Protokoll:
18210

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 18

  • date_rangeSitzungsnummer: 210

  • date_rangeDatum: 16. Dezember 2016

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:02 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 16:14 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 18/210 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 210. Sitzung Berlin, Freitag, den 16. Dezember 2016 Inhalt: Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- neten Dr. Ute Finckh-Krämer . . . . . . . . . . . 21047 A Tagesordnungspunkt 27: a) Unterrichtung durch die Bundesregie- rung: Bericht der Bundesregierung zur Ernährungspolitik, Lebensmittel- und Pro- duktsicherheit – Gesunde Ernährung, si- chere Produkte: (Ernährungspolitischer Bericht 2016) Drucksache 18/8650 . . . . . . . . . . . . . . . . . 21047 B b) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Verlässliche Rahmenbedingungen für vegane und vegetarische Lebensmit- telangebote – Klarheit und Wahrheit für Hersteller und Verbraucher Drucksache 18/10633 . . . . . . . . . . . . . . . . 21047 B c) Antrag der Abgeordneten Karin Binder, Caren Lay, Dr . Dietmar Bartsch, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Informationsrechte der Ver- braucherinnen und Verbraucher stär- ken – Hygiene-Smiley für Lebensmittel- betriebe bundesweit ermöglichen Drucksache 18/4214 . . . . . . . . . . . . . . . . . 21047 C d) Antrag der Abgeordneten Nicole Maisch, Harald Ebner, Renate Künast, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Rechtssicherheit und Transparenz bei Lebensmittelkon- trollen endlich herstellen Drucksache 18/9558 . . . . . . . . . . . . . . . . . 21047 D e) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung und Land- wirtschaft zu dem Antrag der Abgeordne- ten Nicole Maisch, Friedrich Ostendorff, Harald Ebner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Mehr Transparenz bei vegetari- schen und veganen Produkten schaffen Drucksachen 18/9057, 18/9880 . . . . . . . . . 21047 D Christian Schmidt, Bundesminister BMEL . . . 21048 A Karin Binder (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 21050 A Elvira Drobinski-Weiß (SPD) . . . . . . . . . . . . . 21051 C Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21052 B Katharina Landgraf (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 21053 D Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21055 A Ursula Schulte (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21056 A Alois Rainer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 21057 A Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21058 A Jeannine Pflugradt (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 21058 C Ingrid Pahlmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 21059 C Dr . Karin Thissen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 21060 D Tagesordnungspunkt 28: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe – zu dem EU-Jahresbericht 2015 über Menschenrechte und Demokratie in der Welt – Thematischer Teil – Rats- dok. 10255/16 – zu dem EU-Jahresbericht über Men- schenrechte und Demokratie in der Welt Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 2016II im Jahr 2015 – Länder- und regionenspe- zifische Themen – Ratsdok. 12299/16 Drucksachen 18/10116 Nr . A .28 und Nr . A .29, 18/10669 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21062 A in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 8: Unterrichtung durch das Deutsche Institut für Menschenrechte: Bericht über die Ent- wicklung der Menschenrechtssituation in Deutschland – (Berichtszeitraum Januar 2015 bis Juli 2016) Drucksache 18/10615 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21062 A in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 9: Unterrichtung durch das Deutsche Institut für Menschenrechte: Jahresbericht 2015 Drucksache 18/10616 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21062 B Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21062 C Inge Höger (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 21063 C Frank Heinrich (Chemnitz) (CDU/CSU) . . . . 21065 A Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21066 D Angelika Glöckner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 21068 A Dr . Bernd Fabritius (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 21069 B Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21070 A Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21071 D Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21073 A Dr . Bernd Fabritius (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 21073 C Gabriela Heinrich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 21074 A Dr . Bernd Fabritius (CDU/CSU) . . . . . . . . . 21074 B Sylvia Pantel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 21075 C Tagesordnungspunkt 29: a) Antrag der Abgeordneten Matthias Gastel, Oliver Krischer, Dr . Valerie Wilms, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Die Bahnpolitik auf das richtige Gleis setzen Drucksache 18/10383 . . . . . . . . . . . . . . . . 21076 D b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr und digitale In- frastruktur zu dem Antrag der Abgeordne- ten Sabine Leidig, Herbert Behrens, Caren Lay, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion DIE LINKE: Den Aufsichtsrat der Deutschen Bahn AG neu und verant- wortungsvoll besetzen Drucksachen 18/592, 18/1845 . . . . . . . . . . 21077 A c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr und digitale In- frastruktur zu dem Antrag der Abgeordne- ten Sabine Leidig, Herbert Behrens, Caren Lay, weiterer Abgeordneter der Fraktion DIE LINKE: Gewährleistung des Schie- nenpersonenfernverkehrs Drucksachen 18/4186, 18/5246 . . . . . . . . . 21077 A d) Beschlussempfehlung und Bericht des Fi- nanzausschusses zu dem Antrag der Abge- ordneten Sabine Leidig, Herbert Behrens, Caren Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Mehrwertsteuer- reduktion im Schienenpersonenfernver- kehr Drucksachen 18/3746, 18/6599 . . . . . . . . . 21077 B Dr . Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21077 B Enak Ferlemann, Parl . Staatssekretär BMVI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21078 A Sabine Leidig (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 21079 D Sören Bartol (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21081 C Sabine Leidig (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 21082 B Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU) . . . . . . . 21083 D Matthias Gastel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21085 A Kirsten Lühmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 21085 C Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 21086 C Tagesordnungspunkt 30: Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Kultur baut Brücken – Der Beitrag von Kulturpolitik zur Integration Drucksache 18/10634 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21087 D Ute Bertram (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 21087 D Harald Petzold (Havelland) (DIE LINKE) . . . 21089 C Burkhard Blienert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 21090 C Ulle Schauws (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21091 C Dr . Volker Ullrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 21092 D Josip Juratovic (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21093 C Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 2016 III Tagesordnungspunkt 31: Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Starke Forschung und Innovation für Europas Zukunft Drucksache 18/10635 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21094 C Thomas Rachel, Parl . Staatssekretär BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21094 D Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 21096 B René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21097 C Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21098 D Dr . Stefan Kaufmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . 21099 D Elfi Scho-Antwerpes (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 21101 D Tagesordnungspunkt 32: Beschlussempfehlung und Bericht des Innen- ausschusses – zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sevim Dağdelen, Frank Tempel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Abschiebestopp und Schutz für Flüchtlinge aus Afghanistan – zu dem Antrag der Abgeordneten Luise Amtsberg, Omid Nouripour, Tom Koenigs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Schutz für Flüchtlinge aus Afghanistan Drucksachen 18/6869, 18/6774, 18/7974 . . . . 21103 A Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . 21103 A Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 21104 D Dr . Lars Castellucci (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 21105 D Luise Amtsberg (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21108 C Thorsten Frei (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 21109 D Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21111 B Zusatztagesordnungspunkt 10: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Haltung der Bundesregierung zum CDU-Parteitagsbe- schluss zur Wiedereinführung des Options- zwangs Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21113 B Dr . Peter Tauber (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 21114 C Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 21116 B Dr . Katarina Barley (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 21117 C Dr . Stephan Harbarth (CDU/CSU) . . . . . . . . . 21119 A Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 21120 B Josip Juratovic (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21121 B Dr . Günter Krings, Parl . Staatssekretär BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21122 C Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21125 A Sebastian Hartmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 21126 B Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . 21127 D Helmut Brandt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 21129 B Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Erklärung nach § 30 GO) 21131 A Dr . Stephan Harbarth (CDU/CSU) (Erklärung nach § 30 GO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21131 B Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Erklärung nach § 30 GO) . . . . . . . . . . . . . . 21131 C Helmut Brandt (CDU/CSU) (Erklärung nach § 30 GO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21131 D Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21132 C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . . 21133 A Anlage 2 Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21133 D (A) (C) (B) (D) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 2016 21047 210. Sitzung Berlin, Freitag, den 16. Dezember 2016 Beginn: 9 .02 Uhr
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    Helmut Brandt (A) (C) (B) (D) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 2016 21133 Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Beckmeyer, Uwe SPD 16 .12 .2016 Brugger, Agnieszka BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 16 .12 .2016 Bülow, Marco SPD 16 .12 .2016 Connemann, Gitta CDU/CSU 16 .12 .2016 Deligöz, Ekin BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 16 .12 .2016 Ernstberger, Petra SPD 16 .12 .2016 Freitag, Dagmar SPD 16 .12 .2016 Freudenstein, Dr . Astrid CDU/CSU 16 .12 .2016 Gunkel, Wolfgang SPD 16 .12 .2016 Hardt, Jürgen CDU/CSU 16 .12 .2016 Heck, Dr . Stefan CDU/CSU 16 .12 .2016 Höschel, Dr . Mathias Edwin CDU/CSU) 16 .12 .2016 Hupach, Sigrid DIE LINKE 16 .12 .2016 Ilgen, Matthias SPD 16 .12 .2016 Janecek, Dieter BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 16 .12 .2016 Jung, Xaver CDU/CSU 16 .12 .2016 Kekeritz, Uwe BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 16 .12 .2016 Lerchenfeld, Philipp Graf CDU/CSU 16 .12 .2016 Leyen, Dr . Ursula von der CDU/CSU 16 .12 .2016 Lietz, Matthias CDU/CSU 16 .12 .2016 Malecha-Nissen, Dr . Birgit SPD 16 .12 .2016 Mortler, Marlene CDU/CSU 16 .12 .2016 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Ripsam, Iris CDU/CSU 16 .12 .2016 Scheer, Dr . Nina SPD 16 .12 .2016 Schlecht, Michael DIE LINKE 16 .12 .2016 Schwarz, Andreas SPD 16 .12 .2016 Stein, Peter CDU/CSU 16 .12 .2016 Steinbach, Erika CDU/CSU 16 .12 .2016 Strebl, Matthäus CDU/CSU 16 .12 .2016 Uhl, Dr . Hans-Peter CDU/CSU 16 .12 .2016 Vries, Kees de CDU/CSU 16 .12 .2016 Walter-Rosenheimer, Beate BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 16 .12 .2016 Weber, Gabi SPD 16 .12 .2016 Weinberg, Harald DIE LINKE 16 .12 .2016 Zeulner, Emmi * CDU/CSU 16 .12 .2016 *aufgrund gesetzlichen Mutterschutzes Anlage 2 Amtliche Mitteilungen ohne Verlesung Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat mitge- teilt, dass sie den Antrag Den Umgang mit Nährstoffen an die Umwelt anpassen auf Drucksache 18/1338 zu- rückzieht . Die folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass sie gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen absehen: Finanzausschuss – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht über die Höhe des steuerfrei zu stellenden Existenzminimums von Erwachsenen und Kindern für das Jahr 2018 (11. Existenzminimumbericht) Drucksachen 18/10220, 18/10444 Nr. 1.2 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 201621134 (A) (C) (B) (D) – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht über die Wirkung der kalten Progression im Verlauf des Einkommensteuertarifs für die Jahre 2016 bis 2017 (Zweiter Steuerprogressionsbericht) Drucksachen 18/10221, 18/10444 Nr. 1.3 Ausschuss für Wirtschaft und Energie – Unterrichtung durch die Bundesregierung Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2016 Drucksache 18/9700 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über ihre Exportpo- litik für konventionelle Rüstungsgüter im ersten Halbjahr 2016 Drucksachen 18/10150, 18/10307 Nr. 8 Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – Unterrichtung durch die Bundesregierung Erster Bericht der Bundesregierung über die Aus- wirkungen des Conterganstiftungsgesetzes sowie über die gegebenenfalls notwendige Weiterent- wicklung dieser Vorschriften Drucksache 18/8780 Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Uni- onsdokumente zur Kenntnis genommen oder von einer Beratung abgesehen hat . Auswärtiger Ausschuss Drucksache 18/10449 Nr . A .1 EuB-BReg 63/2016 Drucksache 18/10449 Nr . A .2 EuB-BReg 65/2016 Drucksache 18/10449 Nr . A .3 EuB-BReg 66/2016 Drucksache 18/10555 Nr . A .1 EuB-BReg 68/2016 Innenausschuss Drucksache 18/642 Nr . C .4 Ratsdokument 6928/13 Drucksache 18/642 Nr . C .5 Ratsdokument 6930/13 Drucksache 18/642 Nr . C .6 Ratsdokument 6931/13 Drucksache 18/5982 Nr . A .7 Ratsdokument 10314/15 Drucksache 18/8140 Nr . A .4 Ratsdokument 6847/16 Drucksache 18/8470 Nr . A .4 Ratsdokument 7665/16 Drucksache 18/8470 Nr . A .11 Ratsdokument 7772/16 Drucksache 18/8470 Nr . A .12 Ratsdokument 7773/16 Drucksache 18/8470 Nr . A .13 Ratsdokument 7889/16 Drucksache 18/8470 Nr . A .14 Ratsdokument 8097/16 Drucksache 18/8668 Nr . A .6 Ratsdokument 7644/16 Drucksache 18/8668 Nr . A .7 Ratsdokument 7675/16 Drucksache 18/8668 Nr . A .8 Ratsdokument 7676/16 Drucksache 18/8936 Nr . A .1 KOM(2016)271 endg . Drucksache 18/8936 Nr . A .2 KOM(2016)272 endg . Drucksache 18/8936 Nr . A .5 Ratsdokument 8715/16 Drucksache 18/8936 Nr . A .8 Ratsdokument 8857/16 Drucksache 18/8936 Nr . A .10 Ratsdokument 9149/16 Drucksache 18/8936 Nr . A .11 Ratsdokument 9175/16 Drucksache 18/9141 Nr . A .4 Ratsdokument 10014/16 Drucksache 18/9605 Nr . A .6 Ratsdokument 10012/16 Drucksache 18/9605 Nr . A .7 Ratsdokument 10022/16 Drucksache 18/9605 Nr . A .8 Ratsdokument 10216/16 Drucksache 18/9605 Nr . A .9 Ratsdokument 10423/16 Drucksache 18/9605 Nr . A .12 Ratsdokument 10954/16 Drucksache 18/9605 Nr . A .14 Ratsdokument 11013/16 Drucksache 18/9605 Nr . A .23 Ratsdokument 11541/16 Drucksache 18/10116 Nr . A .7 Ratsdokument 12307/16 Finanzausschuss Drucksache 18/10311 Nr . A .10 Ratsdokument 12773/16 Ausschuss für Wirtschaft und Energie Drucksache 18/7422 Nr . A .18 Ratsdokument 14342/15 Drucksache 18/7934 Nr . A .15 Ratsdokument 6224/16 Drucksache 18/9605 Nr . A .49 EP P8_TA-PROV(2016)0293 Drucksache 18/10311 Nr . A .15 Ratsdokument 12252/16 Drucksache 18/10311 Nr . A .16 Ratsdokument 12257/16 Drucksache 18/10311 Nr . A .17 Ratsdokument 12785/16 Drucksache 18/10449 Nr . A .15 Ratsdokument 13758/16 Drucksache 18/10449 Nr . A .16 Ratsdokument 14249/16 Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Drucksache 18/10311 Nr . A .18 EP P8_TA-PROV(2016)0384 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 2016 21135 (A) (C) (B) (D) Drucksache 18/10311 Nr . A .19 EP P8_TA-PROV(2016)0386 Drucksache 18/10311 Nr . A .20 EP P8_TA-PROV(2016)0387 Drucksache 18/10311 Nr . A .21 EP P8_TA-PROV(2016)0388 Drucksache 18/10311 Nr . A .22 EP P8_TA-PROV(2016)0389 Drucksache 18/10311 Nr . A .23 EP P8_TA-PROV(2016)0390 Drucksache 18/10449 Nr . A .17 Ratsdokument 13797/16 Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- schätzung Drucksache 18/9881 Nr . A .3 Ratsdokument 11901/16 Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de 210. Sitzung Inhaltsverzeichnis TOP 27 Ernährungspolitischer Bericht 2016 TOP 28, ZP 8, 9 Berichte über Menschenrechte und Demokratie TOP 29 Bahnpolitik TOP 30 Integrationsförderung durch Kulturpolitik TOP 31 Forschung und Innovation für Europas Zukunft TOP 32 Schutz für Flüchtlinge aus Afghanistan ZP 10 Aktuelle Stunde zum CDU-Parteitagsbeschluss zum Optionszwang Anlagen Anlage 1 Anlage 2
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1821000000

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich zur voraussichtlich letzten Ple-
narsitzung im zu Ende gehenden Jahr .

Wir sind heute nicht nur, aber auch deswegen zu einer
Plenarsitzung zusammengekommen, um der Kollegin
Ute Finckh-Krämer zu ihrem heutigen 60 . Geburtstag
zu gratulieren .


(Beifall)


Dies ist das erste Highlight der letzten Plenarsitzung des
laufenden Jahres . Alle guten Wünsche für das neue Le-
bensjahr!

Änderungen der Tagesordnung gibt es nicht mehr –
erstaunlicherweise . Das lässt auf einen geordneten Ab-
schluss unserer Verhandlungen hoffen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a bis 27 e auf:

a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung

Bericht der Bundesregierung zur Ernährungs-
politik, Lebensmittel- und Produktsicher-
heit – Gesunde Ernährung, sichere Produkte


(Ernährungspolitischer Bericht 2016)


Drucksache 18/8650
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit

b) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD

Verlässliche Rahmenbedingungen für vega-
ne und vegetarische Lebensmittelangebote –
Klarheit und Wahrheit für Hersteller und
Verbraucher

Drucksache 18/10633

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Binder, Caren Lay, Dr . Dietmar Bartsch, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Informationsrechte der Verbraucherinnen
und Verbraucher stärken – Hygiene-Smiley
für Lebensmittelbetriebe bundesweit ermög-
lichen

Drucksache 18/4214
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Maisch, Harald Ebner, Renate Künast, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Rechtssicherheit und Transparenz bei Le-
bensmittelkontrollen endlich herstellen

Drucksache 18/9558
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie

e) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Ernährung und
Landwirtschaft (10 . Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Nicole Maisch, Friedrich
Ostendorff, Harald Ebner, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Mehr Transparenz bei vegetarischen und
veganen Produkten schaffen

Drucksachen 18/9057, 18/9880

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen, wenn dazu keine
anderen Anträge gestellt werden . – Das ist nicht der Fall .
Dann ist das so beschlossen .

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesmi-
nister Christian Schmidt das Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 201621048


(A) (C)



(B) (D)


Christian Schmidt, Bundesminister für Ernährung
und Landwirtschaft:

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
legen! Herr Präsident, Sie hatten die Freundlichkeit, da-
rauf hinzuweisen, dass heute erwartungsgemäß der letzte
Sitzungstag im zu Ende gehenden Jahr 2016 ist . Ich habe
an diesem letzten Sitzungstag die Freude, den ersten Er-
nährungspolitischen Bericht der Bundesregierung – das
ist eine Premiere – mit Ihnen debattieren zu dürfen . Die
parlamentarische Beratung dieses Berichts zur Kernzeit
unterstreicht die hohe Bedeutung, die der Deutsche Bun-
destag diesem Politikfeld zumisst . Das ist richtig so .

Die Bürgerinnen und Bürger, die gefragt werden, wel-
ches politische Thema sie in ihrem Alltag am meisten
berührt, nennen nicht das, was sich bei den Nachrichten-
sendungen ab und an bei den Tagesmeldungen zwischen
Platz eins und drei findet. Nein, sie nennen Ernährung
und gesunde, sichere Lebensmittel, so eine Umfrage des
Allensbacher Instituts .

Eine wachsende Gruppe von Verbrauchern definiert
sich sogar über den Ernährungsstil . Mitunter hat man so-
gar den Eindruck, Ernährung sei für manche Menschen
eine Art Ersatzreligion . Zumindest ist die Ernährung eine
höchstpersönliche Angelegenheit, die deswegen auch
nicht vollständig von der Politik besetzt werden darf .
Hier haben ja manche ihre Erfahrungen mit der Vorstel-
lung gemacht, man könne in die Details hinein regeln .
Hier ist keine Verbotspolitik, keine Bevormundungspo-
litik gefragt .


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Meine Güte! Ach, hör doch auf! Die alten Kamellen!)


– Sie müssen sich das leider anhören . Die Kamellen sind
an sich gut, jedenfalls die, die lebensmittelrechtlich ge-
prüft sind .


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Ob das bei den Grünen immer der Fall ist, ist die Frage . –
Aber es ist interessant, dass man sofort weiß, worum es
geht: Der Kollege wollte daran erinnern, dass er mal in
der Veggieday-Abteilung mit dabei gewesen ist,


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)


sich aber offensichtlich eines Besseren hat belehren las-
sen .

Die Schlussfolgerung, die wir daraus ziehen, lieber
Kollege, ist doch, dass dies ein Bereich ist, in dem der
Mensch sagt: Stopp, Staat, hier bist du nicht der, der mir
bis auf den Teller vorschreibt, was ich zu essen und zu
tun habe . – Wir sind nicht diejenigen, die wissen, was gut
und böse ist;


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


ich sage das in aller Deutlichkeit . Hier ist Politik im
modernen Gewand gefragt . Dazu lade ich Sie ein: kei-
ne Bevormundungspolitik, aber Politik, die die staatliche
Aufgabe der Gewährleistung der Sicherheit wahrnimmt .
In dieser Diskussion kommt viel zu kurz, dass die Le-

bensmittelsicherheit – das geht aus unseren Berichten
hervor – so hoch und so gut ist wie noch nie .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Durch die Schaffung von Transparenz und durch Hinwei-
se zu einer gesunden Ernährung müssen wir allerdings
darüber hinaus anregen und fördern . Wir müssen den
Respekt vor der Entscheidung des Einzelnen damit ver-
binden, dass der Einzelne ein Rüstzeug dafür bekommt,
eigene qualitative Entscheidungen zu treffen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor diesem Hinter-
grund lege ich Ihnen den Ernährungspolitischen Bericht
gerne vor . Er stellt dar, welche Maßnahmen wir in dieser
Wahlperiode mit welchen Zielsetzungen und in welchen
Bereichen der Ernährung und des gesundheitlichen Ver-
braucherschutzes ergriffen haben und was noch bevor-
steht, was vor allem europarechtlich noch zu tun bleibt .

Mein Ansatz ist, dass alle Verbraucherinnen und Ver-
braucher durch Ernährungsbildung, Schutz vor Irrefüh-
rung, verständliche Informationen und unterstützende
Angebote der Ernährungsprävention und der Nachhal-
tigkeit im Konsum selbstbestimmt ihre Entscheidungen
treffen können. Dazu gehört eine klare Kennzeichnung
von Lebensmitteln – was draufsteht, muss auch drin sein .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Seit Dienstag dieser Woche ist nun eine verständliche
Nährwerttabelle bei allen verpackten Lebensmitteln
Pflicht. Das ist gut so, und auf diesem Weg müssen wir
weitergehen .

Wir müssen einen Weg finden, um einerseits eine zu
hohe Regelungsdichte, ein Dickicht zu verhindern und
andererseits eine Kennzeichnung zu ermöglichen, die
den Einzelnen nicht überfordert . Wir haben bei den Be-
grifflichkeiten etwas zu ändern; wir reden über „vegan“
und „vegetarisch“ und über die Frage, ob entsprechende
Produkte mit Fleischbegriffen bezeichnet werden sollten.
Wir hatten ja schon vor einigen Jahren den sogenannten
Analogkäse, der außer mit dem Wort „Käse“ überhaupt
nichts mit Käse zu tun hatte, sondern ein industriepoliti-
sches Mischmasch gewesen ist . Es geht darum, dass wir
ihn als das bezeichnen, was er ist .

Die Gewährleistung von Rückstandsfreiheit und ent-
sprechende Grenzwerte bedürfen der rechtlichen Re-
gelung . Aktuell wird über Ethoxyquin diskutiert, dass
Fischmehl zur Verhinderung der Selbstentzündung wäh-
rend des Transports beigegeben wird . Wir brauchen eu-
ropaweite Grenzwerte auch für Fisch, um gesundheitli-
che Bedenken auszuschließen . Ich dränge seit längerer
Zeit – in diesem konkreten Punkt ganz aktuell – darauf
und habe die Hoffnung bzw. erwarte, dass die EU-Kom-
mission die Vorschläge nun umsetzt . So wie es aussieht,
hat das auch Erfolg .

Auch in anderen Bereichen sind europäische Rege-
lungen notwendig . Ich habe bereits im Sommer in ei-
nem Brief an Kommissar Andriukaitis gefordert, dass
wir am Bezeichnungsschutz für Lebensmittel tierischen
Ursprungs arbeiten . Als weiteren Bereich will ich das
Thema der Information ansprechen . Auch bei der Ver-
hinderung von Transformationen im Bereich von Ver-

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 2016 21049


(A) (C)



(B) (D)


packungen müssen wir weiter vorankommen . Hier ist
die Situation allerdings so, dass wir zunächst nationale
Regelungen auf den Weg bringen werden . Die Advents-
kalender sind in die Diskussion gekommen, weil in der
Schokolade Altöl nachgewiesen wurde . Altöl hat in Ad-
ventskalendern nichts zu suchen . Altöl muss raus aus den
Adventskalendern . Dazu brauchen wir die entsprechen-
den rechtlichen Vorgaben .

Ich danke den Koalitionsfraktionen, dass sie mir mit
ihrem Antrag Rückenwind geben, um Klarheit und Wahr-
heit auch für vegetarische und vegane Lebensmittelan-
gebote zu erreichen . Darüber hinaus müssen wir weitere
Informationen für den Einzelnen zugänglich machen,
zum Beispiel durch das Verbraucherportal, das die Ver-
braucherschützer mit unserer Unterstützung sehr verant-
wortungsvoll und sehr informativ führen .

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen die The-
men im Bereich Ernährung neu ordnen und zusammen-
führen . Deswegen wird zu Beginn des neuen Jahres mein
neu geschaffenes Bundeszentrum für Ernährung seine
Arbeit aufnehmen . Das Bundeszentrum wird die Infor-
mationen neu ordnen und eine vernetzte Ernährungs-
kommunikation sicherstellen . Das Bundeszentrum wird
wissenschaftsbasierte, objektive und transparente Infor-
mationen rund um das Thema Ernährung bieten . In die-
sem Zentrum werden die Ernährungsinformationen und
Bildungsmöglichkeiten gebündelt . Dazu gehören didak-
tische Materialien, Infoportale und Apps . Damit stärken
wir die Grundlagen für Konsumentscheidungen .

Im Fokus der Politik muss dabei die gesunde Ernäh-
rung von Kindern und Jugendlichen stehen; denn Kinder
und Jugendliche sind alleine nicht in der Lage, Entschei-
dungen zu treffen. Wir müssen sie aber dahin bringen,
dass sie als Erwachsene auf einer guten Informations-
grundlage aufbauend Entscheidungen treffen können. Ich
bin mir mit dem Parlament einig, dass diese Aufgabe bes-
ser abgebildet werden muss . Ich möchte mich in diesem
Zusammenhang für die Unterstützung bedanken .

Wir müssen unsere Kompetenzen bündeln . Das Nati-
onale Qualitätszentrum für Kita- und Schulverpflegung
wird künftig vernetzt im Rahmen des Bundeszentrums
für Ernährung arbeiten . Mein Ziel ist, dass wir bundes-
weit verpflichtende Qualitätsstandards für das Essen in
Kita und Schule anpeilen . Ich habe die Möglichkeit, ein
neues Forschungsinstitut für Kinderernährung mit Unter-
stützung des Deutschen Bundestages und den Planstellen
beim Max-Rubner-Institut einzurichten . Die Arbeiten des
Instituts sollen unter anderem ernährungsphysiologisch
fundierte Empfehlungen für die Ernährung von Kindern
und Jugendlichen liefern . Ich bedanke mich für die Mög-
lichkeit, diese Maßnahmen zu ergreifen .

Aber ich sage auch: Das ist nur ein erster Schritt . Wir
brauchen ein Schulfach Ernährungsbildung . Wir müssen
die Ernährungsbildung dauerhaft und strukturiert in den
Lehrplänen verankern . Ich bin mit der Kultusminister-
konferenz über die Einführung eines Schulfachs Ernäh-
rungsbildung in einem guten Dialog . Ich denke, dass wir
auch unsererseits mit der großen Studie über die Ernäh-
rungsbildung in der Lehrerausbildung, die ich in Auftrag

gegeben habe, den Ländern eine hilfreiche Unterstützung
bei der Vernetzung geben können .

Ein erster Ansatzpunkt für Verbesserungen ist das
EU-Schulprogramm . Das EU-Schulobst- und -gemü-
seprogramm wurde mit dem EU-Schulmilchprogramm
zusammengeführt, um Kinder für das Thema Ernährung
zu sensibilisieren . Der Ernährungsführerschein in der
dritten Klasse – bei der Gelegenheit danke ich vor allem
den Landfrauen für ihre Unterstützung als ehrenamtliche
Lehrkräfte – bringt den Ansatz dorthin, wo er nötig ist .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)


Wir hatten uns weitere Themen vorgenommen . Es
geht um die Bekämpfung von Transfetten, in Rezepturen
ist zu viel Salz oder Zucker . Hier brauche ich die Unter-
stützungsbereitschaft der Nahrungsmittelwirtschaft . Ich
will durch nachverfolgbare und transparente Verhaltens-
weisen ohne Regelungen auskommen, die immer schwer
umzusetzen sind, weil ich nicht jedes Kochrezept als Ge-
setz beschließen lassen kann .

Aber ein klarer Hinweis: Falls die Wirtschaft diesen
Weg nicht konsequent mitgehen sollte, dann werden ge-
setzliche Regelungen das Mittel der Zielerreichung sein
müssen . Das gilt auch für eine Reihe weiterer Punkte .
Nicht an den Erklärungen, sondern an der Umsetzung
derselben müssen wir alle in der Wertschöpfungskette
messen . Wir werden das auch tun . Wir werden die Um-
setzung der entsprechenden Regelungen einfordern .

Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben
Fragen, die von der Wertschätzung von Lebensmitteln,
Stichwort „Vermeidung von Lebensmittelabfällen“, bis
hin zur Neudefinition des Mindesthaltbarkeitsdatums rei-
chen, das sich zum Teil vom Mindesthaltbarkeitsdatum
als Ernährungsinformation zu einem Umschlagdatum am
Ladenregal – dafür war es nicht gedacht, und dafür soll
es auch nicht herhalten – verändert hat . Das sind Fragen,
die wir im Rahmen der G-20-Präsidentschaft mit dem
Thema Ernährungssicherung in einen größeren Rahmen
stellen . Ich freue mich, dass der Bundesernährungsminis-
ter mit seinen Ministerkollegen der erste ist, der bereits
im Januar die G-20-Konferenzreihe eröffnet. Wir werden
das zum Anlass nehmen, gerade zur Frage von guter und
gesunder Ernährung und den Grundlagen derselben –


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1821000100

Herr Minister .

Christian Schmidt, Bundesminister für Ernährung
und Landwirtschaft:

– mit einer nachhaltigen Wirtschaft zu arbeiten .

Herr Präsident, dieser Satz beendet meine Ausführun-
gen . Ich möchte aber nicht enden ohne meinen Wunsch
nach einer ruhigen Weihnachtszeit für alle und einem gu-
ten Gänsebraten im Ofenrohr .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Schon Paracelsus lehrte uns, Herr Präsident, dass nicht
in der Qualität allein, sondern auch in der Quantität des

Bundesminister Christian Schmidt

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(A) (C)



(B) (D)


Konsums der entscheidende Schlüssel für eine gesunde
Lebensweise liegt .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1821000200

Wir nehmen die guten Wünsche mit Dank und Res-

pekt entgegen und stellen mit Erleichterung fest, dass
auch die Vorgabe des Weihnachtsmenüs keine gesetzli-
che Vorgabe ist .


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Nun hat die Kollegin Karin Binder für die Fraktion
Die Linke das Wort .


(Beifall bei der LINKEN)



Karin Binder (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1821000300

Guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Minister,
Ihr Ernährungsbericht ist keine leichte Kost . Es stecken
nach wie vor zu viele Dickmacher und zu viele Schad-
stoffbelastungen in den Lebensmitteln. Das zeigt uns,
dass noch viel zu tun ist .


(Beifall bei der LINKEN)


Nach wie vor setzen Sie auf Freiwilligkeit und auf
guten Willen und schieben die Verantwortung auf die
Länder und die Kommunen ab, statt Verantwortung zu
übernehmen und klare und verbindliche Regelungen
zu treffen. Das Thema „krebserregende Mineralölrück-
stände“ beschäftigt uns seit Jahren. Alle Kolleginnen
und Kollegen in unserem Ausschuss für Ernährung und
Landwirtschaft wissen um die Problematik, aber es wird
nichts Effektives dagegen getan. Es gibt nur eins: die Be-
lastungen dadurch zu senken, dass wir diese Rückstände
verbieten . Es muss verboten werden, dass in Lebensmit-
telverpackungen recyceltes Papier verwendet wird, das
mit genau diesen Mineralölrückständen belastet ist . Das
bedeutet: Letztendlich müssen wir diese mineralölhalti-
gen Farben verbieten; denn sonst werden wir sie immer
wieder in Lebensmitteln finden, und das darf nicht sein.
Diese Stoffe sind krebserregend.


(Beifall bei der LINKEN)


Das Gleiche betrifft auch Kinderspielzeug. Das hat
zwar nichts mit Lebensmitteln zu tun, aber auch hier
bestehen Belastungen, weil Kinder Spielzeuge in den
Mund nehmen . Deshalb ist dieser Bereich auch im ge-
sundheitlichen Verbraucherschutz in Ihrem Ministeri-
um angesiedelt . Zwar gibt es eine deutsch-chinesische
Expertenkommission, die beim Wirtschaftsministerium
angesiedelt ist und die sich um das Problem von belaste-
ten Spielzeugen kümmern soll, aber seit Jahren passiert
nichts . Nach wie vor erfahren wir immer wieder, dass auf
europäischer Ebene im Meldesystem RAPEX Spielzeuge
an oberster Stelle stehen, wenn es um gefährliche Gegen-
stände geht . Das kann doch nicht wahr sein . Hier muss
etwas passieren, Herr Minister . Schalten Sie sich ein in

diese Kommission – im Sinne der Kinder, im Sinne der
Verbraucherinnen und Verbraucher .


(Beifall bei der LINKEN)


Lebensmittelskandale gibt es nach wie vor . Sie erin-
nern sich vielleicht an die mit Salmonellen verseuchten
Eier der Firma Bayern-Ei im vergangenen Jahr, an Lis-
terien in der Wurst mit tödlichem Ausgang für manche
der Betroffenen und viele Erkrankungen. Es sind allein
in den vergangenen fünf Jahren 16 000 Menschen in
Deutschland aufgrund solcher belasteten Lebensmittel
erkrankt . 75 Menschen sind gestorben . Das ist ein Skan-
dal . Das muss doch ein Zeichen sein, dass hier viel mehr
getan werden muss . Letztendlich muss man sagen: Das
Ganze steht und fällt mit den amtlichen Lebensmittel-
kontrollen, und wir wissen alle, dass diese Kontrolleu-
re bezüglich der Arbeitsbelastung am Anschlag sind .
Sie sind einer großen Belastung ausgesetzt, weil es viel
zu wenige Kolleginnen und Kollegen gibt, die mit an-
packen . Wir brauchen also eine bessere Ausstattung bei
den Lebensmittelkontrolleuren . Wir brauchen auch eine
bessere materielle und technische Ausstattung, die heute
notwendig ist, um all diesen Schadstoffen, um all diesen
Krankheitserregern auf die Spur zu kommen .


