, dann ist es gut, sich die amerikanischen Datenvorurteilsfrei anzuschauen und daraus Konsequenzen zuziehen.Ich betone noch einmal: Es ist in diesem Hause völligunstreitig, daß angebotspolitische Reformen notwendigsind. Wir sagen aber – ich zitiere hier Herbert Giersch –:Angebotspolitische Flexibilität ist notwendig, aber ersteine hohe Gesamtnachfrage setzt sie in mehr Beschäfti-gung um.
Wenn wir die amerikanische Wirtschaftsentwicklungbetrachten, meine Damen und Herren, dann ist auffal-lend, daß diese im Jahre 1992 ebenfalls durch eine Re-zession ging; die Arbeitslosigkeit nahm in diesem Jahrum 1,5 Millionen zu. Danach traten auf einmal wiederWachstum und Beschäftigung ein, so daß die Arbeitslo-sigkeit bis zum heutigen Tag spürbar reduziert wordenist.Wenn man an diese Entwicklung vorurteilsfrei heran-geht, dann wäre es doch notwendig, zu fragen: Was hatsich denn im Jahre 1992 in Amerika im Vergleich zuanderen Volkswirtschaften geändert? Hätte sich im Jah-re 1992 dort vieles strukturell verändert, hätten bei-spielsweise die Angebotsbedingungen des Arbeits-marktes eine fundamentale Veränderung erfahren, dannwäre es selbstverständlich zulässig, richtig und auchBundesminister Oskar Lafontaine
Metadaten/Kopzeile:
1030 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
konsequent, auf diese Veränderungen hinzuweisen undsie dann als Grundlage der Erholung der VolkswirtschaftAmerikas heranzuziehen. Ich frage daher immer wieder,wenn wir solche Debatten führen: Welche fundamenta-len Veränderungen hat es in Amerika im Jahre 1992 aufder Angebotsseite gegeben, die als Erklärung für diehervorragende wirtschaftliche Entwicklung herangezo-gen werden können? Die Antwort ist immer die gleiche:Es gibt keine Antwort, weil die Angebotsbedingungen,insbesondere auf dem Arbeitsmarkt, über lange Jahrehinweg in Amerika die gleichen waren und weil sie da-her nicht für den Abschwung und den Aufschwung derKonjunktur in Amerika herangezogen werden können.
Grundsätzlich geändert haben sich im Jahre 1992 al-lerdings die makroökonomischen Rahmenbedingungenin Amerika. Ich möchte zwei entscheidende Daten nen-nen.Erstens hat die Geldpolitik reagiert und die Fiskal-politik abgelöst, die in den 80er Jahren mit gewaltigemDefizitaufbau über staatliche Programme und Steuerer-leichterungen entscheidende Impulse für die KonjunkturAmerikas gegeben hat. Die Geldpolitik hat im Jahre1992 grundsätzlich reagiert. Es kam zu einem Realzinsvon null. – Ich möchte noch etwas zu einem Realzinsvon null sagen: Eine solche Entwicklung gab es in denletzten Jahrzehnten in Europa nicht. Das ist eine sachli-che Feststellung, die man so oder so beurteilen mag. Ichhalte sie auch für konstituierend für die Veränderungen,die sich seit dem Jahre 1992 in Amerika ergeben haben.Die zweite Reaktion kam von der Fiskalpolitik. Esgab im Jahre 1992 ein jahresbezogenes Defizit von 6 bis7 Prozent. Im übrigen gab es eine ähnliche Entwicklungin Großbritannien; ich weise aus Zeitgründen nur kurzdarauf hin.Daraus leiten wir ab, daß es ein Fehler ist, bei der Er-holung der Wirtschaft immer nur auf die Angebotsbe-dingungen zu starren. Wir befürworten angebotspoliti-sche Reformen. Aber wenn wir die Gesamtnachfrageaus den Augen verlieren und uns weigern, einen Poli-tikmix zustande zu bringen, mit dem die Gesamtnach-frage gesteigert werden kann, dann werden wir die Ar-beitslosigkeit in Deutschland und in Europa nicht ab-bauen können.
Ich möchte daher die Möglichkeiten nennen, mit de-nen die Gesamtnachfrage verbessert werden kann. Ichbeginne mit der Steuerpolitik, die zwischen uns streitigist. Es ist in der Demokratie kein Problem, wenn dieSteuerpolitik streitig ist. Die Wählerinnen und Wählerurteilen letztendlich darüber – darüber haben wir schonhäufig gesprochen –, welche Steuerpolitik von derMehrheit unseres Volkes am ehesten akzeptiert wird.Die Antwort, die wir auf diese Fehlentwicklung in denletzten Jahren gegeben haben, korrigiert die Orientie-rung. Ein Politikmix, der auf dem Grundsatz basiert, daßman, wenn man mehr Erfolg und bessere Bedingungenauf dem Arbeitsmarkt erreichen will, die sozialen Lei-stungen kürzen, Lohnzurückhaltung üben und Unter-nehmensteuern senken muß, ist über viele Jahre hinwegversucht worden. Mit ihm konnte aber auf dem Arbeits-markt eindeutig nicht der erwünschte Erfolg erzielt wer-den.Wir setzen dagegen: Eine Steuerpolitik muß ausge-wogen sein; sie muß auch der Mehrheit des VolkesRechnung tragen. Eine Steuerpolitik, die insbesonderedie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einseitig bela-stet, ist falsch; sie ist letztendlich auch konjunktur-schädlich. Deshalb haben wir hier angesetzt. Wir wollendie Arbeitnehmer und Familien entlasten. Wir haltendies für eine notwendige Korrektur, um zu mehrWachstum und Beschäftigung in Deutschland zu gelan-gen.
Im übrigen gibt der jüngste Beschluß des Bundes-verfassungsgerichts nicht denjenigen Recht, die in denvergangenen Monaten gegen diese Politik polemischStellung bezogen haben.
Wir haben uns sowohl von Vertretern der Verbände alsauch von Experten Vorwürfe machen lassen müssen,weil wir diese Orientierung haben und einen Schwer-punkt bei der Besserstellung der Familien gesetzt haben.Das Bundesverfassungsgericht hat keinen konjunktur-politischen Beschluß gefaßt. So einfach will ich es mirhier nicht machen. Aber es hat sehr deutlich gemacht,daß die Familien in den letzten Jahren schlecht behan-delt worden sind, daß sie bessergestellt werden müssenund daß der Staat die Aufgabe hat, die Familien so zustellen, daß die Kindererziehung auch steuerlich unter-stützt wird. Dieser Beschluß ist richtig. Die Politik derBundesregierung geht in diese Richtung.
Ich möchte zur Fiskalpolitik und zur aktuellen Si-tuation folgendes sagen: Wir glauben, daß in der aktu-ellen Situation im Rahmen der Fiskalpolitik keine fal-schen Impulse gegeben werden dürfen. Das gilt sowohlfür die Ausgabenpolitik als auch für die Steuerpolitik.Wenn wir jetzt den Konsolidierungskurs dadurch ver-folgen würden, daß wir in großem Umfange Ausgabenkürzten, dann wäre das nach unserer Auffassung falsch.Es wäre ebenso falsch – ich sage das auch in Abstim-mung mit dem Bundeskanzler im Hinblick auf die aktu-elle Diskussion –, eine Debatte darüber zu eröffnen,welche Steuern demnächst erhöht werden sollten. Dieaktuelle Entwicklung bietet dafür keine Grundlage.
Ich bitte also darum, solche Debatten auch im Hinblickauf die wirtschaftliche Entwicklung nicht zu führen,meine Damen und Herren.
Bundesminister Oskar Lafontaine
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1031
(C)
(D)
Zweiter Punkt, Lohn- und Einkommenspolitik: Ichspreche bewußt von Lohn- und Einkommenspolitik, weildie Lohnpolitik allein natürlich diesen Sektor derVolkswirtschaft nicht abdeckt. Auf Grund der struktu-rellen Veränderungen der letzten Jahre ist auch die Ein-kommensentwicklung immer mit anzusetzen. Daß dieVermögenseinkommen und die Unternehmenseinkom-men sich in den letzten Jahren gut entwickelt haben, istnicht zu bestreiten. Der Sachverständigenrat hat dazu inseinem Gutachten eine Umsatzrendite von über 6 Pro-zent angegeben, ausgehend von gut 1 Prozent zu Beginnder 90er Jahre. Allerdings wird diese Zahl von der Wirt-schaft bestritten. Aber ich möchte noch einmal auf dieseEntwicklung hinweisen, ebenso auf den Bericht derDeutschen Bundesbank, die für die Jahre 1997 und 1998eine Gewinnentwicklung angegeben hat, die von derEinkommensseite her sicherlich positiv zu beurteilen ist.Wahr ist aber auch, meine Damen und Herren, daßdie Realeinkommen der Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer in den letzten Jahren – mit Ausnahme der Jahre1992/93 – in Gesamteuropa, aber auch in Deutschlanddeutlich hinter der Produktivitätsentwicklung zurückge-blieben sind. Darüber muß man sprechen, wenn manüber die Empfehlung des Sachverständigenrates spricht.In diesem Zusammenhang muß man auch etwas über dieEntwicklung in anderen Ländern sagen.Es ist zu einfach, zu sagen: Wir brauchen eine maß-volle Lohnpolitik. Vielleicht sollte den einen oder ande-ren zumindest einmal die Frage beschäftigen, warumeigentlich niemand für eine maßvolle Gewinnentwick-lung plädiert.
Natürlich muß, meine Damen und Herren, in unseremVolke auch der Grundsatz beachtet werden, daß bei derVerteilung dessen, was gemeinsam erwirtschaftet wird,nicht nur nach ökonomischen Kriterien, sondern auchnach dem Kriterium der sozialen Gerechtigkeit vorge-gangen werden muß. Das heißt, die Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer brauchen ihren Anteil an dem ge-meinsam erwirtschafteten Erfolg.
Dies ist im übrigen ökonomisch nicht unvernünftigund kein Widerspruch, wie vielerlei Betrachtungen er-geben haben. Daher möchte ich für die Bundesregierungklar sagen: Debatten über „maßvoll“, „moderat“ usw.helfen überhaupt nicht weiter, weil solche Debatten dazuführen, daß jeder darunter etwas anderes versteht. Wirhalten es vielmehr für sinnvoll, dafür zu plädieren – hierstimmen wir mit dem Sachverständigenrat überein,wenn ich an dessen letzte Gutachten denke –, daß sichdie Lohnpolitik grundsätzlich an der Produktivitätsent-wicklung orientieren muß und daß sie gleichzeitig na-türlich die Inflationsentwicklung im Auge haben muß.Das sind vernünftige, überprüfbare Kriterien, die, wieich glaube, auch in der Arbeitnehmerschaft akzeptiertwerden können, deren Zustimmung wir genauso wie dieder Wirtschaft brauchen, wenn wir Wachstum und Be-schäftigung ansteuern. Die Produktivitätsorientierungder Lohnpolitik ist ein Grundsatz, dem sich die neueRegierung verpflichtet fühlt, natürlich bei voller Re-spektierung der Unabhängigkeit der Tarifvertragspartei-en. Aber wenn wir über gesamtwirtschaftliche Ent-wicklungen reden, dürfen wir die Lohn- und Einkom-menspolitik nicht ausklammern; im Grundsatz könnenwir als Regierung dazu sehr wohl unsere Auffassungäußern.Es bleibt als dritter Punkt, meine Damen und Herren,die Entwicklung der Geldpolitik, die in der letzten Zeitstreitig war. Ich habe die amerikanische Entwicklungherangezogen. Bei dieser Debatte werden auch im Eco-fin-Rat immer zwei Argumente gebracht, die wir nichtfür schlüssig halten. Einmal wird darauf hingewiesen,daß die nominalen und die realen Sätze in Amerika der-zeit eher noch etwas ungünstiger sind als in Europa. Dasist nicht zu bestreiten, das ist aber auch folgerichtig. Aufder anderen Seite muß man sehen, daß wir die amerika-nische Entwicklung deshalb nicht heranziehen können,weil wir natürlich sehr gerne die Wachstumsraten derletzten Jahre gehabt hätten, die es in Amerika gab, undweil wir auch sehr gerne eine Arbeitslosenrate von nurgut 4 Prozent hätten. In einer solchen Situation muß sichdie Geldpolitik natürlich anders als in einer Situationverhalten, in der die Wachstumsraten deutlich niedrigersind und die Arbeitslosigkeit weitaus höher ist. Insofernführen solche Vergleiche und Debatten überhaupt nichtweiter. Wenn man vergleicht, muß man eben auch beiWachstum und Beschäftigung die Daten heranziehen;dann kommt man zu einem vernünftigen Ergebnis.Dann wird eingewandt, in Japan sehe man letztend-lich, daß eine Geldpolitik, die Wachstum und Beschäfti-gung unterstützt, keinen Erfolg haben könne. DieserVergleich ist ebenfalls nicht weiterführend; denn in Ja-pan – dies ist international unstreitig – ist die Entwick-lung im Bankensystem die Grundlage dafür, daß dort aufGrund vieler fauler Kredite das Auslagegeschäft der Ge-schäftsbanken seit einigen Jahren sehr stark zurückge-gangen ist. Das hat mit der Geldpolitik überhaupt nichtszu tun, sondern mit vielen viel zu risikobehafteten Kre-diten, die dort in den letzten Jahren gewährt worden sindund die jetzt zu einem völlig anderen Verhalten der Ge-schäftsbanken geführt haben.Es ist unstreitig, daß wir auf der angebotspolitischenSeite auch in Deutschland weiterhin Reformen brau-chen. Wer diese allerdings fordert, der muß konkret sa-gen, welche Reformen er vorschlägt. Ich verweise etwaauf die Veränderungen der Angebotsbedingungen aufdem Arbeitsmarkt, auf Zeitverträge, auf 630-Mark-Arbeitsverträge – die Diskussion hierzu muß demnächstgeführt werden – und auf unsere steuerpolitischen Re-formen.Auch die ökologische Steuer- und Abgabenreformist eine Strukturreform, die wir nach wie vor für richtighalten. Es hat keinen Sinn, nach der aktuellen Mode je-weils einmal dafür und einmal dagegen zu sein.
Der Sinn dieser Reform, Herr Vorsitzender Schäuble,die Sie in Ihrer Partei vergeblich durchzusetzen versuchthaben, ist ein klares strukturreformerisches Ziel. DieBundesminister Oskar Lafontaine
Metadaten/Kopzeile:
1032 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
Arbeitsplätze sind zu hoch besteuert, der Umweltver-brauch ist relativ zu niedrig besteuert. Im Interesse not-wendiger Strukturreformen wollen wir das ändern, umzu mehr Wachstum und Beschäftigung zu kommen.
Ich fasse zusammen: Angebotspolitisch bedingte Re-formen und Strukturveränderungen sind notwendig; abererst eine hohe Gesamtnachfrage setzt diese Reformen inmehr Beschäftigung um. Das ist die Leitlinie der Politikder Bundesregierung und das Leitprinzip der sozialenGerechtigkeit. Was wir tun, steht weder in der Steuer-politik noch in der Einkommens- und Lohnpolitik dementgegen. Diesem Leitprinzip fühlt sich die Bundesre-gierung verpflichtet.
Das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion hat nun Kollege Friedrich Merz.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Der Deutsche Bundestag hat seit1963 Anspruch darauf, daß ihm das Sachverständigen-ratsgutachten durch die Bundesregierung zugeleitet wirdund sich die Bundesregierung anschließend mit den we-sentlichen und tragenden Argumenten des Sachverstän-digenratsgutachtens auseinandersetzt.Herr Bundesfinanzminister, das mehr als 450 Seitenumfangreiche Gutachten des Sachverständigenrates für1998/99 hätte eine wesentlich fundiertere und eine we-sentlich tiefergehende Analyse und Auseinandersetzungverdient.
Wenn es eines Beweises bedurft hätte, daß die von Ih-nen herbeigeführte Ausplünderung des Bundeswirt-schaftsministeriums ein struktureller Fehler in der Zu-sammensetzung der Bundesregierung ist, wenn es einesBeweises bedurft hätte, daß heute hier nicht der Bundes-finanzminister, sondern der Bundeswirtschaftsministerhätte stehen müssen,
um sich mit dem Sachverständigenrat auseinanderzuset-zen, dann ist es Ihre Rede gewesen, Herr Bundes-finanzminister.
Ich werde auf einzelne Fragen noch zu sprechenkommen. Lassen Sie mich mit der hier schon wiederholtgeführten Auseinandersetzung um die richtige angebots-oder nachfrageorientierte Politik beginnen. Herr Lafon-taine, man kann in den Grundsätzen der Wirtschafts-und Finanzpolitik anderer Meinung als der Sachverstän-digenrat sein. Aber alles in Frage zu stellen, was in denletzten Jahren – bis weit in die 80er Jahre zurück – ein-mal richtig war und nachhaltige Erfolge, insbesondereauf dem Arbeitsmarkt der Bundesrepublik Deutschland,gebracht hat,
so wie Sie das gerade getan haben, ist durch eindeutigeZahlen vor allem über den Arbeitsmarkt wirklich wi-derlegt.
Der Beginn Ihrer Regierungszeit ist relativ; Sie sindnun schon seit einigen Monaten im Amt. Damit wir zuBeginn des Jahres 1999 gemeinsam von den richtigenZahlen und den richtigen Grundlagen ausgehen, möchteich aus der Statistik zitieren, die der Sachverständigenratselbst veröffentlicht hat, um etwas über die Arbeits-marktentwicklung der 80er Jahre bis zum heutigen Tagzu sagen. Wir haben im Jahr 1983 in der alten Bundes-republik Deutschland nach der Statistik, die in diesemGutachten veröffentlicht worden ist, 26,3 Millionen Er-werbstätige gehabt. Es gab im Jahre 1992, zu dem Zeit-punkt, wo der Höchststand beim Aufbau neuer Beschäf-tigung in der alten Bundesrepublik erreicht wurde, 29,4Millionen Beschäftigte in Deutschland. Das ist ein Zu-wachs von mehr als 3,2 Millionen Beschäftigten in derBundesrepublik Deutschland.Herr Lafontaine, der Sachverständigenrat sagt dazuausdrücklich – ich zitiere das noch einmal, weil dasnotwendig ist –:Die in den achtziger Jahren erzielten Erfolge, dieerst abbrachen, als unter den Belastungen der Ver-einigung die bis dahin verfolgte Linie nicht mehrdurchgehalten wurde, ebenso positive Erfahrungenin anderen Ländern, widerlegen die Behauptungvom Scheitern der Angebotspolitik.
Wenn Sie in der Bundesrepublik Deutschland eineZunahme an Beschäftigung erzielen wollen – wir allesind uns in diesem Ziel, das vom Sachverständigenratals wichtigstes Ziel der Wirtschaftspolitik definiert wur-de, einig –, dann müssen Sie zumindest auch nachhaltigdas Augenmerk auf die Verbesserung der Angebotsbe-dingungen legen. Ich werde Ihnen an einem konkretenPunkt nachweisen, daß Sie mit Ihrer gegenwärtigenSteuerpolitik genau das Gegenteil von dem tun, was Sieals ausgewogenes Gleichmaß zwischen nachfrage- undangebotsorientierter Politik bezeichnen.Das konkrete Beispiel: Sie versuchen durch IhreSteuerreform den § 3 c des Einkommensteuergesetzes sozu verschlechtern, daß in Zukunft sämtliche Betriebs-ausgaben für Auslandsbeteiligungen von Unterneh-men in der Bundesrepublik Deutschland nicht mehrsteuerlich geltend gemacht werden dürfen. Gleichzeitigbehaupten Sie, daß dies etwas sei, was der Vereinheitli-chung der Bilanzierungsregelungen gemäß internatio-nalen Standards entspricht. Herr Lafontaine, das Ge-genteil ist richtig. Sie können in allen maßgeblichen In-dustrienationen, in den USA, in Großbritannien, in Ka-Bundesminister Oskar Lafontaine
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1033
(C)
(D)
nada, in Japan, in Frankreich, in Spanien, in Dänemark,in Belgien, in Italien und in der Schweiz, die Betriebs-ausgaben absetzen, die mit Beteiligungen im Auslandzusammenhängen. Sie wollen dies unter dem Stichwort„Verbesserung der steuerlichen Rahmenbedingungen“ inZukunft unmöglich machen. Das wird zur Konsequenzhaben, daß in der Bundesrepublik Deutschland Aus-landsbeteiligungen über den Umweg des Steuerrechtspraktisch unmöglich gemacht werden.
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Büttner?
Bitte, Herr Kollege
Büttner.
Herr Kollege
Merz, Sie haben vorhin auf die Entwicklungen auf dem
Arbeitsmarkt hingewiesen und dargelegt, daß nach Ihrer
Auffassung durch die Angebotspolitik ein Zuwachs an
Beschäftigung bis 1990 oder kurz darüber hinaus statt-
gefunden habe. Würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen,
daß ausweislich einer Antwort der Bundesregierung auf
eine Anfrage der SPD-Fraktion in der letzten Legislatur-
periode die Zunahme von Arbeitsplätzen zwischen 1984
und 1994 in erster Linie auf die in dieser Zeit stattge-
fundene Arbeitszeitverkürzung zurückzuführen ist, die
durch die Tarifpolitik der Gewerkschaften erreicht wur-
de?
Würden Sie das bitte zur Kenntnis nehmen und diese
Antwort der Bundesregierung aus der letzten Legislatur-
periode auch einmal heranziehen, in der festgestellt
wurde, daß dieser Zuwachs an Arbeitsplätzen genau mit
dem Rückgang der Arbeitsstunden, die die einzelnen
Arbeitnehmer geleistet haben, einhergegangen ist; die
Gesamtzahl der geleisteten Arbeitsstunden in diesem
Zeitraum ist nämlich gleichgeblieben und hat sich nicht
erhöht.
Herr Kollege Büttner,Sie befinden sich mit Ihren Ausführungen in eklatantemWiderspruch zu allen Fachleuten, die die gesamtwirt-schaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik Deutsch-land beurteilen.
Wir haben in den 80er Jahren eine Zunahme der sozial-versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse inder Bundesrepublik doch nicht durch die Umverteilungvon Arbeit, sondern durch das erhebliche Anwachsendes Volumens der vorhandenen Arbeit erzielt. Ich neh-me Ihre Frage allerdings zum Anlaß, ein Versäumnisauszugleichen.Ich habe vergessen, darauf hinzuweisen, daß die Be-schäftigung in den 90er Jahren in der Tat trotz oder so-gar wegen weiterer Arbeitszeitverkürzungen
auf eine Zahl von 27,8 Millionen Erwerbstätigen in denalten Bundesländern und 6,5 Millionen Erwerbstätigenin den neuen Bundesländern, im Saldo 34,3 MillionenErwerbstätige, zurückgegangen ist.Herr Büttner, wir können uns die rückwärtige Be-trachtung schenken. Lassen Sie uns in die Zukunft blik-ken! Wir sind uns in der Analyse nicht einig; aber dervon uns ausgetragene Streit ist akademisch. Entschei-dend ist vielmehr, daß diese Bundesregierung im Rah-men der Bilanz ihrer Politik in spätestens zwei Jahren,wenn die Zahlen vorliegen, nachweisen muß, daß dieZahl der Erwerbstätigen in der BundesrepublikDeutschland von 33,9 Millionen im Jahre 1997 auf min-destens – Herr Lafontaine hat die Zahl ja selbst genannt– 35 Millionen gestiegen sein muß; denn das ist der vonIhnen an Sie selbst gestellte Anspruch.
Ich komme noch einmal zurück auf die steuerlichenRahmenbedingungen. Ich habe es als besorgniserregendempfunden, daß nach erfolgter Fusion von einem dergrößten und traditionsreichsten Unternehmen der Bun-desrepublik Deutschland mit einem großen französi-schen Partner – ich meine die beiden UnternehmenHoechst und Rhône-Poulenc – die Verlagerung derHauptverwaltung vom Standort Frankfurt-Hoechstzum Standort Straßburg so gut wie keine Aufmerksam-keit in der Bundesrepublik Deutschland erzielt hat.
Es ist notwendig, darauf hinzuweisen, Herr Lafontai-ne, daß wir ein elementares Interesse daran haben müs-sen, daß große Industrieunternehmen und deren Haupt-verwaltungen ihren Standort in der BundesrepublikDeutschland behalten. Wenn Sie durch die Verschlech-terung der steuerlichen Rahmenbedingungen in einemder wesentlichen von mir hier genannten Punkte dafürsorgen, daß in Zukunft in der Bundesrepublik Deutsch-land weitere große Industrieunternehmen ihren Sitz indas Ausland verlegen, dann werden Sie das von uns al-len gewünschte Ziel, nämlich eine Zunahme an Be-schäftigung und eine Abnahme der Arbeitslosigkeit, inder Bundesrepublik Deutschland, nicht erreichen.
Diese Sicht hat überhaupt nichts mit dogmatischerBetrachtung von Angebot und Nachfrage zu tun, son-dern sie hat etwas mit der Überlegung zu tun, wie diesteuerlichen Rahmenbedingungen in der BundesrepublikDeutschland für die Zukunft gestaltet werden sollen. Ichfordere Sie deshalb auf: Wenn Sie es mit einer wenig-stens gleichgewichtigen Betrachtung der Angebots- undNachfrageseite ernst meinen, dann geben Sie die Rege-lungen in Ihrem Steuerkonzept auf, die die internatio-Friedrich Merz
Metadaten/Kopzeile:
1034 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
nale Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Bundesrepu-blik Deutschland nachhaltig verschlechtern!
Es ist kaum zu verstehen, daß bei der Debatte überdas Jahresgutachten 1998/99 des Sachverständigenrateseines der wesentlichen Kapitel und Themen, die diesesSachverständigengutachten geprägt hat, in Ihrem Rede-beitrag, Herr Lafontaine, mit keinem einzigen Wort er-wähnt worden ist.
Ich meine die am 1. Januar 1999 in Kraft getretene Eu-ropäische Wirtschafts- und Währungsunion und diesich daraus ergebenden Konsequenzen für die Wirt-schafts- und Finanzpolitik der Bundesrepublik Deutsch-land.
Wenn Sie als Finanzminister schon die Kompetenz ansich reißen, über das Sachverständigenratsgutachten imBundestag vorzutragen, dann haben wir doch einen An-spruch darauf, daß Sie wenigstens einige Sätze zu denKonsequenzen sagen, die mit diesem wichtigen histori-schen Datum verbunden sind und auf die der Sachver-ständigenrat ausführlich eingegangen ist.
Ich will nicht nachkarten. Jeder von uns hat am Endeeines Jahres Urlaub verdient. Aber es ist schon ein bei-spielloser Vorgang in der Geschichte der EuropäischenUnion, daß Sie es bei einem so wichtigen historischenDatum und zudem noch einen Tag vor Beginn IhrerRatspräsidentschaft nicht für notwendig gehalten haben,am 31. Dezember 1998 in Brüssel zu sein.
Ich sage noch einmal: Die meisten von uns haben Fami-lie, und die meisten von uns haben am Ende des JahresUrlaub verdient. Aber die Vorgängerregierung hätte sichso einen Fehler mit Blick auf das psychologische Klimaund das Miteinander der Freunde und Partner in der Eu-ropäischen Union zu keinem Zeitpunkt geleistet.
Das internationale Echo in den Zeitungen über IhrFernbleiben am 31. Dezember – ich meine jetzt nicht dieMurdoch-Presse in Großbritannien, vor der wir Sie ja inSchutz nehmen; ich meine die seriöse Wirtschaftspressein ganz Europa – ist doch verheerend gewesen.
Ich bedaure in diesem Zusammenhang sehr, daß derBundeskanzler jetzt nicht anwesend ist. – Aber die Artund Weise, wie Minister der Bundesregierung der Bun-desrepublik Deutschland mit den Partnern in der Euro-päischen Union umgehen, ist bis in die jüngsten Tagehinein ein beispielloser Skandal.
Sie setzen das in Jahrzehnten zum Teil mühsam erwor-bene Vertrauen und die Freundschaft der Partner unter-einander mit dem Stil, den Sie hier an den Tag legen,aufs Spiel.
Aber ich will auf das Sachverständigenratsgutachtenzurückkommen. Sie müßten doch auf die Frage eineAntwort geben, welche neuen Herausforderungen mitder Einführung der Wirtschafts- und Währungsunionjetzt insbesondere für die Bundesrepublik Deutschlandund deren Wirtschaftspolitik verbunden sind. Der Sach-verständigenrat sagt doch nicht ohne Grund, daß es eineerhebliche Veränderung der makroökonomischenRahmenbedingungen für alle Teilnehmerstaaten gibt.Herr Lafontaine, die Antwort, die Sie – nicht heute, aberan anderer Stelle – mehrfach gegeben haben, daß diesein Grund sei, innerhalb der Europäischen Wirtschafts-und Währungsunion und darüber hinaus zu mehr koor-dinierter, mehr abgesprochener Finanzpolitik zu kom-men, ist eine Antwort, die vor den harten Herausforde-rungen eines sich verschärfenden internationalen Wett-bewerbs davonläuft.
Sie müssen doch auf die veränderten Rahmenbedin-gungen in der Europäischen Wirtschafts- und Wäh-rungsunion in einer ganz anderen Weise reagieren. DerSachverständigenrat gibt Ihnen dazu eine klare Aufgabe.In der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunionist doch nicht weniger Wettbewerb angezeigt, sonderngerade jetzt, in einer Phase, in der die Stärken undSchwächen der einzelnen Volkswirtschaften innerhalbder Eurozone noch deutlicher zutage treten, wäre esdoch angezeigt, daß wir in der BundesrepublikDeutschland zu größerer Wettbewerbsfähigkeit ausho-len, statt einen Bundesfinanzminister zu haben, der eu-ropäisch und international zu einer Begrenzung und Ein-engung des Wettbewerbs aufruft.
Der Sachverständigenrat sagt im übrigen etwas sehrDeutliches zu Ihrer falschen These, daß die Verteilungder Güter und der Einkommenschancen zwischen deneinzelnen Volkswirtschaften statisch sei und man nur ei-ne möglichst gerechte Verteilung herbeiführen müsse.Wörtlich:Die Vorstellung, im Systemwettbewerb könne einLand immer nur auf Kosten anderer Erfolg haben,– das ist Ihre Vorstellung –
ist falsch. Der Systemwettbewerb zwingt vielmehrzu konsequenten Bemühungen um Verbesserungder Angebotsbedingungen und ermöglicht Lernpro-Friedrich Merz
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1035
(C)
(D)
zesse durch Beobachtung der Erfolge, die andereLänder bei entsprechenden Bemühungen erzielen.Im Ergebnis können verbesserte Angebotsbedin-gungen überall zu verstärkter ökonomischer Akti-vität, zu mehr Beschäftigung und zu höheren Ein-kommen führen, es sei denn, daß ein Standort imSystemwettbewerb allzu weit hinter den anderenzurückfällt und damit auf der Verliererseite bleibt.
Das ist genau die Gefahr, in der die BundesrepublikDeutschland zum gegenwärtigen Zeitpunkt steht. Wirsind in der Gefahr, in einem sich verschärfenden euro-päischen und internationalen Wettbewerb zu den Verlie-rern zu gehören, weil Sie, Herr Lafontaine, den Versuchunternehmen, der Bevölkerung der BundesrepublikDeutschland – Sie haben mehrfach über die Mehrheitgesprochen, die Sie in dieser Frage hinter sich bringenmüssen; das war aufschlußreich – mit leichter Hand undsehr populistisch einzureden, es gebe in diesem sich ver-schärfenden internationalen Umfeld einen leichten Weg.Diesen leichten Weg gibt es nicht. In der Bundesre-publik Deutschland müssen wir insbesondere die Inve-stitionsbedingungen für Betriebe und Unternehmen unddie Arbeitsplatzsituation verbessern. Das ist in erster Li-nie eine nationale Aufgabe. Die Flucht in die europäi-sche Beschäftigungspolitik – auch dazu hat der Sachver-ständigenrat ausführlich Stellung genommen –, ist derfalsche Weg. Herr Lafontaine, Sie finden ganz offen-sichtlich auch in dem von Ihnen jetzt geführten Ecofin-Rat auf europäischer Ebene außerhalb von Deutschlandund Frankreich dafür praktisch keine Zustimmung.Der Sachverständigenrat bestätigt, daß dies ein fal-scher Weg ist – wörtlich –:Es wäre eine Fehlentwicklung, wenn versucht wür-de, über eine Beschäftigungspolitik auf europäi-scher Ebene doch wieder Druck auf die Geldpolitikauszuüben. Damit könnte die Lohnpolitik sich wie-der der eindeutigen Aufgabenzuweisung entziehen.Die Voraussetzungen für eine verbesserte Beschäf-tigungslage würden damit verschlechtert.Wenn Sie auf diesem Weg voranschreiten, die zu-nehmende Reglementierung der Märkte statt die zuneh-mende Wettbewerbsfähigkeit als Ziel zu setzen, dannwerden Sie eine nachhaltige Verschlechterung der Inve-stitionsbedingungen in der Bundesrepublik Deutschlandund damit eine nachhaltige Abschwächung des wirt-schaftlichen Wachstums und mit dieser Abschwächungeine nachhaltige Absenkung der Beschäftigung inDeutschland erzielen.
Ich will zum Schluß – auch dies hätte Ihrerseits eineetwas vertiefende Betrachtung verdient – auf das inter-nationale Umfeld und insbesondere auf das Thema derWechselkursbeziehungen zwischen den großen Wirt-schaftsräumen eingehen. Ich bin schon etwas stutziggeworden, als Sie in der letzten Woche in Frankfurt an-läßlich der Konferenz der asiatischen und europäischenFinanzminister ausgerechnet mit dem japanischen Fi-nanzminister ein großes Einvernehmen demonstriert ha-ben. Ich möchte nicht, daß das japanische Beispiel zumVorbild für die Bundesrepublik Deutschland wird.
Wir haben die Fehlentwicklungen in den letzten Jahreninsbesondere in Japan, was die Probleme im Bereich derBankenaufsicht und im Bereich eines korporatistischenStaats- und Wirtschaftssystems betrifft, vielleicht unter-schätzt.
Aber auch die Vereinbarung im Hinblick auf eineweitere Fixierung der Wechselkurse zwischen dem Eu-ro, dem Dollar und dem Yen, die Sie, Herr Lafontaine,vorbereitet haben, ist ein Weg, der vom Sachverständi-genrat als ein Weg in die völlig falsche Richtung cha-rakterisiert wird. Herr Lafontaine, die Behauptung vonIhnen und anderen, daß wir es auf den Märkten mit einerzunehmenden Zahl von völlig unkontrollierten Finanz-beziehungen bzw. Finanztransaktionen zu tun haben, istnicht zuletzt vom amerikanischen Notenbankpräsidentenschon vor fast drei Jahren in der BundesrepublikDeutschland in einer bemerkenswerten Rede widerlegtworden. Wir haben es auf den Weltmärkten pro Tag mitDevisentransaktionen in Höhe von rund 1,5 BillionenDollar zu tun. Greenspan hat seit fast drei Jahren immerwieder darauf hingewiesen, daß wir dies auf Grund derzunehmenden Kompliziertheit von Finanzierungssyste-men und der Zunahme der weltwirtschaftlichen Ver-flechtung als eine normale Entwicklung anzusehen ha-ben.Es handelt sich hier nicht um Kapitaltransaktionen,die, wie Sie immer wieder behaupten, gegen einzelneVolkswirtschaften gerichtet sind und – Stichwort Soros– allein wegen der höheren Renditeerwartungen ganzeVolkswirtschaften zugrunde richten. Diese Betrachtungist falsch.
Es ist noch nie eine Volkswirtschaft allein wegen Devi-sen- und Geldmarkttransaktionen zugrunde gerichtetworden. Es ist in der Wirtschaftsgeschichte mittlerweilenachgewiesen worden, daß es noch nie einen Fall gege-ben hat, in dem Volkswirtschaften allein durch den un-begründeten Abzug von Kapital zugrunde gegangensind. Es war immer, Herr Lafontaine, die mangelndeAnpassung der realwirtschaftlichen Daten an die Her-ausforderungen einer sich verschärfenden Wettbe-werbslage.
Es ist mittlerweile nachgewiesen, daß es im Rahmen ei-ner Finanzkrise nicht einen einzigen Fall einer soge-nannten Ansteckung eines Landes durch ein anderes ge-Friedrich Merz
Metadaten/Kopzeile:
1036 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
geben hat, bei dem nicht auch in dem anderen Landnachhaltige strukturelle Verwerfungen vorhanden gewe-sen wären, die die eigentliche Ursache waren.Lassen Sie mich schließen. Sie werden mit IhremVersuch, Wechselkurszielzonen zu definieren, schonwegen der richtigerweise ablehnenden Haltung derAmerikaner keinen Erfolg haben. Aber selbst wenn Siediesen Versuch weiter betreiben, sollten Ihnen dasSchicksal des Plaza-Abkommens im Jahre 1985, dasSchicksal des Louvre-Abkommens im Jahre 1987 undschließlich die große EWS-Krise in den Jahren 1992/93ein warnendes Beispiel sein.Sie werden mit der Fixierung von Wechselkursennicht mehr Stabilität, sondern weniger erzielen. DerSachverständigenrat hat recht, wenn er sagt, daß bei in-ternationalen Finanzexperten der Umstand, daß geradevon deutscher Seite die Bestrebungen zur Einführungvon Wechselkurszielzonen unterstützt werden, Erstau-nen und Befremden ausgelöst hat, zumal in Verbindungdamit die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbankin Frage gestellt werde. Der Sachverständigenrat wört-lich:Diese Pläne sollten so schnell wie möglich ad actagelegt werden.Wir stimmen dem Sachverständigenrat ausdrücklichzu.
Legen Sie Ihre Pläne, internationale Wechselkurszielzo-nen festzulegen, so schnell wie möglich ad acta! Wen-den Sie sich den wirklichen Herausforderungen derdeutschen Wirtschafts- und Finanzpolitik in einer Weisezu, daß, wie der Sachverständigenrat es zu Recht ver-langt, ein in sich schlüssiges, konsistentes, langfristigangelegtes wirtschaftspolitisches Programm, das derAngebots- und meinetwegen auch der Nachfrageseiteverpflichtet ist und das eine klare marktwirtschaftlichePerspektive hat, angelegt wird! Sorgen Sie, Herr Lafon-taine, dafür, daß sich die wirtschaftlichen Rahmenbe-dingungen in der Bundesrepublik Deutschland auf die-sem Weg so verbessern, daß wir in zwei Jahren von die-ser Stelle aus ein Sachverständigenratsgutachten zu dis-kutieren haben, in dessen Statistik nachgewiesen ist, daßdie Beschäftigung zugenommen und die Arbeitslosigkeitin Deutschland abgenommen hat.Vielen Dank.
Ich erteile dem Kol-legen Werner Schulz, Bündnis 90/Die Grünen, dasWort.Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren!In weiser Voraussicht, wie es sich für die fünf Weisengeziemt, und sicherlich angesichts der Erwartungen ge-genüber der neuen Bundesregierung hat der Sachver-ständigenrat sein Gutachten 1998/99 mit der prosaischenÜberschrift „Vor weitreichenden Entscheidungen“ ver-sehen. Er hat das, Kollege Merz, sicher auch auf Grundseiner Erfahrungen mit der alten Bundesregierung getan,die diese Gutachten in regelmäßiger Folge nicht beachtetund keine Konsequenzen daraus gezogen hat. Zumindestsind dementsprechende Maßnahmen nicht erkennbargewesen. Ansonsten wären wir nicht in der Situation,daß wir einen so großen Handlungs- und Reformbedarfhaben und einen solchen Problemstau beklagen müssen.Ich glaube, hier gibt es noch einiges auszumerzen.Wie dringend die Bewältigung der Herausforderun-gen an der Schwelle zur Jahrtausendwende sind, zeigtein kurzer Blick auf das globale Geschehen. Das ist eineäußerst vielschichtige und widersprüchliche Situation.Wir haben einen traumhaften Euro-Start und auf deranderen Seite eine fragwürdige, taumelnde EU-Kommission.
– Ich habe nie etwas gegen den Euro gehabt, KollegeHaussmann. Ich war bezüglich des Datums der Einfüh-rung skeptisch. Ich korrigiere mich aber gern, es hatmeine Erwartungen wie die vieler anderer in unseremLand durchaus übertroffen.Wir sehen die zunehmende Akzeptanz und die großeNachfrage nach dem Euro. Wir wären gut beraten, diesepositiv aufzugreifen. Vielleicht ist auch das Nachfrage-politik. Es ist ein entsprechender Prüfauftrag an die EU-Kommission ergangen, inwieweit eine frühere Einfüh-rung von Euro-Münzen und Euro-Scheinen in Erwägunggezogen werden kann. Ich glaube, es wäre hilfreich, diegestiegene Akzeptanz, den psychologischen Mitnah-meeffekt zu nutzen. Es trägt auch zur europäischen Inte-gration bei, wenn wir mit diesem Geld nicht nur rech-nen, sondern früher auch praktisch umgehen.Ich will auf die widersprüchliche weltwirtschaftlicheSituation eingehen. Wir haben zwar einen Rekord in derAußenhandelsbilanz, aber dennoch verschlechterteWachstumsaussichten. Wir hatten ein gutes Jahresend-geschäft, also ein Anziehen der Binnennachfrage, unddennoch eine Verschlechterung auf dem Arbeitsmarkt.Wir erleben weltweite Großfusionen, aber die Zahl derFirmenzusammenbrüche wächst ebenfalls. Der Unsi-cherheit über die Zukunft der Schwellenländer steht an-dererseits eine stabile Wirtschaftsentwicklung in denUSA gegenüber. Und last, but not least drohen Handels-konflikte zwischen Amerika und Europa, um nur diewichtigsten Felder zu benennen.In dieser Situation – ich glaube, es lohnt sich, darübernachzudenken – kommt es auf die verstärkte transatlan-tische Zusammenarbeit an; das heißt, daß wir hier denkooperativen Wettbewerb organisieren müssen. DerEuro ist eine angemessene europäische Antwort auf dieGlobalisierung, und deshalb kommt es darauf an, dastransatlantische Verhältnis nicht zu belasten, sondern zubefördern. Das heißt vor allen Dingen, die Handlungs-aktivitäten der Akteure in Deutschland und Europa zusichern, die eigenen Potentiale zu stärken, die verläßli-che Partnerschaft zu den USA auszubauen und die not-wendigen Reformen in Europa voranzutreiben.Friedrich Merz
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1037
(C)
(D)
Für uns selbst heißt das, daß die Modernisierungschneller als geplant kommen muß, die häufig genann-ten Hausaufgaben jetzt also zügig erledigt werden müs-sen. Die Steuerentlastungen von Bürgern und Unter-nehmen müssen schneller kommen, genauso wie die Re-formen zur Alterssicherung und Gesundheitsvorsorge.Auch das Bündnis für Arbeit steht in diesem Zusam-menhang natürlich unter hohem Erfolgsdruck. Wir müs-sen die Verkrustungen im Grunde genommen auf allenEbenen auflösen, damit wir in den einzelnen Bundeslän-dern, in Deutschland und in Europa wieder neue Hand-lungsspielräume gewinnen, zugunsten der Bürger undUnternehmen.
Wir erleben in den letzten Monaten sehr anschaulich,was Globalisierung auch bedeuten kann: InternationaleWährungsspekulationen haben schonungslos dieSchwachstellen in einer ganzen Reihe von Schwellen-ländern bloßgelegt. Es gab einen Dominoeffekt; dieWeltwirtschaft bangt regelrecht vor einem Kollaps.Nach Japan und den ASEAN-Staaten sind Rußland,Brasilien und China in den Strudel einer Finanzkrise ge-raten. Diese Krisen haben zerstörerische Wirkung, ver-nichten Kapital und Existenzen. Sie verdüstern natürlichauch die Wachstumsaussichten für diese Regionen underschweren Ländern wie den USA und Deutschland denExport.Man kann diesen Krisen allerdings auch ein positivesMoment abgewinnen. Sie zeigen die Abhängigkeit derwirtschaftlichen Entwicklung von funktionsfähigenMärkten, einer stabilen rechtsstaatlichen Ordnung, vonDemokratie und Menschenrechten. Es ist erstaunlich, anwelchen südostasiatischen Staaten diese Herbststürmevorbeigegangen sind: an Australien, an Neuseeland undbemerkenswerterweise auch an Taiwan. Das spricht ei-gentlich für sich.Die Entwicklung der Weltwirtschaft hängt heute stär-ker denn je von Nordamerika und Europa ab. Es ist da-her auch die Aufgabe der Vereinigten Staaten von Ame-rika und Europas, der globalen Gefahr zu begegnen. DieUSA weisen am Ende eines Konjunkturzyklus eine be-merkenswert robuste Konjunktur auf. Bill Clintonkonnte gestern im Kongreß eine erstaunliche Bilanzvorlegen. Dem Land geht es im Gegensatz zu seinemPräsidenten ausgesprochen gut.Dagegen verzeichnen wir in Europa einen abge-bremsten Aufschwung. Die Prognosen mögen sich zumTeil widersprechen, aber in einer Tendenz treffen siesich dann doch: Die Konjunktur fällt in unserem Landbei weitem nicht so gut wie erhofft aus, ist nicht sehrsolide, sondern eher schwach. Ich will mich jetzt nichtüber die einzelnen Vorhersagen streiten, aber wir müs-sen uns darauf einstellen, daß wir mit einem geringerenWirtschaftswachstum zu rechnen haben. Das wirkt sichnatürlich auf die Beschäftigung aus. Denn normalerwei-se rechnet man immer damit, daß es erst ab einemWachstum von 2,5 Prozent spürbare Beschäftigungs-effekte gibt.Europa hat eigentlich keinen Grund, den Globalisie-rungsprozeß zu fürchten. Mit der dritten Stufe derWirtschafts- und Währungsunion ist der größte Bin-nenmarkt der Welt gestärkt worden. In diesem Zusam-menhang braucht Europa natürlich eine abgestimmtePolitik, eine Harmonisierung im Rahmen der EU, einePolitik der ökologischen Modernisierung und Nachhal-tigkeit. Die bisherigen Erfahrungen mit dem Euro sind,wie gesagt, gut, und die Eigendynamik spricht für sich.Der Bundesfinanzminister hat in den vergangenenTagen mehrfach auf die Notwendigkeit hingewiesen,nicht nur in Europa, sondern weltweit die Währungssta-bilität voranzutreiben. Starke Wechselkursschwankun-gen beschwören eine globale Abwertungsspirale. Ichhalte es für einen durchaus produktiven Vorschlag, denMärkten mit der Schaffung von Wechselkurszielzonenzusätzlich Orientierung zu geben. Eine Verpflichtungzur Verteidigung bestimmter Wechselkurse sollte sichdaraus jedoch nicht ergeben. Es dürfte nicht einfach undüberdies sehr kostspielig sein, dem Auseinanderdriftenmehrerer Währungen gegenzusteuern. Zudem lehrt dieErfahrung, daß Stützungskäufe selten auf längere SichtErfolg haben.Finanzkrisen wird es weiter geben. Um sie einzu-dämmen, muß der berstende Handel mit immer neuenFinanztiteln schärfer kontrolliert werden. Die Einfüh-rung des Euro war ein wichtiger Schritt zu größererWährungsstabilität. Wir sollten diesen Schritt nun si-chern und vollenden, bevor wir den Euro neben dem un-vermeidlichen inneren Druck zusätzlich einem äußerenDruck aussetzen.Stabilität in Europa bedeutet aber nicht nur Geld-wertstabilität. Es kommt vor allen Dingen auch daraufan, wie wir mit dem Human- und Sozialkapital umge-hen. Auch der Abbau der Arbeitslosigkeit braucht, sowie der Euro, eine entsprechende Zielgröße, eine Orien-tierungsgröße. Gerade die Erfahrung der letzten Jahrehat gezeigt, daß sich einzelne Länder angestrengt haben,weil es diese Orientierungsgröße zur Teilnahme an derEuropäischen Währungsunion gegeben hat. Wir wärengut beraten, auch die Arbeitslosigkeit einer solchen Be-währungsprobe zu unterziehen. Hierzu ist natürlich eineeuropäische Beschäftigungspolitik erforderlich, weiles darauf ankommt, die nationalen Aktivitäten, die na-tionalen Maßnahmepläne aufeinander abzustimmen undmiteinander zu verzahnen. In dieser Hinsicht hoffe ich,daß der Gipfel in Köln einen europäischen Beschäfti-gungspakt verabschiedet.In dieser Beziehung hat sich die deutsche EU-Präsidentschaft ehrgeizige Ziele gesetzt, vor allen Din-gen, was die Beschäftigungspolitik anbelangt, aber auch,was die Fragen der Agenda 2000 betrifft; denn Verände-rungen auch in der Struktur- und der Agrarpolitik sindVoraussetzung dafür, daß wir in Europa vorankommen,daß wir die EU-Osterweiterung bewältigen können.Zur Situation der Wirtschaft im eigenen Land sagt derSachverständigenrat: Wir befinden uns zwischen Hoffenund Bangen. Es gibt also keinen Streit mehr darum,wem der Aufschwung gehört. Das war eine kuriose Epi-sode vor dem Wahlkampf. Ich glaube, im MomentWerner Schulz
Metadaten/Kopzeile:
1038 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
streitet sich niemand mehr darum. Wir haben ganz ande-re Sorgen, und zwar vor allem die Sorge, ein entspre-chendes Wirtschaftswachstum zu sichern, das zur Inve-stitionstätigkeit anregt und die geforderte neue Beschäf-tigung bringt.In diesem Zusammenhang hat die Bundesregierungwichtige Schritte eingeleitet: die erste Stufe der Steuer-reform, ein Sofortprogramm zur Bekämpfung der Ju-gendarbeitslosigkeit, den Einstieg in die ökologischeSteuerreform, der die Lohnnebenkosten senken und na-türlich auch den ökologischen Strukturwandel voran-bringen wird. Ich sage das hier nur stichwortartig, weilin den wenigen Tagen der neuen Regierung doch schoneine Menge in die richtige Richtung passiert ist.Natürlich wird es in den nächsten Wochen darauf an-kommen, daß wir das drängendste Problem, die Be-kämpfung der Arbeitslosigkeit, in den Griff bekom-men. Es hat eben nicht nur eine begriffliche Erweiterungdes ursprünglichen „Bündnisses für Arbeit“, das HelmutKohl so leichtfertig ausgeschlagen hat, gegeben; viel-mehr ist dieses Bündnis für Arbeit, Ausbildung undWettbewerbsfähigkeit auch eine inhaltliche Neubestim-mung – also kein Pappkarton mit leeren Worten, son-dern Ausdruck der Absicht der Bundesregierung, in dennächsten Wochen auf diesem Feld weiterzukommen.Natürlich gehört eine moderate Lohnpolitik mit da-zu. Hier sind wir, wie ich glaube, gut beraten, den Emp-fehlungen des Sachverständigenrates zu folgen. HerrWirtschaftsminister Müller hat das ja auch betont: Es istim Grunde genommen eine Binsenweisheit – über dieman sich öffentlich immer wieder aufregt –, daß sich dieLohnzuwächse am Produktivitätszuwachs orientierenmüssen, daß allerdings immer noch genug übrigbleibenmuß, um die Investitionstätigkeit und die Schaffung vonArbeitsplätzen zu ermöglichen. Aber diese Lücke mußdann auch ausgefüllt werden. Es kann natürlich nicht sosein, daß die einen nur zum Geben und die anderen nurzum Nehmen an den Tisch gekommen sind. So wird das„Bündnis für Arbeit“ mit Sicherheit nicht funktionie-ren, sondern nur in einer verbindlichen Absprache zwi-schen Geben und Nehmen auf allen Seiten, also in einerfesten Vereinbarung, die sich dann in der Praxis bestäti-gen muß.Verstärkte Anstrengungen sind auch beim AufbauOst erforderlich. Ich bin froh, daß der Bundesfinanzmi-nister noch einmal ordentlich nachgelegt hat, was dieWirtschaftsförderung anbelangt.Herr Merz, ich verstehe Ihre Enttäuschung, daß SieOskar Lafontaine hier nun nicht als den großen Schul-denmacher – also als „Oskar Lafontaine-Keynes“ – an-prangern konnten.
– Es ist für Sie sicherlich eine Enttäuschung, daß dasalles nicht so aufgeht wie gedacht und vorgestellt. Dasist die Erfahrung des 27. September. Die wird sichwahrscheinlich noch mehrfach wiederholen.
Es kommt meistens etwas anders, als man es sich über-legt hat. Ihre Kritik geht im Grunde genommen an dem,was die Bundesregierung im Moment tut, vielfach vor-bei.Wie gesagt, der Osten macht mir Sorge, weil dasWirtschaftswachstum dort zurückgeblieben ist, zumin-dest hinter der Tendenz, die wir im Westen zu konstatie-ren haben. Allerdings gibt es einen positiven Trend inder Industrie. Die Bruttowertschöpfung im verarbeiten-den Gewerbe hat hier zweistellige Zuwachsraten zu ver-zeichnen. Für 1998 weist das Jahresgutachten des Sach-verständigenrates einen Zuwachs von 11,7 Prozent aus.Ich bin in dieser Hinsicht zumindest optimistisch ge-stimmt. Wenn sich diese Entwicklung fortsetzt, dannwird auch der Aufholprozeß wieder in Gang kommen.Wir sollten aber nicht bei einer Bewertung der Ein-kommenzuwächse stehenbleiben. Vielmehr wird es fürden Osten viel wichtiger sein – wichtiger als Einkom-menzuwächse –, daß Arbeitsplätze geschaffen werden.Hier gibt es ja bei vielen Belegschaften durchaus die Be-reitschaft, sich entsprechend flexibel zu verhalten. Ichdenke an den Investivlohn und ähnliche Dinge, die imOsten bereits erprobt worden sind, um die Zahl der Ar-beitsplätze zu stabilisieren und sie auszuweiten.Die öffentlichen Finanzen auf verschiedenen Ebenenbefinden sich durchaus in einem kritischen Zustand. Ichkann gut verstehen, daß es Fragen in bezug auf denLänderfinanzausgleich und dementsprechende Klagengegeben hat. Wir werden es über kurz oder lang mit derFrage zu tun haben, ob wir nicht gut beraten wären,wirtschaftlich stärkere Regionen in Deutschland zuschaffen. Das wird sich allein schon durch die Entwick-lung Europas ergeben: Die Einführung einer gemeinsa-men Währung und das engere Zusammenwachsen Euro-pas setzen wirtschaftlich starke und moderne Regionenvoraus. Das ist eine Frage an unser gesamtes föderalesSystem; es steht, glaube ich, hier vor einer ernsten Bela-stungs- und Bewährungsprobe.Abschließend möchte ich noch betonen: Das, was wirjetzt in Deutschland und in Europa zu leisten haben,nämlich weitreichende Entscheidungen zu treffen, ist dieHerkulesaufgabe der Modernisierung der sozialenMarktwirtschaft und ihre Erweiterung in Richtung aufeine soziale und ökologische Marktwirtschaft, die sichim weltweiten Wettbewerb behaupten muß.
Das Wort hat nun
Kollege Paul Friedhoff, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Ich möchte dem Sachverständigenratausdrücklich dafür danken, daß er in seinem Jahresgut-achten zu Beginn der neuen Legislaturperiode die wirt-schafts- und finanzpolitischen Notwendigkeiten deutlichgemacht hat. Er ist seinen angebotspolitischen Konzep-tionen treu geblieben: Dem Druck, daß auch er sich demWerner Schulz
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1039
(C)
(D)
neuen wirtschaftspolitischen Kurs in Bonn unterordnenmüsse, hat er standgehalten; er hat mutig und abgewo-gen am Programm der rotgrünen Regierung Kritik geäu-ßert.Bisher hat sich gezeigt, daß in der neuen Bundesre-gierung Oskar Lafontaine den Kurs in der Wirtschafts-und Finanzpolitik klar bestimmt. Nicht nur, daß er dasWirtschaftsministerium durch die Übertragung der wirt-schaftspolitischen Grundsatzabteilung an das Bundesfi-nanzministerium geradezu enthauptet hat: Der neueBundeswirtschaftsminister ist darüber hinaus nicht bereitoder nicht in der Lage, eigene und, wie ich meine, drin-gend notwendige ordnungspolitische Akzente zu setzen.
Der amerikanische Ökonom Rüdiger Dornbusch hatzum Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik gesagt:Nachdem schon die Regierung Kohl wenig marktwirt-schaftliche Reformen durchsetzen konnte, geht die neueRegierung nun in die völlig falsche Richtung, aber dasmit sehr viel Energie. Dies ist, in Kürze, auch die Zu-sammenfassung des Jahresgutachtens des Sachverstän-digenrates. Ich teile durchaus die Kritik Dornbuschs unddes Sachverständigenrates an der alten Bundesregierung.Die F.D.P. ist in der alten Koalition stets für mehr undraschere marktwirtschaftliche Reformen eingetreten. DieBremser saßen im Bundesrat, angeführt durch OskarLafontaine. Das muß man immer wieder sagen.
Wenn auch der Fortschritt in vielen Bereichen klein war,so stimmte doch die Richtung. Im letzten Jahr haben wirein Wachstum von 2,8 Prozent erreicht. Bei der Ar-beitslosigkeit – hier hat der Bundesfinanzminister ebenso getan, als seien die entsprechenden Maßnahmen alleüberhaupt nicht erfolgreich gewesen, und deswegenmüßten sie jetzt alles ändern – hat es eine Trendum-kehr gegeben: Im Oktober 1998 gab es 300 000 wenigerArbeitslose als im Oktober 1997.Der Aufbau Ost kam weiter voran. Die Förderungwurde auf hohem Niveau durchgehalten.Die Kriterien zur Teilnahme am Euro wurden erfüllt.Damit hat die alte Koalition eine zentrale Grundlage ge-schaffen, auf der die Integration in Europa in wirtschaft-licher wie auch in politischer Hinsicht aufbauen kann.
Die rotgrüne Bundesregierung ist dabei, diese Erfolgezu verspielen. Dies ist um so tragischer, als der Auf-schwung in diesem Jahr – wie Herr Schulz hier ebenschon bemerkt hat – zwischen Hoffen und Bangen – soder Sachverständigenrat – stattfindet. Die Wachstums-erwartungen sind geringer und damit auch die Chan-cen, mehr Arbeitslosen eine Perspektive in bezahlter Be-schäftigung zu eröffnen. Gern läßt uns die neue Bundes-regierung glauben, daß dies die Folgen der außenwirt-schaftlichen Entwicklung, insbesondere der Asienkrise,seien. Auf diese Leimrute sollten wir nicht gehen. DieGefährdung des Aufschwunges ist zunächst und vor al-len Dingen hausgemacht.
Die neue Bundesregierung hat einen Fehlstart hinge-legt, den inzwischen auch Bundeskanzler Schröder offenzugibt. Aber das sind Krokodilstränen; er ändert nichts.Tatsache ist: Die deutsche Wirtschaft leidet unter derUnprofessionalität der neuen Bundesregierung.
Sie leidet darunter, daß heute etwas vorgelegt und mor-gen zurückgezogen wird.
Sie leidet darunter, daß die rotgrünen Ideologen Sachar-gumenten unzugänglich sind, nach dem Motto: Mehrheitist Mehrheit.Arbeitsplätze werden in Unternehmen geschaffen,wenn die Auftragslage gut ist, wenn Zukunftsperspekti-ven gesehen werden. Das Hü und Hott der neuen Bun-desregierung hat aber zu einer grundlegenden Verunsi-cherung in den Unternehmen geführt.
Gerade im Mittelstand ist der Vertrauensverlust, dendie neue Bundesregierung verursacht hat, groß. Investi-tionen in Arbeitsplätze werden zurückgestellt; es wirdabgewartet; es werden ausländische Standorte geprüft;es werden Betriebe ins Ausland verlagert.
50 Prozent der Wirtschaftspolitik sind Psychologie,sagt man. Hier versagt die neue Bundesregierung völlig.Hier hat sich wirklich etwas geändert. Die Wirtschafts-politik unter Lafontaine bietet keine Klarheit. Deutsch-land startet mit wirtschaftspolitisch deutlich schlechterenVoraussetzungen in das Jahr 1999.Die neue Bundesregierung unter Lafontaine vollziehteinen grundsätzlichen Kurswechsel in der Wirtschafts-politik. Um den Abbau der hohen Arbeitslosigkeit zu er-reichen, setzt der Bundesfinanzminister – wir haben dashier eben wieder gehört – auf nachfragepolitischeKonzepte. Er wendet der Angebotspolitik, die aufstrukturelle Reformen setzt, um den Standort Deutsch-land zu stärken, den Rücken zu. Er sagt, man müsse dieKaufkraft stärken, dann würde die Wirtschaft boomen.Er sagt, das Ende der Bescheidenheit bei den Lohnab-schlüssen sei angesagt.
– Er hat dieses gesagt. Er hat das vorhin relativiert. Aberdas ist die Botschaft, die draußen angekommen ist.
Paul K. Friedhoff
Metadaten/Kopzeile:
1040 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
Lafontaine gaukelt den Bürgern vor, daß man sich ameigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen kann. BaronMünchhausen alias Oskar Lafontaine regiert die deut-sche Wirtschaftspolitik. Da werden sich die Wählernoch auf manche Geschichte gefaßt machen müssen.Wer kann wirklich glauben, daß Arbeitslose einge-stellt werden, wenn die Löhne hochgetrieben werden?Jeder weiß doch, daß Löhne für Unternehmen Kostendarstellen und höhere Löhne Produkte verteuern. Jederweiß doch, daß Lohnabschlüsse in erster Linie die Pro-duktivität und die Wettbewerbsfähigkeit der Unterneh-men berücksichtigen müssen. Das ist kein Nebensatz,sondern das ist die Grundvoraussetzung dafür.Im internationalen Bereich hat Lafontaine Wind gesätund Sturm geerntet. Seine Forderungen zur Zinspolitik,nach einer Politik des leichten Geldes, nach einer inter-nationalen Steuerharmonisierung und nach Zielzonenbei Wechselkursen haben Deutschland international dis-kreditiert.
Lafontaine vertritt die falsche Politik der 70er Jahre.Lassen wir uns nicht täuschen: Die USA, Frankreichund Großbritannien sehen nicht nur in Oskar Lafontaineden bösen Buben; vielmehr geraten die Bundesregierungund damit auch Deutschland insgesamt in die Ecke desAußenseiters und des Störenfrieds. Jahrelange vertrau-ensvolle Zusammenarbeit in der Geldpolitik, in der in-ternationalen Wirtschafts- und Finanzpolitik werden zu-nichte gemacht. International – darüber gibt es keinenZweifel – ist in den letzten Monaten viel Porzellan zer-schlagen worden.Hinzu kommen nun die Pläne, aus der Wiederaufbe-reitung auszusteigen. Unsere verläßlichen Partner inEuropa, Frankreich und Großbritannien, werden vor denKopf gestoßen.Gleichzeitig fordern wir die Senkung des deutschenBeitrages zur EU, gleichzeitig will Schröder die ehrgei-zigen Vorgaben der Agenda 2000 umsetzen, gleichzeitiggeht es darum, während der deutschen EU-Präsidentschaft das Vertrauen der internationalen Kapi-tal- und Finanzmärkte in den Euro zu stärken. All diespaßt so nicht zusammen.Die neue Bundesregierung hat viele Chancen. Siebaut auf einem guten Fundament auf, sie erhöht aber dieRisiken. Unsere Konkurrenten im Standortwettbewerbverbessern ihre Rahmenbedingungen, um Investitionenund Beschäftigung zu fördern. Zu einer solchen Politikder Verbesserung der Angebotsbedingungen raten fastalle wirtschaftspolitischen Experten. Sie unterstützenangebotspolitische Reformen, so wie sie auch die F.D.P.in ihrem Wirtschaftsprogramm anregt. Die wirtschaftli-chen Probleme Deutschlands sind nicht konjunkturellerArt. Das hat die EZB in ihrem ersten Monatsbericht ge-rade bestätigt. Nachfragepolitik durch mehr staatlicheAusgaben ändert daran nichts. Notwendig sind weiterestrukturelle Reformen, notwendig sind bittere und unbe-queme Wahrheiten und eine bittere Medizin, denn nursie ist wirksam.Selbst hinter den eigenen Ansprüchen bleibt die neueRegierung zurück. Betrachtet man die Steuerreformunter dem Blickwinkel der Nachfrage, so hat die alteBundesregierung eine Nettoentlastung aller Steuerzahlerum 30 Milliarden DM geplant. Der Sachverständigenrathat die Notwendigkeit dieser grundlegenden Reform be-kräftigt und ausdrücklich bestätigt, daß diese Nettoentla-stung auch möglich sei. Die neue Bundesregierung da-gegen will den Steuerzahler nur um 15 Milliarden DMentlasten und verschiebt dabei diese Entlastung in eineungewisse Zukunft.Selbst die eigene nachfragepolitische Zielsetzungwird nur halbherzig verfolgt. Schröder und Lafontainebetreiben weder Angebots- noch Nachfragepolitik, siebetreiben weder moderne noch pragmatische Wirt-schaftspolitik. Schröder und Lafontaine steuern keinenklaren wirtschaftspolitischen Kurs, sie wurschteln sichdurch.Die F.D.P. wird als Opposition jede Gelegenheitwahrnehmen, um diese Defizite, die Mutlosigkeit undauch die Schwäche der Wirtschafts- und Finanzpolitikdeutlich zu machen.
Wir werden weiterhin konstruktive Vorschläge machen,so wie wir das bereits getan haben. Die F.D.P. weiß sichdabei der Unterstützung wichtiger wirtschaftspolitischerExperten, so des Sachverständigenrates, sicher. Daraufsind wir ganz stolz.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun
Kollegin Barbara Höll, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Herr Friedhoff, seit dem vergangenenFreitag sehen die fünf Weisen schon ein bißchen alt aus.Dank des Statistischen Bundesamtes wissen wir, daß diedeutsche Wirtschaft 1998 trotz der Turbulenzen inAsien, Lateinamerika und Rußland mit 2,8 ProzentWachstum so stark wie nie zuvor zugelegt hat. DieAusfuhren sind um 5,9 Prozent gestiegen; auch hier hates nach dem Rekordjahr 1997 also einen Zuwachs gege-ben.Verfolgt man das etwas konkreter, so heißt das aberauch, daß die Besitzstände der wirklich Reichen wiedereinmal enorm gestiegen sind: um 9 Prozent. Die Ein-kommen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mern sind dagegen nur um 1,5 Prozent gestiegen. Also:Wachstum an Produktion, Wachstum an Vermögen, undwas hat es bezüglich der Massenarbeitslosigkeit in die-sem Lande gebracht? – Nichts. Ich finde es etwas dreist,wenn Herr Merz hier sagt: Machen Sie aber bitte, bitteweiter mit der angebotsorientierten Wirtschaftspolitik inReinkultur. Nein, Sie müßten sagen: 16 Jahre haben wirdas versucht, 16 Jahre haben wir eine Umverteilung indiesem Lande eingeleitet und durchgezogen, hören SiePaul K. Friedhoff
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1041
(C)
(D)
als neue Koalition endlich mit dieser Politik auf, undsetzen Sie da konsequente Zeichen!
Herr Lafontaine, Ihnen muß ich sagen: Die Worte Ih-rer Rede hört' ich wohl, allein mir fehlt der Glaube. Siehaben auch heute die Kombination von nachfrageorien-tierter und angebotsorientierter Politik angemahnt. Seheich konkret hin, welche Vorschläge Sie bezüglich IhrerWirtschafts- und Steuerpolitik gemacht haben, die wirjetzt diskutieren, so muß ich sagen, daß genau der Ge-danke der Kombination fehlt. Wer forderte denn in letz-ter Zeit immer wieder zu Zurückhaltung bei den Lohn-abschlüssen auf, obwohl Sie richtig gesagt haben, daßgerade die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in denletzten Jahren viel zuwenig von dem abbekommen ha-ben, was sie erwirtschaftet haben? Wenn wir das Steuer-entlastungsgesetz diskutieren und wenn wir das Öko-steuergesetz diskutieren, so muß man erst einmal sehen,was am Ende insbesondere für die Familien mit Kindernübrigbleibt, was dann ermöglicht, daß die Nachfrage tat-sächlich gestärkt wird.Nach den bisherigen Vorlagen muß ich sagen: Dasüberzeugt mich überhaupt nicht. Vielmehr verfehlt dieÖkosteuerreform die ökologische Zielsetzung und istaußerdem noch total unsozial, weil sie gerade wiederFamilien mit Kindern, Seniorinnen und Senioren bela-sten wird.
Nebenbei gesagt – es ist ja bekannt, und Sie, HerrBundeskanzler, haben es allgemein als Zielsetzung fürdas Arbeitsprogramm 1999 formuliert –: Man müßteherangehen, die Energiepreise in Ost und West anzu-gleichen. Wir haben im Osten schon die höheren Ener-giepreise und werden dann durch die Ökosteuer nochzusätzlich belastet. Das ist doch unsozial und wird nichtdazu führen, daß die Nachfrage tatsächlich gestärktwird.Sie mahnen an, daß sich die Vermögensverteilungetwas ungleich entwickelt hat. Wo sind denn die wirk-lich neuen Vorschläge? Wo ist die Vermögensbesteue-rung auf einer reformierten Grundlage? Wo sind neueIdeen und Gedanken wie eine Wertschöpfungsabgabe?Halten Sie nicht nur an den alten Instrumenten fest.
– Danke für das Stichwort.Wenn wir in die Steuerdiskussion hineingehen, müs-sen wir zugeben: daß die Untersuchungen der letztenJahre doch eindeutig aussagen, daß die Steuerbelastun-gen der Unternehmen permanent gesunken sind. Pro-fessor Jacobs aus Mannheim hat das bereits 1997 nach-gewiesen. Er hat den DAX für die 30 stärksten Unter-nehmen der Bundesrepublik untersucht. Die Steuerbela-stungen sind gefallen. Ich nenne hier nur einmal zweiZahlen. 1989 lagen die Belastungen bei 54 Prozent,1994 bei 31 Prozent. Ein konkretes Beispiel: Die Steu-erbelastung der Allianz AG ist in diesem Zeitraum von32 Prozent auf 1,4 Prozent gefallen, aber nicht, weil dasUnternehmen auf einmal nicht mehr ertragreich war undvielleicht keine Gewinne mehr gemacht hat. Im Gegen-teil: Bei vielen Unternehmen sind Jahresüberschüsse mitZuwächsen von 20 Prozent und mehr zu verzeichnen.Das ist doch total widersprüchlich. Da muß man heran-gehen.
Aber Ihre Vorschläge zur Steuerreform machen ge-nau dies nicht. Sie versuchen vielmehr, auch durch eineVerbreiterung der Bemessungsgrundlage, wieder eineSenkung der Spitzensteuersätze zu erreichen. Wirhatten aber in den letzten Jahren vielfältige Steuerände-rungen. Ich nenne nur: Aussetzung der Vermögensteuer,Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer, Senkung derKörperschaftsteuersätze.
Wir haben keine Schaffung von Arbeitsplätzen. Wirhaben keine Entlastung der öffentlichen Haushalte. ImGegenteil: Sie von der CDU/CSU und F.D.P. haben einErbe hinterlassen, welches nicht nur uns, sondern auchdie zukünftigen Generationen belastet. Hier müssen wirdann zielgenau herangehen.Jetzt haben wir die neue Diskussion, durch einerechtsformunabhängige Betriebsteuer die Sätze zu sen-ken. Wir werden sehen, was konkret vorgelegt wird.Aber wie bisher in der Presse verlautbart wurde, strebenSie an, Herr Bundesfinanzminister, auch für die von mirgemeinten Unternehmen – ich nannte die Allianz AG,man könnte auch Daimler-Benz und andere nennen –noch einmal die Steuern zu senken. Das kann doch nichtdie Zielrichtung sein. Wir sind eindeutig auf dem Wegin einen Lohnsteuerstaat; denn der Anteil der Lohnsteueran den Gesamtsteuereinnahmen ist in den letzten Jahrenpermanent gestiegen.Zudem sind Sie auf dem Marsch in einen Verbrauch-steuerstaat. Ich muß sagen, meine Damen und Herrenvon der SPD, Sie haben sich in den letzten Jahren nichtvehement gegen die Mehrwertsteuererhöhungen ge-wehrt. Es bleibt wirklich abzuwarten, ob Sie nicht dochbereit sind, die Mehrwertsteuersätze spätestens im näch-sten Jahr wieder zu erhöhen. Was ist denn die ökologi-sche Steuerreform anderes als eine Erhöhung der Ver-brauchsteuern mit einem ökologischen Deckmäntel-chen? Die Entlastung durch die mit der in Verbindungmit der Ökosteuer versprochene Senkung der Lohnne-benkosten wird gerade für Familien mit Kindern we-sentlich geringer ausfallen als die Belastung durch dieseSteuerreform.Wir fordern Sie auf, an die Probleme heranzugehenund das Gutachten des Sachverständigenrates dahinge-hend abzuklopfen, inwieweit die Zielsetzungen derSachverständigen zu Wirkungen geführt haben, die wirfür eine sozial gerechte Gesellschaft brauchen. Die Mas-senarbeitslosigkeit muß endlich angegangen werden. Esdarf nicht so sein, wie der „Spiegel“ uns diese Wocheverkündete, daß wir in diesem Jahr wieder mit 4,1 Mil-lionen Arbeitslosen zu rechnen haben und so in das neueJahrtausend gehen werden.Dr. Barbara Höll
Metadaten/Kopzeile:
1042 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
Wir fordern die rotgrüne Regierung, die Koalitionauf, sich nach neuen wirtschafts- und finanzpolitischenLeitbildern umzusehen und die Aufgaben so in Angriffzu nehmen, daß es nicht nur bei Worten bleibt, sondernTaten folgen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat nunBundesminister Werner Müller.Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaftund Technologie: Herr Präsident! Meine Damen undHerren! Die Bundesregierung muß und wird wirt-schaftspolitische Reformen einleiten. Reformen sind un-bequem und um so unbequemer, je länger sie verzögertwurden. Alles, was unbequem ist, wird von denen kriti-siert, die lieber eine Politik des bequemen „Weiter so“zum Ziele hatten und oftmals mangels Einsicht dieses„Weiter so“ auch noch immer zum Ziel haben. DieNotwendigkeit von Reformen wird schnell einsichtig,wenn ich eine kurze Bilanz der wirtschaftspolitischenErgebnisse der letzten 16 Jahre ziehe.Erstens. Seit 1982 ist die durchschnittliche Lohn-und Gehaltssumme je Beschäftigten bis heute realpraktisch nicht gestiegen. Salopp gesagt: Es gibt einreales Nullwachstum in der Lohntüte seit 1982.Zweitens. Parallel dazu hat sich der Einsatz des Fak-tors Arbeit im Wirtschaftsprozeß um knapp 1 000 Mil-liarden DM verteuert.Drittens. Parallel dazu ist die Arbeitsproduktivitätum rund 50 Prozent gestiegen.Viertens. Parallel dazu ist die Arbeitslosigkeit enormgestiegen.Fünftens. Parallel dazu ist die Staatsverschuldungenorm gestiegen.Diese fünf Eckpunkte zusammengenommen verdeut-lichen eine Entwicklung, die erkennbar zukunftslos ist,weil sie in erkennbare Krisen führen würde.
Ich weiß, daß sich die Lasten der Wiedervereinigungauf Staatsquote und Staatsverschuldung ausgewirkt ha-ben. Aber die negativen Trends waren schon vorher da.Die Bewältigung der Aufgabe bleibt vor uns. Man mußvor allem sehen, daß die Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer zu kurz gekommen sind, weil man sie zu ei-ner der Hauptquellen der wachsenden Staatsfinanzierunggemacht hat.
Der in Eckpunkten skizzierte Prozeß zeigt überdeut-lich, daß die soziale Marktwirtschaft seit 1982 an Sub-stanz verloren hat; denn immer mehr Leben auf Kostender Zukunft ist nicht das Ziel einer sozialen Marktwirt-schaft.
Immer mehr Produktivitätsfortschritt ohne realen Zu-wachs in der Lohntüte ist auch nicht das Ziel einer so-zialen Marktwirtschaft.
Immer mehr Arbeitslose sind ganz gewiß nicht das Zieleiner sozialen Marktwirtschaft.
Im Grunde müssen wir uns auf Grundprinzipien dersozialen Marktwirtschaft zurückbesinnen. Vor allemmüssen wir wieder an den ganz einfachen Grundsatzdenken: Die Wirtschaft hat dem Menschen zu dienen.
Das heißt konkret: Im Mittelpunkt der Wirtschaft darfnicht etwa der Börsenkurs stehen, so wichtig und unver-zichtbar gewinnstarke Unternehmen auch sind; im Mit-telpunkt der Wirtschaftspolitik muß der Mensch stehen,seine lebenswerte Gegenwart und seine erlebenswerteZukunft.
Genau das ist die Kernaussage im SPD-Wahlprogramm,und sie bleibt das Grundziel der Wirtschafts- und Ge-sellschaftspolitik der neuen Bundesregierung.
Angesichts von vier Millionen Arbeitslosen heißt das:Die Bundesregierung muß und wird eine Politik betrei-ben, die erstens das Maß an Rationalisierung beimFaktor Arbeit wieder auf jenes normale Maß zurück-führt, das zum normalen Wandel wirtschaftlicherStrukturen gehört. Sie wird eine Politik betreiben, diezweitens die Schaffung neuer Arbeitsplätze beflügelt.
Das geht nur, wenn die Kosten des Faktors Arbeit imWirtschaftsprozeß nicht weiter steigen, sondern aufSicht wieder sinken. Ich rede von den Kosten der Arbeitund nicht etwa davon, was in der Lohntüte übrigbleibt,was ja inzwischen nur noch einen Bruchteil ausmacht;denn die genannte Verteuerung des Einsatzes des Fak-tors Arbeit um fast 1 000 Milliarden DM seit 1982 isteben ziemlich vollständig von Inflation und vor allemdurch Steuern und Abgaben aufgefressen worden.Dr. Barabara Höll
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1043
(C)
(D)
Die Schere zwischen Nettolohn und Bruttoarbeitsko-sten hat sich immer weiter geöffnet, und zwar mit derBesonderheit, daß der Nettolohn im Schnitt real ebennicht, die Arbeitsproduktivität hingegen, wie gesagt, umdie Hälfte gestiegen ist. Jenseits aller nachfragetheoreti-schen Überlegungen muß man deutlich sehen, daß hierauch eine Gerechtigkeitslücke besteht.
Folglich stellen sich zwei Aufgaben, nämlich erstensden Produktivitätsfortschritt der Arbeit in ein realesWachstum der durchschnittlichen Nettolohn- und-gehaltssumme zu überführen und zweitens zugleich dieArbeitslosigkeit zu senken. Diese doppelte Aufgabesetzt zwingend eine Senkung der Staatsquote voraus;denn nur so ist eine dauerhafte Senkung der Steuer- undAbgabenlast möglich.
Übrigens wird auch das Karlsruher Steuerurteil in dieseRichtung wirken, wozu ich die Ausführungen des HerrnBundesfinanzministers, dieses Urteil möglichst ohneSteuererhöhungen umzusetzen, ausdrücklich begrüße.
Was an Senkung der Staatsquote generell erreichbar ist,muß ganz überwiegend an den Faktor Arbeit zurückge-geben werden, weil er ganz überwiegend der Finanzierdes wachsenden Finanzbedarfes des Staates gewesen ist.Ich sage das in dieser Deutlichkeit, damit zum ThemaUnternehmenssteuerreform nicht übertriebene Er-wartungen bestehen oder geweckt werden.Wir brauchen dringend eine Reform der Unterneh-mensbesteuerung, weil die ausgewiesenen Höchstsätzeunserer Unternehmensbesteuerung im internationalenVergleich viel zu hoch sind.
Das schreckt ausländische Investoren ab, die wir aberverstärkt brauchen. Die Regierungsparteien haben in ih-rem Koalitionsvertrag vereinbart, daß die Höchstsätzeder Unternehmensbesteuerung auf 35 Prozent gesenktwerden. Aber wir haben in Deutschland im internatio-nalen Vergleich nicht nur einmalig hohe Steuersätze fürunternehmerische Tätigkeit, sondern auch ein interna-tional einmaliges System, Gewinne vor der Versteue-rung zu bewahren.
Darum steht die Unternehmenssteuerreform der Bun-desregierung zuerst unter der Überschrift, daß diesenicht mehr sinnvolle Kombination aufkommensneutralbeseitigt wird. Die Verwirklichung dieses Hauptzielesder Unternehmenssteuerreform hat also das Streichenvielfältiger Steuersubventionen zur zwingenden Vor-aussetzung.Bei einer aufkommensneutralen Steuerreform wird es– das ist vorgezeichnet – Gewinner und Verlierer geben.Gewinner werden alle Unternehmen sein, die bislangmehr und weit mehr als 35 Prozent Steuern zahlen. Dassind eben vor allem Betriebe im Mittelstand und imHandwerk.
Das ist ganz genau der Bereich der Wirtschaft, der ammeisten Arbeitsplätze hält und wo weniger Steuerbela-stung auch am allerehesten die Schaffung neuer Arbeits-plätze erwarten läßt.
Auf der Gegenseite wird es Unternehmen geben, dienach der Reform mehr Steuern als heute zahlen, weil sieSteuerlastquoten haben, die unter, manchmal weit unter35 Prozent liegen, also von dem Streichen von Steuer-subventionen betroffen sind. Deswegen wird auch eineaufkommensneutrale Steuerreform erwartbar weiterhinöffentliche Kritik einbringen.Die Ökosteuer, wie die Senkung der Lohnsteuernund die Kindergelderhöhung ein Mittel, die Kaufkraft zustärken und zugleich die Steuer- und Abgabenlast aufden Faktor Arbeit zu senken, wird ebenfalls heftig kriti-siert. Sie belaste angeblich die Wirtschaft. Ich habe hierschon einmal gesagt, daß das im Blick auf die gesamteWirtschaft falsch ist. Aber es gibt einzelne energieinten-sive Betriebe, die im Saldo belastet werden können. Ichbitte daher die Fraktionen dieses Hauses, zu erwägen, obman dieser Kritik nicht ganz einfach den Boden entzieht,indem man vereinbart, daß solchen Betrieben des produ-zierenden Gewerbes, die mehr Ökosteuer zahlen müß-ten, als sie Rentenbeiträge sparen, die Mehrbelastungerlassen wird.
– Ich weiß, daß Ihnen das nicht paßt, weil Ihre Kritiknicht mehr zum Ziel führen würde.
– Das ist ein Beitrag zur Steuervereinfachung.
Jedenfalls will ich erreichen – das wird ein Problemfür Sie sein –, daß die Kritik an der Ökosteuer jede Basisverliert.
Bundesminister Dr. Werner Müller
Metadaten/Kopzeile:
1044 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
Was dann noch an Kritik bleibt, gehört zu der eingangsgenannten Kategorie der Uneinsichtigkeit.
Ich sage noch einmal deutlich: Diese Kritik wird an derNotwendigkeit der Steuerreformen nichts ändern.
– Erlaubt ist sie. Man hört auch zu und wundert sich.
Eine ganz andere Frage ist, ob das Volumen an Un-ternehmenssteuern insgesamt gesenkt werden kann,Stichwort Nettoentlastung. Dem stehe ich grundsätzlichsehr positiv gegenüber. Aber auch dieses Ziel erforderteine dann noch weiter gehende Senkung der Staatsquote.Hier ist jetzt nicht die Zeit, über die vielfältig positi-ven Wirkungen der Senkung der Staatsquote zu reden.Vieles dazu steht übrigens auch im Wahlprogramm derSPD.
– Sie haben das ja nicht gelesen.
– Moment, lassen Sie mich noch diesen zusammenfas-senden Satz sagen, dann höre ich zu: Die zweifelsohnevorhandenen lebendigen Kräfte in unserer Wirtschaftmüssen wiederbelebt und von uns zusammen in die Zu-kunft geführt werden.
Herr Minister, ich
muß Sie daran erinnern, daß Ihre Redezeit überschritten
ist.
Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie: Ich habe versucht, im Haushalt meines
Ministeriums den genannten Grundsätzen ein wenig
Rechnung zu tragen. Die neben den Kohlehilfen beab-
sichtigten Staatshilfen werden in Richtung Kürzung
dessen, was nicht zwingend notwendig erscheint, um-
strukturiert: Verstärkung der Hilfen für marktnahe For-
schung und Entwicklung, stärkere Teilhabe des Mittel-
standes an diesen Mitteln und eine Verstärkung der Ko-
finanzierung. Das heißt, Länder und vor allem die zu
subventionierenden Unternehmen müssen selber stärker
ran.
Herr Minister, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken?
Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie: Gerne, weil wir beim Thema Mittel-
stand sind.
Herr Minister, können
Sie mir einen Wirtschafts- oder Mittelstandsverband
nennen, der mit Ihrer Wirtschaftspolitik, so wie sie mo-
mentan aufgelegt ist und sich abzeichnet, zufrieden ist?
Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß sich wäh-
rend der Anhörung der letzten Tage zur Ökosteuer über
90 Prozent aller angesprochenen Verbände negativ ge-
äußert und Ihre Konzeption sogar in der Luft zerrissen
haben?
Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie: Meine persönliche Konzeption können
sie nicht in der Luft zerreißen. Ich habe aber noch
Schwierigkeiten, diese Konzeption endgültig durchzu-
setzen. Das sei nur einmal am Rande gesagt.
Ich kenne sehr wohl die Einstellungen der Mittel-
standsverbände, der Industrie- und Handelskammern;
denn ich habe viele Tage lang an jedem Abend an einem
Neujahrsempfang teilgenommen und eine Rede gehal-
ten. Ich weiß, wie man öffentlich begrüßt wird. Das
klingt so wie das, was wahrscheinlich auch Sie an ver-
lautbarter Meinung hören.
Ich darf Ihnen sagen: Im internen Gespräch wird
deutlich respektiert, daß wir eine insbesondere das
Handwerk und den Mittelstand fördernde Politik ma-
chen. Sie werden erleben, daß die Ansprache der Ver-
bände auch in der Öffentlichkeit anders werden wird.
Eine Nachfrage des
Kollegen Hinsken.
Herr Minister, da Sienur intern Zustimmung bekommen, würde mich in derheutigen Debatte über den Jahreswirtschaftsbericht in-teressieren, ob Sie uns sagen könnten, wer sich intern soäußert und wer nicht bereit ist, sich in der Öffentlichkeitso zu äußern, wie ich es bei Ihnen hinterfragt habe. Sa-gen Sie mir doch, welcher Verband Ihre Politik mit ver-tritt!Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaftund Technologie: Es ist so, daß auch schon in den öf-fentlichen Meinungsäußerungen ein langsamer Wandeleintritt. Ich möchte Sie auf Verlautbarungen von Hand-werk und Mittelstand hinweisen, in denen die Steuerre-form dieser Bundesregierung nicht mehr prinzipiell ab-Bundesminister Dr. Werner Müller
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1045
(C)
(D)
gelehnt wird, sondern gesagt wird: Sie ist grundsätzlichgut für unseren Wirtschaftszweig.
Das müssen Sie lesen.Das, was noch immer zu tun ist und was noch gefor-dert wird – ich denke an den Veräußerungsgewinn,wenn ein Handwerker seinen Lebensabend bestreitenwill –, wird alles in etwa kommen. Sie werden sehen:Ganz zum Schluß werden Handwerk und Mittelstandmit dieser Regierung das erreichen, was Sie in 16 Jahrennicht geschafft haben.
Sie hätten die Höchststeuersätze für diese Unternehmen16 Jahre lang senken können. Jetzt hat man vereinbart –man hätte vielleicht in den Koalitionsvereinbarungenetwas mutiger sein können –, dieses Ziel in kurzer Zeitzu erreichen. Es nützt ja nichts, immer nur von niedrigenSteuersätzen und Steuerbelastungen zu reden; dies mußauch umgesetzt werden.
Herr Minister, ge-
statten Sie noch eine Zwischenfrage der Kollegin Chri-
sta Luft, PDS-Fraktion?
Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie: Vielleicht kann ich meine Rede eben
noch zu Ende führen?
Herr Minister, ich möchte
nicht nach Stimmungen im Mittelstand fragen, sondern
ich möchte nach etwas ganz Konkretem fragen, das den
Entwurf des Bundeshaushaltes 1999 betrifft. Können Sie
bestätigen, daß im Entwurf des Bundeshaushaltes 1999
keine Zinszuschüsse an das ERP-Sondervermögen für
die Förderung kleiner und mittlerer mittelständischer
Unternehmen enthalten sind, während 1998 noch 550
Millionen DM vorgesehen waren? Meinen Sie nicht, daß
das noch korrigiert werden müßte?
Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie: Das kann ich Ihnen so im ersten An-
lauf nicht bestätigen.
Ich war ganz kurz vor dem Ende meiner Rede ste-
hengeblieben. Gestatten Sie, daß ich Ihnen noch 30 Se-
kunden lang meine Ausführungen vortrage,
die nur aus zwei Bitten bestehen.
Eine Bitte möchte ich an die Bürgerinnen und Bürger
richten: Haben Sie weiterhin Vertrauen in diese Regie-
rung. Wir werden die wirtschaftliche Lage verbessern
und unser Land zukunftsfähiger machen.
Meine zweite Bitte richtet sich an die Wirtschaft
– ja, vor allem nach der zweiten Bitte –: Begleiten Sie
den wirtschaftspolitischen Kurs weiterhin mit kritischen
Mahnungen, aber mit mehr redlicher und konstruktiver
Kritik.
Dann finden Sie in dem Wirtschaftsminister einen sehr
aufgeschlossenen Partner.
Die Bundesregierung weiß, was die Führung in eine
sichere und sozial gerechtere Zukunft erfordert. Sie
weiß, was die Wähler und Bürger in diesem Lande wäh-
rend der letzten anderthalb Jahrzehnte vor allem vermißt
haben.
Vielen Dank.
Das Wort hat nun die
Kollegin Dagmar Wöhrl, CDU/CSU-Fraktion.
Wenn der Herr Kollegewieder zur Ruhe gekommen ist, können wir vielleicht inder Debatte fortfahren.Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Thema dieser Debatte sollten meines Erach-tens nicht nur die Aussagen der fünf Weisen zur Wirt-schaftspolitik sein, sondern auch die Frage, wie dieBundesregierung mit der fachlichen Kritik unabhängigerBeratungsgremien umgeht.Herr Minister Lafontaine, Sie haben es als erster vor-gemacht: Keine vier Wochen nach Vorlage des Jahres-gutachtens, das Ihnen zweifelsohne nicht gepaßt hat,wird bekannt, daß Sie die personelle Zusammensetzungdes Sachverständigenrates ändern wollen. Das heißt,jetzt sind Nachfragetheoretiker erwünscht, die sozusa-gen dem veralteten wirtschaftspolitischen Glaubensbe-kenntnis von Ihnen höhere wissenschaftliche Weihenerteilen.Was passiert 14 Tage später? 14 Tage später löstBundesumweltminister Trittin die unabhängige Reak-Bundesminister Dr. Werner Müller
Metadaten/Kopzeile:
1046 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
torsicherheitskommission und die Strahlenschutz-kommission kurzerhand auf.
Auch hier ist der Grund nicht mangelnde wissenschaftli-che Kompetenz, sondern allein ein falsches Glaubensbe-kenntnis. Das Motto heißt jetzt: Da müssen Atomkraft-gegner her.Dem will unsere Gesundheitsministerin natürlichnicht nachstehen und kündigt kurzerhand den Mitglie-dern des Sachverständigenrates für die konzertierte Ak-tion im Gesundheitswesen. Die Gründe dürfen Sie raten.Die jetzige Regierung benimmt sich wie ein belei-digtes Kind.
Was bleibt denn von Ihrem Wahlkampfslogan „Wirwollen nicht alles anders, aber vieles besser machen“übrig? Wie stellen Sie sich den Ablauf in der Zukunftvor? Wollen Sie jegliche Kritik, die von außen kommt,immer abwehren? Wollen Sie Kritiker zukünftig durchJa-Sager ersetzen? Das würde dazu führen, daß in derZukunft vieles anders und mit Sicherheit fast allesschlechter gemacht wird.Man fragt sich weiterhin: Welchen Rat wollen Siedenn zukünftig noch akzeptieren? Der Rat der Wirt-schaftsverbände gehört bestimmt nicht dazu. Wenn diesesich äußern, dann handelt es sich nach Ihrer Meinungentweder um „Schlachtenlärm“ oder um das „üblicheGejammere“. Was die Gewerkschaften anbelangt, so istIhre Wahrnehmung sehr selektiv. Zum Plädoyer desVorsitzenden der IG Bergbau, Chemie, Energie, Huber-tus Schmoldt, gegen den Kernkraftausstieg habe ich vonseiten der Regierung noch nichts gehört.Sie suchen einen neuen Nachfragetheoretiker für denSachverständigenrat. Aber anscheinend haben Sie ihnbis jetzt noch nicht gefunden. Ich kann Ihnen einen Ratgeben: Suchen Sie einmal in den hinteren Reihen derdeutschen Nationalökonomen! In der vorderen Reihe derVolkswirtschaftslehre werden Sie ihn bestimmt nichtfinden;
denn dort weiß man ebenso wie die fünf Weisen von denGrenzen und den Gefahren einer rein auf Kauf-kraftstärkung ausgerichteten Politik.Im Zeitalter der Globalisierung funktionieren solcheMethoden nicht mehr. Kein beschäftigungspolitisch er-folgreiches Land hat auf Kaufkraftstärkung durch eineexpansive Lohnpolitik und höhere Staatsausgaben ge-setzt. Im Gegenteil: Diese Länder, die beschäftigungs-politisch erfolgreich waren, haben fast ausnahmslos ihreLohn- und Preissteigerungsrate zurückgeführt. Das heißtgeringere Steuern und Abgaben und geringere Sozial-ausgaben. Das heißt auch echte Strukturreformen undnicht eine reine Umverteilungspolitik, die uns von Ihnengeboten wird.
Ich höre Sie immer nur fragen: Wie verteile ich Ar-beit? Fragen Sie doch einmal: Wie schaffe ich Arbeit?Ihre Diagnose ist falsch, liebe Kollegen von der Regie-rung. Das aktuelle Problem, das wir haben, ist nicht diefehlende Nachfrage, sondern das ist die fehlende Inve-stitions- und Innovationsbereitschaft unserer Unter-nehmen.
Ich kann Sie nur auffordern: Haben Sie den Mut zuReformen!
Ich kann Sie in Ihrem Vorgehen, Reformen anzumah-nen, nur ermuntern, Herr Minister Müller. Aber ich fra-ge Sie schon: Warum nehmen Sie Reformen zurück?Wir werden Sie in Ihren Bemühungen, Reformen anzu-gehen, unterstützen. Ich bin überrascht, zu hören, daßSie Reformen schon in der Schublade haben. Wir freuenuns darauf, von diesen Kenntnis zu nehmen.Eine reine Kaufkrafttheorie hat sich in der Vergan-genheit nie bewahrheitet. Sie wird es auch in der Zu-kunft nicht tun. Höhere Kaufkraft – das ist logisch –kommt immer nur einem kleinen Teil der Wirtschaft zu-gute. Ein großer Teil – das wissen wir – fließt in Aus-landsreisen und in ausländische Produkte.Die große Gefahr bei sogenannten konjunkturellenStrohfeuern liegt in den höheren Arbeitskosten, die sichdaraus ergeben. Das haben wir im Falle Japans erlebt.Wir dürfen eines nicht vergessen: Wir sind nicht nurExportvizeweltmeister, sondern auch Importvizewelt-meister.
Es ist, glaube ich, sehr schwierig, den Verbraucher da-von zu überzeugen, daß er für eine Ware nur deshalbmehr bezahlen soll, weil sie aus Deutschland kommt.Es ist überhaupt nichts gegen eine Kaufkraftstärkungmittels einer Steuerentlastung einzuwenden. Wir wärendie letzten, die das behaupten würden. Aber – das mußman ganz deutlich sagen – es muß zu einer Entlastungfür alle kommen, so, wie wir es vorgesehen hatten.
Diese Entlastung müßte durch eine strikte Sparsamkeitbei den Staatsausgaben gegenfinanziert werden.Aber ich muß ganz offen und ehrlich sagen: Es istnicht erkennbar – ich sehe es auf jeden Fall nicht –, woSie konsolidieren, wo Sie zukünftig einsparen. Ich höreimmer nur von mehr Staatsausgaben in der Zukunft. Ichstelle mir die Frage: Wie wollen Sie die ausuferndenDagmar Wöhrl
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1047
(C)
(D)
Ausgaben in den Griff bekommen? Dafür sind keinerleiAnsätze erkennbar.
Geringe Steuerentlastungen für die Arbeitnehmerwerden durch immense Steuermehrbelastungen für dieWirtschaft gegenfinanziert,
allein 35 Milliarden DM bis 2002. Das heißt, die Wirt-schaft, diejenigen, die die Arbeitsplätze schaffen sollen,tragen fast 80 Prozent der Gegenfinanzierung.Hier schreiben die fünf Weisen unmißverständlich:...die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage trifftbesonders Unternehmen, die Nettoentlastungkommt zu spät und ist zu gering.
Ich sage Ihnen noch etwas anderes: Ich bezweifle, obsie überhaupt kommt. Denn eine für alle Unternehmengeringere Betriebsteuer ist bis jetzt nur eine vage An-kündigung. Mehr steckt bisher nicht dahinter. Sie neh-men das als Alibi, aber bis jetzt ist nichts in dieserRichtung unternommen worden.
Es ist wieder einmal unser Mittelstand, der durchdiese Steuerpläne, die jegliches Gesamtkonzept vermis-sen lassen, besonders hart getroffen wird. Da muß ichschon eines sagen: Ich finde es schäbig – ich meine dasso, wie ich es sage –, daß Sie gerade die Menschen, dieSie im Wahlkampf als „neue Mitte“ hofiert haben, umWähler zu gewinnen, hier enttäuschen. Dabei sind esnicht nur die steuerlichen Maßnahmen, sondern auch dieVerschärfungen des Arbeitsrechts, die hier speziell diekleinen und mittleren Unternehmen treffen.Die Ökosteuer, die neu eingeführt wird, ist nicht nursozial ungerecht, weil sie – das kann man nicht oft ge-nug erwähnen – gerade die sozial schwachen Familientrifft, sondern sie ist auch eine Strafsteuer für den Mit-telstand und die Verbraucher insgesamt.Auch mit den Ökosteuerplänen hat sich der Sachver-ständigenrat intensiv auseinandergesetzt. Er hat klar er-kannt, daß die Energiebesteuerung ihrem Wesen nachkeine Ökosteuer, sondern eine reine Subventionsteuerfür die sozialen Sicherungssysteme ist. Das heißt, diesist ein klarer Mißbrauch des Wortes Ökologie.Ihre Ökosteuer hat doch mit Umweltschutz überhauptnichts zu tun.
Es fehlt jegliche ökologische Ausgestaltung, denn dieSteuer wird an den Endverbrauch und nicht an dieSchadstoffemissionen geknüpft. Das heißt, sie ist einereine Schöpfsteuer ohne irgendwelche Lenkungswir-kungen in der Zukunft.
Der Sachverständigenrat hat auch vor einer europäi-schen Tarifpolitik und einer europäischen Beschäfti-gungspolitik gewarnt. Er hat recht. Wir dürfen nicht zu-lassen, daß es zu einer Verlagerung der Verantwortungauf die europäische Ebene kommt. Die Tarifparteiendürfen sich nicht dazu verleiten lassen, sich weder be-schäftigungsorientiert noch stabilitätskonform zu ver-halten, nach dem Motto: „Brüssel, jetzt löse mal schönunsere Probleme, wir haben mit dem Ganzen überhauptnichts mehr zu tun.“
Wir kommen doch so in Europa zu einer Transferunion,die wir nicht wollen.
Das sind Fakten.Und wer bezahlt die Rechnung? Die Rechnung be-zahlt der Steuerzahler, die Menschen draußen. Wir müs-sen vor unserer eigenen Haustür kehren, unsere eigenenProbleme lösen und unsere strukturellen Herausforde-rungen in der Zukunft meistern.Meine Damen und Herren, alle Wirtschaftswissen-schaftler geben zu, daß ein großer Teil der wirtschaftli-chen Entwicklung auf Psychologie beruht. Deshalb kannder Verlauf der Konjunktur nur in einem gewissenRahmen, in gewissen Grenzen vorausgesagt werden. DieKonjunktur ist immer die Summe einer Vielzahl vonEntscheidungen, die von Menschen getroffen werden.Diese Menschen sind Unternehmer und Unternehmerin-nen. Deshalb ist die Stimmungslage draußen bei unserenUnternehmen, Unternehmern, Selbständigen, Handwer-kern, den freien Berufen und den Menschen, die sichselbständig machen wollen, wichtig für unsere zukünfti-ge wirtschaftliche Entwicklung.
Angesicht dessen ist es Gift, wenn die Unternehmerverunsichert werden und deshalb vor Investitionen undNeueinstellungen zurückschrecken. Das Hauptcharakte-ristikum der rotgrünen Wirtschaftspolitik von den Ko-alitionsverhandlungen bis zum heutigen Tage ist dieVerunsicherung der Unternehmen durch Ihre Politik.
Der Sachverständigenrat hat im Herbst des letztenJahres geschrieben:Es ist im gegenwärtigen Zeitpunkt schwer zu er-kennen, wie sich die vielfältigen Einzelmaßnahmenzu einer konsistenten Wirtschaftspolitik zusammen-fügen.Das Schlimme daran ist, daß dieser Satz vom Herbstimmer noch voll zutrifft.Vielen Dank.
Dagmar Wöhrl
Metadaten/Kopzeile:
1048 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
Das Wort hat nun
Kollege Oswald Metzger, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächsteinmal ein Kompliment an den Bundeswirtschaftsmini-ster: Zu einer so erfrischenden und gleichzeitig trocke-nen, aber ordnungspolitisch fundierten Rede möchte ichihn beglückwünschen.
An die Adresse der alten Regierung gerichtet möchteich sagen: Sie, Frau Kollegin Wöhrl, haben den Sach-verständigenrat gegen die neue Regierung in Stellunggebracht. Vor einem Jahr hat der gleiche Sachverständi-genrat in seinem Gutachten die Politik der alten Regie-rung, die sie selbst mit dem Etikett „Angebotspolitik“versehen hat, zerpflückt und von einer nicht nachhalti-gen Konsolidierung gesprochen.
– Wenn Sie das nicht glauben, so nenne ich Ihnen dieQuelle: Textstelle 186. Da haben Sie ins Stammbuch ge-schrieben bekommen, welche strukturellen Defizite sichin dem damaligen Haushalt befanden.Es war eben immer eine Eigenwahrnehmung der al-ten Regierung – mit der sie sich selbst belogen hat –,daß das steuerpolitische Konzept, das man 1996 auf denWeg bringen wollte, allein an der Opposition im Bun-desrat gescheitert ist.
Das ist sozusagen das angebotspolitische Alibi für IhrePolitik der Vergangenheit.
– Mitnichten. Schauen Sie sich doch einmal die struktu-rellen Bedingungen an: Wir haben seit der Wiederverei-nigung einen Anstieg der Lohnnebenkosten um 6,5 Pro-zent. Das war eine Fehlfinanzierung der Einheit zu La-sten derjenigen Menschen, deren Einkommen unterhalbder Beitragsbemessungsgrenze in bezug auf die Renten-versicherung liegt. Dies ist eine soziale Schieflage, weilan dieser Finanzierung Teile der Bevölkerung überhauptnicht beteiligt waren.
Dies hat vor allem dazu geführt, daß es insgesamt zueinem Zwang zu Rationalisierung in unserer Wirtschaftkam, die über das normale Maß hinausging und deshalbArbeitsplätze gekostet hat. Das ist eine strukturelleVerwerfung, die beweist, daß sich die alte Regierungmitnichten auf einem ordungspolitisch sauberen Pfadbefand, sondern ihn nur im Mund führte und „Mittel-stand“ nur predigte. Gleichzeitig haben viele Mittel-ständler beispielsweise zu unserem Ökosteuerkonzeptimmer gesagt – das kann ich selber wirklich bestätigen –:Durch Senkung der Lohnnebenkosten und Verteuerungder Energie wird der Mittelstand strukturell tatsächlichbegünstigt und hinsichtlich der Großindustrie in derTendenz eine Wettbewerbsneutralität bewirkt.
– Wissen Sie: Drei Monate nach dem Regierungswech-sel darf man sich durchaus noch mit der alten Regierungbeschäftigen. Wir haben nicht beim Stand Null angefan-gen, sondern es gibt eine Entwicklung über Jahrzehntehinweg. Es gab sie auch schon während der Regierungs-zeit der sozialliberalen Koalition; das möchte ich über-haupt nicht wegdiskutieren.Es gibt in unserer Gesellschaft ein Problem derWahrnehmung, das auch bei der Diskussion um denSachverständigenrat besteht: Wir alle unterschätzen, daßunsere sozialen Sicherungssysteme, die wir über denFaktor Arbeit finanzieren, angesichts der Globalisierungunter einen gigantischen Finanzierungsdruck geraten,mit der Folge, daß Beschäftigung heute anders organi-siert werden muß als früher.Wir werden deshalb steuerpolitische Akzente setzen,mit denen wir nicht nur für soziale Gerechtigkeit, son-dern auch für Investitionsanreize sorgen. Wir werdendafür sorgen, daß wir nicht nominal hohe Tarife undunter dem Strich eine Steuerlastquote haben, die inter-national eher im unteren Bereich liegt. Diese Tarifeschröpfen den Mittelstand bisher wesentlich stärker alsdie Großbetriebe, die in Gewinnen schwimmen, ihreGewinne zu Lasten des Fiskus aber ins Ausland verla-gern. Das müssen wir durch ein intelligentes System ab-stellen.Sie, Kollege Merz, rufen ständig: Wir haben dasKonzept im Juni 1997 im Bundestag beschlossen. Ichsage Ihnen dazu: Angesichts der strukturellen Defizite inden Haushalten – 40 Milliarden DM nennt der Sachver-ständigenrat in seinem Gutachten – wäre das Nettoentla-stungsprogramm, das Sie vorgeschlagen hatten, nie undnimmer finanzierbar gewesen. Ihre eigenen CDU-Ministerpräsidenten würden im Bundesrat Amok laufen,wenn man ein solches Schlaraffia-Steuerprogramm tat-sächlich durchsetzen wollte.
Bleiben wir deshalb bei der Wahrheit! Wir brauchen– das ist eine Kraftanstrengung wert – ein ordnungspoli-tisches Konzept, in das die Fiskalpolitik mit entspre-chenden Anreizen für Investitionen und Wachstum unddie Sozialpolitik hineingehören. In der neuen Koalitiongibt es unterschiedliche Akzentuierungen. Das merkenSie, wenn Sie den Finanz- und den Wirtschaftsministerhören und wenn Sie die Akzentverschiebungen zwi-schen der grünen Fraktion und der SPD-Fraktion in Fra-gen der Konsolidierung sehen. Wir haben in der Reform-agenda eine große Strukturreform in der Gesundheits-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1049
(C)
(D)
politik, vor allem aber auch in der Rentenpolitik vorge-sehen, die dem Alterungsprozeß in der Gesellschaft, derzu immer höheren Lasten führt, Rechnung trägt. Wirmüssen natürlich auch im Bereich des BundeshaushaltsKonsolidierungsmaßnahmen auf der Ausgabenseite prü-fen.Der Finanzminister strebt – vielleicht zu Ihrem Leid-wesen – mit seinem Stabilitätsprogramm, das er alsZielmarge der EU-Kommission in den ersten Januar-tagen vorgelegt hat, eine Begrenzung der Nettoneuver-schuldung des Bundes in Relation zum Bruttoinlands-produkt von etwa 1 Prozent an. Wissen Sie, was esheißt, eine Halbierung der Neuverschuldung binneneiner Legislaturperiode vorzunehmen?
Zur Erinnerung, Kollege Merz: In den letzten vierJahren, in denen Herr Waigel Finanzminister war, stiegdie jährliche Neuverschuldung im Durchschnitt um rund60 Milliarden DM. Finanzminister Lafontaine hat einehrgeiziges Ziel, das wir durch ein wachstumförderndesintelligentes Steuersystem und Reformen in der sozialenSicherung unterstützen müssen. Wir werden daran ar-beiten, und wir lassen uns daran messen. Insofern habenalle recht, die jetzt von der Bringschuld der neuen Re-gierung reden.Gemessen jedoch an dem, was Sie noch im Novem-ber als Fehlstart beklagt hatten, haben wir uns in denletzten Tagen doch relativ prächtig herausgemacht.
Schauen Sie sich das einmal an: Sie wollten sich zu-rücklehnen und grinsend feststellen, daß dieser Finanz-minister die Verschuldungsgrenze des Grundgesetzesnicht einhält.
Das wurde geschrieben und behauptet. Wir haben siedeutlich unterschritten. Sie werden sehen, daß dieWachstumsimpulse trotz eines verhalteneren Wirt-schaftswachstums in den ersten beiden Quartalen – dieVolkswirtschaft befindet sich in einer robusten Verfas-sung – in der zweiten Jahreshälfte zunehmen werdenund daß sich die Steuereingänge nicht mehr wie in denletzten vier Jahren vom volkswirtschaftlichen Wachstumabkoppeln, sondern daß sich wieder die fundamentaleVerknüpfung von Steuereingängen und Wachstum ein-stellt. Das zeigen sogar schon die Steuereingänge desletzten Jahres.Mit diesem Pfund in der Hinterhand müssen wir denKonsolidierungspfad gehen und ordnungspolitisch eineneue steuerpolitische Weichenstellung durchsetzen.
Der entscheidende Punkt ist folgender: Gerade zudiesem Zeitpunkt darf man nicht Aktionismus waltenlassen. Auf eine Entscheidung wie die des Bundesver-fassungsgerichtes von vorgestern darf man nicht – nie-mand in diesem Hause, auch die Opposition nicht – ein-fach aus dem Bauch heraus reagieren.
Dazu gehört eine genaue Analyse,
da müssen Schlußfolgerungen für das Verfahren im Zu-sammenhang mit der Steuerreform gezogen werden.Man muß auch überlegen, wie man es hinbekommt,daß das Ziel einer einheitlichen Unternehmensbesteue-rung von 35 Prozent mit einer entsprechenden aufkom-mensneutralen Gegenfinanzierung erreicht wird. Wirwerden uns in Zugzwang bringen und Steuererhöhungengedanklich zunächst ausschließen, damit die anderenMaßnahmen, die man auch zur Verfügung hat, tatsäch-lich auf ihre Wirksamkeit überprüft werden.Jede Konsolidierungsmaßnahme muß in zweierleiHinsicht auf den Prüfstand: Ist sie ökonomisch verträg-lich im Hinblick auf Wachstumsimpulse für die Volks-wirtschaft, und ist sie sozial gerecht? Nicht zuletztan der Gerechtigkeitslücke ihres Konsolidierungspro-gramms ist nämlich die alte Regierung gescheitert. Eslag nicht nur am Überdruß eines über 16 Jahre amtieren-den Kanzlers, sondern vor allem auch an der sozialenSchieflage Ihrer Politik.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Gudrun Kopp, F.D.P.
Frau Präsidentin! Sehr ge-ehrte Herren und Damen!
– Das ist gelebte Gleichberechtigung.Gestatten Sie mir, nach den vielen Daten und Fakten,die wir im Laufe des Vormittags gehört haben – diesmöchte ich ganz besonders in Richtung des Herrn Wirt-schaftsministers sagen –, Ihnen eine andere Betrach-tungsweise darzustellen. Es geht mir um die Situationdes Mittelstandes und um die Innensicht derjenigenMenschen, die ihr Leben heute und morgen aktiv so ge-stalten müssen, daß sie eine Zukunft haben.Anfangs möchte ich Ihnen darlegen, was mich wirk-lich besorgt stimmt: In diesem Land hoffen viele inno-vative Menschen auf ihre Entwicklungschancen. Sie ha-ben, was nötig ist; viele von ihnen haben Wissen, Quali-fikation und emotionale Intelligenz, sprich: Intuition unddas Vermögen, zum rechten Zeitpunkt die richtige Ent-scheidung zur Sicherung des wirtschaftlichen Überle-bens treffen zu können. Beides sind Grundvorausetzun-gen für mehr Unternehmertum in Deutschland, das wirdringend brauchen.
Oswald Metzger
Metadaten/Kopzeile:
1050 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
Diese kreativen Köpfe erwarten von dieser neuen Re-gierung – auch wenn schon ein wenig Alterungserschei-nungen sichtbar werden –, daß sie selbst gestalten kön-nen und darüber hinaus noch mehr Freiraum für weitereEntwicklungen bekommen. Aber derzeit scheint das Ge-genteil der Fall zu sein. Ich finde es außerordentlich be-denklich, daß sich in Teilen unserer Gesellschaft undnatürlich auch im Wirtschaftsleben Resignation breit-macht. Die ist Gift für das Klima und für das, was wir sonötig brauchen, nämlich für mehr Arbeitsplätze.
Resignation, Zögerlichkeit und Zurückhaltung finde ichbei den vorher genannten innovativen Kräften außerhalbder Politik und bei einer Minderheit im Regierungslager.Aber diese Exoten, die es derzeit auch gibt, können sichnicht annähernd durchsetzen.
So lesen wir auf dem Papier, das wir heute diskutie-ren – wir wissen: Papier ist geduldig –, das, was dieF.D.P. für die absolut richtige Politik hält: Steuern sen-ken, Haushalte konsolidieren, maßvolle Lohnabschlüsse,Entwicklungsräume öffnen, den Mittelstand stärken.Letzterer ist heute morgen wieder nur sehr abstrakt ho-fiert worden. Wenn es um die Praxis geht, sieht esschlimm aus.
Ich kann mir gut vorstellen, daß sich die fünf Wirt-schaftsweisen die Haare raufen angesichts von sovielIgnoranz gegenüber dem, was sie an Sachverstand ein-bringen.
Bei der ideologischen Politik von gestern, die wir derzeiterleben, stellt sich die Frage, welche politische Kompe-tenz eigentlich vonnöten ist, um eine deutliche Senkungder Arbeitslosigkeit erreichen zu können.
– Jawohl, das sage ich auch.Ich bin felsenfest davon überzeugt, daß in erster Linieeigene Erfahrungen vonnöten sind, um eine Situationwirklich beurteilen zu können. Ich frage Sie: Wer vonIhnen weiß eigentlich, wie es ist, wenn man Menschenentlassen muß, die man persönlich kennt, deren privatesUmfeld man kennt, oder wie es ist, wenn man Arbeitslo-se, Arbeitsuchende abweisen muß, weil die Auftragslageeine Mehrbeschäftigung einfach nicht hergibt? Ich den-ke, dies alles können Sie in der Praxis nicht wissen;denn sonst würden Sie eine ganz andere Wirtschafts-und Finanzpolitik machen.
Wir brauchen tatsächlich dringend mehr Unterneh-mer in diesem Land, die mehr Arbeit schaffen. Das istder Punkt, auf den es ankommt. Dafür sind die Weichenaber absolut nicht gestellt. Ich denke, daß es erheblichzu kurz gesprungen ist, wenn wir uns nur im Umvertei-len, im Regulieren und im Zuteilen erschöpfen. Das sindkeine Zukunftsrezepte, Herr Wirtschafts- und HerrFinanzminister. Vielmehr sind das wirklich ideologischeLadenhüter, die deutlich mehr staatliche Abhängigkeitschaffen. Das ist in höchstem Maße unsozial.
Wer auf dem Markt, besonders als Mittelständler, über-leben will, der braucht Kreativität, Flexibilität und denMut, es mit Konkurrenz aufzunehmen. Diese Eigen-schaften brauchen Unternehmer.Herr Minister Müller, ich habe mit großer Aufmerk-samkeit weite Teile Ihrer heutigen Rede verfolgt. Diegleiche Rede habe ich neulich im Rahmen eines öffent-lichen Neujahrsempfangs in meinem lippischen Wahl-kreis schon einmal gehört. Sie haben heute nur eineAussage ausgelassen – vielleicht ist das auch etwas, dasSie sich auf Grund der Veröffentlichungen zu Herzengenommen haben –, nämlich die pauschale Aussage, daßdie deutsche Wirtschaft erheblich mehr Subventionenkassiere als Steuern zahle. Sehr geehrter Herr Minister,dies trifft so garantiert nicht auf kleine und mittlere so-wie auf Handwerksbetriebe zu.
Sie sollten sich in Zukunft bitte differenzierter zu die-sem Thema äußern.
Ein Wundermittel – so wird es dargestellt – ist das„Bündnis für Arbeit“. Nur, wir wissen alle: Ein Bünd-nis für Arbeit kann unmöglich Arbeitsplätze schaffen.Es kann nur etwas nützen, wenn das Notwendige amMarkt tatsächlich geschieht und wenn diejenigen, die inerster Linie betroffen sind, mit am Verhandlungstischsitzen. Da vermisse ich die Vertreter des Mittelstandes,und ich vermisse die Arbeitslosen.
Das heißt, wenn es mit einer Wirtschaftspolitik, diedurch eine sogenannte Steuerreform, durch sogenannteökologische Steuern und durch Regelungen wie bei den630-DM-Arbeitsverhältnissen gekennzeichnet ist, wennes mit einem konfusen Ausstieg aus der Kernenergie –derzeit scheint sämtliche politische Energie ausschließ-lich in dieses Thema investiert zu werden – und mit derRückführung von Entlastungen für die Wirtschaft imRahmen des Kündigungsschutzes und bei Ausnahmere-gelungen so weitergeht, dann, denke ich, ist dies insge-samt schlecht für die Wirtschaft. Es tabuisiert die wah-ren Probleme.Ich stelle also abschließend fest: Schon jetzt liegt dieneue Bundesregierung in den ersten Ansätzen ihresScheiterns. Bitte nehmen Sie sich diese Entwicklungenzu Herzen. Korrigieren Sie Ihre Fehlentscheidungen,und machen Sie endlich eine verantwortungsvolle undkeine ideologische Politik!Danke schön.
Gudrun Kopp
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1051
(C)
(D)
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Kopp,
dies war Ihre erste Rede in diesem Hause. Ich beglück-
wünsche Sie im Namen aller Kolleginnen und Kollegen
dazu.
Es spricht jetzt unsere Kollegin Nina Hauer, SPD.
Verehrte Frau Präsidentin! Mei-ne Damen und Herren! In dem Gutachten des Sachver-ständigenrates verbirgt sich ein ganz erstaunlicher Satz.Der Sachverständigenrat – ich zitiere – „widerspricht derBehauptung, die desolate Lage des Arbeitsmarkts nach16 Jahren grundsätzlich angebotsorientierter Politik be-weise deren Wirkungslosigkeit“. In diesem Satz sinddrei Aussagen enthalten. Erstens: Die Lage am Arbeits-markt ist nach wie vor desolat.
Zweitens: Die Verantwortung dafür trägt die alte Bun-desregierung, deren Amtszeit ja 16 Jahre dauerte.
Und drittens: Angebotsorientierte Elemente in der Wirt-schaftspolitik dürfen nicht per se als gescheitert angese-hen werden.Deswegen verstehe ich nicht, warum Sie hier versu-chen, einen scheinbar akademischen Schlagabtauschüber die Frage „Angebotsorientierung oder Nachfrage-orientierung“ zu führen. Politik – vor allen Dingen diePolitik der neuen Bundesregierung – muß sich daranmessen lassen, wie ihr Ergebnis aussieht. Das Haupter-gebnis muß sein, die Arbeitslosigkeit in Deutschland zubekämpfen.
In diesem Punkt gibt der Sachverständigenrat überhauptkeine Entwarnung. Ich kann nicht begreifen, warum Siehier so tun, als würde er ausgerechnet Ihre Politik, meineDamen und Herren von der Opposition, unterstützen.Die eigentliche Botschaft dieses Gutachtens ist, daßwir Veränderungen brauchen, die es in den 16 Jahren Ih-rer Verantwortung nicht gab, daß wir einen Aufbruchbrauchen und daß wir einen intelligenten Ausgleich zwi-schen Angebotsorientierung auf der einen Seite undNachfrageorientierung auf der anderen Seite brauchen.Die neue Bundesregierung legt die Konzepte für eineentsprechende Politik vor; zum Teil sind die diesbezüg-lichen Vorlagen ja auch schon verabschiedet worden.
Unsere ersten Unternehmungen werden sein: Wirwerden die nominalen Steuersätze senken und damitdas Investitionsklima in Deutschland wieder anreizen,weil wir dadurch klarmachen: Einen Unterschied zwi-schen effektiver Besteuerung und den nominalen Steuer-sätzen darf es nicht geben. Das muß unsere Botschaftauch an Investoren aus dem Ausland sein.Zweitens. Wir bereiten eine Reform der Unterneh-mensbesteuerung vor, die zum Ziel hat, diejenigen zuentlasten, die investieren. Jede Investition in eine neueIdee, in ein neues Produkt schafft Arbeitsplätze. Ichmeine, daß wir mit dieser Reform, die wir jetzt begon-nen haben, schon mehr Ideen in die Wirtschaftspolitikeingebracht haben, als Sie das in den gesamten 16 Jah-ren geschafft haben.
Ferner senken wir die Lohnnebenkosten. Das ma-chen wir vor allem für den Mittelstand, weil er ja unterDruck geraten ist und dann, wenn er schlechte Absatz-möglichkeiten hat, nur wenige Leute einstellen kann.
Wenn Lohnkosten dadurch niedriger werden, daß dieLohnnebenkosten sinken, dann kann der Mittelstandmehr Personen einstellen und Arbeitsplätze schaffen.
Wir müssen aber dem Mittelstand auch noch andersunter die Arme greifen. In unserem Land – bei der ho-hen Arbeitslosigkeit und den geringen Löhnen – geht dieBereitschaft der Menschen, sich bei einem Handwerkeretwas fertigen zu lassen, Dienstleistungen in Anspruchzu nehmen oder ein neues Produkt zu kaufen, zurück.Die neue Regierung reagiert darauf mit der Steuerre-form: Wir senken die Belastung der Bezieher untererund mittlerer Einkommen, damit sie wieder in denMarkt eintreten können und Produkte kaufen, die mittel-ständische Unternehmen verkaufen, so daß diese Unter-nehmen dafür Leute einstellen können. Das mag Ihnen,meine Damen und Herren von der CDU/CSU, kompli-ziert vorkommen; es ist aber ganz einfach, und es istsehr wirksam.
Ich verstehe Sie, Frau Wöhrl, nicht, wenn Sie daraufabheben, daß wir Exportvizeweltmeister sind. Das sindwir, und deswegen können wir auch zufrieden sein.Aber es ist nicht sachgerecht, zu sagen, daß Angebots-orientierung immer ausschließlich Exportorientierungbedeutet. Das ist falsch. Wir haben ja mit der Einfüh-rung des Euro in diesem Jahr einen riesigen Binnen-markt mit einheitlicher Währung bekommen, auf demwir vertreten sein wollen.
Die Bundesrepublik und auch die anderen europäischenStaaten haben nur dann eine Chance, wenn auf diesemgroßen Binnenmarkt, der durch die einheitliche Wäh-rung Euro zusammengeführt worden ist, Kaufkraft vor-
Metadaten/Kopzeile:
1052 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
handen ist, wenn gekauft werden kann, was wir produ-zieren.
Der Sachverständigenrat geht da noch weiter. Wirfolgen ihm. Wir werden, wenn wir die Haushaltsdebatteführen, sehen, wie konkret die neue Bundesregierung ih-re Schritte in diesem Punkt umsetzt.Wir haben ein Defizit in bezug auf das, was wir in derBundesrepublik am nötigsten brauchen, nämlich in be-zug auf den Bereich der Qualifikation. Wir müssen auchin Ideen, in Produkte und in die Möglichkeit investieren,einmal auszuprobieren, ob sich ein Produkt verkaufenläßt. Wir brauchen auf dem Binnenmarkt nicht nurKaufkraft, sondern wir müssen auf diesem Markt auchProdukte anbieten können.Ich verstehe nicht, warum Sie noch immer gegen dieÖkosteuer polemisieren. Die Ökosteuer wirft mit Si-cherheit viele Probleme auf, die wir lösen müssen. Abersie bietet auch eine Chance. Diese besteht darin, denUnternehmen den Anreiz zu verschaffen, neue Produktezu erfinden und zu entwickeln.
Wir müssen uns damit beeilen, weil wir auf dem euro-päischen Markt sonst nicht mehr mitkommen. In denanderen europäischen Staaten hat dieser Prozeß nämlichbereits begonnen. Wir sollten dem schnell folgen, damitwir sagen können: Auch wir können Produkte anbieten.Ökosteuer ist nicht Askese. Ökosteuer ist die Ent-wicklung von High-Tech, die wir innerhalb der Bundes-republik, in Europa, in der ganzen Welt verkaufen kön-nen. Dadurch entsteht wirtschaftliche Leistungskraft.
Dadurch entsteht Arbeit, die auch für die Zukunftträgt und nicht nur kurzfristig an die Menschen vergebenwird, damit diese zum Sozialstaat beitragen können. Wirbrauchen Arbeitsplätze, die auch in der Zukunft existie-ren werden. Wer die Umsetzung dieser Konzeption ver-hindert, der schädigt letztendlich den Mittelstand, tutnichts gegen die Arbeitslosigkeit und bremst die wirt-schaftspolitische Chance, Angebot und Nachfrage intel-ligent zu verknüpfen.
Unsere Steuerreform schafft dafür die Voraussetzungen.
Der Sachverständigenrat sagt ganz deutlich: Die In-vestitionen in unserem Land sind nicht in gleichem Ma-ße angestiegen wie die Gewinne. Warum ist das derFall? Weil die Unternehmen keinen Sinn darin sehen,hier zu investieren, wenn die Leute die Produkte nichtkaufen können.Die Unternehmen können auch nicht investieren,wenn nicht auch der Staat seinen Teil dazu beiträgt,Wirtschaft und Wissenschaft zu vernetzen, damit wirüberhaupt Ideen für Produkte haben.Meine Damen und Herren, der Bericht des Sachver-ständigenrates trägt den Titel „Vor weitreichenden Ent-scheidungen“. Wir stehen vor weitreichenden Entschei-dungen. Das ist die Hauptbotschaft dieses Berichts. Dieneue Bundesregierung wird Schluß machen mit demStillstand der letzten 16 Jahre. Wir haben allein in denersten 16 Wochen unserer Regierungszeit mehr dazubeigetragen, die wirtschaftliche Entwicklung in diesemLand zu sichern, als Sie in den letzten 16 Jahren.
Wir haben Ideen. Wir werden diese weitreichenden Ent-scheidungen umsetzen und den Kurs in der Bundesrepu-blik für die Zukunft auf einen guten Weg bringen.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Hauer,
auch für Sie war das die erste Rede in diesem Hohen
Hause. Ich beglückwünsche auch Sie im Namen aller
Kolleginnen und Kollegen dazu.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulla Lötzer, PDS.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Wie bereits seit 16 Jahren gibtuns das vorliegende Gutachten zusammengefaßt nur fol-genden Rat für die Wirtschaftspolitik: auf die Globali-sierung weiterhin mit einem Kurs der Deregulierung, derUmverteilung von unten nach oben, der Privatisierungder sozialen Sicherungssysteme und der völligen Frei-heit der internationalen Kapital- und Finanzmärkte zuantworten. Auch wir leugnen die Globalisierung nicht.Aber sie ist weder Mythos noch Entschuldigung fürneoliberale Wirtschaftspolitik, sie ist auch kein Argu-ment für Angebotskonkurrenz, wie die Vertreterinnender CDU heute noch fordern.Die Globalisierung betrifft auch die Finanzmärkte.Neue Technologien und politische Liberalisierung desKapitalverkehrs haben dazu geführt, daß die Finanz-märkte heute alles dominieren. Seit 1980 stieg das Bör-senkapital der Weltaktienmärkte um 1 388 Prozent, dieWirtschaftsleistung nur um 60 Prozent. Waren die Bör-sen früher Seismograph der Wirtschaft, sind sie heuteScharfrichter mit dem Shareholder Value als Fallbeil.Der „Spiegel“ schreibt dazu treffend: Noch nie hattendiese anonymen Besitzergruppen, die Fondsverwalterder Großbanken, soviel Macht wie heute.Neben den Großbanken sind die Global Players dieProfiteure der Globalisierung. Die Megafusionen wie dievon Daimler-Chrysler, die der Deutschen Bank, dieStrategie der Metro verdeutlichen diese EntwicklungNina Hauer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1053
(C)
(D)
von Kapitalgiganten ungeheuren Ausmaßes. Aber dieGlobalisierung ist kein Naturgesetz, das hingenommenwerden muß. Sie ist das Ergebnis nicht nur von IuK-Technologie, sie ist das Ergebnis einer Wirtschaftspoli-tik, die insbesondere vom damaligen Kanzler Kohl,Margret Thatcher und Reagan betrieben wurde. DemZusammenbruch des Bretton-Woods-Systems zur Auf-rechterhaltung stabiler Wechselkurse wurde nicht dieSchaffung eines internationalen Währungssystems ent-gegengesetzt, wie es bereits 1994 von der Bretton-Woods-Kommission gefordert wurde.Die Tobin-Steuer, von uns mehrfach beantragt, wirdregelmäßig abgelehnt. Statt im Rahmen von WTO-Verhandlungen soziale Grundrechte zu verhandeln,verweigerte Kanzler Kohl auf dem Beschäftigungsgipfelvon Lille Vereinbarungen zu Sozial- und Umweltstan-dards. Selbst jetzt nach den Krisen in Asien, Rußlandund Lateinamerika, in deren Folgen das Wachstum zu-mindest sehr viel niedriger werden wird als angenom-men, verweigern die Sachverständigen im Gutachtenden Antworten zur Regulation dieser Märkte die Weihewissenschaftlicher Erkenntnis.Die Globalisierung ist – da gebe ich Kollegen Lafon-taine recht – Herausforderung. Es ist Soros – den Sie,Kolleginnen und Kollegen, sicherlich nicht als Verfech-ter einer sozialistischen Planwirtschaft ansehen –, deranläßlich der aktuellen Krise formuliert: „Der heutigeMarktfundamentalismus ist eine wesentlich größere Be-drohung für die offene Gesellschaft als jede totalitäreIdeologie.“Aber auch die vom Kollegen Hombach geforderteÖkonomisierung der Politik ist nicht gefragt. Genau dashatten wir 16 Jahre; die CDU verfolgt dies mit ihrerForderung nach Angebotskonkurrenz weiter.Tatsächlich brauchen wir eine Politisierung derÖkonomie. Der Handlungsbedarf ist hoch, und Vor-schläge dazu gibt es genug: Maßnahmen zu einem funk-tionierenden Weltwährungssystem, ein internationalesKartellrecht zur Fusionskontrolle, eine verbesserte Ban-kenaufsicht, Tobin-Steuer und Tobin-Versicherung alserste Schritte zur Regulierung der Finanzmärkte; eineinternationale Vereinbarung sozialer Grundrechte, ver-bunden mit einem Klagerecht der Betroffenen und inter-nationaler Gewerkschaften. Sie, Kolleginnen und Kolle-gen von der Regierung, haben im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft und im Vorsitz der G 7 die Chance.Wir werden Sie daran sicher erinnern.Der Markt kennt keine Werte wie soziale Gerechtig-keit, Gleichstellung von Geschlechtern, Recht auf Ar-beit, Frieden und Völkerverständigung. Dafür ist Politikzuständig. Hören Sie auf, sich in die Tarifautonomieeinzumischen und mit der Förderung geringfügiger Be-schäftigung und Kombilohn eine Niedriglohnzone zuschaffen! Unternehmen Sie endlich ernsthafte Schrittezur Nachfrageorientierung! Die Hoffnung, Wachstumwerde Beschäftigung schaffen, ist trügerisch. Fangen Siean mit der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit durch einenöffentlich geförderten Beschäftigungssektor! Er nutztnoch dazu dem sozialen und ökologischen Umbau. Füh-ren Sie Mitbestimmungsrechte zur Beschäftigungssiche-rung ein, wie es der DGB fordert!Folgen Sie solchen Ratschlägen, holen Sie sich solcheWissenschaftler als Gutachter, die den Menschen unddem Abbau der Arbeitslosigkeit nutzen, statt den Emp-fehlungen der Sachverständigen zur Kostenkonkurrenzzu folgen!Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt der
Kollege Hans Martin Bury, SPD.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Der Sachverständigenrat istmit seinem Gutachten vom November des vergangenenJahres seiner Tradition treu geblieben. Begierig suchendie Oppositionsfraktionen der CDU/CSU und der F.D.P.im Jahresgutachten die Argumente für die Fortsetzungeiner Politik, die am Arbeitsmarkt gescheitert ist und dievon den Bürgerinnen und Bürgern am 27. September1998 eindeutig und eindrucksvoll beendet worden ist.
Wir verbinden nun eine solide Finanzpolitik mit einerStärkung von Nachfrage und Investitionen als Säulen fürWachstum und Beschäftigung. Die Neuverschuldungsoll nach den Plänen des Bundesfinanzministers auch indiesem Jahr nicht erhöht werden. Doch der Haushaltsetzt Akzente für Innovationen und Arbeitsplätze.Wir haben versprochen, den Bundeshaushalt zu kon-solidieren, und wir werden dieses Versprechen einhal-ten. Wir haben zugesagt, Innovationen zu fördern, undwir setzen das um.Wir haben versprochen, die Strukturprobleme derWirtschaft, des Arbeitsmarktes und der neuen Bundes-länder aufzugreifen. Das tun wir jetzt.Lassen Sie mich das konkret an folgenden Punktenaufzeigen: Wir gehen die Strukturprobleme am Ar-beitsmarkt an. Wir haben ein Sofortprogramm zumAbbau der Jugendarbeitslosigkeit aufgelegt, dasBündnis für Arbeit gestartet und damit die von der al-ten Bundesregierung zerstörte Vertrauensgrundlage zwi-schen den Tarifpartnern und der Politik wieder herge-stellt, die zur Lösung der Probleme am Arbeitsmarktnotwendig ist.
Eine beschäftigungsorientierte Lohnpolitik zu fordern,wie es der Sachverständigenrat Jahr für Jahr tut, ist dieeine Seite; die politische Vertrauensgrundlage und diepolitischen Rahmenbedingungen dafür herzustellen, dasist die Anforderung, der sich diese Bundesregierung unddie neue Regierungskoalition stellen.
Ursula Lötzer
Metadaten/Kopzeile:
1054 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
Bundeskanzler Gerhard Schröder hat mit der Initiie-rung des Bündnisses für Arbeit, Ausbildung und Wett-bewerbsfähigkeit die Herausforderung angenommen, beider sein Vorgänger kläglich versagt hat. Der Themen-katalog des Bündnisses für Arbeit erfordert Herkulesar-beit. Wir werden den Bundeskanzler und die Bundesre-gierung dabei unterstützen.Unser Ziel ist eine Unternehmensteuerreform miteinem einheitlichen Höchstsatz von 35 Prozent. DieSenkung der gesetzlichen Lohnnebenkosten ist bereitsmit unserer Gesetzesinitiative für eine ökologische Steu-erreform auf den Weg gebracht. Wir werden die gesetz-lichen Lohnnebenkosten in dieser Wahlperiode unter40 Prozent senken.Die strukturelle Reform der Sozialversicherung, einebeschäftigungsfördernde Arbeitsverteilung und eine Ta-rifpolitik, die den Beschäftigungsaufbau unterstützt, sindweitere Themen auf der Agenda des Bündnisses für Ar-beit, mit denen die Strukturdefizite am Arbeitsmarktangegangen und beseitigt werden sollen.
Wir werden darüber hinaus die Forschungs- undTechnologiepolitik verstärken und dafür zusätzlicheHaushaltsmittel in einer Größenordnung von insgesamt1 Milliarde DM bereitstellen und insbesondere die an-wenderorientierte Innovationsförderung im Mittelstandverstärken. Wir werden beispielsweise konkret das vonder alten Bundesregierung zum großen Schaden für diemittelständische Wirtschaft im September eingestellteProgramm für Forschungskooperationen in der mittel-ständischen Wirtschaft wieder auflegen.
Wir halten nicht nur unsere Versprechen, sondern auchnoch Ihre, nachdem Sie dazu nicht mehr in der Lagesind. Aber die Einstellung dieses Programms kurz nachder Bundestagswahl, auf das viele mittelständische Un-ternehmerinnen und Unternehmer gebaut hatten, hat vielVertrauen zerstört. Es fortzusetzen – die Leute haben imVertrauen darauf Ideen entwickelt und Innovationen aufden Weg gebracht – ist auch ein wichtiger Beitrag dazu,das Vertrauen in die Politik insgesamt wieder herzustel-len.
Wir werden ein Programm zur Förderung von Multi-mediatechniken und Entwicklungen im Bereich der In-formations- und Kommunikationstechnologien unter-stützen. Wir starten ein 100 000-Dächer-Solarprogrammund eröffnen damit neue Marktchancen für mittelständi-sche Unternehmen und forcieren den Einstieg in eineneue Energiepolitik.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zur Lösung derstrukturellen Probleme in der deutschen Wirtschaft wer-den Bundesregierung und Koalition Tatkraft und Mutbrauchen. Beides hat die alte Bundesregierung über16 Jahre hinweg vermissen lassen. Ich merke an IhrenBeiträgen, Sie haben es auch in der Opposition nochnicht wiedergefunden.
Mit ideologischen Auseinandersetzungen zwischenAngebots- und Nachfragepolitik können und werden wiruns nicht lange aufhalten. In Deutschland wird wiederregiert, nicht mehr lamentiert.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat jetzt
der Kollege Uldall, CDU/CSU.
Frau Präsidentin!Meine Damen! Meine Herren! Lieber Herr Kollege Bu-ry, Sie sagen, Sie wollen sich nicht mit langen Diskus-sionen über Nachfragepolitik aufhalten. Wir wurdendoch heute vom Bundesfinanzminister mit einem Mor-genkatalog über volkswirtschaftliche Nachfragepolitiküberrascht. Das schlimme ist nur, daß dies den Vorle-sungen entspricht, die in den 60er Jahren, als ich studierthabe, den mittleren Semestern gehalten wurden.
Heute gibt es nicht einen einzigen Wirtschaftswissen-schaftler von Renommee mehr, der die Thesen vertritt,die Minister Lafontaine vertritt. Dazu kann ich nur sa-gen: Lafontaine gegen den Rest der Wissenschaftler derWelt.
Sie werden sich in der Regierung daran gewöhnenmüssen, daß der Sachverständigenrat Mahnungen erteilt.Diese haben wir hinnehmen und befolgen müssen, alswir in der Regierung waren, und das wird Ihnen jetztnicht anders ergehen. Aber es gibt einen Unterschiedzwischen den Mahnungen, die wir bekommen haben,und den Mahnungen, die jetzt in dem jüngsten Gutach-ten enthalten sind. Zur CDU hieß es damals: Euer Wegist richtig. Aber ihr müßt schneller und konsequenterhandeln.
Zur SPD heißt es: Euer Weg ist falsch. Diesen Kursdürft ihr nicht weitergehen. – Das ist der Kernunter-schied zwischen der bisherigen und der neuen Regie-rung.
Das Gutachten enthält nicht nur Mahnungen. Es be-schreibt auch eine gute Wirtschaftsverfassung, in derHans Martin Bury
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1055
(C)
(D)
wir uns befinden. Alles in allem kann man sagen: DerSachverständigenrat stellt der bisherigen Regierung einexzellentes Abschlußzeugnis aus.
Dem Prognoseteil, der deswegen auch günstig ausfällt,können wir entnehmen, daß auf dieser soliden Basisdurchaus günstige Zukunftsperspektiven bestehen. Un-sere Wirtschaftsverfassung ist nach wie vor außeror-dentlich robust. Ich halte es für falsch, wenn sich derFinanzminister hier hinstellt und versucht, dies alles zurelativieren. Das ist nicht Aufgabe eines Finanzmi-nisters. Aufgabe der Regierung ist es, Optimismus aus-zustrahlen. Wenn Sie das nicht tun, werden wir in unse-rer wirtschaftlichen Entwicklung nicht weiter voran-kommen.
Welche Prognosen werden in dem Gutachten desSachverständigenrates abgegeben? – Es ist weiterhin mitPreisstabilität zu rechnen. Die Wirtschaft wird um solide2 Prozent weiterwachsen. Der Außenwirtschaftsbeitragbleibt auf einem hohen Niveau bestehen. Die Zahl derErwerbstätigen steigt weiter um knapp 100 000. Ent-sprechend sinkt die Arbeitslosenzahl. Die Investitions-bereitschaft der Wirtschaft ist auf Grund günstiger Rah-menbedingungen robust – jedenfalls solange noch keineUnsicherheiten über die Rahmenbedingungen durch dieneue Regierung hervorgerufen werden.Das sind die Vorgaben, die der Sachverständigenratgegeben hat. An diesen Vorgaben werden wir Sie mes-sen. Diesen Trend dürfen Sie nicht nur einhalten, son-dern müssen ihn sogar verstärken. Erreichen Sie diesevom Sachverständigenrat prognostizierten Werte nicht,so ist das Ihrer Wirtschaftspolitik zuzurechnen.
An dieser positiven Lagebeschreibung ändern jetztauch nichts neuere Einschätzungen, die in den letztenTagen und auch heute morgen wieder von der Regierunggestreut werden. Die Mehrheit des wirtschaftlichenSachverstandes ist sich einig, daß die Verwirrungen, diejetzt aus Asien, Brasilien und Rußland auf unsere Wirt-schaft zukommen, nicht entscheidend und dauerhaft seinwerden. So schreibt zum Beispiel das Institut für Welt-wirtschaft in seinem jüngsten Kieler Kurzbericht:Bei der erwarteten Wirtschaftsentwicklung außer-halb der Industrieländer wird die Konjunktur in denIndustrieländern durch die externe Nachfrage zwarauch im kommenden Jahr nicht gestützt werden.Der dämpfende Einfluß wird sich aber allmählichabschwächen.Man sieht also keinen Grund, von den positiven Progno-sen für das Jahr 1999 abzuweichen.Nun muß man sich fragen: Welchen Hintergrund ha-ben eigentlich diese permanenten Probleme, die das Re-gierungslager hinsichtlich einer Verschlechterung desweltwirtschaftlichen Szenarios herausstellt? – Sie sinddoch in erster Linie von der Absicht geprägt, mögli-cherweise schlechte Ergebnisse der eigenen Politik mitschwierigen Umständen zu erklären. Das ist nur eineneue Variante der Zinsdiskussion vom vergangenenHerbst. Auch hier ging es Minister Lafontaine wenigerdarum, eine Senkung des ohnehin schon niedrigen Zins-niveaus zu erreichen – nein; vielmehr sollte mit derBundesbank oder der Europäischen Zentralbank schonrechtzeitig ein Schuldiger benannt werden, falls die ei-gene Wirtschaftspolitik erfolglos bleiben würde. MeineDamen und Herren, wir können darin nur eines erken-nen: Die Regierung selber hat wenig Vertrauen zu ihrereigenen Politik.
Nun zurück zum Sachverständigenrat: Er beschreibtnicht nur eine gute Ausgangslage, sondern gibt auchHausaufgaben auf, die gemacht werden müssen, undnennt zunächst moderate Lohnabschlüsse. Es paßtüberhaupt nicht, wenn Lafontaine rät, jetzt einen ordent-lichen Schluck aus der Pulle zu nehmen. Das Faszinie-rende ist dabei nur, daß der Mann, der der Wirtschaftsagt, sie müsse höhere Lohnsteigerungen verkraften, zu-gleich erklärt, als Finanzminister könne er sie nicht be-zahlen.
Meine Damen und Herren, es ist überhaupt kein Unter-schied, ob ein mittelständischer Unternehmer mitSchwierigkeiten die Löhne aufzubringen hat oder ob dasein Finanzminister für viele hunderttausend Arbeitneh-mer in seinem Bereich machen muß; denn es gilt diegleiche Wirkung: Eine D-Mark, die durch einen Beam-ten ausgegeben wird, ist genauso konjunkturwirksamwie eine D-Mark, die von einem in einem privaten mit-telständischen Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer aus-gegeben wird. Wenn also das Rezept richtig wäre, dasLafontaine predigt, dann müßte er zunächst einmal beisich selbst anfangen. Das tut er nicht, und das zeigt, daßer von seinen Thesen wenig überzeugt ist.
Das gleiche gilt für die Steuerreform. Der Sachver-ständigenrat mahnt eine Erhöhung der Leistungsbereit-schaft der Arbeitnehmer und eine Verbesserung derWettbewerbsbedingungen für die Unternehmer an. DieRegierung will dagegen die Nachfrage stärken. Mit denRegierungsvorschlägen wird aber nichts erreicht: wedereine Stärkung der Angebotsseite noch eine Stärkung derNachfrageseite. Wie wirkt sich denn die Senkung derEinkommensteuer im Jahr 1999 für den einzelnen Ar-beitnehmer aus? Der Single wird pro Monat exakt um3,83 DM entlastet, wenn er das Einkommen der „neuenMitte“, also etwa 70 000 DM pro Jahr, erzielt. MeineDamen und Herren, das ist ein Bier mehr pro Monat,damit löst Oskar Lafontaine einen gewaltigen Nachfra-geschub hier in Deutschland aus.
Gunnar Uldall
Metadaten/Kopzeile:
1056 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
Abschließend einige Worte zu der jüngsten Diskussi-on über Steuererhöhungen, die gestern und heute in derSPD und bei den Grünen ausgebrochen ist. Für mich istzunächst einmal faszinierend, mit welcher KreativitätGedanken entwickelt werden, die nicht auf Sparen hin-auslaufen, sondern immer nur darauf, wie wir neueSteuern erheben können: Frau Simonis will das Ehegat-tensplitting abschaffen, Frau Titze will eine Mehrwert-steuererhöhung, Frau Scheel eine kräftige Anhebung derBenzinpreise durchsetzen.
Ich habe immer noch die Worte über die ökologischeSteuerreform in Erinnerung. Es wurde doch verspro-chen, daß das, was durch die Benzinpreiserhöhung her-einkommt, genutzt werden soll, um die Lohnnebenko-sten zu senken. Bevor dieses Gesetz überhaupt in Kraftgetreten ist, wird offensichtlich schon wieder schlicht-weg gesagt, die Benzinpreise sollten erhöht werden, umdas Stopfen von Haushaltslöchern zu ermöglichen. Da-mit wird gezeigt, was diese Ökosteuerreform in Wirk-lichkeit ist. Wir sprachen damals einfach nur von einerMineralölsteuererhöhung; heute wird sie mit „ökologi-scher Steuerreform“ umschrieben.