(Beifall bei der LINKEN)


Gesunde Ernährung steht und fällt eben leider nicht
nur mit der Kennzeichnung, obwohl ich sage, dass Kenn-
zeichnung ganz wichtig ist; denn sie ermöglicht über-
haupt erst die Entscheidung von Verbraucherinnen und
Verbrauchern . Herr Minister, warum wehren Sie sich
nach wie vor gegen die Ampelkennzeichnung?


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Weil sie Blödsinn ist!)


Sie sagen, alles sei verständlich, alles sei wunderbar . Aber
Informationen in einer Schriftgröße von nur 0,2 Milli-
metern – ich sage es mal so – können viele Menschen
nicht lesen, zumindest nicht in der Eile eines Einkaufs .
Deshalb wäre die farbliche Unterlegung mit Grün, Gelb
und Rot, um erkennbar zu machen, wo Dickmacher drin
sind, die wir alle eigentlich nur in Maßen zu uns nehmen
sollten, die einfachste Lösung . Warum wehren Sie sich
nach wie vor dagegen?

Dass wir jetzt mittlerweile Lebensmittel als vegan und
vegetarisch kennzeichnen, halte ich für sehr wichtig . Ich
halte es im Sinne einer ausgewogenen Ernährung auch
durchaus für sinnvoll, dass Regelungen im Zusammen-
hang mit Gemeinschaftsverpflegungen, mit Kinder- und
Schulverpflegung getroffen werden. Es besteht ganz klar
das Bedürfnis, zum Beispiel im Sinne des Tierwohls
oder im Sinne der eigenen Weltanschauung, entscheiden
zu können, dass man keine tierischen Produkte zu sich
nimmt oder eben nur in einem Maß, das vertretbar ist .
Deshalb haben auch wir in diesem Zusammenhang For-
derungen an die Bundesregierung .

Sie haben einen entsprechenden Antrag eingebracht .
Er ist durchaus bedenkenswert . Aber ich frage mich, wa-
rum Sie zum Schluss fordern, sich dafür einzusetzen,
dass Lebensmittelhersteller, die von der in den Leitsätzen
der Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission beschrie-
benen Qualität abweichen, diese Abweichungen auf ih-

Bundesminister Christian Schmidt

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 2016 21051


(A) (C)



(B) (D)


ren Produkten deutlich machen müssen . Entweder es ist
vegetarisch, oder es ist vegan, oder es ist es eben nicht .


(Beifall bei der LINKEN)


Warum machen Sie gleich wieder ein Hintertürchen auf?
Das ist doch Unsinn . Um Himmels willen, streichen Sie
diesen Punkt aus Ihrem Antrag . Dann könnten wir ihm
zustimmen . So leider nicht .

Sie reden über ein Bundeszentrum für Ernährung,
über Infoportale und didaktische Materialien – alles wun-
derbar . Aber ich sage es einmal so: Theorie ist das eine,
also Theorie im Nationalen Qualitätszentrum für gesun-
de Ernährung in Kita und Schule, Theorie bei einem In-
stitut für Kinderernährung . Das alles brauchen wir . Aber
wir brauchen auch die Praxis, Herr Minister . Die Praxis
bedeutet Kita- und Schulverpflegung für alle Kinder in
Deutschland, und zwar kostenfrei, weil die Qualität sonst
nicht gewährleistet werden kann .


(Beifall bei der LINKEN)


Wir brauchen diese Praxis im Sinne von Fürsorge und
Vorsorge des Staates . Deshalb sehe ich hier den Bund in
der Pflicht und nicht die Länder und die Kommunen. Der
Bund hat etwas davon, wenn unsere Kinder mit einem
Ernährungsbewusstsein aufwachsen, das ihnen später als
Erwachsene eine gesunde Ernährung ermöglicht . Das
wäre notwendig . Deshalb, Herr Minister, sollten in Ih-
rem nächsten Haushalt die notwendigen Mittel hierfür
eingestellt werden .


(Beifall bei der LINKEN)


Jetzt komme ich zum Schluss zu unserem eigenen
Antrag, den wir im Zusammenhang mit dem Thema Le-
bensmittelkontrollen einbringen . Uns geht es um den so-
genannten Hygiene-Smiley . Ich denke, das ist eine ganz
einfache Darstellung, die zeigt, ob ein Betrieb sauber ist,
ob er in Ordnung ist . Er hilft vielen Menschen bei der
Entscheidung, ob man dort hineingeht bzw . dort einkauft .
Was haben Sie für ein Problem damit, der Öffentlichkeit
mit diesem Signal zu sagen, dass es sich um einen guten
Betrieb handelt? Sie wollen doch die guten Betriebe un-
terstützen . Ein lachender Smiley oder meinetwegen auch
eine Kennzeichnung in anderer Form, durch die Men-
schen entscheiden können, ob sie in einen Laden gehen,
wäre eine wunderbare Sache . Das funktioniert hervorra-
gend in Dänemark . Dadurch werden die Verstöße gegen
die Hygiene eingedämmt . Dänemark hat damit hervorra-
gende Erfolge; aber Sie weigern sich, eine verbindliche
und auch juristisch haltbare Lösung ins Lebensmittel-
und Futtermittelgesetzbuch hineinzuschreiben . Damit
schaffen Sie automatisch Rechtsunsicherheit.

Wir haben gerade erst die letzte Entscheidung des
Oberlandesgerichts Düsseldorf zur Kenntnis genommen,
das tatsächlich sagt: So geht es nicht, wir brauchen hier
Rechtssicherheit . – Herr Minister, sorgen Sie dafür . Än-
dern Sie endlich § 40 im Lebensmittel- und Futtermit-
telgesetzbuch, sodass die Länderbehörden auch einen
gewissen Schutz davor haben, später von den Betrieben
verklagt zu werden .

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit .


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1821000400

Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Drobinski-

Weiß das Wort .

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Elvira Drobinski-Weiß (SPD):
Rede ID: ID1821000500

Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Herr Minister Schmidt! Liebe Zuschauerinnen und
Zuschauer auf den Tribünen! Schön, dass wir heute Ihren
Ernährungspolitischen Bericht endlich auf der Tagesord-
nung haben, Herr Minister Schmidt . Er passt ja auch her-
vorragend in die Vorweihnachtszeit . Im Dezember wird
ja, zumindest gefühlt, doppelt so viel gegessen wie sonst .


(Heiterkeit bei der SPD)

Voll sind aber nicht nur die Keksdosen oder die Scho-

koschubladen, voll ist auch die ernährungspolitische
Agenda . Über zu wenige Baustellen können wir uns je-
denfalls nicht beklagen . Sie führen sie ja alle in Ihrem
Bericht auf und haben vorhin auch einige genannt, zum
Beispiel die Lebensmittelverschwendung, die bis 2030
halbiert werden soll . Sie haben eine umfassende Stra-
tegie angekündigt, und wir sind wirklich sehr gespannt,
was Sie vorlegen werden .


(Beifall bei der SPD)

Vorlegen werden Sie diese doch hoffentlich Anfang des
nächsten Jahres; denn ansonsten wird es wohl ein biss-
chen knapp, sie umzusetzen .

Ein weiteres Beispiel ist das Thema „gesunde Ernäh-
rung“. Wie die konkreten nächsten Schritte unserer nati-
onalen Reduktionsstrategie – Sie wissen ja, wir wollen
den Anteil von Zucker, Salz und Fett in Lebensmitteln
reduzieren – aussehen sollen, sollte eigentlich auch bis
Ende 2016 bekannt sein . Das wird wahrscheinlich nichts
mehr, oder? Gut, Weihnachtsstress kennen wir alle . Aber
Sie können das nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag
hinausschieben, Herr Minister . Und Anfang des nächsten
Jahres muss die Strategie, damit sie überhaupt in Gang
kommt, stehen .

Gute Ernährungs- und Verbraucherpolitik sorgt dafür,
dass alle informierte Kaufentscheidungen treffen kön-
nen . Unabdingbar dafür ist eine klare Kennzeichnung .


(Beifall bei der SPD)

Ausnahmsweise geht es dabei einmal nicht um die Am-
pel, sondern um die Kennzeichnung vegetarischer und
veganer Produkte; dazu liegt uns auch ein Antrag vor .
Gemeinsam mit unserem Koalitionspartner bringen
wir heute einen Antrag ein . Wir wollen eine EU-weite
verbindliche Definition für die Begriffe „vegan“ und
„vegetarisch“. – Herr Minister, ich weiß, da sind Sie auf
unserer Seite, und deshalb bitte ich Sie, dass Sie sich in
Brüssel weiter dafür starkmachen .

All die Menschen, die zu veganen oder vegetarischen
Produkten greifen – ihre Zahl ist in den letzten Jahren
deutlich gestiegen –, brauchen eine verlässliche Kenn-
zeichnung .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Karin Binder

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 201621052


(A) (C)



(B) (D)


Egal, ob Gummibärchen, Gemüsebällchen, Kartof-
felchips oder sogar Sojaschnitzel – wenn das Produkt als
vegetarisch oder vegan deklariert ist, müssen Verbrau-
cherinnen und Verbraucher sicher sein können, dass auch
in Zusatzstoffen, in Aromen oder in Hilfsstoffen kein Tier
steckt .

Noch ein Wort zum Sojaschnitzel . Es gibt aus den
Reihen des Fleischerhandwerks Widerstände gegen sol-
che Bezeichnungen. Offenbar wird befürchtet, dass die
Fleischesser das Sojaschnitzel für ein echtes Schnitzel
halten könnten . Ich persönlich halte das für ziemlich ab-
wegig . Es gibt auch überhaupt keine Hinweise aus der
Verbraucherforschung, dass es in den Supermärkten jetzt
zu massenhafter Verwirrung oder Täuschung von Schnit-
zelkäufern kommt .


(Zuruf von der CDU/CSU: Das schmeckt auch nicht so!)


Im Gegenteil: Die Bezeichnung „Sojaschnitzel“ oder
„Tofuwürstchen“ kann ein hilfreicher Hinweis sein,
wie das Produkt schmeckt oder wie es zuzubereiten ist .
Selbstverständlich muss eindeutig und unmissverständ-
lich auf der Frontseite der Verpackung klar werden, dass
es sich um ein veganes oder vegetarisches, also fleischlo-
ses Produkt handelt . Unabhängig von der EU-Kenn-
zeichnung muss hier kurzfristig für Klarheit gesorgt
werden, und das kann sehr wohl die Deutsche Lebens-
mittelbuch-Kommission, die dies in einem entsprechen-
den Leitsatz erarbeiten muss .

Relevant dafür sollte nicht sein, was die Fleischer wol-
len oder fürchten, sondern, was für die Verbraucherinnen
und Verbraucher am besten ist, was für sie verständlich
ist und was ihren Erwartungen entspricht .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Das Verbraucherportal „Lebensmittelklarheit“ – es wur-
de schon mehrfach angesprochen – und die begleitende
Verbraucherforschung sollten beobachten, wie Konsu-
menten Produktkennzeichnungen verstehen und wo es
tatsächlich zu Verwirrung kommt .

Liebe Kolleginnen und Kollegen, gute Ernährungs-
politik sorgt für klare Verbraucherinformation und für
sichere Lebensmittel und schafft gleichzeitig ein Ernäh-
rungsumfeld, das die gesunde, nachhaltige Wahl erleich-
tert . Wir sind auf dem Weg dahin, haben aber noch viel
zu tun . Lassen Sie uns alle zusammen im nächsten Jahr
mit aller Kraft daran arbeiten!

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1821000600

Nicole Maisch ist die nächste Rednerin für die Frakti-

on Bündnis 90/Die Grünen .


Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1821000700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr

Minister, mit diesen etwa 50 Seiten Ihres Ernährungspo-
litischen Berichts ist es ein bisschen wie mit dem Schein-

riesen Herrn Tur Tur in dem Kinderbuch Jim Knopf von
Michael Ende: Je näher man kommt, desto kleiner und
mickriger wird das, was man zu sehen bekommt .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte Ihnen ein paar Beispiele aus diesem Bericht
nennen .

Sie loben sich, dass Ihr Haus im Berichtszeitraum den
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Lebensmit-
tel- und Futtermittelgesetzbuches erarbeitet hätte . Das
ist sicher richtig . Aber wir fragen uns – wir haben uns
auch auf die Suche gemacht –: Wo ist denn dieser Ge-
setzentwurf? Das letzte Mal davon gehört haben wir im
Herbst 2015 .


(Heiterkeit des Abg . Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Damals stand er mehrmals auf der Tagesordnung des Ka-
binetts, und mehrmals wurde er auch heruntergenommen .
Man hörte, es gebe Probleme mit dem Justizminister und
mit der Unionsfraktion . Dann hörte man nichts mehr .


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Suchen Sie doch mal unter dem Weihnachtsbaum!)


Also habe ich Staatssekretär Bleser gefragt; aber auch er
wusste nicht, wo dieser Gesetzentwurf ist . Jetzt frage ich
Sie – denn die Bundesländer warten seit Jahren auf eine
sichere Rechtsgrundlage, die es ihren Behörden ermög-
licht, erhebliche Hygienemängel öffentlich zu machen
und den Verbrauchern Wahlfreiheit zu geben –: Wann
kommen Sie endlich in die Puschen und reformieren das
LFGB, so wie es in diesem Bericht ja auch versprochen
ist?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Schauen wir uns den Scheinriesen weiter an, und zwar
beim Thema Energydrinks . Auch dies ist ein relevantes
Kapitel in Ihrem Bericht . Sie haben sich ja schon da-
von verabschiedet, das gefährliche Zeug für Kinder zu
verbieten, sondern setzen allein auf die Aufklärung . Sie
loben sich, Sie hätten eine Aufklärungskampagne ini-
tiiert – Energydrinks bilden dabei einen Schwerpunkt –,
und über einen Koffeinrechner, der über die Website
www .check-deine-dosis .de zugänglich ist, könne man
sich anzeigen lassen, ob man zu viel Kaffee oder zu viele
Energydrinks trinkt . Eigentlich super! Ist aber nicht so .
Diese Website, über die Sie hier so ausufernd schreiben
und für die Sie sich so sehr loben, ist seit Anfang August
dieses Jahres offline.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach!)


Warum? Weil Sie nicht in der Lage waren, einen Koffein-
rechner zu programmieren, der die richtige Anzahl der
Tassen Kaffee oder der Liter Energydrinks ausspuckt.


(Heiterkeit der Abg . Pia Zimmermann [DIE LINKE])


Elvira Drobinski-Weiß

http://www.check-deine-dosis.de
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 2016 21053


(A) (C)



(B) (D)


Das heißt, Sie haben quasi Gesundheitsgefährdung be-
trieben und das nicht einmal selbst bemerkt . Vielmehr
musste die Bild-Zeitung Sie darauf hinweisen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Au weia! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Jetzt loben die Grünen schon die Bild-Zeitung! So weit ist es schon!)


Seither, also seit August dieses Jahres, ist auf www .
check-deine-dosis .de zu lesen, die Website werde aktu-
alisiert . Ich frage Sie: Wie lange kann es, wenn man da-
für 55 000 Euro ausgegeben hat, dauern, so eine Website
zu aktualisieren und einen simplen Koffein-Kaffeetas-
sen-Rechner ans Laufen zu bringen?


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Laptop und Lederhose, ja? Wohl mehr Lederhose als Laptop!)


Mit Steuergeldern sind Sie ja sowieso sehr großzügig .
Das ist auch dem Bundesrechnungshof aufgefallen . Er
hat Ihre „Zu gut für die Tonne“-Kampagne ziemlich in
die Tonne getreten . Er hat nämlich gesagt, sie sei unzu-
reichend vorbereitet, habe keine belastbare Datengrund-
lage und der Erfolg sei nicht nachweisbar . Weil das ein
Thema ist, das Sie immer und immer wieder durch die
Presse tragen und im Mund führen, frage ich Sie: Wie
kann es dann zu einer so vernichtenden Bilanz kommen?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Meine Damen und Herren, dieser Bericht zeigt vor
allem eines: Ein Dreivierteljahr vor der Bundestagswahl
ist Ihr Acker mehr als schlecht bestellt . Wenn das Ihre
Bilanz sein soll, dann ist sie mehr als enttäuschend .

Aber kurz vor Weihnachten soll man ja auch etwas
Persönliches sagen; es ist ja die Zeit des Friedens .


(Katharina Landgraf [CDU/CSU]: Ja, bitte! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Und etwas Nettes!)


– Und etwas Nettes. – Ich finde es gut, dass Sie jetzt auch
etwas im Hinblick auf die Transparenz bei vegetarischen
und veganen Produkten machen wollen .


(Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ui!)


Ich würde spontan zwar nicht darauf wetten, dass der Mi-
nister dieses Vorhaben auch umsetzt


(Heiterkeit des Abg . Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


– Sie haben ja schon ganz viele gute Sachen beschlos-
sen, zum Beispiel zum Thema Lebensmittelverschwen-
dung –, aber der Wille ist da, und grundsätzlich geht es in
die richtige Richtung .

Wir haben einen Antrag vorgelegt, der noch konse-
quenter ist. Wir sagen: Nicht nur die Inhaltsstoffe, son-
dern auch die Stoffe, die bei der Verarbeitung eines Le-
bensmittels eingesetzt werden, müssen gekennzeichnet
werden . Zum Beispiel Apfelsaft, der mit Schweinegela-
tine geklärt wurde, will der Veganer auch nicht trinken .

Und wir finden: Auch das muss auf dem Produkt gekenn-
zeichnet werden .


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)


Dann möchte ich noch eines zur Sojaschnitzeldebat-
te sagen . Wir hatten im Ausschuss oft den Streit: Ist der
Kunde getäuscht? Denkt er: „Wenn man ein veganes So-
jaschnitzel kauft, dann muss auch ein echtes totes Tier
drin sein“? Ich glaube, das ist nicht so. Wer ein veganes
Sojaschnitzel kauft, der erwartet kein Schwein und kein
Rind und auch nichts anderes. Er weiß: Das sind pflanz-
liche Bestandteile .

Vielleicht könnte sich die Union kurz vor Weihnach-
ten, so im Rückblick auf ihre lange Geschichte, einmal
dies angucken: Beim Thema Veggiewurst waren Sie vor
100 Jahren schon einmal weiter . Ich habe nachgeguckt:
Konrad Adenauer hielt schon vor 100 Jahren Patente auf
eine fleischfreie Wurst auf Sojabasis. Damit hatten sich
die konservativen Kräfte in diesem Land abgefunden . Ich
glaube, dass Sie mit der vegetarischen Wurst und mit den
Sojaschnitzeln gut leben könnten, und in diesem Sinne
finde ich: Bis zur Wahl muss noch ein bisschen was pas-
sieren, sonst bleibt unsere Kritik an Ihnen bestehen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1821000800

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun die Kollegin

Katharina Landgraf das Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Katharina Landgraf (CDU):
Rede ID: ID1821000900

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Wir sprechen heute in verbundener Debatte über so
viele Themen, dass es mir unmöglich ist, auf alles ein-
zugehen . Daher nehme ich mir die Freiheit und spreche
heute, am Ende dieses Jahres – wir sind ja in der Ad-
ventszeit –, über das, was mir am Herzen liegt: gesunde
und ausgewogene Ernährung – von der Schwangerschaft
über die Kindheit bis ins hohe Alter . Dieses Ziel erreicht
man nicht mit Verboten, Maßregeln und Einschränkun-
gen, sondern vor allen Dingen mit Freude am Kochen,
beim gemeinsamen Essen und beim Genießen, vor allem
in der Weihnachtszeit .

Natürlich benötigt man auch in einem gewissen Maße
Fachwissen darüber, welche Lebensmittel wie zubereitet
werden und wo offensichtlich und versteckt Fett-, Salz-
und Zuckerfallen lauern . Aber viel wichtiger ist es, die
eigene Ernährung ganz praktisch zu sehen und einfach
loszulegen . Dabei können schon die kleinsten Familien-
mitglieder einbezogen werden und – je nach Alter – Ge-
müse schneiden oder auch nur die Nudeln in den Topf
werfen . Der Stolz über die selbst zubereitete Mahlzeit
lässt diese dann gleich noch einmal so gut schmecken .
Gleichzeitig ist das gemeinsame Essen mit der Familie
ein wichtiger Ruhepunkt in unserer hektischen Zeit


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Im günstigsten Fall!)


Nicole Maisch

http://www.check-deine-dosis.de
http://www.check-deine-dosis.de
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 201621054


(A) (C)



(B) (D)


und fördert die Kommunikation ungemein, wenn man
zudem die Smartphones vom Esstisch verbannt .


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sehr gut!)


Das Entscheidende bei allen guten Ratschlägen und
Empfehlungen ist und bleibt aber die Motivation des Ein-
zelnen . Jeder sollte frei entscheiden, für sich, für seinen
Körper das Beste zu tun – und nicht nur für seinen Kör-
per; denn – wie heißt es so schön? –: Nur in einem gesun-
den Körper wohnt ein gesunder Geist . Da schlägt man
sozusagen zwei Fliegen mit einer Klappe . Man muss sich
dessen nur bewusst sein und dazu noch das nötige Wis-
sen besitzen .

Sollte es an letzterem fehlen, habe ich eine gute Nach-
richt für alle, die motiviert sind, dies zu ändern . Ich arbei-
te seit einiger Zeit an einem neuen Projekt, und langsam
ist es so weit vorangeschritten, dass ich es Ihnen vorstel-
len möchte: das Deutsche Kochabzeichen . Mit dem Slo-
gan „Damit es mir gut geht“ werden alle Generationen
angesprochen, und dieser einfache Wunsch drückt tref-
fend das Interesse und die Motivation des Einzelnen aus
am Erwerb des Kochabzeichens und an der Erreichung
des Ziels einer gesunden Ernährung und bewussten Le-
bensführung .

Angelehnt an das Deutsche Sportabzeichen sollte es
beim Erwerb des Kochabzeichens um unterschiedliche
Disziplinen gehen . Es sollte einen theoretischen und ei-
nen praktischen Teil geben . Der Theorieteil sollte sich
auf die Bereiche Ursprung und Herstellung konzentrie-
ren und der Praxisteil auf die Bereiche Zubereitung,
Genuss und Verbrauch . Als Praxispartner sind die Volks-
hochschulen, Verbraucherzentralen und Sportvereine im
Gespräch, natürlich auch die Landfrauen . Auch unser
Bundesministerium ist schon informiert . Und das dann
später zuständige Bundeszentrum für Ernährung wird
hoffentlich einer finanziellen Förderung im Rahmen von
IN FORM zustimmen .

Jetzt ist bekanntlich die Zeit, in der man Wünsche
äußern darf . Da wir schon bei Wünschen sind, erlaube
ich mir, einen weiteren Wunsch zu äußern, nämlich den
nach einer besseren und nachhaltigeren Zusammenar-
beit mit den Gesundheitspolitikern . Der Zusammenhang
zwischen falscher Ernährung und der Entstehung ernäh-
rungsbedingter Krankheiten ist unbestritten . Ebenso un-
bestritten sind die dadurch entstehenden enormen Kosten
für unser Gesundheitssystem, also für die Allgemeinheit .
Daher ist gesunde Ernährung die beste Prävention .

In diesem Zusammenhang ist auch das Problemfeld
der Mangelernährung in unserer Wohlstandsgesellschaft
zu sehen . Ja, sie tritt gehäuft bei älteren Menschen auf,
zum Beispiel durch falsches Essen oder zu wenig Essen .
Die Senioren werden dann schwächer, und die Muskel-
masse wird abgebaut . Das wiederum führt schneller zu
Stürzen und Knochenbrüchen . Die Folgen sind gehäufte
und längere Krankenhausaufenthalte, im schlimmsten
Fall sogar Pflegebedürftigkeit.

Ich war kürzlich bei einer Veranstaltung zu diesem
Thema und sehe dringenden Handlungsbedarf . Die Fol-
gen der Mangelernährung sind leider noch zu wenig be-

kannt, aber sie sind gravierend, ganz zu schweigen von
den Kosten . Gesunde und ausgewogene Ernährung trägt
also dazu bei, dass sich jeder länger selbstständig versor-
gen kann und im besten Falle nicht auf außerhäusliche
Pflege angewiesen ist. Damit steigt auch die Lebenser-
wartung . Aber nötig sind die Aufklärung der Patienten
und die Fortbildung der Hausärzte, damit die Mangeler-
nährung frühzeitig erkannt werden kann .

Doch nicht nur den Älteren, sondern auch den ganz
Jungen bzw . noch Ungeborenen gehört unsere besonde-
re Aufmerksamkeit . Die richtige Ernährung schon in der
Schwangerschaft bzw . in den ersten 1 000 Tagen nach
der Geburt des Kindes ist von großer Bedeutung für die
gesunde Entwicklung des Babys bzw . des Kleinkindes .

Das bundesweite Netzwerk „Gesund ins Leben –
Netzwerk Junge Familie“ kümmert sich um diesen wich-
tigen Lebensabschnitt . Es bezieht dabei Hebammen,
Frauen-, Kinder- und Jugendärzte mit ein . So werden
Kompetenzen ergänzt und Synergien geschaffen. Es
entwickelt einheitliche Handlungsempfehlungen in den
Bereichen Ernährung, Bewegung und Allergieprävention
rund um die Zeit von Geburt und früher Kindheit . So eine
enge Zusammenarbeit und gemeinsame Festlegung sind
national und international einmalig und verdienen unsere
volle Anerkennung .

Aus den Handlungsempfehlungen und aus einem Mo-
dellprojekt entwickelte sich das „Bündnis Frühkindliche
Prävention“. Hier ist das Ziel, Vorsorgeuntersuchungen
in der Schwangerschaft und im ersten Lebensjahr des
Kindes um honorierte präventive Beratungsleistungen –
Beamtendeutsch – zu erweitern und sich um Ernährung
und Bewegung zu kümmern . Dazu benötigen wir wieder
die Kooperation mit den Gesundheitspolitikern. Ich fin-
de, wir sollten das Netzwerk „Gesund ins Leben“ für eine
weitere Zusammenarbeit mit unseren Kolleginnen und
Kollegen im Gesundheitsbereich zum Vorbild nehmen .
Damit könnten wir im neuen Jahr starten .

Zum Abschluss noch eine frohe Botschaft .


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Eine frohe Botschaft? Jetzt schon?)


Wenn man alle Anträge der Debatte betrachtet, erkennt
man: Es verbindet sie – ungeachtet aller Unterschiede –
ein gemeinsames Ziel: Wir alle wollen, dass die Men-
schen in der Lage sind, sich mit sicheren und gut gekenn-
zeichneten Produkten gesund zu ernähren, wenn sie es
denn wollen . Damit es uns in den nächsten Monaten ge-
lingt, das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren und uns
seltener auf der Suche nach dem richtigen Weg zu verir-
ren, finde ich, sollten wir uns heute, gerade in adventli-
cher Stimmung, vornehmen, gemeinsam voranzugehen .

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein frohes und ge-
segnetes Weihnachtsfest . Genießen Sie – in Maßen – den
Festschmaus, die Plätzchen und die anderen Leckereien .
Keine Sorge: Das viele Essen legt sich nicht gleich auf
die Hüften; denn man nimmt bekanntlich nicht zwischen
Weihnachten und Neujahr zu, sondern zwischen Neujahr
und Weihnachten .

Katharina Landgraf

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 2016 21055


(A) (C)



(B) (D)


Vielen Dank .


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1821001000

Das Letztere werde ich durch den Wissenschaftlichen

Dienst prüfen lassen, bevor sich daran voreilige Schluss-
folgerungen anknüpfen .


(Heiterkeit)


Nächster Redner ist der Kollege Oliver Krischer für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .


(Dr . Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Ein bisschen entspannt! Nicht so pädagogisch, bitte!)



Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1821001100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Man fragt sich ja: Warum setzen die Koalition und Mi-
nister Schmidt kurz vor Weihnachten einen Bericht auf
die Tagesordnung, der schon im Sommer veröffentlicht
worden ist und über ein Jahr alt ist? Bei genauerer Be-
trachtung erkennt man, dass er nicht viel mehr als eine
Werbebroschüre ist . Da steht zum Beispiel drin, wofür
das Ministerium zuständig ist . Mein Eindruck ist, Minis-
ter Schmidt muss sich hier selber noch einmal beweisen,
dass er existiert und Landwirtschaftsminister ist . Denn
draußen hat das in den letzten vier Jahren wohl niemand
gemerkt .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das, was wir immer wieder an Ankündigungen hö-
ren – auch eben haben wir wieder gehört, was alles ge-
macht werden soll –, findet in der Realität nicht statt.
Da ist der Bericht entwaffnend ehrlich, Herr Minister
Schmidt . Denn darin schreiben Sie unter der Überschrift
„Was bleibt zu tun?“ den denkwürdigen Satz – ich zitie-
re –: „Aufgabe der Politik ist es nunmehr, ... zu prüfen,
wo weitere Feinjustierungen erforderlich werden.“

Um Feinjustierungen geht es aber nicht . Wir haben in
der Agrar- und Ernährungspolitik eine Riesenbaustelle,
um die Sie sich nicht kümmern . Das ist das Problem,
Herr Minister Schmidt .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Sie blenden so ziemlich jeden gesellschaftlichen Kon-
flikt in der Ernährungspolitik aus. Außer Ankündigungen
ist in dieser Wahlperiode nichts gewesen .


(Katharina Landgraf [CDU/CSU]: Sie kennen sich doch gar nicht aus!)


Nur einige Beispiele . Zu dem Lebensmittel Nummer
eins, dem Trinkwasser, findet sich kein Wort in dem Be-
richt . Sie schreiben auch nichts zur Überdüngung und zur
Nitratbelastung . Dabei wären es gerade das Ministerium,
der Minister und diese Bundesregierung, die etwas tun
müssten . Aber sie tun nichts, und das ist das Problem .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Minister, zuhören!)


Beim Thema Gentechnik sieht es genauso aus . Die
Verbraucher wollen keine Gentechnik auf dem Teller .
Das ist eindeutig. In Ihrem Bericht findet sich nichts
dazu . Sie hätten es in der Hand, dafür zu sorgen, dass
es in Deutschland zu einem einheitlichen Anbauverbot
kommt . Stattdessen bekommen wir einen Flickenteppich
und eine Zwangsbeglückung mit Gentechnik . Das ist
Ihre Politik .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Katharina Landgraf [CDU/CSU]: Was hat denn das mit Ernährung zu tun? Ernährung!)


Das nächste Thema finde ich persönlich am proble-
matischsten: Niemand von uns – kein Verbraucher und
niemand, der isst – möchte Gifte in seinen Nahrungsmit-
teln . Sie hätten es in der Hand, Glyphosat aus der Welt zu
schaffen und sich um eine pestizidfreie Landwirtschaft
zu bemühen. Das findet sich nicht in Ihrem Bericht; das
findet sich nicht in Ihrer Politik. Genau das ist das Pro-
blem, meine Damen und Herren .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Keine Ahnung!)


Statt den Ökolandbau zu fördern, fördern Sie weiter
Megaställe und entsprechen nicht den Ernährungswün-
schen, die die Menschen haben . Das wäre der richtige
Ansatz .


(Widerspruch bei der CDU/CSU)


– Wenn Sie sich so schön aufregen, dann scheint es of-
fensichtlich zu treffen, Herr Schmidt. Das ist sehr, sehr
schön .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Kollegin Maisch hat es eben gesagt: Wir haben schon
fast die Hoffnung aufgegeben, dass in dieser Wahlperiode
noch irgendetwas aus Ihrem Haus kommt . – Ich glaube
auch nicht mehr, dass noch irgendeine inhaltlich relevan-
te Änderung, ein Kurswechsel oder eine Agrarwende, die
aus vielen, vielen Gründen dringend erforderlich wäre,
kommt .


(Katharina Landgraf [CDU/CSU]: Wo wollen Sie denn hin bei der Wende?)


Aber eines passiert jetzt plötzlich doch . Jetzt haben
wir es mit der Aktion „Aussaat 2017“ – das heißt wirk-
lich so, meine Damen und Herren – zu tun .


(Katharina Landgraf [CDU/CSU]: Warum nicht? Das klingt doch gut! – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Minister hört immer noch nicht zu!)


Da macht der Minister plötzlich eine ganz neue Abtei-
lung, und es werden Stabsstellen geschaffen. Es hätte
mich schon interessiert, was das für eine Bedeutung hat,
Herr Minister. Ist das die vorgezogene Aktion „Abend-
sonne 2017“, mit der Sie schon Strukturen für die Zeit

Katharina Landgraf

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 201621056


(A) (C)



(B) (D)


nach Ihrem Abgang schaffen wollen? Dazu äußern Sie
sich nicht .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Was wir brauchen, meine Damen und Herren, ist eine
wirkliche Agrarwende, bei der die Verbraucher, gesunde
Ernährung und eine nachhaltige Landwirtschaft im Mit-
telpunkt stehen . Das ist bei dieser Bundesregierung über-
haupt nicht zu erkennen .

Die vier Jahre Schmidt, die es am Ende sein werden,
sind nicht nur verlorene Jahre, sondern es sind Jahre, in
denen es in die völlig falsche Richtung gegangen ist .


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Minister hört immer noch nicht zu! Das ist unverschämt!)


Das muss sich bei der nächsten Bundestagswahl ändern,
meine Damen und Herren .

Danke schön .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1821001200

Das Wort erhält nun die Kollegin Ursula Schulte für

die SPD-Fraktion .


(Beifall bei der SPD)



Ursula Schulte (SPD):
Rede ID: ID1821001300

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Damen

und Herren auf der Tribüne! Liebe Kolleginnen und Kol-
legen! Nun debattieren wir doch noch den Ernährungs-
politischen Bericht 2016 . Viele neue Erkenntnisse weist
dieser Bericht leider nicht auf . Aber er gibt uns allen noch
einmal die Gelegenheit – die wir auch redlich nutzen –,
einige grundsätzliche Bemerkungen zu Ernährung und
Verbraucherpolitik zu machen . Ich will das als Berichter-
statterin für meinen Themenbereich auch sehr gerne tun .

Ich pflichte Ihnen bei, Herr Minister. – Leider ist er
nicht mehr da . Aber der Staatssekretär wird es ihm si-
cherlich mitteilen .


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch! Er hört nicht zu! Er quatscht!)


– Doch, er ist wieder da . Aber er quatscht . Herr Minister,
vielleicht hören Sie jetzt zu, wenn ich Ihnen beipflichte.

Ich stimme Ihnen zu, dass es unser Ziel sein muss,
die Verbraucher- und Ernährungspolitik der Zukunft an
einem gesundheitsfördernden Lebensstil zu orientieren .
Wenn das unser Ansatz ist, verstehe ich allerdings nicht,
warum das nicht auch für den Konsum von Energydrinks
gelten soll .


(Beifall bei der SPD)


Bei den Bewertungen bezieht sich Ihr Haus immer wie-
der auf die uns allen bekannte EFSA-Studie aus dem
Jahr 2015 . Sie sagen, hier seien alle Fakten klar benannt .
Dem ist aber leider nicht so . Um die Aktualität und die
Aussagefähigkeit der Daten zu hinterfragen, habe ich
Gespräche mit der Deutschen Gesellschaft für Pädiatri-

sche Kardiologie geführt . Wir benötigen mehr Daten für
die Altersgruppe der 12- bis 20-Jährigen, die durch einen
hohen, dauerhaften Konsum von Energydrinks auffal-
len . Das ist das Resümee der Gespräche . Das teile ich
uneingeschränkt; denn es gibt ernstzunehmende Hinwei-
se, dass es in dieser Altersgruppe gehäuft Herzmuskel-
wandverdickungen geben soll . Hier brauchen wir endlich
valide Zahlen . Meine Partei sagt ganz klar: Gesundheits-
schutz sollte immer vor Unternehmensinteressen gehen .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zur Erinnerung: Die letzte aktuelle Studie des BfR
liegt schon sieben Jahre zurück . Deshalb hat meine Frak-
tion vor den Haushaltsplanberatungen einen eigenen
Etatansatz zur Verstetigung der Forschung in diesem Be-
reich gefordert . Alle, die sich gerne beruhigt zurückleh-
nen, verweisen auf den Verhaltenskodex der Wirtschafts-
vereinigung Alkoholfreie Getränke e . V . Danach wollen
die betreffenden Unternehmen in Schulen keine direkte
Marketingkommunikation sowie keinen direkten Ver-
kauf vornehmen . Mich beruhigt das keineswegs . Nach
meiner Meinung haben Unternehmen in Schulen sowie-
so nichts verloren . Es ist an der Zeit, endlich gesetzliche
Maßnahmen zu ergreifen,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


nicht weil wir den Kindern und Jugendlichen den Spaß
verderben wollen, sondern weil wir sie vor gesundheitli-
chen Schäden schützen wollen .

Herr Minister, ich habe Sie gerade kritisiert . Jetzt
muss ich Sie auch einmal loben .


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was? – Gegenruf des Abg . Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Jetzt hört Herr Krischer richtig aufmerksam zu!)


Das tue ich nicht nur, weil Weihnachten vor der Tür
steht, sondern weil Sie das Lob wirklich verdient haben .
Sie haben sich mit Ihrem Ministerium bei der Novellie-
rung der europäischen Spielzeugrichtlinie für ein hohes
Schutzniveau beim Kinderspielzeug eingesetzt . Mit der
Absenkung der Bleigrenzwerte wird dem nun Rechnung
getragen . Darüber freue ich mich, und dafür danke ich
Ihnen .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Gleichwohl ist das nur ein erster Schritt . Wir müssen
noch mehr in diesem Bereich tun . Die Rückrufrate bei
Produkten für Kinder beträgt noch immer 27 Prozent .
Das ist viel zu viel . Das darf uns nicht ruhen lassen .

Wie ich sehe, eilt mir die Zeit davon . Deswegen will
ich zum Schluss kommen und noch ein besonderes Prob-
lemfeld ansprechen: Das sind die Kosmetika . Fanschmin-
ke, Klebetattoos und vieles mehr sind noch immer mit
viel zu vielen Schadstoffen belastet. Auch davor müssen
wir die Menschen schützen, insbesondere Kinder und Ju-
gendliche, die so etwas gerne nutzen . Dazu gehört natür-
lich eine bessere Information über die Produkte . Sie, Herr
Minister, haben im Juni 2016 eine Infokampa gne unter
dem Titel „Tätowieren, aber sicher“ vorgestellt. Das ist

Oliver Krischer

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 2016 21057


(A) (C)



(B) (D)


der richtige Weg . Ich muss mich allerdings mit dem Be-
richt der Arbeitsgruppe, die sich damit befasst hat, noch
auseinandersetzen . Diesen Bericht habe ich erst heute
Morgen nach einigen Bemühungen bekommen .

Was mir generell in der politischen Debatte – so auch
heute Morgen – etwas zu kurz kommt, ist, dass Essen
auch etwas mit Genuss zu tun hat . Die Verbraucherinnen
und Verbraucher müssen allmählich regelrecht verunsi-
chert sein . Ich kann Ihnen sagen, dass ich mit meiner Fa-
milie an Weihnachten das Münsterländer Hochzeitsessen
genießen werde . Es enthält Fleisch und Zucker, aber es
ist total lecker, und ich freue mich darauf .

In diesem Sinne: Frohe Weihnachten!


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Michael Grosse-Brömer [CDU/ CSU]: Es sei Ihnen gegönnt!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1821001400

Mit Ihrer Schlussbemerkung, Frau Kollegin, riskieren

Sie, dass die Zahl der Teilnehmer in diesem Jahr deut-
lich größer werden könnte, als Sie das bislang eingeplant
hatten .


(Heiterkeit)


Nun erteile ich dem Kollegen Alois Rainer das Wort
für die CDU/CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Alois Rainer (CSU):
Rede ID: ID1821001500

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir sprechen heute über den Bericht der Bundesregie-
rung zur Ernährungspolitik, aber auch über Anträge zu
verlässlichen Rahmenbedingungen sowie zu veganen
und vegetarischen Lebensmitteln . Wir alle wollen siche-
re und hochwertige Lebensmittel . Zu Recht können die
Verbraucherinnen und Verbraucher erwarten, dass die
Lebensmittel in Deutschland sicher und gesundheitlich
unbedenklich sind .

Lebensmittelsicherheit zu gewährleisten und immer
weiter zu verbessern, ist ein ständiger Prozess . Wenn wir
das vergangene Jahrzehnt anschauen, dann stellen wir
fest, dass die Regelungen und Kontrollen zur Lebensmit-
telsicherheit deutlich erweitert und verbessert wurden .
Lieber Herr Kollege Krischer, ich verstehe nicht ganz,
wenn Sie von einer Riesenbaustelle sprechen . Ich ver-
stehe auch nicht ganz, wenn Sie erwähnen, dass im Er-
nährungsbericht nichts über Trinkwasser steht . Es steht
selbstverständlich etwas darin, und zwar auf Seite 10
ganz unten, wenn Sie bitte nachschauen wollen .


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, ganz unten! Nichts zum Nitrat! Nichts zur Belastung!)


Dort steht, dass 99 Prozent aller Proben die gesetzlichen
Parameter zur Trinkwasserqualität einhalten und die
meisten Proben sogar zu über 99,9 Prozent . Ich denke,
man sollte die Kirche im Dorf lassen .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ebenso sollten wir auch nicht unerwähnt lassen, dass
die Lebensmittel in Deutschland und in den restlichen
EU-Staaten so sicher sind wie noch nie, wobei ich auch
hinzufüge: Man kann in Nuancen immer noch verbes-
sern .

In diesem Zusammenhang muss man auch erwähnen,
dass die großen Herausforderungen darin bestehen, die
Standards weiterhin auf diesem hohen Niveau zu halten .
Unsere Verbraucher wollen diese hohen Standards, sie
wollen hochwertige, nachhaltige, sichere, auch ökolo-
gisch und regional produzierte Lebensmittel . Dies genau
zu gewährleisten, ist unter anderem unsere Aufgabe .

Vor allem nach dem Grundsatz von Klarheit und
Wahrheit ist es nur folgerichtig, dass man vegane und
vegetarische Lebensmittel dementsprechend kennzeich-
net . Diese Lebensmittel sind mittlerweile ein sehr attrak-
tiver, für manche Unternehmen auch ein lukrativer Markt
geworden . Deshalb wird gerade in diesem Marktsegment
ordentlich investiert und die Produktpalette erweitert .

Hierbei stoßen wir auf Grenzen, weil wir verschiede-
ne Definitionen von den Begriffen „vegan“ und „vegeta-
risch“ haben. Vorhin ist über Veggieschnitzel und Veg-
giewurst gesprochen worden . Ich habe dafür ein Stück
weit Verständnis, aber nur ein Stück weit . Für mich mit
meinem beruflichen Hintergrund als Metzgermeister be-
steht Wurst aus Fleisch .


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dementsprechend ist ein Schnitzel ein tierisches Pro-
dukt . Man kann sich tunlich aufregen, aber es ist un-
glaublich wichtig, dass man vegetarische Produkte klar
und deutlich kennzeichnet . Man muss erkennen, aus was
beispielsweise ein Brotbelag, wie immer er heißen mag,
besteht .


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wollen Sie das Veggieschnitzel verbieten?)


– Ich will nichts verbieten . Die Verbotspartei sind die
Grünen .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir wollen nichts verbieten, sondern wir wollen nur
eine klare Kennzeichnung, damit auch die Veganer und
Vegetarier wissen, was sie am Ende essen . Das steht ih-
nen sehr wohl zu .


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1821001600

Herr Kollege, lassen Sie noch eine Zwischenfrage der

Kollegin Maisch zu?


Alois Rainer (CSU):
Rede ID: ID1821001700

Ja, sehr gerne .


(Dr . Petra Sitte [DIE LINKE]: Bei der CSU steht auch „christlich“ davor!)


Ursula Schulte

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 201621058


(A) (C)



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Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1821001800

Danke, Herr Kollege, dass Sie meine Zwischenfrage

zulassen . – Ich möchte Sie nicht nur als Kollegen, son-
dern auch in Ihrer Eigenschaft als Handwerksmeister
fragen . Wir hatten im Ausschuss die Diskussion über
Klarheit und Wahrheit bei den Nährwertangaben von
handwerklich hergestellten Produkten . Es geht Ihnen si-
cher so wie uns, dass Sie viele Briefe von Metzgern und
Bäckern bekommen, die überhaupt nicht wissen, ob sie
in Zukunft auf ihre verpackte Ware Kalorien-, Fett- und
Zuckerangaben schreiben sollen oder nicht und in wel-
cher Art und Weise das geschehen soll .

Im Ausschuss konnte uns nicht so genau erklärt wer-
den, was in Zukunft als Handwerksbetrieb in diesem Be-
reich gilt oder nicht . Deshalb wollte ich Sie fragen, ob
Sie mittlerweile – Sie sind ja Mitglied der Regierungs-
koalition – klarer sehen und vielleicht an dieser Stelle
den Handwerksbetrieben in Deutschland im Sinne von
Klarheit und Wahrheit Auskunft über ihre zukünftigen
Pflichten geben können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Alois Rainer (CSU):
Rede ID: ID1821001900

Sehr verehrte Frau Kollegin, das ist natürlich eine

schwierige Situation, gerade für die Handwerksbetriebe,
die teils nur wenige, teils aber viele Mitarbeiter haben .
Manche haben nur einen Chef oder eine Chefin mit ei-
nem oder zwei Mitarbeitern, andere haben eine ganze
Abteilung, die die Kennzeichnung vornimmt . Ich den-
ke, wir sind uns einig, dass wir eine Kennzeichnung in
dieser Form wollen . Nur, bei welcher Größe wir eine
Begrenzung finden bei vorverpackten Lebensmitteln, da
sind wir uns noch nicht einig . Das ist das Problem der
Handwerksbetriebe . Ich denke hier auch an den kleinen
Ab-Hof-Vermarkter, der vorverpackte Lebensmittel her-
stellt . Das auf die Schiene zu setzen, darin besteht die
Schwierigkeit . Aber ich bin völlig bei Ihnen: Wir brau-
chen eine Nährwertkennzeichnung auf allen Konserven
und vorverpackten Produkten . Es muss nur machbar und
am Ende auch lesbar sein .


(Beifall bei der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist aber nicht geregelt!)


– Nein, ist noch nicht geregelt . Aber wir werden eine Re-
gelung finden, Herr Kollege.


(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Fragt sich, wann!)


Meine Damen und Herren, der Berichterstattung der
Stiftung Warentest und von Öko-Test ist zu entnehmen,
dass sich in veganen Produkten teilweise tierische Zusät-
ze befinden. Das geht so nicht. Selbstverständlich muss
die Kennzeichnung entsprechend geregelt werden . Ich
denke, da sind wir uns alle einig . Die Deutsche Lebens-
mittelbuch-Kommission ist hier in der Pflicht, vernünf-
tige und verständliche Beschreibungen vor allem von
veganen und vegetarischen Lebensmitteln zu liefern . Ich
bin überzeugt, dass das in nächster Zukunft passieren
wird .

Ich erwarte eine Kennzeichnung, aber eine, die für den
Verbraucher lesbar und für die Produzenten umsetzbar
ist . Natürlich wissen wir, dass gerade bei vegetarischen
und veganen Produkten eine handwerkliche Herstellung
nur in sehr geringem Umfang stattfindet; da wird eher
industriell produziert . Insofern stellt hier die Kennzeich-
nung ein kleineres Problem dar .

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschlie-
ßend sagen: Ich wünsche Ihnen allen ein frohes, gesegne-
tes Weihnachtsfest und für das neue Jahr alles erdenklich
Gute, viel Glück, aber vor allem viel Gesundheit .

Danke schön .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1821002000

Nächste Rednerin ist die Kollegin Jeannine Pflugradt

für die SPD-Fraktion .


(Beifall bei der SPD)



Jeannine Pflugradt (SPD):
Rede ID: ID1821002100

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Werte Gäste! Wieder einmal kurz vor Weih-
nachten, also vor anstrengenden und sehr „fettreichen“
Tagen, reden wir über den Ernährungsbericht der Bun-
desregierung . Da liegen mir dieses Mal zwei Themen be-
sonders am Herzen: die Prävention ernährungsbedingter
Krankheiten und die Verpflegung in Gemeinschaftsein-
richtungen .

Beim Kampf gegen lebensstilbedingte Krankheiten
ist Politik gefordert. Hier lautet das Zauberwort „Auf-
klärung“, und zwar nicht erst, wenn es zu spät ist; denn
wirksame Präventionsarbeit muss bereits im Kindesalter
ansetzen . Mit dem im letzten Jahr beschlossenen Prä-
ventionsgesetz sowie mit dem Nationalen Aktionsplan
IN FORM gibt es gute Ansätze für ganzheitliche Prä-
ventionsarbeit . Konkreten Verbesserungsbedarf sehe ich
trotzdem bei IN FORM: Die vielen geförderten Projek-
te müssen auf ihren Sinn und auf ihre Wirksamkeit hin
überprüft werden .


(Willi Brase [SPD]: Sehr richtig!)


Nicht erfolgreiche Projekte müssen zugunsten von sinn-
vollen Projekten aufgegeben werden .


(Beifall bei der SPD)


Es bringt doch nichts, eine an Aktionismus grenzende
Vielzahl von Projekten – laut dem Ernährungsbericht
sind es über 160 – ins Schaufenster zu hängen, wenn
nicht klar ist, ob diese Initiativen überhaupt etwas brin-
gen .

In Sachen Prävention ist die deutsche Politik meiner
Meinung nach gerade erst aus dem Startblock gekom-
men. Ich hoffe sehr, dass genügend Kraft und Kondition
vorhanden sind, am Ziel anzukommen . Das Ziel muss die
Umsetzung wirksamer Präventionsstrategien bleiben .


(Beifall bei der SPD sowie der Abg . Katharina Landgraf [CDU/CSU])


Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 2016 21059


(A) (C)



(B) (D)


Der zweite Bereich, der mir am Herzen liegt, ist die
Gemeinschaftsverpflegung in Senioreneinrichtungen,
Kitas, Schulen, Universitäten und anderen öffentlichen
Einrichtungen . Bund und Länder können hier eine wich-
tige Verantwortung für ihre Bürger, unabhängig von Al-
ter und sozialer Herkunft, übernehmen .

Werden wir dieser Verantwortung bisher wirklich ge-
recht? Klare Antworten auf diese Frage habe ich nicht
im Ernährungsbericht der Bundesregierung, sondern im
aktuellen Ernährungsbericht der Deutschen Gesellschaft
für Ernährung gefunden . Ich möchte daraus kurz zitieren:
In vielen Kitas fehlt die Grundlage für die Zubereitung
von gesundheitsförderndem Essen. Die pflegebedürf-
tigen Menschen in den rund 13 000 Pflegeheimen in
Deutschland sind in Gefahr einer Mangelernährung .


(Katharina Landgraf [CDU/CSU]: Das habe ich auch schon gesagt!)


Leider lassen diese Fakten für mich nur den Schluss zu,
dass die Bundesregierung ihrer Verantwortung hier lange
nicht nachgekommen ist . Ein erster Schritt zur Verbesse-
rung der Verpflegung an Schulen wäre meiner Meinung
nach die Aufhebung des Kooperationsverbotes für Bund
und Länder im Bildungsbereich .


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Begrüßen möchte ich hingegen die Zusammenlegung
der beiden EU-Programme zu Schulobst und Schulge-
müse und zu Schulmilch . Die damit zusammenhängende
Verabschiedung des Landwirtschaftserzeugnisse-Schul-
programmgesetzes war ein wichtiger Schritt, der die
EU-Verordnung im deutschen Recht verankert hat . Ab
dem Schuljahr 2017/2018 stehen Deutschland jährlich
rund 29 Millionen Euro zur Verfügung . Und die beste
Nachricht ist, dass die bisherige Kofinanzierung ab dem
nächsten Jahr komplett entfällt . Leider nehmen derzeit
immer noch nur neun Bundesländer an diesem Programm
teil . An dieser Stelle möchte ich erneut an alle Bundes-
länder appellieren, sich zu überlegen, daran teilzuneh-
men . In erster Linie meine ich hier einmal mehr mein
eigenes Heimatbundesland Mecklenburg-Vorpommern .

Abschließend will ich auf das Thema Verantwor-
tung zurückkommen . Unserer Verantwortung gerecht
zu werden, heißt, hochwertige und gesunde Lebensmit-
tel in Kitas, in Schulen, in Universitäten und in ande-
ren öffentlichen Einrichtungen zur Verfügung zu stellen
und Wissen über die Herkunft und Herstellung unserer
Nahrungsmittel zu vermitteln . Kenntnisse über die Zu-
sammenhänge zwischen Ernährung und geistiger sowie
körperlicher Gesundheit sollten zum Allgemeinwissen
von Kindern und Jugendlichen gehören . Und wenn ich
von der Verantwortung der Politik spreche, dann meine
ich damit natürlich nicht Verbote und Bevormundung,
sondern Aufklärung, Wissensvermittlung und Schaffung
von optimalen Rahmenbedingungen für ausgewogene
Ernährung .


(Beifall bei der SPD)


Damit bin ich wieder beim Kooperationsverbot . Liebe
Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, springen

Sie doch endlich über Ihren Schatten und heben Sie ge-
meinsam mit uns dieses Kooperationsverbot auf!


(Beifall bei der SPD)


Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und wün-
sche Ihnen ein wundervolles, gesegnetes Weihnachtsfest .
Kommen Sie gesund ins neue Jahr!

Danke schön .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1821002200

Ingrid Pahlmann hat nun das Wort für die CDU/

CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ingrid Pahlmann (CDU):
Rede ID: ID1821002300

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Minister

Schmidt! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Im Er-
nährungspolitischen Bericht, der hier heute vorgestellt
wurde, geht es um Grundlagen, Ziele und Maßnahmen
im Bereich der Ernährungspolitik und um Verbraucher-
schutz . Damit geht es um wichtige Themen, die uns alle
etwas angehen . Wir reden von Ernährungssicherung, Le-
bensmittelsicherheit, vom Schutz der Verbraucher vor Ir-
reführung, von Nachhaltigkeit im Konsum, Ernährungs-
bildung und Information und von Ernährungsprävention .

Ich bin Hauswirtschaftsleiterin, habe selber jahrelang
junge Menschen bei uns im Betrieb ausgebildet und weiß
deshalb aus eigener Erfahrung, dass all diese Themen
manchmal recht zäh zu vermitteln sind . Ernährungsbil-
dung, Umgang mit Nahrungsmitteln, Vermeidung von
Nahrungsmittelverschwendung sind nicht unbedingt hip-
pe Themen unter jungen Menschen . Mir ist aber bewusst,
dass es schwer ist, sich ohne eine gewisse Grundbildung
gesund und ausgewogen zu ernähren – gerade heute, in
Zeiten des absoluten Überflusses, in denen wir alle mög-
lichen Produkte in schier unendlicher Vielfalt in den
Regalen der Einkaufsmärkte vorfinden. Wir finden dort
nicht nur Grundnahrungsmittel, sondern auch vielfach
vorgefertigte Teil- oder Voll-Convenience-Produkte .

Das erschwert den Durchblick, was gesund ist . Was
brauche ich wirklich? Welche Zusatzstoffe will ich nicht
essen? Welche vertrage ich gesundheitlich nicht? Mir
reicht es nicht, zum Beispiel durch eine simple Am-
pelkennzeichnung den Menschen zu sagen: Dieses Le-
bensmittel hat viel Zucker, jenes hat viel Fett, und das
andere enthält viele Kohlenhydrate . Ich weiß, dass der
Austausch von Zucker durch Zuckerersatzstoffe nicht die
bessere und gesündere Variante ist .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir möchten, dass die Menschen wieder ein solides
Basiswissen haben und wieder lernen, wie viel sie wo-
von brauchen und was gut für sie ist . Wir wollen, dass
die Menschen nicht dumm gehalten werden, sondern ihre
Kaufentscheidungen bewusst auf der Basis von Wissen
treffen können und nicht durch staatliche Bevormundung

Jeannine Pflugradt

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 201621060


(A) (C)



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gelenkt werden . Ich erinnere noch einmal an Veggieday
und Smileys; über die Ampelkennzeichnung habe ich
schon etwas gesagt . Wer unbedingt Analogkäse essen
will, der soll es tun, aber er muss es dann auch bewusst
tun .

Ich freue mich sehr, dass unser Minister diese Proble-
matik auf die Tagesordnung gesetzt und viele Mosaik-
steine, die Ernährungsbildung und Ernährungswissen im
Fokus haben, auf den Weg gebracht hat . Er hat erkannt,
dass es unumgänglich ist, dieses Wissen wieder in die
Köpfe der Menschen zu pflanzen. Nur wer Grundkennt-
nisse im Bereich der Ernährung hat, kann eine Wahl
treffen und entscheiden, ob er sich omnivor, vegetarisch,
vegan oder sonst wie ernähren will . Dazu gehört dann
aber auch, dass er sich auf Verpackungsangaben verlas-
sen kann .

Nehmen wir einmal als Beispiel die vegane Ernäh-
rung; sie wurde hier schon mehrmals angesprochen .
Hier muss man sich mit vielen Dingen auseinanderset-
zen. Man muss Nährstoffe kennen und wissen, was der
Körper braucht und welche Bausteine in veganen Le-
bensmitteln nicht vorhanden sind . Vor allem aber muss
man wissen, wie diese Ernährungsweise ergänzt werden
muss, um wirklich gesund zu sein .


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kriegen die Leute schon selber hin!)


Auf der anderen Seite muss sich ein Veganer darauf ver-
lassen können, dass vegane Produkte frei von tierischen
Elementen sind . Tatsächlich aber enthalten viel zu viele
als vegan beworbene Produkte Inhaltsstoffe tierischer
Herkunft, die nicht ausgewiesen werden müssen .

Die Bundesregierung – unser Minister – hat diesbe-
züglich gehandelt und sich für eine europaweit einheitli-
che Definition von „vegan“ und „vegetarisch“ eingesetzt.
Schon in der seit Dezember 2014 gültigen Lebensmittel-
informations-Verordnung ist in Artikel 36 vorgesehen,
dass die Europäische Kommission eine einheitliche Defi-
nition für Informationen über die Eignung eines Lebens-
mittels für Vegetarier und Veganer erlässt . Dem ist die
Kommission aber bis heute nicht nachgekommen . Die
Bezeichnung „vegan“ ist lebensmittelrechtlich nicht de-
finiert und nicht geschützt. Die Kontrollen sind zudem
viel zu wenig transparent, und das muss sich ändern .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Unserer Meinung nach geht das aber noch weiter . Ich
komme zu dem netten Thema: Wann ist eine Wurst eine
Wurst? Wann ist ein Schnitzel ein Schnitzel? Allein das
ist schon nicht geklärt . Der Verbraucher muss aber doch
erkennen können, was er isst . Ist es wirklich Fleisch, oder
ist es ein fleischfreies Produkt? Es muss drin sein, was
draufsteht, und es muss draufstehen, was drin ist .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn da „Tofuwurst“ draufsteht, versteht das jeder!)


Unser Ziel muss es sein, den Verbraucher vor Täuschung
zu bewahren und die Qualität der Produkte zu schützen .

Wir fordern daher Klarheit und Wahrheit für Hersteller
und Verbraucher . Liebe Kollegen der Grünen, Sie fordern
das sonst doch auch immer vehement . Aber beim Thema
„vegan“ ist Ihnen das ziemlich egal. Ich finde das sehr
inkonsequent .


(Artur Auernhammer [CDU/CSU]: Komisch, nicht?)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist nur ein kur-
zer Abriss eines wirklich großen Themenkomplexes, der
aber hoffentlich zeigt, dass die Lebensmittelkennzeich-
nung ein essenzieller Baustein für bewusste Verbraucher-
entscheidungen ist .

Inzwischen ist bewiesen, dass adipöse Mütter mit ho-
her Wahrscheinlichkeit adipöse Kinder zur Welt bringen,
dass fehlernährte Mütter irreparable Schäden an ihren
Kindern provozieren . Deshalb ist es wichtig, dass wir
den Fokus verstärkt auf Ernährungsbildung, Produkt-
sicherheit und klare Kennzeichnung legen . Diese Re-
gierung hat das erkannt und handelt, hat hohe Ziele im
Bereich „Ernährungspolitik und Verbraucherschutz“ und
geht diesen Weg konsequent weiter .

Noch ein Satz, obwohl meine Zeit abgelaufen ist: Sie
tun immer so, als wenn unsere Nahrungsmittel uns ver-
giften würden . Liebe Kollegen der Opposition, wir haben
die sichersten und besten Nahrungsmittel, die es gibt .


(Zurufe von der CDU/CSU: Jawohl!)


Liebe Bürgerinnen und Bürger, lassen Sie sich Ihr Weih-
nachtsfest nicht durch politische Polemik verderben! Ge-
nießen Sie das Weihnachtsfest! Genießen Sie das Essen!
Es wird immer so getan, als seien unsere Nahrungsmittel
schlecht . Wir haben super Nahrungsmittel .

Ich wünsche allen ein frohes Weihnachtsfest .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1821002400

Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist

die Kollegin Karin Thissen für die SPD-Fraktion .


(Beifall bei der SPD)



Dr. Karin Thissen (SPD):
Rede ID: ID1821002500

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr
geehrter Herr Minister Schmidt, es verschlägt mir vor
Freude fast die Sprache, dass Sie uns den Ernährungs-
politischen Bericht, schon ein Jahr nachdem er erstellt
wurde, präsentieren .


(Nicole Maisch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nur fast!)


Dieses schnelle Arbeiten bin ich aus Ihrem Haus so gar
nicht gewöhnt . Ich betrachte es als eine Art vorweih-
nachtliche Überraschung .

Dem Bericht entnehmen wir, dass das Thema Ernäh-
rung einen immer höheren Stellenwert bekommt, in der
Bundesregierung, aber auch im Rahmen der G 7 und der
G 20 . Im Bericht erfahren wir auch, wie wichtig für die
Lebensmittelsicherheit die Trennung von Risikobewer-

Ingrid Pahlmann

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 2016 21061


(A) (C)



(B) (D)


tung und Risikomanagement ist . Wir lesen beeindru-
ckende Fremdwörter: Europäisches Schnellwarnsystem,
Nationaler Rückstandskontrollplan, Allgemeine Verwal-
tungsvorschrift Rahmen-Überwachung . Wir erfahren,
was das ist, wie gut miteinander vernetzt und verzahnt
das alles ist und dass uns diese Strukturen im Prinzip vor
Lebensmittelkrisen, Skandalen und Katastrophen wie
BSE, Dioxin, Ehec und bayerischen Salmonelleneiern
hätten schützen können müssen .

Obwohl das alles fast so gut wie perfekt ist, kann man
es immer noch verbessern . Deswegen gibt es in dem Ab-
schnitt über die Lebensmittelsicherheit auch das Kapitel:
Was bleibt zu tun?


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Daraus habe ich schon zitiert!)


Da lesen wir: proaktive Aufgabe der Politik, Vorsorge-
prinzip, Feinjustierung . Feinjustierung, Herr Minister,
ist, wie ich finde, ein ganz tolles Wort. Das hört sich an
wie: Bloß nicht zu lange und zu dolle an den Gesetzen
rumschrauben!


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Dazu fällt mir doch der Arbeitsauftrag aus dem Koali-
tionsvertrag ein: die rechtssichere Formulierung des § 40
Absatz 1a LFGB . Da geht es darum, dass für Verbraucher
klar und eindeutig ersichtlich wird, in welchen Betrieben
sauber und hygienisch mit Lebensmitteln umgegangen
wird und in welchen nicht . An diesem Gesetzentwurf,
Herr Minister, wurschteln Sie sozusagen fleischlos sage
und schreibe schon drei Jahre herum .


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Umso erstaunter war ich, im Ernährungspolitischen Be-
richt auf Seite 15 zu lesen, dieser Gesetzentwurf sei in-
zwischen in Ihrem Hause sozusagen Fleisch geworden .
Ach echt? Kann man diesen Gesetzentwurf einmal lesen?


(Nicole Maisch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er ist in Geheimschrift geschrieben!)


Haben Sie offiziell etwas in die Wege geleitet, und ich
habe es verpennt? Ich kenne nur ein Ministeriumspa-
pier – meine Damen und Herren, ein Ministeriumspapier
ist so etwas wie ein Gesetzentwurfsimitat, also so etwas
Ähnliches wie Analogkäse –, das seit kurzem durch die
Gänge wabert .


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ist denn heute schon Karneval? Das ist doch eine Büttenrede! Unglaublich!)


Und der Formulierungsvorschlag in diesem Gesetzent-
wurfsimitat ist wieder einmal das Papier nicht wert, auf
dem er steht .


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Tata! Tata! Tata!)


Der wird uns doch von den Gerichten wieder einkassiert,
bevor die Tinte, mit der er geschrieben wurde, getrocknet
ist .


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Helau!)


Herr Minister, lassen Sie es uns doch endlich einmal
gescheit anpacken .


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir, die SPD, sind bereit; wir wollen effektiven Verbrau-
cherschutz


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das klang gerade nicht so!)


zeitnah und unmittelbar und nicht weiterhin nur angebli-
chen Schutz der Verbraucher auf dem Papier . Ich sage es
noch einmal klar und eindeutig: Wir wollen keine Här-
tefallklausel . Wir wollen kein Geschacher um eine Buß-
geldschwelle . – So haben wir uns im Koalitionsvertrag
nicht geeinigt . Wir haben ein Mehr an Verbraucherschutz
und Transparenz vereinbart . Ihr Entwurf sieht weniger
Transparenz vor .

Herr Minister, Ihrem Kapitel „Was bleibt zu tun?“
hänge ich meine Weihnachtswunschliste an . Die lautet:
flächendeckende Transparenz, Vergleichbarkeit und ef-
fektive Rechtsdurchsetzung . Das wünschen sich übrigens
auch alle Verbraucherinnen und Verbraucher, und nicht
nur zu Weihnachten .

Ich danke Ihnen fürs Zuhören .


(Beifall bei der SPD – Michael GrosseBrömer [CDU/CSU]: War schwer genug!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1821002600

Ich schließe die Aussprache .

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/8650, 18/4214 und 18/9558 an
die in der Tagesordnung vorgesehenen Ausschüsse vor-
geschlagen. – Dazu gibt es offenkundig keine Einwände.
Also sind die Überweisungen so beschlossen .

Unter dem Tagesordnungspunkt 27 b kommen wir zur
Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD auf der Drucksache 18/10633 mit dem
Titel „Verlässliche Rahmenbedingungen für vegane und
vegetarische Lebensmittelangebote – Klarheit und Wahr-
heit für Hersteller und Verbraucher“. Wer stimmt für die-
sen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
Damit ist der Antrag mit den Stimmen der Koalition bei
Enthaltung der Opposition angenommen .

Unter dem Tagesordnungspunkt 27 e stimmen wir
über die Beschlussempfehlung des Ausschusses zu dem
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der
Drucksache 18/9057 mit dem Titel „Mehr Transparenz
bei vegetarischen und veganen Produkten schaffen“ ab.
Hier empfiehlt der Ausschuss in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 18/9880, den genannten Antrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abzulehnen . Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt

Dr. Karin Thissen

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 201621062


(A) (C)



(B) (D)


dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist die Beschluss-
empfehlung gegen die Stimmen der Opposition mit den
Stimmen der Koalition angenommen .

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 sowie die Zu-
satzpunkte 8 und 9 auf:

28 . Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe (17 . Ausschuss)


– zu dem EU-Jahresbericht 2015 über Men-
schenrechte und Demokratie in der Welt
- Thematischer Teil -
Ratsdok. 10255/16

– zu dem EU-Jahresbericht über Menschen-
rechte und Demokratie in der Welt im
Jahr 2015
- Länder- und regionenspezifische Themen -
Ratsdok. 12299/16

Drucksachen 18/10116 Nr. A.28 und Nr. A.29,
18/10669

ZP 8 Unterrichtung durch das Deutsche Institut für
Menschenrechte

Bericht über die Entwicklung der Menschen-
rechtssituation in Deutschland


(Berichtszeitraum Januar 2015 bis Juli 2016)


Drucksache 18/10615
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

ZP 9 Unterrichtung durch das Deutsche Institut für
Menschenrechte

Jahresbericht 2015

Drucksache 18/10616
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien

Zu der Beratung der Beschlussempfehlung liegt ein
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor .

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die
Aussprache 60 Minuten dauern . – Einwände dazu sehe
ich nicht . Also verfahren wir so .

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Frank Schwabe für die SPD-Fraktion .


(Beifall bei der SPD)



Frank Schwabe (SPD):
Rede ID: ID1821002700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Verehrte Damen und Herren! Wir sind kurz vor Weih-
nachten, aber auch kurz nach dem Internationalen Tag
der Menschenrechte, der jedes Jahr am 10 . Dezember
begangen wird . Wir debattieren heute zahlreiche Berich-
te . Berichte gibt es genug; an ihnen mangelt es nicht . Es
mangelt an der Umsetzung dessen, was in den Berichten
angemahnt wird . Was noch schlimmer ist: Wenn wir uns
die weltweite, aber auch die europäische Situation an-
schauen, dann erkennen wir, dass es in den letzten Jahren
Rückschritte in der Frage der Menschenrechte gegeben
hat . Es gibt Drangsalierungen von Nichtregierungsorga-
nisationen, der Zivilgesellschaft, von Journalisten, und
niemand sollte glauben, dass das keine Auswirkungen
auf die Lage der Menschenrechte hat, wenn auch gele-
gentlich ein Stück weit verzögert . Es ist richtig, darauf
zu schauen, was „die da“, was andere machen, was Eu-
ropa macht, was die Staaten in der Welt machen . Aber
wir müssen auch darauf schauen, was wir machen; denn
das ist die Grundbedingung dafür, Missstände in anderen
Staaten benennen und anklagen zu können, und das wol-
len wir heute in der Debatte tun .