Meine Damen und Herren, Oskar Lafontaine hatheute morgen zu Recht seine Kollegen gemahnt, jetztnicht zu sehr über Steuererhöhungen zu sprechen. DieseMahnung gilt bis zum 7. Februar, dem Tag der Wahl inHessen. Danach wird es mit kräftigen Steuererhöhungenlosgehen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat jetzt
unser Kollege Jörg Spiller, SPD.
Frau Präsidentin! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Uldall,Sie haben im Sachverständigengutachten ein gutes Ab-schlußzeugnis für die alte Regierung entdeckt. Darüberhaben Sie sich gefreut. Die Freude sei Ihnen gegönnt.Aber ich darf Ihnen wirklich versichern: Viel mehrMenschen in Deutschland freuen sich darüber, daß es zudiesem Abgang gekommen ist.
Es ist schon eine besondere Wahrnehmung, sichdurch den Hinweis im Sachverständigengutachten be-stätigt zu fühlen – Frau Hauer hat das zitiert –, daß derSachverständigenrat geradezu inständig darum bittet, derAngebotspolitik doch nicht generell die traurige Hinter-lassenschaft der Regierung Kohl in Deutschland anzula-sten, sondern die Angebotspolitik nicht völlig beiseite zulegen.In diesem Risiko befinden sich unabhängige Sachver-ständige in der Auseinandersetzung politischer Gremieneigentlich fast immer: Jeder sucht sich das heraus, wasihm gefällt, redet gern darüber und schaut dann einmal,wer gelobt und wer kritisiert wird. Das ist menschlich.Ich darf allerdings sagen: Es entspricht nicht so ganzdem Sinn wissenschaftlicher Beratung von Politik.Im übrigen ist auch im Gesetz über den Sachverstän-digenrat – dessen Verabschiedung 1963 ist schon einpaar Jahre her – festgelegt, was der Sachverständigenrattun soll. Ich zitiere einmal den entscheidenden Satz:Der Sachverständigenrat soll Fehlentwicklungenund Möglichkeiten zu deren Vermeidung oder de-ren Beseitigung aufzeigen, jedoch keine Empfeh-lungen für bestimmte wirtschafts- und sozialpoliti-sche Maßnahmen aussprechen.Das heißt, er soll unsere Debatte hier anreichern. Wirsollen uns auch mit unbequemen Argumenten auseinan-dersetzen. Aber es geht nicht darum, Noten zu verteilen.Dazu hat der Sachverständigenrat in letzter Zeit geneigt.Ich möchte einmal kritisch anmerken, daß ich michfreuen würde, wenn er künftig wieder etwas stärker sei-nen Anspruch darauf richtete, mit sauberer, sachlicherArgumentation die politische Debatte zu bereichern.
Ich habe Verständnis dafür, Herr Kollege Uldall –auch Herr Kollege Merz hat sich eigentlich sehr er-leichtert über das Sachverständigengutachten ausgespro-chen –, daß Sie im Vergleich zu dem, was uns der Sach-verständigenrat vor einem Jahr vorgelegt hat, richtigaufatmen. Vor einem Jahr hat das Sachverständigengut-achten noch ein extra Kapitel über die Aktion Goldfin-ger von Herrn Waigel gehabt.
Es gab nämlich Mitte 1997 durch die damalige Mehrheitden dreisten Versuch, die Bundesbank qua Gesetz zuveranlassen, mitten im Jahr die Goldreserven neu zubewerten und den Buchgewinn dann an den Bundesfi-nanzminister auszuschütten. Da hat der Sachverständi-genrat natürlich gegengehalten.Im Vergleich dazu sind die vorsichtigen Mahnungen,die neue Bundesregierung möge doch bitte respektieren,daß die Europäische Zentralbank in ihrer Geldpolitikunabhängig ist, richtig sanft und harmlos. Der Sachver-ständigenrat hat auch wenig Anlaß, das, was von derneuen Regierung in Sachen Geldpolitik gesagt wordenist, zu kritisieren. Er selbst äußert sich zur Geldpolitikund auch zur Lohnpolitik. Er beschränkt sich keines-wegs darauf, sich zu den Bereichen zu äußern, für dieParlament und Regierung wirtschaftspolitische Zustän-digkeiten haben; vielmehr führt er eine allgemeine breiteDebatte auch über Bereiche der Wirtschaftspolitik, dieaus guten Gründen unabhängig von der Politik zu regelnsind. Das ist eine Bereicherung. Dazu gehört allerdingsauch, daß sich auch jeder von uns an einer Sachdebatteüber solche Fragen beteiligen kann.Ich bin – diesen einen Punkt möchte ich doch nochaufgreifen – dem Sachverständigenrat richtig dankbar,Gunnar Uldall
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1057
(C)
(D)
daß er, wie ich finde, in getreuer Auslegung seines ge-setzlichen Auftrags einen sehr respektablen und interes-santen Beitrag zur Analyse der Turbulenzen an denFinanzmärkten in Asien, Lateinamerika und jetzt leiderauch in Rußland geliefert hat. Ich empfehle allen, unse-ren Wirtschaftspolitikern und Finanzpolitikern sowieinsbesondere natürlich auch unserer Regierung, daß siesich das einmal ansehen; nicht nur, weil die Regierungsich darüber freuen kann, daß sie hier eine Bestätigungfür ihre Auffassung findet, daß dieses Thema nicht ver-nachlässigt werden darf, sondern auch, weil konkreteHinweise gegeben werden, was man tun kann.Ich will in diesem Zusammenhang nur einen Satz ausdem Gutachten des Sachverständigenrates zitieren:Im Bereich der Banken und Versicherungen darf eskeinen Wettbewerb um die geringste Regulierunggeben. Dazu sind die negativen externen Effekte zuhoch; durch mangelhafte Bankenaufsicht verur-sachte Finanzkrisen können, wie geschehen, aufweitere Länder oder Regionen ausstrahlen, auch aufsolche ohne erkennbare makroökonomische undstrukturelle Verwerfungen.Wir dürfen dieses Thema nicht beiseite schieben. Ichermuntere ausdrücklich unsere Bundesregierung, daß siesich im Verein mit den Partnern in der OECD, insbe-sondere natürlich auch mit denen in der EuropäischenGemeinschaft, dieses Themas annimmt, denn als einLand, das so stark mit der Weltwirtschaft verflochtenist, können wir es uns nicht erlauben, abhängig von un-kontrollierbaren, irrationalen Reaktionen fehlgeleiteterFinanzmärkte zu werden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner ist
der Kollege Dr. Michael Luther, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte FrauPräsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesre-gierung wirbt zur Zeit in aktuellen Zeitungen und Zeit-schriften für die Rücknahme von Reformen, die derDeutsche Bundestag in der letzten Legislaturperiode aufden Weg gebracht hat, mit dem Spruch von FriedrichSieburg: Es hat nie Privilegien gegeben, die nicht aufKosten anderer genossen wurden.Man kann ja über die künstlerische Gestaltung dieserAnzeige nachdenken, die aus Steuergeldern finanziertwurde. Ich habe mir allerdings die Frage gestellt, welche„Privilegien“ denn von wem genossen wurden. Ich nen-ne die Privilegien gerne: Es geht um die Entlastung derWirtschaft, damit Arbeitsplätze geschaffen und Investi-tionen getätigt werden können, damit die Wirtschaftwächst und die Steuern gezahlt werden können, die esuns in Deutschland ermöglichen, unseren gegenwärtigenhohen sozialen Standard heute und in Zukunft zu finan-zieren. Sie wollen diese „Privilegien“ wegnehmen. DieFolgen sind für mich vollkommen klar. Ich empfehle Ih-nen, hierzu ein anderes Zitat, diesmal von Abraham Lin-coln, zur Kenntnis zu nehmen: Ihr werdet die Schwa-chen nicht stärken, indem ihr die Starken schwächt. –Diese Grunderkenntnis ist aber offensichtlich bei derrotgrünen Bundesregierung nicht angekommen.Vor diesem Hintergrund versteht man die Prognosen,die zur Zeit im Raum stehen, besser. Während der Sach-verständigenrat am 18. November 1998 noch von einemWachstum des Bruttoinlandsproduktes von 2 Prozentfür 1999 ausging, sagt die aktuelle Prognose des DIW,daß das Wachstum im Westen 1,5 Prozent und im Osten0,8 Prozent betragen werde. Was heißt das? Ich wertedas so: Die ursprüngliche Prognose, die vor dem Hinter-grund der bis dahin vernünftigen Wirtschaftspolitik auf-gestellt wurde, muß heute angesichts rotgrüner Chaos-politik relativiert werden.
Meine Damen und Herren, Sie wollen die Ursachendieser schlechten Prognosen zum Beispiel auf die Krisenin der Welt schieben. Das ist mir zu einfach. Ich glaube,die Wirtschaftskräfte vertrauen auf das, was in unseremLand passiert. Wenn sie Vertrauen in den Wirtschafts-standort Deutschland haben, werden sie sich auch inDeutschland plazieren. Das Gegenteil ist aber der Fall.Es ist unglaublich, welche Verunsicherung in Wirt-schaftskreisen diese Bundesregierung in so kurzer Zeiterzeugen konnte.Das Grundübel ist – das ist heute schon mehrfach ge-sagt worden –, daß der Bundesfinanzminister zwischender absurden Vorstellung von einer nachfrageorientier-ten Politik und der hoffentlich auch bei ihm zunehmen-den Erkenntnis über angebotsorientierte Erfordernisseschwankt. Herr Minister, ich rate Ihnen an dieser Stelle,den Sachverständigen zu folgen.Im Interesse von Deutschland sage ich: Gerade inschwieriger werdenden Zeiten zeigt sich die Güte derWirtschaftspolitik. Diese Güte zeichnet sich durch Kurs-halten und durch das Befolgen der Ratschläge des Sach-verständigenrates aus.
Der Sachverständigenrat hat doch deutlich gemacht, daßviele Länder negative Erfahrungen mit einer verfehltenNachfragepolitik gemacht haben, weil diese Politik zu-meist zu ungünstigeren Angebotsbedingungen auf seitender Unternehmen geführt hat. Auch eine Kombinationvon angebots- und nachfragepolitischen Instrumenten,die Sie heute morgen angesprochen haben, ersetzt keinekonsistente Wirtschaftspolitik.Der Sachverständigenrat stellt klar: Unternehmeri-sche Entscheidungen zugunsten von Investitionen odervon Arbeitsplätzen werden stark durch Erwartungen be-stimmt. Für die Wirtschaftspolitik kann dies nur bedeu-ten, daß die Erwartungen hinsichtlich künftiger Ent-wicklung noch wesentlich wichtiger genommen werdenmüssen als die Erwartungen hinsichtlich der Entschei-dungen, die in der Gegenwart getroffen werden. Deshalbist es so wichtig, verläßliche Rahmenbedingungen fürunternehmerisches Wirtschaften zu garantieren.
Jörg-Otto Spiller
Metadaten/Kopzeile:
1058 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
Gift für diese Entwicklung sind natürlich die andau-ernden Diskussionen, ausgelöst durch Ihre ständig neuenGeistesblitze über Steuererhöhungen. Ich versteheschon, daß heute Herr Lafontaine – er ist leider nichtmehr anwesend – einen Appell an seine eigene Fraktionrichtet, nicht ständig irgendwelche neuen Steuerdiskus-sionen zu beginnen. Beispielsweise wird – das muß mansich einmal vorstellen – über eine Erhöhung der Mine-ralölsteuer nachgedacht, weil im Moment die Rohölprei-se besonders niedrig sind. Wird die Erhöhung zurückge-nommen, wenn die Rohölpreise wieder steigen? Daskann ich mir nicht vorstellen. Auf der Grundlage dieserÜberlegungen in der Regierungskoalition kann keinUnternehmer kalkulieren.Welche Auswirkungen zum Beispiel die Diskussionüber die Energiesteuern hat, will ich kurz am Beispielder neuen Bundesländer erläutern. Deutschland liegtbei den Energiepreisen im oberen Drittel. Das ist wahr;aber das ist nur die halbe Wahrheit; denn im Unterschiedzum Saarland grenzen die neuen Bundesländer an Polenbzw. Tschechien. Man muß diese Diskussion auch vordem Hintergrund der EU-Osterweiterung führen. Diesich daraus ergebenden Fakten sind Grundlage zumin-dest für Investitionsentscheidungen in den neuen Bun-desländern. Deshalb wird schon heute darüber nachge-dacht, wie man in Zukunft handeln will.Ich kann ein Zögern bei vielen Unternehmern ver-zeichnen, mit denen ich gesprochen habe. Dieses Zögernbetrifft nicht nur Entscheidungen über große Investitio-nen, sondern auch besonders Entscheidungen des Mittel-standes, der in der grenznahen Region mit den unglei-chen Konkurrenzbedingungen hinsichtlich der Energie-preise kalkulieren muß. Meine Aussage ist daher klar: Die Bundesregierungliegt völlig falsch, wenn sie mit der sogenannten Öko-steuer die Energiebesteuerung im nationalen Alleingangerhöhen will. Diese Erhöhung schadet Deutschland, aberganz besonders den neuen Bundesländern, weil für dieseLänder die EU-Osterweiterung und damit die Blick-richtung nach Osten entscheidend ist.Der Sachverständigenrat weist auf eine weitere großeDifferenz zwischen Ost und West hin, nämlich die Dif-ferenz beim Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner. ImOsten beträgt die Quote zur Zeit 57,25 Prozent desWestniveaus. Der Sachverständigenrat verweist aberauch auf erkennbare Erfolge: Die Wettbewerbsnachteilegegenüber dem Westen, gemessen an den Lohnstückko-sten, verringerten sich 1997 merklich.Wir befinden uns zur Zeit in einer Phase – das ist er-freulich –, in der das verarbeitende Gewerbe zunehmendwichtiger für die wirtschaftliche Entwicklung in denneuen Bundesländern wird und in der es den Wachs-tumsstab vom Baugewerbe übernimmt.Die Zunahme der Wertschöpfung im verarbeiten-den Gewerbe betrug 1997 knapp 11 Prozent, 1998 deut-lich über 11 Prozent. An der Spitze dieser Entwicklungstehen – mit dem höchsten Anteil am verarbeitendenGewerbe – die Länder Sachsen und Thüringen, und dastrotz der schwierigen Standortbedingungen an der EU-Außengrenze. Auch Brandenburg steht gut da, aber hiermuß man den Berlin-Effekt mit bedenken.Die Qualität, die Güte ostdeutscher Industrieprodukteist zunehmend auch im Ausland gefragt. Der Auslands-umsatz konnte 1997 um 33,7 Prozent ausgeweitet wer-den. Diese Entwicklung war 1998 ungebrochen und gabbislang berechtigten Anlaß zur Hoffnung. Doch die Pro-gnosen, zum Beispiel vom DIW, stellen nun in Aussicht,daß sich die Entwicklung so nicht fortsetzt. Ich hoffe,daß dem durch eine Korrektur der bisher angedeutetenWirtschaftspolitik noch entgegengewirkt werden kann.Aber ich glaube, das wird schwierig werden.Ich möchte kurz noch etwas zu einem ganz anderenFeld sagen, nämlich zu dem Feld der Lohnpolitik. Ichmeine – auch der Sachverständigenrat bringt das zumAusdruck –: Lohnsteigerungen ja, aber sie dürfen dieProduktivitätsentwicklung nicht überholen, wenn sie fürmehr Beschäftigung sorgen sollen. Die Tarifparteien ha-ben hier einen wichtigen Beitrag zu leisten.Sie haben das Bündnis für Arbeit geplant. DiesesBündnis für Arbeit wird aber nur dann funktionieren,wenn Sie die regionalen Besonderheiten berücksichti-gen. Ich weise darauf hin, daß Ostdeutschland besondersdavon betroffen ist, und zwar aus folgendem Grund: Esist Fakt, daß nur ein Drittel der Unternehmen und prak-tisch nur die Hälfte der Beschäftigten in tariflich gebun-denen Unternehmen arbeiten. Warum? Weil die tarif-lichen Vorstellungen von den Unternehmen nicht erfülltwerden können. Es werden von den Betriebsräten, ge-meinsam mit den Unternehmen, Konzepte erarbeitet, dieversuchen, das auszugleichen, weil sie eines im Hinter-kopf haben: Sie wollen gemeinsam überleben, leben unddann besser leben. Sie wissen auch, daß das nur in dieserReihenfolge geht.Wenn Sie also ein Bündnis für Arbeit auf den Wegbringen wollen, dann beachten Sie bitte diesen wichti-gen Punkt der Lohnentwicklung in den neuen Bundes-ländern. Schaffen Sie ein Bündnis für Arbeit, aber schaf-fen Sie vor allem ein Bündnis der Vernunft, das dieseregionalen Besonderheiten in den neuen Bundesländernin den Vordergrund stellt.Schönen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzte Rednerin in
dieser Debatte ist unsere Kollegin Sabine Kaspereit,
SPD.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Nach der doch eher allge-meingeführten Steuer- und Haushaltsdebatte bin ichfroh, daß das Stichwort neue Bundesländer noch gefal-len ist. Ich möchte dieses Thema noch etwas näher be-leuchten.Uns allen ist schmerzhaft bewußt, daß die Wirtschaftin den neuen Ländern nach acht Jahren vielfältigerBemühungen noch immer nicht den sich selbst tragen-den Aufschwung erreichen konnte. Der Zeitbedarf fürDr. Michael Luther
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1059
(C)
(D)
das Ingangkommen eines nachhaltigen und sich selbsttragenden Wachstumsprozesses ist von der alten Bun-desregierung eindeutig unterschätzt worden. Diese Un-terschätzung hat bei manchen die Vorstellung aufkom-men lassen, es bedürfe nur eines einmaligen und zeitlicheng begrenzten Kraftaktes für Ostdeutschland. DieseFehleinschätzung war auch ein Grund dafür, daß wir ge-fordert haben, den Aufbau Ost zur Chefsache zu ma-chen. Die Bürgerinnen und Bürger sahen das genauso.Das Aufbauprogramm Zukunft Ost ist jetzt Chefsache.Bei unserem Ziel, die deutsche Einheit zu vollenden,attestiert der Sachverständigenrat der neuen Bundesre-gierung denn auch die realistische Vorstellung, daß derAufbau noch längere Zeit in Anspruch nehmen wird.Dies liegt – so der Sachverständigenrat –im Sinne einer auf Schaffung günstiger Wachs-tumsbedingungen gerichteten langfristig orientier-ten Politik.Genau das ist unsere Politik. Die von taktischem Kalkülgeprägten kosmetischen Eingriffe der Kohl-Regierung,zum Beispiel bei der Arbeitsmarktpolitik, sind nicht un-sere Art. Schon gar nicht ist es unsere Art, wie CSU-Staatsminister Huber den Solidarpakt aufkündigen zuwollen.
Mit dieser Äußerung ist das Grundvertrauen der ostdeut-schen Länder erschüttert worden. Die Vollendung derdeutschen Einheit kann nicht vom Wohlverhalten derostdeutschen Länder im Sinne einer christlich-sozialenIdeologie abhängig gemacht werden.
Das Wort vom „Kommunismus-Aufbau Ost“ kenn-zeichnet eine erbärmliche Profilsuche der CSU mit denMitteln der Angst, ausgetragen auf dem Rücken derMenschen in Ostdeutschland und im höchsten Maße ab-schreckend für investitionswillige Unternehmen. BeimAufbau Ost ist eine langfristig orientierte Strategie dasMaß, und Kontinuität und Nachhaltigkeit sind das er-klärte Prinzip unserer Politik. Erst das schafft Vertrauenund Planungssicherheit bei den Ländern, bei den Bür-gern und bei den Investoren.Unisono berichten die Wirtschaftsförderungsgesell-schaften im Osten von einem wieder wachsenden Inter-esse ausländischer mittelständischer Unternehmen.Warum ist das so? Weil sich erstens die ostdeutschenLänder bemühen, die bürokratischen Hürden überwind-bar zu machen, weil zweitens die meisten investitions-willigen ausländischen Mittelständler hochqualifizierteund flexible Mitarbeiter in Ostdeutschland finden, weildrittens Ostdeutschland innerhalb der Euro-Zone einespannende Region mit vielen Marktchancen ist und weilviertens die ausländischen Investoren lieber auf verläßli-che wirtschaftliche Rahmenbedingungen und High-Tech-Infrastrukturen als auf Billigstandorte in politischinstabilen Ländern Wert legen.Aber auch das heimische verarbeitende Gewerbevermeldet eine weiterhin erfreuliche Entwicklung beiden Auftragseingängen, und der Kreis der ostdeutschenIndustrieunternehmen, die ihre geschäftliche Situationals gut bezeichnen, hat sich vergrößert. Zudem gelingtes den Unternehmen mehr und mehr, sich auf Inlands-märkten, aber auch auf den internationalen Märkten zubehaupten.Neben diesen Auftriebskräften wirken sich aber nochimmer vorhandene strukturelle Defizite wachstums-hemmend aus – Defizite, die Kontinuität beim AufbauOst weiterhin erforderlich machen. Noch immer ist dieindustrielle Basis in Ostdeutschland zu schmal, der Ka-pitalstock zu niedrig und die Produktivitätslücke zugroß. Darüber hinaus drückt die Lage am ostdeutschenBau auf das gesamtwirtschaftliche Wachstumsergebnisin Ostdeutschland.Zur Illustration: Während das reale Bruttoinlandspro-dukt in den neuen Ländern 1994 die sehr erfreulicheWachstumsrate von 9,6 Prozent aufwies, verstetigte sichdieser Trend leider nicht, sondern sank, unter anderembedingt durch die Lage am Bau, bis zum ersten Halbjahr1998 auf nur 1,8 Prozent. Hier muß dringend gegenge-steuert werden! Mit einem neuen Bündnis für Arbeit, derSenkung der Lohnnebenkosten und der geplanten Redu-zierung bei den Unternehmenssteuern, die sich im inter-nationalen Vergleich durchaus sehen lassen können, hatdie neue Bundesregierung wichtige Eckpfeiler für diewirtschaftliche Entwicklung gesetzt. Diese Politik istweder dirigistisch noch interventionistisch. Vielmehrsind diese Eckpunkte Ausdruck einer ausgewogenen an-gebots- und nachfrageorientierten Politik
– einer Politik also, die die Investitionskraft von Unter-nehmen und die Kaufkraft von Arbeitnehmern glei-chermaßen stärkt.Für den Aufbau Ost sind erste Maßnahmen auf denWeg gebracht.Erstens. Wir haben die Bundesleistungen für denAufbau Ost stabilisiert. Mit 100 Milliarden DM im Ver-gleich zu 91 Milliarden DM im Vorjahr hat die Regie-rung im Bundeshaushalt in bezug auf die neuen Ländereinen deutlichen finanziellen Schwerpunkt gesetzt.Zweitens. Das Sofortprogramm zur Schaffung von100 000 zusätzlichen Stellen für Jugendliche ist auf-gelegt worden. Gerade in Ostdeutschland sind jungeMenschen unter 25 Jahren von der Arbeitslosigkeit be-sonders hart betroffen. Die Arbeitslosenquote bei dieserPersonengruppe stieg in Ermangelung einer aktiven Ar-beitsmarktpolitik der alten Regierung immer weiter an.Wir haben jetzt 2 Milliarden DM bereitgestellt. Gestütztauf das Sonderprogramm „Lehrstellen Ost“ werden indiesem Jahr zusätzlich 15 000 Jugendliche eine außer-betriebliche Ausbildung erhalten. Das haben wir ver-sprochen, und wir haben Wort gehalten.
Drittens. Zur Verstetigung der aktiven Arbeits-marktpolitik stehen im Haushaltsentwurf 1999 derSabine Kaspereit
Metadaten/Kopzeile:
1060 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
Bundesanstalt für Arbeit über 20 Milliarden DM be-reit.Viertens. Die Arbeit der BvS wird nicht abgebro-chen, sondern in Abhängigkeit von den zu erledigendenAufgaben zu Ende geführt. Jetzt wird es darauf ankom-men, daß die BvS ihre Möglichkeiten effektiv nutzt.Fünftens. Der Solidarpakt von 1993 bleibt als finan-zielles Rückgrat des wirtschaftlichen Aufbaus der neuenLänder unangetastet.Sechstens. Die Investitionsvorrangregelung wurdeüber 1998 hinaus verlängert, um die Bereinigung weite-rer noch offener Vermögensfragen nicht zu behindernund um Planungssicherheit bei den Kommunen und In-vestoren zu schaffen.Siebtens. Das Investitionszulagengesetz konntepünktlich am 1. Januar 1999 in Kraft treten und die För-derlücke nach Auslaufen der Sonderabschreibungennach dem Fördergebietsgesetz somit verhindert werden.Achtens. Die Finanzhilfen für die ostdeutschenKrankenkassen werden über das Jahr 2000 hinaus ge-währt und sind damit wichtige Voraussetzungen für dasfinanzielle Überleben der Ostkrankenkassen.Die genannten acht Punkte sind erste Schritte in dierichtige Richtung und Ausdruck unserer langfristig ori-entierten Strategie, die von Kontinuität und Nachhaltig-keit getragen wird. Wir haben das alles in kürzester Zeitauf den Weg gebracht. Hier haben Finanzminister La-fontaine und Staatsminister Schwanitz solide Arbeit ge-leistet. Das wird auch in Zukunft so sein.
Es reicht uns einfach nicht, nur die Defizite der altenBundesregierung auszugleichen. Wenn der Aufbau OstChefsache ist, dann muß er auch die nachhaltige Kon-solidierung der ostdeutschen Wirtschaft zum Ziel ha-ben.
Der Aufbau einer gesunden Wirtschaftsregion muß mitallen Mitteln unterstützt werden.Es stimmt mich zuversichtlich, wenn aus dem Kabi-nett zu vernehmen ist, daß der Haushalt 1999 diesemZiel Rechnung trägt. Ein Beispiel: Wenn es nach der al-ten Regierung gegangen wäre, wäre das Wohnraummo-dernisierungsprogramm der KfW ausgelaufen. Die neueRegierung möchte statt dessen das Programm aufstok-ken, und wir können mit unserer Zustimmung dazu bei-tragen, daß der Bausektor nicht noch weitere Dämpfun-gen erfährt.
Zu einer gesunden Wirtschaftsregion gehören beispiels-weise auch die Ansiedlung und Stärkung produktions-orientierter Dienstleistungsunternehmen, die mittel- undlangfristig mehr Arbeitsplätze versprechen.Wir werden auch weiterhin darauf zu achten haben,daß der Anteil der Auftragsvergaben des Bundes anUnternehmen in den neuen Ländern auf hohem Niveauerhalten bleibt. Es wird ferner darum gehen, die Voraus-setzungen dafür zu schaffen, daß neue Unternehmenentstehen. Unter „Voraussetzungen“ verstehe ich bes-sere Startbedingungen durch unternehmensorientierteBegleitung seitens der Banken, unbürokratische Ver-waltungen und transparente Förderpolitik. Wir werdeneine Lösung finden müssen, um den Standortnachteil,der sich aus der Strompreisdifferenz zwischen den altenund den neuen Ländern ergibt, zu beheben.Meine Damen und Herren, der wirtschaftliche Auf-bau in den neuen Ländern darf nicht als Last empfundenwerden. Der Aufbau Ost ist vielmehr eine Chance fürdie gesamtwirtschaftliche Entwicklung Deutschlands inEuropa, die wir sehr ernst nehmen müssen.
Die dafür im Haushalt erfreulicherweise eingestelltenMittel dürfen nicht Manövriermasse mit Drohpotentialfür profilierungssüchtige Politiker aus der südlichenProvinz unseres Landes sein. Das ist ein Grund mehr,über das Wahlergebnis vom 27. September froh zu sein.
Begreifen und ergreifen wir die Chance, die der wirt-schaftliche Aufbau der neuen Länder uns allen gibt!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-sprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlageauf Drucksache 14/73 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 4 a und bund den Zusatzpunkt 2 auf: 4a) Erste Beratung des von den Abgeordneten RainerFunke, Dr. Guido Westerwelle, Ulrich Heinrich,weiteren Abgeordneten und der Fraktion derF.D.P. eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes
– Drucksache 14/207 –
Bulling-Schröter, Dr. Ruth Fuchs, Kersten Nau-mann und der Fraktion der PDS eingebrachtenSabine Kaspereit
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1061
(C)
(D)
Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des
– Drucksache 14/279 –
Unsere Freude hindert uns aber nicht daran, noch einmalkritisch anzumerken, daß es die damalige Koalition inder letzten Legislaturperiode durch vielerlei Geschäfts-ordnungstricks geschafft hat, daß dieses Thema im Ple-num und in den Ausschüssen nicht abschließend beratenwurde. Ich denke, jetzt haben wir eine gute Chance, diewir gemeinsam wahrnehmen müssen.Der Kollege Heinrich hat, wenn meine Informationenrichtig sind, in einer Pressekonferenz mitgeteilt, daß dieF.D.P. keinen weiteren Beratungsbedarf sieht. Mich hatdas sehr gewundert; denn ich habe die Ausreden aus derletzten Legislaturperiode noch sehr gut im Gedächtnis,wonach immer wieder darauf verwiesen wurde: Es gibtnoch Beratungsbedarf, wir können nicht abschließendberaten, deswegen vertagen wir. Aber vielleicht ist manzu der Erkenntnis gekommen – jeder hat noch einmaldie Auswertung der Anhörungen nachlesen können –,daß man jetzt eine andere Grundlage der Beratung hat.Ich freue mich, daß wir jetzt eine Chance haben, denTierschutz als Staatsziel in das Grundgesetz aufzuneh-men. Denn der Kollege Heinrich hat auf der Pressekon-ferenz ebenfalls mitgeteilt, daß es mittlerweile auch beiden Kollegen der CDU/CSU – wenigstens bei denen imAgrarausschuß – ein bißchen Bewegung gegeben hat.
Vielleicht können wir gemeinsam daran arbeiten.Liebe Kollegen und Kolleginnen der F.D.P, wir wer-den genau aufpassen, ob Sie das alles ernst meinen oderob Sie dieses Thema nur benutzen, um auf Stimmenfangbei den zukünftigen Wahlen zu gehen.
– Das ist gut. Dann können wir sehr ordentlich arbeiten.– Wenn das eben Gesagte alles so richtig ist, dannkommen wir dem Ziel einer grundgesetzlichen Absi-cherung des Tierschutzes ein entscheidendes Stück nä-her. Es liegt an Ihnen, meine Damen und Herren von derUnion, dem Mehrheitswillen der Bevölkerung in dieserFrage zum Durchbruch zu verhelfen.Die SPD-Bundestagsfraktion hält ihr Versprechen.
Wir haben vor der Wahl angekündigt, dieses Themaunmittelbar nach der Wahl erneut auf die Tagesordnungzu setzen. Dieses Versprechen haben wir gehalten: Wirlegen heute zusammen mit der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen einen Entwurf vor. Es freut mich, daß auch derBundesrat wieder eine Initiative zur grundgesetzlichenAbsicherung des Tierschutzes unternimmt.Natürlich weiß ich, daß wir ohne Ihre Zustimmungdie nötige Zweidrittelmehrheit für eine Grundgesetz-änderung nicht erreichen werden. Natürlich weiß ich,daß unsere Initiative ohne Ihre Mitarbeit hinsichtlich desGesetzgebungsvorgangs ins Leere laufen muß. Wir re-spektieren, daß es in dieser Frage andere Ansichten gibt.Wir respektieren auch, daß diese Ansichten interessen-geleitet sind. Aber wir respektieren nicht – und könnenes auch nicht respektieren –, wenn die Diskussionkünstlich in die Länge gezogen wird, weil man einerEntscheidung ausweichen will.Die parlamentarische Diskussion über ein StaatszielTierschutz läuft seit 1992. Die Argumente dafür und da-gegen sind genügend oft genannt und bewertet worden.Neue Argumente gibt es kaum. Deshalb ist es an derZeit, endlich zu einem positiven Abschluß zu kommen.Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, wollen diesen positi-ven Abschluß. Und wir sind bereit, in den Beratungenüber die unterschiedlichen Gesetzentwürfe berechtigteBedenken zu berücksichtigen und einen allgemein kon-sensfähigen Vorschlag zu erarbeiten.
Wir wollen das Staatsziel Tierschutz nicht, weil wir demTierschutz plötzlich einen höheren Rang zuerkennenwollen als anderen Grundrechten. Wer diese Gefahr be-schwört, handelt unverantwortlich oder fahrlässig. Wirwollen, daß der Tierschutz in Zukunft annähernd gleich-Vizepräsidentin Petra Bläss
Metadaten/Kopzeile:
1062 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
gewichtig neben anderen durch die Verfassung garan-tierten Rechten steht.Wir wollen, daß in der Konkurrenz zwischen denGrundrechten auf Forschungsfreiheit, auf Lehrfreiheit,auf Kunstfreiheit und dem Tierschutz die Abwägung inZukunft auf einer Rechtsebene stattfindet und nicht zwi-schen dem hohen Verfassungsrecht einerseits und demeinfachgesetzlichen Tierschutzrecht andererseits. Wirwollen Waffengleichheit herstellen, also die Lanzengleich lang machen.Lassen Sie mich das an einem – zugegebenermaßenrecht krassen – Beispiel deutlich machen: Da wird eineKünstlerin freigesprochen, nachdem sie bei einem Hap-pening einen Wellensittich in Mayonnaise getaucht hat.Argument der Richter: Zwar sei der Tatbestand derTierquälerei nicht zu bestreiten, doch sei die Kunstfrei-heit grundgesetzlich geschützt, während der Tierschutznur in einem einfachen Gesetz geregelt sei.
Auch wenn es sich dabei nur um einen „Ausrutscher“handeln sollte, dann zeigt er doch, zu welchen empören-den Konsequenzen die Tatsache führen kann, daß hierVerfassungsrecht mit dem einfachen Gesetz kollidiert.
Die gewünschte Folge der geforderten Verfas-sungsänderung wäre, daß das Gericht eine Güterabwä-gung zwischen verschiedenen, sich im konkreten Fallwidersprechenden Grundrechtsgütern vornehmen müßte– in diesem Fall zwischen der Freiheit der Kunst einer-seits und dem Recht des zum Objekt eines Happeningsgemachten lebenden Tieres andererseits. Diese Kon-fliktlage läßt sich auch mit anderen Beispielen belegen,von denen natürlich die, in denen es um die Forschungs-und Lehrfreiheit geht, die häufigsten und die umstritten-sten sind.Aber es ist doch einfach nicht hinnehmbar, daß hin-sichtlich der ethischen Vertretbarkeit von Tierversuchender den Antrag prüfenden Behörde keine eigene ethischeBewertung gestattet ist, sondern sozusagen nur einePlausibilitätskontrolle des Vorbringens des Tierexperi-mentators, weil auch hier die verfassungsrechtlich ga-rantierte Forschungsfreiheit Vorrang vor den entspre-chenden Regelungen des Tierschutzgesetzes habe.Das oft gebrauchte Argument von Wissenschaftlernund Industrie, daß mit einem Staatsziel Tierschutz derWirtschafts- und Forschungsstandort Deutschland inGefahr gerate, stimmt so nicht. Ich will daran erinnern,daß es in der Schweiz Wissenschaft gibt, daß es in derSchweiz Wissenschaftler gibt und daß es in der Schweiznoch Tierversuche gibt, obwohl der Tierschutz dort Ver-fassungsrang hat. Das sollte angesichts des so gern ge-brauchten Menetekels von einer „WissenschaftswüsteDeutschland“ zur Vorsicht gemahnen.Ein Staatsziel Tierschutz kann und soll nach unseremVerständnis nicht das Werkzeug sein, mit dem zum Bei-spiel die Möglichkeit, Tierversuche durchzuführen, aus-gehebelt wird. Es soll und wird aber erhöhte Anforde-rungen an die Abwägung zwischen Tierschutz und Tier-nutzung stellen. Es soll und wird die Abwägung ver-schärfen. Das, so denke ich, wollen wir alle. Vor diesemHintergrund sollte, so meine ich, die durchaus verständ-liche Angst, der Gesetzgeber würde die Forschung miteinem solchen Staatsziel in unzuträglicher Weise zügeln,durch die Klarstellung der gesetzgeberischen Motiveminimiert werden können.Ich sage es noch einmal, weil es mir wichtig ist: Esgeht nicht um eine Entwertung von Menschenrechten.Es geht lediglich um die Einschränkung von Grund-rechten da, wo es um der Mitgeschöpflichkeit des Tiereswillens geboten ist.Daß die verfassungsrechtliche Absicherung des Tier-schutzes überfällig ist, wird nicht nur durch eine Forsa-Umfrage von 1993, wonach 84 Prozent aller Deutschendie Festschreibung des Tierschutzes in der Verfassungwünschen, sondern auch durch eine Reihe von Gerichts-urteilen aus der jüngsten Zeit belegt, in denen der Tier-schutz hinter vorbehaltlos gewährten Grundrechten zu-rückstehen mußte.Das Thema ist ein Politikum von hohem Rang. Dar-über sind sich alle Mitglieder dieses Hauses einig. DieBevölkerung ist durch die intensive Medienberichter-stattung über unvertretbare Methoden in der Tierhaltung,bei Tiertransporten, bei Tierexperimenten usw. hochgra-dig sensibilisiert. Der Tierschutz ist zu einer Sache unse-rer Humanität geworden, zu einer Anfrage an unserpolitisch-moralisches Selbstverständnis. Der Tierschutzist eine Aufgabe, der sich unsere Gesellschaft annehmenund der sie Verfassungsrang geben muß.Art. 20 a des Grundgesetzes reicht aber dazu nichtaus. Gerade in den kritischen Bereichen, in denen einverfassungsrechtlich festgeschriebener Tierschutz drin-gend geboten ist, etwa bei der Intensivtierhaltung, beiden Tiertransporten, beim Tierhandel, hat das StaatszielUmweltschutz keine Verbesserung für den Tierschutzgebracht. Denn – so ein Jurist – „die Rechtsprechungverlangt, daß Tierschutz gesagt wird, wenn Tierschutzgemeint ist“.Den heute eingebrachten Gesetzentwurf sehe ich alsAngebot zu einer konsensfähigen Lösung. Dieser Kon-sens ist nicht nur wegen der erforderlichen Zweidrittel-mehrheit nötig, er gebietet sich auch in der Sache. Wennes um das Grundgesetz geht, also um das normativeFundament unseres demokratischen und sozialenRechtsstaates, ist es unabdingbar, einen Konsens in denmoralischen Grundfragen herbeizuführen. Aber eineFormulierung nach dem Motto „Es muß etwas gesche-hen, aber es darf nichts passieren“ dürfen wir der Bevöl-kerung nicht zumuten. Wir sind nicht gewählt worden,um symbolische Politik zu machen.Liebe Kollegen und Kolleginnen, ich appelliere anSie alle, sich einer grundgesetzlichen Absicherung desTierschutzes nicht länger zu verweigern.
Marianne Klappert
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1063
(C)
(D)
Befürchtungen vor einer inflationären Tendenz bei denStaatszielen sind unbegründet.
Wir sehen in einem Staatsziel Tierschutz nur die not-wendige Ergänzung zum Staatsziel Umweltschutz inArt. 20 a GG.Lassen Sie mich zum Schluß den Ethiker Nida-Rümelin zitieren, der schon 1994 bei einer SPD-Veranstaltung folgendes gesagt hat:Das Grundgesetz darf nicht zu einer Barriere wer-den, welche die notwendige Fortentwicklung desRechtssystems in Richtung einer vermehrten Rück-sichtnahme auch gegenüber nichtmenschlichen In-teressen bindet.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner ist
jetzt der Kollege Norbert Röttgen, CDU/CSU.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich glaube, wir
können – das ist auch gut so – zu Beginn der Debatte
feststellen, daß es in bezug auf den Tierschutz in unse-
rem Land einen ganz breiten gesellschaftlichen Kon-
sens gibt.
Der Tierschutz ist fester Bestandteil unserer Rechtsord-
nung. Tierschutz gehört – das hat Frau Klappert völlig
zu Recht gesagt – zu einer humanen Gesellschaft. Für
Christen sind die Tiere Teil der Schöpfung und haben
daher eine eigene Würde. Kein vernünftiger Mensch in
unserem Land, der Herz und Verstand hat, ist gegen
Tierschutz. Das zu Beginn festzustellen ist, glaube ich,
richtig.
Aber so paradox es auf den ersten Blick klingt: Gera-
de weil das Thema Tierschutz ein Thema ist, über das
Konsens herrscht, gerade weil es so hohe Zustimmung
erfährt, streiten wir über die Einführung eines Staatsziels
Tierschutz in das Grundgesetz. Denn das wahre Motiv
– das muß hier ausgesprochen werden –, warum alle
Fraktionen, bis auf die CDU/CSU, solche Gesetzentwür-
fe vorlegen, ist ein rein parteitaktisches Kalkül.
Indem das emotionale Konsensthema des Tierschutzes
mit einer plakativen Forderung versehen wird, wird ver-
sucht, dieses Thema parteipolitisch zu okkupieren und
den Konsens parteipolitisch und parteitaktisch auszu-
schlachten. Herr Westerwelle, Sie wissen es ganz genau:
Es ist eine reine Marketingveranstaltung, die Sie hier
betreiben – allerdings auf Kosten der Verfassung.
Das ist eine bedauerliche Sache, gerade bei den Libera-
len. Sie machen eine reine PR-Kampagne.
Sie betreiben parteipolitisches Trittbrettfahren.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Eva Bul-
ling-Schröter?
Ja, bitte.
– Ich sage es insbesondere dem Generalsekretär. Ich
werde das gleich noch konkretisieren und ihm ein paar
Aussagen vorhalten.
Herr Kollege Röttgen,
können Sie mir sagen, warum der Tierschutz ausgerech-
net in die bayerische Verfassung aufgenommen wurde,
und zwar mit den Stimmen der CSU? Ist es so, daß die
CSU in Bayern gerade bei diesem Thema besonders
populistisch war?
Ich kann Ihnen ganzoffen sagen, warum immer mehr Parlamente den Tier-schutz in ihre Landesverfassungen aufnehmen. Die Ge-setzgebungskompetenz beim Thema Tierschutz liegt inwesentlichen Fragen allein beim Bund. Darum sind dieentscheidenden Regelungen auch in Bundesgesetzen– inklusive des Grundgesetzes – festzulegen. Wenn manden Tierschutz in eine Landesverfassung aufnimmt,dann ist das ein Bekenntnis zum Tierschutz, das ohnenormative Folgen ist. Es ist ein wirkungsloses Bekennt-nis, allemal wenn es in der Landesverfassung steht, aberauch dann, wenn es in der Bundesverfassung verankertist.Ich jedenfalls bin stolz darauf, daß die CDU/CSU indiesem Parlament die einzige Fraktion ist,
die sich diesem parteitaktischen Kalkül widersetzt.
Wir tun das vor dem Hintergrund einer intensiven Be-ratung in der letzten Legislaturperiode.
Marianne Klappert
Metadaten/Kopzeile:
1064 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
Der Tierschutz war bei uns kein Streitthema; die F.D.P.war inhaltlich immer auf unserer Seite. Ich werde Ihnengleich die Aussagen der Sachverständigen vorhalten, dieSie benannt haben.Wir haben in den letzten vier Jahren eine intensiveBeratung geführt. Wir hatten im Rechtsausschuß eineAnhörung mit Experten, Naturwissenschaftlern, Juri-sten und engagierten Menschen. Da hat es klare Ergeb-nisse gegeben. Nach dieser Anhörung gibt es keinenZweifel daran, daß die Aufnahme des Tierschutzes indie Verfassung, daß der Tierschutz als Staatsziel für denTierschutz wirkungslos und für die Verfassung schäd-lich ist. Dieses klare Ergebnis konnten wir verzeichnen.
Ich will hier konkret werden, weil immer die gleichenArgumente vorgetragen werden. Das erste Argument ist– dies wird gerade von der F.D.P. und ihrem Generalse-kretär in der Presse angeführt –, man müsse den Tier-schutz in die Verfassung aufnehmen, damit man eineHandhabe gegen Quältransporte, gegen Tiertransportehabe. Das hat der Generalsekretär ausdrücklich gesagt.
Das ist ohne jeden Zweifel eine Falschaussage, eine ab-solut fehlerhafte Aussage; denn die Tiertransporte sinddurch europäisches Recht geregelt. Es handelt sich nichtum einen Regelungsgegenstand des nationalen Rechts.Es sind europäische Rechtsakte, die den Tiertransportregeln – übrigens mit einer erfreulichen europaweitenTendenz für mehr Tierschutz. Unsere hohen nationalenStandards europaweit auszudehnen ist der beste Tier-schutz. Das heißt, das Staatsziel im Grundgesetz hat ju-ristisch nichts mit den Tiertransporten zu tun.
Wenn man über die Rechtsakte der EG hinausgehenwill, dann kann man natürlich auch das nationale Rechtnoch verschärfen – das ist möglich –, allerdings nicht imGrundgesetz, sondern durch eine Verordnung. Die Ver-ordnung zu Tiertransporten muß verändert werden. Mankann in vielen Fällen mit Verordnungen politisch vielwirksamer handeln als mit der Schrotflinte, das heißt,wenn man etwas im Grundgesetz regelt. Aber konkretesHandeln ist ja nicht gewollt. Gewollt ist die PR-Kampagne.Als wir im Ausschuß sachverständig, vernünftig undruhig über dieses Thema diskutiert haben, wurde das garnicht bestritten.
Das Thema Massentierhaltung ist das zweite Argu-ment, das vorgetragen wird, um den Tierschutz imGrundgesetz zu verankern. Auch diese Argumentationist schlicht und ergreifend falsch. Wenn die Bundesre-gierung in bezug auf die Massentierhaltung verschärfteMaßnahmen ergreifen will, muß sie eine entsprechendeVerordnung erlassen. Dort, wo Sie handeln können,werden wir Sie messen. Sie sollten keine Lippenbe-kenntnisse abgeben.Das eigentliche Problem ist: Wir können die natio-nalen Vorschriften natürlich weiter verschärfen; das istrichtig und auch sehr sympathisch, führt aber in einwirtschaftliches Dilemma: Wir müssen dann nämlichbefürchten, daß die Unternehmen, die Tierhaltung be-treiben, Deutschland verlassen werden.
Es ist eine Frage der Abwägung, dann in andere Länderzu gehen, insbesondere auch in die osteuropäischenLänder, wo natürlich ein unvergleichbar geringeres Ni-veau des Tierschutzes herrscht. Ob man damit dem Tier-schutz einen Gefallen tut – –
– Da braucht man gar nicht so herumzuschreien.
– Herr Bachmaier!
– Darf man vielleicht einmal ein Argument zu Ende füh-ren?
Es ist eine nüchterne Abwägung: Wie erreicht mandas höchste Niveau des Tierschutzes in Anbetracht desProblems, daß es dann zu Verlagerungen aus Deutsch-land kommt und dem Tierschutz ein schlechter Diensterwiesen wird?Auch dieses zweite Argument ist also falsch. DasStaatsziel hat mit dieser Problematik nichts zu tun, wiealle wissen, die sich mit diesem Thema befaßt haben.Das dritte Argument lautet: Wir haben im Grundge-setz vorbehaltlose Grundrechte, das heißt Grundrechteohne einen Gesetzesvorbehalt: die Religionsfreiheit, dieGlaubensfreiheit, die Kunstfreiheit, die Wissenschafts-freiheit, fundamentale Persönlichkeitsrechte. Frau Klap-pert sagte eben, Sie wollen sie einschränken. Dazu ma-che ich drei Feststellungen.Erstens. Ich finde es für eine liberale Partei bemer-kenswert, daß sie einen gezielten Angriff auf vorbe-haltslose Grundrechte führen möchte, denn offensicht-lich ist ihr Ziel, Grundrechte einzuschränken.
Liberal sind Sie nur da, wo es opportun ist.Zweitens ist die Behauptung, man brauche das, ummit den vorbehaltlosen Grundrechten zu Rande zukommen, unehrlich und sachlich falsch.
Sie ist politisch unehrlich deshalb, weil man, wenn manbeklagt, daß es dort keinen Gesetzesvorbehalt gibt, dannnicht die Einfügung eines Staatsziels beantragen muß,Norbert Röttgen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1065
(C)
(D)
sondern daß den Grundrechten ein Gesetzesvorbehaltbeigegeben wird.
Dann wird diesem Mangel abgeholfen, Frau Klappert,nicht durch ein Staatsziel.Es ist unbestritten, daß ein Staatsziel nicht die Fähig-keit hat und haben kann, ein vorbehaltlos gewährleiste-tes Grundrecht einzuschränken. Ich freue mich darüber,daß Sie zustimmend nicken. Bringen Sie es auch einmalunseren Kollegen von der F.D.P. bei. Die sind nochnicht auf diesem Diskussionsniveau, weil sie es unteranderem aus anderen Aspekten betrachten. Die Libera-len tragen also eine zutiefst unehrliche Argumentationvor.Es ist auch eine sachlich falsche Argumentation, wiealle Staatsrechtler in der Anhörung vorgetragen haben.Natürlich kann das Bundesverfassungsgericht nach vie-len Jahrzehnten Tätigkeit mit vorbehaltslosen Grund-rechten dogmatisch umgehen. Es gibt die immanentenSchranken der vorbehaltslosen Grundrechte, die derGesetzgeber sichtbar machen kann. Er hat sie im Tier-schutzgesetz sichtbar gemacht. Wenn das, was Sie sa-gen, stimmt, wäre das Tierschutzgesetz verfassungswid-rig,
denn im Tierschutzgesetz steht, daß Tierversuche nurgemacht werden dürfen, wenn sie unerläßlich sind. DasTierschutzgesetz wäre verfassungswidrig, wenn das kei-ne immanente Schranke unter dem Gesichtspunkt desTierschutzes ist.
Im Tierschutzgesetz steht, daß Tierversuche nur unter-nommen werden dürfen, wenn sie im Hinblick auf ihrenZweck ethisch vertretbar sind. In welchen anderen Ge-setzen gibt es einen solchen Begriff, „ethische Vertret-barkeit“? Es ist eine massive Einschränkung, eine im-manente Schranke der vorbehaltslosen Grundrechte.Staatsziele haben damit nichts zu tun.Das dritte Argument, das vorgetragen worden ist, istalso unehrlich und falsch.Darum, meine Damen und Herren, steht fest: DieAufnahme des Staatsziels ist für den Tierschutz wir-kungslos. Allein das reicht schon aus, um die Aufnahmein das Grundgesetz abzulehnen. Wir wollen keine ge-schwätzige Verfassung, in der alle möglichen Kon-sensthemen stehen.
Wir wollen keine rhetorische Verfassung. Wir wolleneine normativ wirksame Verfassung.Aber es ist nicht nur wirkungslos, sondern es ist auchschädlich. Es ist für unsere Verfassung und für unsereDemokratie schädlich. Beim Tierschutz ist entscheidend,daß er eine Frage der politischen Bewertung ist: Wie-viel Tierschutz wollen wir? Wie wollen wir die Kon-flikte lösen, die ich eben zum Teil beschrieben habe?Das ist eine politische Wertung. Wenn man Fragen poli-tischer Wertungen über den Weg des Staatsziels in dasGrundgesetz aufnimmt, dann macht man aus einer poli-tischen Frage eine rechtliche Frage, man entmachtet dasParlament. Das führt zu einer Politisierung des Rechts,das führt dazu, daß Fragen politischer Wertung nichtmehr im Parlament, wohin sie gehören, entschiedenwerden, sondern vor Gerichten.
– Nein, das ist nicht der Untergang des Abendlandes,Frau von Renesse, aber der tiefe demokratische Grund,warum die Väter und Mütter des Grundgesetzes eine be-gründete Ablehnung gegen Staatsziele hatten. Sie woll-ten, daß politische Fragen im Parlament entschiedenwerden. Sie waren gegen die Politisierung der Verfas-sung.
Das führt auch zur Rechtsunsicherheit. Sowohl dieVertreter der Grundlagenforschung in Deutschland, alsauch die Vertreter der pharmazeutischen Wirtschaft – siewurden als Sachverständige bei der Anhörung von derF.D.P. benannt – haben sich eindeutig gegen diesesStaatsziel ausgesprochen, nicht wegen der rechtlichenWirkung, die ja nicht da ist, sondern wegen der fakti-schen Unsicherheit, weil nun politische Fragen vor Ge-richten entschieden werden. Das ist ein Unsicherheits-faktor für die Grundlagenforschung und für die pharma-zeutische Wirtschaft. Das wollen auch wir nicht. Wirwollen Wissenschaft und Forschung in Deutschland be-halten und sie nicht psychologisch, durch faktische Wir-kungen verunsichern.
Das letzte Argument rührt an die Frage: Warum ha-ben eigentlich die Mütter und Väter des Grundgesetzesvon den Staatszielen Abstand genommen? Ich habe eseben gesagt: aus gewaltenteilenden Gründen. Das isteine tiefe demokratische Einsicht. Aber es stellt sichauch die Frage: Was für eine Verfassung wollen wir ei-gentlich? Wollen wir das Bonner Grundgesetz, das sichals eine Verfassung mit konkretem normativen Gehaltbewährt und entwickelt hat, eine Verfassung, die hält,was sie verspricht, die einklagbare Rechte gibt? Dafürsind wir als CDU/CSU. Oder wollen wir eine Verfas-sung, die vollgestopft ist mit Rhetorik, mit Willensbe-kundungen, mit schönen Sätzen, die völlig wirkungslossind?
Wir wollen die schlanke Verfassung, die einklagbareRechte gibt. Wir wollen eine Verfassung, die das hält,was sie verspricht.
Norbert Röttgen
Metadaten/Kopzeile:
1066 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
Darum, meine Damen und Herren, müssen wir hierim Parlament eine Abwägung treffen, eine Abwägungzwischen der klaren Sach- und Rechtslage, der Wir-kungslosigkeit des Tierschutzes als Staatsziel, derSchädlichkeit für die Verfassung,
und dem parteitaktischen Nutzen. Es geht darum, ob Siesagen: Wir gehen schlecht mit der Verfassung um, aberes nutzt unserer Partei, es nutzt der F.D.P., wenn sie sichjetzt an die Spitze dieser Bewegung setzt. Ob die Ver-fassung ein bißchen leidet, ist nicht so wichtig. Wir, dieF.D.P., die Parteien generell sind wichtiger als die Ver-fassung. – Das ist das Ergebnis Ihrer Abwägung, zu demSie nach dieser Legislaturperiode gekommen sind, mei-ne Damen und Herren.
Ich bin dafür, daß sich die Parteien weiter profilieren,daß sie ihre Punktsiege machen. Aber die CDU/CSU-Fraktion appelliert: Suchen wir den kleinen parteipoliti-schen Punktsieg nicht in der Verfassung! Profilieren wiruns, aber verschonen wir unsere Verfassung bei diesenProfilierungsbemühungen! Sie kennen diese Grenze of-fensichtlich nicht mehr. Die CDU/CSU hält die Verfas-sung für ein zu hohes Gut, als daß sie für kleine partei-taktische Profilierungen herhält. Wir würden unsereVerantwortung auch als Verfassungsgesetzgeber verlet-zen, wenn wir so wie Sie mit der Verfassung umgingen.Darum bleiben wir bei unserem Nein gegen diesePR-Kampagne.Danke sehr.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat jetzt
die Kollegin Ulrike Höfken, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehrgeehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Präsiden-tin! Herr Röttgen, wir haben schon einmal vor tausendTierschützern gesessen. Das wünsche ich Ihnen dem-nächst wieder. Tierschutz als Geschwätz, das ist letzt-endlich Ihre Aussage. Sogar Ihr Abgeordneter Scholzhat den Tierschutz nach all dem, was er darüber gesagthat, in die Verfassung aufnehmen wollen. Er sah das nurrealisiert in Art. 20 a Grundgesetz, im Umweltschutz.Aber nach all den Gerichtsurteilen, die es gegebenhat, müssen wir doch zu dem Schluß kommen, daß die-ses Vorhaben nicht gelungen ist, daß es eines Schrittesbedarf, die Verfassung in diesem Punkt zu ergänzen.Wir werden Sie sicher noch bei weiteren Beschlüssenzum Thema Tierschutz beim Wort nehmen können,wenn Sie sich dafür hier derartig in die Bresche werfen,– scheinbar.Sie tun ja gerade so, als ob es sich hier um VatisDackel drehen würde, obwohl auch dieses Zuchtergeb-nis mit den kurzen Beinen und dem krummen Rückensicher leidet und kritisch zu bewerten ist. Aber es gehtum etwas ganz anderes. Bei diesem Gesetzentwurf gehtes darum, eine notwendige, wichtige Debatte um die ge-sellschaftliche Bewertung von Eingriffen des Men-schen in die Umwelt, die Mitwelt und – wie es im Tier-schutzgesetz formuliert ist – die Mitgeschöpfe zu füh-ren, eine Debatte um den Respekt vor Leben.Was die Väter des Grundgesetzes noch nicht wissenkonnten: Angesichts des Drucks, der derzeit durch dieGen- und Klonierungstechnik aufgebaut wird – das istder Weg zur Umwidmung von Lebewesen zum Beispielzu definierten industriellen Maschinen für die Produkti-on von Insulin –, und angesichts dieser Entwicklungen –im übrigen auch im menschlichen Bereich – muß dieseDebatte verschärft geführt werden. Das Tierschutzgesetzist eines der Gesetze, in denen eine Abwägung zurGrundlage des Eingriffes gemacht wird. Aber Sie sagen,daß Abwägung Unsicherheit bedeutet, Unsicherheitdurch die Verfassung, die sie nicht schaffen soll.
– Doch, genau das ist der Punkt. Dies ist übrigens nureines dieser Gesetze.Abwägung ist eine Frage der ethischen Anforderung.Es gilt, ökonomische, soziale und moralische Fragestel-lungen zu formulieren, zu präzisieren, in Relation zuein-ander zu setzen und auf dieser Grundlage zu entschei-den. Darauf kommt es uns bei der Aufnahme des Tier-schutzes in die Verfassung an.Auch bei der Nutzung von Tieren gilt: Es kann nichtum blinde Machbarkeit gehen; vielmehr entscheidet sichZukunftsfähigkeit an einer sorgfältigen Folgenabschät-zung. Die mangelnde Sorgfalt in diesem Bereich – auchim Tierschutz – hat uns auch schon eine Menge geko-stet. Denken Sie an BSE und die wahnsinnigen Folgeko-sten, an die Massentierhaltung und ihre Umweltschäden,die Antibiotika-Fütterung im Tierbereich und ihre Aus-wirkungen auf die Humanmedizin, die qualvollen Tier-transporte, die dann doch in den übervollen EU-Lagernoder in der entsetzlichen Vernichtung enden, sowie anderen Kosten,
und an Tierversuche, die mangels Übertragbarkeit Schä-digungen von Mensch und Umwelt nicht verhindernkonnten.Die Aufnahme des Tierschutzes in die Verfassungläßt sich mit der mangelhaften Wirksamkeit – das istnun wahrhaftig ausreichend bewiesen – der einfachge-setzlichen Tierschutzgesetze gegenüber den schranken-losen Grundrechten begründen, ebenso mit der Notwen-digkeit, Rechtsgleichheit
angesichts der Änderung von sieben Landesverfassun-gen zu schaffen – das war keinesfalls eine bloße, wie Siesagen, PR-Kampagne, auch Ihrer Parteikollegen – undmit der breiten Unterstützung der Bevölkerung in die-sem Punkt.Norbert Röttgen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1067
(C)
(D)
Heute, wo Tierhaltung immer anonymer wird, woSchweineställe und Versuchsanlagen Hochsicher-heitstrakten gleichen, können Menschen kaum noch in-dividuell auf die Tiernutzung einwirken. Sie könnenauch mangels Transparenz ihre Kaufentscheidung fürein Produkt nicht, wie sie es wünschen, auf die Wahrungdes Tierschutzes hinausrichten. Hier ist es überfällig,daß die Politik die notwendigen und verlangten Rah-menbedingungen mit der Aufnahme des Tierschutzesin das Grundgesetz schafft, um diesen veränderten undverstärkten ethischen Anforderungen der GesellschaftRechnung zu tragen. Dazu sind noch andere Verbesse-rungen und andere Rahmenbedingungen – das würdenwir niemals bestreiten – in der Agrarpolitik und in derForschungsförderung notwendig, wie sie die Bundesre-gierung gerade in Angriff nimmt. Ihr Argument, daß dieForschung auswandern würde, ist wahrhaftig nur so da-hin gesagt;
denn alle Pharmafirmen haben sich dazu verpflichtet,das Tierschutzgesetz einzuhalten. Das, was wir mit derAufnahme des Tierschutzes in die Verfassung bewirkenmöchten, ist ja nichts anderes, als die Wirksamkeit desTierschutzgesetzes zur Geltung zu bringen. Dagegenkann man doch kaum etwas haben.Wir haben uns für die Einbringung des Tierschutzesals Staatsziel in einem neu einzufügenden Art. 20 b desGrundgesetzes mit der klaren Formulierung entschieden:Tiere werden als Mitgeschöpfe geachtet. Sie wer-den vor nicht artgemäßer Haltung, vermeidbarenLeiden und in ihren Lebensräumen geschützt.Wir haben uns deswegen für sie entschieden, weil es dieFormulierung des Bundesrates, weil es die Formulie-rung ist, die wir in der letzten Legislaturperiode disku-tiert haben, und weil auch die Kollegen von der F.D.P.es leider Gottes versäumt haben, mit uns in die notwen-dige überfraktionelle Konsensbildung hinsichtlich diesesPunktes einzutreten. Dies möchte ich ebenso wie dieKollegin von der SPD an dieser Stelle noch einmaldeutlich anbieten.Natürlich stellen wir uns bei Ihrer Formulierung, lie-be Kollegen von der F.D.P., die Frage, warum auf dereinen Seite der Tierschutz in die Verfassung aufgenom-men und auf der anderen Seite gleichzeitig wieder aufdas einfache Gesetz reduziert werden soll. Nichtsdesto-trotz sehen wir hier die Möglichkeit, zu einem Konsenszu kommen. Dazu haben wir hier ja schon eine ganzeReihe von Vorschlägen auf dem Tisch.Mit Spannung verfolgen wir dabei, ob sich dieCDU/CSU als einzige Fraktion weiter in die völligeIsolation manövriert und sich einer modernen Tier-schutzgesetzgebung verweigert,
die sich an dem Wertewandel der Gesellschaft und dentechnischen Entwicklungen orientiert. An der Frage desTierschutzes, sehr geehrte Kollegen von der CDU/CSU,wird sich zeigen, wieviel Wert Sie auf des VolkesStimme legen. 84 Prozent in den Umfragen und Millio-nen von Unterschriften – Sie sammeln sie ja nun geradezu einem anderen Thema – dokumentieren, wie stark dieMenschen daran interessiert sind, die Aufnahme desTierschutzes als Staatsziel in die Verfassung zu unter-stützen. Sie haben mit ihrer Wahlentscheidung auch fürdie Verbesserung des Tierschutzes grünes Licht gege-ben. Ich hoffe, wir werden in drei Monaten mit einer an-deren Ausgangsbasis hier sitzen.
Anderenfalls werden wir den Menschen sagen müssen,wie wenig ihr Wille bei Ihnen berücksichtigt wird.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner in
der Debatte ist jetzt unser Kollege Dr. Guido Wester-
welle, F.D.P.
Frau Präsidentin!Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! In re-gelmäßigen Abständen werden die Fernsehzuschauermit Bildern von grausam gequälten Tieren schockiert:mit Bildern von unsachgemäßen Tiertransporten, ausge-setzten Tieren, mutwillig gequälten Tieren. DerartigeUntaten darf ein moderner Rechtsstaat nicht zulassen.Dies muß auch durch die Verfassung als gemeinsamesWertegerüst unserer Bürgergesellschaft deutlich zumAusdruck kommen.
Deswegen wollen wir in unserem Grundgesetz do-kumentieren, was für die allermeisten Menschen längsttägliche Erfahrung ist: Tiere leben und leiden. DerSchutz der Tiere sagt auch etwas über das zivilisatori-sche Selbstverständnis unserer Gesellschaft aus. BeimUmgang mit Tieren darf Menschlichkeit nicht fehlen.
Welcher Stellenwert dem Tierschutz von den Bürge-rinnen und Bürgern eingeräumt wird, zeigt die Zahl derEingaben, die der Gemeinsamen Verfassungskommissi-on von Bundestag und Bundesrat zu diesem Themavorlagen: Es waren 170 000 Eingaben; nur die ThemenVolksentscheid und Volksbegehren stießen auf größeresInteresse.Wir als F.D.P. nehmen die Sorgen der Menschen umden Tierschutz sehr ernst. Die Liberalen haben als ersteFraktion im Bundestag eine Verankerung des Tierschut-zes im Grundgesetz gefordert und dieses Vorhaben im-Ulrike Höfken
Metadaten/Kopzeile:
1068 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
mer intensiv vorangetrieben. Unser Antrag in der Ver-fassungskommission, daß Tiere per Grundgesetz vorvermeidbaren Leiden und Schäden geschützt werdenmüssen, verfehlte 1992 nur knapp die notwendige Zwei-drittelmehrheit, woran ich heute erinnern möchte. Wirstarten jetzt im Deutschen Bundestag erneut eine Initia-tive, um für neue Mehrheiten für den Tierschutz zu wer-ben. Seit der Arbeit der Verfassungskommission ist inWahrheit eine Bewegung in allen Parteien zugunsten derVerankerung des Tierschutzes im Grundgesetz sichtbargeworden.Zwischenzeitlich liegt ein Gesetzentwurf der Regie-rungsfraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen vor,der in die gleiche Richtung wie der Gesetzentwurf derFreien Demokraten zielt; über Detailformulierungenwird man reden müssen. Auch die PDS hat einen ent-sprechenden Antrag vorgelegt.In der Gemeinsamen Verfassungskommission vonBundestag und Bundesrat fand der Vorschlag der F.D.P.im Jahr 1992 zwar eine absolute Mehrheit; eine notwen-dige Zweidrittelmehrheit zur Änderung des Grundgeset-zes scheiterte seinerzeit aber am Widerstand derCDU/CSU. Deshalb begrüßt die Freie DemokratischePartei, daß entgegen dem, was Sie, Herr Kollege Rött-gen, als geschlossene Meinung der Unionsfraktion dar-stellen wollen, auch in der CDU/CSU mittlerweile eineBewegung für einen besseren Tierschutz einschließlichdessen Verfassungsverankerung festzustellen ist.
Ich begrüße ausdrücklich, daß die CSU im Bundes-tagswahlkampf für die Aufnahme des Tierschutzes indie Verfassung gestritten und geworben hat, und ich zi-tiere hier aus den Argumenten der CSU im Bundestags-wahlkampf vom 1. Juli 1998,
in denen sich die CSU für die Aufnahme des Tierschut-zes in die Verfassung ausspricht und dafür wirbt. Wirbegrüßen dies als Freie Demokratische Partei.
Damit ist eine Zweidrittelmehrheit im Deutschen Bun-destag in greifbare Nähe gerückt, und der Tierschutzwird meiner Einschätzung nach in dieser Legislaturperi-ode im Grundgesetz verankert werden.Meine Damen Kolleginnen, der Grund, warum wirdiese Formulierung vorgelegt haben, ist ein sachlich-rechtlicher. Wir halten es für die klügste Formulierung,was die Abwägungsfragen angeht. Aber wir haben auchdaran gedacht, daß dies diejenige Formulierung ist, dieschon einmal eine absolute Mehrheit in der Gemeinsa-men Verfassungskommission gefunden hat. Lassen Sieuns darüber reden. Etwas muß in dieser Richtung passie-ren.Herr Kollege Röttgen, es stimmt nicht, was Sie gesagthaben. Die gewählte Gesetzesformulierung stellt sicher,daß bei rechtlichen Abwägungsprozessen der Tierschutzeine verfassungsrechtliche Qualität bekommt. JederJurist und erst recht jeder Staatsrechtler weiß, daßRechtsprechung auch zwischen der Abwägung vonRechtsgütern besteht. Diejenigen Rechtsgüter, die in derVerfassung verankert sind, haben zunächst einmal einestärkere Abwägung auf ihrer Seite. Deswegen möchtenwir, daß der Tierschutz eine Verfassungsqualität be-kommt; denn dann wissen die Gerichte und auch dieVerwaltung bei Abwägungsentscheidungen künftig, daßder Tierschutz Verfassungsqualität hat und damit vonder rechtlichen Qualität her wie die anderen Verfas-sungsgüter bei den Abwägungsentscheidungen zu be-rücksichtigen ist.Das ist der Sinn, warum wir in vielen Bereichen Ab-wägungsentscheidungen und auch Staatsziele in derVerfassung verankert haben. Wenn Sie sich beispiels-weise Art. 20 a, Art. 6 oder Art. 7 des Grundgesetzes an-sehen, dann werden Sie feststellen, daß unsere Verfas-sung Staatsziele hat. Der Grund, warum wir Staatszielein der Verfassung haben, besteht darin, daß der Gesetz-geber damit allen Kräften der Gesellschaft klarmacht:Dies ist von größter Bedeutung; dies ist bei rechtlichenAbwägungsentscheidungen mit zu berücksichtigen. Des-wegen ist die Verankerung des Tierschutzes im Grund-gesetz eine echte Verbesserung des Tierschutzes.Sie ist überfällig. Sie geht nicht zu Lasten der For-schungsfreiheit. Niemand will das. Sie geht nicht zu La-sten der Landwirtschaft. Niemand will das. Aber dort,wo Tiere – zum Teil willkürlich – gequält und mißhan-delt werden, sollten wir als Teile des Verfassungsgebersklarmachen: Dies wollen wir nicht. Wir wollen dienachgeordnete Gewalt binden und den Tierschutz auf-werten. – Das ist der Sinn unserer Initiative.Ich appelliere an Sie, meine Damen und Herren Kol-leginnen und Kollegen von der CDU/CSU, das nicht alsPopulismus abzutun, sondern sich in der Sache damitauseinanderzusetzen und sich diesem Vorhaben dochnoch anzuschließen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Eva Bulling-Schröter, PDS.
Frau Präsidentin! Lie-be Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte meine Redemit einem Zitat von Johann Wolfgang von Goethe be-ginnen:Die Größe und den moralischen Fortschritt einerNation kann man daran messen, wie sie die Tierebehandelt.Unter dieses Leitmotto möchte ich die heutige Debattestellen.Wir befassen uns mit einem Thema, das große Emo-tionen hervorruft und dessen Klärung seit Jahren vonTierschützern und der Tierrechtsbewegung angemahntwird. Die Diskussion um den Tierschutz hat inDeutschland inzwischen einen Stellenwert erreicht, derDr. Guido Westerwelle
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1069
(C)
(D)
zum Handeln zwingt, wie wir an der schnellen Aufset-zung der Anträge in der neuen Legislaturperiode sehen.Für mich heißt das: Die Aktivitäten der Tierschutzver-bände blieben nicht ungehört, und die Wahlversprechender einzelnen Parteien und einzelner Abgeordneter müs-sen jetzt in die Tat umgesetzt werden.Die Bemühungen um die Verankerung des Tierschut-zes im Grundgesetz haben eine lange Vorgeschichte,und es ist heute nicht das erste Mal, daß dazu eine De-batte im Bundestag geführt wird. Erinnern wir uns: Inder letzten Legislaturperiode wurde eine Beschlußfas-sung von seiten der CDU/CSU verhindert, indem dieAnträge einfach in der letzten Sitzungswoche vor derBundestagswahl nicht mehr zur Abstimmung kamen. Somacht man das ganz einfach. Um so erfreulicher seheich die Tatsache, daß sich die F.D.P. jetzt, wo sie nichtmehr an ihren Koalitionspartner gebunden ist, des The-mas aktiv annimmt.Eine Verankerung des Tierschutzes im Grundgesetzist seit langem überfällig, und ich wünsche uns allen,daß eine Mehrheit für diese Ergänzung unserer Verfas-sung zustande kommt, zumal der Tierschutz ja schonfast flächendeckend in die Länderverfassungen aufge-nommen wurde, im übrigen auch in Bayern; dort wurdeer sogar durch einen Volksentscheid sanktioniert, HerrRöttgen. Deshalb fordere ich Sie, meine Damen undHerren von der CDU und der CSU, auf: Haben Sie end-lich den Mut, stimmen Sie auch im Bund und nicht nurin den Ländern zu, damit in diesem Bereich endlichRecht gesprochen werden kann und eine juristische Ab-wägung der verschiedenen Grundrechtsgüter möglichwird. Diese juristische Abwägung zwischen dem Leidender Tiere und der Freiheit der Forschung und Wissen-schaft kann nur dann ernsthaft betrieben werden, wennendlich die rechtlichen Grundlagen dafür geschaffenwerden. Die Juristen haben uns das in der Anhörung inder letzten Legislaturperiode immer wieder bestätigt.
– Ich habe mir gestern abend die Unterlagen noch ein-mal angeschaut.
Es gibt aber natürlich auch andere Meinungen– wahrscheinlich vertreten auch Sie diese –, die vor al-lem von der Pharmaindustrie und einer ganzen Reihevon Forschungsinstituten vorgetragen werden.
Sie warnten davor, daß der Standort Deutschland ge-fährdet und die Forschung ins Ausland abwandern wer-de. Das haben wir heute schon gehört. Diese Drohge-bärden sind uns bekannt und nicht etwa neu. Wir solltenuns von ihnen nicht beeindrucken lassen, weil wir sieimmer wieder bei allen Diskussionen hören.