Ich will aber noch einmal nach außen schauen und
das Thema Türkei ansprechen . Wir erleben dort eine Si-
tuation, die es wahrscheinlich selten gibt, nämlich dass
sich eine Demokratie in Richtung einer Diktatur entwi-
ckelt . Wir sehen in der Türkei mittlerweile Folter und un-
menschliche Behandlungen, willkürliche Verhaftungen
und die Zerstörung einer funktionierenden Medienöffent-
lichkeit . Ich will die Gelegenheit heute nutzen, mich noch
einmal bei den mittlerweile rund 100 Parlamentariern,
100 Kolleginnen und Kollegen, zu bedanken – es werden
jeden Tag mehr –, die sich im Rahmen des Programms
„Parlamentarier schützen Parlamentarier“ für bedrohte
Abgeordnete in der Türkei einsetzen . Ich glaube, das ist
ein ganz wichtiges Programm . Es wäre gut, wenn noch
mehr bei diesem Programm mitmachten, nicht nur bezo-
gen auf die Türkei, sondern auch darüber hinaus, und es
wäre gut, wenn andere Parlamente der Welt unserem Bei-
spiel folgten und ebenfalls solche Programme aufsetzten .
Ich glaube, das hilft ein gutes Stück weit .


(Beifall im ganzen Hause)


Ich will mich auch für den ersten Bericht an den Bun-
destag nach der Verabschiedung des Gesetzes über die
Rechtsstellung und Aufgaben des Deutschen Instituts für
Menschenrechte, was wir am Ende gemeinsam hinbe-
kommen haben, beim Institut bedanken . Es gab im Vor-
feld an der einen oder anderen Stelle den Vorwurf, dass
es sich um einen politischen Bericht handelt . Dazu sage
ich: Selbstverständlich ist dieser Bericht politisch . Was
denn sonst? Das, was wir hier machen, was wir bespre-
chen – die Frage der Menschenrechte –, ist Politik . Na-
türlich muss ein Menschenrechtsinstitut unbequem sein,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


natürlich muss es der Stachel im Fleisch der Politik und
auch dieses Parlaments sein . Insofern will ich das Insti-
tut zu diesem Bericht beglückwünschen und auch dazu,

Präsident Dr. Norbert Lammert

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 2016 21063


(A) (C)



(B) (D)


dass es mittlerweile den Vorsitz der Globalen Allianz der
Nationalen Menschenrechtsinstitutionen übernommen
hat – das zeigt, welch hohe Anerkennung dieses Institut
genießt .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg . Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ein zentrales Thema des Berichts ist „Flucht“; es geht
um die Menschen, die zu uns kommen und in einer be-
sonders schwierigen Situation sind . Es wird darauf hin-
gewiesen, dass es viel Gutes gibt, was den Menschen hier
widerfährt, dass es viele Menschen gibt, die sich für sie
engagieren, aber eben auch darauf, dass es zum Beispiel
allein im Jahr 2015 1 027 Übergriffe auf Flüchtlingsun-
terkünfte gab .

Ich möchte das aufnehmen und es mit guten Wünschen
zu Weihnachten verbinden . Ich habe viele gute Wünsche
zu Weihnachten bekommen, unter anderem von einem
Kollegen, den ich hier nicht nennen will; aber er hat die
guten Wünsche mit einem Zitat von Paul Gerhardt ver-
bunden, der darin von Gottes Barmherzigkeit spricht .
Mit der Barmherzigkeit sind, glaube ich, alle Menschen
gemeint, unabhängig von der Nationalität, unabhängig
davon, woher sie kommen, an was sie glauben, wer sie
sind . Ich will sagen, was nicht barmherzig ist – das wird
in dem Bericht angemahnt –: Nicht barmherzig ist, wenn
wir über Regelungen zum subsidiären Schutz die Famili-
enzusammenführung verhindern .


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das macht auch gar keinen Sinn, wenn man Menschen
integrieren will . Es macht auch in der Sache keinen Sinn,
weil es mittlerweile Gerichtsentscheidungen gibt, die in
mindestens drei Vierteln der Fälle dafür sorgen, dass am
Ende eben doch eine Familienzusammenführung mög-
lich ist . Das heißt, solche Regelungen sind vollkommen
ineffektiv.

Einige Worte zum Nationalen Aktionsplan „Wirtschaft
und Menschenrechte“. Wie ich höre, werden darüber ak-
tuell noch Gespräche geführt . Wie lange diskutieren wir
schon über den Nationalen Aktionsplan „Wirtschaft und
Menschenrechte“? Liebe Kolleginnen und Kollegen,
was nicht funktioniert, ist, dass wir – Deutschland, der
deutsche Staat, aber auch die deutschen Unternehmen –
Flucht und Vertreibung und die Nichtsicherstellung von
Lebensgrundlagen als Gründe für die Flucht anprangern,
uns aber gleichzeitig nicht verpflichtet fühlen, menschen-
rechtliche Standards festzulegen, die dazu führen, dass
die Menschen nicht nach Europa kommen müssen .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Man kann nicht das eine beklagen, das andere aber dann
nicht tun wollen . Ich fordere insbesondere unseren Ko-
alitionspartner auf, dafür zu sorgen, dass wir noch vor
Weihnachten einen vernünftigen Plan im Kabinett verab-
schieden können .

Ich möchte noch ein allerletztes Thema ansprechen,
und zwar das Thema Wahlrechtsausschluss . Als ich zum

ersten Mal davon gehört habe, habe ich gar nicht glauben
wollen, dass wir in Deutschland 84 500 Menschen mit
Behinderungen davon abhalten, von ihrem demokrati-
schen Wahlrecht Gebrauch zu machen . Wir sollten uns
ein Beispiel an Nordrhein-Westfalen und auch Schles-
wig-Holstein nehmen, wo die Wahlrechtsausschlüsse
von Landtagswahlen und Kommunalwahlen längst auf-
gehoben worden sind . Ich habe von der Kollegin Kerstin
Tack, die bei uns für die Politik für Menschen mit Behin-
derungen zuständig ist, gehört, dass es da gute Gespräche
gibt . Ich glaube, es wäre ein sehr gutes Signal, wenn wir
die Wahlrechtsausschlüsse noch vor der nächsten Bun-
destagswahl aufheben würden .

Vielen Dank .


(Beifall bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1821002800

Das Wort erhält nun die Kollegin Inge Höger für die

Fraktion Die Linke .


(Beifall bei der LINKEN)



Inge Höger-Neuling (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1821002900

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutsch-

land kurz vor Weihnachten: In einem Charterflugzeug
werden 34 Menschen, die hier Schutz gesucht haben,
zurück in den Krieg geschickt . Tausende weiterer Af-
ghaninnen und Afghanen sollen folgen . Sie werden ab-
geschoben, mitten in den kalten Winter am Hindukusch,
mitten in die Perspektivlosigkeit . Es gibt in Afghanistan
keinen Ort, der wirklich Schutz bieten kann . Es gibt dort
keinen sicheren Ort . Mit dieser organisierten Unbarm-
herzigkeit beugt sich die Regierung dem rechten Mob .
Das können und das dürfen wir nie akzeptieren .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das sieht das Bundesverfassungsgericht anders!)


Wir reden heute über Menschenrechte . Menschen-
rechte sind keine Almosen oder Gnadenakte . Die Ach-
tung der Menschenrechte ist ein Grundrecht, und die
Genfer Flüchtlingskonvention beinhaltet klare Schutz-
rechte . Auch Deutschland hat die Flüchtlingskonvention
ratifiziert. Doch die Rechte werden zunehmend missach-
tet . Das ist unerträglich .


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sieht das Bundesverfassungsgericht anders!)


Der hier vorliegende EU-Menschenrechtsbericht be-
schäftigt sich mit vielen wichtigen Entwicklungen; er
hat aber einen zentralen blinden Fleck . Der Schutz der
Menschenrechte in der EU wird nicht problematisiert .
Die Verantwortung der EU und ihrer Mitgliedstaaten
für Menschenrechtsverletzungen spielt kaum eine Rolle .
Transnationale Konzerne mit Sitz in der EU werden in
dem Bericht nicht mit den Folgen ihres Handelns kon-
frontiert . Wenn wir Menschenrechten wirklich global
Anerkennung verschaffen wollen, dann müssen wir hier
mit der Durchsetzung beginnen .


(Beifall bei der LINKEN)


Frank Schwabe

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 201621064


(A) (C)



(B) (D)


Ich werde auf einige Defizite bei der Umsetzung
von Menschenrechten in Deutschland und in der EU
eingehen . Die Rechte von Flüchtlingskindern und Ju-
gendlichen sind hier und in den anderen Ländern der
Europäischen Union alles andere als sicher . Die UN-Kin-
derrechtskonvention garantiert die Rechte von Minder-
jährigen bis zum Alter von 18 Jahren . Dennoch werden
inzwischen junge Menschen überfallartig aus Jugendhil-
feeinrichtungen herausgerissen und in unsichere Situati-
onen abgeschoben . Diese Praxis erschwert die Arbeit mit
den häufig traumatisierten jungen Menschen zusätzlich.
Stellen Sie sich einmal vor, Sie müssten ständig damit
rechnen, plötzlich von Polizisten aus Ihrer vertrauten
Umgebung herausgerissen zu werden . Stellen Sie sich
vor, Sie werden, ohne Abschied von Freunden nehmen zu
können, in ein Land zurückgeschickt, in dem Ihnen Ge-
fahr droht . Wie sollen angesichts dieser ständigen Angst
ein Schulbesuch, die Verarbeitung der eigenen Traumata
und der Aufbau von vertrauensvollen sozialen Beziehun-
gen funktionieren? Obwohl die Kinderrechtskonvention
vorsieht, dass bei allen staatlichen Maßnahmen das Wohl
des Kindes vorrangig berücksichtigt werden muss, sieht
die Realität für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in
Deutschland nicht selten anders aus . Stoppen Sie endlich
die Abschiebungen aus Schulen und Jugendhilfeeinrich-
tungen!


(Beifall bei der LINKEN)


Es drängt sich häufig der Eindruck auf, dass sich poli-
tisch ein rein instrumenteller Umgang mit Menschenrech-
ten durchsetzt . Wenn die vermeintliche Durchsetzung
von Menschenrechten dazu dienen kann, unliebsame
Regierungen zu stürzen, dann wird der umfangreiche In-
strumentenkasten der EU und ihrer Mitgliedstaaten gerne
genutzt, um politisch Einfluss zu nehmen, wie etwa in
Libyen, der Ukraine oder in Honduras . Wenn die Einhal-
tung von Menschenrechten aber der Profitmaximierung
im Wege steht, dann sind sie deutlich weniger wert .

Betrachten wir einmal das Menschenrecht auf Woh-
nen, das im Artikel 11 des UN-Sozialpaktes garantiert
wird . 335 000 Menschen sind aktuell in Deutschland
wohnungslos . In den nächsten Jahren soll die Zahl auf
eine halbe Million klettern, wenn sich nichts grundle-
gend ändert . Das Problem ist nicht in erster Linie, dass
es zu wenig Wohnraum gibt, sondern vor allem, dass es
zu wenig bezahlbare Wohnungen gibt . Der Leerstand
von Wohnraum und die Immobilienspekulation müssen
endlich wirksam bekämpft werden . Wir brauchen mehr
öffentliche Sozialwohnungen.


(Beifall bei der LINKEN)


Zu den Prioritäten der Umsetzung der EU-Menschen-
rechtspolitik gehört die Vereinigungsfreiheit . Dazu gehört
auch das Recht, Gewerkschaften zu bilden, sich kollektiv
zu organisieren und gemeinsam für bessere Löhne oder
bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen . Dieses Recht
ist in der EU nicht nur durch Entlassungen aufgrund
von Gewerkschaftsaktivitäten in Gefahr, sondern auch
durch die Spardiktate der Troika . In deren Folge wurden
die Arbeitsgesetze in zahlreichen EU-Ländern geändert .
In Griechenland, Italien, Portugal und Spanien können
Unternehmen nun von den Branchentarifverträgen und

gesetzlichen Bestimmungen abweichen . Damit existiert
das Recht auf Kollektivvertragsverhandlungen zwar for-
mal weiter, ist aber faktisch massiv eingeschränkt . Men-
schenrechte respektieren heißt auch Gewerkschaftsrechte
stärken statt abbauen .


(Beifall bei der LINKEN)


In dem vorliegenden Bericht legt die EU dar, dass sie
auf den sogenannten Menschenrechtsdialog setzt, um ge-
gen Landnahme, Vertreibung und Angriffe auf die Rechte
von Beschäftigten in Asien und Lateinamerika vorzuge-
hen . Nicht erwähnt wird, dass solche Menschenrechts-
verstöße häufig in direktem oder indirektem Zusammen-
hang mit dem Handeln transnationaler Unternehmen
stehen . Ecuador startete 2013 im Menschenrechtsrat mit
Unterstützung von 85 Ländern eine Initiative, mit der
Unternehmen endlich für Menschenrechtsvergehen hät-
ten zur Rechenschaft gezogen werden können . Leider
haben die EU-Staaten als Block dagegengestimmt . Wer
den Opfern so Klagemöglichkeiten zerstört und Kon-
trollmöglichkeiten verwässert, der nimmt weitere Verstö-
ße gegen Menschenrechte billigend in Kauf . Die Linke
setzt sich ein für verbindliche Unternehmensregeln ent-
lang der gesamten Lieferkette . Wir wollen verhindern,
dass weitere Textilarbeiterinnen sterben und dass noch
mehr Menschenrechtsverteidigerinnen ermordet werden .
Dafür ist mehr nötig als ein unverbindlicher Menschen-
rechtsdialog .


(Beifall bei der LINKEN)


Ich habe bereits zu Beginn meiner Rede darauf hinge-
wiesen, dass ich es unerträglich und unmoralisch finde,
wie zurzeit mit Flüchtlingen umgegangen wird . Die zahl-
losen Menschen, die im Mittelmeer ertrunken sind, sind
mehr als „tragische Todesfälle“, wie im EU-Bericht be-
schrieben . Das Massensterben vor den Toren Europas ist
das direkte Ergebnis der EU-Abschottungspolitik . Dieses
Sterben kann nur beendet werden durch die Schaffung
sicherer, legaler Einreisewege nach Europa .


(Beifall bei der LINKEN)


Die EU schafft unzählige Fluchtursachen: durch die
bereits beschriebene Politik ihrer multinationalen Kon-
zerne, durch Freihandel und eine Agrarpolitik, die nati-
onale Entwicklungen zerstören, durch Rüstungsexporte
sowie durch ihre Außen- und Militärpolitik . Es ist völlig
unverständlich, warum sich die EU-Staaten nicht ge-
meinsam für das Recht auf Frieden und für die Ächtung
von Atomwaffen einsetzen, anstatt in der UN dagegen zu
stimmen .

Heute vor genau 50 Jahren wurde der UN-Sozialpakt
von der Generalversammlung der Vereinten Nationen
einstimmig verabschiedet . Es ist höchste Zeit, dass er
umgesetzt wird, dass die ökonomischen, sozialen und
kulturellen Rechte von Menschen umgesetzt werden .
Das Recht auf Arbeit, auf Bildung und auf soziale Sicher-
heit gilt für alle und muss deswegen auch für alle einge-
löst werden, egal ob sie die deutsche Staatsbürgerschaft
haben oder ob sie aus der EU oder aus anderen Ländern
kommen . Gerechtigkeit und Solidarität sind nicht nur in
der Vorweihnachtszeit zentrale Pfeiler für das Zusam-
menleben in einer Gesellschaft .

Inge Höger

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 2016 21065


(A) (C)



(B) (D)


Vielen Dank .


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1821003000

Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Frank

Heinrich nun das Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Frank Heinrich (CDU):
Rede ID: ID1821003100

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Frei – das steht auf einem Armband, das uns
eine NGO vor wenigen Wochen vorgestellt hat . Damit
können wir möglicherweise ein Statement setzen: Ich bin
frei . Aber Millionen von Männern, Frauen und Kindern
sind es eben nicht . Sie können ihre Meinung nicht frei
äußern . Sie können ihren Glauben nicht so ausleben, wie
sie es wünschen . Viele sind sehr menschenunwürdigen
Arbeitsbedingungen ausgesetzt . Das hat in der globalen
vernetzten Welt – das entnehme ich auch Ihrer Rede –
natürlich auch immer mit uns zu tun .

Denken wir einmal 26 Jahre zurück . Die Welt ist im
Aufbruch . Es kommt zur Wende . In der Folge stehen
sich die großen Blöcke nicht mehr wie im Kalten Krieg
feindlich gegenüber . Diktaturen sind gefallen, auch in
Afrika . Viele der Indizes für die Not, für das Leid haben
sich in den meisten Ländern gravierend verbessert, weil
man sich nicht mehr in diesem Dualismus gegenüber-
steht . Extreme Armut, Zugang zu Wasser, Mütter- und
Kindersterblichkeit, Gesundheitsversorgung, Bildung für
Mädchen, die Todeszahlen in Konflikten – wir denken
heute, das alles hätte sich verschlechtert . Aber die Indizes
sind damals kontinuierlich gefallen . Wir haben Freiheit
neu erlebt, für manche vielleicht das erste Mal definiert.
Die Hoffnung pfiff sich durch den Gorki Park. „Glasnost“
und „Perestroika“ waren die Wörter des Jahrzehnts. Et-
was später gab es Mandela .

Und heute? Die Menschenrechte scheinen auf dem
Rückzug zu sein . In vielen Ländern werden Menschen-
rechtsverteidiger zurückgedrängt . Gestern trafen wir mit
Kollegen Herrn Fred Bauma aus der Demokratischen
Republik Kongo . Viele von uns haben ähnliche Begeg-
nungen . Diese Menschen sagen uns, dass sie bereits am
Flughafen verhaftet werden, wenn sie in ihr Land zu-
rückkehren . Es wirkt fast wie eine alte Rollback-Strate-
gie: Land für Land, Gesetz für Gesetz wird es enger, und
zwar oft unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung . Das
hat auch mit uns zu tun .

Wenn man sich mit dem Jahresbericht von 2015, den
wir heute behandeln, beschäftigt und mit Menschen-
rechtsverteidigern redet, wie gerade genannt, dann wird
einem ganz anders . Ich vermute, der Bericht für 2016
wird eher noch schlimmer ausfallen . Wenn ich von sol-
chen Terminen komme oder wenn ich abends in mein
Zimmer in Berlin komme, dann ist es nicht selten der
Fall, dass ich entweder weinen muss oder dass mir zum
Kotzen zumute ist . Das ist nicht erst seit Aleppo so, wenn
auch seitdem noch besonders .

Was passiert mit unserer Welt? Was lassen wir zu? Was
darf auch mit uns passieren hier in Deutschland? Die drei

Stichworte, die ich in meiner Rede noch nennen möchte,
sind Kinder, Rechtlosigkeit und Religionsfreiheit .

45 Millionen Menschen leben zurzeit in Sklaverei
oder sklavenähnlichen Verhältnissen; das zeigt der Glo-
bal Slavery Index . Nur einmal zum Vergleich: Wie stolz
konnte die Menschheit sein, als William Wilberforce
und Abraham Lincoln, der eine in England, der andere
in den Vereinigten Staaten, die Sklaverei abgeschafft ha-
ben . Das ist viele Jahre her . Aber ganz ehrlich: Ist uns
bewusst, dass wir heute mehr Sklaven haben als damals?
Millionen davon sind Kinder . Sie bekommen keinen Zu-
gang zu Schulbildung, müssen unter schwersten Bedin-
gungen auf Baumwollfarmen oder in Minen arbeiten und
erleben täglich Gewalt und Krieg am eigenen Leib, oft
für die Produkte, die wir hier billig kaufen wollen . Frei-
heit ist für sie eine Worthülse, deren wirkliche Bedeutung
sie wahrscheinlich nur erahnen können .

Im Südsudan kämpfen 17 000 Kinder – das wurde
uns vorgestern berichtet – in einem verheerenden Bür-
gerkrieg. Das findet hier wenig Beachtung. Wir schauen
woanders hin . Etwas weiter westlich auf dem Kontinent
Afrika ernten 1,2 Millionen Kinder einen Großteil des
Kakaos für die Schokolade, die wir und viele andere zu
Weihnachten und über das Jahr verteilt konsumieren . Sie
gehen deshalb auch nicht oder viel zu selten in die Schu-
le . Durch Bildung könnten sie aus Armut und Abhängig-
keit herauskommen .

Weiter im Osten auf dieser Welt beim philippinischen
Amt für Internetverbrechen gingen bislang 10 000 Hin-
weise auf sexuelle Ausbeutung von Kindern im Internet
ein . Wer sind die User? Der Menschenrechtsbericht der
EU geht davon aus, dass die Gefahr besteht, dass viele
Minderjährige, die sich in den letzten Monaten auf der
Flucht befunden haben, Opfer von Gewalt und Men-
schenhandel geworden sind, auch auf der Flucht zu uns .

Wenn ich das alles sehe, fällt mir wieder dieser Begriff
ein: Ich könnte kotzen . Dafür fällt mir auch kein politisch
korrekterer Begriff ein. Ich höre noch, wie letzte Woche
Frau Merkel in einer Regionalkonferenz in Thüringen
sagte: „Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich schlafe
nicht gut, wenn ich an die Kinder in Aleppo denke.“ Als
Menschenrechtler frage ich mich: Was können wir tun,
um ihnen und anderen mehr Freiheit zu ermöglichen?

Ich bin dankbar, dass Deutschland und die EU – das
wird in dem Bericht auch deutlich gemacht – sich dafür
einsetzen, dass in den letzten Jahren Gesetze entstanden
sind, und ich wünsche mir, dass wir uns, dass sich die
Bundesregierung in unseren Beziehungen zu den ande-
ren Ländern noch mehr und aktiver dafür einsetzt . Da bin
ich Herrn Steinmeier sehr dankbar für das Engagement
in diesem Bereich, damit Kinder vor Krieg und Terror
geschützt werden . Danke dafür!

Der zweite Begriff, den ich genannt habe, ist Rechtlo-
sigkeit . Es muss Opfern von Menschenrechtsverletzun-
gen – je länger, je näher – in diesen Ländern möglich
sein, Zugang zum Rechtssystem zu bekommen . Sonst
wird aus Armut Rechtlosigkeit, und aufgrund der Recht-
losigkeit bleiben sie in der Armut . Das ist eine stille Men-
schenrechtsverletzung, die so allerdings nicht explizit in
dem Bericht auftaucht . Der fehlende Zugang zum Rechts-

Inge Höger

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 201621066


(A) (C)



(B) (D)


system hat meist eine grundlegende Ursache, nämlich die
Armut, und dann mündet das vielfach in Sklaverei; ich
habe das bereits erwähnt .

Die moderne Sklaverei macht auch vor unseren Türen
in Deutschland nicht halt . Wir haben vor einem halben
Jahr das Gesetz zu Zwang und Ausbeutung im Prosti-
tutionsgewerbe beschlossen, das dann nächstes Jahr in
Kraft treten wird . Das sind einige Schritte, wenn auch
noch lange nicht genug . Ich bin dankbar, dass wir einen
Überprüfungsmechanismus haben, wonach wir dies dann
in zwei, drei Jahren noch einmal unter die Lupe nehmen
können .

Ein weiterer Bereich, der dritte, ist die Religionsfrei-
heit . In immer mehr Staaten wird sie grundsätzlich garan-
tiert; aber die Wirklichkeit sieht eben oft ganz anders aus .
Auch in meinem Land frage ich mich hin und wieder: Ist
uns das noch präsent?

Millionen von Menschen werden weltweit in dieser
Freiheit eingeschränkt . Sie werden verfolgt, gedemütigt,
gefoltert, oft zu Tode gebracht . Dabei müssen wir an alle
Religionen denken . Da sind es die Ahmadiyya-Muslime
in Pakistan, da sind es die Aleviten, teilweise jetzt auch
in Syrien, da sind es Buddhisten, da sind es die Bahai im
Iran, und da sind es als größte Gruppe auch die Christen .

Die aktuellen Entwicklungen im Irak und in Syrien
werfen Schatten voraus, bis zu uns nach Europa, und
Hunderttausende machen sich auf den Weg . Auf der
Flucht vor ihren Peinigern, oft auch dann beim Ankom-
men hier in unseren Schutzunterkünften passiert das
Gleiche wieder, selbst hier in Deutschland . Da passieren
Diskriminierung und Benachteiligung, auch Bedrohung;
ich weiß um Fälle in meiner Stadt .

Anfang der Woche konnten einige von uns den Pater
Jacques Mourad treffen. Er befand sich fünf Monate in
Geiselhaft des IS, bevor er mit seiner katholischen Ge-
meinde von muslimischen Mitbürgern befreit wurde .
Trotz seiner Erfahrungen wirbt er dafür, dass wir in Eu-
ropa für Muslime offen bleiben, dafür, dass uns nicht die
Angst leitet . Und doch wünsche ich mir, dass besonders
Muslime in Deutschland, auch wenn die Anschläge in
Paris, in Nizza und in Brüssel geschahen, noch lauter und
öfter sagen: „Das sind wir nicht“,


(Dr . Karamba Diaby [SPD]: Sagen sie auch!)


und dass wir uns dem Terror gemeinsam mutig entge-
genstellen .

Dazu gehört auch, dass wir genau die Menschen un-
terstützen, die Demokratie fördern wollen, wie es das
Ziel des von Frank Schwabe genannten Programms
„Parlamentarier schützen Parlamentarier“ ist, dass wir an
der Seite derer stehen, die Menschenrechte verteidigen .
Deshalb appelliere ich, dass wir diesen Menschen vorher
Gehör verschaffen, bevor sie möglicherweise in Extre-
mismus abgleiten oder extremisiert werden .

Welche Schlussfolgerungen ziehen wir denn aus die-
sem Bericht? Gesetze und Richtlinien haben wir teilwei-
se; daran müssen wir aber weiter arbeiten: Dazu dient
das Parlamentarische Patenschaftsprogramm, dazu tra-
gen kleine, sichtbare Gesten im Miteinander und Begeg-

nungen bei . Ich für meinen Teil werde für diese Freiheit
weiter kämpfen, auch wenn mich diese Ohnmacht, die
ich gerade beschrieben habe, immer wieder gefangene,
gebundene oder versklavte Menschen zu sehen, oft über-
fällt .

Ich wünsche Ihnen und uns allen


(Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Frohe Weihnachten!)


besinnliche und gesegnete Weihnachtstage . Ich tue mich
schwer, Ihnen fröhliche Weihnachten zu wünschen . Das
wird auch ein wenig davon abhängen, ob es die Weltge-
meinschaft hinbekommt, dass die Waffen weiter schwei-
gen werden . Sonst wünsche ich uns auch Scham . Ich
kann nicht einfach fröhlich feiern, wenn uns als Welt-
gemeinschaft diese Kinder von Aleppo irgendwie doch
nur interessieren, als wäre es Scheißdreck, wenn sie links
liegen bleiben .

Weihnachten erinnert an die Geburt eines Kindes in
genau der Region, von der ich gerade geredet habe: ver-
rückt genug, als Kind in einer Krisenregion geboren zu
werden, irgendwie weniger romantisch als bei uns, neben
Kuh- und Eselkacke – im Stall eben –, in einer brisanten
Situation . Ich habe einfach keinen Bock, dann am Weih-
nachtstag aufzuwachen, wieder zu hören, dass die Waffen
nicht geschwiegen haben, und wieder denken zu müssen:
Ich könnte kotzen .


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1821003200

Herr Kollege .


Frank Heinrich (CDU):
Rede ID: ID1821003300

Ich will mich mit dem Status quo nicht zufriedenge-

ben; das wollen wir Menschenrechtler nicht . Aber es gibt
noch eine Menge zu tun – aber eben zu tun und nicht nur
zu reden .

Ich danke Ihnen .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1821003400

Tom Koenigs erhält nun das Wort für die Fraktion Die

Grünen .


Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1821003500

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Betrachtet man die zahlreichen großen und auch
kleinen Konflikte in der Welt – diejenigen, über die in
den Tagesthemen berichtet wird, und diejenigen, über die
schon nicht mehr berichtet wird; ob Syrien, Südsudan,
Mali, Ukraine, den fast schon vergessenen Konflikt in Sri
Lanka oder den gerade aufkommenden auf den Philippi-
nen –, dann stellt man fest: Am Anfang dieser Konflikte
standen immer Menschenrechtsverletzungen: erst kleine,
dann größere, erst vereinzelt, dann massiv, dann lawinen-
artig und schließlich bewaffnet. Der Bericht der Europä-
ischen Kommission zeigt genau dieses an der Vielzahl
von Betrachtungen von Ländern .

Frank Heinrich (Chemnitz)


Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 2016 21067


(A) (C)



(B) (D)


Meistens sind diese Menschenrechtsverletzungen Dis-
kriminierungstatbestände: ethnische Diskriminierung,
religiöse Diskriminierung, kulturelle Diskriminierung,
wirtschaftliche Diskriminierung, und dann: Nationalis-
mus – auch das ein Diskriminierungstatbestand: gegen
die Nachbarn, gegen die anderen – und schließlich natio-
naler Größenwahn .

Das Vokabular dazu haben wir alle im amerikani-
schen Wahlkampf studieren können . Es hat mit Pressebe-
schimpfungen angefangen, ging weiter über Hassreden
und Entwürdigungen durch den Präsidentschaftskandi-
daten, der gewählt worden ist, bis hin zur Diskriminie-
rung ganzer Bevölkerungsgruppen und zu Aggression .
Das macht Angst. „Make America great again“, das ist
nationaler Größenwahn . Was America ever greater?


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)


Diese Diskriminierungen sind – das muss man so
sehen – frontale und erklärte Angriffe auf den Kern der
Menschenrechte, auf die Menschenwürde; das steht in
den Buchstaben des Artikels 1 der universellen Erklä-
rung der Menschenrechte und unserer Verfassung . Sie
sind Angriffe auf die Menschenrechtsverteidiger. Diese
werden dann als „Gutmenschen“ gescholten – als sollten
sie lieber Schlechtmenschen sein . Oder es wird kritisiert,
sie würden sich „politically correct“ verhalten – als soll-
ten sie besser doch nicht korrekt sein . Dann kommen die
Menschenrechtsverteidiger, die Liberalen, ins Visier . An-
gegriffen werden der liberale, demokratische, tolerante,
integrative Rechtsstaat und seine Bürger; das ist das Ziel .
Das ist nicht nur im Norden Kenias oder fern in Homs
oder Aleppo so, sondern auch bei uns und in Europa .

Der Bericht spricht leider nicht über die internen Ver-
hältnisse in Europa . Auch hier gibt es Diskriminierung
aus religiösen Gründen, Verachtung von Fremden, Hass
und Nationalismus, Nationalismus auch in Deutschland .
Bei der Geschichte! Ich habe meine Großeltern damals
gefragt: Was habt ihr eigentlich gemacht, um die Weima-
rer Republik, die erste deutsche gelebte Demokratie, zu
schützen, zu retten? Da kam nicht viel . Ich möchte nicht,
dass ich von meinen Enkeln dasselbe gefragt werde und
dann auch nicht viel kommt .

Der Begriff „Populismus“ hilft da nicht furchtbar viel;
auch das Oktoberfest ist Populismus .


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)


Nein, es geht um Diskriminierungen und die Verletzung
von Menschenrechten . Die Feinde der Menschenrechte,
die erklärten Feinde der Menschenrechte, fangen mit Dis-
kriminierung an und kommen doch aus ihren Löchern,
auch hier in Deutschland, in unterschiedlicher Verklei-
dung: mal im englischen Tweed wie Herr Gauland aus
Brandenburg,


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Aber immer in demselben!)


mal als burschenschaftliche Hasardeure und Spekulanten
mit öffentlichen Mitteln wie Albrecht Glaser aus Hes-
sen – der möchte gerne Bundespräsident werden –, mal
wie die famose Frau von Storch, die aus einem großher-
zoglichen Geschlecht kommt; sie steht fest in ihrer Fami-

lientradition und hat zwei Großväter, die Schwerkriegs-
verbrecher waren . Die kennen doch die Geschichte . Es
ist nicht so, dass sie die Geschichte nicht kennen würden .
Die haben Bücher über die Geschichte geschrieben, ha-
ben sich das ganze Leben damit befasst und wissen auch,
wie nah Hassreden an Brandstiftung sind – gerade hier in
diesem Hause, im Haus des Herrn Präsidenten .


(Dr . Petra Sitte [DIE LINKE]: Das Haus des Volkes!)


Das hat ja Geschichte . Ich glaube, dagegen helfen nicht
weniger Menschenrechte, sondern mehr Menschenrech-
te,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


und zwar mehr Menschenrechte in der Innenpolitik und
in der Außenpolitik . Man kann Menschenrechte zum
Programm deklinieren. Das sind die drei Staatenpflich-
ten: Menschenrechte achten, Menschenrechte schützen
und Menschenrechte fördern . Das sind übrigens die Staa-
tenpflichten für alle Staaten, nicht nur die europäischen.

Menschenrechte achten heißt, der Staat muss die Wür-
de der Menschen achten, und die abermalige Diskussion,
meine Damen und Herren von der CDU, über den Dop-
pelpass ist eine Beleidigung der Würde von Deutschen,
von Mitbürgern, von Türken, aber auch von anderen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Der famose Herr Gauland hat das doch auch einmal
diskutiert: 1999 – wir erinnern uns –, das war die Dop-
pelpasskampagne . Die ist mit einer massiven Ausländer-
hetze einhergegangen. Das war doch er. Ich finde, die
CDU sollte jetzt Haltung zeigen, auch wenn die Junge
Union sie nicht hat .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Die zweite Staatenpflicht: Menschenrechte schützen.
Der Staat muss seine Bürger vor Menschenrechtsverlet-
zungen schützen, und das muss er tun, so weit der staat-
liche Arm reicht, so weit die deutschen Unternehmen rei-
chen . Er muss auch die Menschenrechte der Näherinnen
in Bangladesch schützen . Da geht die Unternehmens-
verantwortung mit ein . Der Staat muss sie einfordern
und auch gesetzlich normieren . Warum gelingt es der
Bundesregierung denn nicht, hier verbindliche Geset-
ze zu schaffen? Stattdessen prüft sie und wartet auf das
Pfingstwunder. Der Staat muss die Bürger vor Angriffen,
vor Beleidigung, vor Entwürdigung und vor Hassreden
schützen, so weit der staatliche Arm reicht .

Schließlich die dritte Staatenpflicht: Menschenrechte
fördern . Das sind die Institutionen . Es muss den Men-
schen ermöglicht werden, auch zu ihrem Recht zu kom-
men . Diese Institutionen begleiten den Staat dann auch
kritisch, wie es glücklicherweise das Deutsche Institut für
Menschenrechte macht . Die Menschenrechte sind auch
in Deutschland nicht optional, sondern Staatenpflicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Tom Koenigs

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 201621068


(A) (C)



(B) (D)


Jede Diskriminierung, jede Menschenrechtsverlet-
zung trägt den Keim gewaltsamer Auseinandersetzungen
in sich . Das müssen wir wissen . Jede Hassrede drängt
zur Gewalt, auch hier in Deutschland mit Hunderten von
Brandanschlägen auf Asylbewerberheime, und der Nati-
onalismus drängt in Europa zum Krieg . Das wissen wir
doch aus der Geschichte . Es soll dann nachher keiner sa-
gen: Das sind nur Mitläufer . Es gibt in Deutschland keine
Mitläufer . Mitläufer sind Täter .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1821003600

Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Angelika

Glöckner das Wort .


(Beifall bei der SPD sowie des Abg . Frank Heinrich [Chemnitz] [CDU/CSU])



Angelika Glöckner (SPD):
Rede ID: ID1821003700

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Warum reden wir heute hier über Menschen-
rechte? Menschenrechtsverletzungen bewirken bei Be-
troffenen großes Leid, das müssen wir uns immer vor
Augen halten . In Deutschland und in Europa sind Men-
schenrechte wie Meinungs-, Presse- oder Religionsfrei-
heit, aber auch das Recht auf körperliche Unversehrtheit
weitgehend selbstverständlich . Das darf aber nicht darü-
ber hinwegtäuschen, dass auch im 21 . Jahrhundert die
globale Achtung von Menschenrechten oftmals mehr ein
Traum ist als Realität .

Gerade die letzten beiden Jahre haben uns vor Augen
geführt, wie wichtig es ist, sich für den Erhalt von Men-
schenrechten einzusetzen . Ich denke da an die Türkei, die
sich mit immer autoritärerer Politik auf den Vormarsch
begibt, oder auch an die weltweiten Flüchtlingsströme .
Millionen von Menschen sind auf der Flucht . Das Dilem-
ma in Aleppo wurde angesprochen . Viele der Menschen,
die flüchten, sind zu uns nach Deutschland gekommen.

Diese Krisenauswirkungen haben auch Auswirkungen
auf populistische Kräfte in unserem eigenen Land . Sie ge-
ben ihnen neue Nahrung und leider auch neuen Auftrieb .
Die Populisten hetzen gegen Fremde . Sie schüren Ängste
und befördern Neiddebatten . Umso wichtiger ist es, dass
wir die vielen Rechtsnormen, die unsere Menschenrech-
te schützen, immer wieder kritisch auf ihre Wirksamkeit
hin überprüfen . Deswegen bin ich sehr froh, dass wir die-
se Debatte heute auf Grundlage zweier fundierter Berich-
te, des Berichts der EU und des Berichts des Deutschen
Instituts für Menschenrechte, führen können .

Konkret weist der Bericht des Deutschen Instituts
für Menschenrechte darauf hin, dass der Rassismus in
Deutschland auf dem Vormarsch ist und dass wir hier
aufpassen müssen . In dem Bericht steht ganz konkret:

Deutschland ist durch die internationalen Men-
schenrechtsverträge verpflichtet, Rassismus im po-
litischen Raum und im öffentlichen Leben entge-
genzutreten …

Staatliche Verantwortungsträgerinnen und -träger so-
wie Politiker und Politikerinnen werden aufgefordert,

sich explizit gegen rassistische Äußerungen und Taten
auszusprechen . Ich betrachte das als einen ernstzuneh-
menden Hinweis, dass sich gerade die etablierten Par-
teien in ihrer Sprache, aber auch in ihren Partei- und
Wahlprogrammen nicht in die Nähe rechter Parolen und
Inhalte begeben dürfen .


(Beifall bei der SPD)


Stattdessen ist es ganz wichtig, dass wir uns gegen die-
se Parolen wenden und aufzeigen, dass wir in Zeiten der
Flüchtlingskrise Maßnahmen ergriffen haben, die nach
und nach wirken . Ich denke da beispielsweise an die be-
schleunigten Asylverfahren oder an die finanzielle Unter-
stützung des Bundes für die Länder und die Kommunen
zur Beschleunigung der Integrationsprozesse . Wir haben
auch nicht vergessen, was für unsere eigene Bevölkerung
wichtig ist . So haben wir beispielsweise viele Gesetze
auf den Weg gebracht, die das Leben vieler Menschen
in unserem Land sozial gerechter machen . Darauf sind
gerade wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
sehr stolz .


(Beifall bei der SPD)


Es gibt noch vieles mehr, was wir tun können und
auch tun müssen . Kollege Frank Schwabe hat den NAP
angesprochen, hat die Familienzusammenführung an-
gesprochen . Auch ich sage ganz deutlich: Es ist absolut
nicht akzeptabel und menschenunwürdig, dass Familien-
angehörige jahrelang darauf warten müssen, zusammen-
geführt zu werden .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In diesem Bereich müssen wir akut mehr tun .

Kollege Heinrich, Sie haben sehr viele gute Maßnah-
men angesprochen, bei denen wir Handlungsbedarf ha-
ben . Die Familienzusammenführung ist eine Maßnahme,
die wir als Koalition ganz konkret steuern können . Des-
wegen müssen wir hier ansetzen .


(Beifall des Abg . Heinz-Joachim Barchmann [SPD])


Mit Blick auf die von Armut betroffenen Kinder von
Alleinerziehenden in unserem Land sage ich: Auch hier
haben wir die Möglichkeit, ganz konkret etwas zu unter-
nehmen . Wir müssen zusehen, dass wir das vorgelegte
Konzept zeitnah umsetzen . Das wäre ein ganz wichtiges
Signal für die von Armut bedrohten Kinder .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Natürlich wäre es auch wichtig, damit ein deutliches
Zeichen zu setzen, dass die Populisten die Unwahrheit
sagen, wenn sie behaupten, für die hiesige Bevölkerung
bliebe kein Geld mehr übrig, weil alles für Flüchtlinge
aufgebraucht würde . Auch hier können wir mit konkreten
Maßnahmen ansetzen .

Ein letztes Wort zur EU . Wenn wir über den Schutz
von Menschenrechten sprechen, müssen wir immer auch
die EU einbeziehen . Sie ist ein wichtiger Akteur für mehr
Menschenrechte in der Welt . Sie tut viel; Herr Heinrich,

Tom Koenigs

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 2016 21069


(A) (C)



(B) (D)


Sie haben einiges aufgeführt . Wir müssen einfach erken-
nen, dass die Herausforderungen sehr vielfältig und um-
fassend sind, sodass ein Land alleine sie nicht stemmen
kann .

Deshalb ist es ganz wichtig und viel effektiver, dass
wir uns als Teil der EU einer europäischen und wertege-
leiteten Außenpolitik verschreiben und sie unterstützen;
denn das ist für den Schutz der Menschenrechte in der
Welt wichtig . Dem Ruf der Populisten, nur das eigene
Land in den Blick zu nehmen und sich protektionistisch
auszurichten, muss eine klare Absage erteilt werden .


(Beifall bei der SPD)


Die EU ist nicht nur – auch das müssen wir immer
wieder klarmachen – eine Wirtschaft- und Währungsuni-
on, sondern sie ist auch – das sind zwei ganz wesentliche
Punkte – eine Friedens- und Werteunion . Das muss für
die einzelnen Mitgliedstaaten deutlich werden, aber auch
für die EU als Ganzes .

Ich wünsche mir, dass wir alle darauf hinwirken und
die vor uns liegende Weihnachtszeit dafür verwenden,
dass wir selbst zur Ruhe kommen, aber auch dazu, dass
wir aus dieser Ruhe Kraft für einen weiteren Einsatz zur
Stärkung der Menschenrechte auf der Welt schöpfen .

Vielen Dank .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1821003800

Das Wort erhält nun der Kollege Bernd Fabritius für

die CDU/CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Dr. h.c. Bernd Fabritius (CSU):
Rede ID: ID1821003900

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Der vorliegende EU-Bericht zu Menschen-
rechten und Demokratie bestätigt, dass Menschenrechte
weltweit in der Defensive sind . In Russland ist die Zivil-
gesellschaft seit Jahren in existenzieller Bedrängnis, und
die Türkei ist dabei, vollständig in eine menschenrechts-
verachtende Autokratie abzugleiten .

Der IPU-Ausschuss für die Menschenrechte von Par-
lamentariern befasst sich aktuell mit 459 Fällen, in de-
nen Parlamentsmitglieder bedroht, verhaftet oder getötet
werden . In Europa führend in dieser Liste der Schreck-
lichkeiten ist ebenfalls die Türkei .

Es gibt noch ein weiteres Land, über das wir sprechen
müssen . Es geht um ein Land, in dem Polizeigewalt zum
Alltag gehört und das von Rassismus geprägt ist . Dieses
Land ignoriert internationale Menschenrechtsabkom-
men. Seine Behörden und seine Gesetzeshüter pflegen
mehr als vereinzelt rechtes Gedankengut . Über interna-
tionale Organisationen trägt das Land Unheil in die Welt .
Es ist ein Land, in dem Flüchtlinge schlecht behandelt
werden . Dieses Land, meine Damen und Herren, ist:
Deutschland aus Sicht des Deutschen Instituts für Men-
schenrechte .

Es passt gut, dass wir heute auch über den ersten Be-
richt dieses Institutes an den Deutschen Bundestag disku-
tieren, den ich zu meinem Schwerpunkt machen möchte .
In seinem Bericht sollte das Institut laut Gesetz – ich zi-
tiere – „dem Deutschen Bundestag jährlich einen Bericht
über die Arbeit der Institution sowie die Entwicklung der
Menschenrechtssituation in Deutschland“ vorlegen. An
einem solchen Bericht wäre ich sehr interessiert gewe-
sen . Letztlich ist er Grundlage dafür, die Voraussetzun-
gen der Finanzierung dieses Instituts – es geht um eini-
ge Millionen Euro jährlich – prüfen zu können . Leider
Fehlanzeige .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das Institut wählt ein „Schwerpunktthema“ – wen
wundert es? –: Flüchtlinge und deren menschenrechts-
widrige Behandlung in Deutschland, sowie zwei weitere
punktuelle Aspekte, die es länglich diskutiert . Das war’s .
Sogar der Berliner Tagesspiegel, meine Damen und Her-
ren, zeigt sich darüber mehr als erstaunt . Ein Überblick
über die Entwicklung der Menschenrechtssituation in
Deutschland, eine Darstellung der Tätigkeit des Instituts,
insbesondere auch zur Umsetzung der neuen Herausfor-
derungen durch das DIMR-Gesetz, einschließlich etwa
Verbreiterung der Mitgliederbasis zur Spiegelung der ge-
samten pluralistischen Gesellschaft? Leider auch Fehlan-
zeige .

Laut § 2 dieses Gesetzes obliegen dem Institut In-
formation, wissenschaftliche Forschung, Beratung, Di-
alogförderung . Bei näherer Lektüre des Berichts über-
kommt einen aber Verwunderung . Das Institut teilt mit,
es habe – ich zitiere – „2015 für eine menschenrechts-
konforme Asyl- und Migrationspolitik geworben“ und
wolle das auch weiterhin tun . Asylpolitik, meine Damen
und Herren, deren Kern die Umsetzung eines wichtigen
Menschenrechtes ist, ist tatsächlich ein sehr wichtiges
Aufgabenfeld dieses Instituts . Für Migrationspolitik hin-
gegen gilt das nicht . Es gibt gerade kein Menschenrecht
auf Migration im Sinne einer freien Wahl des gewünsch-
ten Wohnsitzlandes, das einen Zuzug nach Deutschland
außerhalb der Systematik des Asylrechts und der Genfer
Flüchtlingskonvention ermöglichen müsste .

Über die Frage, ob Deutschland über die Asylgewäh-
rung hinaus ein Einwanderungsland sein soll oder nicht,
kann und muss man sicher debattieren – gerne in Politik
und Gesellschaft –, aber es ist keine Aufgabe dieses In-
stituts, solche politischen Fragen, die eben nicht gestellt
sind, ungefragt zu beantworten


(Beifall bei der CDU/CSU)


oder gar für eine Migrationspolitik zu werben . Wir brau-
chen ein Institut, das neutral, objektiv und sachlich die
Situation in unserem Land beobachtet, darüber infor-
miert und kritische Punkte benennt . Werbung für eine
bestimmte Politik und Emotionalisierung – der Bericht
ist voll mit Fotos, die zwar berühren, aber keinen anderen
Zweck verfolgen als Emotionalisierung – gehören nicht
zu den Aufgaben des Instituts .

Die fachlich gebotene Differenzierung zwischen
„Asyl“ und „Migration“ – –

Angelika Glöckner

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 201621070


(A) (C)



(B) (D)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1821004000

Herr Kollege Fabritius, gestatten Sie eine Zwischen-

frage der Kollegin Beck?


Dr. Dr. h.c. Bernd Fabritius (CSU):
Rede ID: ID1821004100

Aber gerne . Bitte schön .

Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):

Herr Kollege Fabritius, ich muss ja eine Frage formu-
lieren; deshalb frage ich Sie .


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1821004200

Nein, das müssen Sie nach der Geschäftsordnung

nicht . Sie können auch eine Zwischenbemerkung ma-
chen .

Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):

Wunderbar . Man lernt nie aus . – Diese strenge Ab-
grenzung zwischen Flucht und Migration, die Sie hier
gerade konstruieren und deren Nichtbeachtung Sie dem
Institut zur Last zu legen versuchen, finde ich überaus
künstlich herbeigeführt, weil sie kein Verständnis für
fließende Übergänge zeigt, die es gibt.

Es stimmt, dass es dem Recht nach unterschiedliche
Gesetze für Schutz und Einwanderung gibt . Wenn wir
aber darüber sprechen, wie Flucht entsteht und warum
Menschen Schutz suchen, und dabei auch mitdenken,
wie wir die Gründe für das Nachsuchen um Schutz ver-
ringern können, dann geht es immer um die Frage, wel-
che Chancen wir Menschen, die zu uns kommen wollen,
eröffnen wollen, damit sie auf dem Wege der Einwande-
rung zu uns kommen können . Das ist dann Migration .
Deswegen halte ich die von Ihnen vorgenommene Tren-
nung für nicht zulässig und auch nicht – entschuldigen
Sie, Herr Fabritius, das sage ich ungern zu Ihnen – für
einen Ausdruck von Sachkunde . Es gibt zwar im Recht
eine Abgrenzung, aber in den realen Lebensverhältnissen
müssen wir die Zusammenhänge sehen . Wenn das von
Ihnen angesprochene Institut das tut, dann erfüllt es ge-
nau die Aufgaben, die ihm dieses Haus gestellt hat .


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Dr. h.c. Bernd Fabritius (CSU):
Rede ID: ID1821004300

Liebe Frau Kollegin Beck, ich freue mich, dass Sie

bestätigen, dass auch Sie zwischen Asyl aus den im Ge-
setz genannten Gründen und Migration aus Gründen, die
keine Asylgründe sind, differenzieren.

Aufgabe des Instituts ist nicht die politische Bewer-
tung – diese können wir hier im Haus gerne gemeinsam
vornehmen –, sondern die Prüfung der Menschenrechts-
situation . Wenn das Institut für eine Position wirbt – ich
störe mich schon an dem Begriff „werben“; ich unter-
scheide ihn von „informieren“ –, dann hinterfrage ich
diese, da es sich schließlich nicht um ein Institut einer
politischen Partei handelt, sondern um ein Menschen-

rechtsinstitut, dahin gehend, ob ein Menschenrecht tan-
giert ist .

Ich lasse es mir auch nicht als Fehlen von Sachkunde
unterstellen, wenn ich feststelle, dass es kein Menschen-
recht auf freie Wahl eines Landes außerhalb von Flucht-
gründen gibt . Ich kann nicht frei wählen, ob ich lieber in
den Vereinigten Staaten als in Deutschland leben möch-
te . Ich werde als Mitglied des Deutschen Bundestages
mit Sicherheit nicht in menschenrechtlichem Sinne ver-
folgt . Nehmen wir einmal theoretisch an – tatsächlich ist
es nicht so –, dass ich in den Vereinigten Staaten leben
möchte . Es gibt kein Menschenrecht, auf das ich mich
berufen kann, wenn ich sage: Liebe Vereinigte Staaten,
ihr müsst mich aufnehmen; sonst kritisiert euch euer In-
stitut .

Ich fordere also die beschriebene Differenzierung und
bedauere sehr, dass in dem Bericht eine entsprechende
Differenzierung fehlt. Dieses Fehlen zieht sich wie ein
roter Faden durch den gesamten Bericht . Das halte ich
für nicht fachgerecht . – Danke .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Um beim Bericht zu bleiben: Geradezu grotesk wird
es beim Thema „Datenschutz für Flüchtlinge“. Das
Deutsche Institut für Menschenrechte stellt fest, dass in
Deutschland zu Geflüchteten „personenbezogene Infor-
mationen“ – ich zitiere wörtlich – „in zentralen, staat-
lichen Datenregistern“ erfasst und abgeglichen werden.
„Selbstverständlich!“, könnte man meinen, wenn man an
die bekannten Probleme in der Hochphase des Flücht-
lingszustroms denkt, in der Menschen etwa vom West-
balkan oder aus Bangladesch mit einem syrischen Pass
oder mehreren anderen Pässen oder gar keinem Pass zu
uns gekommen sind . Nein, das Institut fragt sich und uns
besorgt – ich zitiere wieder –, „ob diese umfangreiche
Form der Datenerfassung und -verarbeitung notwendig
und angemessen ist“.


(Frank Schwabe [SPD]: Ja, das ist doch vernünftig! Oder nicht?)


Denn – ich zitiere weiter –:

Wer beispielsweise aufgrund eines Datenabgleichs
für ein Sicherheitsrisiko gehalten wird, dem wird
möglicherweise die Aufenthaltserlaubnis verwei-
gert .

Ja, was denn sonst? Natürlich soll einer Person, bei
der durch Datenabgleich auffällt, dass sie ein nationa-
les Sicherheitsrisiko ist, die Aufenthaltserlaubnis nicht
erteilt werden . Unser Problem in Deutschland ist doch
nicht, dass wir zu viel, sondern, dass wir zu wenig Daten
über die Menschen haben, die in den letzten Monaten in
unser Land gekommen sind .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Der Bericht kritisiert die Verkürzung der Asylverfah-
ren . Man würde menschenrechtswidrig – und deswegen
kritisiert im Jahresbericht – von Schutzsuchenden verlan-
gen – wieder ein Zitat –, „bereits im Anhörungsverfahren
über ihre Verfolgung zu berichten“. Ja, was denn sonst?

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 2016 21071


(A) (C)



(B) (D)


Der Bericht kritisiert die „sogenannten“ sicheren Her-
kunftsstaaten. Der Begriff „sicherer Herkunftsstaat“,
meine Damen und Herren, ist ein Rechtsbegriff aus dem
deutschen Asylrecht . Er wird in Artikel 16a des Grund-
gesetzes eingeführt und in § 29a Asylgesetz definiert.
Staaten werden durch Beschluss des Bundestages mit
Zustimmung des Bundesrats zu sicheren Herkunftsstaa-
ten erklärt. Für unser Institut bedeutet das aber nur „so-
genannt“.

Sachlich eindeutig falsch ist die auf Seite 12 nachzule-
sende Erklärung – Zitat Jahresbericht –:

Denn „sicherer Herkunftsstaat“ heißt: Dort wird
niemand verfolgt .

Ausrufezeichen, Zitat Ende . – Falsch! Genau das bedeu-
tet die Klassifizierung nicht. Richtig wäre gewesen:


(Frank Schwabe [SPD]: Sind wir in der Schule, oder wo sind wir eigentlich?)


Bei einem sicheren Herkunftsstaat wird vermutet, dass
dort nicht generell Verfolgung droht . – Deswegen muss
jemand, der in solchen Staaten ausnahmsweise verfolgt
wird – das gibt es in Einzelfällen –, die behauptete Ver-
folgung belegen – nicht mehr und nicht weniger . Es geht
um eine Beweislastumkehr . Der Beweis der Verfolgung
und damit auch der menschenrechtliche Schutz werden
niemandem abgeschnitten . Es wäre schön, wenn ein
sachlich beobachtendes Institut dieses und keine falschen
Informationen verbreiten würde .

Meine Damen und Herren, leider ist meine Redezeit
begrenzt . Ich könnte ewig so weitermachen .


(Lachen des Abg . Frank Schwabe [SPD])


Beim Schwerpunkt „Wahlrecht für Menschen mit Be-
hinderung“ erwähnt der Bericht, dass derzeit eine Wahl-
prüfungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht
anhängig ist, wo die Thematik geprüft wird . Das ist gut
so . Dann sollten wir gemeinsam das Ergebnis abwarten .

Leider nicht überraschend ist es, wenn das Institut
ausschließlich Rechtsextremismus beklagt . Über den in
Deutschland ebenfalls vorhandenen Linksextremismus
kein Wort . Ich wünschte mir etwa eine Erwähnung, dass
in Deutschland linksextremer Mob Polizisten von den
Dächern mit Betonplatten bewirft, wenn diese versu-
chen, für öffentliche Sicherheit und Ordnung zu sorgen.
Auch Polizisten haben Menschenrechte, meine Damen
und Herren .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg . Frank Schwabe [SPD])


Auf diesem Auge, wenn es je existiert haben soll, ist das
DIMR aber noch blind .

Eine derart einseitige und teils übertriebene, weil nicht
quantifizierte Darstellung der Menschenrechtsverletzun-
gen in Deutschland ist sehr bedauerlich und schadet dem
Kampf für Menschenrechte . Derartiges wird nämlich
ungeprüft in internationale Berichte übernommen . Staa-
ten wie Russland, die Türkei oder Aserbaidschan wer-
fen uns die angeblich so prekäre Menschenrechtslage in
Deutschland dann vor, wenn wir uns gegen ernsthafte
Menschenrechtsverletzungen in Ländern einsetzen, die

von einer Menschenrechtssituation wie in Deutschland
noch nicht einmal träumen können .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich vermisse im Jahresbericht eine transparente Dar-
stellung der Finanzierung insbesondere aus Steuermit-
teln . In der Jahresrechnung werden knapp 2,5 Millionen
Euro institutionelle Zuwendungen des Bundes genannt .
Daneben tauchen weitere über 1,5 Millionen Euro ver-
mischte Einnahmen auf . In den Erläuterungen dazu steht
dann: „weitere Einnahmen aus Bundeszuschüssen“ und
anderes . Ich möchte gerne wissen: Was zahlt der Steu-
erzahler für die Arbeit, die der eingereichte Bericht spie-
gelt, genau .


(Frank Schwabe [SPD]: Du sitzt doch im Kuratorium! Da kannst du doch fragen!)


Lassen wir uns das fast 4 Millionen Euro kosten?


(Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja allerhand! Wir hatten gerade Haushaltsberatungen! Eine Unverschämtheit!)


Lassen Sie mich mit einem letzten beispielhaften
Punkt abschließen . Das Deutsche Institut für Menschen-
rechte hat schon oft den Eindruck erweckt, nicht plura-
listisch, sondern einseitig zu wirken . Um das Institut auf
Norm mit den Pariser Prinzipien zu bringen, die die Si-
cherung einer pluralistischen Vertretung aller an der För-
derung und am Schutz der Menschenrechte beteiligten
gesellschaftlichen Kräfte fordern, wurde im DIMR-Ge-
setz eine Verbreiterung der bisher einseitigen Mitglieder-
basis gefordert . Die Regeln über die Aufnahme von Mit-
gliedern und den dadurch zu verfolgenden Zweck sind
Teil des Finanzierungsvorbehalts im Gesetz . Beim Blick
auf die im Jahresbericht veröffentlichte Mitgliederliste
des Instituts stellt man aber fest: Kein einziges Neumit-
glied wurde seit Schaffung des Gesetzes aufgenommen.


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1821004400

Herr Kollege Dr . Fabritius, der Kollege Koenigs

möchte Ihnen ebenso eine Zwischenfrage stellen .


Dr. Dr. h.c. Bernd Fabritius (CSU):
Rede ID: ID1821004500

Aber sehr gerne . Ja, ich erlaube dem Kollegen Koenigs

das und danke ihm für die Verlängerung der Redezeit .


Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1821004600

Herr Kollege, Sie sind doch im Kuratorium dieses In-

stituts .


Dr. Dr. h.c. Bernd Fabritius (CSU):
Rede ID: ID1821004700

Ja .


Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1821004800

Sie haben vorhin Fragen über die finanzielle Aus-

gestaltung des Instituts gestellt . Wenn Sie das in dieser
Weise öffentlich machen, insinuieren Sie, es gäbe dort
Unklarheiten . Haben Sie in Ihrem Gremium einmal nach-
gefragt? Ich glaube nämlich, dass dieser Bericht, der ja
nicht schwerpunktmäßig ein finanzieller Bericht ist, dies
nur der Kürze halber nicht erwähnt . Aber zu insinuieren,

Dr. Bernd Fabritius

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 201621072


(A) (C)



(B) (D)


dass dieses Institut offensichtlich aus finsteren Quellen
finanziert wird, vielleicht vom KGB oder dergleichen


(Heiterkeit bei der SPD und der LINKEN)


oder von den Linksradikalen, finde ich doch etwas stark.

Außerdem fände ich es gut, wenn wir die Debatte über
das Deutsche Institut für Menschenrechte auch einmal
im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
führten . Das verweigern Sie bisher .


(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Aha!)



Dr. Dr. h.c. Bernd Fabritius (CSU):
Rede ID: ID1821004900

Lieber Herr Kollege Koenigs, Sie haben vermutlich

nicht genau zugehört . Ich habe nämlich, was die Finan-
zierungsfrage anbelangt, wörtlich aus dem Bericht zitiert .
Ich habe nicht die Vertraulichkeit einer Kuratoriumssit-
zung verletzt . Ich habe nur die im Bericht wiedergegebe-
ne Rechnungstabelle wiedergegeben


(Inge Höger [DIE LINKE]: Aber Sie wissen es doch besser!)


und habe fehlende Transparenz der Quelle gerügt . Das
geschah aber mitnichten aus dem von Ihnen unterstell-
ten Grund, es gäbe eine wie auch immer geartete fremde
Finanzierung . Nein, über jede andere Form der Finanzie-
rung wäre ich froh . Ich habe genau formuliert: Ich möch-
te wissen, was der Steuerzahler dafür ausgibt, und zwar
nicht für das Institut, sondern für die Arbeit, die dieser
Bericht spiegelt .


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum wissen Sie das nicht als Kurator?)


– Wenn Sie mir zuhören, dann wird schon klar, was ich
meine .


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie müssen das wissen! – Dr . Karamba Diaby [SPD]: Steht doch alles im Haushalt!)


Wenn im Jahresbericht steht, dass das Institut 2,5 Mil-
lionen Euro Bundesmittel und 1,5 Millionen Euro Bun-
deszuschüsse und anderes bekommt, dann zeigt sich eine
Vermengung, aus der sich mir keine Antwort auf die
Frage ergibt: Bekommt dieses Institut jetzt 2,5 Millionen
Euro oder 4 Millionen Euro?


(Dr . Karamba Diaby [SPD]: Das gehört aber nicht hierher! – Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das müssen Sie wissen! Das ist Ihre Aufgabe!)


– Natürlich muss ich das wissen; Sie haben völlig recht .

Ich habe allerdings auch im Kuratorium danach ge-
fragt – ich hoffe, ich darf das sagen, ohne dass ich die
Vertraulichkeit von Kuratoriumssitzungen verletze – und
unter anderem auch danach, warum wir diesen Bericht
nicht auch im Kuratorium besprechen . Ist das ein Bericht
des Deutschen Instituts für Menschenrechte, wenn das
Kuratorium und die eigenen Mitglieder noch nicht ein-
mal Kenntnis vom Bericht haben, bevor er eingereicht

wird? Ich habe diesen Bericht im Übrigen vorher schrift-
lich angefordert. Die Herausgabe ist mir „aus Respekt
vor dem Deutschen Bundestag“ verweigert worden.


(Frank Schwabe [SPD]: Aber die Finanzlage hast du nicht angesprochen! – Weiterer Zuruf des Abg . Dr . Karamba Diaby [SPD])


Nachdem Sie das alles zur Kenntnis genommen haben,
bitte ich um Verständnis dafür, dass ich wissen möchte,
wie viele Mittel der Deutsche Bundestag für die Arbeit,
die dieser Bericht spiegelt, aufwendet – nicht mehr und
nicht weniger . Die Debatte, ob das dann zu viel oder zu
wenig ist, können wir noch führen .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Jedenfalls wissen wir, dass nach Verschleppung der
Entscheidung über viele Monate hinweg am Montag,
also vor wenigen Tagen, endlich über neue Mitglieder
entschieden wurde: Die Anträge wurden mehrheitlich
abgelehnt . Dabei regelt das Gesetz – ich zitiere –:

Die Ablehnung eines Antrags auf Mitgliedschaft
soll nur in begründeten Ausnahmefällen erfolgen,
z . B . wegen Unvereinbarkeit mit den Zielsetzungen
der Pariser Prinzipien .

Ganz offensichtlich befürchtet das Institut aber,


(Frank Schwabe [SPD]: Das Kuratorium! Nicht das Institut!)


in Zukunft eine pluralistische Debatte, einen pluralisti-
schen Diskurs über seine Inhalte, die untersuchten Men-
schenrechtsverletzungen und vielleicht auch die eigene
ideologische Ausrichtung führen zu müssen .


(Dr . Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hören Sie auf, es zu diskreditieren! Das ist unmöglich, was Sie hier machen! Skandal!)


Zusammenfassend: Ich möchte ein Deutsches Institut
für Menschenrechte, welches kritisch, sachlich und ob-
jektiv beobachtet und analysiert,


(Dr . Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unverschämtheit!)


dann informiert und berät, selbstbewusst und auf einer
breiten pluralistischen Grundlage .


(Zurufe des Abg . Dr . Karamba Diaby [SPD] – Gegenruf der Abg . Sylvia Pantel [CDU/CSU]: Kennen Sie die Inhalte?)


Ich möchte aber kein Institut – auch wenn Sie sich noch
so aufregen, meine Damen und Herren –, das sich an ro-
ten Fäden orientiert, für politische Positionen wirbt und
dafür an einer tradierten Mitgliederzusammensetzung
festhält . Deswegen bin ich auf den nächsten Bericht sehr
gespannt und hoffe, dann nicht erneut konstatieren zu
müssen: Alles beim Alten .

Danke .


(Beifall bei der CDU/CSU – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Wo in normalen Diskussionen kritisiert wird, fangen Sie an, zu diskreditie Tom Koenigs Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 2016 21073 ren! Widerlich! – Dr . Karamba Diaby [SPD]: Genau!)


(A) (C)


(B) (D)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1821005000

Für eine Kurzintervention hat das Wort die Kollegin

Hajduk .


Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1821005100

Herr Kollege Fabritius, verstehen Sie mich nicht

falsch:


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Doch! Der versteht Sie falsch!)


Dies ist ein Raum, in dem Kritik gerne gehört wird und
in dem Kritik geübt werden kann . Wir diskutieren heute
einen Bericht, den wir als Organisation Deutscher Bun-
destag selbst eingefordert haben von einem Institut . Dass
Sie Ihre Rede, insbesondere den Endteil Ihrer Rede, zu
einer Art Abrechnung mit dem Institut nutzen, vor aller
Öffentlichkeit, obwohl sich dieses Institut an dieser Stel-
le in keiner Weise dazu verhalten und verteidigen kann,
ist skandalös und für den Bundestag richtig schändlich .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Dr . Karamba Diaby [SPD]: Skandal!)


Ich fordere die CDU/CSU-Fraktion auf, unabhängig
von der Zufriedenheit über die inhaltlichen Bewertungen
des Berichtes, die Art und Weise, wie Herr Fabritius hier
dieses Institut, das, wie gesagt, hier nicht Stellung be-
ziehen kann, diskreditiert, einmal zum Gegenstand einer
internen Beratung zu machen .

Ich muss dazu ergänzen: Ich bin empört –,


(Zuruf von der SPD: Ich auch!)


auch als Mitglied des Haushaltsausschusses, in dem wir
über die Finanzierung des Instituts, das ja jetzt am Deut-
schen Bundestag „angedockt“ ist, ziemlich gestritten
haben –, dass das Mitglied Ihrer Fraktion, mit dem ich
diese Beratungen durchführe, mir, nachdem eine Diskus-
sion nicht stattgefunden hat, noch nicht einmal eine Ant-
wort darauf gegeben hat, bei welchen Punkten, die mit
Haushalts- und Finanzierungsfragen zu tun haben, man
unzufrieden ist . Sie haben das alles unter dem Deckel ge-
halten, um sich jetzt hier ans Mikrofon zu stellen und so
eine Rede zu halten .


(Dr . Karamba Diaby [SPD]: Katastrophe!)


Das ist kein Ausdruck von Parlamentarismus, sondern
eine Fehlinterpretation Ihrer Rolle, die Sie auch gegen-
über dem Institut haben, weil Sie Kurator und Mitauf-
traggeber sind . Das hat nichts mit inhaltlicher Kritik zu
tun, sondern mit mangelndem Rollenverständnis .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1821005200

Herr Kollege Dr . Fabritius, Sie haben die Gelegenheit,

darauf zu erwidern .


Dr. Dr. h.c. Bernd Fabritius (CSU):
Rede ID: ID1821005300

Vielen Dank . – Liebe Frau Kollegin, wenn Sie sich

meine Rede noch einmal genau anschauen – Sie können
das nachher im Stenografischen Bericht des Bundestages
tun –,


(Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da können Sie sicher sein!)


dann werden Sie feststellen, dass ich mich ausschließlich
sachlich, gepflegt sachlich, mit Inhalten des Berichtes
auseinandergesetzt habe .


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das war eine Hetzrede!)


Ich habe absichtlich die meiste Zeit wörtlich zitiert .

Die Schlüsse, die Sie daraus ziehen – Sie haben das als
Diskreditierung des Instituts bezeichnet –, sind selbstre-
dend . Diese Bewertung habe ich so nicht vorgenommen .


(Dr . Karamba Diaby [SPD]: Sie haben das deutlich gesagt! – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Nein, natürlich nicht! Das war ganz lieb! – Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich werde das nachlesen! Da können Sie sich sicher sein!)


Ich habe schlicht das, was das Institut eigentlich zu Men-
schenrechten hätte machen sollen, inhaltlich angespro-
chen und die Inhalte kommentiert .

Sie haben die Haushaltsfragen angesprochen . Ich habe
schon auf die Frage Ihres Kollegen geantwortet, dass ich
aus dem im Bericht enthaltenen Rechnungswerk wört-
lich zitiert und entsprechende Fragen gestellt habe . Ich
bin nicht Mitglied des Haushaltsausschusses . Es wun-
dert mich aber sehr – ich darf diese Kritik deutlich zum
Ausdruck bringen –, dass Sie heute hier aus Debatten im
Haushaltsausschuss berichtet haben und einen einzelnen
Kollegen, der auch nicht hier im Raum ist und auf Ihre
Aussagen nichts erwidern kann, derart angegangen sind .


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Na ja, die Abgeordneten müssen aber hier sein! Hier ist das Plenum des Deutschen Bundestages! Wo sind denn die Abgeordneten der CDU/CSU? Na gut, viele Linke sind auch nicht da!)


Man könnte sich erkundigen, ob die Sitzung des Haus-
haltsausschusses, über die Sie hier öffentlich berichtet
haben, öffentlich gewesen ist.


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie reden sich hier um Kopf und Kragen!)


Danke .