Die Standortideologen müssen sich dann schon ein-mal einige Dinge fragen lassen: Warum müssen Tierver-suche doppelt und dreifach für einen identischen For-schungsgegenstand durchgeführt werden? Warum len-ken sie nicht endlich ihre Aktivitäten auf Alternativme-thoden? Warum werden nach wie vor Tierversuchedurchgeführt, deren Resultate dann noch nicht einmalauf den Menschen übertragen werden können? Es dürfenauch nicht die Tierversuche an Primaten verschwiegenwerden, die von führenden Wissenschaftlern als über-flüssig und ethisch unvertretbar bezeichnet werden. Au-ßerdem müssen sie sich fragen lassen, warum sie denneine juristische Abwägung zweier Rechtsgüter fürchten,wenn sie sich an Recht und Gesetz halten. Das würdemich wirklich einmal interessieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die PDS hat wie inder 13. Legislaturperiode auch jetzt einen Gesetzentwurfeingebracht, um zu signalisieren, wie wichtig uns diesesThema ist. Wir meinen, nur mit einer Staatszielbestim-mung Tierschutz kann sich Deutschland wirkungsvollfür die Schaffung effektiver europäischer Tierschutz-normen einsetzen. Diese sind dringend notwendig, wiedie überfällige Streichung der Subventionen der EU fürTiertransporte und der unsäglichen Kälberschlachtprä-mien zeigen.
Mit der Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft hatDeutschland eine besondere Verantwortung übernom-men. Eine Übernahme des Tierschutzes in europäischeVerträge muß angestrebt werden. Dies kann Deutsch-land allerdings nur dann durchsetzen, wenn dem Tier-schutz auch bei uns ein wesentlicher Stellenwert einge-räumt wird, er also eindeutig im Grundgesetz verankertwird.Zum Schluß zu einem von Herrn Röttgen angespro-chenen Punkt: Sie haben ja allen Parteien, die für dieVerankerung des Tierschutzes im Grundgesetz eintreten,Populismus vorgeworfen. Ich denke, es handelt sichnicht um Populismus, sondern wir kümmern uns um dieBelange der Menschen. Das Volksbegehren gerade inBayern, das ja nicht rotgrün, sondern eher schwarz ge-färbt ist und schon sehr lange von einer staatstragendenPartei regiert wird,
zeigt, daß auch die Menschen dort das wollen. Sie sehenalso, wir kümmern uns um die Bedürfnisse der Men-schen. In Ihrem Sinne hätte dann die CSU auch populi-stisch gehandelt, als sie den Beschluß zugunsten desTierschutzes kurz vor den Landtagswahlen gefaßt hat.Ihre Politiker machen es sich in den Ländern natürlichsehr leicht, wenn sie sagen: In Bonn können wir nichtsmachen, aber im Land. – Ich kenne das aus den letztenvier Jahren. Jetzt haben Sie die Möglichkeit, Butter beidie Fische zu tun und sich für die Menschen und vor al-lem für die Tiere einzusetzen.Danke.
Eva Bulling-Schröter
Metadaten/Kopzeile:
1070 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Hermann Bachmaier.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Erinnern wir uns: Die nach
der deutschen Einheit eingesetzte Gemeinsame Verfas-
sungskommission aus Vertreterinnen und Vertretern des
Bundestages und des Bundesrates hat im Jahre 1994 mit
recht eindeutiger Mehrheit empfohlen, den Tierschutz
als Staatsziel in das Grundgesetz aufzunehmen. In der
Schlußabstimmung des Bundestages am 30. Juni 1994
– ich habe das Protokoll dieser Sitzung nachgelesen –
ist dieses Vorhaben an der CDU/CSU-Fraktion ge-
scheitert.
Statt dessen wurde damals auf Initiative Ihrer Frak-
tion, Herr Geis, eine recht unverbindliche Entschließung
des Bundestages durchgesetzt, in der behauptet wurde,
daß ein wirksamer Tierschutz verfassungsrechtlich von
der Staatszielbestimmung Umweltschutz mit umfaßt sei.
Daß von dieser Entschließung – das wußten Sie damals
genauso gut wie wir – keine rechtliche und erst recht
keine verfassungsrechtliche Wirkung ausgehen konnte,
war allen Beteiligten bewußt und ist mittlerweile durch
die recht eindeutige Rechtsprechung der Gerichte bestä-
tigt worden. Es blieb also dabei, daß dem Tierschutz
weiterhin ein angemessener Platz in unserer Verfas-
sung versagt blieb. Daran hat sich bis heute nichts geän-
dert.
Nur dann, wenn dem Tierschutz Verfassungsrang
eingeräumt wird, kann er sich endlich auch in den oft
schwierigen Abwägungsentscheidungen von Gerichten
und Behörden gegenüber anderen verfassungsrechtlich
geschützten Belangen – dazu gehören zum Beispiel die
Belange der Forschungs- und Wissenschaftsfreiheit, der
Berufsfreiheit und des Eigentumsschutzes – wenigstens
einigermaßen behaupten.
Solange aber der Tierschutz als Staatsziel nicht Ein-
gang in das Grundgesetz gefunden hat, so lange wird er
bei diesen sehr schwierigen Abwägungsentscheidungen
gegenüber verfassungsrechtlich geschützten Belangen
immer unter die Räder kommen. Auch dies zeigen etli-
che Gerichtsentscheidungen aus der jüngeren Zeit recht
eindrucksvoll.
Da hilft es auch nicht, Herr Geis, wenn es in § 1
des Tierschutzgesetzes so schön heißt – ich zitiere
wörtlich – :
Zweck dieses Gesetzes ist es, aus der Verantwor-
tung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf
dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen. Nie-
mand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund
Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen.
Viele uns tagtäglich immer wieder vor Augen ge-
führte Beispiele zeigen – seien es Beispiele von Tier-
transporten, unnötigen Tierversuchen oder anderen
Formen unerträglicher Tierquälerei –, daß diesen so
schön formulierten Forderungen des Tierschutzgesetzes
in der tagtäglichen Praxis kaum Rechnung getragen
wird.
– Das ist ein grundlegender Irrtum von Ihnen. Herr
Röttgen, ich traue Ihnen zu, daß Sie wissen, daß Sie in
diesem Punkt die Unwahrheit sagen; ich traue Ihnen zu,
daß Sie die Wahrheit kennen.
Auch die Aufnahme des Tierschutzes als Staatsziel in
mittlerweile der Hälfte der Landesverfassungen wird
weitgehend folgenlos bleiben, wenn der Tierschutz nicht
endlich auch im Grundgesetz als Staatsziel angemessen
zum Ausdruck kommt.
Herr Geis, in Ihrem schönen Land Bayern hat man
dieses Staatsziel, das in etwa wortgleich mit dem von
uns beantragten Staatsziel ist, sogar mittels Volksab-
stimmung in die bayerische Staatsverfassung aufnehmen
lassen. Warum verweigern Sie dem Tierschutz im
Grundgesetz das, was Sie so ausdrücklich in der bayeri-
schen Staatsverfassung verankert haben?
Herr Kollege
Bachmaier, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, immer gern, Herr
von Klaeden.
Herr KollegeBachmaier, ich habe zwei Fragen. Die erste Frage lautet:Stimmen Sie mir zu, daß die Landesverfassung in derNormenhierarchie unserer Rechtsordnung dem einfa-chen Bundesgesetz nachfolgt und daß sich daraus unter-schiedliche Bewertungen für die Staatsziele ergebenkönnen, die in den einzelnen Verfassungen enthaltensind?Sie führen Gerichtsentscheidungen an. Meine zweiteFrage lautet daher: Könnten Sie eine Entscheidungschildern, die nach Ihrer Ansicht explizit anders ausge-fallen wäre, wenn der Tierschutz Verfassungsrang inForm eines Staatszieles hätte? Die Beispiele, die Sie fürdie Verletzung des Tierschutzes angeführt haben, sindpraktische Fälle, in denen gegen das Tierschutzgesetzverstoßen wurde. Man kann daraus aber nicht schließen,daß die Rechtspraxis anders wäre, wenn der Tierschutzals Staatsziel in der Verfassung entsprechend verankertwäre.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1071
(C)
(D)
Zu Ihrer letzten Frage.Herr Kollege von Klaeden, wenn Sie die Entscheidun-gen nachgelesen hätten, die wir auch im Rahmen derAnhörung des Rechtsausschusses im vergangenen Jahrdurchgesprochen haben, dann hätte Ihnen unschwer dieErkenntnis kommen müssen, daß eine verfassungsrecht-liche Verankerung des Tierschutzes als Staatszieleine andere Ausgangslage für die entsprechendenProzesse hervorgebracht hätte. Lesen Sie es nach. Viel-leicht haben wir wieder einmal Gelegenheit, im Zugeder Beratungen diese Dinge nochmals zu dokumentie-ren.Sicher, es ist richtig, nach der Funktionsverteilungvon Bund und Ländern steht in der Normenhierarchiedas einfache Bundesgesetz natürlich vor den Landesver-fassungen. Aber das ändert nichts an der Tatsache, daßder Tierschutz so lange überhaupt keine Chance hat, inden Abwägungsprozeß einbezogen zu werden, solangeer nicht als Staatsziel im Grundgesetz verankert ist. Dasist Ihnen auch klar; da besteht kein Zweifel. Deshalblassen wir jetzt diese Ablenkungsmanöver und fahrenfort.Die Aufnahme des Tierschutzes als Staatsziel inmittlerweile der Hälfte aller Landesverfassungen wird– dabei bleibe ich – weitgehend folgenlos bleiben, wennnicht auch im Grundgesetz eine Verankerung des Tier-schutzes als Staatsziel erfolgt. Deshalb haben neben demBundesrat alle Fraktionen, mit Ausnahme derCDU/CSU-Fraktion, bereits in der letzten Legislaturpe-riode Anträge eingebracht mit dem Ziel, den Tierschutzals Staatsziel endlich auch in unsere Verfassung aufzu-nehmen. Immer wieder durchgeführte Umfragen – FrauKlappert hat darauf hingewiesen – und viele Zuschrif-ten, die Sie tagtäglich erhalten, bestätigen, daß diesesVorhaben von der ganz überwiegenden Mehrheit derBevölkerung unterstützt und gefordert wird.Im Sommer des vergangenen Jahres – jetzt wird esinteressant, auch was die F.D.P. angeht – ist es derCDU/CSU-Fraktion nochmals – ich hoffe, ein letztesMal – gelungen, eine Abstimmung in den Ausschüssenund im Plenum des Bundestages zu verhindern. Aller-dings hätte die F.D.P., Herr Westerwelle, im Rahmen ih-rer Regierungsbeteiligung schon damals sehr wohl dieMöglichkeit gehabt, die CDU/CSU-Fraktion zu einemanderen Verhalten im Interesse des Tierschutzes zu be-wegen. Oft genug, auch in der letzten Legislaturperiode,haben Ihre Partei und Ihre Fraktion in der alten Koaliti-on unter Beweis gestellt, daß sie ihrem größeren Koali-tionspartner immer dann Zugeständnisse abringenkonnten, wenn es ihren ökonomischen und steuerpoliti-schen Zielsetzungen entsprach. Beim Tierschutz aller-dings – das kann ich Ihnen nicht ersparen, Herr KollegeWesterwelle – hat die F.D.P. nie den ernsthaften Ver-such unternommen, sich gegen ihren größeren Koaliti-onspartner zu behaupten bzw. durchzusetzen. Lippenbe-kenntnisse allein reichen eben nicht aus. Es ist für Sie,Herr Kollege Westerwelle, in der Opposition sicherlichmanches leichter, aber wirkungskräftiger wäre es gewe-sen, wenn Sie diesen Versuch in der Koalition der letz-ten Legislaturperiode unternommen hätten.
Lassen Sie uns deshalb in den kommenden Wochenund Monaten alles daransetzen, um dem Tierschutzendlich einen angemessenen Platz in der Verfassung zuverschaffen. Ich bin mir sicher – dies auch an die Adres-se der CDU/CSU –, daß es im Bundestag dann, wennalle Mitglieder des Hauses frei und nur nach ihrem Ge-wissen abstimmen können, für dieses Ziel eine verfas-sungsändernde Mehrheit gibt.Deshalb sollten wir den Schwerpunkt der Beratungen– das geht auch an Sie als Einladung zu Gesprächen –jetzt auf die Formulierung des Staatszieles legen undden zur Genüge ausgetragenen Grundsatzstreit endlichzu den Akten legen. Wir haben Ihnen, zusammen mitden Grünen, einen Formulierungsvorschlag vorgelegt,von dem wir meinen, daß er dem gemeinsamen Anlie-gen am ehesten Rechnung trägt. Dieser Vorschlag ori-entiert sich, wie Sie wissen, an Formulierungen in denLandesverfassungen – auch der bayerischen Staatsver-fassung, Herr Geis – und in § 1 unseres Tierschutzgeset-zes. Wir sind aber gerne bereit, mit Ihnen gemeinsamauch über Formulierungsalternativen nachzudenken undzu verhandeln, die dem Anliegen ebenso Rechnung tra-gen und bei denen sichergestellt ist, daß sie im Bundes-tag und im Bundesrat die notwendige verfassungsän-dernde Mehrheit finden.So lassen sich durchaus – um einmal einen Hinweiszu geben – Formulierungen denken und finden, die ei-nen wirksamen Tierschutz in Kombination mit demStaatsziel Umweltschutz gewährleisten. Dazu müßteallerdings der jetzige Art. 20 a des Grundgesetzes umden Schutz der Tiere angemessen erweitert werden.Denn es hat sich ja inzwischen gezeigt, daß Ihre damali-ge Entschließung wirkungslos verpufft ist und nur fürentsprechende Presseerklärungen im Jahre 1994 herzu-halten hatte. Wenn Sie es also ernst meinen, müßten Siemit uns darüber nachdenken und gemeinsam mit unsnach Lösungen suchen.Lassen Sie uns deshalb die Beratungen in den Aus-schüssen zügig aufnehmen. Ich meine, es ist an der Zeit,noch vor der Sommerpause zu einer Entscheidung imBundestag zu kommen, so daß sich dieses wichtige An-liegen nicht wieder eine ganze Legislaturperiode hin-schleppt.
Wir sollten endlich verfassungsrechtlich deutlich ma-chen, daß ein wirksamer Tierschutz – das ist heute schoneinmal gesagt worden – und auch ein ethisch verant-wortbarer Umgang mit Tieren ein wesentlicher Teil ei-ner humanen Gesellschaftsordnung ist. Wir sollten nichtso tun, als würde sich das nicht notwendigerweise ge-genseitig bedingen.Seit 1990 steht im Bürgerlichen Gesetzbuch, daß Tie-re keine Sachen sind. Allzu große Konsequenzen habenwir daraus bis zum heutigen Tage nicht gezogen. Des-halb sollte der Tierschutz endlich als grundlegenderWertmaßstab Einzug in das Grundgesetz finden. Eswürde dem Bundestag gut anstehen, wenn er diesem
Metadaten/Kopzeile:
1072 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
Anliegen möglichst bald und in möglichst großer Ge-schlossenheit Rechnung tragen würde.Herzlichen Dank.
Ich erteile dem
Kollegen Ronsöhr das Wort.
Frau Prä-sidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Aneinem Punkt habe ich die Debatte nicht verstanden.Vielleicht liegt es daran, daß ich Landwirt bin. DiesenPunkt müßten mir die Juristen einmal genauer erklären:Es wurde immer davon gesprochen, daß es sehr vielnützt, wenn der Tierschutz in die Landesverfassungenaufgenommen wird und daß dies die Rechtsprechungsehr stark beeinflußt. Das wurde hier von einigen De-battenrednern gesagt. Wenn das wirklich so ist – wennes nicht so wäre, müßte es ja so sein, wie das mein Kol-lege von Klaeden hier geschildert hat –, dann müßte esin der Bundesrepublik Deutschland eine unterschiedli-che Rechtsprechung im Bereich des Tierschutzes geben.Ich bitte einmal darum, daß mir das die Juristen, die dashier ständig behaupten, auch nachweisen.Ich sage das ganz deutlich auch als Landwirt, weil ichzu dem Berufszweig in der Bundesrepublik Deutschlandgehöre, der wie kein anderer mit den Tieren verbundenist. Im Zuge der Spezialisierung in unserer Gesellschaft,die nicht nur die Landwirtschaft, sondern auch vieleandere Wirtschafts- und Lebensbereiche erfaßt hat, istdie Beziehung zwischen Mensch und Tier allerdingsnicht mehr so ausgeprägt und kein Allgemeingut mehr,wie das in früheren Agrargesellschaften der Fall war.Diese Beziehung findet weitestgehend abgekoppelt vongroßen Teilen der Bevölkerung statt. Manchmal läßt dasdie eine oder andere verallgemeinernde – ich sprechebewußt davon –, diskriminierende Bezeichnung überlandwirtschaftliche Tierhaltung zu.Deshalb nehme ich diese Debatte zum Anlaß, ummich als Landwirt und Agrarpolitiker ausdrücklich füreinen sinnvollen Tierschutz auszusprechen. Ich glaube,daß es eine Selbstverständlichkeit für jeden in unsererGesellschaft sein muß, das Tier als Mitgeschöpf zu ach-ten. Ich als Landwirt weiß, daß ich von einem Tier einegewünschte Leistung nur erwarten kann – mancher magdiese Einschränkung kritisieren –, wenn ich das Tiertierschutzgerecht behandele. Die Landwirtschaft hält dieNutztiere gleichsam als Dienstleister für die gesamteBevölkerung. Leider hat sich in der Betrachtung desBildes der Landwirtschaft eine Schieflage eingestellt,weil manche den Tierschutz nicht so eingehalten haben
– lassen Sie mich doch ausreden –, wie sie das hättentun müssen. Dagegen müssen wir mit der gesamtenSchärfe eines Gesetzes vorgehen.
Wir haben eines der schärfsten Tierschutzgesetze dieserWelt.
Mir muß nun wirklich jemand erklären, in welcherRechtsprechung die Tierquälerei zugelassen wird. Wowird sie zugelassen?
Hier müssen wir konkret werden. Der Bundestag hat ei-ne Anhörung durchgeführt. An dieser Anhörung habenalle Fraktionen teilgenommen. Wenn man sich die Pro-tokolle dieser Anhörung vergegenwärtigt, stellt manfest, daß etwas anderes zum Ausdruck gekommen ist,als es hier von den meisten Rednern dargestellt wurde.Natürlich haben wir heute leider eine Anonymität beider Herstellung von Lebensmitteln. Diese hat die Bevöl-kerung in der Vergangenheit teilweise in Kauf genom-men. Heute wollen viele sicher sein – das ist positiv zubewerten –, daß die Lebensmittel tierschutzgerecht er-zeugt werden. Dazu haben – das will ich ganz deutlichsagen – die Protestwellen der Tierschützer beigetragen.Die Mißstände bei den Tiertransporten wären der Be-völkerung ohne die Fernsehbilder natürlich nicht ver-mittelt worden.Dem Tierschutz ist eine hohe Priorität einzuräumen.Wir haben in den letzten Jahren – auch auf europäischerEbene – einiges für den Tierschutz erreicht. Das darf ineiner solchen Debatte nicht untergehen.Es wird manchmal darüber diskutiert, ob in EuropaKompetenzen im Bereich des Tierschutzes angesiedeltwerden sollen. Ich bin der Auffassung: Tier- und Ver-braucherschutz müssen zu einem Bestandteil europäi-scher Integration und europäischer Politik werden. Dasmuß immer wieder betont werden. Wir als Parlamentari-er müssen zum Motor des Tierschutzbewußtseins in derEuropäischen Union werden.
Wenn die Kommission Kompetenzen im Bereich desTierschutzes erhält, dann muß sie diese Kompetenzennatürlich auch kontrollierend wahrnehmen.Eines kann nicht angehen: Wir können nicht sagen –bei Ulrike Höfken ist das angeklungen, während ich Ma-rianne Klappert ganz eindeutig herausnehmen möchte –,wir hätten BSE verhindern können, wenn wir hier imBundestag schon früher eine Verfassungsänderung be-züglich des Tierschutzes vorgenommen hätten. BSE istin Großbritannien und in der Schweiz entstanden. DieSchweiz ist hier übrigens wegen ihrer Verfassungsände-rung gelobt worden; doch dort ist BSE entstanden. Wie-so argumentieren wir manchmal eigentlich so eigenar-tig? Wir haben BSE zu bekämpfen. Die Krankheit ist je-Hermann Bachmaier
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1073
(C)
(D)
doch nicht in Deutschland entstanden, sondern durch ei-ne entsprechende Agrarpolitik in anderen Ländern. Wirhaben uns eine solche Agrarpolitik wie die Briten undSchweizer nicht geleistet.
– Ich lasse keine Zwischenfrage zu, weil ich noch nachBerlin möchte, wie du auch.Ist es nicht nur eine plakative Forderung, die hieraufgestellt wird?
– Herr Bachmeier, ich habe Sie ausreden lassen, lassenSie auch mich ausreden.
Was verändert sich konkret? Einige haben gesagt, dieRechtsprechung verändert sich. Manche argumentierenin der Öffentlichkeit – hier wird alles mögliche hin-eininterpretiert –, es gebe einen Stopp der Tierversuche.Soll ich Ihnen einmal die Zeitungsberichte vorhalten, diedas aussagen? Hier sagt Marianne Klappert, in derSchweiz finden Tierversuche nach wie vor statt. Wasgilt denn nun? Gilt die Veränderung, die man erreichenwill, oder gilt sie nicht? Ist es dann nicht doch eine pla-kative Forderung? Müssen wir nicht vielmehr als Motordes Tierschutzbewußtseins auch in andere Bereiche hin-einwirken?Wenn Tiertransporte krimineller Art im Auslandstattfinden, dann reicht für deren Abschaffung nicht dieÄnderung der deutschen Verfassung aus, sondern dannmuß insbesondere die EU dagegen vorgehen. Wir müs-sen bei Welthandelskonferenzen die Argumente vonAgrarpolitikern, auch die der sehr liberalen, aufnehmen,damit wir nicht Tiere in die Europäische Union impor-tieren, die anderswo nicht artgerecht gehalten wurden.Ich stelle diese Forderung. Ich glaube, in dieser Forde-rung bin ich mir mit den Agrarpolitikern aller Fraktio-nen einig. Nach meiner Auffassung tun wir so viel mehrfür den Tierschutz.Natürlich dürfen wir in der Europäischen Union beimTierschutz nicht so versagen, wie wir neulich beim Ver-braucherschutz versagt haben. Da haben alle Fraktio-nen einen Antrag zum Verbot, britisches Rindfleisch zuimportieren, verabschiedet. Und trotzdem waren wir aufeuropäischer Ebene unterlegen. Ich gebe ja zu, der deut-sche Landwirtschaftsminister hat dagegengestimmt, aberer hat keinen Verbündeten gefunden.Angesichts der Tatsache, daß so etwas beim Verbrau-cherschutz passiert ist, habe ich Angst, daß ihm das auchbeim Tierschutz passiert. Das Thema muß natürlich –auch in Gesprächen mit den anderen Europäern – vorbe-reitet werden. Ich glaube nicht, daß Herr Funke das ge-macht hat. Nun kann es in der Anfangsphase ja noch daseine oder andere Versagen geben. Aber ich hoffe, daßdieses Parlament in anderen Bereichen dieses Versagennicht zuläßt, zum Beispiel in der Tierschutzpolitik.Ich finde es schon richtig – auch wenn es immer malwieder mißverständlich ausgedrückt sein mag –: EinMehr an Tierschutz darf nicht zum Wettbewerbsvorteildes anderen werden. Deshalb gilt es, dem Tierschutz inunterschiedlichen Ländern Geltung zu verschaffen.Viele deutsche Tierschützer – an deren Adresse ichdas sage – haben in der Europäischen Union als Motordes Tierschutzgedankens gewirkt. Deshalb hoffe ich,daß sie uns auch in Zukunft mit der notwendigen Aufge-schlossenheit gegenüberstehen, um den Tierschutz in derEuropäischen Union, aber auch anderswo voranzubrin-gen. Ich möchte mich dem stellen. Ich unterstütze ganzausdrücklich jede Regierung, die das zur Absicht hat.Hinter einer solchen Regierung – egal welcher Couleur– stehe ich dann. Wir können nicht hinnehmen, daß sicheine positive Absicht mangels Unterstützung nicht um-setzen läßt. Wir brauchen diese positiven Absichten imTierschutz. So haben wir als Parlament in der Vergan-genheit gemeinsam etwas erreicht, und so werden wirauch in der Zukunft etwas erreichen.Fragwürdig bleibt für mich ein Tierschutzgedanke,der nur auf Transparenten geschrieben steht, der sich nurplakativ darstellt und keine konkreten Ziele benennt.Tierschutz muß konkret sein. Das voranzutreiben sindwir aufgefordert. Deshalb meine ich: Wir sollten uns,statt über Verfassungsänderungen beim Tierschutz zudiskutieren, lieber darauf einlassen, wie wir stringente-ren Tierschutz in der Europäischen Union und weltweitdurchsetzen.Vielen Dank, daß Sie mir zugehört haben.
Ich war etwas groß-
zügiger als sonst mit der Redezeit, aber ich glaube, es
war richtig, den Kollegen aussprechen zu lassen.
Der Kollege Geis möchte eine Intervention zu dem
Beitrag von Herrn Westerwelle machen.
Herr Westerwelle hat dieCSU zitiert, und demnach hat diese – offenbar in einerAbsichtserklärung im Wahlkampf vom Juni oder Julides letzten Jahres – erklärt, sie werde für die Aufnahmedes Tierschutzes in die Verfassung eintreten. In der ge-meinsamen Wahlplattform der Unionsparteien, vonCDU und CSU, findet sich diese Erklärung nach meinenbisherigen Recherchen nicht.
Ich will nicht ausschließen, Herr Westerwelle, daß einesolche Erklärung im Rahmen des damals stattfindendenLandtagswahlkampfes gemacht worden ist. Das kann ichjetzt nicht verifizieren. Wie in fünf anderen Bundeslän-dern auch – meines Wissens in drei neuen Bundeslän-dern und in Niedersachsen und Rheinland-Pfalz – ist derTierschutz in Bayern in die Verfassung aufgenommenworden. Aber wir wissen alle, daß ein Unterschied zwi-Heinrich-Wilhelm Ronsöhr
Metadaten/Kopzeile:
1074 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
schen dem Grundgesetz und einer Landesverfassung be-steht. Ich muß das hier nicht weiter ausbreiten.Der Bundestag hat sich bislang zweimal abschließendmit dieser Frage befaßt; jetzt ist es das dritte Mal. In derletzten Anhörung des Rechtsausschusses vom 1. April1998 haben die Verfassungsrechtler Löwer und Depen-heuer, die von uns benannt worden sind, und der Verfas-sungsrechtler Di Fabio, der von der SPD benannt wor-den ist, uns ausdrücklich abgeraten, den Tierschutz alsStaatsziel in die Verfassung aufzunehmen. Sie haben ei-ne solche Aufnahme als Populismus bezeichnet. Ausdiesem Grund meinen wir, bei unserer Auffassung blei-ben zu müssen, die wir 1994 und die wir auch 1998 ver-treten haben.Danke schön.
Es antwortet der
Kollege Westerwelle. Bitte sehr.
Ich will dazu nur
kurz zwei Sachen sagen. Ich habe nicht behauptet, daß
dies im gemeinsamen Regierungsprogramm von
CDU/CSU verankert ist. Wenn dieser Eindruck entstan-
den sein sollte, hätte ich mich fahrlässig ausgedrückt.
Aber ich meine, das so nicht gesagt zu haben. Im Ge-
genteil: Im gemeinsamen Regierungsprogramm von
CDU/CSU – so hat mir ein Mitarbeiter aufgeschrieben –
ist der Tierschutz namentlich überhaupt nicht erwähnt.
Ich will dazu noch eine zweite Bemerkung anfügen.
Die CSU-Landesgruppe hat sogar eine eigene Arbeits-
gruppe „Tierschutz“ eingesetzt. Diese Arbeitsgruppe
„Tierschutz“ hat – das habe ich im bayerischen Land-
tagswahlkampf selber erlebt – vehement mit dem Argu-
ment Verbesserung des Tierschutzes einschließlich auch
rechtlicher und verfassungsrechtlicher Verbesserungen
des Tierschutzes geworben.
Ich kann das übrigens nur begrüßen. Ich finde es
richtig. Das sage ich noch einmal ganz klar. Mein Punkt
ist aber ein anderer. Es ist verfassungsrechtlich kaum
akzeptabel, den Eindruck zu erwecken, was auf Landes-
ebene möglich sei, habe eine Null-Qualität und über-
haupt keine rechtliche Konsequenz; man könne dies
deshalb machen, weil die Kompetenz eigentlich beim
Bundesgesetzgeber liege.
Das kann überhaupt nicht passen, wie man als Ver-
fassungsjurist relativ leicht feststellen kann. Erstens bin-
det natürlich auch die Landesverfassung zum Beispiel
die jeweilige Landesverwaltung bei verwaltungsrechtli-
chen Abwägungsentscheidungen. Zweitens ist jede Ver-
fassung – ob Landesverfassung oder Bundesverfassung
– Ausdruck auch des ethischen und politischen Willens
des Verfassungsgebers.
Wenn man sagt, Staatsziele sind in Landesverfassun-
gen sinnvoll, weil sie einen bestimmten politischen
Willen ausdrücken, und dies sogar in Bayern durchsetzt,
dann kann man verfassungsrechtlich nicht ernsthaft ar-
gumentieren, Staatsziele auf Bundesebene machten kei-
nen Sinn. Wenn man Staatsziele verfassungspolitisch
und verfassungsrechtlich grundsätzlich richtig findet,
dann gilt das für alle Ebenen, wo wir mit Verfassungs-
recht konfrontiert werden; denn natürlich ist die bayeri-
sche Landesverfassung nicht irgendein beliebiges Stück
Papier, sondern hat eine harte rechtliche Qualität, auf die
die Bayern in weiten Teilen auch zu Recht stolz sein
können.
Ich erteile nun dem
Kollegen Ulrich Heinrich, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Meine lieben Kolleginnenund Kollegen! Für den Schutz der Tiere haben wir in derVergangenheit schon sehr viel bewirkt. Wir haben in dervergangenen Legislaturperiode das Tierschutzgesetz no-velliert. Wir haben dort wichtige Verbesserungen im Be-reich der Tierversuche, der europäischen Regelung fürTransporte von Tieren, im Bereich von Systemen derTierhaltung und auch im Bereich des Verbots der Ag-gressionszucht, der Qualzucht usw. durchgesetzt.Trotzdem muß der Tierschutz weiterentwickelt wer-den. Wir wollen deshalb, daß durch die Änderung imGrundgesetz der Tierschutz eine besondere Qualität be-kommt. Wenn es hier eine Diskussion darüber gibt, obwir den Tierschutz als Staatsziel in unsere Verfassungaufnehmen wollen oder nicht, dann ist dies natürlichauch eine prinzipielle Diskussion unter Juristen, wie pu-ristisch man eine Verfassung formulieren will.In Art. 20 a des Grundgesetzes, ist der Schutz dernatürlichen Lebensgrundlagen als Staatsziel veran-kert. Auch die Kolleginnen und Kollegen von derCDU/CSU haben damals diesem Staatsziel zugestimmt,wohl wissend, daß der individuelle Schutz der Tiere mitdiesem Staatsziel verfassungsmäßig nicht erreicht wird.Deshalb war dies schon 1992 das erste Mal unser Anlie-gen. Die Historie ist hier auch schon bemüht worden.Wer uns jetzt Populismus vorwirft, der kann dann aller-dings unterstellen, daß wir in dieser Frage sehr hartnäk-kig sind.
Denn wie im Jahre 1992 und im Jahre 1994 halten wirauch jetzt, im Jahre 1999, eine entsprechende Änderungauch im Hinblick auf die veränderte Situation in unsererGesellschaft für notwendig. Die Verfassung ist im Jahre1949 niedergeschrieben worden. Die Zeit ist ja inzwi-schen nicht stehengeblieben; die Menschen haben heuteein anderes Verhältnis zum Tier. Der Kollege Ronsöhr,der leider Gottes schon weg mußte, hat ja darauf hinge-wiesen: Die Art und Weise, wie wir in der Landwirt-schaft mit dem Problem der Massentierhaltung konfron-tiert werden, hat sich in den letzten 40, 50 Jahren ein-fach verändert, und dem müssen wir Rechnung tragen.Deshalb brauchen wir auch eine andere Grundlage, eineentsprechende Staatszielbestimmung im Grundgesetz,um künftigen gesetzlichen Regelungen, die erforderlichNorbert Geis
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1075
(C)
(D)
sein könnten, eine entsprechende Bedeutung und einenentsprechenden Rang zu geben.
Das ist auch ein Auftrag an den einfachen Gesetzge-ber. Wir werden die Dinge in Zukunft bei Beachtungdieses Staatsziels unter Umständen in einem anderenLicht sehen, und wir werden – das kann daraus resultie-ren – dann auch andere Formulierungen finden, die unsbislang in dieser Form nicht gelungen sind.Trotz allem meine ich, daß in dem Entwurf der SPDund der Grünen – wir werden sicherlich darüber nochausführlich diskutieren – eine Richtung eingeschlagenworden ist, die nicht gut ist. Wenn mit einer „Mitge-schöpflichkeit“ argumentiert wird, dann muß ich sagen:Das ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der in ethisch-theologischer Betrachtungsweise einen unglaublichweiten Spielraum eröffnet und der wohl kaum faßbarsein wird. Etwas Ähnliches gilt für den Entwurf der Re-gierungskoalition: Dort sind auch die Haltungsbe-dingungen expressis verbis angesprochen. Ich halte esnicht für richtig, daß so etwas in der Verfassungsteht. Das gehört in einfachgesetzliche Regelungen hin-ein und sollte nicht in die Verfassung aufgenommenwerden.
Ich glaube, daß wir im Zuge der Beratungen durchaus zueiner sinnvollen Regelung kommen werden.Abschließend will ich unterstreichen: Die Mehrheit indieser Gesellschaft erwartet vom Deutschen Bundestag,daß wir die notwendigen Änderungen in Richtung einerStaatszielbestimmung vornehmen. Wenn 85 Prozent derBürgerinnen und Bürger das heute von uns erwarten,dann, meine ich, sind auch einige Stimmen aus derUnion dabei.
Das könnten Sie als Begründung dafür heranziehen,dann, wenn wir abstimmen, die Abstimmung freizuge-ben und zu sagen: Wir werden denjenigen, die dem zu-stimmen wollen – es gibt ja eine ganze Reihe solcherKollegen –, das auch ermöglichen.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Ich schließe dieAussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Ge-setzentwürfe auf den Drucksachen 14/207, 14/279 und14/282 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-schüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vor-schläge? – Dies ist nicht der Fall. Dann ist die Überwei-sung so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b so-wie Zusatzpunkt 3 auf: 12a) Überweisungen im vereinfachten VerfahrenErste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Steuerentlastungsge-setzes 1999/2000/2002– Drucksache 14/265 –
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-kommen vom 18. August 1998 zwischen derRegierung der Bundesrepublik Deutschland,den Vereinten Nationen und dem Sekretariatdes Übereinkommens der Vereinten Nationenzur Bekämpfung der Wüstenbildung über denSitz des Ständigen Sekretariats des Überein-kommens– Drucksache 14/228 –
Metadaten/Kopzeile:
1076 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1077
(C)
(D)
– Herr Beck, zu Ihnen komme ich gleich noch – in dieStrafprozeßordnung gegen Ende 1996 ist dieser Mei-nungsunterschied zwischen der SPD-Bundestagsfraktionund den Bündnisgrünen deutlich geworden. Seinerzeitwurde hier im Deutschen Bundestag zunächst der gene-tische Fingerabdruck zur Identitätsfeststellung in dieStrafprozeßordnung eingeführt. Seinerzeit wurde dieserGesetzentwurf mit den Stimmen der damaligen Regie-rungskoalition und im übrigen mit den Stimmen derSPD, aber, Herr Beck, bei Enthaltung der Bündnisgrü-nen angenommen.
Noch deutlicher, Herr Beck, wurde dieser Meinungs-unterschied schließlich bei der Verabschiedung des gel-tenden DNA-Identitätsfeststellungsgesetzes. Die Bünd-nisgrünen waren die einzige Fraktion im DeutschenBundestag, die bei der Abstimmung vom 24. Juni 1998wegen angeblicher rechtsstaatlicher Bedenken seinerzeitgegen das DNA-Identitätsfeststellungsgesetz gestimmthaben. Ich bin nun gespannt, wie der damalige und heu-tige rechtspolitische Sprecher der bündnisgrünen Bun-destagsfraktion, der Kollege Volker Beck, begründenwird, warum er damals wegen angeblicher rechtsstaatli-cher Bedenken gegen das DNA-Identitätsfest-stellungsgesetz gestimmt hat und er im Rahmen der Be-ratungen über die Ergänzung des DNA-Identitätsfest-stellungsgesetzes vermutlich einer Formulierung zu-stimmen wird, die lediglich die aufgetretene Gesetzes-lücke schließt, ohne dabei aber die angeblich rechts-staatlichen Bedenken gegen dieses Gesetz aufzugreifen.Herr Kollege Beck, ich bin gespannt darauf, wie Sie sichin diesem Beratungsverfahren winden und biegen wer-den, um dann anschließend einer Formulierung derBundesregierung Ihre Zustimmung zu geben, die Ihream 24. Juni 1998 vorgetragenen angeblichen rechts-staatlichen Bedenken nicht beseitigen wird.Herr Kollege Beck, Sie sind in der Tat in keiner be-neidenswerten Situation, und die Kolleginnen und Kol-legen Ihrer Fraktion auch nicht. In diesem Beratungsver-fahren wird sich zeigen, daß die Bündnisgrünen von derSPD-Bundestagsfraktion und damit von der Mehrheitder Bundesregierung domestiziert werden. Für die Grü-nen wahrlich keine angenehme Situation, aber eine Si-tuation, die sie in den vergangen Wochen schon des öf-teren erlebt haben und die wir in den nächsten Wochenund Monaten immer wieder erleben werden.Nun zum Verhalten der neuen Bundesjustizministerinund damit der Bundesregierung. Ausweislich einesRundschreibens des Bundesjustizministeriums vom1. Dezember 1998 ist geplant, befristet eine Recherche,einen Suchlauf für die DNA-Analysedatei durch Rege-lungen im Bundeszentralregister und im DNA-Identitätsfeststellungsgesetz zu ermöglichen. Diese Re-gelung soll aber in ein Strafverfahrensänderungsge-setz eingestellt werden, welches datenschutzrechtlicheRegelungen enthält und in den vergangenen Jahren be-reits intensiv diskutiert worden war, ohne daß es im üb-rigen zu einem Abschluß gekommen ist. In diesem Zu-sammenhang kann man auf die Beratungen zum StVÄG1994 und dem StVÄG 1996 mit den dazugehörigenDrucksachen verweisen.Dieser Entwurf, Herr Kollege Professor Meyer, derim Rundschreiben des BMJ vom 1. Dezember 1998 dar-gestellt worden ist, ist offensichtlich in der Kabinettssit-zung am 23. Dezember 1998 nach meiner Kenntnisbeschlossen worden. Der Entwurf der CDU/CSU-Bundestagsfraktion könnte bereits nach dieser heutigenDebatte im Rechtsausschuß am 27. Januar 1999 beratenund gegebenenfalls geändert werden. Die zweite unddritte Lesung im Plenum des Deutschen Bundestageskönnte somit noch im Februar 1999 abgeschlossen wer-den. Dieses würde ermöglichen, daß der Bundesrat nochfür die Sitzung am 26. Februar 1999 unseren Gesetzent-wurf in der möglicherweise auch geänderten Fassungzugeleitet bekommen könnte.Damit könnte bereits im März/April 1999, nach Ver-kündung im Bundesgesetzblatt, die Voraussetzung füreinen Suchlauf im Bundeszentralregister geschaffenwerden. Bei günstiger Prognose könnten also die soge-nannten Altfälle auf der Grundlage unseres Gesetzent-wurfes Mitte bzw. Ende dieses Jahres in der BKA-Dateigespeichert werden. Wird dagegen eine entsprechendeRegelung in einen umfassend zu beratenden Gesetzent-wurf zum Strafverfahrensänderungsgesetz – wie von derBundesregierung beabsichtigt – eingestellt, so könnteeine Verzögerung eintreten, die weit über das Ende desJahres 1999 hinausgeht.Die Regierungskoalition sollte sich daher einen Ruckgeben, um auf der Grundlage unseres Gesetzentwurfeszu einer zügigen Beratung und Verabschiedung im In-teresse von Opfern und zukünftigen potentiellen Opfernzu kommen. Daß Sie vermutlich daran nicht interessiertsind, haben die Beratungen im Ältestenrat gezeigt, wouns nach meiner Information verwehrt wurde, diesenGesetzentwurf noch im Dezember 1998 im Plenum desBundestages – was im Einvernehmen aller Fraktionenmöglich gewesen wäre – in erster Lesung zu beraten.Die neue Regierungskoalition hat damals ihr Instru-mentarium und ihre Mehrheit benutzt, so daß dieser Ge-Ronald Pofalla
Metadaten/Kopzeile:
1078 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
setzentwurf mit einer über einmonatigen Verzögerungerst heute hier im Plenum in erster Lesung beraten wer-den kann. Die Regierungskoalition sollte eingestehen,daß wir auf Grund unserer zügig eingebrachten Gesetzes-initiative vom 17. November 1998 zu einer rechtsstaat-lich korrekten Regelung des angesprochenen Problemszeitnah kommen könnten, wenn es auf Ihrer Seite diewirkliche Bereitschaft gäbe, das Problem zügig regelnzu wollen. Aber, wie gesagt, es gibt tiefgreifende Mei-nungsunterschiede zwischen den Bündnisgrünen und derSPD. Die SPD hat die Bündnisgrünen erkennbar überden Tisch gezogen; diese haben inhaltlich ihre Bedenkenaufgegeben.
Das alles erfordert Zeit. Diese Zeit geht verlorenbeim Schutz von Opfern und zukünftigen Opfern. Wirhalten dieses Verhalten der neuen Regierungskoalitionfür empörend.Herzlichen Dank.
Wir fahren in der
Aussprache zur Ergänzung des DNA-Identitätsfest-
stellungsgesetzes fort. Ich wollte diesen Begriff noch
einmal erwähnen, weil mir sehr imponiert hat, wie oft
der Herr Kollege ihn ohne zu stolpern ausgesprochen
hat.
Das Wort hat jetzt Professor Jürgen Meyer.
Frau Präsidentin!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Gesetz-entwurf der CDU/CSU-Fraktion ist der handwerklichmißglückte Versuch, ein kriminalpolitisch richtiges Zielzu erreichen. Außerdem greift er erheblich zu kurz.Deshalb stelle ich zu den schon vor dieser Debatte ver-breiteten Ausführungen des Kollegen Pofalla eingangslediglich fest: Die Qualität der Opposition bemißt sichnicht nach ihrer parteipolitischen Aggressivität, sondernnach der Substanz ihrer Entwürfe. Diese läßt bislang –wie ich darlegen werde – zu wünschen übrig.
Nach dem kriminalistischen Siegeszug des geneti-schen Fingerabdrucks und seiner auf mehrere Gesetzes-initiativen der SPD zurückgehenden rechtsstaatlichenRegelung im Jahre 1997 haben wir uns im vergangenenJahr darauf verständigt, das Verfahren auch auf soge-nannte Altfälle anzuwenden. Dies ist ein wichtiger In-halt des neuen § 81 g StPO. Danach darf die DNA-Analyse für die Identitätsfeststellung in künftigen Straf-verfahren auch bei Personen durchgeführt werden, diewegen einer Straftat von erheblicher Bedeutung rechts-kräftig verurteilt worden sind, sofern und solange dieentsprechenden Eintragungen im Bundeszentralregisternoch nicht getilgt sind. Die Erwähnung des Bundeszen-tralregisters diente dabei – nach dem klaren Gesetzes-wortlaut und entgegen der irrigen Auffassung des Kolle-gen Pofalla – allein dem Zweck, eine zeitliche Begren-zung für die Zulässigkeit der Maßnahmen herbeizufüh-ren. § 2 des DNA-Identitätsfeststellungsgesetzes ist in-soweit eindeutig.Es besteht offensichtlich ein Interesse der Strafver-folgungsbehörden daran, den Datenbestand des Bun-deszentralregisters auszuwerten und dadurch die Alt-fälle systematisch herauszufinden. Eine entsprechendeErmächtigungsgrundlage oder Mitwirkungspflicht desBundeszentralregisters läßt sich im Gegensatz zurRechtsauffassung der Entwurfsverfasser aus dem gel-tenden Bundeszentralregistergesetz nicht ableiten. Es ist,Herr Kollege Pofalla, auch nicht befremdlich, daß dieWissenschaft mehr an Daten auswerten kann als dieStrafverfolgungsbehörden. Ich verweise nur auf dieVielzahl getilgter oder zu tilgender Daten, soweit dieseeinem gesetzlichen, aber natürlich nicht wissenschaftli-chen Verwertungsverbot unterliegen.Die fehlende Ermächtigungsgrundlage bzw. Mitwir-kungspflicht des Bundeszentralregisters sollte aber auchnach unserer Auffassung geschaffen werden.
– Dabei müssen allerdings, Herr Kollege Geis, das ver-fassungsrechtliche Gebot der Gesetzesbestimmtheit unddie Anforderungen des geltenden Datenschutzrechts be-achtet werden.
Zudem darf eine entsprechende gesetzliche Ergän-zungsregelung nicht im inhaltlichen Widerspruch zudem Gesetz stehen, das sie ergänzen soll. Diese Anfor-derungen werden von dem vorliegenden Gesetzentwurf,der offenbar mit heißer Nadel gestrickt worden ist, nichtbeachtet. Die von Ihnen, Herr Kollege Pofalla, so be-zeichnete „ganz einfache Regelung“ ist offenbar zu ein-fach.
Ich weise nur darauf hin, daß der Entwurf zwar eineÜbermittlungsermächtigung des Generalbundesan-walts vorsieht, aber keine Anfragebefugnis der im ein-zelnen aufgeführten Behörden, daß er den Verwen-dungszweck nur pauschal durch Verweis auf § 2 Abs. 1des DNA-Identitätsfeststellungsgesetzes beschreibt, derdazu nichts enthält, und daß er keine Löschungsbe-stimmungen vorsieht.Der entscheidende Mangel besteht aber darin, daß derEntwurf den datenschutzrechtlichen Grundsatz der Be-grenzung der Datenübermittlung auf das erforderlicheMaß verletzt. Neben der Staatsanwaltschaft nennt derEntwurf nämlich als auskunftsberechtigte Stellen unteranderem alle den Kriminaldienst verrichtenden Stellender Polizei sowie alle obersten Bundes- oder Landesbe-hörden. Eigentlich hätte auffallen müssen, daß obersteBundes- und Landesbehörden im Rahmen des Identitäts-feststellungsgesetzes nicht samt und sonders Zuständig-keiten haben. Sollen eigentlich auch die Kultus- oderRonald Pofalla
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1079
(C)
(D)
Landwirtschaftsminister als oberste Landesbehördenkünftig einen Auskunftsanspruch erhalten?
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Geis?
Ja, gerne.
Bitte schön, Herr
Kollege.
Sie wissen, Herr Kolle-
ge, daß wir Ihren Sachverstand sehr hoch schätzen und
für jeden Rat dankbar sind, den Sie uns geben. Wären
Sie denn bereit, die Ratschläge, die Sie jetzt hier vom
Rednerpult erteilen, auch in die Beratungen des Rechts-
ausschusses einzubringen, so daß wir gemeinsam eine
auch Ihren Vorstellungen entsprechende Lösung finden
können?
Herr Kollege Geis,
ich werde nachher noch ausführen, daß eine gemeinsa-
me Gesetzesberatung durchaus auch im Interesse der
SPD-Fraktion liegt. Aber Sie werden einräumen, daß es
Beratungsvorlagen gibt, die so mangelhaft sind, daß wir
alle froh sein müssen, wenn eine bessere kommt. Darauf
hoffen wir, und ich denke, daß die Frau Bundesjustizmi-
nisterin dazu nachher einiges ausführen wird.
Im Zusammenhang mit der Frage, welche Behörden
einen Auskunftsanspruch erhalten sollen, hätte man –
neben der Staatsanwaltschaft – wohl in erster Linie noch
an das Bundeskriminalamt denken können. Es müßte
auch bekannt sein, daß die Kripo neben vorbereitenden
Tätigkeiten bei der DNA-Analyse, die bekanntlich ei-
nem strengen Richtervorbehalt unterliegt, keinerlei Zu-
ständigkeiten hat und deshalb für diesen Zweck auch
keine Auskünfte des Bundeszentralregisters verlangen
kann.
Schließlich fehlt im CDU/CSU-Entwurf nicht nur ei-
ne Regelung, die sicherstellt, daß die Vorschrift nur für
die einmalige Maßnahme der sogenannten Altfälle her-
angezogen wird, sondern auch ein Straftatenkatalog.
Dieser ist notwendig, weil es nicht Sache der Register-
behörde sein kann, zu bewerten, was „erhebliche Straf-
taten“ im Sinne § 81 g StPO sind. Die Registerbehörde
ist dazu weder berechtigt noch in der Lage. Ein dem Ge-
setzentwurf beizufügender Katalog ist auch notwendig,
damit die Registerbehörde die erforderlichen Program-
mierungsarbeiten vornehmen kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sagte eingangs,
daß der Entwurf auch zu kurz greift. Nach den beispiel-
haft aufgeführten Mängeln des Entwurfs kann es nicht
mehr zweifelhaft sein, daß es sich hier um eine Materie
des strafverfahrensrechtlichen Datenschutzrechts han-
delt, das seit vielen Jahren durch das immer wieder an-
gekündigte Strafverfahrensänderungsgesetz geregelt
werden müßte. Der Übergangsbonus des Volkszäh-
lungsurteils des Bundesverfassungsgerichts von 1983
ist bekanntlich längst verbraucht. Es ist schon bemer-
kenswert, daß die lange Amtszeit der früheren Bundes-
regierung etwa mit der nicht genutzten Zeit identisch ist,
in welcher der Auftrag des Volkszählungsurteils hätte
erfüllt werden müssen.
Ich erinnere daran, daß wir uns im vergangenen Jahr
in langen Verhandlungen darum bemüht haben, eine
konsentierte Fassung des StVÄG zu erarbeiten. In einer
letzten Sitzung im August 1998 in Frankfurt, Herr Kol-
lege Geis, schien die Einigung erreicht. Ein aus der Sicht
aller Verhandlungsteilnehmer tragfähiger Kompromiß-
text war vollständig ausgehandelt. Wenige Tage danach
genügte ein kurzes Schreiben des bayerischen Justizmi-
nisters, um der CDU/CSU-Bundestagsfraktion den Mut
zum Kompromiß zu nehmen.
Es ist ja richtig, daß ohne Datenschutz manches im
Strafverfahren leichter machbar zu sein scheint. Das bö-
se Erwachen wird aber folgen, wenn demnächst über-
führte Verbrecher freigesprochen werden müssen, weil
die Vorgaben des Volkszählungsurteils bis heute nicht
erfüllt sind. Dafür tragen Sie, meine Damen und Herren
von der CDU/CSU-Opposition, dann eine besondere
Verantwortung.
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Pofalla?
Ja, ich habe sie
schon im Vorgriff gestattet.
Herr Kollege Meyer,
würden Sie mir zubilligen, daß auch die SPD-
Bundestagsfraktion dem bestehenden DNA-Identitäts-
feststellungsgesetz bei seiner Beratung im Juni des ver-
gangenen Jahres einstimmig zugestimmt haben? Könn-
ten Sie mir bitte erklären, warum Sie die gerade von Ih-
nen vorgetragene Kritik in Erwartung der Rechtspre-
chung des Bundesverfassungsgerichtes und möglicher
Rechtswidrigkeit hinsichtlich der Erfassung von Daten
in das Verfahren nicht eingebracht haben, obwohl Sie
am Schluß dem bestehenden DNA-Identitätsfest-
stellungsgesetz zugestimmt haben?
Wir haben dieseBedenken sehr wohl eingebracht und sind davon ausge-gangen, daß wir uns auf dieses Strafverfahrensände-Dr. Jürgen Meyer
Metadaten/Kopzeile:
1080 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
rungsgesetz, das eine umfassende Regelung des Daten-schutzes im Strafverfahren enthält, würden einigen kön-nen. Bis zum August vergangen Jahres schien das mög-lich. Es war – das sage ich auch für die Kollegen vonCDU/CSU und F.D.P. im Bundestag – für alle, vorsich-tig formuliert, eine Enttäuschung, daß unsere gemein-samen Bemühungen letztlich durch einen ganz kurzenBrief des Justizministers Leeb aus München zunichtegemacht worden sind. Ich hätte mir gewünscht, daß IhreFraktion in dieser Situation zu dem ausgehandeltenKompromiß gestanden hätte.
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Geis?
Ja, bitte schön.
Bitte sehr, Herr
Kollege.
Herr Kollege, stimmen
Sie mir zu, daß der Regelungsinhalt dieses jetzt vorge-
legten Gesetzes nichts mit dem damals verhandelten
StVÄG zu tun hatte? Der Regelungsinhalt, den wir jetzt
diskutieren, hatte nichts mit dem StVÄG zu tun, so daß
nach meiner Auffassung dieses Beispiel – vielleicht
können Sie mir zustimmen – weit hergeholt ist.
In diesem Punkt
kann ich Ihnen leider nicht zustimmen; denn der Sinn
meiner vorangegangenen Ausführungen war, darzustel-
len, daß es bei diesem Spezialgesetz genau um diejenige
Materie geht, die im StVÄG umfassend zu regeln ist.
Daß kein Normwiderspruch entstehen darf, macht es
notwendig, die Materie, wie wir es vorhatten, entweder
parallel oder gleichzeitig oder sogar in einem Gesetz zu
regeln.
Wir wollen die Aus-
schußberatungen nicht hier im Plenum vollziehen. Sie
haben noch eine Frage. Bitte, Herr Kollege Geis.
Herr Meyer, ist Ihre ab-
lehnende Haltung nicht vielmehr darauf zurückzuführen,
daß dieses Gesetz von der CDU/CSU-Bundestags-
fraktion und nicht von Ihrer Fraktion oder von der Re-
gierung vorgelegt worden ist? Könnte es sein, daß Sie
deswegen alle möglichen Gegenvorschläge machen, um
diesem Gesetz nicht zustimmen zu müssen?
Diese Unterstel-
lung ist hart am Schwarzen vorbei getroffen. Zutreffen-
der ist die Annahme, daß in Sachen Datenschutz und
genetischer Fingerabdruck in aller Regel SPD-Entwürfe
die Gesetzgebung beeinflußt haben. Aber wenn künftig
etwas Gutes von der CDU/CSU kommen sollte,
dann werden wir das gerne übernehmen. Heute aller-
dings ist dieser Sachverhalt leider nicht gegeben.
Nach der schwierigen Verhandlungssituation über das
Strafverfahrensänderungsgesetz im vergangenen Som-
mer freuen wir uns natürlich, daß wir nun eine neue
Bundesregierung haben,
die beabsichtigt, demnächst dem Parlament den Entwurf
eines Strafverfahrensänderungsgesetzes zuzuleiten.
Selbstverständlich wird ein Bestandteil dieses Entwurfs
auch die notwendige Ergänzung des Bundeszentralre-
gistergesetzes sein. Wer diese Änderung, wie etwa der
Freistaat Bayern, will, hat so einen zusätzlichen Grund,
sich bei der Verabschiedung des StVÄG verfassungstreu
und kooperativ zu verhalten. Die vom Kollegen Pofalla
befürchtete Verzögerung wird dann nicht eintreten.
Gestatten Sie mir eine abschließende Bemerkung: In
den Debatten der vergangenen Jahre hatten wir häufig
darauf hinzuweisen, daß sich eine seriöse Rechtspolitik
nicht in Einzelschritten erschöpfen darf, die letztlich
Stückwerk bleiben müssen. Deshalb vertrauen wir dar-
auf, daß wir in naher Zukunft eine seriöse Beratungs-
grundlage haben werden, die nicht lediglich ein einzel-
nes, neu aufgetauchtes datenschutzrechtliches Problem,
sondern die Vielzahl der Probleme des Datenschutzes im
Strafverfahren umfassend regelt.
Die intensiven interfraktionellen Verhandlungen im
vergangenen Jahr haben eine gute Grundlage für diesen
Entwurf geschaffen. Es kann dem guten Ruf des Gesetz-
gebers nur dienen, wenn er sich nach der häufigen Ad-
hoc- oder Hau-ruck-Gesetzgebung der letzten Jahre, die
vielfach mit Recht kritisiert worden ist, wieder mehr um
Gesetze bemüht, die diesen Namen wirklich verdienen.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat der
Kollege Volker Beck.
Jetzt hoffe ich, daß Sie von der CDU/CSU einmal ganzruhig und gespannt sind, während ich zu meiner Redeschreite, auf die Sie ja schon seit Minuten warten.
Dr. Jürgen Meyer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1081
(C)
(D)
Herr Pofalla hat ja schon ausgeführt, wie sehr er daraninteressiert ist. Ich fand seine Rede auch sehr interes-sant, da ich von Streitigkeiten innerhalb der Bundesre-gierung erfahren habe, von denen ich gar nichts wußte.Insofern hat das durchaus zur Information beigetragen.Ich werde mich erkundigen, worum es da gegangen seinsoll.Meine Damen und Herren, die Genomanalyse kannhelfen, Straftäter, insbesondere Sexual- und Gewalt-straftäter, zu überführen. Die Gendatei kann ein effekti-ves Fahndungsmittel sein und Wiederholungstaten ver-hindern. Hierüber besteht und bestand auch im letztenBundestag im Grundsatz Einigkeit. Die Frage des Obder Errichtung der Gendatei hat der Bundestag im ver-gangenen Jahr positiv beantwortet. Dissens besteht imwesentlichen in der Frage des Wie.Die Gendatei ist keineswegs die Wunderwaffe gegendas Verbrechen, zu der sie von manchem hochstilisiertwird. Bei der Bewertung darf niemals vergessen werden,daß es sich bei den gespeicherten Informationen umhochsensibles Material handelt; angesichts der rasantenEntwicklung in der Genforschung ist heute nicht auszu-schließen, daß daraus irgendwann einmal Informationengewonnen werden können, die über die reine Identitäts-feststellung hinausgehen. Auch rechtsstaatliche Grund-sätze wie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz oder dieUnschuldsvermutung müssen bei der Gesetzgebung be-achtet werden.In der Hektik, mit der die alte Regierungskoalitiondas Gesetz im vergangenen Jahr durch die parlamentari-schen Beratungen gepeitscht hat, wurde jedoch vielesnicht geregelt, was eigentlich hätte geregelt werdenmüssen. Nur deshalb führen wir heute hier diese Debat-te. So fehlt zum Beispiel – Herr Pofalla hat meine Kritikdaran schon angesprochen – noch die gesetzlicheGrundlage für die Errichtung der Datei bzw. für dieSpeicherung ganz bestimmter Daten.Die Speicherung von Daten in den Fällen, in denenbereits in einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahrenein genetischer Fingerabdruck genommen wurde – dassind die Fälle nach § 81 e Strafprozeßordnung –, erfolgtohne gesetzliche Grundlage allein auf Grund einer An-ordnung des aus dem Amt geschiedenen Bundesinnen-ministers. Ich weiß, wie aufrecht Herr Schmidt-Jortzigein bis zwei Tage darum gestritten hat, das zu regeln,dann hat er sich aus der Debatte verabschiedet. DieStrafprozeßordnung bietet jedenfalls keine gesetzlicheGrundlage, die die erforderliche Speicherung regelt.Das BKA-Gesetz reicht als Ermächtigungsgrundlageunseres Erachtens nicht aus. Es läßt im übrigen einestrafverfolgungsfremde Nutzung von Daten unter be-stimmten Voraussetzungen zu. Ich verstehe nicht, war-um wir für einen Teil der Gendaten dieses im letztenJahr per Gesetz ausgeschlossen haben und es für den an-deren Teil ausdrücklich erlauben wollen. Das macht jakeinen Sinn. An dieser Auffassung und an dieser Kritikhält unsere Bundestagsfraktion – darauf haben Sie sogespannt gewartet – weiterhin fest.Daß Sie jetzt allerdings einsehen, daß es da ein Pro-blem gibt, Herr Pofalla, und uns in unserer Kritik be-stärken und uns auffordern, diese in gesetzliche Rege-lungen umzusetzen, freut mich. Ich freue mich immerüber Unterstützung, auch aus der Opposition, für ver-nünftige Vorhaben. Lassen Sie uns im Ausschuß weiterüber dieses Problem reden.Andere handwerkliche Fehler des Gesetzes kommenbei der praktischen Anwendung zum Tragen. So gibt eszum Beispiel keinen Straftatenkatalog, der bestimmt,bei welchen Delikten überhaupt Gendaten erhoben wer-den dürfen. Statt dessen nennt das Gesetz Straftaten vonerheblicher Bedeutung. Schon heute ist damit zu rech-nen, daß mit Hilfe dieser Generalklausel der betroffenePersonenkreis rapide erweitert wird.Versäumnisse bei der Gesetzesfassung rächen sichjetzt. Für diese Fehler und Versäumnisse, meine Damenund Herren von der CDU/CSU, tragen allein Sie alsMitglieder der alten Regierungskoalition die Verant-wortung.
– Die SPD hat in vielen Punkten unsere Kritik geteilt.Sie hat sich aber bei der Abstimmung auf Grund derunterschiedlichen Gewichtung von Kritik und Notwen-digkeit der Regelung anders verhalten. Dieses Verhal-ten, das sich aus der unterschiedlichen politischen Ak-zentuierung ergab, haben wir immer respektiert.Bündnis 90/Die Grünen wird die praktische Anwen-dung des Gesetzes genau beobachten. Ich glaube, unserKoalitionspartner wird dabei mithelfen. Wir werdenüberprüfen und gegebenenfalls, wenn es sich als not-wendig erweist, aus der Praxis heraus erforderliche Kor-rekturen anmahnen. Wir wollen es Ihnen nicht gleichtunund den Fehler begehen, aktionistisch eine Nachbesse-rung des Gesetzes nach der anderen zu verabschieden,die dann in ein paar Monaten erneut korrigiert werdenmuß.Einer der Punkte, auf die sich der Bundestag in dervergangenen Wahlperiode verständigt hat, war die Er-weiterung der Zugriffsmöglichkeit auf die genetischenInformationen bereits verurteilter Straftäter, von denennoch keine verformelten DNA-Profile vorlagen. DieEinräumung der Möglichkeit der nachträglichen Erhe-bung von Gendaten bei bereits Verurteilten war ein No-vum. Zwar dürfen auch diese Daten nur dann erhobenwerden, wenn Grund zur Annahme besteht, daß gegenden Betroffenen künftig erneut wegen Straftaten von er-heblicher Bedeutung ermittelt wird. Wann dies der Fallist und wie sich dies feststellen läßt, daran scheiden sichallerdings die Geister.In einigen Bundesländern vertritt man beispielsweisedie Auffassung, bereits die Schwere des Delikts reicheaus, einen entsprechenden Verdacht zu begründen. Ausder Presse war zu entnehmen, allein in Bayern werde dieErhebung der Gendaten von über 89 000 bereits entlas-senen Straftätern für erforderlich gehalten. Diese Zahlerscheint mir sehr hoch. Auch aus anderen Bundeslän-dern ist bekannt, daß Strafgefangene unter schlichtemHinweis auf den Gesetzestext zum „freiwilligen“ Gen-test geladen werden – bei Weigerung mit richterlichemBeschluß.Volker Beck
Metadaten/Kopzeile:
1082 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
In den Ländern wird nun beklagt, daß diese Vor-schrift leerlaufe, weil die Ermittlungsbehörden oftmalsschlicht nicht wissen, welche Personen überhaupt für ei-nen Gentest in Betracht kommen. Die Durchsicht derAkten und Dateien wird als zu aufwendig angesehen.Eine Auswertung des Datenbestandes des Bundeszen-tralregisters könnte hier Hilfestellung leisten. Das Bun-deszentralregistergesetz enthält jedoch bisher keineErmächtigungsgrundlage zur Datenweiterleitung.Ich erkenne an, daß ein Problem bei der Ermittlungvon Personaldaten verurteilter Straftäter besteht. MeineFraktion ist auch bereit, an der Lösung dieses Problemesmitzuwirken. Der entsprechende Vorschlag der Unionist aber für uns nicht tragbar.
Eine Regelung der Datenübermittlung, die wir mit-tragen können, muß gewisse Mindestkriterien erfüllen.Dies ist zum einen ein Straftatenkatalog, der sicherstellt,daß nur Daten über schwere Straftaten übermittelt wer-den. Darüber hinaus ist eine klare Verwendungsregelungerforderlich. Zum anderen halten wir auch eine Befri-stung der Möglichkeit der Registerabfrage für erforder-lich. Nur so kann sichergestellt werden, daß die Vor-schrift nur für die einmalige Ermittlung der sogenanntenAltfälle herangezogen wird und nicht zum dauerndenAbgleich des Registerbestandes mit der beim BKA ge-führten Gendatei benutzt wird.Der Unionsentwurf erfüllt keine dieser Bedingungen.Er schießt in vielerlei Hinsicht über sein vorgeblichesZiel hinaus. Weder wird der Verwendungszweck derDaten konkret bestimmt, noch findet man irgendwelcheLöschbestimmungen.
– Der ist so kurz und bescheiden, daß man ihn ziemlichschnell durchlesen kann.
Auch der von Ihnen vorgesehene Kreis der Aus-kunftsberechtigten ist viel zu weit gefaßt. Neben denStaatsanwaltschaften wollen Sie der Kriminalpolizei wieauch den obersten Bundes- und Landesbehörden einenAuskunftsanspruch zubilligen. Die obersten Landwirt-schaftsbehörden gehören allerdings noch nicht zu demKreis. Vielleicht erleben wir aber im Rechtsausschuß ei-ne entsprechende Forderung, Herr Meyer.Allerdings verfügen sowohl die Kriminalbehördenwie auch die obersten Bundes- und Landesbehördenüber keine bzw. nur geringe Kompetenzen im Verfahrenzur DNA-Feststellung. Daher stellt sich mir die Frage,was diese Institutionen Ihrer Auffassung nach mit denübermittelten Personaldaten anfangen sollen. Unter da-tenschutzrechtlichen Gesichtspunkten dürften diese Re-gelungen keinen Bestand haben. Ich rate Ihnen, einmalden § 15 des Datenschutzgesetzes – Grundsatz der Be-grenzung der Datenübermittlung auf das erforderlicheMaß – anzuschauen. Dort finden Sie wichtige Grundge-danken des Datenschutzes wieder, die auch hier zu be-achten sein werden.Meine Damen und Herren aus der Union, so kannman mit dem hochsensiblen Datenmaterial nicht umge-hen. Sie setzen die rechtspolitische Flickschusterei inder Opposition fort, die in den letzten Jahren bestim-mendes Element Ihrer Rechtspolitik war.
Ich bin froh, daß in der Rechtspolitik jetzt ein andererWind weht.
Das Wort hat jetzt
der Kollege Rainer Funke, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Die bisherige Diskussion, die auchein sehr interessantes juristisches Kolleg darstellt, zeigt,daß wir hier ein ganz wichtiges Problem angesprochenhaben, denn schließlich ist es in unser aller Interesse,daß über die DNA-Analytik im Strafverfahren, insbe-sondere bei späteren Ermittlungsverfahren, genügendDaten von einschlägig Verurteilten gespeichert sind, umbei aktuellen Vorfällen, zum Beispiel bei Vergewalti-gung mit Körperverletzung oder gar Todesfolge, einengenetischen Fingerabdruck der in Frage kommendenTäter, also auch der Altfälle, zur Verfügung zu haben.Wir waren in der letzten Legislaturperiode hier be-reits einig, daß dieses DNA-Identitätsfeststellungsgesetzso zu verabschieden ist. Wir waren uns – das ist völligrichtig, Herr Professor Meyer – viele Jahre nicht einig,auch in der Koalition nicht, hinsichtlich des zu regeln-den StVÄG. Der Bonus, den wir vom Bundesverfas-sungsgericht eingeräumt bekommen haben, wird sichlangsam zu einem Malus verändert haben. Wir müßtendieses StVÄG wirklich alsbald ins Bundesgesetzblattaufnehmen. Es ist damals – da haben Sie völlig recht –am Landesjustizminister von Bayern gescheitert.Man war sich in der letzten Legislaturperiode, viel-leicht auch, weil man die Tragweite nicht immer erkannthat – das gilt unter Umständen auch für den einen oderanderen SPD-Abgeordneten im Rechtsausschuß –, nichthundertprozentig über die Frage der Dateien und derAbfragemöglichkeiten beim Zentralregister im klaren.Der damalige Bundesinnenminister – das haben HerrBeck, und ich glaube, auch Sie, Herr Professor Meyer,zu Recht deutlich gemacht – hat gedacht, er könne hierdurch den schlichten Hinweis auf das BKA-Gesetz Ab-hilfe schaffen. Das ist natürlich nicht der Fall. Für solchesensiblen Daten – da gebe ich Herrn Beck völlig recht –bedarf es einer befriedigenden Rechtsgrundlage. Diesemuß nun alsbald geschaffen werden.Ich bin fast sicher, daß die Bundesjustizministerinjetzt auch vorschlagen wird – es wird auch Zeit –, wieVolker Beck
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1083
(C)
(D)
das aussehen soll, und vor allem erklären wird, in wel-cher Zeit sie die Rechtsgrundlage schaffen kann. Dennes ist in der Tat ein großes Problem. Wenn wieder einsolcher Fall passiert wie in den letzten zwei Jahren – wiralle kennen die Fälle namentlich –, dann ist das Geschreiin der Öffentlichkeit groß. Dann wird es nicht darumgehen, ob jemand aus dem Bundesjustizministerium ge-rügt wird oder nicht, sondern dann besteht schlicht dieNotwendigkeit, schnell zu ermitteln. Dazu, daß das ge-schehen kann, müssen wir alle beitragen.Aber auch die Landesjustizverwaltungen müssen mitdazu beitragen – darauf hat Herr Beck dankenswerter-weise hingewiesen –, und dazu gibt es schon eine Reihevon Möglichkeiten. Den Landesjustizverwaltungen ist esnur zu mühsam, in die JS-Karteien und in die Akten zuschauen und daraus eine vernünftige Datei zu erstellen.Sie wollen es sich durch einen Abruf der Daten beimBundeszentralregister, um vielleicht schneller an dieseheranzukommen, sehr einfach machen. Hierzu bedarf esaber in der Tat einer ausreichenden Rechtsgrundlage.Die Landesjustizverwaltungen wollen jedenfalls wirnicht aus der Verantwortung entlassen. Die sollen sichgefälligst auf die Hosen setzen und ihre Daten selberermitteln. Wenn es dann noch Lücken gibt, dann kannsicherlich auch das Bundeszentralregister mitwirken.Das muß es dann auch. Dafür muß sehr schnell auch mitHilfe der Bundesjustizministerin die Rechtsgrundlagegeschaffen werden.Wir sind bereit, im Rechtsausschuß auf Grund derInitiative der CDU/CSU-Fraktion intensiv mitzuberatenund dann, wenn vom Bundesjustizministerium bessereVorschläge kommen sollten, diesen zuzustimmen. Wirsind für die Beratung offen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der
Kollege von Klaeden, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was macht man als
Regierungskoalition, wenn einem die Opposition zuvor-
gekommen ist?
– Ich will nicht verschweigen, daß wir darin eine gewis-
se Erfahrung haben. – Man kündigt an oder stellt fest,
daß handwerkliche Fehler gemacht wurden. Man kün-
digt ein größeres, umfangreicheres Werk an, in dem alle
Bedenken der Opposition aufgenommen werden. Man
macht verfassungsrechtliche und datenschutzrechtliche
Bedenken geltend, und man trägt schließlich zur Unter-
streichung all dieser dilatorischen Vorhaltungen einen
orangen Kommentar zum Rednerpult und trägt ihn un-
aufgeschlagen wieder zurück, Herr Professor Meyer.
Das ist ein beeindruckender dilatorischer Schleiertanz,
den Sie hier vorführen. Aber das Thema ist dafür letzt-
lich zu ernst.
Herr Kollege, Kol-
lege Dreßen möchte Ihnen eine Zwischenfrage stellen.
Gestatten Sie das?
Ja, gerne.
Bitte sehr.
Auf Grund Ihrer Eingangsbe-
merkung möchte ich fragen: Was machen eigentlich die
jungen Wilden im Hinblick auf das Staatsangehörig-
keitsrecht?
Herr Kollege, daempfehle ich Ihnen die Lektüre der Zeitung.