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1821005400

Für die SPD spricht jetzt die Kollegin Gabriela

Heinrich, der ich hiermit das Wort erteile .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Fangt nicht an, mich zu reizen! Da kommt er wieder, der Jähzorn! Sei vorsichtig!)


Dr. Bernd Fabritius

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 201621074


(A) (C)



(B) (D)



Gabriela Heinrich (SPD):
Rede ID: ID1821005500

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Liebe Gäste! Nachdem wir uns jetzt wieder
ein bisschen beruhigt haben,


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Ich will mich nicht beruhigen!)


möchte ich an dieser Stelle, Kollege Fabritius, schon
noch sagen: Ich bin ein bisschen erstaunt . Ich kenne Sie
ja durchaus als jemanden, der sich für die Menschenrech-
te in verschiedenen Ländern dieser Welt einsetzt . Natür-
lich müssen wir uns aber auch um die Menschenrechte in
unserem Land kümmern, und ich glaube, wir haben hier
auch keinen Dissens .

Die Aufgabe unseres Menschenrechtsinstituts ist es
also, den Finger in die Wunde zu legen und genau zu zei-
gen, wo es bei uns mangeln könnte . Wenn wir uns damit
inhaltlich auseinandersetzen, dann kann es durchaus pas-
sieren, dass Sie eine andere Auffassung haben als wir und
dass Ihnen bestimmte Bereiche fehlen . Das hängt von der
politischen Bewertung ab . Die Aufgabe des Instituts ist
es aber, das zu benennen .

Wenn Sie sich hierhinstellen und das Institut in seiner
Gänze und alles, was es tut, infrage stellen, dann frage
ich mich: Sind Sie wirklich daran interessiert, zu wissen,
an welchen Stellen Menschenrechtsverletzungen in unse-
rem Land vorkommen?


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1821005600

Frau Kollegin Heinrich, gestatten Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Fabritius?


Gabriela Heinrich (SPD):
Rede ID: ID1821005700

Ja . Ich würde aber gerne irgendwann zu meiner Rede

kommen . – Herr Fabritius .


Dr. Dr. h.c. Bernd Fabritius (CSU):
Rede ID: ID1821005800

Vielen Dank . – Frau Kollegin, haben Sie bei meiner

Rede mitbekommen, dass ich die Bedeutung der objekti-
ven Beobachtung und der kritischen Ansprache zu Men-
schenrechtsproblemen unterstrichen habe und mir ein In-
stitut gewünscht habe, das stark, selbstbewusst, sachlich
und objektiv kritisch anspricht, worum es geht? Ist Ihnen
das in der Rede entgangen?


(Zurufe der Abg . Inge Höger [DIE LINKE] und Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Noch eine zweite kurze Frage: An welcher Stelle habe
ich nach Ihrer Meinung die Existenz des Instituts als sol-
ches infrage gestellt? Woran machen Sie das fest?

Danke .


Gabriela Heinrich (SPD):
Rede ID: ID1821005900

Zu Ihrer zweiten Frage . Wenn Sie über die Finanzie-

rung des Instituts reden, dann stellen Sie indirekt, aber

doch implizit die Erfüllung bestimmter Aufgaben des In-
stituts infrage . Das muss ich Ihnen so sagen . Das ist das,
was bei den Kollegen ankommt .


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zu der anderen Frage . Ich habe wohl gehört, was Sie
gesagt haben. Sie haben Begriffe wie „sachlich“ benutzt.
Nur, Ihre Rede war nicht sachlich .


(Sylvia Pantel [CDU/CSU]: Doch, sehr sachlich! – Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Das war die erste sachliche Rede heute zu dem Thema!)


Ihre Rede hat sich nicht auf das bezogen, was Sie selbst
eingefordert haben . Natürlich gehört ein bisschen Inter-
pretation zu jeder Rede, zu jedem Bericht und zu dem,
was wir in unseren Köpfen haben, wie wir Dinge bewer-
ten . Das heißt, gehört habe ich es wohl, verstanden habe
ich es so nicht .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich würde jetzt ganz gern noch ein bisschen zu mei-
nem Thema kommen .


(Dr . Karamba Diaby [SPD]: Das wäre gut!)


Mein Thema ist eines, das durchaus auch im Bericht des
Menschenrechtsinstituts vorkommt, nämlich das Thema
„Rassismus und rassistische Gewalt“. Es kommt aber
nicht nur im Bericht unseres Instituts vor, sondern, Herr
Kollege, zum Beispiel auch im Bericht des rumänischen
Kollegen Cezar Florin Preda in der Parlamentarischen
Versammlung des Europarats . Es kommt selbstverständ-
lich auch bei der internationalen Gemeinschaft vor . Es
geht also um Rassismus als Quelle von Menschenrechts-
verletzungen in Deutschland .

Ich denke, wir müssen dies deutlich ernster nehmen
als bisher . Auch das Institut geht sehr wohl auf den zu-
nehmenden Rassismus in Deutschland ein . Bei dem The-
ma wird faktisch ein Anstieg von politisch motivierter
Kriminalität und Gewalt von rechts benannt . Das BKA
verzeichnete 2015 über 1 000 politisch motivierte Straf-
taten gegen Flüchtlingsunterkünfte . Das ist ein Fakt . An
der Stelle können wir nicht von Interpretation reden . Das
war eine Vervierfachung im Vergleich zu 2014 . Im ersten
Halbjahr 2016 gab es bereits 530 solcher Gewalttaten .
Hinzu kommen körperliche Angriffe und Drohungen auf
bzw . gegen Journalistinnen und Journalisten, Helferinnen
und Helfer, Ehrenamtliche. All das findet in Deutschland
statt . Es gibt Morddrohungen auch gegen Politiker und
Politikerinnen . Die ersten Rücktritte von Lokalpolitikern
sind die Folge . Alle diese Geschehnisse, meine Damen
und Herren, sind Menschenrechtsverletzungen . Das sieht
auch die internationale Gemeinschaft so .

Dieser Anstieg der Gewalt ist auch eine Folge von
Hass, von Verschwörungstheorien und Lügen in nicht
moderierten sozialen Medien und Foren . Ein bestimmter
Teil unserer Gesellschaft glaubt dieser hetzerischen Pro-
paganda mehr als einer ausgewogenen Berichterstattung .
Hass im Netz ist die Folge . Und Hass im Netz ist ein

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 2016 21075


(A) (C)



(B) (D)


Angriff auf die Menschenrechte, ist ein Angriff auf die
Würde jedes und jeder Einzelnen .


(Beifall bei der SPD sowie des Abg . Frank Heinrich [Chemnitz] [CDU/CSU])


Liebe Kolleginnen und Kollegen, in beiden Berich-
ten wird viel beschrieben, analysiert, gelobt, bemängelt,
empfohlen . Der EU-Bericht ist ein wichtiges Nachschla-
gewerk, das viel Wissenswertes darbietet, auch über
Menschenrechtsinstrumente . Wir würdigen ihn zu Recht
in unserer Beschlussempfehlung .

Wir haben aktuell allerdings zu dem Thema, das ich
eben benannt habe, keine schnellen Lösungen . Es gibt
aber Gegenmaßnahmen. Gegen Hass kämpft die „No
Hate Speech“-Kampagne des Europarats, die wir hier in
Deutschland umsetzen, unterstützt durch das Familien-
ministerium . Meine niederländische Kollegin Marit Maij
arbeitet an einem Bericht für die Parlamentarische Ver-
sammlung des Europarats mit vielen Forderungen und
vor allem dem Appell an die Europäer, ihre Demokratien
vor der gedanklichen Vermüllung durch Lügen und Pro-
paganda zu schützen .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste, wir werden
gemeinsam sozusagen angegriffen von Filterblasen, die
vermeintlich die Meinung, das Interesse der Mehrheit
verkünden, Filterblasen, in denen immer lauter, immer
schriller, immer hysterischer gehetzt wird, bei denen es
letztendlich aber nur darum geht, durch Klicks und Likes
Werbung zu verkaufen . Damit wird unendlich viel Geld
verdient . Deshalb lautet eine Forderung für die Mitglied-
staaten des Europarats, dass Internetkonzerne endlich
nationale Gesetze einhalten müssen . Facebook und Co .
müssen Hasskommentare löschen .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es geht nicht nur darum, Fake News zu kennzeichnen
und zu entscheiden, was wahr und was falsch ist . Es geht
um Hasskommentare. Es geht um Angriffe auf die Men-
schenwürde und auf die Menschenrechte . Es kann nicht
sein, dass unter dem Deckmäntelchen der Meinungs-
freiheit Gesetze gebrochen werden. Der Slogan der „No
Hate Speech“-Kampagne bringt es auf den Punkt: „Hass
ist keine Meinung“.

Danke .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1821006000

Zum Abschluss dieser Debatte hat die Kollegin Sylvia

Pantel für die CDU/CSU-Fraktion das Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Sylvia Pantel (CDU):
Rede ID: ID1821006100

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nach
der hitzigen Diskussion versuche ich, etwas ruhiger vor-
zutragen, obwohl ich die Kritik sehr wohl berechtigt fin-
de . Da wir an anderen Stellen Transparenz fordern und
dazu auffordern, Hassspeech und Ähnliches zu löschen,
ist es wichtig, Informationen zu bekommen, mit denen
wir etwas anfangen können . Deshalb fand ich diese Dis-
kussion sehr informativ und gut .

Der Internationale Tag der Menschenrechte ist von
der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung überhaupt
nicht zur Kenntnis genommen worden . In unserem Le-
bensalltag spielen Menschenrechte nur selten eine be-
wusste Rolle . Unser Recht, uns frei zu bewegen, Mei-
nungs- und Glaubensfreiheit, die Sicherheit, in einem
Rechtsstaat zu leben, die freie und vielfältige Presse,
Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau – all diese
Menschenrechte nutzen und leben wir im Alltag und ver-
gessen viel zu oft, dass das nicht selbstverständlich ist .

Wenn uns die Menschenrechte viel bedeuten, müssen
wir aber auch innerhalb und außerhalb der Europäischen
Union das Wort erheben, wenn die Rechte Einzelner sys-
tematisch verletzt werden . Im vergangenen Jahr hat die
EU mit 35 Partnerländern formelle Menschenrechtsdia-
loge geführt . Dadurch konnten wir als Europäer nicht nur
unseren Partnern zeigen, wie wichtig uns die Einhaltung
der Menschenrechte ist . Auch die zivilgesellschaftlichen
Akteure vor Ort werden durch diese Menschenrechtsdi-
aloge gestärkt .

Der uns hier vorliegende Bericht richtet den Blick
nach außen . Wenn wir an Menschenrechtsverletzungen
denken, dann kommen uns sofort Länder wie Nordko-
rea, China, Saudi-Arabien, Eritrea oder – in jüngster
Zeit auch immer wieder; das haben auch die Kollegen
gesagt – die Türkei in den Sinn . Aber auch bei uns in Eu-
ropa und – ja – auch mitten in Deutschland finden Tag für
Tag Menschenrechtsverletzungen statt . Hier müssen wir
genauer hinsehen, und das nicht nur wegen der Flücht-
lingsströme .

Menschenrechte sind nichts, was man einfach abha-
ken kann . Sie müssen auch bewahrt werden . Zu den gro-
ßen Fragen der Bürgerrechte kamen in der Vergangenheit
immer neue Themen hinzu . Früher wurde zum Beispiel
über das Recht einer Frau diskutiert, ohne Erlaubnis des
Ehemannes außerhäuslich erwerbstätig zu sein . Heute
drehen sich die Diskussionen in der Öffentlichkeit außer-
halb des Menschenrechtsausschusses um Genderstern-
chen und geschlechtersensible Toiletten . Wir verlieren
uns derzeit zu oft im Klein-Klein und sehen nicht die
täglichen, fundamentalen Menschenrechtsverletzungen,
obwohl sie direkt vor unseren Augen passieren .

Wir dürfen den Schutz des Rechtsstaates nicht ver-
gessen . Nehmen wir zum Beispiel manche Stadtteile und
Gegenden in Frankreich und Belgien oder auch hier in
Berlin oder bei mir zu Hause in NRW . Dort haben sich
mittlerweile Parallelgesellschaften gebildet, die ihr eige-
nes Recht durchsetzen: Friedensrichter, die nach Scha-
riarecht urteilen, Kinderehen und Frauen, die sich nicht
scheiden lassen dürfen, Genitalverstümmelungen oder

Gabriela Heinrich

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 201621076


(A) (C)



(B) (D)


sogenannte Ehrenmorde, bei denen der Täter davon-
kommt, weil zwischen den Familien eine Geldzahlung
vereinbart wurde, um den Tod der Frau auszugleichen .
Diese Gruppen wollen die Probleme unter sich regeln
und nichts mit dem westlichen, weltlichen Staat zu tun
haben . Als Menschenrechtspolitiker müssen wir uns
dagegenstellen, dass sich einzelne Gruppen – egal ob
aus kulturellen oder religiösen Gründen – über unseren
Rechtsstaat hinwegsetzen .

In Europa herrscht eine so große Religionsfreiheit, wie
sie nirgendwo sonst auf der Welt zu finden ist. Jeder darf
glauben, an wen oder was er will, und sich entscheiden,
ob er überhaupt glauben will . Die Religionsfreiheit in
Europa bedeutet aber nicht, dass die Religion über dem
Gesetz stehen darf . Der Minderheitenschutz in Europa
hat unter anderem dazu geführt, dass wir muslimischen
Einwanderern immer weiter gehende Rechte eingeräumt
haben und dabei vergessen wird, dass die anderen Men-
schenrechte genauso zu schützen sind . Es darf nicht sein,
dass Karikaturisten in Dänemark um ihr Leben fürchten,
weil sie einen Comic mit Allah gezeichnet haben . Es darf
nicht sein, dass wir christliche Flüchtlinge in Unterkünf-
ten europaweit nicht gut genug vor Übergriffen schützen
können . Und es darf nicht sein, dass Religionsunterricht
in Deutschland dazu genutzt wird, den Krieg gegen die
Ungläubigen und den Märtyrertod zu verherrlichen .

Die Gleichberechtigung von Männern und Frauen ist
immer noch ein Thema . Als Mitglied im Familien- und
Menschenrechtsausschuss beziehen sich meine Berichter-
stattungen und Arbeitsschwerpunkte auf die Belange der
Frauen und auf die immer noch stattfindende, nicht zu to-
lerierende Gewalt gegen Mädchen und Frauen . Ich blicke
auf die existenziellen Probleme von Frauen und ärgere
mich, wenn unsere Aufmerksamkeit nicht auf die wich-
tigen Themen gerichtet wird, sondern auf vermeintlichen
Sexismus auf Werbeplakaten oder auf die eben genannten
Gendersternchen, Unterstriche und ähnliche Dinge .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


In unserem Land leben über 40 Millionen Frauen . Da-
runter sind viel zu viele, die nicht die Möglichkeit haben,
selbstbestimmt und frei zu entscheiden und zu leben . In
Deutschland haben sich Parallelgesellschaften entwi-
ckelt, in denen Frauen und Mädchen nicht die gleichen
Rechte haben wie die Männer . Gegen diese strukturellen
Missstände müssen wir als Staaten vorgehen; über diese
Themen müssen wir in Europa sprechen – in Frankreich,
in Belgien, aber eben auch in Deutschland .

Zwangsprostitution und Menschenhandel sind noch
immer ein Thema in Europa und den EU-Nachbarlän-
dern . Tausende junge Frauen aus Südosteuropa werden
in Deutschland sexuell ausgebeutet . Das Prostituierten-
schutzgesetz ist ein erster Schritt auf dem Weg, hier Licht
ins Dunkel zu bringen und die Frauen zu schützen .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Aber auch hier ist mehr europäische Kooperation drin-
gend nötig .

Lassen Sie mich zum Abschluss noch etwas zur Auf-
gabe der EU im Hinblick auf potenzielle Beitrittskandi-
daten sagen . Wenn wir heute in den Nachrichten aus der

Türkei hören und lesen, wie Journalisten verfolgt werden
und Kritiker von Präsident Erdogan ohne rechtsstaatliche
Prozesse in irgendwelchen Gefängnissen verschwinden,
dann zeigt dies meiner Meinung nach, dass dieser Staat
weit davon entfernt ist, potenzielles EU-Mitglied zu sein .

Durch die Finanzkrise und die Flüchtlingsbewegun-
gen des vergangenen Jahres haben wir leider gesehen,
dass sich Europa noch immer schwertut, mit einer Stim-
me zu sprechen . Wenn es aber um die Menschenrechte
geht, dann darf es in unserem Europa keine Zwischen-
töne geben, dann müssen wir in aller Deutlichkeit rote
Linien ziehen und sagen: So nicht!

Ich wünsche Ihnen trotz allem gesegnete Weihnach-
ten und dass Sie die Zeit genießen; denn wir können hier
in Frieden und Freiheit leben . Ich bitte Sie, dass wir ge-
meinsam den Blick auf die Unfreiheit richten, die es in
unserem Land noch gibt, und dagegen angehen .

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1821006200

Damit schließe ich die Aussprache .

Wir kommen jetzt zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe auf
Drucksache 18/10669 zu dem EU-Jahresbericht 2015
über Menschenrechte und Demokratie in der Welt – The-
matischer Teil – sowie zu dem EU-Jahresbericht über
Menschenrechte und Demokratie in der Welt im Jah-
re 2015 – Länder- und regionenspezifische Themen. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, in
Kenntnis der genannten Berichte eine Entschließung an-
zunehmen . Wer für diese Beschlussempfehlung stimmt,
den bitte ich um ein Handzeichen . – Wer stimmt dage-
gen? – Gibt es Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh-
lung ist damit mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke angenommen .

Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksa-
che 18/10678 . Wer stimmt für diesen Entschließungs-
antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der
Entschließungsantrag ist damit abgelehnt mit den Stim-
men von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der
Fraktionen Die Linke sowie Bündnis 90/Die Grünen .

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/10615 sowie 18/10616 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen . – Widerspruch erhebt sich keiner . Dann sind die
Überweisungen so beschlossen .

Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 29 a bis 29 d
auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
Gastel, Oliver Krischer, Dr . Valerie Wilms, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Die Bahnpolitik auf das richtige Gleis setzen

Drucksache 18/10383

Sylvia Pantel

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 2016 21077


(A) (C)



(B) (D)


Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit
Haushaltsausschuss

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr und digitale
Infrastruktur (15 . Ausschuss) zu dem Antrag der
Abgeordneten Sabine Leidig, Herbert Behrens,
Caren Lay, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE

Den Aufsichtsrat der Deutschen Bahn AG neu
und verantwortungsvoll besetzen

Drucksachen 18/592, 18/1845

c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr und digitale
Infrastruktur (15 . Ausschuss) zu dem Antrag der
Abgeordneten Sabine Leidig, Herbert Behrens,
Caren Lay, weiterer Abgeordneter der Fraktion
DIE LINKE

Gewährleistung des Schienenpersonenfern-
verkehrs

Drucksachen 18/4186, 18/5246

d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Finanzausschusses (7 . Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Sabine Leidig,
Herbert Behrens, Caren Lay, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion DIE LINKE

Mehrwertsteuerreduktion im Schienenperso-
nenfernverkehr

Drucksachen 18/3746, 18/6599

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Widerspruch
erhebt sich nicht . Dann ist das somit beschlossen .

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort
Dr . Anton Hofreiter für Bündnis 90/Die Grünen .


Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1821006300

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Es ist jetzt ein Jahr her, dass die Bundesrepu-
blik Deutschland das Klimaschutzabkommen von Paris
unterschrieben hat . Und was haben Sie innerhalb dieses
Jahres gemacht, um das Abkommen umzusetzen? Sie
haben nichts gemacht in dieser Richtung . Sie haben we-
der beim Kohleausstieg noch bei der Agrarwende etwas
gemacht, geschweige denn, dass bei der Verkehrswende
irgendetwas vorwärtsgegangen wäre .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ihr eigener Wissenschaftlicher Beirat hat Ihnen vor-
gestern ins Stammbuch geschrieben, dass der Verkehrs-
sektor ein klimapolitisches Desaster ist . Dabei könnte die
Bahn für den Klimaschutz im Verkehrsbereich von zen-
traler Bedeutung sein . Die DB AG gehört uns zu 100 Pro-
zent . Die ewige Ausrede, man könne nichts machen,
weil die DB AG eine Aktiengesellschaft sei, können Sie
steckenlassen . Wenn sich die Eigentümerversammlung

der DB AG trifft, dann trifft sich Herr Dobrindt mit sich
selbst,


(Heiterkeit des Abg . Sören Bartol [SPD])


und er könnte doch einmal etwas unternehmen, damit die
Bahn endlich auf Vordermann gebracht wird .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg . Sabine Leidig [DIE LINKE])


Wissen Sie: Es ist einfach extrem ärgerlich, dass Sie
de facto nichts daraus machen, dass Ihnen die Bahn zu
100 Prozent gehört . Das ist ärgerlich für die Reisenden .
Die Reisenden stecken in unpünktlichen Zügen fest . Die
Reisenden haben eine Bahn verdient, die endlich funk-
tioniert und bei der man beim Umsteigen nicht immer
nur den „sichtbaren Anschluss“ erlebt. Wenn Sie ab und
zu Bahn fahren, dann kennen Sie den „sichtbaren An-
schluss“: Man steigt aus dem Fernverkehrszug aus und
sieht den Nahverkehrszug, weil die Abstimmung nicht
funktioniert, nur noch wegfahren . Schuld sind angeblich
immer die Mitarbeiter der Bahn und nicht die Unterfi-
nanzierung der Infrastruktur, nicht die Unterfinanzierung
des Wagenmaterials und nicht die unfähige Politik dieses
Ministeriums .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das ist auch ärgerlich für die Unternehmen in Deutsch-
land . Es ist ja nicht so, dass der Güterverkehr auf der
Schiene nicht erfolgreich wäre . Er ist dort erfolgreich,
wo es interessante Angebote gibt . Aber das Problem ist,
dass Sie die Infrastruktur nicht ausreichend ausbauen,
sodass wir Auslastungen von 100 Prozent haben . Das
Problem ist, dass Sie die Engpässe hinter Hamburg nicht
beseitigen, dass Sie die Engpässe an der Rheinschiene
nicht schnell genug beseitigen . Vielmehr setzen Sie wei-
terhin auf isolierte, sinnlose Großprojekte . Sie waren
noch nicht einmal in der Lage, die Verkehrsprojekte im
Bundesverkehrswegeplan ausreichend zu bewerten und
die Verkehrsprojekte im Bereich Schiene im Bundes-
verkehrswegeplan zu verankern . Das Einzige, was Sie
geschafft haben, war, die Umgehungsstraßen in Ihren
eigenen Wahlkreisen zu bewerten, anstatt endlich eine
integrierte Verkehrspolitik zu machen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Ihre Verkehrspolitik im Bereich der Bahn ist schlicht-
weg eine Zumutung für den Steuerzahler . Sie verschwen-
den sinnlos Geld, und das sagen nicht nur wir Ihnen,
sondern das sagt Ihnen auch der Bundesrechnungshof .
Deswegen: Machen Sie endlich etwas aus dem 100-pro-
zentigen Bundesbesitz! Sorgen Sie dafür, dass die Eng-
pässe beseitigt werden! Sorgen Sie für einen Integralen
Taktfahrplan! Integraler Taktfahrplan bedeutet, dass die
Anschlüsse der Züge zueinander passen und man nicht
ewig auf den nächsten Zug warten muss . Sorgen Sie da-
für, dass die Bahn zentral wird für die Mobilitätswende,
dass die Bahn die Chancen nutzen kann, die aus Digitali-
sierung und Elektrifizierung entstehen! Machen Sie end-
lich die Bahnhöfe zu Mobilitätsdrehscheiben! Machen
Sie etwas aus diesen 100 Prozent Bundesbesitz! Sorgen

Vizepräsident Johannes Singhammer

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 201621078


(A) (C)



(B) (D)


Sie endlich für eine gute Bahnpolitik, und reden Sie sich
nicht weiter heraus!

Vielen Dank .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1821006400

Für die Bundesregierung spricht jetzt der Parlamenta-

rische Staatssekretär Enak Ferlemann .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


E
Enak Ferlemann (CDU):
Rede ID: ID1821006500


Sehr geschätzter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Lieber Toni Hofreiter, da hast du zum
Ende des Jahres ja verkehrspolitisch noch mal einen
rausgehauen, und das in einem Jahr, das man wohl als
das erfolgreichste Jahr seit mindestens 20 Jahren in der
Verkehrspolitik in Deutschland bezeichnen kann .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr . Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, wenn man bloß im Dienstwagen drinsitzt und selber nichts tut!)


Lieber Toni Hofreiter, es war ein Jahr, in dem die
Bundesregierung in einem noch nie da gewesenen trans-
parenten Verfahren einen Bundesverkehrswegeplan
aufgestellt hat: mit der Integration der verschiedenen
Verkehrsträger, mit einer Vernetzungsstruktur, mit einer
klaren Priorisierung, mit einer Umweltorientierung, mit
einer Antwort auf all die verkehrspolitischen Fragen bis
zum Jahre 2030 .


(Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit nicht bewerteten Schienenprojekten!)


Das Ganze ist gepaart mit einem Investitionshochlauf,
wie er noch nie auch nur annähernd absehbar war im
Haushalt der Bundesrepublik Deutschland . Ich bin unter
anderem dem Finanzminister sehr dankbar, dass er die
Mittel dafür bereitstellen wird, und dem Haushaltsaus-
schuss, dass er die dementsprechenden Beschlüsse ge-
fasst hat . Sage und schreibe 270 Milliarden Euro soll das
Bundesverkehrsministerium in den nächsten 15 Jahren in
die Infrastruktur investieren . Noch nie hat es so etwas ge-
geben . Ganz Europa staunt und freut sich, dass Deutsch-
land so in seine Infrastruktur investiert .


(Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist ja lächerlich!)


Da wundert man sich über die Anträge, die hier von der
Opposition vorgelegt werden und die mitnichten von
großer Sachkenntnis strotzen .


(Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh!)


Es ist so, dass natürlich alle Verkehrsträger angespro-
chen sind, aber wir heute ja speziell über Bahnpolitik re-
den sollen .


(Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Angesprochen, aber nicht priorisiert!)


– Das gilt auch für Sie, Herr Gastel . Man ist erstaunt, zu
welchen Überlegungen Sie kommen und wie schlecht Sie
den Verkehrsträger Schiene darstellen .


(Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie bringen die gar nicht rein in das Gesetz! Das ist das Problem! Bei Ihnen steht das gar nicht an!)


Es wäre wesentlich sinnvoller, sich einmal Gedanken
zu machen, wie wir gemeinsam den Träger weiterentwi-
ckeln . Aber nur beschimpfen, ohne eigene Ideen zu prä-
sentieren, reicht natürlich nicht aus .


(Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben doch Anträge gestellt!)


Das Einzige, auf das Sie kommen, ist, erneut eine Kom-
mission zu bilden, große runde Tische, die nachher mit
nichts enden . So etwas können wir nicht gebrauchen .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Von daher gesehen: Ja, für die Schiene ist eine Menge
drin . Ja, von allen Verkehrssystemen, die wir haben, ist
die Schiene das komplexeste und am schwierigsten zu
durchschauende System von allen .


(Dr . Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, für Sie! Das merken wir!)


Das sieht man an den Anträgen der Opposition . Sie haben
Bahnpolitik bis zuletzt eben nicht verstanden .


(Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deswegen sind andere Länder auch besser als wir!)


Obwohl wir im Verkehrsausschuss x-mal diskutiert ha-
ben, die Kollegen von CDU/CSU und SPD Ihnen mehr-
fach erklärt haben, wie die Zusammenhänge sind, haben
Sie es nicht verstanden .


(Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fragen Sie mal die Schweizer, was die von unserer Bahnpolitik halten!)


Wir haben in dieser Woche eine große Anhörung von
Experten gehabt, die alle festgestellt haben: Vom Grund-
satz ist das Schienensystem in Deutschland gut einge-
richtet . Gerade hat der Europäische Rechnungshof, ja
eher eine Einrichtung, die sehr kritisch auf die Verkehrs-
politik sieht, Deutschland ein großes Lob ausgesprochen .
Das hätten Sie einmal zur Kenntnis nehmen sollen, an-
statt hier solche Anträge zu stellen .


(Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nehmen Sie zur Kenntnis, was der Bundesrechnungshof regelmäßig sagt!)


Daraus ergibt sich, dass gerade die Bundesrepublik
Deutschland in diesem Sektor sehr gut aufgestellt ist .

Dr. Anton Hofreiter

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 2016 21079


(A) (C)



(B) (D)


Aber natürlich gibt es Herausforderungen . Ja, wir
müssen weiter in das Schienenwesen investieren . Wir
haben mit diesem Bundesverkehrswegeplan einen Para-
digmenwechsel vorgenommen . Zum ersten Mal haben
wir einen Fahrplan bis zum Jahr 2030 konstruiert und
aus diesem Fahrplan die Notwendigkeit für Infrastruk-
turleistungen abgeleitet, sowohl im Güterverkehrssektor
als auch im Fernverkehrssektor . Im nächsten Jahr werden
wir das mit den Ländern noch um den Nahverkehrssektor
ergänzen . Viele kleine Maßnahmen sind viel wichtiger
als große . Aber es wird auch einige große Maßnahmen
geben, die wir realisieren müssen, die im Verkehrswege-
plan enthalten sind .

Ja, obwohl die Schiene der ökologischste Verkehrs-
träger neben der Wasserstraße ist, müssen wir auch hier
weiter investieren . Wir werden im kommenden Jahr das
erste Mal einen wasserstoffgetriebenen Nahverkehrs-
zug im Regelbetrieb auf der Schiene ausprobieren . Wir
werden Lokomotiven mit Batterietendern erleben . Wir
werden andere Systeme erleben, um die Strecken, die
derzeit noch nicht unter Fahrdraht, das heißt elektrisch,
betrieben werden können, dann auch umweltfreundlich
betreiben zu können . Wir werden die Innovationen wei-
ter vorantreiben .

Ja, ein Risiko der Schiene ist der Schall . Viele Men-
schen fühlen sich bedroht, wenn es heißt, dass Schienen-
strecken ausgebaut werden und Güterverkehr dorthin
kommt . Viele denken: Der Umstieg von der Straße auf
die Schiene und auf Wasserstraßen ist richtig, das un-
terstützen wir . – Aber wenn es konkret wird, haben die
Menschen Sorgen, dass es, was die Schiene anbelangt, zu
laut wird . Also müssen wir den Eisenbahnverkehr leiser
machen . Auch das, Herr Kollege Gastel, wird entgegen
Ihren Annahmen passieren . In der kommenden Woche
wird ein entsprechender Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung das Kabinett und dann auch das Parlament er-
reichen . In dem Gesetzentwurf legen wir fest, dass ab
dem Fahrplanwechsel 2020 keine lauten Güterzüge in
Deutschland mehr fahren werden .


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit vielen Ausnahmen!)


– Natürlich gibt es Ausnahmen, Herr Gastel, aber Sie
müssen sich die Ausnahmen ansehen .


(Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Sie müssen schauen, wofür die konstruiert sind . Gerade
Sie, der doch vorgibt, für Bahnverkehr, für mehr Verkehr
auf der Schiene zu sein, müssten diesen Ausnahmen sehr
positiv gegenüberstehen .

Wir werden den Gesetzentwurf also vorlegen . Ich
denke, das Parlament wird ihn zügig beraten und verab-
schieden, sodass ganz Deutschland weiß: Das Verspre-
chen der Regierung, den Schienenlärm in Deutschland
nicht nur punktuell, sondern in der ganzen Fläche zu hal-
bieren, wird eingehalten und umgesetzt . Dafür müssen
wir erhebliche Investitionen vornehmen . Wir werden in
das rollende Material investieren .

Bei aller Liebe, Toni Hofreiter: Schienenverkehr ist
nicht nur die DB AG . Es gibt eine Fülle von anderen
Bahnen, die auf unserem Netz fahren; es sind rund 300 .
Man sollte sich nicht nur auf das bundeseigene Unter-
nehmen konzentrieren, sondern insgesamt auf den Sektor
schauen, und der ist gut ausgestattet .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Dr . Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Man könnte sich ja auch mal um das eigene Unternehmen kümmern! Das ist nicht verboten!)


Natürlich sind einige bei der DB AG von solchen Zieler-
reichungen oder, sagen wir einmal, Nichtzielerreichun-
gen nicht besonders begeistert . Daran wird zu arbeiten
sein. Wir schaffen aber mit der Kapitalerhöhung für die-
ses Unternehmen die notwendige Voraussetzung, um die-
se Herausforderung zu bestehen .


(Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben dafür keinerlei Konzept! Geld zuschießen allein reicht nicht!)


Insgesamt sind dies alles gute Beschlüsse . Die Bahn
ist auf einem guten Weg, sie ist gut aufs Gleis gesetzt .
Insofern kann man die Anträge der Opposition nur in
Bausch und Bogen ablehnen .

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1821006600

Die Kollegin Sabine Leidig spricht jetzt für die Frak-

tion Die Linke .


(Beifall bei der LINKEN)



Sabine Leidig (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1821006700

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Gäste! Es ist schon erstaunlich – eigentlich kann
ich es mir nur durch den Genuss von viel Glühwein auf
Weihnachtsmärkten erklären –,


(Zuruf von der CDU/CSU: Eine bodenlose Frechheit!)


dass Staatssekretär Ferlemann sagt, alles sei in Butter,
die Bahn sei auf einem tollen Weg . Wenn man sich die
Nachrichten anschaut, die in den letzten Wochen in den
Zeitungen zu lesen waren, dann weiß man, dass Bahn-
chef Grube plant, den operativen Konzerngewinn, EBIT,
um 770 Millionen Euro pro Jahr zu erhöhen, und zwar –
hören Sie gut zu! – mit einem Schrumpf- und Abbau-
programm à la Mehdorn unter dem irreführenden Titel
„Operative Exzellenz“.

In Zukunft soll im Kerngeschäft der Bahn massiv
eingespart werden . Bei der Wartung von Infrastruktur
und Zugflotten sollen allein die Personalkosten in der
Instandhaltung um 15 Prozent sinken . Ein erheblicher
Stellenabbau wird befürchtet . Die Schließungen von Zu-
greparaturwerken sind schon längst in den Strategiepa-
pieren von Grube vorgesehen . Zum Glück wehren sich

Parl. Staatssekretär Enak Ferlemann

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 201621080


(A) (C)



(B) (D)


die Beschäftigten und auch die Länder dagegen. Ich finde
diesen Widerstand total wichtig und notwendig .


(Beifall bei der LINKEN)


Die Spitze des DB Konzerns plant einen Kahlschlag
beim Güterverkehr . Bei DB Cargo sollen über 2 000 Ar-
beitsplätze wegfallen, und 173 Verladestationen sollen
geschlossen werden . Ich bitte Sie, natürlich gibt es viele
Eisenbahnen, die nicht DB AG sind, aber die Eisenbah-
nen fordern unisono – ob es das Netzwerk Europäischer
Eisenbahnen ist oder der Verband Deutscher Verkehrsun-
ternehmen –, dass die Güterverkehrsstruktur erhalten
bleibt und ausgeweitet wird . Wir haben gerade im Ver-
kehrsausschuss darüber gesprochen . Sie sagen: Selbstver-
ständlich ist es eine gute Alternative zum Lkw-Verkehr,
wenn es auch kleinräumig wieder Güteranschlussstellen
gibt . Das muss passieren .


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg . Dr . Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Auch da gibt es zum Glück massiven Widerstand der Be-
schäftigten, die sich wehren und unsere volle Solidarität
haben . Sie haben 50 000-mal mehr Verstand im Hirn als
ihre Konzernspitze .


(Beifall bei der LINKEN)


Dann gab es noch Neuigkeiten aus dem Bahnleben .
Die DB AG hat dieser Tage ein ganz wichtiges Angebot
im Schienenfernverkehr komplett eingestellt . Der letzte
Nachtzug hat letzte Woche Berlin verlassen . Auch hier
gibt es eine breite öffentliche Initiative, die um die Ret-
tung der Nachtzüge kämpft . Ich will einmal ein Zitat
bringen, das in einem Blog zu lesen ist:


(Gustav Herzog [SPD]: Anstatt zu bloggen, sollten Sie besser da hinfahren!)


Der Lokführer lässt den Zug mit dem Signalhorn
„weinen“ – was auch bei mir für Gänsehaut sorgt. …
eine Tradition geht … zu Ende. Es bleibt die Hoff-
nung, dass sich Europa eines Besseren besinnt und
den Schatz seines engmaschigen, grenzüberschrei-
tenden Bahnnetzes

– und Nachtzugnetzes –

wieder zu nutzen weiß .


(Kirsten Lühmann [SPD]: Und darum gibt es auch zukünftig Nachtverbindungen! Aber das wissen Sie auch ganz genau! Tun Sie doch nicht so!)


Das wäre zukunftsfähig . LunaLiner ist ein Konzept,
das von Bürgerinitiativen und den Beschäftigten entwi-
ckelt worden ist . Dass die österreichische Bundesbahn
jetzt Nachtzüge fährt, ist okay . Aber das ist doch kein
Glanzlicht für die Bahnpolitik in Deutschland . Es ist ein
Armutszeugnis, dass Sie da nicht zukunftsfähig sind .


(Beifall bei der LINKEN – Michael Donth [CDU/CSU]: Aber wenn das Konzept so toll ist, warum macht es dann keiner? – Kirsten Lühmann [SPD]: Genauso gibt es auch NachtICEs!)


– Nacht-ICEs? Setzen Sie sich mal zwölf Stunden in ei-
nen ICE; fahren Sie morgens um zwei von Ihrer Heimat
zu irgendeinem ICE-Haltepunkt und warten da drei Stun-
den im ungeheizten Warteraum . Das ist doch absurd!


(Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei der SPD)


Dummerweise gibt es nicht nur einen Rückzug bei
der DB AG, sondern es gibt auch merkwürdige Offen-
siven . Beispielsweise klagt die Bahn gegen das Land
Baden-Württemberg – was ich total kurios finde –, weil
dieses sich an den absurd gesteigerten Kosten für Stutt-
gart 21 zu Recht nicht beteiligen will, denn dieses absur-
de Projekt haben die Bundespolitik und die Bahn zu ver-
antworten . Sie müssen zusehen, dass sie aus der Grube
herauskommen, die sie sich da gegraben haben .


(Beifall bei der LINKEN)


Die Deutsche Bahn AG hat das kommunale Busun-
ternehmen der Stadt Pforzheim niederkonkurriert . Was
ist das denn für ein absurdes Geschäftsgebaren? Es ist
volkswirtschaftlicher Unsinn, dass wir ein Bundesun-
ternehmen gegen kommunale Unternehmen in Stellung
bringen .


(Beifall bei der LINKEN – Michael Donth [CDU/CSU]: 8 Millionen im Jahr billiger! 8 Millionen!)


Wir brauchen endlich ein Ende dieses blödsinnigen
Börsen- und Privatisierungskurses der Bahn .


(Beifall bei der LINKEN)


Die Bahn muss dafür sorgen, dass viele Angebote in der
Fläche gemacht werden, dass die Angebote bezahlbar
werden, dass getaktet wird usw ., und die Politik muss
dafür sorgen, dass die Rahmenbedingungen stimmen . Es
ist einfach nicht wahr, dass der Bundesverkehrswegeplan
ein Schienenausbauprogramm ist . Quatsch! Es ist vor
allen Dingen ein Straßenausbauprogramm . Sie wissen
ganz genau, dass die Kritik der Verbände – und nicht nur
der Umweltverbände, sondern vieler Verkehrsverbände,
auch regionaler Verkehrsunternehmen – völlig berechtigt
ist, dass in die Bahn viel zu wenig investiert wird, dass
die Investitionen nicht ordentlich geplant sind und dass
wir damit weiterhin das Problem haben, dass die Straße
zugunsten der Schiene ausgebaut wird .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir fordern, dass das Projekt, das die Grünen vor-
schlagen, endlich in Angriff genommen wird, nämlich
eine Reform der Bahnreform . Wir haben das schon vor
zwei Jahren anlässlich von 20 Jahren Bahnreform ge-
fordert . Die Reformkommission ist eine gute Idee . Ent-
scheidend ist, wer drinsitzt . Selbstverständlich müssen
die Kommunen und Länder drinsitzen . Selbstverständ-
lich müssen Bahnfachleute drinsitzen . Selbstverständlich
müssen Vertreter der Beschäftigten drinsitzen, ebenso die
hervorragenden Eisenbahninitiativen, die tolle Vorschlä-
ge machen, was man konkret tun könnte, um die Bahn
zu verbessern . Das heißt, es muss eine Demokratisierung

Sabine Leidig

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 2016 21081


(A) (C)



(B) (D)


der Bahn stattfinden, damit die Bahn den Bedürfnissen
der Bevölkerung wirklich gerecht wird .


(Beifall bei der LINKEN)


Zum Schluss möchte ich noch sagen, dass ich es ex-
trem bedauerlich finde, dass die SPD offensichtlich
zugestimmt hat, dass der Vertrag von Bahnchef Grube
verlängert wird, obwohl deutlich erkennbar ist, dass er
die Bahn nicht vorwärtsbringt, dass seine Fernverkehrs-
strategie nicht realisiert wird . Sie haben zugestimmt, dass
Pofalla sein Nachfolger wird . Ich weiß überhaupt nicht,
was das soll . Warum sorgen Sie nicht dafür, dass an der
Spitze der Deutschen Bahn AG, des größten öffentlichen
Unternehmens, erfolgreiche Eisenbahnunternehmer ste-
hen


(Kirsten Lühmann [SPD]: Ich finde es spannend, was Sie alles wissen, wo wir zugestimmt haben! Das wissen wir ja nicht!)


und nicht Leute aus der Automobilindustrie und aus an-
deren Bereichen,


(Beifall bei der LINKEN)


deren Herzensanliegen vielleicht der Bilanzgewinn und
EBIT ist, aber nicht, wie die Leute umweltverträglich
und klimafreundlich mobil sein können?

Danke .


(Beifall bei der LINKEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1821006800

Frau Kollegin Leidig, Sie haben zu Beginn Ihrer Rede

die Ausführungen des Staatssekretärs Ferlemann mit
dem Genuss von Glühwein in Verbindung gebracht . Ich
finde das unpassend.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Ich finde Glühwein auch eklig! Das klang eher nach Wodka!)


Wir alle führen eine sehr intensive Diskussion, in der wir
uns unsere Ausdrucksweise sehr genau überlegen sollten .
Das sollten auch Sie tun .


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann darf man aber auch zu Abgeordneten nicht sagen: „Sie haben ja keine Ahnung“!)


Es gibt genügend Möglichkeiten, sich in der Sache aus-
einanderzusetzen .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Ach, was sind wir denn heute so dünnhäutig? Mein Gott!)


Jetzt hat der Kollege Sören Bartol für die SPD das
Wort .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Sören Bartol (SPD):
Rede ID: ID1821006900

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Manchmal hilft ja ein schöner Glühwein .


(Heiterkeit des Parl . Staatssekretär Enak Ferlemann)


Wir erleben heute in dieser Debatte wieder einmal, dass
es im Deutschen Bundestag am Ende nur Freunde des
Schienenverkehrs gibt .


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Das stimmt doch gar nicht!)


Wenn wir ehrlich sind, sind wir alle damit Teil eines ge-
meinsamen Rituals: Alle fordern, dass wir in Zukunft
mehr Verkehr auf die Schiene verlagern, alle wollen, dass
mehr Geld in die Schieneninfrastruktur investiert wird,


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Man muss den Rednern auch zuhören!)


alle versprechen, dass mit ihnen definitiv alles besser
wird, und alle arbeiten sich an der Deutschen Bahn ab .


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Ich glaube, Sie haben gerade nicht zugehört!)


Am Ende preisen die Regierungsfraktionen ihre Erfol-
ge, und die Opposition erklärt, was alles schiefläuft. Ich
wünsche mir, dass es heute gelingt, dieses Ritual einmal
zu durchbrechen und eine ernsthafte Debatte darüber zu
führen, wie wir mehr Schienenverkehr erreichen .


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Ja! Dazu haben wir viele Vorschläge gemacht! Es gibt viele Anträge dazu!)


Wir diskutieren heute auch über den Antrag der Grü-
nen mit dem Titel „Die Bahnpolitik auf das richtige Gleis
setzen“. Der Inhalt ist einfach nur enttäuschend.


(Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was? Ich bin gespannt, was wir von Ihnen zu hören kriegen!)


Das beginnt bereits beim Titel, liebe Kolleginnen und
Kollegen von den Grünen . Sie reden nur von der Bahn-
politik . Dabei müsste inzwischen klar sein, dass Bahnpo-
litik eben nicht gleich Schienenpolitik ist . Wer sich nur
an der Deutschen Bahn abarbeitet, vergisst, dass es am
Ende auch um das System Schiene geht .


(Beifall bei der SPD – Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau das machen wir! Genau darüber reden wir!)


Spätestens bei den politischen Forderungen Ihres An-
trags suche ich nach Ihrem Schienenkonzept . Sie gipfeln
in dem wegweisenden Vorschlag, eine Reformkommissi-
on einzusetzen . Da waren Sie schon einmal weiter .


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir als SPD-Bun-
destagsfraktion brauchen keine Kommission . Wir setzen
konkrete Dinge um und arbeiten bereits an den nächsten
konkreten Schritten .


(Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: Ja, genau! Und wie lange noch? – Sabine Sabine Leidig Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 201621082 Leidig [DIE LINKE]: Wir sind sehr gespannt! Wir warten schon lange auf Ihre Anträge, Herr Bartol!)


(A) (C)


(B) (D)


Ich empfehle allen, das Impulspapier „Mehr Verkehr auf
die Schiene – die Politik ist am Zug.“ der SPD-Bundes-
tagsfraktion zu lesen .


(Gustav Herzog [SPD]: Sehr richtig!)


Vor sechs Wochen haben wir auf unserem Schienengipfel
2016 Eckpunkte für einen Schienenpakt 2030 zur Dis-
kussion gestellt . Über 400 Vertreterinnen und Vertreter
aus der Verkehrsbranche, aus Industrie, Wissenschaft
und Gewerkschaften haben an dieser Konferenz teilge-
nommen .


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Wieso haben Sie bei den Bundesverkehrswegeplanberatungen alle Eisenbahnanträge abgelehnt?)


Knapp 1 000 Bürgerinnen und Bürger haben diese Kon-
ferenz im Internet verfolgt .


(Abg . Sabine Leidig [DIE LINKE] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Wir laden alle ein – auch Sie, Frau Leidig –, sich an der
Diskussion über das Papier zu beteiligen . Sie können es
auf der Homepage der SPD-Fraktion finden.


(Beifall bei der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1821007000

Ich vermute, Herr Kollege Bartol, –


Sören Bartol (SPD):
Rede ID: ID1821007100

Wenn Sie die Uhr anhalten, dann ja .


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1821007200

– das können Sie voraussetzen –, dass Sie die Zwi-

schenfrage der Kollegin Leidig zulassen .


Sören Bartol (SPD):
Rede ID: ID1821007300

Ja, klar .


(Peter Wichtel [CDU/CSU]: Zusätzliche Redezeit kann man immer gebrauchen!)



Sabine Leidig (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1821007400

Ihre Worte höre ich gern .


Sören Bartol (SPD):
Rede ID: ID1821007500

Ich bin ja noch nicht fertig .


Sabine Leidig (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1821007600

Aber Ihre Taten entsprechen ihnen leider nicht . Wir

haben ja gerade die Bundesverkehrswegeplanberatungen
durchgeführt . Es gab eine Fülle von Anträgen – nicht nur
von der Opposition, sondern auch von Bundesländern –,

regionale Bahnstrecken auszubauen, damit tatsächlich
mehr Bahnverkehr in der Fläche stattfinden kann.


(Gustav Herzog [SPD]: Das ist Sache der Länder!)


– Die Infrastruktur ist Sache des Bundes; das ist im
Grundgesetz ganz eindeutig geregelt .


(Gustav Herzog [SPD]: Nein!)


Da brauchen Sie hier überhaupt nicht herumzublöken .


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Gustav Herzog [SPD]: Ich blöke nicht! Das ist ja wohl unverschämt! – Weitere Zurufe von der SPD: Na, na! – Oh!)


Das Angebot auf der Strecke ist Sache der Länder; aber
es geht um die Infrastruktur . Ich möchte Sie fragen, Herr
Bartol: Wenn Sie sich so sehr dafür einsetzen, dass der
Bahnverkehr gestärkt wird, warum hat die SPD-Fraktion
all diese Anträge abgelehnt?


(Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der CDU/CSU: Weil sie Blödsinn waren! – Weil die Anträge falsch waren!)



Sören Bartol (SPD):
Rede ID: ID1821007700

Liebe Kollegin Leidig, Sie sind ja heute auf einem re-

lativ hohen Aggressionslevel .


(Heiterkeit bei der SPD und der CDU/CSU – Sabine Leidig [DIE LINKE]: Sagen Sie das einmal Ihren Kollegen! – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war der Vorredner!)


Ich will versuchen, es ganz sanft zu machen: Die Anträ-
ge, die wir ablehnen, haben einfach nicht die Qualität,
um hier im Deutschen Bundestag beschlossen zu werden;
das ist der erste Punkt .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Oha! Darf ich Sie zitieren?)


Der zweite Punkt ist: Ich glaube, dass Ihre Frage bzw .
Ihr Statement gerade gezeigt hat, dass Sie immer noch
nicht verstanden haben, wie der Bundesverkehrswege-
plan funktioniert .


(Lachen der Abg . Sabine Leidig [DIE LINKE] – Dr . Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Doch! Es ist sehr offensichtlich, wie der Bundesverkehrswegeplan funktioniert! – Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist ja gerade Ihr Problem, dass wir ihn verstanden haben!)


Sie kritisieren immer wieder Dinge, die wir rauf und run-
ter erklärt haben . Sie wissen, dass es für regionale Schie-
nenbedarfe andere Fördertöpfe gibt . Sie wissen, dass wir
uns auf die fernverkehrs- und güterverkehrsrelevanten
Aspekte konzentrieren .


(Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ah ja, das sieht man!)


Sören Bartol

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 2016 21083


(A) (C)



(B) (D)


Sie wissen auch, dass wir gerade mit diesem Bundes-
verkehrswegeplan – wenn Sie sich die Geldverteilung
ansehen, werden Sie das feststellen – einen sehr wich-
tigen Schwerpunkt beim System Schiene gesetzt haben .
Insofern verstehe ich einfach nicht, warum Sie ihn immer
kritisieren . Sie können doch vor Weihnachten einfach
einmal sagen: Liebe Koalition, das habt ihr gut gemacht .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Sabine Leidig [DIE LINKE]: Das würde ich gern! – Dr . Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Auch vor Weihnachten soll man nicht lügen! – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Sie kriegen nur die Rute!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Schienennetz
muss wachsen . Ohne ein starkes Schienennetz werden
wir das Ziel „Weg vom Öl bis 2050“ nicht schaffen. Guter
Service bei attraktiven Preisen, Pünktlichkeit und Zuver-
lässigkeit muss das Markenzeichen der Eisenbahnen in
Deutschland sein . Wir haben in der Großen Koalition ei-
niges erreicht. Pendlerinnen und Pendler profitieren jedes
Jahr von 1 Milliarde Euro zusätzlich für den Regional-
verkehr . Bröckelnde Brücken und Langsamfahrstrecken
werden mit zusätzlichen Mitteln für den Erhalt durch die
neue Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung besei-
tigt . Zusätzliches Eigenkapital und der Verzicht auf einen
Teil der Dividende bei der Deutschen Bahn helfen dem
Unternehmen, in neue Züge und zusätzliche Strecken im
Personenfernverkehr zu investieren .

Offensichtlich reicht das jedoch nicht.


(Dr . Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, es braucht ein Konzept! – Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur Geld allein hilft nicht!)


Die Schiene steht im Wettbewerb der Verkehrsträger
weiter unter massivem Druck . Ein zentrales Problem ist,
dass sie zu teuer ist . Darüber hinaus muss sie innovativer
und auch effizienter werden. Ich erwarte deshalb, dass
die Unternehmen besser werden . Was wir gleichzeitig
aber auch brauchen, ist ein gesellschaftlicher Konsens,
dass wir als Steuerzahlerinnen und Steuerzahler die
Schiene strukturell und finanziell stärker fördern wollen
als bisher . Ziel sollte ein Schienenpakt zwischen Politik
und Wirtschaft sein, um mehr Verkehr auf die Schiene zu
bringen . Beide Seiten müssen daran mitarbeiten .


(Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: Nur ein anderer Arbeitskreis!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit unserem Vor-
schlag für einen Schienenpakt 2030 stellen wir insgesamt
19 Maßnahmen zur Diskussion . Ich konzentriere mich
jetzt auf die wichtigsten: Das Schienennetz muss wach-
sen . Wir brauchen eine Verdoppelung der Kapazitäten bis
2030. Alle Oberzentren müssen flächendeckend an das
ICE-/Intercitynetz angeschlossen werden . Das können
wir auch durch die Umsetzung des Deutschland-Takts
erreichen. Die Trassenpreise müssen signifikant gesenkt
werden . Nur so werden am Ende mehr Menschen auf die

Bahn umsteigen und mehr Güter auf die Schiene verla-
gert werden .


(Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: Das haben wir gefordert! – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Wenn es um konkrete Maßnahmen geht, lehnen Sie sie ab!)


Die Bahnen in Deutschland müssen Vorreiter bei der
Digitalisierung sein . Guter Service, bequemer Zugang zu
digitalen Dienstleistungen müssen zum Markenzeichen
der Eisenbahnen werden. Das betrifft auch die Verbin-
dung mit anderen Verkehrsträgern und Plattformen . Und,
ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen unser
eigenes Unternehmen Deutsche Bahn besser steuern .
Nicht die Maximierung des Gewinns, sondern die Maxi-
mierung des Schienenverkehrs muss das Ziel des Unter-
nehmens sein .


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Echt? Ist es aber nicht!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns am
Ende gemeinsam die besten Maßnahmen identifizieren,
mit denen wir die Schiene stärken können . Ich freue
mich, dass acht Verbände – von der Allianz pro Schie-
ne über den Verband der Bahnindustrie bis hin zum Ver-
kehrsclub Deutschland – mit einem eigenen Papier zen-
trale Forderungen unseres Schienengipfels unterstützen .
Lassen Sie uns jetzt einfach daran arbeiten, dass wir in
den kommenden Monaten bereits die ersten Maßnahmen
umsetzen können .

Vielen Dank .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1821007800

Der Kollege Dirk Fischer spricht als Nächster für die

CDU/CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dirk Fischer (CDU):
Rede ID: ID1821007900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

wirtschaftliche Lage der Staatsbahnen war Anfang der
90er-Jahre dramatisch . Wir müssen uns einmal daran er-
innern, wo wir herkommen: Der Verkehrsträger Schiene
drohte seine intermodale Konkurrenzfähigkeit vollstän-
dig zu verlieren . Wir hatten steigende Haushaltsbelas-
tungen durch ungeplante Milliardenverluste, die jährlich
vom Bundeshaushalt aufgefangen werden mussten . Des-
wegen ist die im Dezember 1993 vom Bundestag be-
schlossene Bahnreform dringend notwendig gewesen als
eine wichtige Weichenstellung für die Bahnpolitik . Aber
sie war natürlich auch dringend notwendig, weil wir die
Integration der Reichsbahn schaffen mussten.

Ich will daran erinnern, dass wir dann ab 1994 die
Deutsche Bahn AG als ein Wirtschaftsunternehmen in
privatrechtlicher Form, aber im Eigentum des Bundes
geführt haben. Ebenso wichtig war uns damals die Öff-
nung des deutschen Schienennetzes für nichtstaatliche
Bahnunternehmen . Das Ziel lautete: Mehr Wettbewerb

Sören Bartol

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 201621084


(A) (C)



(B) (D)


schafft mehr qualitativ hochwertige und bezahlbare An-
gebote . Nichtbundeseigene Schienenunternehmen haben
sich in diesen Jahren deutliche Marktanteile erobert . Ich
denke hier an die Sparten Nahverkehr und Güterverkehr:
Der Anteil der privaten Unternehmen ist – gemessen an
den Trassenkilometern – von 2 Prozent im Jahr 1999 auf
mittlerweile 25 Prozent im Jahr 2014 gestiegen .

Die staatliche Aufgabe besteht darin, die Investitionen
in die bundeseigene Schieneninfrastruktur zu tragen und
Neu- und Ausbau sowie Erneuerung zu finanzieren. Für
die Ersatzinvestitionen in das bestehende Schienennetz
sowie für Neu- und Ausbau haben wir im Haushalt 2016
rund 4,7 Milliarden Euro vorgesehen . Durch zusätzliche
Mittel für Verkehrsinvestitionen steigen diese Investiti-
onsmittel für die Schiene bis 2018 schrittweise auf rund
5,6 Milliarden Euro an . Insgesamt wird der Bund für
Ersatzinvestitionen und Instandhaltung im Rahmen der
LuFV II von 2015 bis 2019 28 Milliarden Euro zur Ver-
fügung stellen .

Dann muss darauf hingewiesen werden, dass der Bund
seit der Übertragung der Verantwortung für den Schie-
nenpersonennahverkehr auf die Bundesländer ab 1996
den Ländern mit Regionalisierungsmitteln – mittlerweile
8,2 Milliarden Euro – eine nachhaltige finanzielle Un-
terstützung gibt . Bis 2031 werden die Länder für diesen
Zweck insgesamt mehr als 150 Milliarden Euro aus dem
Steueraufkommen des Bundes erhalten .

Die Bahnreform hat die Grundlage dafür geschaffen,
dass der Schienenverkehr in Deutschland nach Jahren
des Niedergangs einen neuen Aufschwung erlebt hat . Wir
können eine positive Entwicklung sowohl im Güter- als
auch im Personenfern- und -nahverkehr bilanzieren .

Seit der Bahnreform hat sich der Verkehr auf der
Schiene in Deutschland beim Personenverkehr deutlich
erhöht . 1994 waren es 65,2 Milliarden Personenkilo-
meter, 2015 über 91 Milliarden Personenkilometer; ein
Plus von knapp 40 Prozent . Der Güterverkehr legte von
70,6 Milliarden Tonnenkilometern auf über 116 Milliar-
den Tonnenkilometer zu; ein Plus von knapp 65 Prozent .
Das sind eindeutige Erfolgszahlen, die niemand ignorie-
ren kann .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sprich mal vom Verkehrsanteil! Der Verkehrsanteil ist entscheidend!)


Darüber hinaus erwirtschaftete die Deutsche Bahn AG
2013 ein um 5,2 Milliarden Euro höheres operatives Er-
gebnis vor Zinsen und Steuern, also das EBIT, als 1994 .
Seit 2009 zahlt dieses Unternehmen dem Eigentümer
Bund eine Dividende von bisher insgesamt 1,75 Milliar-
den Euro .


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Ja, und 2,5 Milliarden haben Sie jetzt als Zuschuss beschlossen!)


Allein in Deutschland wurden 2012 von der DB
AG 2,9 Milliarden Euro aus Eigenmitteln investiert,
11 000 Mitarbeiter neu eingestellt und rund 2 400 Auszu-
bildende übernommen .

Der Bund als Eigentümer hat gegenüber der DB AG
eine besondere Verpflichtung. Es wurde schon darge-
stellt: Der Haushaltsausschuss hat mit der Eigenkapital-
erhöhung und einem befristeten Verzicht auf einen Teil
der Dividende diese Verantwortung des Bundes für sein
Unternehmen ganz deutlich dokumentiert .

Wenn die Grünen in ihrem Antrag ausführen, dass der
Anteil des Schienenverkehrs am gesamten Verkehrsauf-
kommen stagniert und der Schienengüterverkehr rück-
läufig ist, dann sind das im Grunde genommen falsche
Behauptungen, die durch nichts bewiesen werden .


(Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, 17 Prozent Anteil! Das ist Stagnation!)


Natürlich ist es dem Bund ein besonderes Anliegen,
dass sein Unternehmen eine positive Bilanz aufweist und
einen starken Anteil am Gesamtverkehrsaufkommen auf
der Schiene hat . Deswegen sage ich: Wer hier ein Fern-
verkehrssicherungsgesetz oder ein Gesetz zur Gewähr-
leistung des Schienenpersonenfernverkehrs einfordert,
der muss auch sehen, dass damit über die 8,2 Milliarden
Euro hinaus, die wir für den Nahverkehr ausgeben, ein
weiterer mehrfacher Milliardenbetrag auf den Bundes-
haushalt zukommen würde .


(Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das fordert die CDU! Eine Forderung der CDU! – Sabine Leidig [DIE LINKE]: Ihr eigener Antrag! Das ist ja total verrückt!)


Das kann man nur fordern, wenn man hofft, Herr Kolle-
ge Gastel, von der Regierungsverantwortung noch mög-
lichst lange befreit zu bleiben . Sonst würde man so etwas
nicht fordern .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Sabine Leidig [DIE LINKE]: Als Sie in der Opposition waren, haben Sie genau diesen Antrag gestellt!)


Im Übrigen: Als Sie in der Regierungsverantwortung
waren, haben Sie zur Gewährleistung des Schienenper-
sonenfernverkehrsangebotes das Grundgesetz so inter-
pretiert, dass es nicht um das Angebot gehe, sondern nur
darum, dass der Bund eine Infrastruktur vorhalten müsse,
auf der sich ein eigenwirtschaftlicher Personenfernver-
kehr vollziehen könne . Das war Ihre Position . Warum
schreiben Sie jetzt das Gegenteil dessen auf, was Sie
in langen Jahren der Regierungsverantwortung hier im
Deutschen Bundestag vertreten haben?

Ich kann nur sagen: Ich freue mich über das neue Fern-
verkehrskonzept . Damit wird auch der Fehler von Mehdorn
repariert, der den eigenwirtschaftlichen Interregio zerstört
hat und ihn in einen bezuschussten Nahverkehr überführt
hat . Dieser Fehler wird jetzt endlich behoben .

Das Fazit unserer Debatte muss lauten: Die Bahnre-
form war richtig, notwendig und erfolgreich, aber es be-
steht noch Handlungsbedarf, um sie zu optimieren und
weiter voranzutreiben . Ich glaube, daran sollten wir ge-
meinsam arbeiten; Herr Kollege Bartol hat das für unsere
Koalition eben erklärt .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Dirk Fischer (Hamburg)


Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 2016 21085


(A) (C)



(B) (D)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1821008000

Der Kollege Matthias Gastel spricht jetzt für Bünd-

nis 90/Die Grünen .


Matthias Gastel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1821008100

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Lie-

be Kollegen! 23 Jahre nach der Bahnreform zeigt sich,
was gut gewesen ist, beispielsweise die Regionalisierung
bzw . die Übertragung der Zuständigkeit für den Nah- und
Regionalverkehr auf die Länder, die die Bedürfnisse gut
kennen, mit dem Ergebnis steigender Fahrgastzahlen in
diesem Bereich . Gut war auch, dass damit der Wettbe-
werb im Regionalverkehr und im Schienengüterverkehr
ermöglicht wurde, der die Effizienz gesteigert hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


23 Jahre nach der Bahnreform zeigt sich aber auch,
was nicht gut ist, beispielsweise dass es im Fernverkehr
nach wie vor so gut wie keinen Wettbewerb gibt und dass
die Fernverkehrs- und Güterverkehrsanteile der Schiene
stagnieren . Sie sind leider nicht gewachsen; das heißt, es
gibt immer noch viel zu viel Verkehr auf den Straßen .
Damit können die Klimaschutzziele Deutschlands nicht
erreicht werden, liebe Kolleginnen und Kollegen .

Mit Blick auf den Bahnkonzern DB müssen wir aber
auch feststellen, dass die Verschuldung inzwischen fast
20 Milliarden Euro beträgt . Auch das zeigt, dass die Ziele
der Bahnreform nicht erreicht wurden .

Die Politik hat leider keine Konsequenzen aus diesen
Ergebnissen gezogen. Das Motto scheint zu lauten: „Wei-
ter so wie bisher“. Mit dem Eisenbahnregulierungsgesetz
wurde die Chance vertan, die Trassenpreise zu senken;
sie wurden auf einem europaweit überdurchschnittlich
hohen Niveau gehalten . Mit dem Bundesschienenwege-
ausbaugesetz wurde wenig Schiene angegangen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Politik verhindert also ein Wachstum auf der Schie-
ne, und die 2,4 Milliarden Euro, die im Bundesetat für die
Deutsche Bahn vorgesehen sind, werden ohne jegliches
Konzept für ein Wachstum und für bessere Bedingungen
im Bahnmarkt gewährt .

Gleichzeitig erkennen aber auch Teile der Großen
Koalition oder der sie tragenden Fraktionen den Hand-
lungsbedarf . Die SPD hat beschlossen, die Trassenpreise
senken zu wollen – kurz nachdem sie zugestimmt hat,
dass sie weiter auf hohem Niveau bleiben .


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Genau so ist es!)


Die CSU hat auf ihrem Parteitag beschlossen, für ein
Fernverkehrssicherstellungsgesetz einzutreten, mit dem
der Bund gewährleisten soll, dass große Städte neu an
den Fernverkehr angebunden werden .

Wir als grüne Bundestagsfraktion laden Sie ein: Stim-
men Sie unserem Antrag zu! Unser Antrag sieht die Ein-
richtung einer Reformkommission vor, die eine Konzep-
tion für eine starke Schiene erarbeiten soll . Dazu ist auch
der Kollege Ferlemann herzlich eingeladen . Es geht um

viele Fragen: Wie kann die DB als Konzern unabhängi-
ger vom Bund handlungsfähig werden? Wie kann das
System Schiene gestärkt werden? Wie kann der Deutsch-
land-Takt, den wir ja alle wollen, konkret umgesetzt
werden? Wie kommen wir zu einem fairen Wettbewerb
zwischen den Verkehrsträgern? Wie können wir – bei-
spielsweise durch die Digitalisierung – Innovationen auf
der Schiene auslösen? Und wie erklären und definieren
wir in Zukunft die Eigenwirtschaftlichkeit der DB versus
den Gemeinwohlanspruch des Grundgesetzes? Wie brin-
gen wir diese Dinge zueinander?

Wir laden Sie ein, mitzumachen, indem Sie unserem
Antrag zustimmen . Die Reformkommission soll eine
breite Debatte auslösen und unter Einbeziehung von Wis-
senschaft, Bund, Ländern, Umwelt-, Verkehrs- und Ver-
braucherverbänden nach Lösungen suchen . Stimmen Sie
zu, damit wir gemeinsam mehr Verkehr auf die Schiene
bringen – zugunsten von Klimaschutz und nachhaltiger
Mobilität!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1821008200

Für die SPD spricht jetzt die Kollegin Kirsten

Lühmann .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Kirsten Lühmann (SPD):
Rede ID: ID1821008300

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen! Lie-

be Kolleginnen! Ein Bekannter hat mir letztens gesagt:
Wenn er eingeladen wird und sich als Mitarbeiter der
Bahn outet, sind die Themen für den Abend gerettet . –
Das kennen wir alle . Wir alle können Geschichten von
Wildfremden erzählen, mit denen wir Diskussionen über
Fußball oder Kochrezepte geführt haben . Ich gebe zu:
Wir alle können, wie die Kollegin Leidig eben, auch
Geschichten von Dingen erzählen, die nicht ganz so gut
gelaufen sind . Dann ist es schön, wenn die Bahn-Mitar-
beitenden mit Humor reagieren .

Dirk Fischer, ich bin sicher: Wenn du in dem Zug ge-
sessen hättest, der folgende Durchsage gemacht hätte,
dann hättest du die Notbremse gezogen . Die Durchsage
an alle HSV-Fans in der ersten Klasse mit nicht entspre-
chenden Tickets lautete nämlich: Bitte verlassen Sie den
Wagen! Schließlich ist der Punktestand Ihres Vereins
auch nicht erstklassig .


(Heiterkeit bei der SPD und der CDU/CSU)


Allerdings glaube ich nicht, dass solche Durchsagen
der Grund dafür sind, dass in diesem Jahr die Zahl der
Personenkilometer im Schienenverkehr doppelt so stark
gestiegen ist wie die Zahl der Personenkilometer im mo-
torisierten Individualverkehr, und das trotz Fernbuskon-
kurrenz . Ein Grund, warum so viele Menschen mehr den
Zug nutzen, liegt im Fernverkehr mit Sicherheit auch in
den Initiativen der Deutschen Bahn AG zu besonderen
Sparpreisen, Pünktlichkeit und Bahnhofsmanagement .
Ich weiß, dass wir hier noch lange nicht am Ende sind .
Aber schon die ersten Maßnahmen zeigen deutliche Ver-
besserungen .

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 201621086


(A) (C)



(B) (D)


Zum Nahverkehr . Die Gelder, die wir im Rahmen der
Regionalisierungsmittel zur Verfügung gestellt haben,
zeigen schon in diesem Jahr erste Erfolge . Es gab mehr
Bestellungen . Wenn das Angebot für Pendlerinnen und
Pendler größer ist, dann überlegt sich der eine oder die
andere, das Auto stehen zu lassen und mit der Bahn zur
Arbeit zu fahren . Das ist unser Ziel .


(Beifall bei der SPD)


Wir alle wissen aber auch: Das kann nicht das Ende
sein . Wenn wir mehr Personen auf die Schiene bringen
wollen, dann brauchen wir den Deutschland-Takt und ein
klar definiertes Netz für Fernverkehrszüge, auf das der
Nahverkehr abgestimmt ist . Wir haben die ersten Schrit-
te dazu eingeleitet . Man kann beim Deutschland-Takt
jedoch nicht einfach den Schalter umlegen, und dann
funktioniert es . Wir haben im ersten Schritt Gutachten
in Auftrag gegeben, in denen untersucht wird, wie ein
solcher Takt auf ein Flächenland wie Deutschland – oft
wird die Schweiz als Beispiel genannt; mein Bruder lebt
dort; die Schweiz ist ein wunderschönes Land; aber sie
ist kein Flächenland – übertragen werden kann . Im zwei-
ten Schritt haben wir im Bundesverkehrswegeplan die
Infrastrukturprojekte aufgeführt, die wir brauchen, um
den Deutschland-Takt zu verwirklichen .