Denn ich kann hier nur fünf Minuten sprechen. Ich wür-de mich freuen, wenn sich eine so intensive und viel-schichtige Diskussion, wie sie seit Jahren in der Uniongeführt wird, jetzt endlich auch einmal in der SPD zudiesen und anderen Fragen durchsetzen würde.Meine Damen und Herren, dieses Thema, so meineich, ist sehr ernst. Ich will Ihnen zunächst sagen, daß dieDinge, die wir versuchen, rechtsstreitfrei zu stellen, nachunserer Ansicht schon längst möglich sind. Denn die§§ 41 und 42 BZRG in Verbindung mit § 2 des DNA-Identitätsfeststellungsgesetzes bieten nach unserer An-sicht schon heute die Möglichkeiten, die von allen frak-tionsübergreifend gefordert werden.Wenn Sie tatsächlich handwerkliche Mängel geltendmachen und unsere Vorlage verbessern wollen
– oder müssen –, dann laden wir Sie dazu sehr herzlichein, Herr Professor Meyer. Unser Appell aber lautet:Nehmen Sie die Möglichkeiten des Gesetzgebungsver-fahrens wahr, die durch die Einbringung unseres Ge-setzentwurfes gegeben sind. Denn nach unserem Ent-wurf wäre es möglich, daß der Rechtsausschuß bereitsam 27. Januar dieses Jahres über diese Frage berät, daßdie zweite und dritte Lesung im Februar dieses Jahresstattfindet und daß schließlich der Bundesrat bereits am26. Februar 1999 dieser Regelung zustimmt.Das hätte den Vorteil, daß die Altfälle, die ja auch er-faßt werden sollen und auf die hier im Zusammenhangmit § 81 g der Strafprozeßordnung hingewiesen wordenist, möglichst umfassend in diese Regelung einbezogenwerden könnten und daß die – jedenfalls theoretische –Möglichkeit vermieden wird, daß eine Löschung vonTäternamen stattfindet, die wir für diese Identitätsfest-stellung doch noch gebrauchen könnten.Deswegen von unserer Seite nochmals – auch wennSie Bedenken geltend machen – der Appell, an unseremRainer Funke
Metadaten/Kopzeile:
1084 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
Gesetzentwurf mitzuarbeiten und für die von mir be-schriebene rasche Verabschiedung zu sorgen.Vielen Dank.
Nun erteile ich dasWort der Bundesministerin der Justiz, Frau ProfessorDr. Herta Däubler-Gmelin.Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin derJustiz: Liebe Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Ich muß sagen: Der Parlamentarismus istschon etwas Schönes – nach dieser Debatte sage ich dasin doppelter Weise –, vor allen Dingen dann, wenn derParlamentarismus, wie wir es gerade erlebt haben, zu ei-nem lange erwarteten, fälligen und notwendigen Regie-rungswechsel führt, wie er jetzt stattgefunden hat. Waskann da alles passieren?Da kann passieren, daß wir heute, am 87. Tag derneuen Regierung der rotgrünen Koalition vor folgendeSituation gestellt sind: Wir haben ohne Zweifel einwichtiges Thema vor uns. Wir müssen Korrekturarbeitenvornehmen, weil die letzte Regierung – lassen Sie michdas ganz freundlich sagen – bestimmte Punkte nicht ge-sehen hat. Man könnte, wenn man ein „junger Wilder“wäre und ihre liebenswürdigen und besonderen Aus-drücke benutzen würde, auch sagen, daß sie in unver-antwortlicher Weise geschlampt hat.
– Lieber Herr Pofalla, seien sie doch nicht so hektisch.Sie wissen es doch ganz genau; so lange ist die Debattedoch noch nicht her. Sie dürften sich noch ganz gut dar-an erinnern. Wir haben gesagt: Ja, wir wollen den gene-tischen Fingerabdruck zur Aufklärung und Strafver-folgung. Das ist keine Frage. Wir wollen ihn aber aufeiner rechtsstaatlichen Grundlage einführen.
Das war die Äußerung, die Professor Meyer und ich seitJahren gemacht haben.Was haben Sie getan? Sie haben damals gemeint, Siekönnten husch, husch über die Probleme hinweggehen.Jetzt sind wir dabei zu reparieren. Wir werden das repa-rieren müssen, weil es ohne Zweifel so ist, daß wir denDatenbestand des Bundeszentralregisters in rechtsstaat-lich einwandfreier Weise nutzbar machen müssen. Soeinfach ist der Sachverhalt.Daß Sie es jedoch in einigen Punkte immer nochnicht ganz verstanden haben – das ist nicht mehr so ko-misch –, zeigt sich in dem, was Herr Pofalla sagte. Lie-ber Eckart von Klaeden, auch Sie haben es gerade wie-derholt. Sie müssen sich jetzt schon irgendwann daraufverständigen, ob Sie meinen, die Rechtsgrundlage rei-che für den hier notwendigen Suchlauf aus oder nicht. Inder Rede von Herrn Pofalla war beides enthalten, auchSie haben gemeint, es sei beides drin. Wir sagen Ihnengenau das gleiche wie vor einem halben Jahr: Wir brau-chen eine klare Rechtsgrundlage.Lassen Sie mich hinzufügen, liebe Kolleginnen undKollegen: Der Datenschutz, der auf der Basis des Art. 2GG dringend erforderlich und verfassungsrechtlich ab-gesichert ist, ist nicht ein Streusel oder ein Zuckerguß,der auf einem Stück Kuchen nicht notwendig wäre.Nein, er ist ein Teil unserer Verfassungsordnung. Des-halb brauchen wir beides: eine klare Strafverfolgung undklare rechtsstaatliche Grundlagen.
– Gut, wenn Sie das teilen. Dann ist übrigens auch alles,was hier sonst an Aufgeregtheiten verbreitet wurde, re-lativ schnell zu beseitigen. Dann kann man sich, lieberHerr von Klaeden, darauf verständigen, daß wir eineRechtsgrundlage für den Suchlauf, für die Gruppenan-frage brauchen. Dann kann man sich auch darauf ver-ständigen – hier hat der Kollege Funke völlig recht –,daß dieses von Bund und Ländern gemeinsam gemachtwerden muß. Keine Frage!Eigentlich hätte mich Herr Pofalla loben müssen, undzwar einfach deswegen – ich weiß, es fällt ihm furchtbarschwer –,
weil wir nicht nur am zehnten Tag der Berufung insAmt, verehrter Herr Kollege Geis, der Justizministerin-nen- und Justizministerkonferenz zugesagt haben, wirmachen das, sondern weil wir das bereits im Kabinettbeschlossen haben. Nicht an dem Tag, den Sie genannthaben, verehrter Herr Kollege Pofalla, aber das macht janichts.Wir haben das im Kabinett beschlossen, übrigens zu-sammen mit einem anderen Gesetz, das von Ihnen eben-so – ich will mir noch einmal die Sprache eines „jungenWilden“ kurz borgen – in unverantwortlich zögerlicherWeise hinausgeschoben wurde, nämlich mit demStVÄG, bei dem uns die Länder in gleicher Weise sa-gen, das hätte schon längst kommen müssen, weil ihnendie Gerichte erklären: Wenn die rechtsstaatlich einwand-freie Grundlage nicht bald kommt, dann bekommen wirenorme Probleme.Sie, lieber Herr Kollege von Klaeden, haben völligrecht: Sie als Opposition können ganz schnell irgend et-was hinschreiben und als Fraktion in den Bundestageinbringen. Wer wüßte das nicht besser als die Oppositi-on der letzten 16 Jahre. Natürlich finde ich das ganz toll.Wenn es Ihnen um diesen Triumph geht, dann sollen Sieihn gern haben, übrigens mit Blumen.Daß Sie mit Ihrem Vorschlag jedoch Hilfe verspre-chen und keine Abhilfe schaffen, daß Sie Brot verspre-chen und Steine bringen, wissen auch Sie.
Eckart von Klaeden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1085
(C)
(D)
Ich will Ihnen gern noch einmal sagen, was in ein sol-ches DNA-Reparaturgesetz, das wir wegen Ihrer Säu-migkeit machen müssen, gehört. Das steht auch in demEntwurf, den das Bundeskabinett beschlossen hat.Wir brauchen erstens die Anforderung von Auskünf-ten aus dem Bundeszentralregister durch Staatsanwalt-schaften und das Bundeskriminalamt an Hand einesStraftatenkatalogs für die Durchführung von DNA-Analysen bzw. zum Abgleich mit der Haftdatei desBKA, also Regelungen über die Erhebungsbefugnis.Wir brauchen zweitens die Erteilung der Auskünftedurch das Bundeszentralregister an Staatsanwaltschaftenund das Bundeskriminalamt, also Regelungen über dieseÜbermittlungsbefugnis.Wir brauchen drittens die Durchführung des Ab-gleichs der Registerauskünfte mit der Haftdatei desBKA – wenn Sie möchten, kann ich Ihnen auch noch dieentsprechende Bestimmung sagen: § 9 Abs. 2 des ent-sprechenden Gesetzes – zur Ermittlung der Fälle baldi-ger Haftentlassung, also Regelungen über die soge-nannte Abgleichsbefugnis.Wir brauchen – ich will das gar nicht zu weit fortfüh-ren – weitere Regelungen über die Ermittlungsbefugnis,wo es um die Übermittlung der Ergebnisse des Ab-gleichs an die zuständigen Landeskriminalämter durchdas BKA und die Weiterleitung an die zuständigenStaatsanwaltschaften durch die Landeskriminalämteroder sonstige Stellen geht.Schließlich brauchen wir die sofortige Löschung derRegisterdaten mit negativem Abgleichergebnis – dashätte Ihnen übrigens auch bei „schnell hingeschlappten“Formulierungen auffallen müssen – und die Löschungder Daten über die Trefferfälle beim BKA innerhalb ei-ner kurzen Frist sowie die Löschung der Daten bei densonstigen Empfängern, wenn sie dort für den Zweck des§ 2 des DNA-Identitätsfeststellungsgesetzes nicht mehrbenötigt werden, also Regelungen über die Löschungs-pflicht.Bei Ihnen fehlen drei dieser wichtigen Regelungen.Das zeigt, daß man auf der Basis Ihres Gesetzentwurfesnicht vorankommen kann.
– Zu Ihnen, lieber Herr Kollege, darf ich sagen: 60 Jahreund noch kein bißchen leise. Aber so sind Sie uns amliebsten.
– Vielen Dank, daß Sie mir das zutrauen.Lieber Kollege Geis, wenn Sie sich in die Materievertiefen, werden Sie feststellen: Ich habe an dieserStelle recht.
Am besten wäre es gewesen, Sie hätten damals, als Siedie Mehrheit hatten, darauf gedrängt, daß das Gesetzkommt. Dann hätten wir heute die Probleme nicht.
– Entschuldigung, das haben wir ja getan.
– Wir haben es schon längst getan.
– Einen besseren Beweis für „60 Jahre und kein bißchenleise“ hätten Sie, lieber verehrter Kollege Geis, gar nichtgeben können.
– Sie rufen laut „Haltet den Dieb!“, aber haben sich sel-ber in die Lage des Diebes begeben. Angesichts dessendürfen Sie sich nicht wundern, daß das nur komischklingt.
– Ich sage es Ihnen jetzt zum drittenmal – und tue esauch, wenn Sie mich noch ein viertes Mal auffordern –:Wir haben bereits einen Gesetzentwurf beschlossen.
– Ich werde ihn Ihnen nachher persönlich übergeben.
– Das freut mich wirklich. Das halte ich auch für einegute Gesprächsgrundlage.
– Lieber Herr Kollege Geis, Sie wissen ganz genau: Daswar jetzt nur noch komisch. Wir haben gehandelt,
und wir beziehen die Länder – das wissen Sie ganz ge-nau – auch mit ein. Deswegen hat es gar keinen Sinn,daß Sie sich weiter aufregen.
Lassen Sie uns jetzt einmal darüber reden, wie wir dieVersäumnisse der CDU/CSU in dieser Frage vernünftigbereinigen.
Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin
Metadaten/Kopzeile:
1086 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
Wir haben die entsprechenden Bestimmungen im Ka-binett beschlossen; jetzt werden die Länder drüber-schauen. Sie haben zur Kenntnis zu nehmen – ob Ihnendas paßt oder nicht – und wissen ja genauso gut wie ich,daß die Länder ein entscheidendes Wort mitzureden ha-ben.Jetzt komme ich zu dem, was Sie – auch in der Oppo-sition – und Ihre besonderen Freunde in den Ländern tunkönnen: Sie können dazu beitragen – was Sie in denletzten 16 Jahren versäumt haben –, daß die Regelungenauf eine gute Rechtsgrundlage gestellt werden und dieseschnell beraten wird. Das gilt für das StVÄG, und dasgilt für § 2 des DNA-Korrekturgesetzes, den wir – leiderso gestückelt, wie Sie ihn uns überlassen haben – ändernmüssen.Ich bin ganz sicher: Wenn es denn nicht nur komischgemeint war, sondern wenn Sie dazu beitragen wollen,daß das rechtsstaatlich umgesetzt wird, dann werden wirWege finden.
Aber wenn Sie – gerade Sie von der CDU/CSU – in denVersäumnissen der letzten 16 Jahre verharren
und die Blockade beim StVÄG nicht aufgeben, wird esleider Gottes länger dauern. Wir wollen das nicht.Ich darf zum Schluß meiner Rede kommen.
Am 87. Tag der neuen Bundesregierung erklären wirhier, daß wir das bereits beschlossen haben.
– Keine Sorge, lieber Herr Geis: Im Moment habe ichdas Mikrophon. Wenn Sie nachher ans Mikrophon ge-hen, dann können Sie lauter sein. Es nützt überhauptnichts.
Wir machen Ihre Schlamperei wieder gut. Wir korri-gieren, was Sie unterlassen haben. Wir machen esschnell und in rechtsstaatlich einwandfreier Weise.Herzlichen Dank.
Ich schließe die
Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetz-
entwurfes auf Drucksache 14/43 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr.
Heidi Knake-Werner, Dr. Klaus Grehn, Monika
Balt, Dr. Ruth Fuchs und der Fraktion der PDS
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Wie-
derherstellung des Interessenausgleichs zwischen
Arbeitslosen und Beitragszahlern – Interessen-
ausgleichsgesetz
– Drucksache 14/208 –
Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Klaus Grehn, PDS. – Er ist nicht da.
Ich möchte die Geschäftsführer bitten, die Rednerliste
zu vervollständigen.
Meine Damen und Herren, was halten Sie davon,
wenn wir diesen Tagesordnungspunkt von der Tages-
ordnung absetzen? Wer dafür ist, den bitte ich um das
Handzeichen. – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Das ist
so beschlossen.
Der nächste Tagesordnungspunkt ist die Aktuelle
Stunde. Bis zum Aufruf dieses Punktes müssen wir noch
einen Augenblick warten, bis alle herbeizitiert sind, die
an dieser Aktuellen Stunde teilnehmen, aber davon aus-
gegangen sind, daß sie zu einem späteren Zeitpunkt auf-
gerufen wird. Ich unterbreche die Sitzung daher bis
15 Uhr.
Liebe
Kolleginnen und Kollegen, ich eröffne die Sitzung er-
neut und rufe Zusatzpunkt 4 der Tagesordnung auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU
Äußerungen des Bundesumweltministers Trit-
tin zu den Kernenergieausstiegsplänen der
Bundesregierung und dem Verbot der Wie-
deraufarbeitung ohne Entschädigungsleistun-
gen an Frankreich sowie der daraus entste-
hende außenpolitische Schaden und die groß-
angelegten Rücktransporte bestrahlter Brenn-
elemente nach Deutschland
Das Wort als erster Redner in der Aktuellen Stunde
hat der Kollege Dr. Peter Paziorek von der CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Vor dem Hintergrund einerdrohenden Klimakatastrophe regte der Club of RomeBundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1087
(C)
(D)
1991 in seinem Bericht „Die globale Revolution“ eineneue Güterabwägung an. Er schrieb:Heute räumen wir widerwillig ein, daß die Ver-brennung von Kohle und Öl aufgrund des dabeientstehenden Kohlendioxyds für die Gesellschaftwahrscheinlich noch gefährlicher ist als die Atom-kraft. Darum gibt es triftige Gründe dafür, die nu-kleare Option offenzuhalten.So schrieb der Club of Rome 1991.Eine solche ernsthafte Auseinandersetzung mit die-sem – ich gebe zu: schwierigen – Thema fehlt völlig beider rotgrünen Regierungskoalition und bei der Schröder-Regierung.
Im Rahmen der hektischen Beschlußfassung innerhalbder Regierungskoalition zum Atomausstieg in den letz-ten Tagen wird vielmehr vor einer vorurteilsfreien Be-wertung gekniffen, dem Druck einer grünen Parteibasisnachgegeben und somit aus rein koalitionsarithmeti-schen Gründen der kurzfristige Ausstieg aus der Kern-energie beschlossen.
Sie verunsichern damit nicht nur die Wirtschaft, sondernfügen Deutschland außenpolitischen Schaden zu undgeben alle nationalen und internationalen Bemühungenzum Klimaschutz auf und der Lächerlichkeit preis.
Das Festhalten am nationalen Klimaschutzziel, dasSie selber in der Koalitionsvereinbarung formuliert ha-ben, ist vor dem Hintergrund des beabsichtigten Aus-stiegs aus der Kernenergienutzung nicht einmal das Pa-pier wert, auf dem es steht. Sie verschließen nämlich vorfolgenden Tatsachen die Augen: Die Kernenergie trägtheute in Deutschland zu rund einem Drittel zur öffentli-chen Stromversorgung bei. Das entspricht zirka 160Milliarden Kilowattstunden. Sie erspart uns somit proJahr 150 Millionen Tonnen des klimarelevanten GasesCO2.Sie täuschen die Menschen in unserem Land, wennSie vollmundig erklären, Kernenergie lasse sich kurz-oder mittelfristig durch Energiesparen oder erneuerbareEnergien ersetzen. Dabei unterschlagen Sie nämlich fol-gende Tatsachen: Die jährliche Nutzung der Energie ausWindkraft, die wir grundsätzlich unterstützen, beträgtzur Zeit zirka 3 Milliarden Kilowattstunden. Das mußman vor dem Hintergrund der 160 Milliarden Kilowatt-stunden sehen, die aus der Kernenergie gewonnen wer-den. Die Energieversorgung aus der sonnenscheinab-hängigen Photovoltaik beträgt 0,01 Milliarden Kilowatt-stunden. Berechnungen zu Ihrem avisierten 100 000-Dächer-Programm haben ergeben, daß damit nicht ein-mal die Leistung eines Blocks des Kernkraftwerks Nek-karwestheim ersetzt werden kann. Um einen von zweiBlöcken in Neckarwestheim abschalten zu können, be-nötigt man 3 Millionen Dächer. Das Ihnen nahestehendeWuppertal Institut hat errechnet, daß bei einem Ersatzder Kernenergienutzung durch modernste Gas- undDampfkraftwerke der CO2-Ausstoß in Deutschland um37 Prozent zunehmen würde.Bundeskanzler Schröder hat 1995 in seiner damaligenEigenschaft zumindest Ehrlichkeit an den Tag gelegt, alser am 19. Juni im „ZDF-heute-journal“ sagte:Wir glauben, daß wir das schaffen können, aber wirmüssen dazu eine andere Energieversorgungs-struktur schaffen. Und das braucht mehr Zeit, alsder eine oder andere sich das wünscht – mich ein-geschlossen.Ja, genau das ist es. Dies ist die Beschreibung einer rea-listischen Perspektive für den Ausstieg, wenn man denAusstieg will. Aber die Realität ist, Sie haben etwas an-deres beschlossen, und zwar weitgehend wider besseresWissen. Dies ist unverantwortlich.Sie sind nämlich nicht den Fragen nachgegangen:Wie kann der Ausstieg tatsächlich bewirkt werden, undwelche Konsequenzen kommen auf uns zu? Für denAusstieg müssen die Castor-Transporte rollen. Zur Zeitwerden – das sagen die einen – 400 Transporte veran-schlagt; andere sagen, bis zu 600 Transporte. Dazu feh-len zum Beispiel die Transportkapazitäten, so daß dieMainzer Umweltministerin Klaudia Martini, die SPD-Mitglied ist, recht hat, wenn sie vorgestern vor einem ra-schen Ausstieg gewarnt hat.Viel schlimmer ist, wie Sie, Herr Minister Trittin, mitIhren eigenen Aussagen von 1997 und 1998 umgehen.Sie haben gesagt:Jeder Atommülltransport bedeutet ein hohes Si-cherheitsrisiko für die Bevölkerung und die einge-setzten Polizeibeamten.
Sie wollten damit sagen, daß die Castor-Behälter nichtsicher seien. Das war nicht richtig. Wie stehen Sie heutezu Ihrer damaligen Aussage? Geben Sie vielleicht heutezu, daß Sie damals aus parteipolitischen Gründen über-zogen haben; denn wenn vor zwei Jahren Sicherheits-standards eingehalten worden sind, dann waren damalsdie Transporte sicher. Aber dann müssen unter den heu-tigen Sicherheitsbedingungen auch die heutigen Trans-porte sicher sein. Klären Sie diesen Widerspruch auf.Sie sind nämlich sonst der „Castor-Transport-Umfaller“.Sie werden vielleicht jetzt vielmehr als der Panikmacheraus dem Jahre 1997 entlarvt werden.
Ich weiß, wie die Menschen im Münsterland – ichkomme aus dem Münsterland – und in Ahaus darüberdenken. Es gab immer eine kommunalpolitische Mehr-heit für das Zwischenlager in Ahaus. Dies wurde vonder CDU getragen, nicht von der SPD, den Grünen oderder FWG vor Ort. Wie stehen Sie jetzt zu der Sorge derMenschen, daß durch eine veränderte Endlagerpolitikdas Zwischenlager in Ahaus quasi ein Endlager werdenkönnte? Wie stehen Sie zu den Aussagen des NRW-Wirtschaftsministers Steinbrück, der gesagt hat, er be-Dr. Peter Paziorek
Metadaten/Kopzeile:
1088 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
fürchte, daß es auf Bundesebene zu einer Gesetzesände-rung kommt, die dazu führen werde, daß die Glaskokil-len von La Hague tatsächlich in Ahaus eingebracht wer-den könnten?Sie haben Ihren Koalitionspartner und BundeskanzlerSchröder in Sachen Atompolitik an der Nase herumge-führt. Aber machen Sie das bitte nicht mit den Men-schen in Ahaus! Die wollen wissen, welche konkretenAussagen Sie hier zu den Castor-Transporten machen.
Sie stehen in der Pflicht, der Bevölkerung deutlich zuerklären, welche unerwünschten Auswirkungen Ihreübereilte Ausstiegspolitik haben wird. Verschanzen Siesich nicht hinter pauschalen Formulierungen, die letzt-lich nur eine breite Diskussion mit der Bevölkerung ver-hindern.Vielen Dank.
Alsnächster Redner hat Bundesminister Jürgen Trittin dasWort.Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit: Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegenvon der Union, Sie versuchen mit Ihrer heutigen Aktu-ellen Stunde einen lautstarken, aber, wie ich finde, we-nig gehaltvollen Angriff auf die Energiepolitik der Bun-desregierung.
So, wie Sie es hier eben vorgeführt haben, gestartet mitBezug auf den Club of Rome und gelandet beim heiligenSt. Florian, wird Ihr Angriff scheitern.
Diese Bundesregierung läßt sich von dem Grundsatzleiten, daß der Schutz von Leben und Gesundheit derMenschen oberste Priorität hat. Dies ist der Grund, war-um wir eine Energieversorgung, die mit einem bis heutenicht beherrschbaren Restrisiko belegt ist und bei der eserheblicher Anstrengungen bedarf, um das Problem derLagerung hochgiftiger Abfälle zu lösen, einer schritt-weisen, geordneten Beendigung zuführen wollen.
Eine erhebliche Belastung von Menschen und Um-welt – werter Herr Kollege Hirche – stellt insbesonderedie Wiederaufarbeitung von abgebrannten Brennele-menten dar. Sehen Sie sich einmal die Liste der Störfällein Sellafield an; sie füllt Bände. Mehrmals entwich ausdieser Anlage Plutonium, und zwar so viel, daß selbstdie dort Beschäftigten zu Streiks gegriffen haben. Krebsgilt dort heute als beruflich induziert, ist eine vom Be-treiber der Anlage anerkannte Berufskrankheit.
– Ich war ja eben beim Stichwort „St. Florian“. Jetztkann ich nur sagen, Herr Kollege: quod erat demon-strandum.
Es macht mich besorgt, wenn 1992 in Sellafield 30 Literflüssiges Plutonium in die Nordsee ausgelaufen sind.Das bleibt nicht an den Grenzen Großbritanniens liegen.Heute haben wir die Situation, daß durch die Politikder Wiederaufarbeitung, die Sie in Ihrer Regierungszeitzu verantworten haben, die Mengen an hochgiftigemPlutonium nicht mehr in Milligramm, nicht mehr inGramm, nicht mehr in Kilogramm, sondern nur noch inTonnen zu messen sind. Diese Erblast haben wir von Ih-nen übernommen: Tonnen des höchst giftigen Plutoni-ums.
Deswegen ist die Beendigung der Plutoniumwirtschaftdie einzige ökologisch verantwortbare Konsequenz ausdieser Entwicklung.Die Wiederaufarbeitung stellt keine Entsorgung dar,weil sie nicht zu einer Verringerung des atomaren Müllsführt, sondern den schon jetzt vorhandenen Müllbergnoch erhöht. Das ist der Grund, weshalb die Koalitionübereingekommen ist, das gesetzliche Verbot der Wie-deraufarbeitung zum 1. Januar 2000 in ihren Entwurf derAtomgesetznovelle aufzunehmen. Damit wird die Men-ge des einzulagernden radioaktiven Mülls deutlich redu-ziert. Die vorgesehene Übergangsfrist ermöglicht es, dieRückabwicklung der Verträge mit den Wiederaufarbei-tern in angemessener Zeit zu regeln. Die von uns einge-leitete geordnete Beendigung der Atomenergienutzung,die nach Abschluß der Konsensgespräche auch gesetz-lich festgeschrieben werden wird, wird im übrigen aufjeden Fall wegen fehlender Verwertungsmöglichkeit desabgetrennten Plutoniums zwangsläufig zu einem Verbotder Wiederaufarbeitung führen.Die direkte Endlagerung aber – um auch das an dieserStelle zu sagen – ist nicht etwa teurer, sondern deutlichbilliger als die von Ihnen betriebene Entsorgung über dieWiederaufarbeitung, übrigens auch und gerade für dieEnergiewirtschaft. Das ist der Grund, warum bereits1994 einige Energieversorger ihre Verträge mit derBNFL in Sellafield – in diesem Fall sogar unter Inkauf-nahme von Vertragsstrafen – gekündigt haben.
Die Opposition, werter Herr Hirche, ist nicht gut be-raten, wenn sie, um den Ausstieg zu diskreditieren, ohneRücksicht auf die Interessen der BundesrepublikDeutschland für ausländische Unternehmen einseitigDr. Peter Paziorek
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1089
(C)
(D)
Partei ergreift und hier die Position der Schadenersatz-forderung hochhält.
Hierzu ist festzustellen: Schadenersatzforderungen zuerheben heißt noch lange nicht, hierfür auch eine rechtli-che Grundlage zu haben. Für Schadenersatzleistungengibt es im Falle eines gesetzlichen Verbotes keine recht-liche Grundlage. Die Betreiber selbst haben gegenüberihren Vertragspartnern in den Wiederaufarbeitungsver-trägen für den Fall eines Verbots in Übereinstimmungmit der deutschen Gesetzeslage dies ausgeschlossen.Ich will hier gar nicht die Frage thematisieren, obnicht vielleicht umgekehrt deutsche EnergieversorgerAnspruch auf Schadenersatz haben, weil die von ihnenvorfinanzierte und zu 100 Prozent finanzierte AnlageUP3 auch von anderen entsprechend genutzt wird.Was nun die angebliche außenpolitische Belastungdes Verhältnisses zu den Ländern Frankreich und Groß-britannien angeht, kann ich Sie beruhigen. Wir habenbeide Regierungen – wie sich das unter guten Nachbarngehört – zeitig und umgehend unterrichtet.
Frankreich wie das Vereinigte Königreich haben aus-drücklich betont, daß die Frage der Beendigung derAtomenergie und der Wiederaufarbeitung eine souverä-ne Entscheidung der Bundesrepublik Deutschland ist,die sie respektieren.
Wir haben einvernehmlich die Einsetzung von bilate-ralen Arbeitsgruppen beschlossen. Unser Ziel ist es,Probleme durch wirtschaftliche Schäden bei der Wie-deraufarbeitung, etwa bei der Nutzung von sowiesonotwendigen Konditionierungsmaßnahmen, mit ihnengemeinsam zu diskutieren und zu lösen.Wir stehen aber selbstverständlich zu unserer völker-rechtlichen und politischen Verpflichtung, deutschenAtommüll zurückzunehmen. Wir können unser atomaresErbe nicht zu Lasten anderer Länder und anderer Gesell-schaften beseitigen.
Ich füge eines hinzu: Durch das Verbot der Wieder-aufarbeitung wird die Zahl der durchzuführenden Trans-porte drastisch reduziert. Derzeit werden pro Jahr zwi-schen 50 und 60 Transporte durchgeführt. 1997 waren es75. Hinzu kommen die daraus resultierenden Rücktrans-porte hochradioaktiven Abfalls in Glaskokillen, die etwasieben Transporte pro Jahr ausmachten. Alle dieseTransporte werden zukünftig entfallen. Ebenso entfallendie absehbaren Rücktransporte, die nach einer Fortset-zung der Wiederaufarbeitung zusätzlich fällig wären.Der von der Koalition vorgesehene Ausstieg aus derAtomenergie und der Ausstieg aus der Plutoniumwirt-schaft beenden langfristig nicht nur die Produktionhochgiftigen Mülls, sondern schrittweise auch den vonIhrer Regierung veranstalteten Atommülltourismus querdurch Europa.
Als
nächster Redner hat der Kollege Horst Kubatschka von
der SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsi-dent! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Pazio-rek, ich bin ja froh, daß Sie endlich die CO2-Problematikerkannt haben. Ich wäre noch froher gewesen, wenn Siedas bereits vor fünf Jahren in der Enquete-Kommission„Klimaschutz“ gemacht hätten.
Da haben Sie nämlich auf Teufel komm raus gemauert,wenn die SPD Vorschläge zur Lösung der CO2-Proble-matik gemacht hat.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Koalition be-treibt den Einstieg in eine andere Energieversorgung.Dazu ist es notwendig, den Ausstieg aus der Kernener-gie einzuleiten. Die Kernenergie ist eine strahlendeSackgasse. Sie stellt keine zukunftsfähige Lösung fürunsere Energieprobleme dar. Um die zukünftigen Ener-gieprobleme zu lösen, ist als erste Stufe der Ausstieg ausder Wiederaufbereitung notwendig.
Ist dieser Ausstieg aus der Wiederaufbereitung sinn-voll? In Deutschland hat er ja bereits stattgefunden.Selbst die CSU konnte nicht gegen den Willen der Bür-gerinnen und Bürger, gegen den Willen der Bevölkerungin Wackersdorf, die Wiederaufbereitung durchsetzen.Am Bürgerprotest in Wackersdorf ist die Wiederaufbe-reitung in Deutschland gescheitert.Dann, meine Damen und Herren, haben wir das Pro-blem verschoben, und zwar nach La Hague und teilwei-se nach Sellafield. Es ist schon erstaunlich, daß der Ab-transport ins Ausland bei uns kaum Proteste hervorgeru-fen hat. Man ist ja das Teufelszeug sozusagen losgewor-den.Den Franzosen bescherte die Wiederaufbereitung Ar-beitsplätze. Das ist unbestreitbar. Deswegen ist ihr Pro-test teilweise verständlich. Aber neben Arbeitsplätzenbescherte die Wiederaufbereitung auch eine verstrahlteUmgebung. Ich möchte nur daran erinnern, daß im Jahre1997 eine dreifach erhöhte Leukämierate bei Kindernund Jugendlichen in der Region um die Wiederaufbe-reitungsanlage von La Hague nachgewiesen wurde. DieFranzosen versündigen sich also an der Zukunft ihrerKinder. Das wäre für mich eigentlich schon ein ausrei-Bundesminister Jürgen Trittin
Metadaten/Kopzeile:
1090 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
chender Grund, auszusteigen und die Wiederaufberei-tung endgültig zu beenden.
Grund Nummer 2: Die Wiederaufbereitung ist viel teu-rer als die direkte Endablagerung. Grund Nummer 3:Das endzulagernde Volumen wird durch die Wiederauf-bereitung größer. Grund Nummer 4: Die Endablagerungwird dadurch erschwert. Grund Nummer 5: Es entstehtatomwaffenfähiges Plutonium. Grund Nummer 6: Plu-tonium ist hochgiftig.Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach dem Scheiternder Schnellen-Brüter-Technologie hat es überhaupt kei-nen Sinn mehr, die Wiederaufbereitung weiterzubetrei-ben. Das Scheitern der Brütertechnologie war übrigensauch eine große Niederlage für die Kernenergie; vor al-lem war es eine technologische Niederlage und keineandere, weil das Problem nicht beherrschbar war.Angesichts dieser Gründe kann also nur ein klares Jaals Antwort auf die Frage des Ausstiegs aus der Wieder-aufbereitung gegeben werden; das ist sinnvoll. Weil die-se Politik sinnvoll ist, fordere ich die Bundesregierungauf, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, damit diedeutschen Kernkraftwerksbetreiber ihren radioaktivenAbfall nicht weiter zur Wiederaufbereitung nach Frank-reich oder nach Großbritannien schicken. Wir wissen,dieses Material zu verschicken ist die schlechteste Lö-sung. Nein, in Wirklichkeit ist es überhaupt keine Lö-sung: Irgendwann bekommen wir das strahlende Erbezurück. Darum sind wir für den Ausstieg aus der Kern-energie.
Als
nächster Redner hat unser Kollege Dr. Günter Rexrodt
von der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Der Vorstoß von Herrn Trittin hataus meiner Sicht zunächst einmal parteipolitische Hin-tergründe. Die Grünen haben ja in letzter Zeit nicht vielzu melden gehabt. Kleine Brötchen sind in der Steuer-politik, in der Ausländerpolitik, bei Sicherheitsfragenund außen- und europapolitischen Fragen gebackenworden. Nun muß ein grünes Thema her, das der Parteiauf den Leib geschrieben ist. Das macht sich Herr Trittinzunutze, auch ein Stück weit, um zu Herrn Fischer einenGegenpart aufzubauen. Er glaubt, das nötig zu haben.Das ist der eigentliche Hintergrund.
Nun will ich gar nicht darüber diskutieren, ob derAtomausstieg richtig oder nicht richtig ist. Da kann manimmer noch sagen, der Wähler hat so entschieden; dasgeht in Ordnung: Wir steigen aus. Ich sage aber mit allerDeutlichkeit: Der Wähler hat sich in diesem Zusammen-hang nicht so entschieden,
daß er erstens deutlich mehr bezahlen muß und daßzweitens das Theater mit den Transporten weitergeht.
Das war nämlich der eigentliche Grund dafür, daß einebedingte Akzeptanz des Ausstiegsszenarios der Öffent-lichkeit vermittelt werden konnte. Drittens hat der Bür-ger sich nicht dafür entschieden, daß diesem Land einenormer, ein immenser europa- und außenpolitischerSchaden zugefügt wird. Das sind die Fakten, meine Da-men und Herren.
Die Fakten sind weitgehend bekannt. Es gibt völker-rechtlich bindende Verträge aus den Jahren 1978 und1991. In diesen Verträgen erklären die Regierungen,„daß sie der Lieferung von bestrahlten Brennelementendeutscher Stromerzeuger an die Wiederaufarbeitungs-anlagen … kein rechtliches oder verwaltungsmäßigesHindernis entgegensetzen werden“.Daneben gibt es noch privatrechtliche Verträge, die inder Tat vorsehen, daß bei höherer Gewalt keine Ent-schädigungen fällig sind. In diesem Fall liegt aber keinehöhere Gewalt vor. Es werden vielmehr völkerrechtlicheVereinbarungen nicht eingehalten. Das ist nicht höhereGewalt, von der Herr Trittin immer spricht; das ist sozu-sagen plumpe Gewalt, die von ihm angewendet wird.
Diese plumpe Gewalt wird nicht dazu führen, daß dieFranzosen und die Engländer auf ihre Entschädigungs-forderungen verzichten werden.Gemäß einer dpa-Meldung von heute mittag sagte derfranzösische Premierminister Jospin, es sei wohl nötig,daß angemessene Entschädigungen gefunden werden,wenn die Zusammenarbeit, die bis jetzt bestehe, in Fragegestellt werde. Auch die Frage der Rückführung desAtommülls in das Ursprungsland stelle sich nun mitgrößter Schärfe. – Das sind die Fakten. Die Verbraucher,die Stromkunden werden also mehr zahlen müssen.Daneben gibt es einen – ich habe diesen Punkt schonangesprochen – enormen europapolitischen Flurschaden,der hier von Herrn Trittin angerichtet wird.
Herr Bundeskanzler, ist es der Bundesregierung ange-sichts des Vorhabens, die Nettozahlerposition Deutsch-lands im Zusammenhang mit der Diskussion über dieAgenda 2000 zu verbessern, eigentlich gleichgültig, wieein solches Vorgehen auf unsere französischen, engli-schen und anderen Partner wirkt? Glaubt man, diesbe-züglich etwas erreichen zu können, wenn man auf dieseHorst Kubatschka
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1091
(C)
(D)
Art und ohne Not aus den Verträgen aussteigt? HerrTrittin hat einen Geisterfahrerkurs eingeschlagen. Derfinanzielle Schaden für unser Land ist enorm.Was die Glaubwürdigkeit und die europapolitischeÜberzeugungskraft unseres Landes angeht: So ein Ver-halten können wir uns nicht leisten. Ihr Verhalten warunnötig; man hätte ganz andere Ausstiegsszenarienwählen können, Herr Trittin. Sie wissen ganz genau, daßdas nicht aufgeht, was Sie und Herr Müller im Hinter-kopf haben, nämlich mit den Engländern und den Fran-zosen klarzukommen, indem man ihnen den Auftraggibt, in ihren Anlagen zu konditionieren. Sie besitzendazu keine Genehmigung und werden sie auch nicht be-kommen. Ihre Rechnung geht nicht auf. Die Entschädi-gung muß gezahlt werden, und der finanzielle Schadenwird enorm sein.Glaubt man denn, daß unsere französischen und eng-lischen Partner uns zur Seite stehen werden, die Agrarfi-nanzierung auf eine neue Grundlage mit einer nationalenKofinanzierung zu stellen, die mehr kostet, wenn wir aufdiese Art und Weise aus unseren völkerrechtlich ver-bindlichen Verpflichtungen aussteigen? Das wird nichtpassieren. Das gleiche gilt auch für die Reform derStrukturfonds, für die es ebenfalls deutsche Interessengibt.Ideologen sind am Werk. Es trifft zu, daß hier Politikmit ideologischem und parteipolitischem Hintergrundgemacht wird. Da spielt sowohl die parteipolitischePosition Herrn Trittins und der Fundamentalisten alsauch die Ideologie eine Rolle.
Eine Politik auf dieser Grundlage ist mit Blick auf dieangestrebte Neuordnung der Finanzen im Rahmen derAgenda 2000 schädlich für unser Land und geht zu La-sten der Stromverbraucher.Lassen Sie ab von diesen Plänen! Hören Sie auf, un-serem Land durch ungeschicktes Taktieren und durchVerletzung völkerrechtlicher Vereinbarungen Schadenzuzufügen!
Diesen Appell richte ich besonders an Sie, Herr MinisterTrittin.
Als
nächster Redner hat der Kollege Kurt-Dieter Grill von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Mei-ne Damen und Herren! Die Kollegin Hustedt hat gesternim Wirtschaftsausschuß in dankenswerter Offenheit dar-gestellt, daß es in diesen Wochen und Monaten nicht umKonsensgespräche, sondern um Ausstiegsgespräche geht,das heißt, sie hat unseren Eindruck bestätigt, daß dieEVUs gezwungen werden sollen, sich der politischenLeitlinie der Mehrheit dieses Hauses anzuschließen.Herr Kubatschka, ich will aus dem, was Sie hier, zumTeil vollkommen falsch, angesprochen haben, nur einenPunkt herausgreifen. Wenn Sie heute den SchnellenBrüter als einen Irrweg bezeichnen, dann ist das insoferneine Selbstkritik der SPD, als der Schnelle Brüter derBaugewordene Traum der SPD von unbegrenztemWachstum und unbegrenztem Wohlstand ist. Das ist derSchnelle Brüter – und nichts anderes.
Ich will an dieser Stelle ein paar Punkte aufgreifen,die in den Papieren und den Erklärungen der letztenWochen deutlich geworden sind.Zunächst einmal: Die Mehrheit dieses Bundestageshat zweifelsohne das Recht, einen Ausstieg aus derKernenergie zu beschließen.
Wer wollte das bestreiten! Aber was wir dieser Mehrheitvorwerfen, ist, daß sie in einer geradezu arrogantenWeise davon spricht, daß das, was sie jetzt beschließt,unumkehrbar sei. Demokratie und Unumkehrbarkeitschließen sich aus. Der Regierungswechsel ist inDeutschland noch nicht abgeschafft.
Das zweite ist, daß neben die Arroganz, die Sie deut-lich werden lassen, die Konfrontation tritt. Wenn mannach der Regierungserklärung des Bundeskanzlers nochglauben durfte, der Ausstieg gehe sozusagen in einemverträglichen Stil und mit langfristigen Perspektiven vorsich, dann hat sich anschließend gezeigt, daß die Richt-linienkompetenz allenfalls bis zum 31. Dezember letztenJahres gedauert hat. Der jüngste Entwurf zur Änderungdes Atomgesetzes zeigt deutlich, daß die Richtlinien-kompetenz des Bundeskanzlers das Verbot der Wieder-aufarbeitung nicht verhindert und so zu einer Konfron-tation besonderer Art geführt hat.Was Sie betreiben, ist Abbruchpolitik. Es ist keineökonomisch, ökologisch und sozial verträgliche Politik,denn Sie vernichten 100 000 Arbeitsplätze. Während Siean anderer Stelle – im Bündnis für Arbeit und wo auchimmer – um jeden Arbeitsplatz kämpfen, vernichten Siehier auf einen Schlag 100 000 Arbeitsplätze.
Im Grunde genommen wird die Frage des Konsensesund der Konfrontation auch dadurch deutlich, daß Siesich diejenigen vornehmen, die bei ihren Investitionenauf Ihre gesetzlichen Grundlagen und auf Ihr Handelnangewiesen sind. Gewerkschaften, Verbraucher, Wirt-schaft und Umweltverbände – alle diejenigen, die für ei-nen gesellschaftlichen Konsens gebraucht würden –bleiben bei dem, was Sie hier tun, außen vor.Die sensiblen Fragen der Außenpolitik werden ehermit dem Holzhammer behandelt. Was Sie hier tun, ver-stößt gegen das Verfassungsrecht, gegen das Europa-recht und gegen das Völkerrecht. Die Behauptung, daßDr. Günter Rexrodt
Metadaten/Kopzeile:
1092 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
es keine Entschädigungspflicht gebe, ist schlicht undeinfach falsch, Herr Minister Trittin.
In einem Papier des Bundesjustizministeriums heißt es:Funktion des Notenwechsels ist es, die vereinbarteLieferung gegen staatliche Verbote ... zu sichern.Aus der Auslegung der beiden Notenwechsel ergibtsich, daß die Bundesrepublik Deutschland ver-pflichtet ist, die Lieferung zuzulassen.Weiter heißt es im BMJ-Papier:
gegen völkerrechtliche Verpflichtungen dar.An einer weiteren Stelle dieses Papiers aus dem Bun-desjustizministerium vom Januar 1999 heißt es dann:Kann die Bundesrepublik Deutschland ... die völ-kerrechtlichen Verpflichtungen nicht erfüllen, dannstellt das einen völkerrechtlichen Verstoß dar, fürden das Völkerrechtssubjekt BundesrepublikDeutschland auch haftet.Das heißt, ein Teil dieser Bundesregierung, das Bun-desjustizministerium, stellt im Januar 1999 fest, daß das,was Sie öffentlich vermitteln, nämlich daß es um eineschadensersatzfreie Abwicklung der Wiederaufarbei-tungsverträge gehe, einer rechtlichen Prüfung überhauptnicht standhält.Das andere ist, daß Sie für sich reklamieren, Sie seienhöhere Gewalt.
Sie reisen durch Europa und erklären, Sie seien inDeutschland die höhere Gewalt. Nach dem BGB ist hö-here Gewalt zum Beispiel eine Katastrophe.
Das ist nicht falsch, wenn man das hier zitiert, weder ju-ristisch noch im übertragenen Sinne, aber die höhereGewalt hat noch eine weitere Eigenschaft: Sie steht au-ßerhalb der Rechtsordnung. Auch das paßt in diesen Zu-sammenhang.
Politiker wie der Bundeskanzler und der Bundesum-weltminister – also wie Sie, Herr Trittin – haben alsNiedersachsen von 1990 bis 1994 stillschweigend ge-duldet, daß die VEBA und die PreussenElektra die Wie-deraufarbeitungsverträge genutzt haben, um an Stelleder Transporte nach Gorleben die Transporte nach LaHague und Sellafield durchzuführen. Das ist die Reali-tät. Sie wollten keinen Ärger im eigenen Lande und ha-ben ihn nach Frankreich und England transportiert. Dasist Ihre Vergangenheit!
Noch schöner wird es, wenn sich der Ministerpräsi-dent von Niedersachsen, Herr Glogowski, jetzt quer-stellt, der noch als Innenminister von der GemeindeDannenberg und der BLG einen Ausbau der Umladesta-tion für sechs Castor-Behälter gefordert hat.Meine Damen und Herren, ich stelle schlicht und ein-fach fest, daß das, was Sie hier tun, so beschrieben wer-den kann – ich habe Ihnen das schon in der letzten Le-gislaturperiode gesagt –: Wenn die CDU/CSU bzw. FrauMerkel entscheidet, es müsse transportiert werden, dannist das unsicher und gefährlich. Wenn der Lokführerwechselt und Jürgen Trittin vorne auf der Lok steht,dann ist das Signal: Jungs, ich bin es. Es ist nicht mehrgefährlich. Geht nach Hause und demonstriert nichtmehr.
Herr
Kollege, bitte kommen Sie zum Schluß.
Ich komme sofort
zum Ende. – Es ist mit Sicherheit so, daß Sie weder ge-
genüber den Kernkraftbefürwortern noch gegenüber
denjenigen, die an einer Option festhalten und sie für
ökologisch und ökonomisch sinnvoll halten, Moral und
Ethik für sich gepachtet haben. Man könnte es auch so
charakterisieren:
Herr
Kollege, kommen Sie jetzt bitte wirklich zum Schluß!
Sie lösen die Proble-
me, indem Sie neue schaffen. Oder, um mit Goethe zu
sprechen: „Durch Heftigkeit ersetzt der Irrende, was ihm
an Wahrheit und an Kräften fehlt.“
Alsnächster Redner hat das Wort Bundesminister WernerMüller.Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaftund Technologie: Herr Präsident! Meine Damen undHerren! Die Kernenergiepolitik der neuen Bundesregie-rung ist weit weniger ideologisch, als hier dargestelltwird. Sie ist vielmehr das Ergebnis einer ehrlichen Bi-lanz dessen, was Lage und Zukunft des Kernkraftwerks-betriebes und der Entsorgung betrifft.
Eine ehrliche Bilanz beginnt zunächst einmal damit,daß in diesem Land seit 20 Jahren kein neues Kern-kraftwerk bestellt wurde. In den verschiedenen Gesprä-Kurt-Dieter Grill
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1093
(C)
(D)
chen, die ja meist überparteilich waren, hat jeder gehört,daß dies in den nächsten 20 Jahren aus betriebswirt-schaftlichen Gründen auch nicht ansteht. Wenn aberüber einen Zeitraum von 40 Jahren kein neues Kern-kraftwerk bestellt wird, dann befindet man sich, nüch-tern betrachtet, auf dem Weg eines Ausstieges aus derNutzung dieser Technologie, wobei ich zugebe, daß dasWort „Ausstieg“ politisch benutzt wird. Insofern sollteman es nicht verwenden. Aber an der Sache ändert dasnichts.
Wenn das also klar ist, dann kann man sich ernsthaftfragen: Warum streitet man sich dann eigentlich so überdas Thema Option?
Der frühere Ministerpräsident von Niedersachsen undjetzige Bundeskanzler hat seit 1992 immer wieder er-lebt, daß überparteiliche Ergebnisse an dieser Fragescheitern,
weil einige die Kernenergiefahne hochhalten und sagen:Ohne die Option geht die Nation unter. Diejenigen, diedie Kernkraftwerke bauen sollen, sagen: Wir wollenaber nicht bauen.
Insofern ist das eine völlig fiktive Diskussion – ähnlichfiktiv wie beispielsweise die Kernenergiepolitik in ei-nem bestimmten Bundesland. Da wird die Fahne beson-ders hochgehalten. Da fordert man sogar, standortunab-hängige Genehmigungsverfahren in das Atomgesetzaufzunehmen.
Wenn das dann Gesetz ist, bittet man, daß in Bayernsolche Anträge nicht gestellt werden mögen,
und streicht hernach die Bauplätze aus der Planung, diedort für Kernkraftwerke noch vorhanden sind. Auch sokann man Politik betreiben. Nur, das bewegt nichts inRichtung Zukunft.Nun möchte ich folgendes sagen: Warum soll hier einKernkraftwerk nicht mehr gebaut werden? – Nicht ausideologischen Gründen. Es ist schon jetzt nicht wirt-schaftlich, und es wird in einer Wettbewerbswirtschaft,wie sie auf dem Strommarkt eingeführt worden ist, ausverschiedenen Gründen noch auf lange Zeit nicht wirt-schaftlich sein.
Infolgedessen geht diese Bundesregierung ganz einfachvon dem aus, was Lage ist. Lage ist: Die Kernenergiebefindet sich in einem Auslaufprozeß. Nun muß er end-lich geordnet werden. Denn es darf nicht so sein, daßEnergiepolitik nur im Diskutieren über Auslaufprozessebesteht und sonst nichts geschieht. Der Auslaufprozeßmuß geordnet werden, damit parallel dazu die Alternati-ven aufgebaut werden können, die zukunftsfähig sind.
Wenn ich sage, die Kernenergiepolitik dieser Bundes-regierung ist viel weniger ideologisch als vielmehr dasErgebnis einer ehrlichen Bilanz, dann gehört zu der ehr-lichen Bilanz auch, daß wir, höflich gesagt, beim ThemaEntsorgung allesamt Probleme haben.
Ich weiß gar nicht, warum das Entsorgungskonzept, dasim Koalitionsvertrag zwischen Rot und Grün vereinbartwurde, so viele Diskussionen auslöst.
Warum frage ich mich das? Ich tue das, weil es vor zweiJahren überparteilich, einschließlich Branchenvertretern,schon einmal entworfen worden war.
– Einen Moment! Es wurde überparteilich auf Beamten-ebene und dann auf politischer Ebene diskutiert. Es istdabei nicht zu einem überparteilichen Beschluß gekom-men, weil man sich wieder über das Thema Option usw.nicht einig wurde. Das heißt ganz konkret: Das Entsor-gungskonzept ist nicht zeitgemäß; es ist das einzige Re-likt der Energiepolitik aus der Mitte der 70er Jahre.
Es fordert beispielsweise zwei Endläger, obwohl vomVolumen her schon ein „halbes Gorleben“ reicht, umsowohl hoch- als auch mittelaktiven Müll zu lagern. Esist so – ich spreche davon, daß wir Altlasten abarbeitenmüssen –, daß ein wirklich geeigneter Endlagerstandortnicht vorhanden ist. Zum Abarbeiten der Altlasten ge-hört, daß diese Regierung macht, was die alte Regierung16 Jahre lang in ihren Programmen stehen hatte.
16 Jahre lang haben Sie vor sich hergetragen: Wir müs-sen alternative Standorte in alternativen Formationenuntersuchen, um ein Endlager zu finden. Geschehen istnichts. Es besteht eher der Verdacht, daß Gorleben solange geprüft werden sollte, bis es paßt.
Das ist nicht das, was diese Koalition unter verantwort-licher Endlagersuche versteht.Beim Thema Transporte müssen Sie selber zugeben,daß der Müll nach der Wiederaufarbeitung nachBundesminister Dr. Werner Müller
Metadaten/Kopzeile:
1094 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
Deutschland zurück muß. Hier ist nicht viel geschehen,es gibt einen Riesenstau, der abgearbeitet werden muß.Auch das gehört zur ehrlichen Bilanz. Zur ehrlichen Bi-lanz gehört ebenso, daß man erkennt, daß der Betriebvon Kernkraftwerken Transporte verursacht. Ich sehe imPrinzip keinen Unterschied, ob Sie das nach Ahaus oderGorleben oder nach Frankreich transportieren. Sie müs-sen transportieren, wenn Sie keine Zwischenlager amKraftwerk haben. Infolgedessen sieht das Konzept denBau von Zwischenlägern am Kraftwerk vor.
– Lassen Sie das mal!Weil die Zwischenlager- und Transportfrage mitein-ander verknüpft sind, hat man schon einmal, vor zweiJahren, überparteilich erkannt, daß man die Transporteminimieren muß und einen Übergangszeitraum braucht.Ich fasse deswegen ganz einfach zusammen: Alles, wasdie Kernenergiepolitik dieser Regierung kennzeichnet,ist nichts anderes als das Abarbeiten von Altlasten unddas Erkennen der realen Lage.
Unter diesem Aspekt bitte ich um Verständnis, daßman niemandem einen Gefallen tut, wenn man die Fra-gen teilweise so überspitzt diskutiert, wie das hier ge-schieht. Ich will keinen Kommentar zu der einen oderanderen Äußerung abgeben.
In der Hitze des Gefechts passiert immer wieder einmaldie eine oder andere unbedachte Äußerung. Aber dieErnsthaftigkeit dieses Themas erfordert einen überpar-teilichen Konsens.
Der heißt heute ganz einfach: Akzeptieren Sie die Altla-sten, die Sie hinterlassen haben! Akzeptieren Sie die Lö-sungsvorschläge dieser Regierung!
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Michaele Hustedt,
Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Grill,Herr Rexrodt, Ihre Befürchtungen um die deutsch-französische Freundschaft in allen Ehren, aber ich glau-be nicht, daß sie gefährdet ist. Im Gegenteil, wir habeneine Arbeitsgruppe gegründet,
in der wir einen Kompromiß finden werden. ZwischenFreunden muß es auch in dieser Frage eine Verständi-gung geben können.Die schrillen Töne in diesem Zusammenhang kom-men nicht von der französischen Regierung – sie hatsich hier nicht geäußert –, sondern von der Opposition.
Sie mißbrauchen dabei die deutsch-französische Freund-schaft für Ihre eigenen politischen Geschäfte.
Das ist, so finde ich, unverantwortlich.
Ihnen geht es nicht um ein gutes Verhältnis zu Frank-reich; Sie funktionalisieren dieses Verhältnis.Ich möchte an den Beitrag von Herrn Müller anknüp-fen und das, was er zum Entsorgungskonzept gesagt hat,zuspitzen: Ihr Entsorgungskonzept war ein einziges Lü-gengebäude.Lüge Nummer eins: Gorleben als Endlager. – DieSpatzen pfeifen es von den Dächern: Gorleben ist nichtgeeignet. Sie haben das nur weiter erforschen lassen, umden Anschein zu erwecken, Sie seien auf dem Weg zueinem Endlager.Lüge Nummer zwei: die Zwischenlager Gorleben undAhaus. – Länder wie Baden-Württemberg und Bayernhaben da ihre Probleme nach NRW und Niedersachsenverschoben,
haben diese Länder als Atomklo benutzt, um ihrer eige-nen Bevölkerung die Konsequenzen des Betriebs vonAtomkraft nicht zuzumuten.Lüge Nummer drei: die Wiederaufbereitung. – DieWiederaufbereitung ist hundertmal teurer als die direkteZwischenlagerung. Warum wurde sie trotzdem ge-macht? Weil sie als Warteschleife benutzt wurde, um ei-nen Entsorgungsnachweis zu bekommen. 550 Tonnensind bezahlt, nur 60 Tonnen sind wiederaufbereitet. ImGrunde handelt es sich dabei um eine illegale Zwi-schenlagerung deutschen Atommülls in Frankreich undGroßbritannien – mit Duldung der damaligen Bundesre-gierung.
Ihr Entsorgungskonzept war ein einziges Lügenge-bäude. Es gibt in der jetzigen Situation keinen Entsor-gungsnachweis. Das kommt jetzt eindeutig ans Licht.
Bundesminister Dr. Werner Müller
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1095
(C)
(D)
Sie haben diesen Tatbestand verschleiert, um an derAtomkraft festzuhalten. Wir stehen vor dem Scherben-haufen Ihrer Politik und sind nun für riesige Mengenhochradioaktiven Mülls verantwortlich. Wir werden unsdieses Problems verantwortungsbewußt annehmen, auchwenn wir – dies ist für uns Grüne völlig klar – das Pro-blem nicht verursacht haben.Wenn wir in Gesprächen mit den Energieversor-gungsunternehmen ein Entsorgungskonzept entwickeln,dann unter der Voraussetzung, daß die Menge desAtommülls nicht weiter unbegrenzt anwächst, sondernim Zuge der Festlegung von Restlaufzeiten für jedesAKW begrenzt wird. Erst dann wird es einen Konsensüber ein vernünftiges Entsorgungskonzept geben – wennfür jedes Atomkraftwerk eine spezifische Restlaufzeitvereinbart ist.Als letztes möchte ich noch etwas zu dem von HerrnPaziorek angesprochenen Aspekt des Klimaschutzes sa-gen. Angesichts Ihrer Klimaschutzpolitik und angesichtsder Tatsache, daß Sie diesbezüglich in den letzten vierJahren nichts, aber auch gar nichts unternommen haben,halte ich Ihre Besorgnis in diesem Punkt für freche Heu-chelei.
Ich möchte noch hinzufügen: Die Energiekonsensge-spräche sind nie an der Frage einer zukunftsfähigenEnergiepolitik gescheitert. Ich glaube, daß es in dieserGesellschaft – auch bei der Opposition – einen relativbreiten Konsens darüber gibt, daß die drei großen Säulendie eigentliche Herausforderung darstellen: die Energie-einsparungen voranzubringen, die regenerativen Ener-gien dynamisch zu entwickeln und eine Effizienzrevo-lution einzuleiten, auf hocheffiziente Kraftwerke zu set-zen.
Diese drei Säulen sind in unserer Gesellschaft nicht um-stritten. Wenn wir die tiefe Spaltung unserer Gesell-schaft, die das Betreiben von Atomkraft verursacht,überwinden, indem wir die Nutzung von Atomenergiebeenden, dann wird sich diese Gesellschaft, vereint imDialog mit allen gesellschaftlichen Gruppen, diesen gro-ßen Herausforderungen wesentlich besser stellen könnenals bisher, als jedes Gespräch an der Frage der Atom-energie scheiterte.Von daher befinden wir uns in einer ähnlichen Situa-tion wie beim Bündnis für Arbeit, wo Sie dem DGB diekalte Schulter gezeigt und damit die Gesellschaft polari-siert haben. Mit den Energiekonsensgesprächen unter-nehmen wir einen neuen Versuch, das Problem zu lösen.Seit 20 Jahren hat Atomkraft diese Gesellschaft gespal-ten, weil Sie immer noch einen draufgelegt haben undnicht in der Lage waren, einen Konsens zu finden. Wirmachen jetzt den Versuch, dieses Problem zu lösen, ei-nen Kompromiß zu finden und dann für eine zukunfts-fähige Energieversorgung alle Kräfte in dieser Gesell-schaft zu mobilisieren. Ich bin sehr zuversichtlich, daßuns dann auch die Erreichung des Klimaschutzziels ver-gönnt sein könnte.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Frau Angela Mar-
quardt von der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Die PDS-Fraktion unterstützt dieBeendigung der atomaren Wiederaufarbeitung auf ge-setzlicher Grundlage als einen ersten notwendigenSchritt zum auch von uns gewollten Ausstieg aus Kern-kraft und Atomwirtschaft. Uns war klar, daß sich dieserAusstieg nicht geräuschlos und ohne massiven Wider-stand der Atomlobby vollziehen läßt. Allein durch guteWorte werden diejenigen, die jahrzehntelang Atomener-gie gefördert und massiv von ihr profitiert haben, nichtzur Einsicht gelangen. Was wir brauchen, sind konse-quente politische Vorgaben.Das Ziel des Ausstiegs aus der Atomkraft lohnt aucheine Auseinandersetzung mit den Regierungen Frank-reichs und Großbritanniens. Umweltgruppen und großeTeile der Bevölkerung dieser Länder sind durchausdankbar für den Anschub, den die Diskussion über dieKernenergie auch in ihren Ländern erfährt.Wenn Sie, CDU/CSU und F.D.P., die Auseinander-setzungen mit den Regierungen Frankreichs und Groß-britanniens zu einer Katastrophe für die beiderseitigenBeziehungen aufbauschen, dann doch nur deshalb, weilSie den Ausstieg aus der Atomkraft generell verhindernwollen. Aber leider fallen Ihnen keine anderen Argu-mente ein als die seit 20 Jahren verbreiteten Horrorsze-narien über die Folgen dieses Ausstieges.Die Entschädigungsforderungen der französischenoder britischen Wiederaufarbeitungsfirmen sind nichtaufrechtzuerhalten, wenn auf gesetzlicher Grundlage ei-ne Änderung der Entsorgungspolitik durchgesetzt wird.Ich füge aber grundsätzlich hinzu, daß Kosten, die mög-licherweise auf die Atomkraftwerksbetreiber zukom-men, durchaus von diesen getragen werden müssen.Über Jahrzehnte das Geschäft zu machen, die Kostenaber abwälzen zu lassen, das ist einfach nicht hinnehm-bar.
– Ich bin Sozialistin!
Für die Änderung der Entsorgungspolitik spricht ein-deutig, daß die atomare Wiederaufarbeitung nichtschadlos erfolgt, so wie es selbst das Atomgesetz ver-langt. Auch wenn Sie es immer wieder bestreiten – HerrKubatschka von der SPD hat es schon gesagt –: Franzö-sische Studien gehen von einem engen Zusammenhangzwischen Leukämieerkrankungen in der Bretagne undMichaele Hustedt
Metadaten/Kopzeile:
1096 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
dem Verzehr von Meeresfrüchten oder dem Aufenthaltam Strand aus. In zahlreichen Messungen wurden dieBelastungen des Bodens und der Sedimente mit radio-aktiven Stoffen nachgewiesen.Auch die von der Bremer Universität gemessene ra-dioaktive Kontamination von Tauben aus Sellafield be-legt, daß es durch die britische Anlage zu einer andau-ernden radioaktiven Verseuchung der Umwelt kommt.Das zeigt ganz klar: Die Wiederaufarbeitung muß sofortbeendet werden.Wie der endgültige Kompromiß mit Frankreich undGroßbritannien auch aussieht: Die Bundesrepublik mußden Atommüll zurücknehmen. In jedem Fall tun Sie,Herr Trittin, gut daran, vor Beginn der Castor-Transporte das Gespräch mit der Bevölkerung an denvorgesehenen Standorten zu suchen. – Um diese Aufga-be beneide ich Sie wirklich nicht. – Es sind noch wichti-ge Fragen zur Sicherheit der Transporte und der Lage-rung zu beantworten. So bestehen Zweifel an der Dicht-heit der Deckel bei den eingesetzten Lagerbehälternebenso wie bezüglich der ausreichenden Abschirmungvon Neutronenstrahlungen bei den Castor-Behältern.Die im vergangenen Jahr bekanntgewordenen Oberflä-chenkontaminationen an Transportbehältern müssen ge-klärt und für die Zukunft ausgeschlossen werden. Wirdeine größere Menge Behälter gelagert, ist die zu erwar-tende Strahlenbelastung der Umwelt zu prüfen.Nach wie vor vermissen wir eine Klarstellung derBundesregierung, daß sie es mit einem zeitnahen Aus-stieg ernst meint. Rückführung und Zwischenlagerungvon Brennelementen und Glaskokillen dürfen auf garkeinen Fall dem Weiterbetrieb der Anlage dienen. Wirfordern die Bundesregierung auf, zur Aufgabe der End-lagerprojekte in Gorleben, im Schacht Konrad und zurSanierung des Endlagers Morsleben klar Stellung zu be-ziehen.An diesen Festlegungen werden Sie, liebe Bundesre-gierung, nicht vorbeikommen, wenn Sie mit Ihrem Be-mühen um den Ausstieg ernst genommen werden wol-len. Ich denke, es ist an der Zeit, wirklich auszusteigen.Danke.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Monika Ganseforth
von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! MeineHerren und Damen! Es wird ernst mit dem Ausstieg ausder Atomenergienutzung; er wird umgesetzt. Man merktdas an den Begleiterscheinungen, die sich auch heute indieser Aktuellen Stunde wieder zeigen.Wir wollen die Energiepolitik umstrukturieren, undzwar nicht nur in Richtung – das haben Sie, Herr Pazio-rek, eben angesprochen – erneuerbare Energien – auchdas ist dringend erforderlich –, sondern auch in Richtungrationelle Energieanwendung.
Die Energieeinsparpotentiale, die es gibt – wir haben siein der Enquete-Kommission nach dem heutigen Standdes Wissens mit 40 Prozent angegeben –, müssen end-lich auch in den Markt eingeführt werden.
Beides gehört zusammen: der Ausstieg aus der Atom-energie und der Einstieg in erneuerbare Energien und indie rationellere Energieanwendung. Das haben wir vor,und das gehen wir jetzt ernsthaft an.
Das widerspricht nicht dem Ziel des Klimaschutzes,im Gegenteil: Es ermöglicht Klimaschutz sogar erst,weil dazu dezentrale Energiestrukturen notwendig sind.Klimaschutz – das muß man auch noch einmal sagen –ist nicht nur ein Thema, das sich bis zum Jahre 2005stellt; vielmehr geht es weit darüber hinaus. In der En-quete-Kommission haben wir Ziele bis zum Jahre 2050vorgegeben. Es handelt sich also um einen langen Pro-zeß; ihn beginnen wir jetzt. Wir haben dafür eine Mehr-heit in der Bevölkerung bekommen.Herr Grill, Sie haben hier in der letzten Legislaturpe-riode immer gesagt: Die Akzeptanz der Atomenergie inder Bevölkerung sei da.
Deswegen hätten Sie in Ihrem Wahlkreis in Lüchow-Dannenberg eine so große Mehrheit bekommen. Richtigist: Sie haben in diesem Wahlkreis derart hoch verloren,daß ich Ihnen in bezug auf dieses Argument – Sie habenes jetzt auch nicht wiederholt – sagen muß: Die Bevöl-kerung hat uns die Mehrheit für eine andere Energie-politik gegeben.
Das zeigt sich auch daran, von wem jetzt hier die Regie-rung gestellt wird. Wir sind da im Wort – nicht nur denWählerinnen und Wählern, sondern auch den Verbändenund Organisationen gegenüber.
Ich möchte dazu einen kurzen Auszug aus dem Be-schluß der 9. Synode der Evangelischen Kirche inDeutschland vom 6. November 1998 vorlesen. DieserBeschluß bezieht sich auf einen weiteren Beschluß, dernach Tschernobyl gefaßt worden ist. Es heißt da: DerTschernobyl-Beschlußgewinnt gegenwärtig dadurch eine besondere Ak-tualität, daß sich die jetzige Bundesregierung in ih-ren Koalitionsvereinbarungen darauf festgelegt hat,verbindliche politische Absprachen im Konsens mitAngela Marquardt
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1097
(C)
(D)
den anderen Parteien und der Energiewirtschaft zutreffen, um aus der Kernenergienutzung auszustei-gen und diesen Ausstieg gesetzlich zu regeln. DieSynode begrüßt diese Bemühungen der Bundesre-gierung.Weiter heißt es:Die Synode sieht in der sich abzeichnenden Ent-wicklung einen Beitrag zum inneren Frieden.Zum Schluß steht dort:Damit wird der biblische Auftrag, die Schöpfung zubewahren, konkret.Das sage ich ausdrücklich an die Adresse der anderenSeite, die sich nicht zu schade ist, zu versuchen, mit dernationalen und internationalen Atomenergie-Connectionuns Hindernisse in den Weg zu legen. Auch diese Aktu-elle Stunde gehört zu diesem Versuch. Was soll denn IhrVersuch, hier angebliche Äußerungen des Umweltmi-nisters Trittin anzuführen, um einen behaupteten außen-politischen Schaden zu belegen? Keiner hat bis jetzt ge-sagt, welche Äußerungen das gewesen sein sollen.
Ich habe Herrn Trittin gestern nach der Ausschußsitzunggefragt, und er hat gesagt, er wisse auch nicht, was Sieda meinen. Keiner Ihrer Redner hat hier gesagt, welcheÄußerungen das sein sollen. Das ist für Sie nur einpopulistischer Aufhänger, mit dem Sie verunsichern undgegen die Energiepolitik der Regierung polemisieren.
Der Hintergrund der heutigen Debatte ist ja sehr vielernster – das ist schon angesprochen worden –: Das sinddie ungelösten Probleme, die Altlasten, die Sie uns hin-terlassen haben. Wir wollen wieder zurück zu einemPrimat der Politik; wir wollen, daß die Politik wiederHandlungsmöglichkeiten bekommt und nicht verlän-gerter Arm der Industrie oder bestimmter Interessen ist.Herr Grill hat vorhin noch kritisiert, daß wir in die Kon-sensgespräche mit Vorgaben und mit der Absicht hin-eingehen, das, was wir festgelegt haben, auch durchzu-setzen.
Wir erwarten, daß die Akteure der Energiewirtschaft dieKonsensgespräche offen angehen und den Primat derPolitik wieder anerkennen. Das ist die Bedingung fürMitwirkung und für Gespräche. Meine Fraktion unter-stützt diesen Weg.Daß die rechte Seite des Hauses nur Öl ins Feuergießt und den Weg nicht konstruktiv mitgehen will, istsehr bedauerlich. Es wäre schön, wenn wir die Spaltungunserer Gesellschaft bei diesem Thema, die in den ver-gangenen Jahren auch mit einer Blockade verbundenwar, endlich aufheben könnten. Wir werden unbeirrt andem festhalten, wofür wir eine Mehrheit und die Unter-stützung der Bevölkerung bekommen haben. Wir wer-den auch für die Akzeptanz der damit verbundenenKonsequenzen werben; denn es ist ein Unterschied, obman die Transporte durchführt, ohne zu wissen, wie sichdie Mengen entwickeln, oder ob man die Transportedurchführt und der Bevölkerung sagen kann: Das Endeist abzusehen. – Das ist unser Weg. Dafür haben wir ei-ne Mehrheit bekommen. Das werden wir in aller Sach-lichkeit und mit aller Konsequenz durchsetzen.Schönen Dank.
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Andreas Schocken-
hoff von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Prä-sident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor wenigenWochen hat sich der Bundeskanzler im BabelsbergerFilmstudio medienwirksam mit dem französischen Prä-sidenten präsentiert. Gemeinsam haben sie erklärt: Ander Schwelle zum 21. Jahrhundert sind wir entschlossen,die deutsch-französischen Beziehungen zu vertiefen undihnen neuen Schwung zu verleihen.
Von einer neuen Beseelung des Verhältnisses zu Pariswar die Rede.
Auf der Bühne der realen Politik aber brüskiert derBundeskanzler die Franzosen und verkündet denAtomausstieg, noch ehe die Bundesregierung mit denBetroffenen geredet hat. Über die französischen Reak-tionen auf diesen Affront brauchen wir uns nicht zuwundern. Jetzt kommt es, Frau Ganseforth: Deutschlandvernichtet Tausende französische Arbeitsplätze – so derTitel der linksgerichteten französischen Tageszeitung„Libération“ am letzten Freitag.
– Trittin kommt noch.Der französische Wirtschafts- und FinanzministerStrauss-Kahn hat die Bundesregierung in einem Brief andas EU-Recht und an ihre Vertragsverpflichtungen erin-nert. Als Antwort mußte er sich in einem Zeitungsinter-view von Trittin belehren lassen, sein Brief sei unnötigund auf den eigenen Vorteil bedacht. – Herr Trittin, dieArbeiter, die gestern in La Hague verzweifelt protestierthaben, suchen keinen Vorteil; sie haben Angst um ihreArbeitsplätze und die Existenz ihrer Familien.
Das Schlimme ist: Diese Angst ist eine Angst vor einemunberechenbaren Deutschland, das Verträge bricht.
Monika Ganseforth
Metadaten/Kopzeile:
1098 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
Wer so mit unseren Freunden und Partnern umspringt,liebe Kolleginnen und Kollegen, der verspielt das Ver-trauen, das wir in Europa und in der Welt erarbeitet ha-ben.Daß daraus Schadensersatzansprüche resultieren,räumt die Bundesregierung in ihrem Gesetzentwurf in-zwischen selbst ein. Nur Herr Schröder sagt vor demSPD-Präsidium selbstherrlich: Ich habe nicht vor, überSchadensersatzforderungen nachzudenken. Bei den Ge-nossen mag diese Arroganz ankommen; im Auslandvergrößert sie den Schaden noch.
Herr Minister Trittin, über Ihre höhere Gewalt – daswurde schon dargelegt – lacht die ganze Welt. Aber Siemachen sich nicht nur zum Gespött; sondern unsereNachbarn haben in dieser Bundesregierung keinen ver-läßlichen Partner mehr. Trotzig verkünden Sie vor derPresse, Sie hätten bei Ihren französischen Gesprächs-partnern keine Verärgerung verspürt. Wie sollten Sieauch, Herr Trittin? Strauss-Kahn hat den Termin mit Ih-nen doch kurzfristig abgesagt. Sie sind gar kein Ge-sprächspartner mehr für den zuständigen französischenRessortminister.
Nun könnten wir als Opposition sagen: Jeder blamiertsich, so gut er kann. Aber nach dem, was Sie, Herr Trit-tin, in dem Interview gegenüber der „Libération“ dazugesagt haben, ist die Sache zu ernst. Frau Ganseforth,passen Sie gut auf! Auf die Frage, ob Sie wirklich eineschnelle Rückführung aller deutschen Brennstäbe woll-ten, auch der nicht aufgearbeiteten, haben Sie, HerrTrittin, geantwortet, Frankreich werde nun in der Eilewohl kaum waffenfähiges Plutonium nach Deutschlandabschieben. Wenn Sie gegenüber einer französischenZeitung die Trennung zwischen ziviler und militärischerNuklearnutzung in Deutschland aufheben, wenn Sie an-deuten, Frankreich habe ein Eigeninteresse, waffenfähi-ges Plutonium nicht zurückzuschicken, dann unterstellenSie, Frankreich verstoße gegen seine eigenen Atomge-setze. Außerdem zeichnen Sie im Ausland wieder ein-mal das Zerrbild des gefährlichen Deutschen.
Die Antiatomideologie des Herrn Trittin hat mit derRealität in Deutschland nichts, aber auch gar nichts zutun. Der Bundeskanzler muß schleunigst vorhaben,nachzudenken, wenn ein Mitglied seiner Regierung ei-nen so unglaublichen Popanz aufbaut.Gestern hat der Umweltminister in London nochmehr Porzellan zerschlagen. Die Briten sind noch auf-gebrachter als die Franzosen, weil er sich über völker-rechtlich verbindliche Verträge hinwegsetzt. Sie drohenmit Ausgleichszahlungen und dem Gang vor Gericht,weil sie nicht mehr glauben, daß sich die deutsche Bun-desregierung an Recht und Gesetz hält. Innerhalb weni-ger Wochen hat diese Regierung das internationale Ver-trauen in Deutschlands Verläßlichkeit und Berechenbar-keit verspielt.
Der Vorstoß zur Nukleardoktrin der NATO isoliertuns im transatlantischen Bündnis. Der Versuch, in dieKompetenzen der Europäischen Zentralbank einzugrei-fen, gefährdet die Stabilität des Euro. Die Bundesregie-rung setzt sich über internationales Recht hinweg undgreift einseitig in regionale Wirtschaftsstrukturen unse-rer Nachbarn ein. Ein Minister macht sich im Auslandnicht nur zum Hampelmann, sondern weckt dumpfeÄngste vor den Deutschen. Diese Bundesregierungschadet dem Ansehen und den Interessen unseres Lan-des.
Als
nächster Redner hat der Kollege Winfried Hermann vom
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn mandiese Art Debatte zum Atomausstieg mit einer gewissenDistanz beobachtet und sich anhört, was hier gesprochenwird, dann kann man schon meinen, man sei im Theater,und zwar im absurden. Ausgerechnet diejenigen, dieüber Jahre hinweg dieser Technologie das Wort geredethaben, die jede kritische Einwendung, jedes Bedenkengegen den Müll weggefegt haben, treten jetzt als diegroßen Bedenkenträger auf. Ausgerechnet diejenigen,die nahezu jeden Castor-Transport schier gefeiert haben,tun jetzt so, als wäre es wirklich etwas besondersSchlimmes, wenn man sich heute Gedanken macht, wieman zu einem Entsorgungskonzept kommt und wie mandie Transporte nach Deutschland zurückbringt.
Betrachten wir die andere Seite – ich will das ganzoffen und selbstkritisch tun –: Es ist schon merkwürdig,daß ausgerechnet wir, also diejenigen, die seit vielenJahren, manche sogar seit Jahrzehnten, gegen dieAtomtechnologie gestritten haben, sich gegen die Trans-porte gewehrt haben, den Dreck wegräumen müssen,den wir Ihrer Politik zu verdanken haben. Das ist schonbitter.
Dr. Andreas Schockenhoff
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1099
(C)
(D)
Das ist zweifellos die bittere Kehrseite des Ausstiegs.Aber, meine Damen und Herren, wir nehmen diesenPreis in Kauf, weil es der Ausstieg ist. Unsere Wähler-schaften und die Gegner der Atomenergie sind natürlichbereit, diese Belastungen, die zweifellos kommen, zutragen, wenn sie sehen und anerkennen, daß es ein Teileines Ausstiegskonzepts ist. Ich sage Ihnen klipp undklar – das vielleicht auch an die Adresse derjenigen inder SPD gerichtet, die darüber nachdenken –: Je längerder Ausstieg dauert, desto problematischer wird es mitdem Verstehen. Da haben wir eine besondere Verant-wortung. Es ist völlig klar: Wer den Ausstieg über Jahr-zehnte hin ausgleiten läßt, der wird nicht glaubwürdigsein und auch kein Verständnis finden. Laßt uns alsoschauen, daß wir es möglichst rasch schaffen!
Zwei Argumente werden in der Ausstiegsdebatteauch heute immer wieder angeführt. Das ist zum einendas Thema Arbeitsplätze, zum anderen das Thema Kli-maschutz. Dazu einige Argumente und einige Fakten.Wer nur die Atomenergie abschaltet und statt dessenKohle benutzt, wird in der Tat einen erheblichen Klima-schaden anrichten. Aber das, meine Damen und Herren,ist die einfache Logik Ihrer Oppositionspolitik. KeinMensch bei den Grünen und auch irgendwo anders willden Ausstieg zugunsten der Kohle haben. Wir wolleneine ganz andere Energieversorgung, einen neuen Ener-giemix und eben nicht einen höheren Verbrauch vonKohle. Dieser neue Energiemix wird zuallererst aufEnergiesparen setzen, dann auf regenerative Energien.Wir haben ein großes Programm mit mehreren 100 Mil-lionen DM dazu aufgelegt bzw. in Vorbereitung. Wirhaben mit dem 100 000-Dächer-Programm für Photo-voltaik das weltweit bisher größte Programm in diesemBereich gestartet. Dies sind Punkte, denen Sie über Jah-re auch nicht annähernd Bedeutung geschenkt haben.
Insofern ist es heute ziemlich unglaubwürdig, wenn Sieals der Oberhüter des Klimas auftreten.Ein anderer Punkt. Sie sagen – das sagen Sie gern –,Atomenergie sei CO2-frei. Das ist aber zu einfach be-trachtet. Denn wenn man die gesamte Prozeßkette derAtomtechnologie vom Uranabbau, von den Transporten,der Aufbereitung, der Wiederaufarbeitung, dem Ab-transport und der Endlagerung betrachtet, dann ergibtsich, daß die Kernenergie sehr wohl CO2-belastet ist.Wenn Sie heute – darüber gibt es seriöse Studien –Atomtechnologie mit Kraft-Wärme-Kopplung oder mitBiogasanlagen vergleichen, dann schneidet die Bio-gasanlage im CO2-Vergleich besser ab als das Atom-kraftwerk.Leider muß ich jetzt das Argument der Arbeitsplätzeauslassen, weil ich an dieser Stelle darauf hingewiesenwerde, daß meine Redezeit zu Ende ist.Ich will Ihnen am Schluß aber folgendes deutlich ma-chen: Wenn Sie heute beim Thema „Ausstieg undTransport“ nur jammern und maulen, dann werden Siein der Gesellschaft keinen Fuß auf den Boden bekom-men. Ich möchte Sie ernst nehmen, wenn Sie sagen: DerKlimaschutz liegt uns am Herzen. Wir warten auf IhreAnträge zum Klimaschutz; wir warten auf Anträge zuregenerativen Energien und zum Energiesparen. MachenSie mit bei einer neuen Energiepolitik, die vor allenDingen den Klimaschutz im Auge hat! Vergessen SieIhre Atomtechnologie, denn die ist von gestern und ge-fährlich!
Herr
Kollege Hermann, im Namen des Hauses gratuliere ich
Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag.
Als nächster Redner hat Dr. Christian Ruck von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchtegleich auf Ihre Jungfernrede eingehen, Herr Hermann.Wir sind ausdrücklich für einen vernünftigen Gedanken-austausch, auch über Konzepte der Energieversorgungder Zukunft. Nur kann ich mich diesmal des Eindrucksnicht erwehren, daß Sie überhaupt kein Konzept haben.Sie haben eher zu viele Konzepte. Die Fragen zum Bei-spiel, die der Wirtschaftsminister Müller an uns gerich-tet hat, muß er erst einmal mit Herrn Trittin klären; denndie Meinungen gehen weit auseinander.
Lassen Sie mich, Frau Kollegin Hustedt, etwas zumThema Wahrheit sagen. Sie haben anderen vorgeworfen,daß sie lügen. Das, was Sie hier vorgetragen haben, hatmeiner Ansicht nach aber auch nicht viel mit der Wahr-heit zu tun. Ich erinnere nur daran, daß es Ministerpräsi-dent Rau war, der nach Ahaus eingeladen hat, und nie-mand anderer. Er gehört ja schließlich nicht zurCDU/CSU.
– Das stimmt.Meine Damen und Herren, ich halte es für eine trau-rige, aber auch gerechte Ironie des Schicksals, daß den-jenigen, die innerhalb und außerhalb dieses Parlamentsmit unsachlichen und unwahren Argumenten gegen dieCastor-Transporte Angst und Widerstand schürten, nundie eigene Stimmungsmache von damals auf die Füßefällt. Auch wenn Sie, Herr Trittin, heute auf einem ande-ren Gleis stehen: Die Geister, die Sie gerufen haben,sind geblieben und bedrohen und verängstigen die Men-schen vor Ort nach wie vor.
Mit Ihren Äußerungen und Plänen zum Verbot der Wie-deraufbereitung haben Sie einen Affenzirkus entfesselt,Winfried Hermann
Metadaten/Kopzeile:
1100 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
der erstens viel Geld kosten wird, der zweitens in derSache völlig ungerechtfertigt ist und drittens Deutsch-land außenpolitischen Schaden zufügt.
Die Technologie der Wiederaufbereitung ist aner-kannt, ausgereift und gefahrlos.
Überstürzte Rücktransporte aus dem Ausland stellenDeutschland vor ungelöste organisatorische Probleme.Es gibt nicht genügend Transportbehälter und auch kei-ne geeigneten Zwischenlager an den Kernkraftwerken.Sie, Herr Trittin, lösen eine neue Welle bürokratischerGenehmigungsverfahren mit ungewissem Ausgang aus.Diese Wirrnis Ihrer Politik registrieren natürlich auchunsere betroffenen Nachbarn.Daß Ihnen aus England offiziell Wortbruch vorge-worfen werden kann, ist schlimm genug. Aber noch ern-ster ist die Situation in Frankreich. Französische Freun-de aus der Politik haben mir gestern noch einmal die Be-findlichkeiten unserer Nachbarn geschildert. Diedeutsch-französischen Beziehungen sind in den letztenMonaten ohnehin sehr angespannt gewesen. Alles Bila-terale liegt quasi auf Eis, zum Beispiel in der Agrarpoli-tik, in der Sicherheitspolitik und in der Verteidigungs-politik. Ihre gegen deutsch-französische Verträge ge-richtete energiepolitische Geisterfahrt ist nun ein spek-takulärer Tiefpunkt. Auch die Franzosen sehen natür-lich, daß es nicht um vernünftige Gründe geht, sondernum reine Ideologie. Nichts beunruhigt unsere Freundeum uns herum mehr als deutsche Ideologien, verbundenmit bilateralem Vertragsbruch.
Natürlich wissen wir und zunehmend auch das Aus-land, daß dies erst der Anfang eines absurden Wahn-sinns ist. Der ausstiegsorientierte Vollzug rotgrünerLänder hat den deutschen Steuerzahler schon bis jetzt35 Milliarden DM gekostet. Dazu sollen noch andereausstiegsorientierte Eckpfeiler kommen, zum Beispieldie Beweislastumkehr zuungunsten der Betreiber oderdie Verzehnfachung der Deckungsvorsorge.
Für Ihre verstaubte Ideologie, Herr Trittin, beerdigenSie und Ihre rotgrünen Gesinnungsgenossen das Klima-schutzziel, setzen Sie weitere dreistellige Milliardenbe-träge in den Sand und zeigen so dem Ausland, wie manmit großer Effizienz Umwelt und Wirtschaft gleicher-maßen ruiniert.Herr Müller, Sie haben Bayern angesprochen. LassenSie mich dazu zum Schluß sagen: In Bayern haben wireine boomende Wirtschaft und trotzdem einen um einDrittel geringeren Kohlendioxid-Ausstoß pro Kopf alsim Bundesdurchschnitt. Die Kombination von erfolgrei-cher Klima- und Wirtschaftspolitik werden wir verteidi-gen. Wir machen uns auch nicht zum Handlanger vonRechtsbrüchen und sind notfalls auch in Bayern bereit,in der Energiepolitik die letzten Preußen zu sein.
Das
Wort hat nun der Kollege Michael Müller von der SPD-
Fraktion.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Die Regierungsparteien ha-ben ein dreistufiges Verfahren für die Neuordnung derEnergieversorgung beschlossen. Der erste Schritt dazuist die Atomrechtsnovelle. Wir von der SPD unterstüzendie Ziele, die dort enthalten sind. Das ist ein ersterwichtiger Schritt, um die Blockade zu überwinden unddie Energiepolitik neu zu ordnen.Aber es ist eben nur ein Schritt neben zwei weiteren.Es kommt jetzt darauf an, die Gespräche dazu zügig zuführen. Wir wollen bei diesen Gesprächen nicht nur überden Ausstieg sprechen, sondern vor allem über eine zu-kunftsfähige Energieversorgung. Wir wollen die Chan-ce, Klimaschutz mit der Neuordnung der Energiepolitikzu verbinden, wahrnehmen. Wenn diese Gespräche unddas Angebot, gemeinsam die Energiezukunft zu gestal-ten, scheitern, dann müssen wir den dritten Schritt ma-chen. Das heißt: Wir werden dann die gesetzlichen In-strumente einsetzen, um auf diesem Weg zu einem Aus-stieg aus der Atomkraft zu kommen. Das ist nicht Will-kür; vielmehr ist das bei uns eine über lange Zeit ge-wachsene Position, die Sie kennen. Sie können nichtüberrascht sein. Das ist immer unsere Position gewesen.Wir stehen zu dieser Position.
Zu einer sicheren Energieversorgung ohne Atomkraftgehört auch das Ende der Wiederaufbereitung. Das istdie logische Konsequenz daraus. Auch diese Position istnicht neu. Sie wissen es: Das ist die Position der SPDseit 1987. Sie wissen, daß beispielsweise im Staatsse-kretärsausschuß über unterschiedliche Entsorgungsvari-anten sehr oft geredet worden ist, auch über die Kosten-berechnungen. Vielleicht kennen Sie ja noch die Zahlen.Der Kostenvorteil, der entsteht, liegt nach den Untersu-chungen der Staatssekretärsrunde bei etwa 11 MilliardenDM wenn man die Wiederaufbereitung zugunsten derdirekten Endlagerung aufgibt. Man muß noch hinzufü-gen: Schon damals haben Sie diese Diskussion nicht of-fen geführt, sondern abgebrochen, weil Sie gleichzeitigdie Verträge über die Wiederaufbereitung verlängert ha-ben. Sie waren schon damals nicht am Konsens orien-tiert. Das ist die Wahrheit.
Wir sagen klar: Wir können uns nicht vorstellen, daßdurch internationale Verwaltungsvereinbarungen derDeutsche Bundestag daran gehindert werden kann, einGesetz zum Ausstieg aus der Atomkraft zu beschließen.Sollte dies der Fall sein, dann hat die alte Regierunggrob verfassungswidrig gehandelt. Wir können uns dasDr. Christian Ruck
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1101
(C)
(D)
nicht vorstellen. Aber wir glauben eben nicht, daß durchsolche Verträge die Handlungsfähigkeit des Bundestageseingeschränkt werden kann. Wir machen da nicht mit.
– Nein, wir sprechen hier von den Verträgen von1990/91.
– Wir sprechen von denen, in denen die Wiederaufar-beitung festgelegt wurde, Herr Hirche. In den alten Ver-trägen stand sie noch nicht.
– Woran wir uns eigentlich vorbeimogeln, kann ich Ih-nen sagen: daß wir über Jahrzehnte das Problem derEntsorgung tabuisiert und auf künftige Generationen ab-geschoben haben. Im Augenblick wird ein Problem, daslange existiert, deutlich. Sie haben doch nie ein Konzeptgehabt. Sie tun nur so, als hätten Sie eins. Wenn wir aufdieser Ebene debattieren, können wir das zurückgeben.
Wir wollen ein konsensuales Verfahren. Aber derWirtschaftsminister hat völlig recht: Wir haben hierAltlasten, weil Sie sich lange Zeit an der Wahrheit vor-beigedrückt haben. Die Wahrheit ist, daß wir für einehochgefährliche Technologie kein Lösungskonzept imHinblick auf Atommüll haben. Das ist die Wahrheit, diejetzt überdeutlich geworden ist. Und: Je länger wir mitder Problemlösung noch warten, desto größer wird dasProblem.
Deshalb ist es wichtig anzufangen; das ist unsere Bot-schaft.Natürlich kann man über die eine oder andere Fragereden, aber es gibt überhaupt keinen Zweifel daran, daßes sowohl bei der Wiederaufbereitung als auch bei derBeendigung der Nutzung der Atomkraft nur noch umden Weg, aber nicht mehr um das Ziel geht. Das Zielsteht für uns fest, und insofern kann ich nur raten, überdiesen Weg konstruktiv zu reden, statt ihn zu blockieren.Meine Damen und Herren, wir wollen ein belastbaresEntsorgungskonzept. Dazu hat die Bundesregierung an-ders, als Sie behaupten, sehr wohl klare Positionen be-zogen, indem sie sich an der direkten Endlagerung ori-entiert und aufzeigt, daß nun schnell neue Standorte ge-sucht und gefunden werden müssen.
– Der Standort, an dem Sie festhalten, war kein Stand-ort. – Zu unserer klaren Position gehört ferner, daß wirZwischenlager in der Nähe der Kraftwerkstandorte ein-richten.Im übrigen muß ich darauf hinweisen, daß in privat-rechtlichen Verträgen auch die Option eines Zwischen-lagers in La Hague enthalten ist. Das sollten Sie bitte zurKenntnis nehmen. Ich will das jetzt nicht als Lösung an-sehen; wir stehen zu der Verantwortung, die Endlage-rung hier in der Bundesrepublik zu lösen. Dazu habenwir immer gestanden. Aber es gibt sicherlich Möglich-keiten für einen vernünftigen zeitlichen Rahmen.Meine Damen und Herren, im Kern geht es – dasollte man sich nicht hinter anderen Argumenten ver-stecken – um unterschiedliche energiepolitische Kon-zepte. Wir werden unser Konzept des Atomausstiegs, fürdas wir immer gestanden haben, umsetzen und könnenSie nur auffordern, das konstruktiv zu begleiten.
Als
nächster Redner hat der Kollege Ulrich Klinkert von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! „Die Welt lacht überdie Deutschen“ ist die zutreffende Schlagzeile einerdeutschen Tageszeitung, die die Situation charakteri-siert, in die uns wenige Wochen rotgrüner Energiepolitikgebracht haben. Mit der Begründung höherer Gewaltuntersagt diese rotgrüne Bundesregierung den Kern-kraftwerksbetreibern die vertraglich vereinbarte Wieder-aufarbeitung von Kernbrennstäben in Frankreich undGroßbritannien.Erst gestern war Herr Trittin wieder auf Reisen,diesmal in Großbritannien,
um den Partnern internationaler Verträge zu erklären,warum die deutsche Bundesregierung glaubt, vertrags-brüchig werden zu können. Wie schon in Frankreich istdieser Versuch kläglich gescheitert. Das einzige, HerrTrittin, was Sie mitgebracht haben, sind eine schallendeOhrfeige und glasharte Schadenersatzansprüche.
Weder Briten noch Franzosen konnte beeindrucken, daßTrittin erklärte, höhere Gewalt, also er, sei im Spiel. Ichbin davon überzeugt, daß in dem sich anbahnendenRechtsstreit, der möglicherweise bis vor dem Europäi-schen Gerichtshof ausgetragen werden muß, auch diesespirituelle Anmaßung des deutschen Umweltministersnicht anerkannt werden wird. Bezahlen wird diesesSpektakel, meine sehr verehrten Damen und Herren, aufjeden Fall der Steuern und Gebühren zahlende Bundes-bürger.
Möglicherweise müssen wir auf den Ausgang diesesStreits lange warten. Worauf wir allerdings nicht langewarten müssen, ist eine Vielzahl zusätzlicher Castor-Michael Müller
Metadaten/Kopzeile:
1102 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
Transporte kreuz und quer durch Europa. Hier zeigt sichdie ganze Verantwortungslosigkeit und Doppelzüngig-keit dieses Umweltministers. Entweder sind Castor-Transporte – O-Ton Trittin – „ein hohes Sicherheitsrisi-ko für die Bevölkerung und die eingesetzten Polizeibe-amten“ – dann wäre es Ihre dem Amtseid entsprechendePflicht, die Transporte möglichst zu vermeiden –, oderdas Risiko existiert nicht – dann haben Sie die Öffent-lichkeit belogen.
Herr Trittin, Sie haben auch heute nicht erklären kön-nen, warum die Strahlung von Castor-Transporten 1999weniger gefährlich als 1998 ist.
Die Beendigung der Wiederaufarbeitung ist aber nurein Punkt im rotgrünen Ausstiegschaos. Nach dem Wil-len dieser Bundesregierung soll Deutschland, das dieanerkanntermaßen sichersten Kernkraftwerke der Welthat – da wird sicherlich niemand von der Bundesregie-rung widersprechen –, als eines von ganz wenigen Län-dern aus der Nutzung dieser Energieart aussteigen.
Allerdings sind die Meinungen über das Tempo desAusstiegs – wie so vieles in dieser Regierung – höchstunterschiedlich. Während der Umweltminister möglichstschnell aussteigen will, verdrängend, daß dabei Kostenin der Größenordnung von mehr als 100 Milliarden DManfallen könnten – was auch mit höherer Gewalt vomTisch gewischt wird –, sichert der Bundeskanzler beiGesprächen mit der Energiewirtschaft, an denen sein zu-ständiger Fachminister dann wieder nicht teilnehmendarf – irgendwie kann ich den Bundeskanzler verste-hen –, Restlaufzeiten von mehreren Jahrzehnten zu.Ich sage nichts gegen die langen Restlaufzeiten, diemöglicherweise an die technisch absehbaren Restlauf-zeiten herankommen. Aber warum man der Welt sugge-riert, deutsche Kernkraftwerke seien unsicher, wennman sie andererseits noch 20 bis 30 Jahre in Betrieb läßt,bleibt ein Geheimnis rotgrüner Regierungskunst.
Herr Minister Müller, Ihre wahrscheinlich eher rheto-risch gemeinte Frage, warum man sich über die Optio-nen streitet, ist eine Frage, die Sie einmal in einer dernächsten Kabinettssitzungen stellen sollten.
Den Energieversorgern ist eh nicht anzuraten, einemsolchen, über Nötigung zustande gekommenen Konsenszuzustimmen; denn über den Restlaufzeiten schwebt dasDamoklesschwert des ausstiegsorientierten Vollzugsrotgrüner Landesregierungen. Ob der derzeitige Bun-desumweltminister wie seine Vorgänger bundesauf-sichtliche Weisungen erteilen wird, um dem Kernkraft-verhinderungswahn seiner Landeskollegen entgegenzu-wirken, bleibt zumindest zweifelhaft. Ich bin übrigenssehr gespannt, ob Herr Trittin am Montag zu den wie-deraufgenommenen sogenannten Konsensgesprächenzugelassen wird oder ob er wieder auf den Hof geschicktwird.Egal, wie sich Rotgrün entscheiden wird, diese Ent-scheidung wird keinen Einfluß auf die weitere Nutzungvon mehr als 400 weltweit in Betrieb befindlichen undauf die 32 in Bau befindlichen Reaktoren haben. Aberdie Entscheidung wird Einfluß darauf haben, ob deut-sche Experten mit ihrem Rat zur Verbesserung interna-tionaler Sicherheitsstandards, zum Beispiel in Osteuro-pa, beitragen können. Sie wird Einfluß darauf haben, obdie deutsche Wirtschaft auf dem rasant wachsendenWeltmarkt weiter Fuß fassen kann oder ob sich die Weltdafür entscheiden wird, eine Technik, die im eigenenLand als unsicher angesehen wird, dann natürlich auchnicht mehr zu importieren.Dies wird weitere Milliardenverluste für die deutscheWirtschaft bringen und vor allen Dingen Verluste vonArbeitsplätzen. Dies alles geht auf das Konto von Rot-grün. Die Welt lacht über die Deutschen, –
Herr
Kollege Klinkert, ich bitte, zum Schluß zu kommen.
– und das ist eher trau-
rig.
Als
letzter Redner in der Aktuellen Stunde hat der Kollege
Volker Jung von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Wir haben im Koalitions-vertrag vereinbart, in unserem Land eine sichere, wett-bewerbsfähige und umweltverträgliche Energieversor-gung ohne Atomkraft durchzusetzen, die nicht durchSchadenersatzklagen oder Investitionsblockaden behin-dert wird. Das liegt in der Logik des Wahlergebnisses.Ich kann nur sagen: Der Souverän hat gesprochen, undauch die Franzosen und die Briten akzeptieren das. Wirhaben es ihnen rechtzeitig gesagt.Wir haben keinen Zweifel daran gelassen, daß wirdies im Konsens mit der Elektrizitätswirtschaft organi-sieren wollen, daß der Ausstieg selbst aber nicht verhan-delbar ist. Die Elektrizitätswirtschaft hat eindeutig er-klärt, daß sie den Primat der Politik akzeptiert. Damitsind alle Voraussetzungen geklärt.Es ist seit Jahren bekannt – mein Kollege MichaelMüller hat es noch einmal hervorgehoben –, daß wir dieEntsorgung des atomaren Abfalls auf die direkte Endla-gerung beschränken wollen. Das liegt nach meiner Auf-fassung auch im Interesse der deutschen Elektrizitäts-wirtschaft, weil jene zweifellos kostengünstiger und, ichfüge hinzu, nicht so gefährlich wie die Wiederaufberei-tung ist. Das müßte ja eigentlich auch die AuffassungUlrich Klinkert
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1103
(C)
(D)
von Ihnen in der Opposition sein, denn sonst hätten Siebei der vorletzten Atomgesetznovelle nicht die direkteEndlagerung erlaubt, zweifellos in der Annahme, daßsich dieser Entsorgungsweg früher oder später durchset-zen wird.
Die logische Konsequenz daraus ist die Aufgabe, dasVerbot der Wiederaufbereitung bei uns.Es muß in diesem Zusammenhang daran erinnertwerden, daß die Wiederaufbereitungsanlage in Wak-kersdorf nicht von der Politik verboten wurde, sondernvon der Elektrizitätswirtschaft freiwillig aufgegebenwurde. Gründe dafür waren nicht nur die Akzeptanzpro-bleme, sondern insbesondere die Ergebnisse von Ko-stenvergleichen. Wenn es seinerzeit die Möglichkeit derdirekten Endlagerung gegeben hätte, die jetzt geschaffenwerden muß, wäre die Elektrizitätswirtschaft auch nichtden Weg der Wiederaufbereitung im Ausland, jedenfallsnicht in dieser extensiven Form, gegangen. Das ist sozu-sagen alles atomare Vergangenheit.Bundeswirtschaftsminister Müller hat von der Abar-beitung von Altlasten gesprochen, die nicht wir, sonderndie damaligen politischen Mehrheiten und die Elektrizi-tätswirtschaft selber zu verantworten haben.Strittig kann also gar nicht das Ob, sondern allenfallsdas Wie, der Zeitrahmen für die Aufgabe der Wieder-aufbereitung, sein. Das innerhalb eines Jahres schaffenzu wollen ist sicherlich ein ehrgeiziges Ziel. Die Kon-sensgespräche und die Verhandlungen mit Frankreichund Großbritannien werden zeigen, ob diese Vorgaberealistisch ist. Auf jeden Fall sind wir zur Rücknahmedes atomaren Inventars aus Frankreich und Großbritan-nien verpflichtet. Das ist eindeutige Vertragslage. Dastechnische Problem ausreichender Zwischenlagerkapa-zitäten ist nach meiner Auffassung lösbar, wenn derzwischen Wirtschafts- und Umweltminister vereinbarteSatz seine Gültigkeit behält, daß der Betrieb von Kraft-werken auch bei erschöpfter Lagerkapazität gewährlei-stet ist.Zu den finanziellen Belastungen: Der Bundeswirt-schaftsminister hat berechtigterweise darauf hingewie-sen, daß die direkte Endlagerung auch erhebliche Ein-sparungen mit sich bringt; privat- und völkerrechtlicheProbleme würden im übrigen überhaupt erst dann auf-treten, wenn wir national wie international auf den Wegdes Rechtsstreits verwiesen wären. Das wollen wir ver-meiden.Es ist uns, meine Damen und Herren, natürlich be-wußt, daß Cogema in La Hague und BNFL in Sellafieldin erheblichem Umfang mit der Wiederaufbereitung ab-gebrannter Brennelemente aus Deutschland beschäftigtsind. Es ist natürlich verständlich, daß sich Franzosenund Briten Gedanken über die Auslastung ihrer Anlagenmachen. Darüber muß verhandelt werden. Dazu muß in-nerhalb von Jahresfrist schon deswegen eine Lösung ge-funden werden, weil wir nicht die industrielle Koopera-tion mit diesen Ländern gefährden wollen. Hier müssenwir mit unseren europäischen Partnern nach Kompensa-tionslösungen suchen. Es gibt keinen Grund, die Suchenach solchen Lösungen übers Knie zu brechen. Dazuhaben wir ein Jahr Zeit. So könnten auch die Transport-und Zwischenlagerprobleme ganz erheblich entschärftwerden.Es wäre gut, wenn sich alle Beteiligten darauf besin-nen würden, daß die Wähler in unserem Land eine ein-deutige Richtungsentscheidung getroffen haben. In kei-ner Frage war die Alternative so klar wie bei der Frageder Nutzung der Kernenergie. Deswegen bin ich über-zeugt: Wenn wir diese Fragen im Konsens statt im Dis-sens lösen, werden die Interessen aller Beteiligten bessergewahrt. Vor allen Dingen wird der Ausstieg dann zügi-ger vonstatten gehen.Danke schön.
Liebe
Kolleginnen und Kollegen, die Aktuelle Stunde ist be-
endet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Nor-
bert Geis, Ronald Pofalla, Dr. Jürgen Rüttgers,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines . . . Ge-
setzes zur Änderung der Strafprozeßordnung
– § 100 a StPO
– Drucksache 14/162 –
Metadaten/Kopzeile:
1104 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
Dieser Stil in der Rechtspolitik ist in höchstem Maßeübel. Dagegen wehren wir uns.
Er zeigt die Arroganz und die Überheblichkeit derMacht, die an allen Ecken und Enden zum Vorscheinkommt.
Mit allen Mitteln demonstrieren Sie Ihre Macht und ver-gessen dabei Ihre gute Kinderstube. So ist es.Meine sehr verehrten Damen und Herren, der hiervorgelegte Gesetzentwurf hätte von der Regierungsko-alition längst vorgelegt werden müssen.
– Herr Hartenbach, ich zitiere Sie nachher. – Wir wissendoch, um was es hier geht. Wir haben das Gesetz gegendie Korruption Ende Juni 1997 verabschiedet. Wir wa-ren uns damals darüber einig, daß wir die Telefonüber-wachung für diesen Bereich durchsetzen müssen. HerrHartenbach, Sie selbst haben bei der ersten Beratung imJahre 1996 gesagt, daß wir sie brauchen. Im Bundes-ratsentwurf von 1995 steht fast wortgleich, daß die Tele-fonüberwachung vorgesehen ist.Wir haben damals die Telefonüberwachung deshalbnicht in den Gesetzentwurf aufgenommen – Herrn Hof-mann habe ich dies damals im Rahmen einer Kurzinter-vention gesagt –, weil wir untereinander vereinbart hat-ten, daß diese Regelung in das Gesetzespaket zumLauschangriff aufgenommen werden sollte. In diesemPunkt waren wir uns einig. Herr Hofmann hat nach mei-ner Zwischenbemerkung diese Position akzeptiert.Inzwischen hat das Gesetzespaket zum Lauschangriffvorgelegen. Wir wissen, wie schwer sich die SPD getanhat, dieses Paket mit uns zu verabschieden. Wir wissen,welche Querelen es innerhalb der SPD gegeben hat. Mitdiesem Gesetz steht uns zwar das viel stärkere Mittel desLauschangriffs gegen Bestechung und Bestechlichkeitzur Verfügung,
aber nicht das weit mildere Mittel des § 100 a StPO. Wirhaben diese Regelung deshalb nicht in dieses Geset-zespaket aufgenommen – Herr Hartenbach, ich kannnachher die entsprechende Stelle zitieren –, weil wirdamals auf die SPD Rücksicht genommen haben, umdas gesamte Paket hinsichtlich des Lauschangriffs nichtzu gefährden und noch in der alten Legislaturperiode zuverabschieden.Inzwischen hat die neue Legislaturperiode bereits be-gonnen. Inzwischen haben wir nicht mehr die Regie-rungsverantwortung. Es hätte also von seiten der Regie-rungsparteien längst das geschehen können, was wirjetzt von der Opposition her nachholen und was wir Ih-nen vorlegen. Es hätte längst die Ausdehnung der Tele-fonüberwachung auf schwere Bestechlichkeit, Beste-chung und Sexualdelikte erfolgen müssen. Wir müssenvorangehen. Während wir vorangehen, werden wir vonIhnen lächerlich gemacht, werden von Ihnen irgendwel-che dümmlichen Argumente vorgebracht – die wir imAusschuß leicht widerlegen werden –, und zwar von al-len Rednern der Koalition, die Justizministerin einge-schlossen. Ich möchte einmal wissen, welcher Referentim Justizministerium das ausgekocht hat. Alle Rednerhaben fast wortgleich dasselbe vorgetragen. Auch darinzeigt sich die ganze Arroganz. Sie sind nicht einmal be-reit, sich eigene Gedanken zu machen. So kann mannicht verantwortlich Rechtspolitik machen.
– Nein, was ich vorhin erlebt habe, hat das Faß zumÜberlaufen gebracht. So kann man nicht mit uns umge-hen, und so lassen wir auch nicht mit uns umgehen.
Da tut man ein bißchen schön, ist im Ausschuß ganzfreundlich und bringt das kameradschaftlich über dieBühne, und dann versucht man hier, uns in kalte Wasserzu werfen bzw. in den Mist zu stoßen und unseren Ge-setzentwurf so darzustellen, als wäre er ein Fetzen Pa-pier, den man auf der Toilette abgeben soll. Was ist dasfür eine Arroganz! Das habe ich noch nicht erlebt.
So mit der Macht umzugehen, so Rechtspolitik zu be-treiben ist schlimm, und das muß man in aller Deutlich-keit sagen. Davon lasse ich mich auch nicht abbringen.
– Ich lasse mich auch nicht durch solche Zwischenrufedavon abbringen. Wenn es nicht anders geht, dann wirdman beleidigend.
Norbert Geis
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1105
(C)
(D)
– Na ja, Sie waren nicht da.
Die Frau Ministerin möge es im Protokoll nachlesen.Ich kann damit leben. Aber ich meine schon, daß dasso nicht geht.
Ich meine, daß wir hier ein wichtiges Gesetz vorle-gen. Ich fordere Sie auf, zur sachlichen Beratung zu-rückzukehren
und nicht mit Arroganz, Überheblichkeit und Machtbe-soffenheit zu glauben, all das, was wir hier vorlegen,wäre nichts und könnte man gleich in den Papierkorbwerfen. So geht das nicht.
Wir wissen, daß die Korruption, die Bestechlichkeitund die Bestechung bei uns Platz greifen. Anfang diesesJahres hat ein bekanntes deutsches Magazin den, wie esihn nennt, Korruptionsexperten der SPD, Herrn Hof-mann, interviewt, der große Gesetzentwürfe der SPD zurKorruption angekündigt hat. Wenn er damit die materi-elle Seite meint, muß ich sagen: Wir haben in der letztenLegislaturperiode die Gesetzgebung zur Korruption mitIhrem Einverständnis entscheidend verbessert.
– Das will ich ja zugeben: mit Ihrer Beratung. Wir habenim Gegensatz zu Ihnen Beratungen mit Ihnen immersehr ernst genommen. Das wissen Sie, lieber Herr Har-tenbach. Wir haben uns zu den Berichterstattergesprä-chen zusammengesetzt und wirklich versucht, gemein-sam eine Lösung zu finden.
– Ich weiß es nicht. Für Sie mag das ja zutreffen. Aberdas, was ich heute hier von seiten der Justizministerinerfahren habe, schlägt dem Faß den Boden aus. So kannman sich nicht verhalten. So darf sich eine deutsche Ju-stizministerin nicht verhalten. Das möchte ich nocheinmal sagen.
– Ja, ich kann es nicht deutlich genug sagen. Das mußdeutlich gesagt werden, Herr Ströbele. Wenn Sie dasnicht hören wollen, dann gehen Sie halt raus. Sie sind janicht gezwungen hierzubleiben.
Dieser Gesetzentwurf ist deshalb notwendig, weil wiruns völlig einig waren, daß § 100 a StPO auf die schwe-re Bestechung und die Bestechlichkeit ausgedehnt wer-den muß. Wir wollen ihn nicht nur auf Bestechung undBestechlichkeit ausdehnen, sondern auch auf schwereSexualdelikte. Auch hier ist es notwendig, mit solchenMitteln gegen die Verbrecher vorzugehen. Sie verzögernbeim DNA-Ergänzungsgesetz
die Möglichkeit, gegen Verbrecher vorzugehen, und Sieverzögern heute wahrscheinlich wieder die Entschei-dung, im Rahmen des § 100 a gegen Verbrecher vorzu-gehen. Aber wir werden Ihnen das nicht durchgehen las-sen. Wir werden dieses Gesetz beraten. Wenn Sie mei-nen, es genauso schnöselig behandeln zu können, wieSie das vorhin demonstriert haben, dann werden wir Ih-nen, vielleicht mit Hilfe von Sachverständigen, zeigen,daß Sie auf dem Holzweg sind.Danke schön.
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Jürgen Meyer
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich kann gutverstehen, Herr Kollege Geis, daß Ihnen – das ist nichtironisch gemeint – die Rolle in der Opposition nichtleichtfällt. Auch wir haben 16 Jahre lang sehr häufig dasGefühl gehabt, einer gewissen Arroganz der Macht zubegegnen. Ich bitte Sie einfach, folgendes in der Sachezur Kenntnis zu nehmen – ich will mit diesem Hinweisdie Diskussion beruhigen –: Wir sind durchaus bereit –wir haben das auch in der Vergangenheit erklärt –, denDeliktskatalog des § 100 a der Strafprozeßordnung hin-sichtlich der Telefonüberwachung zu erweitern. Aberähnlich wie vor zwei Stunden – über Stilfragen will ichjetzt gar nicht sprechen – muß ich Ihnen sagen: Der vonIhnen vorgelegte Entwurf überzeugt so nicht. Ich stelledas mit allem kollegialen Respekt und überhaupt nichtbelehrend fest. Ich hoffe, daß auch Sie diesen Eindruckhaben.Aber die Absprache, die wir in den mehr als ein Jahrdauernden Verhandlungen über die bessere Bekämpfungorganisierter Kriminalität getroffen haben – wir beidehaben ja an diesen Verhandlungen teilgenommen –, warnach meiner Erinnerung ein wenig anders, als Sie, HerrKollege Geis, das wiedergegeben haben. Wir habenübereinstimmend betont: Man muß Delikte, die typi-scherweise in den Bereich der organisierten Kriminalitätfallen – dazu gehört ohne jeden Zweifel die Korruption,also die aktive und passive Bestechung, und auch dieVerbreitung von Kinderpornographie –, in den Katalogdes § 100 a StPO aufnehmen. Aber wir haben auch ge-sagt – das haben Sie ausgelassen –: Dies muß Hand inHand mit einer Verbesserung der rechtsstaatlichen Kon-trolle der Telefonüberwachung gehen.Weil wir darüber einig waren, haben wir am 1. Okto-ber 1997 einen Antrag der Fraktionen der CDU/CSU,SPD und F.D.P., Drucksache 13/8652, eingebracht, HerrNorbert Geis
Metadaten/Kopzeile:
1106 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
Kollege van Essen, auch Sie werden sich daran erinnern.In diesem Antrag haben wir die Konferenz der Justizmi-nisterinnen und -minister, zu der mit beratender Stimmebekanntlich auch der Justizminister des Bundes gehört,gebeten, die statistische Erfassung der Telefonüberwa-chungen nachzubessern und Vorschläge zur Verbesse-rung des Verfahrens der richterlichen Anordnung vor-zulegen. Das ist leider nicht geschehen.Weiter haben wir in dem Antrag gefordert, die Bun-desregierung solle dem Deutschen Bundestag künftigjährlich einen Bericht über Anlaß, Verlauf und Ergeb-nisse der Telefonüberwachungen in Bund und Ländernvorlegen. Dies war unser Ausgangspunkt, nämlich dieErweiterung des Deliktskatalogs auf für organisierteKriminalität typische Verbrechen und gleichzeitig eineVerbesserung der rechtsstaatlichen Kontrolle.Wir hatten einen guten Grund, diese Forderung zu er-heben. Denn in der Antwort auf unsere Große Anfragezur organisierten Kriminalität in der BundesrepublikDeutschland durch die Bundesregierung im Juni 1996,Drucksache 13/4942, haben wir auf Grund einer Umfra-ge bei allen Bundesländern erfahren, daß sich die An-zahl der Anordnungen von Telefonüberwachungenzwischen 1985 und 1991 ziemlich genau verdoppelthatte, und zwar von 1 399 im Jahre 1985 auf 2 797 imJahre 1991. Danach gab es auf Grund des größeren Ge-bietes der Bundesrepublik Deutschland noch einmal eineSteigerung auf annähernd 4 000 Anordnungen im Jahr.Es ist ein Verdienst des Kollegen van Essen, daß erdann Jahr für Jahr immer wieder die Zahl der Anord-nungen von Telefonüberwachungen erfragt und öffent-lich gemacht hat.
Das ist ein Beweis rechtsstaatlicher Sensibilität, vonder in Ihrem Gesetzentwurf leider nichts zu spüren ist.Unsere Absprache bestand in einer Erweiterung des De-liktskataloges, aber gleichzeitig auch in einer Verbesse-rung der rechtsstaatlichen Kontrolle der Telefonüberwa-chung.Ich finde es ganz interessant, daß dieses Problemnicht nur den Deutschen Bundestag, sondern – übrigensauf Initiative des früheren Bundesjustizministeriums,damals noch unter dem Justizminister Engelhard – auchdie Wissenschaft beschäftigt hat. Ich bitte um Nachsicht,daß ich hier darauf hinweise, daß das Freiburger Max-Planck-Institut für ausländisches und internationalesStrafrecht im Frühjahr 1990 ein rechtsvergleichendesGutachten vorgelegt hat. Der rechtsvergleichende Quer-schnitt und die rechtspolitischen Empfehlungen, die ichzu verantworten hatte, sind damals dem Justizministeri-um übergeben worden. Ich erwähne das nicht etwa we-gen der Autorenschaft, sondern aus einem anderenGrund. In den Empfehlungen war nämlich unter ande-rem vorgeschlagen worden, die richterliche Anord-nung nach österreichischem Vorbild grundsätzlich durchein Kollegialgericht vornehmen zu lassen und nur beiGefahr im Verzuge durch einen Einzelrichter. Es wur-den weiter – ich will nur ein paar der Empfehlungennennen – die öffentliche Berichterstattung über Telefon-überwachungen und die parlamentarische Kontrolle vor-geschlagen.Nun werden Sie gleich sagen, das haben wir doch al-les. Wir haben das aber nicht bei der Telefonüberwa-chung, sondern bei der technischen Überwachung vonWohnräumen. Da haben wir das alles auf Initiative derSPD im Rahmen der Debatte und Abstimmung über densogenannten großen Lauschangriff eingeführt.Herr Kollege Geis, Sie werden sich daran erinnern.Ich habe in den langen Verhandlungen immer wiedergefragt: Worin besteht eigentlich der Unterschied hin-sichtlich des tiefen Eingriffs in die Persönlichkeitsrech-te, ob jemand im Schutz seiner Wohnung ein Telefonge-spräch führt und dieses durch die technische Überwa-chung des Wohnraums aufgenommen wird oder durchdie Telefonüberwachung? Vor allem: Ist nicht beidenVorgängen, egal ob sich die technische Überwachungnur auf das Telefon bezieht oder auf den Wohnraum,gemeinsam, daß immer auch eine große Zahl von nicht-betroffenen, offensichtlich unschuldigen Bürgern tan-giert ist?
Wenn man diese Frage stellt, dann muß man doch er-kennen, daß wir auch Reformbedarf hinsichtlich derrechtsstaatlichen Kontrolle bei der Telefonüberwachunghaben könnten. Dies hat inzwischen auch der Bundesge-richtshof erkannt. Ihnen ist wahrscheinlich das Urteildes Bundesgerichtshofs vom 11. November 1998 be-kannt. Es geht auf einen Mißbrauch ein, der sich bei derTelefonüberwachung eingeschlichen hat. Der Mißbrauchbestand darin, daß eine richterliche Anordnung herbei-geführt und als Vorratsbeschluß auf die Seite gelegtwurde, um ihn irgendwann einzusetzen.In seiner erwähnten Entscheidung vom 11. November1998 hat der Bundesgerichtshof gesagt: So geht dasnicht. Die Dreimonatsfrist für die Telefonüberwachungnach richterlicher Anordnung beginnt mit der Anord-nung und nicht erst mit dem Beginn der Maßnahme. –Das ist ein ganz wichtiger Vorgang, der zeigt: Es gibt soetwas wie Mißbrauch. Wir müssen uns damit befassenund dürfen nicht einfach sagen: Wir weiten dieses In-strument aus.Deshalb mein Appell an die Kolleginnen und Kolle-gen der Opposition: Lassen Sie uns die Gespräche, dieich soeben referiert habe, über eine sinnvolle Erweite-rung des Deliktskatalogs – dazu gehören nach unsererAnsicht neben der Korruption die Verbreitung von Kin-derpornographie und Delikte – und die gleichzeitigeVerbesserung der rechtsstaatlichen Kontrollen wieder-aufnehmen. Eines muß ich Ihnen aber klipp und klar sa-gen: Eine einseitige, rechtsstaatlich unsensible Rechts-politik ist mit der SPD nicht zu machen.Ich danke Ihnen.
Alsnächster Redner hat der Kollege Jörg van Essen von derF.D.P.-Fraktion das Wort.Dr. Jürgen Meyer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1107
(C)
(D)
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Ich bin ohne Manuskript ans Red-
nerpult gegangen, weil ich es mir eigentlich relativ ein-
fach machen könnte. Auch wir stimmen natürlich zu,
daß schwere Kriminalitätsformen grundsätzlich auch mit
der Telefonüberwachung bekämpft werden müssen.
Daß zum Beispiel der Menschenhandel dazugehört – wir
alle wissen, was gerade mit osteuropäischen Frauen pas-
siert –, ist nach meiner Auffassung ohne Zweifel. Ich bin
dem Kollegen Meyer sehr dankbar, daß er nachdenkli-
che Töne in diese Debatte gebracht hat, weil ich glaube,
daß die Telefonüberwachung das verdient hat.
Vielen von Ihnen ist bekannt, daß ich von Beruf
Oberstaatsanwalt bin.
– Ich bin es noch, lieber Herr Kollege. Ich bin im Au-
genblick im einstweiligen Ruhestand, aber Oberstaats-
anwalt bleibt man. – Von daher wissen Sie, daß ich na-
türlich auch aus der praktischen Erfahrung heraus für die
Telefonüberwachung bin, weil ich weiß, daß wir damit
schwerste Kriminalität aufklären und – das ist für uns
Liberale ganz wichtig – auch weitere schwerste Strafta-
ten verhindern konnten und somit Menschen nicht Opfer
von Straftaten wurden. Dieser Aspekt ist für uns immer
besonders wichtig.
Gerade im Bereich des Menschenhandels ist das ein
Aspekt, der diskussionswürdig ist.
Ich weiß natürlich auch – Sie haben es angespro-
chen –, daß es Tendenzen gibt, Anträge auf Vorrat zu
stellen und alles auszunutzen. Wer sich die Zahlen an-
schaut – seitdem ich im Bundestag bin, habe ich mich
dieser Frage in besonderer Weise gewidmet –, der muß
doch nachdenklich werden: Bezogen auf das Bundesge-
biet ist die Zahl der Telefonüberwachungsmaßnah-
men innerhalb eines Jahres um 10,7 Prozent gestiegen –
was enorm viel ist –, aber in Mecklenburg-Vorpommern
um 182 Prozent. Es mag ja Erklärungen dafür geben,
aber zumindest belegt es, daß dies diskussionswürdig ist,
daß dies nachgeprüft werden muß, daß überlegt werden
muß, was die Gründe dafür sind. Es sind ja einige mög-
liche Gründe genannt worden, aber das sind nur mögli-
che Gründe. Wir wissen nicht, ob sie tatsächlich zutref-
fen. Das macht deutlich, daß das diskutiert werden muß.
Eine Diskussionsnotwendigkeit ergibt sich, so glaube
ich, auch aus folgendem: Wenn eine öffentliche kriti-
sche Diskussion stattfindet, geht in deren Folge die Zahl
der Maßnahmen sofort zurück. Als es eine kritische Dis-
kussion über die Zahl der U-Haft-Anordnungen gab,
konnten wir im darauffolgenden Jahr auf einmal einen
erheblichen Rückgang dieser Zahlen verzeichnen. Inso-
fern hat sich gezeigt, daß die kritische Diskussion offen-
sichtlich zu einem Prozeß des Nachdenkens bei den An-
gehörigen der Justiz führt.
Auch das gehört dazu, wenn wir diese Frage diskutieren.
Über die Frage der Schwere der Delikte hinaus
möchte ich eine weitere Frage diskutiert sehen, nämlich
ob die Telefonüberwachung gerade bei der Bekämpfung
dieser Delikte hilfreich sein kann. Ich weiß, daß bei
Menschenhandel mit Frauen sehr häufig Telefonverkehr
stattfindet, daß – mir fällt kein anderer Ausdruck ein; ich
finde ihn schrecklich – „Bestellungen“ per Telefon auf-
gegeben werden. Von daher ist Telefonüberwachung bei
der Bekämpfung des Frauenhandels natürlich hilfreich.
Aber als jemand, der in diesem Gebiet als Staatsanwalt
tätig war, weiß ich, daß im Bereich der Kinderpornogra-
phie vom Telefon praktisch kein Gebrauch gemacht
wird. Dort werden andere Wege genutzt. Deshalb er-
warte ich mir von der Möglichkeit der Anordnung der
Telefonüberwachung in diesem Bereich – so sehr ich
mir eine bessere Bekämpfung der Kinderpornographie
wünsche – eher keine Erfolge.
Ich denke, auch das müssen wir sorgfältig überprü-
fen: Kann das neue Mittel tatsächlich zu einer besseren
Verfolgung führen? Nur wenn wir diese Frage tatsäch-
lich mit Ja beantworten können, sollten wir uns ent-
schließen, den Straftatenkatalog entsprechend zu er-
weitern.
Für mich gehört zu einer Diskussion auch, einmal zu
überprüfen, ob die verschiedenen Katalogtaten noch
stimmig sind und ob wir wirklich noch alle Katalogtaten
brauchen. Ich habe die Zahlen auch deshalb immer jähr-
lich abgefragt, um herauszubekommen, ob es mögli-
cherweise Katalogtaten gibt, für die wir nie Anordnun-
gen brauchen.
– Auch das gehört dazu, sicherlich, Herr Ströbele. Aber
allein die Tatsache, daß keine Anordnungen stattfinden,
muß doch Druck erzeugen, nachzuprüfen, ob die Not-
wendigkeit besteht, die entsprechenden Straftaten im
Katalog zu belassen.
Von daher rate ich uns allen zu einer sachlichen Er-
örterung. In der Zielsetzung sind wir uns – das haben ja
auch die Ausführungen des Kollegen Meyer gezeigt –
weitgehend einig. Wir sollten zu guten Ergebnissen
kommen. Ich bin sehr gespannt, was die Bundesregie-
rung sagt. Herr Staatssekretär Dr. Pick, ich freue mich,
daß Sie als Zivilrechtsprofessor jetzt etwas zu einem be-
sonders interessanten Rechtsgebiet, nämlich dem Straf-
recht, sagen können. Ich freue mich schon auf Ihre Aus-
führungen. Wir sind in der Vergangenheit vom Bun-
desjustizministerium in diesen Fragen immer gut unter-
stützt worden. Ich hoffe, daß das auch jetzt der Fall ist.
Wir sollten eine breite Diskussion führen, nicht verengt
auf Ihren Vorschlag.
Herzlichen Dank.
Als
nächster Redner hat der Kollege Volker Beck von
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum zweiten
Metadaten/Kopzeile:
1108 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
Mal heute diskutieren wir über einen Gesetzentwurf,von dem ich sagen würde: Da hat die CDU/CSU rechts-politisch mit Schrot geschossen, hat sie es an der not-wendigen Präzision und Ausgewogenheit fehlen lassen.
Mit diesem Gesetzentwurf zur Ausweitung des klei-nen Lauschangriffs verfährt die Union nach ihrem ge-wohnten kriminalpolitischen Muster: Es werden Krimi-nalitätsängste der Bevölkerung aufgegriffen und Hand-lungskompetenz vorgetäuscht, indem die weitere Aus-weitung des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsinstru-mentariums gefordert wird.Dies geschieht ungeachtet der Tatsache, daß bereitsunter der alten Bundesregierung vereinbart wurde, dasInstrument der Telefonüberwachung insgesamt mit demZiel zu überprüfen, die hohe Zahl der Telefonüberwa-chungen – Sie haben es angesprochen, Herr Kollege vanEssen – deutlich zu reduzieren. Wir haben auf Grund ei-nes Antrages von CDU/CSU, F.D.P. und SPD am1. Oktober 1997 einen Beschluß gefaßt, in dem wir dieLänder aufgefordert haben, uns im einzelnen zu berich-ten und Vorschläge zur Verbesserung des Verfahrensder richterlichen Anordnung zu machen.Auf dieser Grundlage soll künftig die Bundesregie-rung dem Deutschen Bundestag jährlich einen Berichtvorlegen. Diesen wollen wir dann wirklich zur Grundla-ge machen, um zu überprüfen, inwieweit der Deliktska-talog eingeschränkt werden kann oder gegebenenfallsauch in Einzelpunkten eine Erweiterung erforderlich ist.Der Schutz von Kindern vor sexualisierter Gewalthat für Bündnis 90/Die Grünen immer eine hohe Priori-tät gehabt. Wir haben in den vergangenen Jahren oftmalsInitiativen angestoßen, die auch zu einer Verbesserungdes strafrechtlichen Schutzes in diesem Bereich geführthaben.Wir sind auch sehr daran interessiert, alles Rechts-staatliche zu tun, um hier zur Aufklärung von Straftatenzu kommen. Aber ich sehe es genauso wie Sie, HerrKollege van Essen: Ich glaube, wenn man vom Delikts-charakter und von den Tatumständen ausgeht, sollte mansich von der Telefonüberwachung auf jeden Fall keinekriminalistischen Wunder erwarten. Ich habe großeZweifel, daß wir mit diesem Mittel wirklich vorankom-men. Wenn sich gleichwohl für einzelne Bereiche eineVerbesserung im Hinblick auf die Ermittlungsmethodenergeben sollte und dies auch begründet ist, sind wir be-reit, darüber zu reden.Wenn man hier aber den sexuellen Mißbrauch vonKindern hineinnimmt, dann frage ich Sie von der Union:Warum lassen Sie den Deliktsbereich der Vergewalti-gung außen vor? Das macht für mich aus sich herauskeinen Sinn. Sie, Herr Geis, haben von Sexualdeliktengesprochen. Sie haben nur die §§ 176 bis 176 b desStrafgesetzbuches in den Gesetzentwurf aufgenommen.Das scheint mir einfach nicht ausgewogen und deshalbauch als Grundlage für die Diskussion untauglich zusein.Auch am Beispiel der Korruption wird der populisti-sche Charakter des neuerlichen Vorstoßes der Uniondeutlich. Während Sie sich jahrelang geweigert haben,das von der Fachwelt und von uns immer wieder gefor-derte bundesweite Korruptionsregister einzuführen,nehmen Sie nun die Bekämpfung der Korruption alsVorwand für Ihr Lieblingskind, nämlich den Lauschan-griff auszuweiten.Unsere Koalition hat diesbezüglich bei der Steuerre-form gehandelt. Wir sorgen dafür, daß die steuerlicheAbsetzbarkeit von im Rahmen der Korruption im Aus-land gezahlten Geldern endlich abgeschafft wird. Ichdenke, das ist ein wichtiger Erfolg und zeigt, daß wirhier rechtspolitisch anders als die alte Koalition heran-gehen.
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Geis?
Aber gerne doch.
Herr Kollege Geis,
bitte.
Herr Beck, ist Ihnen be-
kannt, daß der Bundesrat in seinem Gesetzentwurf aus
dem Jahre 1995 zur Korruptionsbekämpfung und zur
Bekämpfung der Bestechung und der schweren Beste-
chung vorgeschlagen hat, dafür die Telefonüberwachung
einzubeziehen? Würden Sie sagen, dies sei leichtfertig,
wenn mehrere Justizministerien der Länder auf Grund
ihrer praktischen Erfahrung der Meinung sind, dies müs-
se so sein?
Herr Kollege, hätten Sie mir Zeit gelassen, meine Redefortzuführen, dann hätten Sie erfahren, daß ich durchausbereit bin, hierüber in der Sache zu reden. Bloß ist dieTelefonüberwachung sicher nicht das einzige und schongar nicht das tauglichste aller denkbaren Mittel, um dieKorruption zu bekämpfen. Hier gehören andere Instru-mentarien dazu. Diese haben Sie vernachlässigt.Wir müssen bei der Korruption darüber reden, ob wirdurch die Telefonüberwachung Fortschritte bei derStrafverfolgung erzielen können. Wenn sich das bestäti-gen läßt – dafür gibt es Anzeichen und Argumente –,dann sind wir bereit, darüber in der Sache zu reden undnachzudenken.Für uns stellen sich die Grundfragen zur Kriminal-politik aber andersherum als bei Ihnen. Wir wollen fra-gen: Welches sind die am besten geeigneten Mittel zurBekämpfung bestimmter Kriminalitätsformen? WelcheNebenwirkungen haben diese Instrumente für die Bür-gerrechte? Auf Grund dieser Fragen werden wir dannentscheiden, welche Maßnahmen wir gemeinsam in derKoalition ergreifen.Die neue Regierung hat die Gelegenheit, eine ratio-nale Kriminalpolitik durchzusetzen, so wie wir sie im-mer gefordert haben. Diese Gelegenheit wollen wir er-Volker Beck
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1109
(C)
(D)
greifen; dabei werden wir aber das Pferd nicht mehrvom Schwanz aufzäumen, wie Sie das jahrelang ge-macht haben. Bündnis 90/Die Grünen drängen seit lan-gem auf eine Überprüfung der Vorschriften zur Tele-fonüberwachung.
Die Bundesrepublik ist Weltmeister bei der Überwa-chung von Telefongesprächen. Im Jahre 1997 gab esnach Angaben der damals von Ihnen gestellten Bundes-regierung 7 356 richterliche und 420 staatsanwaltschaft-liche Anordnungen zur Überwachung des Fernmelde-verkehrs; dies war eine Steigerung von 50 Prozent ge-genüber dem Vorjahr. Ich denke, diese Tendenz istschlichtweg erklärungsbedürftig; dieser Sache müssenwir auf den Grund gehen.Dabei sollte man sich immer wieder bewußtmachen:Bei den Personen, deren Telefone abgehört werden,handelt es sich nicht um überführte Verbrecher, sonderneben um Verdächtige und deren Gesprächspartner. Beimehr als 70 Delikten höchst unterschiedlichen Gewichtsräumt das Gesetz die Befugnis zur Anordnung einerÜberwachungsmaßnahme ein; hierzu zählen nebenStraftaten wie Mord und schwerem Menschenhandelauch Taten wie die Anstiftung zur Fahnenflucht oderStraftaten gegen die Sicherheit der im Lande Berlin an-wesenden Truppen der drei Mächte. Das ist totes Recht;das kann man streichen. Das zeigt, daß man sich denKatalog auch einmal anschauen muß, um herauszufin-den, was überflüssig ist oder was sich schlichtweg durchdie Geschichte erledigt hat.Die genehmigenden Richter verfügen über keineeigenen Erkenntnisse über den zu Überwachenden undsind deshalb auf Treu und Glauben auf die Angaben derErmittlungsbehörden angewiesen, wenn sie die Notwen-digkeit der Telefonüberwachung bejahen sollen. Des-halb ist die richterliche Ablehnung einer beantragtenTelefonüberwachung heutzutage fast schon eine Rarität.Darüber hinaus werden die Richter noch nicht einmalüber Erfolg oder Mißerfolg der Abhöraktion unterrich-tet. Ein detailliertes Berichtssystem, wie wir es etwa inden USA kennen, existiert in der Bundesrepublik nicht.Für problematisch hält meine Fraktion auch die der-zeit mögliche Dauer der Überwachungsmaßnahmen.Die Überwachung kann für die Dauer von drei Monatenangeordnet werden – mit der Möglichkeit jeweils drei-monatiger Verlängerung. Eine Begrenzung dieserÜberwachungsdauer wollen wir überprüfen.Wird die Überwachung durch die Staatsanwaltschaf-ten angeordnet, kann die richterliche Genehmigung biszu drei Tagen auf sich warten lassen. Auch hier möchtenwir über eine zeitliche Eingrenzung diskutieren.Für befremdlich halten wir ferner, daß Anordnungengegenüber Berufsgeheimnisträgern möglich sind. Dieehemalige Bundesregierung mußte in ihrer Antwort aufdie Große Anfrage unserer Fraktion einräumen, daß inden vergangenen Jahren mehrfach der Fernmeldeverkehrvon Berufsgeheimnisträgern überwacht worden sei.Hiervon waren auch Abgeordnete der Landtage von Ba-den-Württemberg, Niedersachsen und Hamburg betrof-fen. Wir haben hier bei der Grundgesetzänderung imZusammenhang mit dem Lauschangriff eine andereGrundentscheidung getroffen.Die Koalition wird sich der Aufgabe der sorgfältigenÜberprüfung der Telefonüberwachung annehmen. ImRahmen dieser Prüfungen werden wir Streichungen undErweiterungen des Straftatenkatalogs diskutieren. Dannwerden wir auch eine politische Entscheidung zur Auf-nahme des Kindesmißbrauchs sowie der Korruptionsde-likte fällen.
Rein populistisch begründete Ausweitungen der Ermitt-lungsbefugnisse hat meine Fraktion bereits in der Oppo-sition abgelehnt; diese Haltung wollen wir auch in derRegierung beibehalten. Deshalb hat Ihr Entwurf keineChance auf eine parlamentarische Mehrheit.
Ich erteile das Wort
der Kollegin Sabine Jünger, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! In der Debatte über den sogenann-ten großen Lauschangriff hat der Gutachter Dr. Gössnerauf den Widersinn hingewiesen, daß für Delikte, für diebislang nicht einmal eine Telefonüberwachung vorgese-hen ist, die akustische Überwachung von Wohnungeneingeführt wird. Der vorliegende Gesetzentwurf derCDU/CSU macht es nun umgekehrt: Weil es nach derEinführung des großen Lauschangriffs mittlerweile legalist, bei Verdacht auf Sexualstraftaten oder Korruptions-delikte Wohnungen abzuhören, müsse auch das – wie esheißt – „mildere Mittel“ der Telefonüberwachung ge-stattet sein. Das ähnelt einer Spirale, wie wir sie seit einer Reihevon Jahren kennen: Eine neue Regelung, die – vorgeb-lich staatssichernd – Bürgerrechte einschränkt, schafftdie Ausgangsbasis, um weitere Eingriffe in Bürgerrechtezu verlangen. Heute sind es weitgehende Beschränkun-gen des Fernmeldegeheimnisses durch § 100 a derStrafprozeßordnung. Morgen wird es möglicherweisedie Forderung nach einem Spähangriff sein.Der Gesetzentwurf der CDU/CSU verdeutlicht – ummit Winfried Hassemer zu sprechen – die Misere derKantherschen Law-and-order-Hinterlassenschaft. Es istmeiner Ansicht nach an der Zeit, diese Spirale zu stop-pen und nicht auch in diesem Bereich auf die vielbe-schworene Kontinuität zu setzen.Die bisherige Politik des angeblich notwendigen Tau-sches von Freiheit gegen Sicherheit muß hinterfragtwerden. Wir brauchen hier im Parlament und auch in derÖffentlichkeit eine Debatte um eine sinnvollere undVolker Beck
Metadaten/Kopzeile:
1110 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
wirksamere Kriminalpolitik. Wir sollten der Frage nachder Spezifik und den Ursachen der Kriminalität in ihrenverschiedenen Erscheinungsformen nachgehen. Dabeiwerden wir nicht an gesellschaftlichen Entwicklungenvorbeikommen, die in der Kriminalität ihren Ausdruckfinden. Zu diesen Entwicklungen hat gerade dieCDU/CSU in ihrer Rolle als Regierungsfraktion nichtunwesentlich beigetragen.Im Rahmen einer solchen Debatte wäre es sicherlicherforderlich, über Eckpunkte eines erfolgreichen Kamp-fes gegen Sexualstraftaten und gegen die sogenannte or-ganisierte Kriminalität zu sprechen. Allerdings solltenwir auch die Wirtschafts-, die Umwelt- und die Massen-kriminalität stärker thematisieren. Immerhin liegt derSchaden allein durch Steuerhinterziehung mit 100Milliarden DM jährlich deutlich höher als der Schadendurch die sogenannte organisierte Kriminalität.Die bisherige Politik hat in der Eindämmung derKriminalität primär auf strafrechtliche und strafverfah-rensrechtliche Mittel gesetzt. Das hat sich weitgehendals untauglich erwiesen. Wozu also sind die Bürger-rechte eingeschränkt worden?Die Bundesrepublik Deutschland ist im internationa-len Vergleich längst einsame Spitze im Abhören vonTelefongesprächen. Dabei fehlt nach wie vor eine Ana-lyse der kriminalpolitischen Wirksamkeit von Ein-schränkungen des Fernmeldegeheimnisses. Es geht nichtnur um die Strafprozeßordnung. Es geht auch um dasAußenwirtschaftsgesetz, um das Abhörgesetz nach Art.10 GG, um das Telekommunikationsgesetz und um dasFernmeldeüberwachungsgesetz. Letzteres gestattet –zumindest nach der Rechtsprechung des BGH – mittler-weile sogar die Meldung sogenannter Funkzellen undermöglicht damit die Erstellung von Bewegungsprofilen.Die davon betroffenen Personen sind in ihrer übergroßenMehrheit nicht etwa Gangster, sondern Verdächtige undauch gesetzestreue Bürgerinnen und Bürger.Wir kennen mittlerweile das Ergebnis der computer-gesteuerten elektronischen Rasterfahndung aller Aus-landsgespräche, die im April 1996 legalisiert wurde.Die geradezu gigantische Abhöraktion von täglich zirka8 Millionen Gesprächen hat in den vergangenen zweiJahren nichts als Wortmüll gebracht.Die „Süddeutsche Zeitung“ vom 18. August 1998schrieb dazu wörtlich:Bei dem ganzen großen Lauschangriff kam keineinziger für die Polizei interessanter Tip heraus.Eine grundrechtsorientierte Kritik der Kriminalpolitikder letzten Jahre muß deutlich machen, daß Grundrechtenicht schlechthin lästige Hindernisse effektiver Polizei-arbeit sind. Obrigkeitsstaatliche Eingriffe in Grund-rechte sind sowohl unter dem Gesichtspunkt ihrer krimi-nalpolitischen Wirkung zu analysieren als auch unterdem Aspekt der Vermeidbarkeit.Dabei kommen wir auch nicht umhin – die Kollegenvan Essen und Beck haben es bereits angesprochen –,über eine Entrümpelung des § 100 a der Strafprozeßord-nung und über eine bessere rechtsstaatliche Kontrolle zusprechen. Vor allem im Kampf gegen die Korruptionbenötigen wir, wenn er erfolgreich sein soll, eine konse-quente Ahndung von Straftaten und bessere Präventi-onsmittel. Dazu gehören für mich zwingend die Schaf-fung transparenter Strukturen und Abläufe in der Staats-verwaltung sowie ein verfassungsmäßiges Recht aufAkteneinsicht.Wir brauchen also mehr Rechte für Bürgerinnen undBürger und nicht noch weitere Einschnitte in ihre Rech-te. Ich bin der Meinung, daß die Korruption damit besserbekämpft werden kann als mit der bisherigen Politik derisolierten strafverfahrensrechtlichen Aufrüstung.Der CDU/CSU-Entwurf ist aus unserer Sicht kontra-produktiv. Er ist ein Beispiel für altes kriminalistischesDenken, ein falsches Signal und ein untauglicher undgefährlicher Weg, der insgesamt einer Korrektur bedarf,ein Weg, dem wir unsere Zustimmung nicht geben wer-den.
Frau Kollegin Jün-
ger, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag.
Ich gratuliere Ihnen im Namen des ganzen Hauses.
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Alfred Har-
tenbach, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meineverehrten Kolleginnen und Kollegen! Verehrter KollegeGeis, angesichts Ihrer Erregtheit soeben ändere ich denText des ersten Blattes meiner Rede
– doch, Herr Geis –, weil es mir wirklich auf Sachlich-keit ankommt. Ein, zwei kleine Spitzen werde ich brin-gen. Ansonsten ist für mich das sachliche Argumentwichtiger.Wir sind über das, was Sie mit dem vorgeschlagenen§ 100a StPO gebracht haben, einigermaßen enttäuscht.Wenn man so etwas macht, wozu man in der Regie-rungsverantwortung lange genug Zeit hatte, an dem manvom kleineren Koalitionspartner in der 13. Legislaturpe-riode möglicherweise gehindert wurde und bei dem dasdamalige Justizministerium uns die Tatsachen nicht lie-ferte, sollte man zumindest dann, wenn man aus der Op-position heraus einen solchen Antrag stellt, nicht denEindruck erwecken, als ob man ihn angesichts eines fürdie Union sehr bedeutenden Landtagswahlkampfes indie Debatte bringe, um in den schon angeheizten Dis-kussionen zur Ausländerpolitik zwei Themen herauszu-greifen, nämlich den Kindesmißbrauch und die Korrup-tion, von denen man weiß, daß man damit an denStammtischen Pluspunkte sammelt.Dafür sollten Sie sich eigentlich, verehrter Herr Kol-lege Geis, zu schade sein.
Sabine Jünger
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1111
(C)
(D)
Ich will, damit Sie mir ab sofort in Ruhe zuhörenkönnen, für meine Fraktion sozusagen vor der Klammererklären: Wir wollen die Korruption vor allem in denAmtsstuben mit aller Ernsthaftigkeit und gewissenhaftverfolgen und ausmerzen. Wir werden alle Anstrengun-gen unternehmen, dem sexuellen Mißbrauch von Kin-dern durch konsequente Aufklärung der Taten und Er-mittlung der Täter entgegenzuwirken. Wir wissen, daßsich die Korruption in aller Regel in der Stille, ohne Op-fer und damit ohne wirkliche Zeugen ereignet, sich nurunter Tätern abspielt. Deshalb bedarf es eines wirksa-men Mittels zur Erlangung von aussagekräftigen Be-weismitteln.Bei der Ermittlung von Kindesmißbrauch sind wirallerdings der Ansicht, daß weniger die Kontrolle desgesprochenen Wortes, sondern vielfach die Kontrolle imInternet die Möglichkeit der Aufklärung bringen wird.
Bei allem aber müssen wir zuvörderst bedenken, daßes sich bei den Maßnahmen der Überwachung des Tele-kommunikationsverkehrs um einen Eingriff in Grund-rechte handelt, und zwar um einen sehr heftigen undsehr tiefgehenden Eingriff. Dieser Eingriff ist schondann zulässig, wenn bestimmte einfache Tatsachen denVerdacht begründen, eine der Katalogstraftaten kommein Betracht. Es genügt also ein einfacher Verdacht; einhinreichender Verdacht wie bei der Anklageerhebungoder gar ein dringender wie beim Haftbefehl ist nichtVoraussetzung. Um so genauer müssen wir daher prü-fen, ob und in welchen Fällen eine Abhörmaßnahme, al-so ein Eingriff in Grundrechte, den Professor Meyer anHand des Telefonierens sehr plastisch geschildert hat,erfolgen darf, welche Voraussetzungen wir wollen undwie hoch wir die Meßlatte legen.In der vergangenen Legislaturperiode herrschte dochgroße Übereinstimmung in der Beurteilung, daß inDeutschland im Vergleich zu anderen Ländern die An-zahl von Überwachungsmaßnahmen überproportionalgroß sei. Zahlen aus dem Jahr 1997, die mir bekanntsind, bestätigen dies. Sie gehen weit über das hinaus,was Professor Meyer noch für 1995 angegeben hat. Esgeht um nahezu 8 000 Maßnahmen. Wir müssen daher,bevor wir den Katalog erweitern, prüfen, ob wir dieVoraussetzungen enger, korrekter fassen können; wirmüssen prüfen, ob und wie weit wir den Grad des Ver-dachts verschärfen, ob er nicht eine Stufe höher seinmuß, vielleicht ein hinreichender Verdacht oder eindringender Verdacht.Wir werden aber auch die Frage stellen müssen, obwir der Staatsanwaltschaft – das haben meine VorrednerHerr van Essen und Herr Beck schon gesagt – drei TageZeit lassen, die richterliche Genehmigung ihrer An-ordnung einzuholen. Wir werden in der Beratung daraufdringen müssen, den alten, bestehenden Katalog regel-recht zu entrümpeln.In diesem Zusammenhang hat Herr Beck das Beispielgebracht, das auch ich gerne gebracht hätte – manchmaldenkt man, man hat die Jungfräulichkeit gepachtet –,nämlich den immer noch vorhandenen Tatbestand derStraftaten gegen die Sicherheit der im Lande Berlin an-wesenden Truppen der drei Mächte. Die Union hätte –Herr Geis, hören Sie mir gut zu, denn wer seriös arbei-tet, sollte das tun – in ihrer Regierungszeit schon einmalauf eine Entrümpelung dieses Katalogs achten können.Sie hatte acht Jahre Zeit dazu.
Deswegen, verehrter Herr Geis, glaube ich, daß esschon ein bißchen Effekthascherei ist.Sie haben auch in einem weiteren Punkt unsauber ge-arbeitet. So wollen Sie zum Beispiel, daß die Beamten-korruption nach § 332 und § 334 StGB in den Katalogaufgenommen wird. Mit dem gleichen Strafrahmen, mitdem gleichen Strafmaß ist auch die Richterbestechungbedacht. Warum nehmen Sie die nicht auf? Für mich istdie Richterbestechung genauso verwerflich wie das kor-rupte Verhalten eines anderen Staatsdieners.
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Geis?
Natürlich, Herrn Geis
gestatte ich sie immer.
Herr Kollege Harten-
bach, können Sie zur Kenntnis nehmen, daß Sie am
26. September 1996, als wir das Gesetz zur Korruption
eingebracht haben, in Ihrer Rede hier im Bundestag,
nachzulesen im Protokoll, wörtlich erklärt haben:
Wir wollen, daß in besonders schweren Fällen der
Post- und Telefonverkehr überwacht werden darf
und Aufzeichnungen möglich sein dürfen.
Das wollen mir mit unserem Gesetzentwurf. Ich
stimme mit Ihnen überein, Herr Hartenbach, daß § 100 a
StPO vielleicht durchforstet werden muß. Meine Frage
an Sie ist: Muß das unbedingt jetzt bei diesem Gesetz-
entwurf sein? Kann man sich das nicht für längere Zeit
vornehmen? Ist es nicht richtig, übereinstimmend über
die Parteigrenzen hinweg wichtige Maßnahmen trotz-
dem sofort zu treffen?
Herr Geis, ich glaube,ich habe Ihnen einmal bei einer anderen Gesetzesbera-tung – es ging um die Frage der Hauptverhandlungshaft– gesagt: Schnelles Recht ist nicht immer gutes Recht.Dazu stehe ich auch heute noch. Wenn wir derart tiefge-hende Grundrechtseingriffe vornehmen, dann müssenSie folgendes bedenken – ich wollte das in meiner Redeeigentlich gar nicht so weit ausführen, aber da Sie mirzuhören, geben Sie mir Gelegenheit, jetzt ein paar Taktedazu zu sagen –: Die Korruption, die wir bekämpfenwollen, findet in Amtsstuben statt. Das heißt, es wirdüber öffentliche Telefonleitungen telefoniert, denn dieTäter telefonieren selten mit ihrem Handy; warum auch,das wäre ja Quatsch. Sie telefonieren auf der Telefon-leitung der Stadt.Nun ruft zum Beispiel Norbert Geis in Aschaffenburgbei seinem Stadtkämmerer an und versucht, mit ihmAlfred Hartenbach
Metadaten/Kopzeile:
1112 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
darüber zu verhandeln, die Grundsteuer zu ermäßigen,weil man sie möglicherweise zu hoch angesetzt habe.Dieser Stadtkämmerer – natürlich nicht der aus Aschaf-fenburg, sondern aus der Stadt X; sonst wird mir derStadtkämmerer aus Aschaffenburg noch böse – stehtunter Korruptionsverdacht, und die Polizei hört diesesGespräch mit. Was würde das für ein Bild auf den vonmir sehr geschätzten Abgeordneten Norbert Geis wer-fen?Deswegen, Herr Geis, sage ich eines: Die schwereKorruption wollen und müssen wir bekämpfen. Wirwerden dies tun und werden eine Lösung finden. Ich binaber der Meinung, daß wir das nicht im Schnellschußtun dürfen. Herr Geis, es hat Jahre gedauert. Nun habenwir Vorstellungen und Vorschläge, wie wir dieses regelnwollen.Nun hören Sie mir nun noch eine Minute und dreißigSekunden zu, dann wissen Sie auch, wie es weitergeht.Ich war bei den Richtern stehengeblieben; auch diesegehören mit in den Katalog.Ich habe noch einen Punkt: Warum muß die Anstif-tung zur Fahnenflucht mit der Telefonüberwachungbedacht werden? Wir haben hier eine völlig geänderteSicherheitslage.Wir wissen doch auch – das konnte man beobach-ten –: Jedesmal, wenn wir eine Maßnahme zusätzlich inden Katalog aufgenommen haben, ist die Zahl derÜberwachungsmaßnahmen gestiegen. Da drängt sichschon der Verdacht auf, daß die Erhöhung der Zahl vonKatalogtaten zu einer verstärkten Überwachung führt.Das kann und darf nicht unser Ziel sein. Ich erinneredaran: So wichtig die Aufklärung von Korruption und sodringend geboten der Schutz von Kindern vor sexuellemMißbrauch und vor Ausbeutung ist, wir dürfen nicht umirgendwelcher momentaner vermeintlicher oder tatsäch-licher politischer Vorteile willen die Grundrechte desallgemeinen Persönlichkeitsrechts und des Fernmelde-geheimnisses aufs Spiel setzen. Ich möchte nicht, daßwir Verhältnisse bekommen, wie ich sie kürzlich in ei-nem Film mit Gene Hackman und Will Smith gesehenhabe. Den sollten Sie sich, Herr Geis, einmal anschauen,dann würden Sie nicht mehr ruhig schlafen.
– Hören Sie doch erst einmal zu! – Es wäre für uns allehilfreich, wenn wir auf wissenschaftlicher Grundlage er-forschen könnten, welche Taten bisher Grundlage füreine Telefonüberwachung waren, welcher Schweregraddes Vorwurfs zugrunde lag, wie stark die Verdachts-gründe waren
und welche Ergebnisse bezüglich Einstellung, Anklageoder auch Verurteilung dabei herausgekommen sind.Wir müssen doch wissen: Immer wenn es eine Einstel-lung gegeben hat, dann hat die Ermittlungsbehörde beieinem Unschuldigen abgehört. Wenn wir das wissen,dann können wir, so glaube ich, auf einer vernünftigenBasis den Katalog erweitern, beschränken und neu fas-sen.Ich biete Ihnen an, eine faire Verhandlung und Bera-tung zu führen. Das Justizministerium und die Bundes-regierung bitten wir, sich diesem von mir zuletzt geäu-ßerten Vorschlag anzuschließen und uns in den Beratun-gen mitzuhelfen, hier auf wissenschaftlicher Grundlagezu einer vernünftigen Lösung zu kommen.Danke schön.
Das Wort hat jetzt
der Kollege Volker Kauder, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Mei-ne sehr verehrten Damen und Herren! Herr Meyer, ichmöchte mich in meiner ersten Rede, die ich in diesemHause zur Rechtspolitik halte, gleich an Sie wenden.Wir wissen, daß Sie mit Rotgrün die Mehrheit in diesemDeutschen Bundestag haben und deshalb aufgerufensind, die notwendigen Entscheidungen zu treffen. AberSie können nicht ein Gesprächsangebot an die Oppositi-on richten und zugleich – auch durch das Verhalten derFrau Justizministerin heute morgen – deutlich machen,daß Ihnen dieses Gesprächsangebot völlig wurschtegalist. Das ist nicht in Ordnung.
Gerade in der Rechtspolitik, in der der Grundsatz desfairen Umgangs im Prozeß und in der juristischen Aus-einandersetzung ein besonderes Mittel ist, sollten Siedies auch bei solchen Sachverhalten berücksichtigen.Machen Sie uns ein Gesprächsangebot – wir stellen unsdarauf sofort ein –, dann nehmen wir dieses an und spre-chen miteinander. Aber wir sind nicht bereit, ein Ge-sprächsangebot anzunehmen, das nur dazu dienen soll,uns als Opposition nicht ernst zu nehmen. Das ist heutemorgen so nicht geschehen. Deswegen sage ich ja zu ei-nem Gesprächsangebot, aber nicht einfach nach demMotto: Just for fun beschäftigen wir die Opposition. Dahaben wir doch etwas anderes zu tun.
Nun zu Ihnen, Herr Hartenbach. Sie sollten bei einemsolchen wichtigen Anliegen, das im übrigen von Ihnenund auch von Herrn Beck von den Grünen in der Sub-stanz überhaupt nicht bestritten worden ist, nicht solcheSätze formulieren wie den, es ginge uns darum, an denStammtischen Punkte vor einer Wahl zu sammeln. Diesist dem Thema nicht angemessen.Im übrigen kann ich dazu nur sagen, Herr Harten-bach: Wenn ich mich an das erinnere, was der damaligeKandidat und heutige Bundeskanzler Gerhard Schrödervor der Bundestagswahl an Stammtischparolen auch imBereich der Rechtspolitik zugelassen hat, dann stelle ichfest, daß das, was wir hier fordern, geradezu harmlos ist.Dazu kann ich nur sagen: Fassen Sie sich einmal an IhreAlfred Hartenbach
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1113
(C)
(D)
eigene Nase, fangen Sie nicht mit Kritik in diesem Be-reich an!
Nun zu Ihnen, Herr Beck. Sie haben gesagt: Wir wer-den dieses Thema prüfen. – Dies ist in Ordnung. Ichstelle mich auch auf diese Prüfung ein. Der Vorschlag,der hier von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vorge-legt wird, ist richtig und berechtigt.Die Korruption – um es einmal mit diesem Globalbe-griff zu sagen – ist kein Einzeldelikt mehr, das irgend-wann einmal vorkommt, sondern sie hat – das wissenSie nicht nur aus Fachzeitschriften, sondern inzwischenauch aus Boulevardzeitungen und Magazinen – immerstärker um sich gegriffen. Baden-württembergischeZahlen, über die ich verfüge, zeigen eine enorme Ver-vielfachung der Ermittlungen im Bereich der Korrupti-on. Dabei will ich gleich hinzufügen, daß ich nicht derMeinung bin, daß wir jetzt von einem Land sprechenkönnen, in dem der öffentliche Dienst insgesamt korruptist. Es sind Einzelerscheinungen; der große Teil der Be-amten nimmt seine Aufgaben korrekt wahr. Trotzdemnimmt dieses Delikt zu, im übrigen auch in der Wirt-schaft.Nun muß man überlegen, wie man gegen dieses De-likt vorgeht, das immer stärker um sich greift. Wenn ichkeine neuen Instrumente einsetzen will, muß ich prüfen,welches der vorhandenen Instrumente am besten geeig-net ist, gerade diesen Kriminalitätsbereich aufzuklären.Da müssen Sie in die Praxis hineinschauen; hier geht esgar nicht um Politik. Die Ermittlungspraktiker – Staats-anwälte, Polizeibeamte – sagen, bei einem Verbrechen,bei dem es in hohem Maße konspirativ zugeht, indemzwei ein Verbrechen verabreden, bei dem es kein Opfergibt und bei dem es wenige Zeugen gibt, sei die Kon-trolle dessen, was verabredet worden ist, wichtig, unddazu eigne sich in besonderer Weise die Telefonüberwa-chung.Da Sie die Telefonüberwachung überhaupt nichtablehnen – wir brauchen hier ja gar keine Diskussionüber Moral zu führen; auch Sie sagen, Telefonüberwa-chung sei zulässig –, ist jetzt nur noch zu prüfen, ob die-ses Mittel in diesem ganz konkreten Fall verhältnismä-ßig ist oder nicht. Bei dieser Verhältnismäßigkeitsprü-fung – Herr van Essen, ich respektiere Ihre Erfahrungenaus der Praxis, die Sie als Oberstaatsanwalt haben –müssen Sie dann aber nicht nur die besondere Art desDeliktes und die Schwere der kriminellen Energie be-rücksichtigen, sondern Sie müssen auch berücksichtigen,wie sich das Delikt in der Summe entwickelt. Bei derPrüfung der Verhältnismäßigkeit der Telefonüberwa-chung gibt es zwei Ansätze: einmal die Zahl der Delikteund einmal die Schwere des Delikts. Die Schwere kanngering sein, die Zahl hoch.
– Ich lasse keine Zwischenfrage zu.Wir sind uns auch darüber einig, daß Korruption,wenn sie als Einzeldelikt aufkommt, zwar durchaus pro-blematisch ist, aber daß für die Staatsgrundlagen und fürdas Vertrauen der Bürger in den Staat und auch unter-einander die Häufigkeit eine ganz entscheidende Rollespielt. So kann ein Delikt, das vielleicht in den Augenmancher als gar nicht so schwerwiegend erscheint,durch die Häufung in der letzten Zeit zu einem sehrschwerwiegenden Angriff auf die Grundlagen unseresStaates werden. Deswegen ist die Telefonüberwachunghier schon angebracht.Lassen Sie mich noch auf das zurückkommen, wasvom Kollegen Geis zur Überwachung des Wohnraumessowie dazu gesagt worden ist, daß es sich bei der Tele-fonüberwachung um das geringere Instrument handele.Herr Meyer, natürlich kann bei der Überwachung auchjemand, der unbeteiligt ist, betroffen sein.
– Es können sich ja durchaus zwei Verdächtige zusam-menfinden; sonst gäbe es keine Verurteilungen, und wirkönnten den Tatbestand streichen.Das weiß ich sehr wohl, und deswegen wäge ich auchab und sage: Es muß die Schwere der Tat und die Häu-figkeit von Taten berücksichtigt werden. Aber tun wirbitte nicht so, als betreffe die Abhörung des Telefons ineinem größeren Umfang Fremde oder Unbeteiligte alsdie Überwachung der Wohnung. Ich gehe einmal davonaus, daß derjenige, der abgehört wird, ab und zu Besuchhat und daß auch Besucher dabeisein werden, die nichtalle tatverdächtig sind.Deren Gespräche werden ebenfalls abgehört.
Da kann man also nicht damit argumentieren, bei derÜberwachung von Wohnraum seien weniger Leute alsbei der Überwachung des Telefons betroffen. Jeder, derzu Unrecht betroffen ist, ist eben zu Unrecht betroffen.Deswegen auch der Abwägungsvorgang!Dann ist der Kollege Geis auf den Kreisdezernentenund Kreiskämmerer angesprochen worden. Dazu kannich nur sagen, daß wir ein bißchen mehr Vertrauen in diePolizei haben sollten – dort handelt es sich auch um Be-amte – und daß die Polizeibeamten mit dem, was sie ab-hören, sorgfältig genug umgehen. Wir wissen ja auch,daß die Gesprächsprotokolle nicht auf dem offenenMarkt gehandelt werden. Viel häufiger wird etwas ausgeheimen und vertraulichen Sitzungen politischer Gre-mien an die Öffentlichkeit getragen. Insoweit habe ichdamit überhaupt kein Problem.
Lassen Sie mich noch einen letzten Satz zu dem äu-ßern, was zur Kinderpornographie gesagt worden ist.Herr Beck, ich spreche vor allem Sie und die Bündnis-grünen an. Nachdem ich über viele Jahre die Entwick-lung der Kinderpornographie und dessen, was da allesgemacht worden ist – Freigabe usw. –, verfolgt habe,kann ich es schlecht ertragen, daß dann, wenn sich aufeinmal in der Masse bestimmte Probleme wie bei derKinderpornographie auftun, dicke Krokodilstränen ver-Volker Kauder
Metadaten/Kopzeile:
1114 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
gossen werden, weil man nicht frühzeitig eingegriffenhat.Ich sage Ihnen: Die Vorbereitung von Kinderporno-graphie findet im Internet statt. Das Internet kann auchdurch Telefon überprüft werden. Deswegen ist es rich-tig, wenn wir auch in diesem Bereich die Telefonüber-wachung einsetzen.
– Da ich Sie direkt angesprochen habe, will ich eineZwischenfrage zulassen.
Aber erst frage ich
Sie einmal, Herr Kollege: Sie lassen also eine Frage zu?
Jawohl.
Bitte sehr.
Vielen Dank für die Großzügigkeit. Vielleicht läßt sich
etwas klären.
Ich habe Ihre Ausführungen gerade etwas als Vor-
wurf an unsere Partei verstanden. Ich möchte das mit ei-
ner Frage klären: Ist Ihnen bekannt, daß Bündnis 90/Die
Grünen und früher die Grünen in Westdeutschland im-
mer sehr energisch gefordert haben, Lücken beim straf-
rechtlichen Schutz von Kindern zu schließen, und daß es
lange Jahre gebraucht hat, bis wir zum Beispiel die da-
malige Regierungskoalition davon überzeugen konnten,
eine Verschärfung der Verjährungsfristen im Zusam-
menhang mit dem sexuellen Mißbrauch von Kindern
durchzusetzen? Ist Ihnen bekannt, daß unsere Partei in
der Behandlung dieses Themas eine lange Tradition hat?
Gerade die Frauenbewegung, die in unserer Partei sehr
stark vertreten ist, hat dies immer zum Thema gemacht.
Wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß das, was
Sie hier gerade geäußert haben, nicht als Vorwurf ge-
genüber Bündnis 90/Die Grünen formuliert werden
kann?
Herr Beck, ich habe
Sie nur angesprochen, weil Sie durch ein Gespräch ab-
gelenkt waren und ich der Meinung war, daß Sie mir an
diesem Punkt zuhören sollten. Ich habe keinen Vorwurf
an Sie gerichtet. Aber vielleicht können wir bei einer
anderen Gelegenheit auch einmal über all das, was die
Bündnisgrünen zum Thema Sexualität, Pornographie
usw. und deren Bekämpfung formuliert haben, in einer
anderen Form sprechen.
Was ich gesagt habe, war kein Vorwurf, sondern nur
die Aufforderung, an dieses Thema – weil Sie es ange-
sprochen haben – mit besonderer Sensibilität heranzu-
gehen, nicht nur beim Vergießen von Tränen, wenn das
Kind in den Brunnen gefallen ist, sondern auch schon
vorher, wenn es darum geht, das Problem zu bekämp-
fen. Das war mein Anliegen, das ich Ihnen mitteilen
wollte.
Ich freue mich nun auf die Diskussion in unserem
Ausschuß. Ich gehe davon aus, daß wir etwas erreichen
können. Sie haben ja gesagt, es sei Ihnen ein Anliegen.
Letztlich entscheiden Sie, was passiert. Das ist klar.
Aber wir werden nicht davon abgehen, Sie in den uns
wichtigen Fragen anzutreiben.
Herr Kollege, Sie
haben die Gelegenheit, eine Frage von Herrn Professor
Meyer zu beantworten.
Aber bitte.
Bitte sehr, Herr
Kollege.
Jetzt tut es mir leid,
daß ich eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele ab-
gelehnt habe, nachdem es nun ständig weitere Zwi-
schenfragen gibt. Aber so ist das.
Aber wir wollen zu
keinen weiteren Fragen ermuntern, weil das den Ablauf
sonst ein bißchen behindert.
Herr Kollege, da
Sie ein Kollege aus Baden-Württemberg sind, frage ich
Sie, ob Ihnen bekannt ist, daß der Landtag von Baden-
Württemberg einen Untersuchungsausschuß zur Praxis
der Telefonüberwachungen eingesetzt hat, der vor eini-
gen Jahren durch fraktionsübergreifende Bemühungen
eine Fülle von Erfahrungsmaterial zur Praxis der Tele-
fonüberwachung erarbeitet hat. Stimmen Sie mir darin
zu, daß man dieses Material und auch die Vorschläge
zur Verbesserung rechtsstaatlicher Kontrolle gemeinsam
in einem ernsthaft angebotenen Gespräch prüfen sollte
und sich nicht darauf beschränken darf, nur den Delikts-
katalog auf die eine oder andere Art zu verändern?
Herr Meyer, es ist mirbekannt, daß ein solcher Ausschuß eingesetzt wurde unddaß man darüber diskutiert, warum die Anzahl der Tele-fonüberwachungen ausgedehnt wurde. Ich habe Herrnvan Essen schon ein Beispiel genannt. Wenn die Zahlenzunehmen, dann wird das auch so sein.Ich möchte jetzt einmal folgendes sagen: Dies ist einThema. Auch Sie sind allerdings nicht auf die Idee ge-kommen, nachdem man einen solchen Ausschuß einge-setzt hat und überprüft hat, warum die Zahlen gestiegensind, die Telefonüberwachung grundsätzlich auszusetzenund nicht mehr durchzuführen. Es geht doch ausschließ-lich darum, ob für diese Form des Delikts die Telefon-überwachung geeignet ist.Volker Kauder
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1115
(C)
(D)
Ich habe heute noch mit einer Person aus der Praxistelefoniert, die mir gesagt hat: Die einzige Enttäuschungüber das Gesetz zur Korruptionsbekämpfung war, daßdieses spezifisch richtige Instrument bei dieser Delikts-art nicht eingesetzt worden ist. Daß das geschieht, wol-len wir jetzt mit diesem Gesetzentwurf erreichen. Wennwir diesen Gesetzentwurf gemeinsam verabschieden unddie Telefonüberwachung einsetzen, dann entbindet unsdies natürlich noch lange nicht, zu überprüfen, was mitder Telefonüberwachung passiert. Grundsätzlich hat ei-ne Überprüfung dessen, was bei der Telefonüberwa-chung passiert, nichts damit zu tun, daß man für be-stimmte Deliktsarten eine Ausweitung will.Ich kann nur sagen: Wer Bestechung und Korruptionwirklich bekämpfen will, kommt an diesem Mittel nichtvorbei.
Nun erteile ich das
Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Eckhart
Pick.
D
Frau Präsidentin! Meine Da-men und Herren! Ich habe die Debatte zu diesem Tages-ordnungspunkt als ausgesprochen sachlich, wenn auchengagiert geführt, empfunden. Ich finde, Herr Geis, esgehört zu den Aufgaben der Opposition, daß sie ihreIdeen möglicherweise unter dem Gesichtspunkt, die Re-gierung zu treiben, in den Bundestag einbringt. Wir ha-ben in dieser Frage langjährige Erfahrung. Wir haben Ih-re Aufgabe genauso ernst zu nehmen, wie Sie sicherlichauch uns ernst nehmen. Für uns sind Sie ein Gesprächs-partner. Insofern sollten wir auf den Boden der Sach-lichkeit zurückkehren. Ich habe das eben auch so emp-funden.
Ich möchte betonen, daß die Bekämpfung des sexu-ellen Mißbrauchs von Kindern und die effektive straf-rechtliche Verfolgung der Korruption auch für dieBundesregierung Ziele von herausragender Bedeutungdarstellen. Die Bundesregierung wird deshalb intensivprüfen, ob über die im letzten Jahr erfolgten Strafver-schärfungen im Bereich des materiellen Strafrechts hin-aus weitere Verbesserungen des strafrechtlichen Er-mittlungsinstrumentariums zur Bekämpfung dieser Kri-minalitätsformen geeignet und erforderlich sind.Der von der Opposition vorgelegte Gesetzentwurf zurErweiterung der Abhörmöglichkeiten ist aber – ganzvorsichtig gesagt – noch nicht ausgereift. Der Vorschlag,zumindest in bestimmten Fällen des Verdachtes des se-xuellen Mißbrauchs von Kindern und der Verbreitungpornographischer Schriften, die den sexuellen Miß-brauch von Kindern zum Gegenstand haben, Maßnah-men der Telefonüberwachung zuzulassen, ist zwar er-wägenswert. Dieser Vorschlag verkennt aber, daß für dieFrage, ob eine Tat in den Vortatenkatalog der Telefon-überwachung aufgenommen wird, nicht allein die Straf-androhung maßgeblich sein kann. Die Telefonüberwa-chung muß vielmehr nach kriminalistischer Erfahrungfür die jeweilige Art des Delikts auch einen Erkenntnis-gewinn versprechen. Es kommt also, sehr geehrter HerrKollege, nicht nur auf die Zahl der Maßnahmen oder dieStrafandrohung an, sondern auch auf die Frage, ob die-ses Mittel geeignet ist, einen Erkenntnisgewinn herbei-zuführen.
Anders als bei Taten, die typischerweise durch einenallein handelnden Täter begangen werden, dürfte dies imRegelfall bei organisiertem, bandenmäßigen oder zu-mindest gemeinschaftlichen Vorgehen, der Fall sein.Man muß daher – darum bitten wir – entsprechend diffe-renzieren und kann nicht, wie die Opposition das macht,pauschal Tatbestände zur Erweiterung der Abhörmög-lichkeiten einführen.Auch bei der Einbeziehung der Tatbestände der Be-stechlichkeit und Bestechung, also im Amte begangenerStraftaten, muß sehr genau differenziert werden. Ichkönnte mir beispielsweise eine Einbeziehung vonschweren Korruptionsfällen im geschäftlichen Verkehrdurchaus vorstellen. Jedenfalls sollte man hier nicht –das ist meine Bitte – alle Straftatbestände über einenKamm scheren.Wir dürfen bei all dem einen Gesichtspunkt nicht ausden Augen verlieren. Ich bin froh, daß dies auch beivielen meiner Vorredner nicht der Fall war. Bei der Te-lefonüberwachung handelt es sich um Ermittlungsmaß-nahmen, die ganz besonders tief in Grundrechte eingrei-fen. Herr Kollege Meyer hat auf die jüngste Entschei-dung des Bundesgerichtshofes vom November letztenJahres hingewiesen, in dem der Bundesgerichtshof die-ses in einem anderen Zusammenhang ganz deutlich zumAusdruck gebracht hat.
– Wir wissen, daß es in diesen Fällen den Lauschangriffgibt. Es darf aber, Herr Geis, dieser Katalog des § 100 aStPO nicht einfach automatisch erweitert werden, son-dern ich bitte darum, daß wir uns die Tatbestände sehrgenau anschauen und insbesondere auch den Gesichts-punkt des Erkenntnisgewinns mit einbringen.Wir müssen uns auch bewußt sein, daß die Anord-nung einer Telefonüberwachung immer eine größereAnzahl Bürger treffen kann. Es sind nicht nur die Be-schuldigten, sondern auch die Kontaktpersonen oder diesogenannten Nachrichtenmittler, wie man so schön sagt,unmittelbar betroffen.In den vergangenen Jahren wurde darüber hinaus derVortatenkatalog der Telefonüberwachung bereits um ei-ne ganze Reihe weiterer Straftatbestände erweitert. Icherinnere Sie an das OrgKG und an das Verbrechensbe-kämpfungsgesetz. Wir haben zum größten Teil gemein-sam die entsprechenden Regelungen durchgesetzt. Esgab also einen sehr weitgehenden Konsens.Es ist schon darauf hingewiesen worden, daß die Zahlvon Telefonüberwachungen – im übrigen auch aus unse-Volker Kauder
Metadaten/Kopzeile:
1116 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
rer Sicht – schon sehr hoch ist und eine steigende Ten-denz aufweist. Dieser Umstand ist zu Recht in den ver-gangenen Jahren rechtspolitisch lebhaft und kritisch dis-kutiert worden. Herr van Essen hat sich in diesem Zu-sammenhang sehr bemüht.Ich möchte jetzt nicht die einzelnen Zahlen bezüglichder Abhörmaßnahmen für die Vorjahre nennen. ZumTeil sind sie nicht ganz vergleichbar, weil heute in vie-len Fällen ein Verdächtiger mehrere Telefonanschlüssebesitzt. Insofern kann man die Zahlen nicht vergleichen.Aber eines ist klar: Die unterschiedlichen Statistikenweisen eindeutig eine steigende Tendenz auf. Vor die-sem Hintergrund bedarf es nach Auffassung der Bundes-regierung stets einer strengen Überprüfung, ob Katalog-erweiterungen erforderlich sind.Damit allein darf es aber nicht sein Bewenden haben.Vor fast genau einem Jahr, im Januar 1998, hat derDeutsche Bundestag im Zusammenhang mit den Be-ratungen zur akustischen Wohnraumüberwachung– Herr Geis, Sie erinnern sich – eine Entschließung zurTelefonüberwachung gefaßt, in der die Justizminister-konferenz unter anderem gebeten wurde, Vorschläge zurVerbesserung des Verfahrens der richterlichen Anord-nung vorzulegen. Hintergrund dafür war, wie auch beiden zur akustischen Wohnraumüberwachung beschlos-senen richterlichen Kompetenzen, verfahrenssicherndeMaßnahmen einzufügen. Der Eingriff in die Grund-rechte, der mit einer solchen Ermittlungstätigkeit ver-bunden ist, muß auf das gebotene Maß beschränkt wer-den.Im Zusammenhang mit den parlamentarischen Erör-terungen hat der Deutsche Bundestag hierzu im letztenSommer auf eine Beschlußempfehlung des Innenaus-schusses hin seiner Erwartung Ausdruck gegeben, daßdie Bundesregierung verfahrenssichernde Maßnahmenbei der Telefonüberwachung prüft und hierüber demBundestag berichtet. Das entspricht Ihrer Anregung,sehr geehrter Herr Hartenbach. Die Bundesregierungwird entsprechend handeln. Sie nimmt diese Anregun-gen sehr ernst.Die Bundesregierung wird deshalb die Ausschußbe-ratungen zu dem vorgelegten Entwurf konstruktiv be-gleiten, aber auch in jedem Fall ihre Sicht einbringen,um den berechtigten Forderungen nach verfahrenssi-chernden Maßnahmen in sachgerechtem Umfang Rech-nung zu tragen. Es kann nicht sein, daß hohe und stei-gende Zahlen der Telefonüberwachung nur achselzuk-kend zur Kenntnis genommen werden, ohne nach Mög-lichkeiten für eine Begrenzung auf das Erforderliche zusuchen.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die
Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-
fes auf Drucksache 14/162 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolf-
gang Börnsen , Dirk Fischer (Ham-
burg), Kurt-Dieter Grill, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Folgerungen aus der Havarie der „Pallas“ vor
Amrum
– Drucksache 14/160 –
Überweisungsvorschlag:
Faße, Ulrike Mehl, Dr. Hans-Peter Bartels, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Gila Altmann , Albert
Schmidt , Angelika Beer, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN
Optimierung des Sicherheits- und Notfallkon-
zepts für Nord- und Ostsee
– Drucksache 14/281 –
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1117
(C)
(D)
Die Fülle von Pannen bei der Pallas hat jetzt zur Einset-zung eines Untersuchungsausschusses im KielerLandtag geführt. Die Debatte heute hat also einendurchaus aktuellen Bezug.
Bis zum Abschlußbericht darf jedoch nicht mit Konse-quenzen aus der Krise im Nordseenaturschutzgebiet ge-wartet werden.
Die Angst geht weiter um an der Küste. Die Frühjahrs-stürme stehen bevor. Das vor Amrum liegende Wrack istMahnung und Warnung zugleich.Was ist, was bleibt zu tun? Es gilt, die Sicherheits-strukturen in der Nordsee zu optimieren. Das gilt auchfür die Ostsee. Die kleinstaatlichen Reibereien zwischenden norddeutschen Ländern im Küstenschutz sind zu be-enden. Die Amerikaner machen uns mit der CoastGuard vor, wie man einen effizienten Schutz zur Seeorganisiert. Unser Ziel muß sein: Konzentration allerKräfte, Zusammenfassung der SeerettungskompetenzNorddeutschlands in einer Hand, eine Bundesküsten-wache mit Beteiligung der betreffenden Bundesländer.
Es ist ein Unding, daß ein Schiff des Bundesgrenzschut-zes bis zur Zwölfmeilenzone agieren darf und dann diejeweilige Wasserschutzpolizei eines Bundeslandes zurHilfe gerufen werden muß. Das ist verkehrt.
Ein erster richtiger Schritt ist bereits getan. In der Kü-stenwache sind BGS, Wasser- und Schiffahrtsdirektionund Fischereiaufsicht zusammengefaßt.
Trotzdem: Eine echte Küstenwache mit Polizeikompe-tenz gibt es noch immer nicht. Bremser sind die Bun-desländer, als Neinsager an der Spitze leider Schleswig-Holstein.Doch von der Flensburger Förde bis zur Weserwächst die Einsicht, in einem Boot zu sitzen und Ver-antwortung für eine gemeinsame Sicherheitsstruktur inNord- und Ostsee zu haben. Ein Hauch von Meinungs-wechsel bei den Innenministern der Länder ist spürbar.In ihren Ressorts sind die Kompetenzen zur Katastro-phenbewältigung angesiedelt. Da sollten sie in Zukunftauch bleiben und nicht von anderen Ministern praktiziertwerden, die davon nichts verstehen.Doch es war nicht nur das Versagen des überforder-ten schleswig-holsteinischen Umweltministers, das zurUmweltkatastrophe geführt hat. Es war auch die man-gelhafte internationale Kooperation, die einen marodenFrachter zum Unglückskahn werden ließ. Wir könnennicht immer darauf vertrauen, daß, wie in Hamburg, dierichtigen Politiker zur richtigen Zeit am richtigen Ortsind. Wir benötigen Rahmenbedingungen, die möglichepersonenbezogene Fehleinschätzungen und Fehlent-scheidungen minimieren.Dazu schlagen wir einen sechs Punkte umfassendenAktionsplan vor.Erstens. Wir erwarten von der Bundesregierung nochin diesem Jahr die Vorlage einer Handlungskonzeptionbei Seeunfällen.
Zweitens. Wir fordern die Bundesregierung zur Bil-dung eines Schiffssicherheitsbündnisses für Nord- undOstsee unter Mitwirkung aller Betroffenen auf.Drittens. Wir halten die Schaffung einer internatio-nalen Küstenwache unter Einbeziehung aller Rettungs-kräfte von Bund, den Ländern und privaten Organisatio-nen unter einer Befehlsstruktur für erforderlich.Viertens. Die mit viel Kompetenzen ausgestatteteUS-Coast-Guard kann dafür Beispiel, muß aber nichtdas Vorbild sein.Fünftens. Bereits mittelfristig ist eine europäischeKüstenwache zu schaffen. Da die beiden Nordseeanrai-ner, Deutschland und das Königreich Dänemark, ge-meinsam das Drama mit der „Pallas“ durchstehen muß-ten, ist derzeit hoffentlich ausreichend Problembewußt-sein vorhanden, gemeinsam zur nächsten Nordsee-schutzkonferenz das Konzept einer Euro-Coast-Guardvorzulegen.Sechstens. Doch es gilt, auch die internationaleSchiffssicherheit insgesamt zu überprüfen, die Seelen-verkäufer, die schwarzen Schafe auf See, auszugrenzenund anerkannte Sicherheitsstandards auch in den Billig-Flaggen-Ländern zur Pflicht zu machen.Wolfgang Börnsen
Metadaten/Kopzeile:
1118 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
Mehr als 80 000 Schiffe passieren jährlich die Deut-sche Bucht. Es war ein reiner Zufall, daß im Oktober einmaroder Frachter wie die „Pallas“ und kein Großtankerhavarierte. Das muß eine Warnung sein. Jetzt ist Han-deln angesagt.
Unser Antrag, aber auch der kenntnisreiche Antrag derRegierungsfraktionen sind eine gute Grundlage dafür,aus dem Unglück der „Pallas“ für die Zukunft eine Lö-sung für alle gemeinsam zu schaffen.Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort
der Kollegin Annette Faße, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lie-ben Kolleginnen und Kollegen! Herr Börnsen, vielenDank für das große Lob bezüglich des Antrages derSPD. Wenn man Ihren dagegenhält, ist zu erkennen, daßIhre Anmerkung berechtigt ist. Ziehen Sie Ihren Antragdoch zurück, und stimmen Sie unserem zu! Dann hättenwir heute eine vernünftige Beschlußlage.
Es ist klargeworden, daß eine Optimierung des Kon-zepts zum Schutz von Mensch und Natur erfolgen muß.Ganz besonders stellen wir das fest, wenn wir sehen,welche Resonanz die Informationsveranstaltungen vorOrt haben. An diesem Montag waren in Cuxhaven über500 Menschen anwesend, als der Nautische Verein zueiner Veranstaltung eingeladen hatte. Es haben nichteinmal alle einen Stehplatz gefunden. Sie sehen daran,wie sensibel dieses Thema an der Küste auch weiterhinist.Es ist aber auch deutlich geworden, daß derzeit wildüber mögliche Fehler spekuliert wird und Schuldzuwei-sungen ohne jegliche Basis erfolgen. Die Verantwortli-chen an Land haben nach bestem Wissen gehandelt.Deshalb lehne ich eine Vorverurteilung der die Verant-wortung tragenden Personen eindeutig ab.
Eine Beurteilung sollte später nach Vorlage gesicherterErkenntnisse erfolgen.Die Besatzungen aller an der Bergung beteiligtenSchiffe haben zum Teil unter Lebensgefahr gearbeitet.Für ihren mutigen Einsatz verdienen alle Helfer unserengrößten Respekt.
Trotz ihres Einsatzes konnte die Strandung der „Pallas“und der folgende Austritt von rund 60 Tonnen Schwerölaber leider nicht verhindert werden.Die Bundesregierung setzt sich seit Amtsbeginn inAbstimmung mit den zuständigen Ministerien dafür ein,daß mögliche Schwachstellen im bisherigen Sicherheits-konzept beseitigt werden. Dazu gehört unter anderemdie umgehende Verlängerung des Chartervertrages mitdem Hochseeschlepper „Oceanic“. Eine solche Charte-rung – dies nur zur allgemeinen Erinnerung –, haben üb-rigens Herr Kohl und Herr Wissmann als nicht notwen-dig angesehen; sie wollten sie ersatzlos streichen.
Noch eine Bemerkung am Rande: Die alte Bundesre-gierung wollte einen Bericht, der sich mit der Verbesse-rung der Schiffssicherheit befaßte, in der letzten Legis-laturperiode nicht beraten. Er ist nicht vorgelegt worden.Damit können wir uns jetzt in der 14. Legislaturperiodebefassen.Herr Börnsen, Sie sollten uns hier nichts von Ver-säumnissen, Fehleinschätzungen und Fehlentscheidun-gen der jetzt politisch Verantwortlichen erzählen. DerBumerang landet viel schneller bei Ihnen, als es Ihnenlieb ist. Auch Sie sollten statt dessen für eine detaillierteschonungslose Aufklärung und Aufarbeitung der „Pal-las“-Havarie sorgen. Bereits jetzt erkennbare Schwach-stellen müssen unverzüglich beseitigt werden, um dieGefahr weiterer Havarien zu minimieren.Die vom federführenden Ministerium eingesetzteExpertenkommission muß umgehend mit ihrer Arbeitbeginnen. Ich denke, der Staatssekretär wird dazu nochAusführungen machen. Sie sollte zunächst eine lücken-lose Chronologie des Hergangs erstellen und die Koor-dination des Einsatzes analysieren. Wer hat zum Bei-spiel wann welche Einsatzbefehle gegeben? Wie effizi-ent war die Zusammenarbeit zwischen den Behörden,Bund und Land, der Einsatzleitung an Land und vor Ort,den Helfern und den Reedereien?Es muß aber auch kritisch nach der Zusammenset-zung, Ausbildung und den Notfallkenntnissen der unterBahama-Flagge fahrenden Besatzung der „Pallas“ ge-fragt werden. Wie wirkt sich denn im Notfall das Fehleneiner gemeinsamen Sprache an Bord aus? Darauf habenuns viele Fachkundige in den vergangenen Jahren hin-gewiesen.Auch Aspekte des Brandschutzes müssen aufgear-beitet werden; denn es stellt sich schon die Frage, wie esüberhaupt zum Brand auf der „Pallas“ kommen konnte.Schließlich beginnt eine Holzladung, wie sie an Borddes Schiffes war, nicht unvermittelt und in Sekunden-schnelle zu brennen. Es fragt sich allerdings, ob heutedie wahre Brandursache überhaupt noch festzustellen ist.Mit dem Land Schleswig-Holstein muß gemeinsamgeklärt werden, was mit dem Wrack zu geschehen hat.Hierbei sind die Umweltbedingungen zu bedenken.Wir werden die Strandung der „Pallas“ darüber hin-aus zum Anlaß für die Verbesserung des Notfallmana-gements durch Bund und Länder, für die Vorhaltung derWolfgang Börnsen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1119
(C)
(D)
notwendigen Technik, aber auch für die Weiterent-wicklung der Sicherheitsstandards in der internationa-len Schiffahrt und einen verbesserten Wattenmeer-schutz nehmen. Wir wollen, daß weitreichende Kon-sequenzen gezogen werden. Dies gilt für die Fragenach der notwendigen Kapazität an Schleppern, Mehr-zweck-, Feuer- und Ölbekämpfungsschiffen und Hub-schraubern.
Es stellt sich auch die Frage – da gebe ich Ihnenrecht –, ob die Einrichtung einer zentralen Koordinie-rungsstelle ein früheres Eingreifen bei Schiffsunfällenund ein besseres Krisenmanagement auf nationaler undinternationaler Ebene ermöglicht hätte. Dazu muß ichSie, Herr Börnsen, fragen: Wo blieben in der Vergan-genheit Ihre Anträge, um aus der Küstenwache einschlagkräftigeres Gremium zu machen? Sie meinendoch, daß es so sein muß. Ich habe in den letzten Jahrennichts davon erfahren. Statt dessen findet eine einseitigeSchuldzuweisung an die Länder statt. Sie wissen, daßfünf Bundesministerien für die Küstenwache verant-wortlich sind. Dann hätte doch die Initiative von dieserSeite kommen müssen, wenn man etwas anderes gewollthätte.Meine Damen und Herren, internationale wie bilate-rale Verbesserungen stehen an. Man muß sich schonfragen: Wie konnte das Schiff in deutsche Gewässerkommen, wenn die Dänen die Besatzung bis auf einenMenschen retten konnten?
Frau Kollegin, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Börnsen?
Ja.
Bitte sehr, Herr
Kollege.
Frau
Kollegin, würden Sie vielleicht zur Kenntnis nehmen,
daß die F.D.P.-Fraktion im Schleswig-Holsteinischen
Landtag im vergangenen Jahr eine Anfrage an die SPD-
grüne Regierung in Schleswig-Holstein mit der Auf-
forderung gestellt hat, sich doch mit einer Küsten-
wache am Küstenschutz zu beteiligen, und daß die
Antwort der schleswig-holsteinischen Landesregie-
rung mit Bezug auf Bremen und Hamburg war, auf
Grund der Länderkompetenz würde man eine solche Zu-
sammenarbeit ablehnen? Das war Wirklichkeit im
Sommer 1998.
Nichtsdestotrotz, Herr Börn-
sen, wären Sie, wenn Sie es hätten anders machen wol-
len, auf Bundesebene durchaus in der Lage gewesen,
diesen Punkt zu thematisieren. Von daher muß ich Ihnen
sagen: Wenn Sie alles vorher gewußt haben, sind Sie als
Bundestagsabgeordneter Ihren Aufgaben nicht gerecht
geworden.
Lassen Sie mich noch einen wichtigen Punkt anspre-
chen. Er betrifft die Fragen des Haftungs- und Ber-
gungsrechts. Wir müssen an diesem Fall feststellen, daß
es bereits Übereinkommen gibt, daß diese jedoch lei-
der nicht in Deutschland gelten. Das Haftungsüber-
einkommen wurde zwar 1996 international geän-
dert, von der alten Bundesregierung aber schlicht und
einfach nicht ratifiziert. Wäre dies der Fall gewe-
sen, hieße das, in zwei Bereichen gäbe es die doppelte
Versicherungssumme. Wenn Herr Carstensen jetzt die
Frage stellt, wer denn nun was zahlt, muß ich ihm ent-
gegnen: Wer hat denn in der Vergangenheit geschlafen,
so daß diese Übereinkommen nicht umgesetzt worden
sind?
Sowohl im Interesse der Umwelt als auch der Men-
schen – und damit des Tourismusbereichs, der sehr stark
betroffen ist – müssen wir aktiv werden. Aber lassen Sie
jetzt die Experten tagen, lassen Sie uns das in offiziellen
Anhörungen diskutieren, lassen Sie uns dies offen und
offensiv angehen!
Noch eines zum Schluß: Eine hundertprozentige Si-
cherheit vor Unfällen auf See wird es nicht geben. Die
Natur hat ihre eigenen Regeln. Von daher hoffe ich, daß
wir zu einem Konzept kommen, das auch für Fälle wie
den der „Pallas“ Alternativen aufzeigt. Ich hoffe, daß
wir dieses Konzept gemeinsam – Bund und Länder, zu-
sammen mit Nachbarn und auf internationaler Ebene –
erarbeiten und dies uns hilft, Sicherheit an unseren Kü-
sten zu garantieren.
Danke schön.
Das Wort hat nun
Frau Ulrike Flach von der F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Da-men und Herren! Ich hätte meine erste Rede im Deut-schen Bundestag natürlich sehr gerne zu einem erfreuli-cheren Thema gehalten als ausgerechnet zur Havarie desFrachters „Pallas“ vor der Nordseeküste.
Um so dringlicher erscheint es mir, daraus zu lernen.Der Verlust von Menschenleben, der Tod von Tausen-den von Seevögeln und die starke Verschmutzung desWattenmeeres sind schließlich Warnung genug. Wirmüssen zu wirksameren Maßnahmen für den Küsten-schutz kommen und dürfen uns nicht zurücklehnen, freiAnnette Faße
Metadaten/Kopzeile:
1120 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
nach dem Motto: Es ist ja noch einmal alles gutgegan-gen.
Klar ist eines: Die Auswirkungen des Unfalls der„Pallas“ sind nicht als Katastrophe einzustufen. Kata-strophal war lediglich die Organisation der Bekämpfung.
Wäre die „Pallas“ ein Öltanker gewesen, dann wäre esbei einer derartig mangelhaften Gefahrenabwehr zu ei-ner Mega-Katastrophe gekommen.Ich will meine kurze Redezeit nicht ausschließlichder Vergangenheit und den Fehlern der Katastrophenbe-kämpfung widmen, sondern den Blick etwas in die Zu-kunft richten. Gestatten Sie mir aber eine kurze Anmer-kung an die Adresse der Grünen. Wenn es noch einesBeweises bedurft hätte, daß sich Ihre Partei von ihrenökologischen Wurzeln gelöst hat, dann war es die kalte,selbstgefällige Art und Weise, wie UmweltministerSteenblock mit dieser Havarie umgegangen ist:
untätig, als es darum ging, Schaden abzuwenden, unwil-lig, die angebotene Hilfe des Innenministeriums in An-spruch zu nehmen,
und unfähig, den Betroffenen Beistand zu leisten.
Die Menschen an der Küste und auf den Inseln wis-sen genau, daß Seefahrt auch mit Risiken verbunden ist– da stimme ich Frau Faße ausdrücklich zu – und daßsich Unfälle nie völlig ausschließen lassen. Sie erwartenaber vom zuständigen Minister, daß er alles in seinerMacht Stehende tut, um bei einem Unfall den Schadenzu minimieren.
Da hilft es auch wenig, wenn der Bundesparteitag derGrünen am 12. Dezember letzten Jahres einstimmig be-schließt, bei der „Pallas“-Havarie habe es ein „dilettanti-sches Krisenmanagement“ gegeben.
Minister Steenblock hätte daraus natürlich Konsequen-zen ziehen müssen.Sehr gespannt sind wir allerdings auch, wann Mini-ster Müntefering die Bund-Länder-Kommission zur vonihm angekündigten „gründlichen Untersuchung“ ein-setzt. Das scheint ja selbst den eigenen Leuten nichtschnell genug zu gehen, wenn ich Ihren Antrag richtiginterpretiere.
Auch Minister Trittin hielt sich mit markigen Wortennicht zurück. Im „Spiegel“ vom 23. November kündigteer an, er wolle künftig jedes Schiff unter einer soge-nannten Billigflagge kontrollieren lassen und, wenn nö-tig, an die Kette legen. Meine Damen und Herren, die„Pallas“ fuhr nicht unter einer klassischen Billigflaggeund war technisch in einem guten Zustand. Hier von„Schrottkahn“ zu sprechen, ist – Frau Altmann, richtenSie es dem Minister bitte aus – völlig unberechtigt.
Die Ankündigungen waren großspurig. Ich bin ge-spannt, ob Sie damit nicht alle beide als Orkawal ge-sprungen sind und als Plattfische landen.
Wir haben heute über zwei Anträge zu beraten, einenvon der CDU/CSU und einen von SPD und Bündnisgrü-nen, wobei ich es schon für eine Zumutung der Regie-rungskoalition halte, einen solchen Antrag am 19. Janu-ar, also vorgestern, vorzulegen, so daß wir ihn geradeMittwoch in der Post hatten. Ich halte das nicht für sehrprofessionell.
Die F.D.P.-Fraktion hat die Bundesregierung in einerKleinen Anfrage bereits vor zwei Wochen gebeten, diePannen und Versäumnisse bei der Bekämpfung derAuswirkungen der Havarie lückenlos aufzuklären, umzukünftig wirksame Präventionsmaßnahmen ergreifenzu können. Im Schleswig-Holsteinischen Landtag – daswissen Sie – ist ein Untersuchungsausschuß konstituiertworden, nicht zuletzt auf Grund des Einflusses von CDUund F.D.P.
CDU, SPD und Grüne fordern allerdings richtiger-weise Minister Müntefering auf, schnellstmöglich eineKommission unter Einbeziehung der Länder mit unab-hängigen Experten einzusetzen. Ich frage mich aller-dings, warum wir alle diese Untersuchungsaufträge er-teilen, aber weder CDU/CSU noch Rotgrün die Ergeb-nisse abwarten.Die Regierungskoalition will – so steht es in IhremAntrag –die „Pallas“-Havarie zum Anlaß nehmen, um wei-tergehende Maßnahmen zur Verhinderung vonSchiffsunfällen und etwaigen Havarien … zu erar-beiten.Sie trauen Ihren eigenen Kommissionen offenbar wenigzu.
Inhaltlich habe ich natürlich für viele ForderungenSympathie, zum Beispiel für eine Verbesserung dertechnischen Ausrüstung, des Trainings der Rettungs-Ulrike Flach
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1121
(C)
(D)
mannschaften, für eine Überarbeitung der Verantwort-lichkeiten im gemeinsamen Ausschuß „Küstenschutz“und eine bessere Zusammenarbeit mit unseren dänischenund niederländischen Nachbarn. Daß diese dazu bereitsind, haben wir vor kurzem erst von den Dänen sehrdeutlich gehört.Der rotgrüne Antrag enthält manches, was wir si-cher alle einvernehmlich beschließen können.
Andere Forderungen bedeuten jedoch einen massivenEingriff in den Schiffsverkehr und damit eine Gefähr-dung von Arbeitsplätzen. Die Ausweisung des Watten-meers und der angrenzenden Seegebiete als besondersempfindliches Meeresgebiet nach den IMO-Richtlinienbedeutet nicht nur, den Schadstoffeintrag zu verringern– das wissen Sie genau –, sondern auch Schiffahrtsrou-ten einzugrenzen und Schiffen die Durchfahrt zu ver-wehren.Die Route, auf der die „Pallas“ gelaufen ist, ist eineder Hauptrouten der Nordsee. Bevor wir solche gravie-renden Auswirkungen ganz locker beschließen, wüßteich schon gerne, zu welchen Beschlüssen die gerade ge-forderten Kommissionen oder der Untersuchungsaus-schuß kommen.
Auch der Antrag der CDU/CSU enthält Forderun-gen, ohne die Ergebnisse der Kommission und des Un-tersuchungsausschusses abzuwarten. Allerdings bleibenmir als Umweltpolitikerin diese Forderungen – das sageich ganz ehrlich – zu schwach. Nur nach Ausgleichs-zahlungen zu rufen und internationale Abkommen über-prüfen zu wollen ist nicht ausreichend. Wir werden dazukommen müssen, daß der Schutzstandard der Nordseeerhöht wird und daß wirkliche Schrottkähne, wozu die„Pallas“ nicht gehörte, draußen bleiben.Da es aber auch um die wirtschaftliche Seite und umdie Menschen an der Küste und auf den Inseln geht,wird die F.D.P. einschneidenden Maßnahmen nur nacheiner gründlichen Auswertung der Ergebnisse des Un-tersuchungsausschusses, der Kommission von HerrnMüntefering und der Antwort auf unsere Kleine Anfragezustimmen.
Küstenschutz ist eine langfristige Aufgabe, die nurEU-weit zu lösen ist. Sie ist nicht mit markigen Wortenà la Trittin und auch nicht mit Anträgen, die ohne aus-reichende Sachverhaltsprüfung von einem Tag auf denanderen herausgehauen werden, zu lösen.
Zur zweiten und dritten Lesung werden wir die Ergeb-nisse hoffentlich haben.Liebe Kollegen, ich würde mich freuen, wenn es unsim Interesse der Menschen an der Nordsee gelänge, zueinem gemeinsamen Antrag zu kommen, der einenwirklichen Schutzgewinn mit sich bringt.Herzlichen Dank.
Frau Kollegin Flach,das war Ihre erste Rede. Das gesamte Haus gratuliert Ih-nen zu Ihrer Rede. Herzlichen Glückwunsch.
Man kann sagen, was man will, aber daß die F.D.P.-Fraktion so großzügig Blumensträuße verteilt, finde ichsehr gut. Es ist eine Anregung an alle anderen Fraktio-nen, es genauso zu machen.
Ich erteile der Abgeordneten Gila Altmann das Wort.Bitte sehr.Gila Altmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Verehrte Kolleginnen und Kollegen! VerehrteFrau Flach, wenn man die Äußerungen der Entrüstung,die hier gefallen sind, hört, dann kann man schon den-ken, man sei im falschen Film. Das bezieht sich nichtauf Sie. Sie können vieles von dem nicht wissen, was inder vergangenen Legislaturperiode in dieser Angelegen-heit gelaufen ist.
Ich kann Ihnen nur sagen: Es hat auch ein Leben vor Ih-rer Existenz in dieser Fraktion hier gegeben. Ich emp-fehle Ihnen – da Sie ja so gern in meinen Reden undAnträgen nachlesen –, meine Äußerungen zum ThemaSeesicherheit nachzulesen.
Dann werden Sie nämlich entdecken, daß sich Ihre Ent-rüstung mit der der Fraktion der Grünen deckt, die sie inden letzten vier Jahren hier zum Ausdruck gebracht hat.
Das ist aber damals leider ignoriert worden.
Was Sie, Frau Flach, hier einklagen – ich muß sagen:zu Recht –, das ergibt sich aus den Versäumnissen derKoalition und Ihrer Fraktion in der Vergangenheit. Dennals Sie das Heft des Handelns in der Hand hatten, da ha-Ulrike Flach
Metadaten/Kopzeile:
1122 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
ben Sie eben nicht gehandelt. Vielmehr haben Sie allesauf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben.
Gestatten Sie eine
Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?
Gila Altmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Ja.
Herr Kollege, bitte
sehr.
Frau Kollegin, nachdem
Sie die Vorwürfe an die Adresse der alten Koalition ge-
richtet haben, darf ich Sie einmal fragen: War die alte
Koalition oder die neue Koalition für das Krisenmana-
gement zuständig? Denn die Kollegin Flach hat ja mit
Recht darauf hingewiesen und gefragt – das tue ich
auch –: Wie kommt ein Parteitag von Bündnis 90/Die
Grünen dazu, einstimmig zu beschließen – ich zitiere
wörtlich –, es habe sich um ein „dilettantisches Kata-
strophenmanagement“ gehandelt? Waren Sie und Herr
Steenblock verantwortlich, oder war die alte Koalition
dafür verantwortlich?
Gila Altmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Herr Kollege Koppelin, ich bin Ihnen natürlich
sehr dankbar für diese Frage,
weil ich so diesen Sachverhalt außerhalb meiner kostba-
ren Redezeit darlegen kann.
Wie Sie sich erinnern, ist die Havarie des Frachters
„Pallas“ genau in die Zeit des Regierungswechsels ge-
fallen.
– Wir können das Spielchen jetzt gern weitertreiben.
Dann stehe ich noch in einer halben Stunde hier. Ich
weiß nicht, ob Sie das wollen.
– Darum wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir zu-
hören wollten.
In erster Linie hatdie Kollegin das Wort, meine Damen und Herren vonder F.D.P. und der CDU/CSU. Wenn Sie sich bitte be-mühen würden, zuzuhören, wenn auf eine Frage geant-wortet wird.Bitte sehr.Gila Altmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Danke schön.
– Ja. Ich rede als Abgeordnete.
– Nein, das ist, wie gesagt, aus meinem alten Leben.
Das Problem bei dieser traurigen Angelegenheit ist,daß es eine sehr lange Vorgeschichte gibt. Das meineich jetzt sehr ernst, und deswegen sollten wir uns auf einetwas höheres Niveau begeben.
– Nein, Herr Koppelin, bleiben Sie stehen. Ich wollteIhnen jetzt antworten, da ich bisher noch nicht dazu ge-kommen bin.Also noch einmal: Es läßt sich an Hand der Datenlageeindeutig beweisen, daß die Havarie der „Pallas“ genauin die Zeit des Regierungswechsels gefallen ist und daßdie von Ihnen gestellte alte Regierung sogar formal nochhätte handeln können und es nicht getan hat. Das istPunkt eins.
Das heißt, wir haben es hier wirklich mit Ihren Erblastenzu tun. Ich habe Ihnen in den letzten vier Jahren immerwieder die Schwächen des Sicherheitskonzeptes und dieVersäumnisse der Bundesregierung und der nachgeord-neten Behörden vorgebetet. Es ist ignoriert worden. Ichbrauche das hier nicht alles aufzulisten, weil es doku-mentiert ist. Vor dem Hintergrund muß ich sagen: Wirhatten es mit den alten Strukturen zu tun, die leider – daswar vorauszusehen – versagt haben.Vor dem Hintergrund kann ich nur wiederholen, daßich die Kritik, die Herr Börnsen hier geäußert hat, die erübrigens 1996 schon geäußert hat – damals hat er wieein einsamer Rufer in der Wüste vor seinen eigenen Ko-alitionsfraktionen gestanden; niemand hat auf ihn gehört–, nur bekräftigen kann. Sie ist richtig. Aber das ist un-sere Kritik gewesen. Man kann jetzt nicht so tun, alshätte es ein Leben vor dem Regierungswechsel nicht ge-geben. Es sind Ihre Altlasten, die Sie hier beklagen. Wirsind jetzt dabei, die Trümmer dieser Altlasten wegzu-räumen.
Gila Altmann
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1123
(C)
(D)
Vor dem Hintergrund ist auch der Antrag der Grünenauf der Bundesdelegiertenkonferenz zu verstehen.
Frau Kollegin, wol-
len Sie noch eine Zwischenfrage beantworten?
Gila Altmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Ja, munter drauflos.
Bitte sehr, Herr
Kollege.
Frau Kollegin, habe ichIhre Antwort richtig verstanden, daß der grüne Um-weltminister in Schleswig-Holstein, Herr Steenblock,nicht tätig werden konnte, weil wir hier in Bonn einenRegierungswechsel hatten?
Gila Altmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Herr Koppelin, ich finde, das Thema ist viel zuernst, als es für billige Wahlkampfpropaganda zu miß-brauchen.
Hier in dieser Art und Weise auf Minister Steenblockherumzuhauen ist mehr als durchsichtig. Das heißt näm-lich, von den eigenen Verfehlungen und Versäumnissenabzulenken.Ich bin Ihnen in dem Zusammenhang übrigens sehrdankbar für die Kleine Anfrage, in der Sie wissen wol-len: Welche Antworten hat die Staatssekretärin Altmannbei ihrem Besuch auf Amrum bekommen? Wenn Sie esmir erlauben, gebe ich Ihnen die Antwort auf dieseKleine Anfrage als Abgeordneter vorab mündlich. Ichhabe zwei wichtige Antworten bekommen. Aus der er-sten Antwort ging hervor, daß sich die Inselbewohnerüberhaupt nicht über die Aktivitäten des Umweltmini-sters Steenblock beschwert haben. Ganz im Gegenteil:Nach gewissen Anlaufschwierigkeiten, hervorgerufendurch die schwerfälligen, komplizierten Entscheidungs-strukturen, die auf Bundesebene zu verantworten sind,seien die Maßnahmen, die Umweltminister Steenblockangeschoben hat, zu aller Zufriedenheit durchgeführtworden. Herr Steenblock war dafür zuständig, denDreck wegzuräumen, der durch die Havarie der „Pallas“entstanden ist.Aus der zweiten Antwort, die ich bekommen habe,ging hervor, daß man eine dauerhafte Stationierung der„Oceanic“ möchte, das heißt eines Hochseeschleppersmit einem entsprechenden Pfahlzug, damit das erbärmli-che Gewürge um die „Oceanic“, das wir in der letztenLegislaturperiode durch Ihre Handlungen immer wiederhinnehmen mußten, endlich aufhört.Insofern sollten Sie endlich aufhören, mit dem Fingerimmer auf Schleswig-Holstein und den UmweltministerSteenblock zu zeigen, und hier im Bundestag endlichkonstruktiv mitarbeiten.
Während wir uns hier die Köpfe einschlagen – Gottsei Dank nur rein verbal –, kann eine solche Havarie je-den Tag wieder passieren. Auch da, Frau Flach, gebe ichIhnen recht: Es könnte dann ein Tanker sein. Es wardiesmal „nur“ ein Holzfrachter.Für uns sind drei Punkte wichtig. Erstens. Es mußdarum gehen, die Vorkommnisse und Entscheidungenbei der „Pallas“-Havarie vollständig aufzuklären, dierichtigen Konsequenzen zu ziehen und die entsprechen-den Maßnahmen einzuleiten. Dazu haben wir in demrotgrünen Antrag verschiedene Forderungen formuliert.Dieser Antrag ist nicht einfach so herausgehauen. Auchdazu finden Sie in den Unterlagen der vergangenen vierJahre, Frau Flach, hinreichend Literatur – vielleicht alsGutenachtlektüre.Zweitens. Es geht darum, Sofortmaßnahmen einzu-leiten, um direkt erkennbare Schwachstellen schnell be-seitigen zu können. Vor dem Hintergrund begrüßen wires natürlich, daß der Chartervertrag der „Oceanic“ wie-der verlängert worden ist, und zwar bis zum 15. April1999. Aber wir brauchen die dauerhafte Stationierung.Ich finde, die Küstenländer, die Inseln haben es ver-dient; sie haben genug mitgemacht.
Wie richtig und wichtig eine dauerhafte Stationierungist, hat sich erst vor einer Woche erneut bestätigt. Damußte nämlich die „Oceanic“ den russischen 3 000-Tonnen-Holzfrachter MS „Suna“ nach Emden schlep-pen. Ursache der Havarie war ein Brand im Maschinen-raum. Der „Suna“ gelang noch knapp eine Notankerung10 Meilen nördlich von Juist. Da hätten wir dann schonwieder eine Neuauflage gehabt. Nicht auszudenken –was wir im Ansatz auch schon hatten –, wenn zweiSchiffe gleichzeitig in eine solche Situation kämen.Dann hätten wir gar nicht genügend Rettungsschiffe zurVerfügung.
– Ich komme noch darauf, was das als Konsequenz nachsich ziehen müßte.Als nächsten Schritt brauchen wir eine vollständigeund lückenlose Aufklärung der Havarie, was die Be-gleitumstände, was die Informationsabläufe und Ein-satzbefehle aller beteiligten Akteure sowohl national aufBundes- und Landesebene wie auch international an-geht. Diese Analyse muß dann die Grundlage für eineÜberarbeitung des Sicherheitskonzepts bilden. Es istganz wichtig, daß unabhängige Experten beteiligt wer-den. Der Bundesverkehrsminister hat heute die Weichengestellt, damit diese Expertenkommission jetzt arbeitenGila Altmann
Metadaten/Kopzeile:
1124 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
kann. Dazu gehört dann auch die Überprüfung der vor-handenen technischen Kapazitäten.Es kann nicht angehen, daß das Absetzen von Ber-gungsmannschaften, wie jetzt bei der „Pallas“ gesche-hen, dadurch verzögert wird, daß kein schlechtwetter-tauglicher Hubschrauber zur Verfügung steht. SolcheDinge sind unvorstellbar und müssen wirklich der Ver-gangenheit angehören.Genauso wichtig ist, daß die Organisationsstrukturenüberprüft werden. Das Ziel sollte eine zentrale Koordi-nierungsstelle sein, die über ausreichende Handlungs-kompetenzen verfügt, um Verfahrensabläufe zu straffenund eine optimale Zusammenarbeit auf allen Ebenen zugarantieren. Denn das beste Equipment nützt nichts,wenn es nicht vernünftig und koordiniert eingesetztwird.Schließlich muß auch das Haftungs- und Versiche-rungsrecht überarbeitet werden, damit sich der Reeder,wie es sich hier zeigt, nicht aus seiner Verantwortungstehlen kann und die Lasten letztendlich von den Steuer-zahlerinnen und Steuerzahlern getragen werden müssen.Ich komme zu einem sehr komplizierten, aber den-noch wichtigen Feld, den internationalen Aktivitäten.Es muß eine bessere Abstimmung zum Beispiel imRahmen der trilateralen Wattenmeerkonferenz geben. Indiesem Fall hat die Zusammenarbeit mit Dänemark nichtfunktioniert. Nach unseren Informationen stand sogaram 25. Oktober 1998 in Esbjerg der Ankerschlepper„Havila Champion“ mit einem Pfahlzug von 120 Ton-nen zur Verfügung, aber er wurde weder von den däni-schen Behörden noch vom Reeder angefordert. Esscheint so zu sein, daß die Situation falsch eingeschätztworden ist. Es wurde kein Grund zum Einschreiten ge-sehen, da die „Pallas“ nach Einschätzung der Dänenkeine Gefahr für die Schiffahrt dargestellt hat. So etwasdarf in Zukunft nicht mehr passieren.
Wir wollen, daß die International Maritime Orga-nization durch Ausweisung des ökologisch besonderssensiblen Wattenmeers und der angrenzenden Seege-biete als Schutzgebiet den Wattenmeerschutz verbes-sert. Dazu gehören dann auch Durchfahrtverbote fürSubstandardschiffe. Sie haben recht, es war formal keinBilligflaggenfrachter, aber es war ein Substandardschiff.Das muß man ganz klar sehen. Die Hafenstaatenkon-trolle muß verbessert werden, und die internationalenÜbereinkommen zum Schutz der Meere müssen weiter-entwickelt werden.Im Zuge der Debatte um die „Pallas“ ist noch einesdeutlich geworden. Ein Sicherheitskonzept für dieOstsee – wir haben bisher nur über die Nordsee geredet– existiert faktisch nicht. Auch hier gibt es nur mangel-hafte Vorarbeiten der alten Bundesregierung. Es existie-ren noch nicht einmal Daten über Verkehrsaufkommenund Gefährdungspotentiale für die Ostsee. Da brauchtman sich natürlich nicht zu wundern, daß es logischer-weise auch kein abgestimmtes Sicherheitskonzept gibt.
Frau Kollegin, ein
Kollege von der F.D.P. möchte eine Frage stellen.
Gila Altmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Gerne
Bitte schön.
Frau Kollegin
Altmann, Sie haben eben behauptet, die „Pallas“ sei ein
Substandardschiff. Nach mir vorliegenden Informatio-
nen war es das eindeutig nicht. Ganz im Gegenteil, in
Berichten, die Sie ja sicherlich aus Cuxhaven kennen,
steht, daß sich das Schiff in einem hervorragenden tech-
nischen Zustand befand. Auch die Rettungsausstattung
war, wie Sie wissen, hervorragend, denn die Materialien
des Schiffes wurden ja für das Schleppen des Schiffes
genutzt.
Darf ich Sie also fragen, woran Sie die Kriterien fest-
gemacht haben, daß das Schiff „Pallas“ ein Substan-
dardschiff war?
Gila Altmann, (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): In solch einem Fall bietet es sich an, sich vor Ort
zu informieren. Genau das habe ich gemacht. Wenn man
dieses Schiff in Augenschein genommen hat, dann stellt
man diese Frage nicht mehr.
Eine Zusatzfrage,
Herr Kollege Goldmann? – Bitte sehr.
Gila Altmann, (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Frisch voran!
Frau Kollegin,frisch voran: Auch ich war in Cuxhaven, auch ich habemich erkundigt. Wenn ich mich richtig erinnere, werdenSie doch das Schiff im tiefen Wasser nach den ganzenRettungsaktionen gesehen haben, wahrscheinlich auchnoch in Dunkelheit, denn das Ganze hat sich in einerSituation abgespielt, wo die Wasserverhältnisse und dieWindverhältnisse extrem schwierig waren.Wie kommen Sie nach dem Schleppen, nach demHin-und-her-Geworfenwerden des Schiffes im Meer zudem Eindruck, es habe Substandard gehabt? Wo war esals Substandardschiff registriert? Diese Schiffe werdenja registriert.
Gila Altmann, (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Die Kriterien, was ein Substandardschiff ist, ma-chen sich nicht nur an der Technik fest, sondern zumGila Altmann
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1125
(C)
(D)
Beispiel auch an der Qualität der Mannschaft und derReederei. Man muß sich darüber nur informieren.Man konnte das Schiff nach der Strandung übrigenswunderbar in Augenschein nehmen. Es war durch dasAuflaufen zwar ramponiert, man sah aber noch immerdasselbe Schiff.
– Herr Hirche, da fährt man nach Amrum, begibt sichauf ein Schiff, und dann kann man um die „Pallas“ her-umfahren und kann sich visuell aus erster Hand infor-mieren und sich vom Kapitän zusätzlich informieren las-sen. Ich hätte Sie sehr gerne mitgenommen.
– Es tut mir leid, wenn Ihnen meine Antworten nichtpassen. Sie müssen sich einfach nur aus erster Hand in-formieren, müssen die Fachbegriffe kennen und auch dieKriterien. Dann stimmt der Laden. Es tut mir leid, daßich Ihnen keine andere Antwort geben kann.
Frau Kollegin, ich
glaube, damit ist die Frage beantwortet. Wir fahren in
der Debatte fort, und ich bitte die Kolleginnen und Kol-
legen von der F.D.P., nun keine Zwischenfragen mehr
zu stellen, damit wir in dieser für uns wichtigen Debatte
vorankommen und sie ordentlich abschließen können.
Frau Kollegin, bitte sehr.
Gila Altmann, (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Ich möchte nur noch einmal darauf eingehen, daß
wir das Heft des Handelns nicht nur in die Hand be-
kommen haben, sondern daß wir das Ganze auch ernst
nehmen werden. Wir werden uns nicht wie die alte Bun-
desregierung immer wieder damit begnügen, alles auf
die EU-Ebene abzuschieben und damit auf den Sankt-
Nimmerleins-Tag zu vertagen. Insofern übernehmen wir
eine sehr schwere Hypothek, denn die ehemalige Bun-
desregierung hat so nachhaltig und gründlich Versäum-
nisse begangen, daß sie sogar die Aufforderungen der
eigenen Ministerien, internationale Abkommen zu ratifi-
zieren und umzusetzen, konsequent – mit der Begrün-
dung, man habe keine Arbeitskapazitäten – ignoriert hat.
Frau Faße hat das schon angesprochen. Zum einen kann
man das 1996 in Kraft getretene Bergungsübereinkom-
men und zum anderen das internationale Übereinkom-
men über die Beschränkung der Haftung von Seeforde-
rungen nennen. Zu der Begründng mit den Arbeitskapa-
zitäten kann ich Ihnen nur sagen: Da lacht die verölte
Sardine; denn wären die Abkommen jetzt in Kraft, dann
stünde die Bundesrepublik besser da, die Handlungs-
möglichkeiten vor der Strandung wären besser gewesen,
und die Versicherung der „Pallas“ müßte wesentlich
mehr als nur schlappe 3,3 Millionen DM für diesen gan-
zen Schaden zahlen. Wir werden dafür sorgen, daß diese
Übereinkommen umgehend in Kraft gesetzt werden.
Zum Abschluß möchte ich sagen: Unser Ziel ist es,
ein Sicherheitskonzept für die Nord- und Ostsee zu erar-
beiten, das diesen Namen auch verdient. Meine Damen
und Herren von der Opposition, Sie sind herzlich einge-
laden, mitzumachen, auch wenn Sie vielleicht jetzt noch
sauer sind.
Aber im Interesse der Sache sollte uns daran gelegen
sein, hier schnellstens zu Potte zu kommen, damit sich
eine Katastrophe nicht in dieser Form wiederholt.
Nun erteile ich dem
Kollegen Dr. Winfried Wolf, PDS-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsi-dentin! Vorneweg möchte ich sagen: Selbstverständlichbetreiben wir nicht das durchschaubare Spiel der ehe-maligen Regierungsparteien. Gila Altmann war, glaubeich, zu höflich, als sie die christlichen Baywatch-Kollegen in der Aktuellen Stunde am 18. November1998 zur „Heiligen Johanna des Küstenschutzes“ beför-dert hat. In der damaligen und in der heutigen Parla-mentsdebatte erlebten und erleben wir vielmehr eineProzession von Scheinheiligen der christlichen Seefahrtam norddeutschen Meeresbusen.
Blumen an die Adresse der Liberalen am Rande: Ih-nen ist es gelungen, in die Vorbemerkung Ihrer KleinenAnfrage eine politische Wertung hineinzuschmuggeln,nach der „politische Inkompetenz“ zu „Schaden für Flo-ra und Fauna in der Nordsee“ geführt habe. Mein inKleinen Anfragen durchaus geübtes Büro hätte es nichtgeschafft, so etwas an der Bundestagsverwaltung vor-beizuschleusen. Sie haben eben noch alte „Connecti-ons“.
Zum Antrag von SPD und Grünen: In der Bilanzstimmen wir diesem Antrag zu. Wir nehmen dabei zurKenntnis, daß einige der besten Vorschläge wie dieAusweisung des Wattenmeeres als besonders sensiblesSeegebiet erst einmal nur Absichtserklärungen sein kön-nen. Nachdem ich mich unter anderem bei Umweltver-bänden kundig gemacht habe, würde ich den Regierun-gen in Bonn und Kiel wie auch der Kollegin Gila Alt-mann dennoch zu einer selbstkritischeren Bilanz raten.Die sehr präzisen Kritiken, die in der Zeitung „Water-kant“ von Klaus-Rüdiger Richter und Claudia Reese amKrisenmanagement, insbesondere am zentralen Melde-kopf Cuxhaven und an der Einsatzleitergruppe, ELG,vorgetragen wurden, scheinen mir durchaus überzeu-gend zu sein. Dabei soll nicht verschwiegen werden, daßUmweltminister Steenblock in diesem Text ausdrücklichvon dieser Kritik ausgenommen wurde. Dazu kann ichmich nicht äußern.Gila Altmann
Metadaten/Kopzeile:
1126 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
Ich möchte bei dieser Selbstkritik nur den Aspekt„Hochseeschlepper“ herausgreifen: Zu Recht wird dar-auf verwiesen, daß im Rahmen der falschen Sparmaß-nahmen und der Deregulierung der vorausgegangeneVerkehrsminister den Vertrag für das Schiff „Oceanic“,das für solche Bergungsarbeiten optimal zu sein scheint,nur für wenige Monate verlängerte. Doch dasselbe –Frau Altmann und Frau Faße – tat dann der neue Ver-kehrsminister mit seinem Vertrag für den Zeitraum vom1. Februar bis 15. April 1999.Darüber hinaus wirft Ihnen, Herr Müntefering undHerr Ibrügger, die erwähnte Zeitschrift detailliert vor, indie Ausschreibung für ein mögliches neues Notfallhoch-seeschleppschiff verzögernde und falsche Versuchsbe-dingungen hineingeschrieben zu haben.
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Faße?
Ja.
Herr Wolf, ist Ihnen bekannt,
daß die Verträge deshalb nicht weiter verlängert werden
konnten, weil es europäische Fristen einzuhalten galt?
Das heißt: Es muß wieder europaweit neu ausgeschrie-
ben werden. Diese Verlängerung war nicht anders mög-
lich. Ist Ihnen bekannt, daß die weiteren Ausschrei-
bungsunterlagen schon angefertigt worden sind, damit
die europaweite Ausschreibung stattfinden kann?
Frau Kollegin Faße, ich
bin nicht Fachfrau oder Fachmann, wie Sie es auf die-
sem Gebiet sind. Das wissen Sie auch. Mir ist bekannt,
was Sie gesagt haben. Ich habe aus der Fachzeitschrift
genau zitiert, in deren Kritik beides formuliert wird:
Durch die Art der Ausschreibung wären neue zeitverzö-
gernde Faktoren hineingekommen, so daß es – jedenfalls
bisher – wiederum keine Sicherheit gebe, ob es zu dieser
Anschaffung komme. Nach Ihrem Antrag müßte es dazu
kommen.
Werte Kolleginnen und Kollegen, zu Recht wird in
der Debatte zum „Pallas“-Unglück darauf verwiesen,
daß dieses relativ kleine Schiff mit seinen geringen Öl-
mengen bereits zum Tod von mehr als 10 000 Seevögeln
und zu erheblichen Schäden in den betroffenen Küsten-
regionen geführt hat. Bei der auch nach Annahme des
Antrags von SPD und Bündnisgrünen weiterhin gelten-
den Gesetzeslage sind jederzeit weit folgenreichere Un-
fälle – dann wirkliche Katastrophen – durch größere
Schiffe, zum Beispiel durch einen Öltanker, möglich.
In jedem Fall erleben wir eine kontinuierlich wach-
sende Verschmutzung der Meere. Daher sollten wir
uns einig sein, daß hier auch einige grundsätzliche Fra-
gen an- und Forderungen ausgesprochen werden müs-
sen. Ich nenne zum Schluß nur drei.
Erstens. Es muß ein Konzept gegen den weniger
spektakulären, schleichenden Tod der Nordsee durch die
legale und illegale Einleitung von jährlich mehr als
80 000 Tonnen Öl durch Schiffe und Ölplattformen ent-
wickelt werden. Wer für die Entsorgung direkt bezahlen
muß, wird angesichts der Konkurrenz und des Kosten-
drucks immer versucht sein, illegal zu verklappen.
Zweitens. Es muß durch internationale Vereinbarun-
gen darangegangen werden, bei Antriebs- und Schmier-
stoffen in wachsendem Maß weniger belastende Stoffe
zu verwenden, also auf Schiffen wieder Diesel statt
Schweröl und auf Ölplattformen Schmierstoffe auf Was-
serbasis. Letztere werden bei einigen norwegischen Un-
ternehmen bereits eingesetzt, ohne daß die Bohrköpfe
dabei beschädigt werden.
Drittens. Sie wissen, daß wir als PDS Deregulierung
und Liberalisierung für grundsätzlich falsch halten, was
nicht heißt, daß wir umgekehrt Staatszentralismus für
sinnvoll halten.
Die Mehrheit des Hauses wird uns hier nicht folgen;
insbesondere Konservative und Liberale lassen sich
höchstens in Intervallen von einem halben Jahrhundert
davon überzeugen, wie zerstörerisch diese Entwicklung
sein kann; ich denke beispielsweise an das „Ahlener
Programm“ der CDU.
Gleichwohl sollte unabhängig von der grundsätzli-
chen Frage das „Pallas“-Unglück Anlaß zu der Aussage
sein, daß Deregulierung im Bereich der Sicherheit –
hier konkret beim Küstenschutz, zum Beispiel bei den
Lotsen, bei der Vorhaltung ausreichender Schleppkapa-
zitäten – für Mensch und Natur tödlich ist. Sie kommt
uns heute im übrigen auch schon meßbar teuer. Das
„Pallas“-Unglück kostet die Steuerzahlenden gut 11
Millionen DM;
die Versicherung wird maximal 3,3 Millionen DM bei-
steuern. Nicht reden will ich von den Kosten für
Mensch und Natur, die sich in vielen Fällen erst nach
langer Zeit bemerkbar machen und aufaddieren. Hier
könnte ein Konsens oder zumindest eine breite Mehrheit
im Bundestag hergestellt werden: keine Deregulierung
von Sicherheit.
Danke schön.
Das Wort hat der
Kollege Kurt-Dieter Grill, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte,anknüpfend an den letzten Redner, die Bemerkung überdie Frage des Verhältnisses der Schadstoffeinträge inder Normalität des Alltages und bei Unglücken doch einbißchen zurechtrücken. Unglücke sind in einer Quotevon 5 bis maximal 10 Prozent an der Belastung unsererMeere beteiligt; das, was das tagtägliche Geschäft derSchiffahrt ausmacht, trägt dazu immer noch zu 90 bis 95Prozent bei. Nur aus diesem Blickwinkel kommt man inDr. Winfried Wolf
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1127
(C)
(D)
die richtigen Dimensionen dessen, was hier zu diskutie-ren ist.Zum zweiten möchte ich in dieser Debatte gerne eineoffizielle Stellungnahme des Bundesumweltministeri-ums vorgetragen bekommen;
denn die Kollegin Altmann hat hier nicht als Parlamen-tarische Staatssekretärin, sondern als Abgeordnete ge-sprochen. Das heißt, sowohl in der letzten als auch inder heutigen Debatte gab und gibt es keinen offiziellenBeitrag des Bundesumweltministers zu diesem angeb-lich so wichtigen Sachverhalt. Ich halte das für einenSkandal.
Ich gehe noch einen Schritt weiter. Am Rande derletzten Debatte, die aus unmittelbarem Anlaß dieses Un-glücks stattfand, hatte ich Gelegenheit, zusammen mitder Kollegin Altmann „Phoenix“ ein Interview zu ge-ben. In diesem Gespräch mit der Journalistin und mir hatKollegin Altmann gesagt – das war für mich ausgespro-chen interessant –, eigentlich habe das Bundesverkehrs-ministerium versagt. Sie sollten also heute hier zu demVorwurf der Abgeordneten Altmann Stellung nehmen,daß das Bundesverkehrsministerium in dieser Frage ver-sagt habe. Das Bundesumweltministerium scheint wirk-lich vollkommen unbeteiligt zu sein.Was die EU-Ebene und den Sankt-Nimmerleins-Tagangeht: Frau Altmann, auch in den europäischen Ver-einbarungen besteht das eigentlich Schwierige darin –ich kenne das seit dem Unfall der „AmocoCadiz“ –, daßwir zwar eine Fülle internationaler Vereinbarungen ha-ben, daß aber die Einhaltung und Durchsetzung dieserVereinbarungen ein Stück des Gesamtproblems ist, daswir allerdings nicht nur in diesem Bereich kennen.Ihre beredte Kritik an Dänemark zeigt deutlich, daßalle Abkommen und Geräte nichts nützen, wenn nie-mand sie einsetzt. Sie wissen genausogut wie ich, daßdie „Oceanic“ an dem Tag gar nicht angefordert wurde,weil es aus Gründen des technischen Sachverstandsnicht für notwendig befunden wurde.
Die „Oceanic“ ist in diesem Zusammenhang gar nichtunser Problem.
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Alt-
mann?
Ich habe noch vierMinuten. Ich möchte jetzt am Stück reden.Ich finde es ganz interessant, daß die Kollegin FrauFaße hier am Schluß ihrer Betrachtungen zugegeben hat,daß es etwas nicht gibt, was von Ihnen, solange wir inder Regierung waren, immer behauptet worden ist: daßes eine hundertprozentige Sicherheit nicht gebe. SehenSie: In diesem Bewußtsein müssen wir viele Fragen destäglichen Lebens betrachten. Ohne daß ich das weiterausführen will: Es ist hochinteressant, welche Risikendie Menschen in einem bestimmten Zusammenhangganz ohne jeden Zweifel in Kauf nehmen, ohne sichüber die Quantität und die Qualität des Risikos zum Bei-spiel des Autofahrens im klaren zu sein.Ich hoffe, daß heute nicht nur das Bundesverkehrsmi-nisterium hier offiziell spricht, sondern daß auch dasBundesumweltministerium seine Meinung noch einmaloffiziell darstellt.
Ich will im übrigen auch eine Bemerkung zur Frageder Ostsee machen. Wer sich mit dem beschäftigt, wasdie ehemalige Bundesregierung an Abkommen zur Ver-besserung der Situation der Umwelt auch und gerade imZusammenhang mit den Ostseeanrainerstaaten auf denWeg gebracht hat – manches war erst nach 1990 mög-lich –, der sollte zu einer solch arroganten Behauptungnicht kommen, Frau Altmann.
Die Umweltpolitik in diesem Lande und in Europa be-ginnt nicht mit der rotgrünen Regierung in Bonn; viel-mehr hat sie lange vor Ihnen begonnen, und sie wirdauch noch existieren, wenn Sie wieder abgewählt sind.
Sie haben im Grunde genommen hier zwei Ausredenvorgebracht. Die eine lautete, das sei ein schlechtesSchiff gewesen – ich möchte das Bundesverkehrsmi-nisterium bitten, hier einmal zu erklären, ob es ein Sub-standardschiff gewesen ist oder nicht –, und die zweitelautete, Sie hätten ein schweres Erbe angetreten.Nur, das paßt nicht zu dem, was Herr Steenblock undandere behauptet haben. Auch ich habe hinreichendparlamentarische Erfahrungen mit Beamten – positivewie negative. In der Anhörung des Umweltausschussesist mir der Vertreter des Landes Schleswig-Holsteinwirklich nachteilig aufgefallen. Warum? Weil er jedeFrage von Parlamentariern für überflüssig hielt, weil erim Auftrag seiner Landesregierung die These vertrat,man habe sich keines fehlerhaften Verhaltens schuldiggemacht; vielmehr habe man alles getan, was notwendigwar, und Herr Steenblock sei vollkommen in Ordnung.Wenn Ihre Landesregierung diese Auffassung vertritt,dann können Sie doch nicht hier herkommen und be-haupten, das sei das schwere Erbe von Frau Merkel.
Sie müssen wirklich einmal anfangen, logisch zu den-ken. Wenn Sie das tun, dann können Sie Ihre Vorwürfevortragen.
– Substandard ist richtig, ja.Kurt-Dieter Grill
Metadaten/Kopzeile:
1128 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
Die Kritik an schwerfälligen Strukturen kann ich nurnachvollziehen. Sie ist richtig. Eine zentrale Koordinie-rung gibt es im übrigen. Ich kann Sie wirklich nachvoll-ziehen, wenn ich mich in diesem Zusammenhang an dasWort von Frau Simonis erinnere, Herr Steenblock solledoch erst einmal ausschlafen.Ihr Antrag macht deutlich, daß Sie eigentlich alleswissen, was Sie wissen müssen oder wissen wollen, undeigentlich auch schon wissen, wie das alles geht. Wenndas so ist, dann könnten wir das Geld für die Experten-kommission eigentlich sparen. Da ich aber sicher bin,daß es richtig ist, auch hier einmal den Rat der Fachleutezu hören, plädiere ich dafür, daß wir die Debatte dannwiederaufnehmen, wenn die Fachleute ihre Arbeit getanhaben.Eines sage ich Ihnen mit aller Gewißheit: Die, die inder ELG und anderswo ihre Arbeit getan haben, habennach bestem Wissen und Gewissen versucht, mit derKatastrophe umzugehen. Wir sollten sehr vorsichtig mitSchuldzuweisungen sein, Frau Altmann.
Ich gebe Ihnen den guten Rat: Wenn Sie Herrn Steen-block hier freisprechen, sollten Sie sich gewaltig davorhüten, anderen für etwas die Schuld in die Schuhe zuschieben, was zu einer Zeit passierte, wo Sie und nie-mand anders die Verantwortung hatten.
Nun erteile ich das
Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Lothar
Ibrügger.
L
FrauPräsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen, unter Ein-satz ihres Lebens haben sich Seemänner des DeutschenSeenotrettungsdienstes, Bergungsfachmänner und See-leute darum bemüht, schwersten Schaden von der deut-schen Küste abzuwenden. Es ist ihnen leider nicht ge-lungen, wie die heutige Debatte zeigt. Es besteht aberAnlaß, ihnen zu danken, daß sie alles versucht haben,um einen schweren Unglücksfall zu verhindern.
Deswegen wird die Bundesregierung alles in ihrenKräften Stehende tun, um den Erwartungen dieser Men-schen und der Menschen an der Küste durch eine klareund solide Aufarbeitung der Folgerungen aus der Hava-rie der „Pallas“ Rechnung zu tragen.
Ich habe Ihnen am 18. November im Umweltaus-schuß des Deutschen Bundestages und am Nachmittagim Plenum des Deutschen Bundestages den Zwischen-bericht zur Havarie des Frachters „Pallas“ vorgestellt.Die Arbeiten an dem Endbericht stehen kurz vor demAbschluß. Er wird Ihnen, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, in Kürze zur Verfügung stehen. Als Einleitung wirder eine Chronologie der Ereignisse enthalten. Zudemwird er auf die Zuständigkeiten bei verschiedenen Ar-beitsbereichen wie Notschleppen, Einsatz der kom-merziellen Berger, Brandbekämpfung, Bekämpfung derÖlverschmutzung zu Wasser und am Strand sowie Lö-schen der verkohlten Holzladung eingehen. Darüberhinaus wird dieser Endbericht auf die bis jetzt bekann-ten Folgen für das empfindliche Wattenmeer und dieKosten der gesamten Aktion eingehen.Ich bin zuversichtlich, daß der Endbericht die Diskus-sion über den Seeunfall der „Pallas“ versachlichen wird.Wir benötigen eine nüchterne, an den Fakten orientierteDebatte über Ursachen und Konsequenzen des Un-glücks. Nur so, meine Damen und Herren, kommen wirauch zu wirklichkeitsnahen Ergebnissen. Ich hoffe, daßvorschnelle Folgerungen und Vorverurteilungen damitauch der Vergangenheit angehören werden.
Nachdem mittlerweile die schlimmste Gefahr gebanntist, dürfen wir das Unglück, wie ich schon zu Anfangsagte, nicht auf sich beruhen lassen. Die Einberufung ei-ner unabhängigen Expertenkommission ist vorberei-tet, für die Minister Müntefering folgenden Arbeitsauf-trag formuliert hat:Unter Auswertung der „Pallas“-Havarie ist eineBewertung des bisherigen Notfallkonzeptes unddessen Weiterentwicklung für die Sicherung derdeutschen Küste an Nord- und Ostsee vor den Fol-gen von Schiffsunfällen zu erarbeiten. Dieses sollsowohl Vorschläge für Optimierungen imBund/Küstenländer- als auch im internationalenBereich enthalten.
Die Kommission wird den Fall „Pallas“ unter Einbe-rufung von Sachverständigen gründlich aufarbeiten. Siewird Anhörungen mit Bergungsunternehmen, Rettungs-organisationen, Nautikern, Tarifpartnern, Umweltver-bänden und Rechtsexperten durchführen. Sie sollen dieOptimierungsvorschläge für das bestehende Notfallsy-stem im nationalen und internationalen Rahmen unter-breiten. Den Vorsitz wird der ehemalige Bremer Sena-tor, unser früherer Kollege Claus Grobecker führen.
Ihm werden als Stellvertreter Rechtsanwalt WolfgangPaul und Professor Knud Benedict zur Seite stehen. Diefünf Küstenländer sowie das Bundesumweltministeriumund das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Woh-nungswesen werden auf Abteilungsleiterebene beteiligt.Wir erwarten von der Kommission vor allem Aussa-gen zu folgendem: erforderliche Kapazitäten an Hoch-seeschleppern – ich betone hier: flachgehend genug, umim Küstenvorfeld eingesetzt zu werden – und zusätzlichbenötigte Feuerbekämpfungsschiffe; technische Ausrü-Kurt-Dieter Grill
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1129
(C)
(D)
stung von Unfallbekämpfungsschiffen, Ausbildung undTraining der Mannschaften; Eingriffsmöglichkeiten beiBergungsaktionen sowie Verbesserung des Haftungs-und Versicherungsrechtes.Die Bundesregierung hält es für erforderlich, Initiati-ven für eine verbesserte Zusammenarbeit, insbesondereim Notschleppsektor, auf alle Nord- und Ostseeanlieger-staaten auszudehnen. Diese Zusammenarbeit betrifftnicht nur Dänemark, sondern auch alle anderen Anlie-gerstaaten.
Wir erwarten auch Vorschläge, die im Rahmen derInternationalen Seeschiffahrtsorganisation vorangetrie-ben werden können und die sich vor allen Dingen aufdie Koordination und die Zusammenarbeit konzentrie-ren.Der Landtag von Schleswig-Holstein hat einenparlamentarischen Untersuchungsausschuß – darüberist schon berichtet worden – eingesetzt. Er wird die inder Landeszuständigkeit liegenden Abläufe untersuchen.Die von der Bundesregierung einzusetzende Kommissi-on unterscheidet sich von dem schleswig-holsteinischenAusschuß in der Aufgabenstellung. Ich bin aber davonüberzeugt, daß sich die verschiedenen Ausschüsse sinn-voll ergänzen werden.Wenn ich mir die Kommentare zu Einzelthemen der„Pallas“-Havarie anhöre, stelle ich fest, daß unter demEindruck des Ereignisses nicht immer alles zutreffendberichtet wird. Dazu gehört insbesondere die Berichter-stattung über den Hochseeschlepper „Oceanic“. Es wa-ren die jetzigen Regierungsfraktionen, die sich bei denletzten Haushaltsverhandlungen dafür eingesetzt haben,daß Mittel für den ganzjährigen Einsatz der „Oceanic“zur Verfügung gestellt werden.
– Nein, noch im Frühjahr erklärte der damalige MinisterWissmann, das Konzept sei ausreichend.Herr Minister Müntefering hat im Vorgriff auf eineendgültige Regelung der Notschleppkapazitäten in derDeutschen Bucht noch als designierter Bundesministerdafür gesorgt, daß die „Oceanic“ durchgängig für dieseWintersaison gechartert wurde. Die Frage, ob die „Oce-anic“ im Havariefall der „Pallas“ zu spät oder nichtrichtig eingesetzt wurde, wird von der Expertenkommis-sion mit genauem Blick auf die tatsächlichen Zeitabläufezu prüfen sein. In diesem Zusammenhang legen wirWert auf die Aussagen der unmittelbar betroffenen Ka-pitäne, die bei hohen Windstärken und bei Wellenhöhenvon zehn Metern unter Einsatz ihres Lebens versuchthaben, ihrer Aufgabe gerecht zu werden.
Sie müssen gehört werden und werden uns sicherlichhelfen, ein Urteil zu fällen. Ich warne deswegen vorweiteren sachfremden Spekulationen.Die Bundesregierung wird sich der nötigen Aufar-beitung mit der gebotenen Sorgfalt und Seriosität stel-len. Das gilt ebenso für die beteiligten Ausschüsse.Bei der bisherigen Aufarbeitung stießen wir auf dievon der Kollegin Faße und von der Kollegin Altmannschon angesprochenen internationalen Abkommen, diehier im Deutschen Bundestag noch zu ratifizieren sind.Erstens nenne ich das Abkommen für die Beschrän-kung der Haftung für Seeforderungen. In diesem Ab-kommen geht es um Haftungshöchstsummen, die inter-national vereinbart und geltendes Recht sind. DiesesAbkommen ist 1996 durch die Regierung Kohl novel-liert worden; es wurde aber bis zur Bundestagswahl demDeutschen Bundestag nicht zur Ratifizierung vorgelegt.Damit konnten die Rechtsgrundlagen nicht verändertwerden. Nach mir vorliegenden Schätzungen sind so4,7 Millionen DM vermeidbare Kosten für den Steuer-zahler entstanden. Wäre das Übereinkommen durch dieRatifikation im Deutschen Bundestag in Kraft gesetztworden, wären die Kosten auf Grund der Schadensbe-wältigung für die Steuerzahler niedriger.
Zweitens: Das internationale Bergungsabkommenwurde 1996 gezeichnet. Da es durch den DeutschenBundestag nicht ratifiziert werden konnte, fielen wir aufdie Regelung des Jahres 1910 zurück.
Das heißt, daß auch die Kosten für die Bergungsversu-che dem Reeder der „Pallas“ nicht angelastet werdenkönnen.
Warum wurde dem Parlament durch die frühere Bundes-regierung dieses Abkommen nicht zur Ratifizierungvorgelegt? Die Antwort, die mir gegeben wurde, lautete:keine Arbeitskapazität in den verantwortlichen Ministe-rien. Ich gebe Ihnen diesen Sachverhalt so wieder, wieer sich mir darstellt.
Wir müssen leider festhalten, daß für den Steuerzah-ler vermeidbare Kosten durch Fehler und Versäumnisseim parlamentarischen Beratungsverfahren entstandensind. Sie wären vermeidbar gewesen.
Im übrigen müssen wir uns auch damit auseinander-setzen, ob alle Kräfte, die dem Bund zur Verfügung ste-hen, in das frühere Sicherheitskonzept eingebaut wor-den sind. Ich nenne hier insbesondere die Fähigkeitenund Unterstützungsmöglichkeiten der über 20 000 Pio-niere im norddeutschen Raum, die bei solchen Un-glücksfällen hätten eingesetzt werden können. Auf dieNachfrage, ob dem Sicherheitskonzept auch das Wissenzugrunde liege, welche Fähigkeiten die Pioniere einzu-bringen haben, lautete die mir heute gegebene Antwort:Parl. Staatssekretär Lothar Ibrügger
Metadaten/Kopzeile:
1130 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
Nein, es liegen keine Kenntnisse vor. – Manche rascheHilfestellung hätte noch besser erfolgen können, wennin dem bisher so lobend herausgestellten Sicherheits-konzept für die Deutsche Bucht und insbesondere auchim Katalog für die Einsatzleitgruppe die Fähigkeiten derBundeswehr mit bedacht worden wären. Sie waren abernicht Teil dieses Konzeptes. Dies ist zu bedauern. Siegehören in Zukunft in dieses Konzept hinein.Herzlichen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Klaus Brähmig.
Sehr geehrte Frau Prä-sidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heutigeDebatte zur Havarie der „Pallas“ vor Amrum hat einenAspekt vernachlässigt, das Thema: Folgerungen für denTourismus in den betroffenen Regionen. Ich verweisehierbei auf unseren Antrag auf der Drucksache 14/160,der sich mit konkreten Forderungen an die rotgrünenRegierungen in Bund und Land wendet.Grundsätzlich muß dieser tragische Unfall ganzheit-lich betrachtet werden, das heißt, nicht nur aus der Sichtder Verkehrs- und Umweltpolitik, sondern auch aus derSicht der Regional- und Tourismuspolitik. Während sichdie verkehrs- und umweltpolitischen Folgerungen daraufkonzentrieren müssen, ein solches Szenario wie die Ha-varie der „Pallas“ zukünftig zu vermeiden, muß die Re-gional- und Tourismuspolitik Sofortmaßnahmen entwik-keln, um den eingetretenen Imageverlust und die damitverbundenen wirtschaftlichen Konsequenzen für die be-troffene Tourismus- und Nationalparkregion so geringwie möglich zu halten.Insofern verwundert es mich schon, daß sich der An-trag der rotgrünen Regierungskoalition mit diesemThema nur in einem einzigen Satz befaßt. Ich zitiere:Der Bundestag fordert die Bundesregierung deshalbauf: . . . Die Region des nordfriesischen Watten-meeres bei ihren Bemühungen um einen natur- undumweltverträglichen Tourismus zu unterstützen.Meine Verwunderung über diese lapidare Aussage derRegierungskoalition wird erst klar, wenn man sich dieBedeutung des Wirtschaftsfaktors Tourismus für dieRegion genauer betrachtet: Nach Angaben des Nordsee-bäderverbandes ist der Tourismus auf den nordfriesi-schen Inseln und an der Westküste Schleswig-Holsteinsder bedeutsamste Wirtschaftsfaktor. An der Westküsteerwirtschaftet der Tourismus 20 Prozent aller Einkom-men und liegt damit um ein Vielfaches über dem Lan-des- und Bundesdurchschnitt. Auf den nordfriesischenInseln liegt der Anteil noch höher; hier ist der Tourismusoft der einzige Motor der Wirtschaft. Die betroffene Re-gion erwirtschaftete in der Saison 1997 nach Angabendes Bäderverbandes mit weit über 7 Millionen Über-nachtungen einen Umsatz von zirka 875 Millionen DM.Der Tourismus ist damit auch für den Groß- und Einzel-handel, das Handwerk, das produzierende Gewerbe undsonstige Dienstleistungsunternehmen lebenswichtig.Die Havarie der „Pallas“ hat nun aber unzweifelhaftfür einen enormen Imageverlust für diese beliebte Fe-rien- und Nationalparkregion gesorgt. Das läßt sich anHand folgender Zahlen beweisen: Das Nationalparkamt,der WWF und der Bericht von Staatssekretär SiegmarMosdorf melden einheitlich, daß bedauerlicherweise16 000 Seevögel dem aus dem Wrack der „Pallas“ aus-getretenen Öl zum Opfer gefallen sind. Durch Ölbe-kämpfungsschiffe wurden etwa 30 Kubikmeter ausge-laufenes Öl aus dem Wasser aufgenommen. Zusätzlichmußten an den Stränden von Föhr, Amrum und Sylt 870Tonnen Ölsandgemische entsorgt werden. In der Zeitder Jahreswende berichteten Mitarbeiter von Reederei-en, daß sich täglich bis zu 500 Katastrophentouristenausschließlich das Wrack in der Nationalparkregion an-sehen wollten.
In diesen Zusammenhang gehört auch die deutsch-landweite, über Wochen fortgesetzte negative Berichter-stattung der Medien. Wieder einmal konnte man sichdavon überzeugen, daß sowohl die elektronischen wieauch die Printmedien ihrem Motto treu bleiben: „Onlybad news are good news.“ Während zu Beginn der Ha-varie fast stündlich neue Bilder von auslaufendem Ölund langsam verendenden Seevögeln gezeigt wurden,nahm die Medienberichterstattung ab, als die Ölbekämp-fung ihre ersten Erfolge zeigte und eine weit größereKatastrophe vermieden werden konnte. Besonders ver-ärgert waren die Einheimischen darüber, daß die Medienkeinerlei Interesse daran zeigten, daß die Strände schoneinige Tage später weitestgehend vom Öl-Sand-Gemischund von verendeten Vögeln gereinigt worden waren.Dies muß hier noch einmal ausdrücklich betont werden.Unser Dank muß nicht nur den Seeleuten gelten, dieauf hoher See unter Einsatz ihres Lebens gegen die Ka-tastrophe ankämpften, sondern auch jenen vielen Hel-fern, die die Schäden an Land so schnell beseitigten unddie Natur ihrer Heimat – soweit möglich – vor größeremÜbel bewahrten.
Wie aber wird sich der eingetretene Imageverlustökonomisch auf die Umsatzzahlen auswirken? Selbstwenn die nordfriesischen Inseln und die WestküsteSchleswig-Holsteins einen sehr hohen Prozentsatz anStammkunden vorweisen können, ist das große Potentialneuer Gäste stark verunsichert über die tatsächliche Si-tuation vor Ort. Der Nordseebäderverband geht für diekommende Saison in einer nach eigenen Angaben vor-sichtigen Schätzung von einem zu erwartenden Umsatz-rückgang in Höhe von zirka 5 Prozent aus. In D-Markbedeutet das einen Umsatzverlust von fast 44 Millionenfür die Region. Ein 10prozentiger Rückgang der Über-nachtungszahlen, der durchaus im Bereich des Mögli-chen liegt, entspräche einem Umsatzverlust in Höhe von87,5 Millionen DM.Wie das Thema der Debatte festlegt, geht es heute umFolgerungen aus der Havarie der „Pallas“ und damit umParl. Staatssekretär Lothar Ibrügger
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1131
(C)
(D)
die Folgen aus dem entstandenen Schaden für die Regi-on. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion fordert daher inPunkt 4 ihres Antrages die Bundesregierung und dieLandesregierung Schleswig-Holsteins auf, sofort geeig-nete Marketingmaßnahmen zu initiieren und zu finan-zieren, die dabei helfen werden, den eingetretenen Ima-geverlust so gering wie nur möglich zu halten und damiteine steigende Arbeitslosigkeit in der Region zu verhin-dern. Die regionale Tourismuswirtschaft und die betrof-fenen Gemeinden schätzen den Finanzierungsbedarf füreine effektive Imagekampagne auf zirka 1 Million DM.Mit Bedauern habe ich vernommen, daß die in erster Li-nie zuständige rotgrüne Landesregierung in Kiel dieseForderung abgeschmettert hat. Auch ein ähnlicher An-trag der CDU-Landtagsfraktion anläßlich der Haushalts-beratungen, der die Bereitstellung einer halben MillionDM für Marketingmaßnahmen vorsah, wurde mit derrotgrünen Stimmenmehrheit des Landtages niederge-stimmt.Nach meinen Informationen kosten die bisherigenBergungs- und Ölentsorgungsmaßnahmen den Steuer-zahler zirka 20 Millionen DM.
Der Deutschen Zentrale für Tourismus – Frau Faße, daswissen Sie genausogut wie ich – stehen aus Steuermit-teln gerade einmal 36 Millionen DM pro Jahr zur Be-werbung des gesamten Tourismusstandortes Deutsch-land im In- und Ausland zu.Nachdem sich die schleswig-holsteinische Landesre-gierung der Verantwortung entzogen hat,
ist nun um so dringlicher die Bundesregierung aufgefor-dert, schnelle Hilfe zu leisten und die Folgen für dienordfriesischen Inseln und die Schäden für die Westkü-ste Schleswig-Holsteins zu minimieren. Angesichts derbeginnenden Buchungsphase für die Saison 1999 undder in den nächsten Monaten stattfindenden Fach- undTourismusmessen ist in dieser Angelegenheit, FrauFaße, höchste Eile geboten und ein sofortiges Sonder-marketingprogramm für die unverschuldet geschädigtenLeistungsanbieter aufzulegen.
Es war die rotgrüne Bundesregierung, die der Bevölke-rung im Wahlkampf versprach, die Arbeitslosigkeitdeutlich zurückzuführen. 100 Arbeitslose in der Zeit derHochsaison kosten den Staat mehr als 1 Million DM.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion versteht sich alsAnwalt der betroffenen touristischen Leistungsanbieter.Unser Appell an das Hohe Haus lautet: Folgen Sie unse-rem Antrag auf Drucksache 14/160! Investieren Sie jetztin Marketingmaßnahmen!
Investieren Sie in die Zukunft der NationalparkregionWattenmeer! Investieren Sie in Arbeit und nicht in Ar-beitslosigkeit!Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Frau Kollegin,
die Zeit des Redners war schon abgelaufen. Deswegen
habe ich Sie nicht mehr zu Ihrer Zwischenfrage aufgeru-
fen. Ich bitte um Entschuldigung.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Anke Hartnagel.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Der Bundestag diskutiert heute zumzweiten Mal über die „Pallas“-Katastrophe. Sie hat unsalle mit Sorge erfüllt, vor allem aber mit dem Willen,aus der Katastrophe zu lernen. Havarien werden nichtgänzlich auszuschalten sein. Das wird niemals der Fallsein. Worauf es jedoch ankommt, ist, alles zu unterneh-men, damit Unfälle vermieden werden können, und denSchaden soweit wie möglich zu begrenzen, wenn eineHavarie dennoch eintritt.Zur Erinnerung: Bei der laut WWF größten Ölpest imWattenmeer kamen rund 16 000 Seevögel ums Leben.Der Kollege Brähmig hat das soeben gesagt. Das ist et-wa die Hälfte des Meeresentenbestandes. Ich finde, dasist in der Tat eine Katastrophe.
Den Koalitionsfraktionen geht es mit ihrem Antrag– darum muß es uns allen gehen – um eine Optimie-rung des Sicherheits- und Notfallkonzeptes für dieNord- und Ostsee, ganz besonders aus der Sicht desUmwelt- und Naturschutzes. Es ist gar nicht auszuden-ken, wenn statt der „Pallas“ Öltanker wie die „SeaEmpress“, die „Äegean Sea“ oder die „Braer“ vor Am-rum brennend gestrandet wären. Das wäre ein ökologi-scher und ökonomischer Super-GAU für die Nordsee.Das macht deutlich, daß wir endlich handeln und allestun müssen, um eine weitere Schiffshavarie im emp-findlichen Wattenmeer zu verhindern. Ich hoffe doch,meine Damen und Herren von der Opposition, daß diesebenfalls Ihr Anliegen ist; ich glaube das heute heraus-gehört zu haben.Was Ihren Antrag betrifft, so muß ich jedoch sagen:Sie führen das fort, was Sie bereits in der AktuellenStunde am 18. November 1998 getan haben. Schon da-mals war für Sie ganz klar, an wen die Schuldzuwei-sungen zu richten sind. Auch in Ihrem jetzt vorliegen-den Antrag gehen Sie so vor. Erst stellen Sie ganz klarfest, wer schuldig ist, und dann verlangen Sie eine voll-ständige Aufklärung, die Sie dann eigentlich nicht mehrbräuchten. Das paßt nicht zusammen, meine Damen undHerren von der CDU/CSU.
Klaus Brähmig
Metadaten/Kopzeile:
1132 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppe-
lin?
Ich würde jetzt gern zu En-
de reden. Ich habe auch nicht so viel Zeit.
Wir wollen, daß die „Pallas“-Havarie gründlich auf-
gearbeitet wird. Die heute schon erkennbaren Schwach-
stellen am bisherigen Sicherheits- und Notfallkonzept
müssen unbedingt beseitigt werden. Klar ist aber auch,
daß der unglückliche Verlauf der Schlepp- und Ölent-
sorgungsversuche viel mit den Wetterbedingungen zu
tun hatte, wie Sie alle wissen. Aber auch wenn diese
neue Bundesregierung schon vieles erreicht hat und
noch erreichen wird – für Sturmstärken ist sie nicht zu-
ständig.
Sie ist aber dafür zuständig, die Versäumnisse der alten
Bundesregierung aufzuarbeiten. Es fällt auf, daß Sie,
meine Damen und Herren von der CDU/CSU und
F.D.P., durch einfache Schuldzuweisungen vom Unver-
mögen der bisherigen Bundesregierung ablenken wol-
len.
Wir brauchen eine schlagkräftige europäische Kü-
stenwache, die bei Schiffsunfällen ein frühes Eingreifen
sicherstellt. Dazu gehören die technischen Kapazitäten
an Hochsee- und weiteren flachgehenden Schleppern, an
Feuer- und Ölbekämpfungsschiffen sowie die erforderli-
chen Hubschrauber für Nord- und Ostsee. Dies ist be-
reits gesagt worden; dem kann man sich nur anschlie-
ßen. Es muß doch möglich sein, hierüber mit den Nord-
und Ostseeanrainerstaaten zu Vereinbarungen zu kom-
men. Wir werden uns auf jeden Fall verstärkt dafür ein-
setzen.
Die bilateralen und internationalen Übereinkommen
zum Schutz der Meere müssen weiterentwickelt wer-
den, um einen wirksamen Schutz zu gewährleisten. Die
internationalen Übereinkommen, unter anderem erstens
über die Änderung der Haftung für Seeforderungen von
1996, zweitens über die Bergung in Seenot von 1989
sowie drittens über Haftung und Entschädigung für
Schäden bei der Beförderung schädlicher und gefährli-
cher Stoffe auf See von 1996, müssen endlich – darauf
hat Herr Staatssekretär Ibrügger bereits hingewiesen – in
Kraft gesetzt werden. Das Verursacherprinzip muß we-
nigstens ansatzweise durchgesetzt werden. Es kann doch
nicht sein, daß die durch die Havarie der „Pallas“ ent-
standenen Schäden nur zum Teil durch die Schiffsversi-
cherung gedeckt sind. Es kann absolut nicht angehen,
daß der größte Teil vom Bund und vom Land Schles-
wig-Holstein getragen werden muß.
Lassen Sie mich noch etwas zur bisher nicht beende-
ten Bergung der „Pallas“ sagen. Da sich immer noch Öl
in dem Wrack befindet, das offensichtlich schwer zu
entfernen ist, muß sorgfältig geprüft werden, wie das
Wattenmeer vor weiteren Umweltschäden geschützt
werden kann. Es muß geprüft werden, ob es ökologisch
verträglicher ist, das Wrack versanden zu lassen oder es
aus dem Wattenmeer zu entfernen. Eines ist für mich
klar: Das Wattenmeer darf nicht als preiswerte Müllde-
ponie mißbraucht werden.
Ich schließe mich der Meinung vieler in meiner Frak-
tion an, daß auch intensiv zu prüfen ist, ob das Watten-
meer als besonders empfindliches Meeresgebiet ausge-
wiesen werden sollte. Abgesehen von dieser „Pallas“-
Katastrophe ist auch die fast tägliche Belastung des
Meeres durch Altöleinleitungen aus Schiffen ein nicht
hinnehmbarer Mißstand, der Handeln erfordert. Schät-
zungen gehen davon aus, daß in der Nord- und Ostsee
pro Jahr rund 300 bis 400 Ölverschmutzungsfälle statt-
finden. Nur 2 Prozent der Verursacher mußten bisher
mit einer Verurteilung rechnen. Auch hier muß sich et-
was ändern. Dies gilt auch für die Einleitung von Stick-
stoffverbindungen aus der Landwirtschaft und dem Au-
toverkehr.
Meine Damen und Herren, wir sind verpflichtet, die
natürlichen Lebensgrundlagen auch für zukünftige Ge-
nerationen zu schützen. Lassen Sie uns das über alle
Parteigrenzen hinweg endlich ernsthaft angehen! Ich
bitte Sie daher um die Unterstützung des SPD-Antrages.
Vielen Dank.
Frau Kollegin,ich habe gehört, das war Ihre erste Rede im Parlament.Ich möchte Ihnen im Namen des Hauses dazu herzlichgratulieren und Sie besonders belobigen, weil Sie sogareine Minute weniger geredet haben, als Sie hätten redendürfen. Das passiert selten.
Ich schließe damit die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 14/160 und 14/281 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse und zusätzlich anden Auswärtigen Ausschuß sowie an den Ausschuß fürdie Angelegenheiten der Europäischen Union vorge-schlagen. Der Antrag der Koalitionsfraktionen aufDrucksache 14/281 soll nicht an den Innenausschuß undan den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft undForsten überwiesen werden. Sind Sie damit einverstan-den? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen sobeschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten Christi-ne Ostrowski, Dr. Klaus Grehn, Dr. Barbara Höll,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDSSofortige Bauunterbrechung an der Bundes-autobahn A 17– Drucksache 14/128 –
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1133
(C)
(D)
Metadaten/Kopzeile:
1134 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Ostrows-
ki?
Bitte schön, Frau Ostrowski.
Das ist freundlich. Ich
danke Ihnen. Da Sie jetzt gerade von dieser Nord-Süd-
Trasse, die in Oslo anfängt und weiter durch Europa
führt, gesprochen haben, möchte ich Sie fragen: Ist Ih-
nen bekannt, daß die offiziellen Verkehrsprognosen ei-
nen Anteil des Fernverkehrs am Gesamtverkehrsauf-
kommen auf dieser Autobahn von nur 10 Prozent vor-
hersagen?
Ja, warten Sie ab. Ich werdedazu noch Stellung nehmen, Frau Ostrowski.Ich darf Sie einmal mit Hilfe einer Karte davon inKenntnis setzen, wie das Ganze aussieht.
Es soll also eine Straßenverbindung vom Nordendurch ganz Europa hindurch bis zum Süden geschaffenwerden und dann der paneuropäische Korridor, der dieseVerbindung darstellt. Es handelt sich also um ein großesinternationales Vorhaben.
– Das bleibt mein Geheimnis. –
Es ist natürlich auch eine wirtschaftliche Erschließungdes Raumes um Dresden vorgesehen. Es geht auch dar-um, die Bevölkerung in diesem Raum besser anzubin-den. Das ist natürlich für die Entwicklung der neuenBundesländer sehr wichtig.Von den Gegnern werden entsprechende Gegenar-gumente angeführt. Es ist ja auch nicht auszuschließen:Ein solch großes Projekt hat natürlich immer zur Folge,daß man Einschnitte in die Landschaft, in die Natur vor-nehmen muß. Das steht außer Frage. Aber von den Geg-nern wird alles andere auch angezweifelt, nämlich dasKosten-Nutzen-Verhältnis, die geschätzten Baukostenund die erwartete Entwicklung, nämlich eine Entlastungder Bürger in den einzelnen Städten. All das wird vonden Gegnern immer wieder in Frage gestellt. Es wirdimmer wieder gesagt, daß es nicht zu Vertragsverhand-lungen zwischen der Tschechischen Republik undDeutschland kommen könne, weil das Böhmische Mit-telgebirge ein sehr sensibler Raum und Landschafts-schutzgebiet sei. Dafür müsse der tschechische Um-weltminister eine Ausnahmegenehmigung erteilen, be-vor man eine solche Baumaßnahme verwirklichen kön-ne.Zu dem Sachstand bis jetzt: Wir haben auf der deut-schen Seite eine Autobahn in einer Länge von rund45 Kilometern. Die Kosten wurden schon von FrauOstrowski genannt. Ursprünglich waren einmal625 Millionen DM vorgesehen. Mittlerweile ist dieSumme auf 1,321 Milliarden DM gestiegen. Das hatseine Ursachen. Schon zu Zeiten der DDR hat man ge-sehen, daß der Weg von Dresden nach Prag von außer-ordentlicher Wichtigkeit ist, und hat eine umfangreichePlanung durchgeführt. Ursprünglich hat man auf diesePlanung zurückgegriffen und an Hand dieser Planungeinen Kostenvoranschlag aufgestellt. Mittlerweile hatman diese aus der damaligen DDR stammende Planungbeiseite gelegt und eine völlig neue Planung vorgenom-men. Man hat rund sieben Trassen vorgeschlagen, unddiese sieben Trassen sind untersucht worden. Man hatsich dann für die auf dieser Zeichnung dargestellte Tras-se entschieden.Die Baumaßnahmen auf deutscher Seite gliedern sichin drei Abschnitte. Beim ersten Bauabschnitt haben wirChristine Ostrowski
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1135
(C)
(D)
das Stadium der Planfeststellung und der Baureife er-reicht. Mit den ersten Baumaßnahmen wurde im ver-gangenen Jahr begonnen. Man hat dort angefangen, wodie A 17 die A 4 berührt. Es ist bereits klar zu sehen, wodas Autobahndreieck entsteht. Es gab auch eine Aus-schreibung für eine Brücke, mit deren Bau in diesemJahr begonnen wurde.Von den zwei Abschnitten, die noch verbleiben, be-findet sich ein Teil in der Planfeststellung, der andere inder Planung. Dies wird noch in diesem Jahr zum Ab-schluß kommen. Damit wird auch in diesen beiden Ab-schnitten Baureife erreicht werden.Die Länge der Autobahn auf der tschechischen Seitebeträgt 90 Kilometer. Die Kosten liegen bei rund270 Millionen DM.
Herr Kollege
Sorge, die Kollegin Ostrowski möchte noch eine Zwi-
schenfrage stellen. Erlauben Sie das?
Bitte schön, Frau Ostrowski.
Ganz so dicht wohnen
wir ja nicht beieinander. – Entschuldigen Sie, Herr Sor-
ge, ich möchte Sie nach den 45 Kilometern auf deut-
scher Seite fragen. Sie haben ja gerade so schön über die
Bauabschnitte referiert, sind auch auf die Kosten ein-
gegangen und haben gesagt, daß der Bau tatsächlich
1,321 Milliarden DM kostet. Weil die sächsische SPD
und auch die Bundes-SPD so ernsthaft hinter dem Bau
der Autobahn stehen: Haben Sie eine Idee, woher das
Geld kommt?
Zur Finanzierung werde ich
später noch etwas sagen.
Zurück zum Sachstand. Auf der tschechischen Seite
sind bereits vier Abschnitte dem Verkehr übergeben.
Drei Abschnitte befinden sich in der Planung; dies wird
aber in diesem Jahr abgeschlossen werden. Dann kann
auch in diesen Gebieten mit dem Bau begonnen werden.
Nun komme ich zu dem Antrag der PDS. Die PDS
– Frau Ostrowski hat es hier dargestellt – zweifelt all das
an, was da von der Bundesregierung und dem sächsi-
schen Freistaat bisher getan wurde. Man möchte einen
Baustopp erreichen, weil man der Meinung ist, daß mit
Überprüfung des Bundesverkehrswegeplanes auch eine
Überprüfung dieser Strecke erfolgen muß. Man möchte
zumindest erreichen, daß der Bau dieser Strecke aus
dem vordringlichen Bedarf herausgenommen wird.
Ich möchte noch eine Bemerkung machen zu den
Konflikten und dazu, wie sie bereinigt werden können.
Im dritten Bauabschnitt ist eine schwierige Situation
eingetreten; das gebe ich zu. Die Bundesregierung hatte
geplant, daß die gesamte Autobahn im Jahre 2005 be-
fahrbar und dem Verkehr übergeben ist. Die sächsische
Landesregierung möchte einen früheren Abschluß, und
zwar im Jahre 2003. Man hat überlegt: Wie kann man
das schaffen? So kam man auf die Privatfinanzierung.
Mit Hilfe des Betreibermodells soll eine Maut festgelegt
werden, um die Refinanzierung durchführen zu können.
Dafür hat man eine Kommission eingesetzt.
Für eine solche Privatfinanzierung ist die Zustim-
mung des betreffenden Landes, natürlich auch die der
Tschechischen Republik, notwendig. Aus diesem Grun-
de hat man eine Untersuchung eingeleitet, mit der fest-
gestellt werden soll: Ist das zwischen den beiden Staaten
überhaupt auszuhandeln? Da muß ich Sie korrigieren,
Frau Ostrowski: Die Ergebnisse liegen eben nicht vor.
Es sind zwei Gruppen aus Vertretern der Tschechischen
Republik und Deutschlands gebildet worden. Die sind
dabei, diese Dinge zu koordinieren. Wahrscheinlich
wird man zu dem Ergebnis kommen, daß dies nicht zu
machen ist, weil die tschechische Seite sehr große Be-
denken hinsichtlich der Maut hat. Aus diesem Grunde
wird es wahrscheinlich nicht zu einer Privatfinanzierung
kommen.
Falls die Finanzierung – das war Ihre Frage – nicht
privat erfolgen kann – die Finanzierung der ersten bei-
den Abschnitte ist bereits klar; der Bund übernimmt
sie –, will man eine Gruppe bilden, und zwar unter dem
Vorsitz von Minister Franz Müntefering und dem zu-
ständigen Minister des Freistaates Sachsen, Herrn Dr.
Schommer. Diese beiden werden, wenn dieses Projekt
an der privaten Finanzierung scheitert, eine andere
Möglichkeit suchen müssen, zum einen eine Beteiligung
des Bundes, zum anderen, da es sich um eine transeuro-
päische Verbindung handelt, eine Beteiligung mögli-
cherweise der EU. Mit dem Zusammenbruch der bei-
den großen Systeme hat sich die Dringlichkeit dieses
Projekts gegenüber der damaligen Sicht der DDR
stark erhöht. Die EU-Erweiterung ist natürlich ein we-
sentliches Argument, eine solche Autobahn zu bauen,
denn damit schaffen wir die Voraussetzung für eine gute
Verbindung zu den Staaten, die in die EU eintreten wer-
den.
Ich halte folgendes Ergebnis fest: Die Regierung des
Freistaats Sachsen hat sich mit klarer Mehrheit zu dieser
Autobahn bekannt, gleiches gilt natürlich für die CDU
und auch die SPD im Landtag. Es hat keine neuen Er-
kenntnisse gegeben. Man hält an den Zielen, die man
verfolgt hat, fest. Auch gibt es keine Schwierigkeiten
hinsichtlich des Vertrages mit der Tschechischen Repu-
blik. Daher sehen wir überhaupt keine Veranlassung, ei-
nen Baustopp herbeizuführen. Wir lehnen diesen Antrag
ab.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Peter Letzgus.
Sehr geehrte Frau Prä-sidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! FrauWieland Sorge
Metadaten/Kopzeile:
1136 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
Ostrowski, wenn die A 17 so schnell gebaut wird, wieSie geredet haben, dann ist sie bald fertig.Der Antrag 14/128 der PDS, der die sofortige Bau-unterbrechung an der Bundesautobahn A 17 fordert,entbehrt meiner Meinung nach nicht einer gewissen Pi-kanterie, eben weil er von der PDS gestellt wird. 40 Jah-re lang wurde die Infrastruktur in der DDR kaum ausge-baut, und die Straßen waren in einem erbärmlichen Zu-stand.
Die Autofahrer – das darf man hier vielleicht einmal sa-gen – bei uns witzelten zu jener Zeit, die DDR wolle einneues Verkehrsschild einführen: „100, 80, 60, 40, 20“.Das bedeutet: Auf den nächsten 100 Metern 80 Schlag-löcher, 60 cm breit, 40 cm lang und 20 cm tief.
– Damals haben wir auch darüber gelacht, aber so lustigwar es gar nicht.
– Das mache ich, das können Sie gerne haben.
Sie wissen,
hier wird jedes Wort protokolliert.
Diese Situation mit der
schlechten Infrastruktur besserte sich erst nach der Wie-
dervereinigung. Bis zum Jahre 1998 wurden insgesamt
25 Milliarden DM allein in den Auf- und Ausbau des
Straßennetzes der neuen Bundesländer investiert. Hier
gilt es – soviel Zeit muß sein –, der alten Bundesregie-
rung ein herzliches Dankeschön zu sagen, und die neue
muß aufgefordert werden, daran nahtlos anzuknüpfen.
Aber nach wie vor haben wir in den neuen Bundes-
ländern natürlich nicht zuviel, sondern zuwenig gut aus-
gebaute Straßen. Insofern ist der Antrag für mich auch
unverständlich, denn diese Autobahn, die A 17, hat re-
gional-nationale und auch internationale Bedeutung.
Jetzt müßte ich zu den Fakten kommen, aber sie sind
vom Kollegen Sorge eigentlich alle schon in aller Aus-
führlichkeit genannt worden: 1,3 Milliarden DM Inve-
stitionen sichern 12 000 Arbeitsplätze, schaffen über
3 000 Arbeitsplätze als Sekundäreffekt. Die Menschen
begrüßen diese Autobahn, speziell die Einwohner Dres-
dens. Dresden wird vom Durchgangsverkehr entlastet.
70 Prozent haben sich bei einer Bürgerbefragung für den
Bau der A 17 ausgesprochen. Es ist etwas zu der inter-
nationalen Bedeutung gesagt worden sowie zu der aus-
stehenden und noch nicht ganz gesicherten Finanzie-
rung.
Herr Kollege,
darf ich Sie einen Moment unterbrechen? – Der Kollege
Brähmig möchte eine Zwischenfrage stellen.
Bitte.
Herr Kollege Letzgus,
Sie sprachen von der Infrastruktur in der ehemaligen
DDR. Ich habe an Sie die Frage, ob Sie mit mir überein-
stimmen, daß der hier vorliegende PDS-Antrag ein In-
frastrukturverhinderungs- und ein Arbeitsplatzvernich-
tungsantrag ist?
Das kann ich voll und
ganz unterstreichen. Das sehe ich genauso.
Zur ausstehenden Finanzierung hat der Kollege Sorge
auch etwas gesagt; hier sollte man durchaus an die deut-
sche EU-Ratspräsidentschaft erinnern. In der EU wird
ein Finanzvolumen von insgesamt 5,5 Milliarden Euro
für transeuropäische Straßen bereitgestellt. Die A 17 ist
eine transeuropäische Straße. Sie ist seit Oktober im
Bau, der Bau muß zügig vollendet werden. Aus diesem
Grunde – Frau Präsidentin, ich möchte belobigt werden,
weil ich meine Redezeit nicht ausschöpfe – lehnen wir
den Antrag der PDS ab.
Das mache ichpostwendend, zumal Sie nicht nur eine Minute gesparthaben, sondern zwei.Als nächster hat der Abgeordnete Albert Schmidt dasWort.Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Frau Ostrowski, ich habe mit großer Auf-merksamkeit zugehört, wie Sie mit bewegenden Wortendie schädlichen Auswirkungen des Autobahnbaus ge-schildert haben. Dabei habe ich mir gewünscht, daß IhreGenossinnen und Genossen in Mecklenburg-Vorpommern in Sachen A 17 zuhören könnten, damitsie wüßten, wie sehr Sie für einen Stopp von Autobahn-projekten eintreten.
Sie könnten von Ihnen bestimmt eine Menge lernen.
Aber Spaß beiseite. Die Geschichte der A 17-Planungist geradezu beispielhaft für den mangelnden Realismusin Sachen Verkehrsplanung früherer Bundesregierungen.Ursprünglich wurden Kosten von 625 Millionen DMangesetzt. Aber schon nach wenigen Jahren stellte sichheraus, daß die Kosten auf mindestens 1,35 MilliardenDM explodieren würden. Schon früh stellte sich damitdie Frage nach der Finanzierbarkeit, – diese beidenPunkte wurden in der Debatte schon angesprochen –nach einer möglichen Privatfinanzierung, zumindest vonPeter Letzgus
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1137
(C)
(D)
Teilen dieses Projektes, sowie nach einer Finanzierungdurch Mittel für transeuropäische Netze, also aus Mit-teln des Regionalfonds der EU.Die hier anwesende Kollegin Antje Hermenau hatdeshalb schon im September 1995 die damalige Bundes-regierung gefragt, wie es mit der Finanzierung stehe.Ich will Ihnen die Antwort der alten Bundesregierungnicht vorenthalten, die in der Bundestagsdrucksache13/2265 steht. Dort heißt es wörtlich:Eine Finanzierung der A 17 Dresden–Prag über ei-ne private Vorfinanzierung scheidet somit aus.Eine private Finanzierung von Bundesfernstraßenim Rahmen eines Betreibermodells ist nach demFernstraßenbauprivatfinanzierungsgesetz nur fürBrücken, Tunnel und Gebirgspässe ... möglich. Ei-ne Privatfinanzierung der A 17 ... nach dem Betrei-bermodell scheidet daher ebenfalls aus; entspre-chende Überlegungen sind der Bundesregierungauch nicht bekannt.Das heißt im Klartext: Die alte Bundesregierung hatzunächst die Privatfinanzierung unter Bezugnahme aufdie Gesetzeslage kategorisch abgelehnt. Sodann ist dieFrage wieder aufgewärmt worden, ist eine Machbar-keitsstudie in Auftrag gegeben worden – das Ergebnisliegt zwar noch nicht vor, Kollege Sorge hat aber ange-deutet, wie es lauten wird –, in der es heißen wird, daßauf tschechischer Seite die Bedenken so groß sind, daßvermutlich eine private Finanzierung summa summarumausscheidet.Bleiben die Hoffnungen auf die Mittel von Brüssel.Auch dazu hat die Bundesregierung damals ausgeführt:Die geplante Autobahn Dresden–Prag ist im deut-schen Abschnitt Bestandteil der ... „Leitlinien fürden Ausbau eines Transeuropäischen Verkehrsnet-zes“. Verkehrsinfrastrukturvorhaben ... können ...– zumindest theoretisch –auch aus Mitteln der Europäischen Fonds für regio-nale Entwicklung im Rahmen der EU-Strukturfonds gefördert werden. Die Bundesregie-rung hat sich jedoch mit den Ländern und derKommission bei der Abstimmung über das gemein-schaftliche Förderkonzept darauf verständigt, imZeitraum von 1994 bis 1999 diese Mittel aus-schließlich zur Förderung wirtschaftsnaher Infra-struktur einzusetzen.Auf deutsch gesagt: Nein.Nun stehen wir vor der Situation, über eine Autobahnzu diskutieren, deren Finanzierung in keiner Weise gesi-chert ist. Obwohl das so war, hat am 17. April 1998 diealte Bundesregierung – Wissmann zusammen mit KajoSchommer – ein Finanzierungskonzept unterschrieben,in dem ausdrücklich vorgesehen ist, daß der Ausbau desdritten Abschnitts privat und durch Mittel aus dem euro-päischen Fonds für die transeuropäischen Netze finan-ziert werden soll. Es geht um mehr als 360 MillionenDM. Dies ist ein Luftgebilde, ein Wolkenschloß. Es istüberhaupt nicht gegenfinanziert. Es ist eine Unterdek-kung. Der Wahlkampf ließ natürlich grüßen. Es istnichts weiter als eine leere Versprechung.Nun sind wir die Erben dieser Versprechungen undall dieser Spatenstiche. Wir müssen schauen, wie wirdamit umgehen. Es gibt drei offene Fragen. Ich muß sieeinfach noch einmal ansprechen. Die erste ist die ent-scheidende. Das ist schlicht die Frage der Bezahlbarkeit.Die zweite Frage ist offen: Wird die Tschechische Re-publik diese Autobahn auf der anderen Seite der Grenzeüberhaupt abnehmen? Das ist nicht geklärt. Drittens sindim übrigen auf Grund von zwei Klagen noch Verwal-tungsgerichtsverfahren anhängig, so daß das Risiko,jetzt Investitionsruinen zu produzieren, sehr hoch ist.Was also tun? – Wie Sie wissen, gibt es einen Koali-tionsvertrag zwischen dem Bündnis 90, dem kleinerenund grünen Partner, und der SPD. Dort haben wir ge-meinsam vereinbart – dazu stehe ich ohne Wenn undAber –, daß es Investitionsruinen nicht geben wird unddaß infolgedessen Maßnahmen, die bereits baulich um-gesetzt werden, auch bestehen bleiben. Die Maßnahme,von der hier die Rede ist, betrifft die ersten 3,5 Kilome-ter, den ersten Bauabschnitt, der in sich verkehrsfähigist, weil er nämlich als eine Art Ortsumgehung für Dres-den fungieren könnte. Damit ist aus unserer Sicht keineVorentscheidung über die Abschnitte zwei und drei, alsoüber den Weiterbau der restlichen 45 Kilometer bis zurGrenze getroffen worden.Die Kostenentwicklung, die ich vorhin skizziert habe– die 1,35 Milliarden DM waren schon der Kostenstand1995; jetzt schreiben wir aber 1999 –, zeigt, wie bitternotwendig es ist, nicht nur an dieser Stelle und nicht nurbei diesem Projekt, sondern bei den gesamten Straßen-bauprojekten in dieser Republik – so wie es im Koaliti-onsvertrag verabredet ist – Kostenentwicklung, Ver-kehrsprognosen, Verkehrsentwicklung, Bezahlbarkeitund aktuelles Umweltrecht genau zu prüfen. Erst danachkann eine abschließende Entscheidung getroffen wer-den. Ich hoffe, ich habe mich für alle Beteiligten klargenug ausgedrückt.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Karlheinz Guttmacher.
Frau Präsiden-tin! Meine Damen und Herren! Die PDS war gegen denAusbau der A 71, gegen den Ausbau der A 73. Sie istgegen den Bau des Transrapid. Heute bekommen wir ei-nen Antrag vorgelegt, in dem ein Baustopp für die A 17gefordert wird.Die A 17 ist im vordringlichen Bedarf des ersten ge-samtdeutschen Bundesverkehrswegeplans aufgenommenworden. Sie ist Bestandteil der bilateralen Planungen mitder Tschechischen Republik im Zuge der Verbindungder A 17 mit der E 55 von Berlin nach Prag. Die A 17wird auch in die Gespräche des Verkehrsministerrateszur Ermittlung des Infrastrukturbedarfs im Zuge derAlbert Schmidt
Metadaten/Kopzeile:
1138 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
Vorbereitung der EU-Erweiterung einbezogen werden.Sie schließt den Wirtschaftsraum Dresden an die großenNord-Süd-Verkehrsströme zwischen baltischem Raumund Balkan an. Eine Autobahn nach Südosteuropa zubauen war in Deutschland bereits Anfang der 30er Jahregeplant. Wir freuen uns darüber, daß nach der Wende1989 die Planungen für die A 17 scharfe Konturen an-genommen haben.Die Autobahn Dresden–Prag soll nach der A 4 in Hö-he Kesseldorf in Richtung Heidenau–Pirna und von dortin Richtung Prag verlaufen und zwei wichtige Funktio-nen übernehmen: Zum einen soll sie die Verbindung zurTschechischen Republik herstellen. Zum anderen soll siedie Umgehung von Dresden gewährleisten, indem sieden Fernverkehr aufnimmt und hilft, Stadtdurchfahrtenaus dem oberen Elbetal wie Pirna–Heidenau zu vermei-den.Die an Dresden vorbeiführende Autobahn führt zurEntlastung des innerstädtischen Verkehrs. Dabei gehtes insbesondere um folgende drei Verkehrsströme: er-stens um die Aufnahme des Fernverkehrs, insbesonderedes Lkw-Verkehrs, der bislang mit einem Anteil von biszu 2 300 Tonnen an Gefahrengütern pro Tag durchDresden rollt. Hinzu kommt eine beträchtliche Zahl vonPkws, so daß künftig insgesamt 8 000 Kfz pro Tag dieStadt umfahren werden. Zweitens geht es um die Verla-gerung des Verkehrs, der bisher von der oder zur A 4,A 13 und A 14 durch dichtbesiedeltes Stadtgebiet rollt.Allein dieser Verkehr macht mit 50 000 Kraftfahrzeugenpro Tag den wesentlichen Teil der gesamten Autobahn-auslastung aus. Drittens geht es um die Vermeidung derStadtdurchfahrt von Fahrzeugen aus dem oberen Elbetalwie Heidenau, Pirna und den Seitentälern. Mit 14 000Kraftfahrzeugen pro Tag entspricht dies einem Anteilvon zirka 19 Prozent der Belastung der A 17.
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ali
Schmidt?
Bitte.
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Danke, Herr Kollege; ich mache es auch
kurz. Ich komme nur darauf, weil Sie eben von den
Entlastungseffekten durch Innenstadtumfahrungen ge-
sprochen haben. Ist Ihnen bewußt, daß eine der Grund-
lagen für das zwischen Wissmann und Schommer ver-
einbarte Konzept zur Finanzierung dieser Transitauto-
bahn ist, daß dann für Ortsumfahrungen in Sachsen ins-
gesamt nur noch maximal 80 Millionen DM zur Verfü-
gung stehen werden, daß also durch diese Deckelung,
die letztlich durch die Finanzierung einer Transitver-
kehrsstrecke ausgelöst wird, die Entlastung durch
Ortsumfahrungen für zahllose andere Städte begrenzt
wird?
Durch die Füh-
rung der Autobahn an der Peripherie von Dresden wird
der größte Teil der Stadtumfahrt erfaßt. Insofern ist der
Rest aus der Finanzierung, den Sie angesprochen haben,
für zusätzliche Ortsumgehungen sicherlich ausreichend.
Meine Damen und Herren, die Länge der Autobahn
zwischen Dresden und der tschechischen Grenze beträgt
50 km. Die Baukosten sollten ursprünglich – das ist kor-
rekt – 625 Millionen DM betragen. Herr Sorge hat dar-
auf hingewiesen, daß sie nun auf 1,3 Milliarden DM
veranschlagt worden sind.
Im November 1998 wurde zur Beurteilung der Ren-
tabilität der Strecke von der A 17 bei Pirna bis zur D 8
bei Kninice die grenzüberschreitende Studie „Privati-
sierung als Betreibermodell“ durch das Land Sachsen
in Auftrag gegeben. Es ist sicherlich richtig, daß man
diese Studie in die Bewertung der anstehenden Finanzie-
rungsmodelle einbezieht. Da aber die A 17 in den vor-
dringlichen Bedarf des Bundesverkehrswegeplanes auf-
genommen ist, stehen der Bund und gleichermaßen das
Land in der Pflicht zur Finanzierung dieser Autobahn.
Da es eine transeuropäische Autobahn sein wird, steht
auch eine europäische Mitfinanzierung an.
Die F.D.P. lehnt die Forderung der PDS nach einem
sofortigen Baustopp ab. Die Autobahn A 17 ist nicht nur
für Dresden und seine Anbindung, seine Arbeitsplätze
und seine Erschließung von großer Bedeutung, sondern
auch für die Bewältigung des zusätzlichen Infrastruktur-
bedarfs im Zuge des EU-Beitritts der Tschechischen Re-
publik unerläßlich. Die Streckenführung der A 17 ist
nicht isoliert, sondern als Bestandteil einer großen trans-
europäischen Verbindung, besonders im Interesse ver-
besserter Handelsbeziehungen zu Südosteuropa, zu se-
hen.
Im Namen all jener, die nachteilig betroffen wären,
würde die Autobahn A 17 nicht gebaut werden, lehnt die
F.D.P. den Antrag der PDS ab.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Arnold Vaatz.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Frau Ostrowski – Frau Hermenauist leider schon gegangen –, ich habe mich während desWahlkampfes schon sehr gewundert, wie still Sie inDresden zu dem Thema Autobahn waren, sobald einpaar mehr Leute zugeguckt haben oder sobald wir ausvon Ihnen vielleicht personell streng überschaubarenKreisen herausgegangen sind. Jetzt bin ich platt, daß essofort nach dem Wahlkampf wieder auf Ihre Agendakommt.Ich möchte als erstes sagen: Die Verbindung zwi-schen Dresden und Prag hat eine uralte Tradition. WederDresden noch Prag, noch Leipzig sähen heute so aus,wie sie aussehen, wenn es nicht diese gegenseitige Be-einflussung durch die Verkehrswege über viele Jahrhun-derte gegeben hätte.
Dr. Karlheinz Guttmacher
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999 1139
(C)
(D)
In den letzten 500 Jahren waren diese Verkehrswegeimmer auf dem Stand der jeweiligen Technik, nur in denletzten 50 Jahren nicht.
Nun will die PDS, daß das so bleibt. Ich bin Ihnen bei-nahe dankbar, daß Sie so Ihr Gesicht zeigen.Die Argumente, die Sie in Ihrem Antrag aufführen,sind so hanebüchen, daß ich nicht glauben kann, daß Siesie wirklich ernst meinen. Einerseits sagen Sie, das Nut-zen-Kosten-Verhältnis gebe Anlaß zu einer neuenÜberprüfung. Erst lag es bei 4,6, jetzt ist es bei 2,3 – al-so noch immer größer als 1; der Nutzen beträgt nochimmer das Zweieinhalbfache der Kosten.
Herr Kollege,
gestatten Sie Zwischenfragen? Es sind sogar zwei, die
eine Zwischenfrage stellen wollen.
Ja, dem Kollegen
Brähmig gestatte ich eine Zwischenfrage.
Herr Kollege Vaatz,
ist Ihnen bekannt, daß die Bevölkerung und vor allem
die Wirtschaft nicht nur in Dresden, sondern auch im
Umland, insbesondere in der Sächsischen Schweiz, den
Spatenstich im August des vergangenen Jahres durch
Verkehrsminister Matthias Wissmann und den sächsi-
schen Staatsminister Dr. Kajo Schommer sehnsüchtig
erwartet haben und genauso sehnsüchtig von den Abge-
ordneten des Deutschen Bundestages und den Verwal-
tungen in Bonn und in Dresden die konsequente und zü-
gige Umsetzung dieser Baumaßnahme von Dresden bis
zur böhmischen Grenze erwarten?
Herr Brähmig, die Men-
schen in der Sächsischen Schweiz sind diejenigen, die
mit am meisten durch die ignorante und katastrophale
Verkehrspolitik der DDR geschädigt worden sind. Sie
haben das über viele Jahre hinweg ertragen müssen, und
sie sehnen sich danach, endlich die Bewegungsfreiheit
zu haben, die sie haben könnten, wenn es diesen Staat
nicht gegeben hätte.
Gestatten Sie
auch eine Zwischenfrage der Kollegin Ostrowski?
Nein.
Das nächste Argument lautet, der Ablenkungseffekt
durch eine eventuelle Maut werde die Verkehrsfrequenz
bedeutend senken. Dieses Argument wird wider besseres
Wissen vorgebracht; denn inzwischen ist es längst be-
kannt, daß sich die sächsische Regierung entschlossen
hat, von diesem Vorhaben abzugehen.
Das eigentlich Interessante ist, welche Gründe es
denn eigentlich sind, die zu diesem Antrag führen. Es ist
vorhin schon einmal gesagt worden: Die PDS hat sich
gegen alle derartigen Vorhaben gewendet.
Die PDS hat im übrigen diese Autobahn schon abge-
lehnt, als die Argumente, die sie heute vorbringt, über-
haupt noch nicht bekannt waren.
Das Problem ist: Die PDS möchte offenbar, daß
möglichst vieles auf dem Stand bleibt, auf dem sie uns
diesen Staat übergeben hat. Das ist Ihr Ziel.
Deshalb streuen Sie überall, wo es geht, Sand in die In-
frastrukturentwicklung. Sie wollen den Menschen, die
durch den Durchfahrtsverkehr malträtiert werden, immer
mehr zumuten, in der Hoffnung, daß sie über die neue
Zeit traurig werden, schimpfen und verärgert sind.
Vielleicht wollen Sie sogar, daß die Leute in Ost-
deutschland nicht allzuoft nach Tschechien kommen,
damit sie nicht daran erinnert werden, wie es früher in
der DDR ausgesehen hat. Das ist vielleicht der Grund.
Deshalb setzen Sie sich auch über ein Plebiszit hinweg,
das in der Stadt Dresden eine 70prozentige Zustimmung
für diese Autobahn ergeben hat.
Ich kann aber auch die Bundesregierung nicht ganz
ohne kritische Anmerkung davonkommen lassen. Es
fehlen 250 Millionen DM. Das haben wir vorhin schon
einmal festgestellt.
Das Geld wäre da; denn durch das Programm „Trans-
europäische Netze“ der Europäischen Union steht es
zur Verfügung. Bedingung ist nur, daß man es rechtzei-
tig anmeldet. Der Termin dafür war der 30. November
1998. Es ist kein Versäumnis der alten Regierung, diese
Summe zu bestellen; vielmehr ist es ein Versäumnis der
neuen Regierung.
Vielen Dank.
Frau KolleginOstrowski, es ist das Recht von Rednern, Zwischenfra-gen zuzulassen oder nicht. Man kann Fragen auch durchStehen nicht erzwingen. Auch eine persönliche Erklä-rung können Sie jetzt nicht abgeben. Das tut mir sehrleid.
Arnold Vaatz
Metadaten/Kopzeile:
1140 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 16. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1999
(C)
Außerdem muß ich dem Abgeordneten Arnold Vaatzzu seiner ersten Rede in diesem Haus gratulieren.
Damit schließe ich die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 14/128 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tages-ordnung.Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-destages auf morgen, Freitag, den 22. Januar 1999,9 Uhr ein.Die Sitzung ist geschlossen.