(Beifall bei der SPD)


Nicht zufriedenstellend ist allerdings die Entwicklung
im Güterverkehr . Der Güterverkehr in Deutschland wird
in diesem Jahr vermutlich um 0,4 Prozent zunehmen .
Allerdings wird der Güterverkehr im Lkw-Bereich um
2,3 Prozent zunehmen . Woran liegt das? Die Wettbe-
werbsfähigkeit der Bahn muss gesteigert werden . Wir
werden dazu die Lkw-Maut auf alle Bundesstraßen aus-
weiten . Aber das wird nicht reichen . Wir brauchen drin-
gend eine Reduzierung der Trassenpreise; das wurde
schon angesprochen . Darüber hinaus muss die Trassenbe-
stellung für den Güterverkehr flexibler werden. Auch der
Güterverkehr muss pünktlicher sein . Niemand wird auf
die Bahn umsteigen, wenn er befürchten muss, dass der
Zug zwei, drei Tage abgestellt wird, bevor er den End ort
erreicht . Da gibt es deutlichen Optimierungsbedarf .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Bei der Cargo-Sparte der Deutschen Bahn gibt es al-
lerdings noch eine besondere Herausforderung . Auch bei
den Privaten ist nicht alles Gold, was glänzt . In meinem
Wahlkreis wird die OHE, die Osthannoversche Eisenbah-
nen AG, den Güterverkehr Ende dieses Jahres einstellen .
Aber die Entwicklung der Cargo-Sparte der Deutschen
Bahn ist dramatisch . Gegen den Trend verliert sie seit
Jahren Kunden und Waren . Mit kleinen Programmen an
der einen oder anderen Ecke muss Schluss sein . DB Car-
go braucht ein handlungsfähiges Konzept . Sie muss es
mit den Menschen, die Ahnung davon haben, und den
Gewerkschaften entwickeln . Die Gewerkschaften sind
dazu bereit; es hat erste Gespräche gegeben . Hier muss
es dringend ein vernünftiges, tragfähiges Konzept geben .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Abschließend ist zu sagen: Die Eisenbahn in Deutsch-
land ist auf einem guten Weg – nicht nur, aber auch auf-

grund der Politik dieser Bundesregierung . Wir stehen vor
Herausforderungen, die wir im nächsten Jahr gemeinsam
bewältigen sollten . Die Forderungen in den vorliegenden
vier Anträgen sind in Teilen schon umgesetzt . Anderes ist
weniger geeignet, um die Herausforderungen anzugehen .
Lösungen sollten genauso kreativ sein wie die Ansage in
einem ICE: Der Regionalexpress nach Bamberg wartet
offiziell nicht. Allerdings ist der Lokomotivführer mein
Schwiegersohn, und Sie werden den Zug erreichen .


(Heiterkeit)


In diesem Sinne wünsche ich uns, dass wir heute alle
unsere Züge zu unseren Schwiegersöhnen oder sonsti-
gen Familienmitgliedern erreichen und dass wir uns im
nächsten Jahr hier wiedertreffen, um kreative Lösungen
für unsere Bahn zu finden.

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1821008400

Zum Abschluss dieser Debatte hat der Kollege Ulrich

Lange für die CDU/CSU das Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg . Sören Bartol [SPD])



Ulrich Lange (CSU):
Rede ID: ID1821008500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das

Jahr 2016 war ein grandioses Jahr für die deutsche Ver-
kehrspolitik,


(Lachen des Abg . Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


ein hervorragendes Jahr auch für die Schiene in Deutsch-
land . Wir haben erst vor ein paar Tagen hier die Aus-
baugesetze beschlossen, auch die Ausbaugesetze für die
Schiene mit einem Anteil von 42 Prozent .


(Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die meisten Projekte haben Sie noch nicht einmal bewertet!)


– Lieber Kollege Gastel, wir führen nicht die Debatte von
vor drei Wochen, weil das mit Ihnen nichts bringt .

42 Prozent der Investitionen entfallen auf die Schiene .
Ich habe Ihnen schon einmal gesagt: Gehen wir zusam-
men dorthin, wo ausgebaut wird; dann möchte ich sehen,
wie Sie für den Ausbau werben . Ich kenne nur Ihre Dop-
pelzüngigkeit .


(Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind Vorurteile, was Sie schüren!)


Bitte bleiben Sie hier auf dem Boden der Tatsachen .
Wenn wir das schaffen, was wir uns vorgenommen ha-
ben, dann haben wir sehr viel erreicht .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Leider haben Sie sich ja nichts vorgenommen!)


Das Jahr 2016 war gut, und ich zähle die Erfolge im
Stakkato auf: Eigenkapitalerhöhung für notwendige In-

Kirsten Lühmann

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 2016 21087


(A) (C)



(B) (D)


vestitionen . Ja, wir wollen neues Wagenmaterial . Ja, wir
wollen WLAN in den Zügen . Ja, wir wollen Barrierefrei-
heit . Ich nenne nur das ZIP-Programm . Ja, wir wollen
diese unsere Deutsche Bahn stärken . Ja, wir wollen die
Infrastruktur stärken .


(Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Tun Sie es doch!)


Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung II: 28 Milli-
arden Euro – so viel wie noch nie .


(Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht da, wo es gebraucht wird!)


Aufwuchs der Regionalisierungsmittel: 8,2 Milliarden
Euro – so viel wie noch nie . Trassenpreisbremse für den
Schienenpersonennahverkehr . Das ist der erste Schritt in
Richtung Trassenpreisregulierung, und zwar echte Regu-
lierung – so gut wie noch nie .


(Dr . Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Trassenpreise so hoch wie noch nie!)


Evaluierungsmechanismus 2018: gemeinsam gefunden –
so gut wie noch nie . Keine weitere Ausdünnung des
Fernverkehrs so gut wie noch nie .


(Dr . Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist völlig postfaktisch!)


Deswegen klare Durchsage: Der Bahnverkehr ist auf
einem guten Weg . Die Reform war richtig . Jede Reform
braucht immer wieder weitere neue Schritte . Die machen
wir dann 2017, indem wir den Investitionshochlauf auch
bei der Schiene nutzen .

Frohe Weihnachten . Danke schön .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Wann regieren wir vernünftig? So gut wie nie!)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1821008600

Damit schließe ich die Aussprache .

Wir kommen jetzt zum Tagesordnungspunkt 29 a . In-
terfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Druck-
sache 18/10383 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit einverstan-
den? – Ich sehe, das ist der Fall . Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen .

Wir kommen jetzt zum Tagesordnungspunkt 29 b . Ab-
stimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Verkehr und digitale Infrastruktur zu dem Antrag
der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Den Aufsichtsrat
der Deutschen Bahn AG neu und verantwortungsvoll
besetzen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf der Drucksache 18/1845, den Antrag
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/592 abzuleh-
nen . Wer für die Beschlussempfehlung des Ausschusses
stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen . – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen der CDU/CSU und der SPD
gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthal-
tung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen .

Wir kommen jetzt zum Tagesordnungspunkt 29 c .
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Verkehr und digitale Infrastruktur zu dem
Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Gewähr-
leistung des Schienenpersonenfernverkehrs“. Der Aus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/5246, den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 18/4186 abzulehnen . Wer für die Be-
schlussempfehlung des Ausschusses stimmt, den bitte
ich um ein Handzeichen . – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist damit mit
den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stim-
men der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen .

Wir kommen jetzt zum Tagesordnungspunkt 29 d .
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Finanz-
ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit
dem Titel „Mehrwertsteuerreduktion im Schienenperso-
nenfernverkehr“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 18/6599, den Antrag
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/3746 abzuleh-
nen . Wer für die Beschlussempfehlung des Ausschusses
stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen . – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-
lung ist damit mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD
gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthal-
tung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen .

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 30 auf:

Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD

Kultur baut Brücken – Der Beitrag von Kul-
turpolitik zur Integration

Drucksache 18/10634

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Widerspruch
erhebt sich keiner . Dann ist das so beschlossen .

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin der Kollegin Ute Bertram das Wort für die CDU/
CSU .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ute Bertram (CDU):
Rede ID: ID1821008700

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrte Gäste! In wenigen Stunden wird
dieses Hohe Haus in die Weihnachtsferien gehen . Aber
kurz vorher wollen wir noch einen gemeinsamen Antrag
von CDU/CSU und SPD besprechen, den ich bereits im
Januar initiiert habe: „Kultur baut Brücken – der Beitrag
von Kulturpolitik zur Integration“ ist Titel und Motto
dieses Antrages . Das Thema ist hochaktuell .

Seitdem im Herbst 2015 Hunderttausende von Flücht-
lingen nach Deutschland gekommen sind, stellt sich
uns die Frage: Wie gelingt die Integration all derer, die
hier ein Bleiberecht haben? Natürlich haben darauf zu-
erst andere Ressorts eine Antwort gesucht, allen voran
die Innenpolitiker und die Arbeits- und Sozialpolitiker .
Aber die Aufgabe ist so groß, dass alle gefordert sind,
eben auch wir Kultur- und Medienpolitiker . Wir fragen

Ulrich Lange

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 201621088


(A) (C)



(B) (D)


uns: Leistet die Kultur ihren Beitrag, und hat sie dafür die
richtigen Bedingungen?

Die erste Frage kann ich sofort beantworten: Ja, die
Kultur leistet einen beeindruckenden Beitrag . Um direkt
aus unserem Antragstext zu zitieren:

Integration kann nicht allein auf staatlicher Ebe-
ne gestaltet werden . Sie ist vielmehr ein Prozess,
an dem sich zunächst die Zuwanderer selbst und
auf der Seite der aufnehmenden Gesellschaft auch
möglichst viele Bürgerinnen und Bürger beteiligen .
Das ist im letzten Jahr in beeindruckendem Maße
geschehen . Bundesweit war die Hilfsbereitschaft
von Haupt- und Ehrenamtlichen überwältigend . Ge-
rade das ehrenamtliche Engagement im kulturellen
Sektor leistete in der Vergangenheit und leistet auch
heute einen wichtigen Beitrag zur Etablierung einer
„Willkommenskultur“ in unserem Land.

Jeder von uns weiß, dass diese Willkommenskultur
dieses Jahr mehrfach auf die Probe gestellt wurde . Ich
erinnere nur an die Silvesternacht in Köln, mit der das zu
Ende gehende Jahr so dramatisch begann .

Für uns als CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist eines
von zentraler Bedeutung: Wir sind ein Rechtsstaat, und
im Rechtsstaat gelten die Regeln für alle, die sich hier
aufhalten . Wer unsere Gesetze bricht, der muss mit einer
Strafe rechnen . Wer sich an die Gesetze hält, der ist frei,
hier nach seiner Façon zu leben .


(Beifall bei der CDU/CSU – Kordula SchulzAsche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was hat das mit Kulturpolitik zu tun?)


Ich zitiere erneut aus dem Antrag:

Deutschland ist eine europäische Kulturnation, ge-
prägt von den Werten der Aufklärung, von Freiheit
und Humanität . . . . Die aufnehmende Gesellschaft
gibt einen durch Werte und Regeln kulturell gepräg-
ten Rahmen vor, der Orientierung für diejenigen
bietet, die hier leben wollen .

Das sage ich auch ganz besonders an die Adresse der
neuen Populisten in unserem Land . Eine Kultur der Ab-
grenzung und Intoleranz – egal aus was sich diese Intole-
ranz speist – ist mit unserer Kultur nicht vereinbar .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wer hierherkommt, hat oft Schlimmstes erlebt . Das ist
keine leichte Startbedingung, um sich geräuschlos ein-
zufügen . Trotzdem muss der Wille zur Integration beim
Flüchtling selbst vorhanden sein . Es kommt aber auch
darauf an, welche Angebote wir ihm machen . Gerade zu
Beginn ist es wichtig, dass Angebote gemacht werden,
die auch ohne deutsche Sprachkenntnisse funktionieren .

Spätestens hier kommt die Kultur ins Spiel . Es gibt
unzählige Projekte in Deutschland, in denen gemeinsam
getanzt, musiziert, gemalt, gelesen oder gesungen wird .
Viele gute Projekte gab es auch schon vorher; denn das
Thema Integration ist nicht erst seit dem Herbst 2015 ak-
tuell .

Ich nenne nur zwei Beispiele: Das Programm des Bör-
senvereins des Deutschen Buchhandels „Fußball trifft

Kultur“ führt junge Menschen mit Migrationshintergrund
spielerisch an Kultur heran . Im Rahmen des Programms
„Multaka: Treffpunkt Museum“ werden Flüchtlinge
durch zuvor qualifizierte Syrer und Iraker zum Beispiel
durch das Museum für Islamische Kunst der Stiftung
Preußischer Kulturbesitz geführt .

Die meisten der unzähligen Projekte leben vom ehren-
amtlichen Engagement . Auch deshalb wollen wir heute
allen, die sich 2015 und 2016 in der Flüchtlingshilfe und
in der Integrationsarbeit engagiert haben, Danke sagen .
Wir danken für Ihre Zeit, wir danken für Ihre Offenheit,
und wir danken auch für Ihr Durchhaltevermögen .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich hatte anfangs gefragt: Hat die Kultur die richti-
gen Bedingungen für die Integrationsarbeit? Diese Fra-
ge stellte sich zuallererst unsere Kulturstaatsministerin
Monika Grütters . Bereits im Januar lud sie die Kultur-
schaffenden aus allen Bereichen – Bühne, Tanz, Muse-
um, Musik usw . – zum Gespräch darüber ein, was für
Flüchtlinge getan wird und wo auch noch nachgebessert
werden muss . Sie hat zügig reagiert und gemeinsam mit
vielen anderen Bestehendes ausgebaut und Neues hinzu-
gefügt . Erst gestern hat Frau Grütters die Auftaktrede für
die „Initiative Kulturelle Integration“ gehalten.


(Michaela Noll [CDU/CSU]: Das ist auch eine gute Ministerin!)


Sie hat diese Initiative gemeinsam mit der Bundesar-
beitsministerin, mit dem Bundesinnenminister, mit der
Beauftragten für Migration, Flüchtlinge und Integration
und mit dem Deutschen Kulturrat ins Leben gerufen . Ziel
ist ein Dialog zwischen Politik, Kultur und Zivilgesell-
schaft darüber, was Integration ist und wie sich Kultur
hier einbringen kann . Die Ergebnisse sollen am Tag der
kulturellen Vielfalt, dem 21 . Mai 2017, präsentiert wer-
den . Ich freue mich darauf .

Der 21 . Mai 2017 ist im Übrigen auch der Tag, den
die bundesweite Initiative „Kultur öffnet Welten“ zum
Aufhänger für ihre Aktionswoche gemacht hat . Diese
Initiative wurde dieses Jahr gestartet und soll sich jähr-
lich wiederholen .

Auch sonst ist in den letzten Monaten viel passiert:

Der Haushaltsausschuss hat zum Beispiel erst vor we-
nigen Wochen dem „Kompetenzverbund Kulturelle Inte-
gration und Teilhabe“ 3 Millionen Euro für die nächsten
drei Jahre zugesichert . Der Verbund will Kultureinrich-
tungen dabei beraten, wie sie sich dem Thema Integrati-
on am besten nähern .

Auch die Kulturstiftung des Bundes hat in der Zwi-
schenzeit ein bemerkenswertes Modellprogramm –
„360° – Fonds für Kulturen der neuen Stadtgesell-
schaft“ – auf den Weg gebracht. Auch hier geht es darum,
Kulturinstitutionen für Menschen mit Migrationshinter-
grund zu öffnen.

Natürlich muss hier auch das größte und erfolgreichs-
te Projekt der kulturellen Bildung erwähnt werden, das
es in Deutschland gibt: „Kultur macht stark. Bündnisse
für Bildung“ aus dem Hause von Bundesbildungsminis-

Ute Bertram

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 2016 21089


(A) (C)



(B) (D)


terin Johanna Wanka . Letztes Jahr wurde es spontan um
Maßnahmen für junge Flüchtlinge bis 26 Jahre erweitert .
Wir sind froh, dass das Programm fortgeführt wird, und
fordern dies auch in unserem Antrag deutlich .


(Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Sehr gut!)


Damit bin ich bei den Forderungen . Denn auch wenn
vieles schon gut läuft, so gibt es doch auch immer wieder
Beispiele dafür, was noch besser gemacht werden kann .
Drei will ich Ihnen nennen:

Ich habe in Gesprächen immer wieder festgestellt,
dass leider oft der eine nicht weiß, was der andere macht .
Die berühmten Best-Practice-Beispiele sind aus meiner
Sicht extrem wichtig . Wir wünschen uns, dass noch mehr
Möglichkeiten zur Vernetzung geschaffen werden. Das
hilft gerade kleinen Einrichtungen, voneinander zu ler-
nen .

Wir fordern auch, dass die Kommunen bei der digi-
talen Neuausrichtung ihrer Stadtbibliotheken unterstützt
werden . Viele Stadtbibliotheken fristen ein trauriges
Dasein, obwohl sie nicht nur für Einheimische, sondern
auch für viele Flüchtlinge und Zugezogene ein beson-
derer Ort sind. Sie sind öffentlich; dort kann man sich
kostenlos aufhalten und kann sich weiterbilden . Da muss
sich noch etwas tun .

Wir fordern, in Integrationskursen auch ganz ge-
zielt kulturelle Aktivitäten einzubeziehen . Wir haben in
Deutschland ein fast einmalig dichtes Netz von Museen,
Theatern und anderen Kultureinrichtungen . Wer dieses
Land kennen- und hoffentlich auch lieben lernen will,
sollte daher früh und regelmäßig mit unseren kulturellen
Einrichtungen in Berührung kommen .

Am Ende meiner Rede möchte ich all denjenigen dan-
ken, die an diesem Antrag so mitgewirkt haben, dass wir
noch zu einem konstruktiven Abschluss gekommen sind .
Ich danke meinem Kollegen Burkhard Blienert und der
Fraktion der SPD für die gute Zusammenarbeit . Mein
Dank geht natürlich auch an die Kollegen der CSU .


(Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: Das ist jetzt spannend!)


Zu guter Letzt möchte ich noch einen persönlichen
Dank an Volker Kauder, Michael Kretschmer und Marco
Wanderwitz richten .

Ich denke, wir können ganz selbstbewusst sagen: Un-
sere vielen staatlichen und nichtstaatlichen Aktivitäten
in der kulturpolitischen Integrationsarbeit stehen uns als
einer der größten westlichen Kulturnationen bestens zu
Gesicht . Wir sind nicht blauäugig . Wir sind tolerant, und
wir sind weltoffen. Das wollen wir 2017 auch bleiben.

Vielen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1821008800

Der Kollege Harald Petzold hat jetzt das Wort für die

Fraktion Die Linke .


(Beifall bei der LINKEN)



Harald Petzold (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1821008900

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher! Da
hat uns die Große Koalition mit dem Antrag „Kultur baut
Brücken“ ein zumindest auf den ersten Blick schönes
Geschenkpaket auf den vorweihnachtlichen Gabentisch
gelegt .


(Burkhard Blienert [SPD]: Da kann man mal sehen!)


Sie haben im Einleitungsteil richtig festgestellt, dass Ge-
sellschaft und Kultur nichts Statisches sind, nichts sind,
das man sozusagen auf immer und ewig in derselben
Form verteidigen muss . Sie haben richtigerweise festge-
stellt, dass Integration keine Einbahnstraße ist, sondern
ein Prozess, bei dem alle Beteiligten Bereicherung erfah-
ren . Sie haben zu Recht anerkennende Worte für das Eh-
renamt gefunden und gesagt, dass es durch hauptamtli-
che Kräfte unterstützt werden muss und dass es Angebote
zur Weiterbildung braucht .


(Burkhard Blienert [SPD]: So kann man fünf Minuten füllen!)


Sie haben – das freut mich als medienpolitischen Spre-
cher natürlich ganz besonders – auf die enorme Bedeu-
tung unserer unabhängigen und qualitativ hochwertigen
Presse- und Medienlandschaft hingewiesen, die eine
enorme Mitverantwortung hat für differenzierte Bericht-
erstattung, für Widerspiegelung der vielfältigen sozialen
und kulturellen Realität in unserem Land . Das freut uns,
und das ist natürlich ein schönes Angebot .


(Ute Bertram [CDU/CSU]: Aber?)


Wenn wir dann allerdings die Schleife lösen und das
Geschenkpapier aufdröseln, dann stellen wir schnell fest,
dass viel buntes Papier und viel schmückendes Rundum
verwendet worden ist, dass der Karton sehr groß ist, aber
der Inhalt sehr knapp . Ich will das an drei Beispielen be-
legen .

Sie schreiben zu Recht über die wichtige Arbeit der
soziokulturellen Zentren und würdigen deren Arbeit
sowie das Engagement von Bibliotheken, Volkshoch-
schulen, Museen, Theatern, also unserer reichhaltigen
Kulturszene; sie leistet wirklich eine wichtige Arbeit .
Als Abgeordneter, der aus einem vor allem ländlich ge-
prägten Wahlkreis kommt, kann ich nur bestätigen: Das
ist richtig . Diese Arbeit ist notwendig, um Barrieren zu
überwinden . Diese Arbeit ist notwendig, um Vorurteile
abzubauen . Diese Arbeit ist notwendig, um Ängste auf-
zugreifen und abzubauen und um auf Fremdes neugierig
zu machen . In meinem Wahlkreis habe ich selber erlebt,
wie professionelle Theaterleute Schülertheaterprojek-
te – beispielsweise das Schülertheater „Wir – 2015“ des
Gymnasiums auf dem Leonardo-da-Vinci-Campus in
Nauen – unterstützt haben, in denen diese Ängste vor
Fremden aufgegriffen worden sind.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich frage mich, wenn ich mir den Antrag genauer
ansehe: Was nützt er den soziokulturellen Zentren? Er
bringt sie keinen Schritt weiter nach vorne . Den wich-
tigsten Punkt, damit wir überwinden, dass die soziokul-

Ute Bertram

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 201621090


(A) (C)



(B) (D)


turellen Zentren keine Bundesunterstützung bekommen,
also das Kooperationsverbot, umgehen Sie natürlich wie-
der . Es bleibt erhalten und hindert uns daran, die Arbeit
der sozio kulturellen Zentren mitfinanzieren zu können
und damit eine wirkliche Solidarität leisten zu können,
die den Zentren tatsächlich hilft .


(Ulrich Petzold [CDU/CSU]: Deshalb braucht Berlin 25 Staatsekretäre! Nur mal eine Frage, Namensvetter: Wofür braucht Berlin 25 Staatssekretäre?)


– Lieber Ulrich Petzold, vergessen Sie das Luftholen
nicht, sonst gehen die Feiertage für Sie in die falsche
Richtung .

Zweites Beispiel . Die Integrationsbeauftragte hat in
ihrem gerade vorgelegten 11 . Bericht ausgeführt, dass
die Kulturarbeit von und mit Geflüchteten und ihre Per-
spektiven mittel- und langfristig in die Programme der
Kunst- und Kultureinrichtungen eingebunden werden
müssen . Für diese herausfordernden Aufgaben müssen
nach Auffassung der Beauftragten die notwendigen Res-
sourcen zur Verfügung gestellt werden . Lesen Sie das auf
Seite 337 noch einmal nach . Genau das machen Sie näm-
lich nicht . Stattdessen halten Sie am Fetisch der schwar-
zen Null fest .

Drittes Beispiel. Ihr Antrag heißt „Kultur baut Brü-
cken“. Das stimmt, aber ihre Asylpolitik reißt diese Brü-
cken wieder ein . Wenn ich an die Afghanistan-Debatte
von gestern denke, kann ich nur sagen: Sie ist ein raben-
schwarzes Beispiel dafür, wie unernst es Ihnen mit dem
vielen bunten Geschenkpapier ist .


(Beifall bei der LINKEN)


Ich kann Ihnen nur sagen: Hören Sie auf die Stimmen
der Schülerinnen und Schüler, die sich für den Verbleib
ihrer afghanischen Mitschülerinnen und Mitschüler aus-
sprechen, die gemeinsam mit ihnen Weihnachtslieder
gesungen haben und die Weihnachtsgeschichte an ihren
Schulen aufführen wollen. Schieben Sie sie nicht wieder
ab . Wir werden nachher noch eine Debatte dazu haben,
wie Flüchtlinge geschützt werden sollen . Ich vermute, es
wird wieder in dieselbe Richtung gehen wie gestern . Da-
mit ist all das bunte Geschenkpapier nichts wert .


(Beifall bei der LINKEN)


Am Unverständlichsten ist es, dass Sie keine Behand-
lung des Antrags im Ausschuss wollen, dass Sie eine
Sofortabstimmung hier im Plenum beantragen und nicht
unserem Antrag folgen wollen, im Ausschuss für Kul-
tur und Medien noch einmal darüber zu beraten und mit
der Öffentlichkeit zu beraten, wie wir mehr Inhalt in das
schöne bunte Weihnachtspaket bekommen . Deswegen
appelliere ich an Sie: Stimmen Sie mit uns der Überwei-
sung in den Ausschuss für Kultur und Medien zu, damit
wir das noch einmal gemeinsam besprechen können .

Vielen Dank und allen schöne Weihnachten und einen
guten Jahreswechsel .


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1821009000

Nächster Redner ist der Kollege Burkhard Blienert für

die SPD .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Burkhard Blienert (SPD):
Rede ID: ID1821009100

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Petzold, die
Öffentlichkeit ist hier. Es kann keinen besseren Ort für
eine Debatte geben als den Deutschen Bundestag . Des-
halb sollten wir dies auch so belassen . Ich empfehle allen,
den Antrag sorgfältig zu lesen . Das geht auch in Richtung
Medien . Ich habe mich heute Morgen darüber geärgert,
dass eine deutsche Zeitung mit vier großen Buchstaben
die Schlagzeile hatte: „DAS IST DEUTSCH – Bundestag
will Leitkultur beschließen“. Genau das steht gar nicht in
unserem Antrag . Es geht in diesem Antrag nicht um den
Begriff „Leitkultur“. Er findet sich in dem Antrag kein
einziges Mal wieder . Olaf Zimmermann sagt zu Recht
zu einer solchen Nachricht: Das sind Fake News . – Das
sollte uns zu denken geben .

Dass wir zum Teil ein unterschiedliches Kulturver-
ständnis haben – auch zwischen den Regierungsfraktio-
nen –, war durchaus ein Reibungspunkt bei den Verhand-
lungen zu diesem Antrag . Wir haben ihn nicht vorgelegt,
weil demnächst Weihnachten ist, sondern weil wir schon
lange darüber diskutiert haben . Anfang des Jahres – mei-
ne Kollegin ist eben schon darauf eingegangen – haben
wir diesen Diskussionsprozess angestoßen .

Für uns ist Multikulturalismus keine Ideologie, son-
dern gelebte Realität in Deutschland. Unser Land ist „ge-
prägt vom Zusammenleben verschiedener Kulturen, von
unterschiedlichen Lebenswelten, Werten und Traditio-
nen“. Unsere Gesellschaft „entwickelt sich … stetig wei-
ter und ist offen für andere kulturelle Einflüsse“. – Das
waren übrigens direkte Zitate aus dem Antrag .

Kultur ist kein starres, in sich geschlossenes Konzept;
Kultur wird von Menschen gemacht . Deshalb ist Kultur
immer einem ständigen Wechsel unterzogen . Eine Poli-
tik hingegen, die eine sogenannte Leitkultur propagiert,
hierarchisiert, grenzt Kulturen aus und versteht Integrati-
on als Annahme der dominanten Kultur bei gleichzeitiger
Aufgabe der Herkunftskultur . Das entspricht nicht unse-
rem sozialdemokratischen Verständnis von Kultur .


(Beifall bei der SPD)


Wir verstehen Kultur nicht als Mittel der Abgrenzung,
sondern als Mittel der Inklusion .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Kulturen konstituieren sich in einem Prozess der
Überlagerung, Vermischung und Verschmelzung ver-
schiedener kultureller Einflüsse. Im Rahmen permanen-
ter Austauschprozesse verwischen die Grenzen zwischen
Eigen- und Fremdkultur . Wenn wir kulturelle Unter-
schiede verstehen, andere kulturelle Ausdrucksweisen
kennen und Respekt vor anderen Kulturen haben, wird
aus dem Fremden das vertraute Andere . Dieser dynami-
sche, hybride und heterogene Kulturbegriff findet sich in

Harald Petzold (Havelland)


Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 2016 21091


(A) (C)



(B) (D)


diesem Antrag wieder . Wer den Antrag liest, wird ganz
klar erkennen: Das ist sozialdemokratische Handschrift .


(Beifall bei der SPD)


Das sage ich ganz ohne Häme . Im Gegenteil: Ich freue
mich darüber, dass es uns in einem Diskussionsprozess
gelungen ist, die Union mitzunehmen und sie von ver-
krusteten Denkmustern ausgrenzender Leitkultur wegzu-
bewegen, hin zu einem Bekenntnis zu kultureller Viel-
falt . Deshalb sind wir nach einem Jahr zähen Ringens um
jede Formulierung ja auch so weit gekommen .

Als Berichterstatter war es mir wichtig, dass in dem
Antrag zum Ausdruck kommt, dass Integration keine
Einbahnstraße ist, sondern ein dynamischer und wech-
selseitiger Prozess, bei dem es darum geht, sich über die
gemeinsamen Grundlagen und Regeln des Zusammenle-
bens zu verständigen . Das ist aus meiner Sicht gelungen .

Mein Verständnis und das Verständnis meiner Partei
von Integration lassen sich auf den ursprünglichen Be-
griff „integrare“, der aus dem Lateinischen kommt, zu-
rückführen. Das bedeutet „erneuern, ergänzen, geistig
auffrischen“. Auf diese ursprüngliche Bedeutung sollten
wir uns in diesem gesellschaftlichen Diskurs wieder be-
sinnen .


(Beifall bei der SPD)


Unser beeindruckendes kulturelles Erbe hat sich über-
haupt erst aus dieser Heterogenität entwickelt . Dieses
kulturelle Erbe verpflichtet uns auch zu Humanität – ei-
ner Humanität, die im letzten Jahr von vielen Ehren- und
Hauptamtlichen in unserem Land auch im kulturellen
Sektor mit Leben erfüllt wurde . Deshalb gehört die Stär-
kung des bürgerschaftlichen Engagements zu den Kern-
forderungen des Antrags .

Eine weitere zentrale Forderung des Antrags ist die
Stärkung der soziokulturellen Zentren, die als Orte der
Begegnung fungieren und somit kulturelle Teilhabe und
kulturellen Austausch fördern . Schauen wir nach NRW!
Dort funktioniert das hervorragend . Das sollte man an
dieser Stelle einmal betonen .

Kulturelle Bildung kann vor allem geflüchtete Kinder
dabei unterstützen, Erlebtes zu verarbeiten und Neues zu
verstehen . Deshalb hat sich die SPD-Bundestagsfraktion
auch dafür eingesetzt, „Kultur macht stark“, das größte
Förderprogramm der kulturellen Bildung des Bundes,
auch nach 2017 fortzusetzen .


(Beifall bei der SPD)


„Kultur baut Brücken“ – hinter diesem Titel steckt die
Überzeugung, dass kultureller Austausch dazu beitragen
kann, Vorurteile abzubauen und ein besseres Verständnis
füreinander zu entwickeln . Kulturelles Miteinander kann
Integration fördern und die Gemeinschaft festigen .

Wie sagte es ein sehr bekannter Sozialdemokrat:
„Der beste Weg, die Zukunft vorauszusagen, ist, sie zu
gestalten.“ Willy Brandt, einst selbst Flüchtling, wurde
vor 45 Jahren für seinen Einsatz für Versöhnung und die
europäische Einigung mit dem Friedensnobelpreis aus-
gezeichnet . Brandts Ziel war es, die Menschen zu einen
und nicht zu spalten . Dieser Grundsatz ist Teil unserer

Identität, eine Tradition, die wir als Sozialdemokraten
weiter aufrechterhalten wollen und die sich auch in dem
vorliegenden Antrag wiederfindet.

Ich danke für die Aufmerksamkeit und wünsche allen
ein frohes Fest .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1821009200

Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulle Schauws,

Bündnis 90/Die Grünen .


Ulle Schauws (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1821009300

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! In Zeiten, in denen wir mehr als je zuvor über
Perspektiven und Chancen für Migration, Inter- und
Transkultur reden müssen, legen Sie einen Antrag vor,
der einzig und allein seinem Selbstzweck dient . Alles,
was dieser Antrag leistet, ist eine Aufzählung von Ini-
tiativen und Projekten, die zum Thema „Kulturpolitik
und Integration“ bereits laufen. Dafür hätten wir keinen
zehnseitigen Antrag gebraucht, da hätte ein Link auf der
Homepage der Beauftragten für Kultur und Medien ge-
nügt .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Darum wirft ein solcher Antrag auch berechtigte Fragen
auf, nämlich: Was ist denn Ihr Vorschlag, Ihr Konzept
für Interkultur? Worin besteht Ihr neuer Beitrag zur Inte-
gration, wie Sie das in der Überschrift ankündigen? Ich
kann hier kein Konzept erkennen . Etwas Wegweisendes,
etwas in die Zukunft Gerichtetes? Da kann ich nur sagen:
Leider Fehlanzeige!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg . Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE])


Meine Damen und Herren, kulturelle Integration ist
keine Einbahnstraße . Wenn Sie über den Beitrag von
Kulturpolitik zur Integration reden, dann geht es Ihnen
offensichtlich nicht um eine interkulturelle Auseinander-
setzung auf Augenhöhe . Ihnen fällt zum Thema kaum et-
was anderes ein, als dass die aufnehmende Gesellschaft
Regeln festlegt, Erwartungen und Anforderungen formu-
liert . Wer so redet, der baut keine Brücken . Dialog geht
eindeutig anders .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland ist
doch längst ein Einwanderungsland . Durch Migration
und Flucht ist es demografisch in den letzten Jahrzehn-
ten stetig vielfältiger geworden . Deshalb ist doch eine
zentrale Frage: Wie verändert sich die Kultur der soge-
nannten Mehrheitsgesellschaft durch diese Entwicklung?
Gerade in der Kultur ist diese Veränderung nicht nur eine
Chance für all jene, die zu uns kommen, sie ist auch eine
Chance für uns, meine Damen und Herren .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Burkhard Blienert

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 201621092


(A) (C)



(B) (D)


Kultur ist ein Kommunikationsmedium zur Verstän-
digung in einer pluralen Gesellschaft, und sie ist kein
Megafon, das anderen die Meinung ins Ohr brüllt . Echte
Partizipation bedeutet, diese Veränderungen und Wech-
selwirkungen zuzulassen . Und diese Chance vergeben
Sie, meine Damen und Herren von der Großen Koalition,
wenn Sie einer Projekteritis, wie in diesem Antrag, hin-
terherlaufen .

Es kann nicht darum gehen, Maßnahmen für Migran-
tinnen und Migranten immer nur additiv hinzuzufügen .
Ein reiner Maßnahmenkatalog ändert die Verfasstheit der
Kulturinstitutionen nämlich noch lange nicht, aber genau
darum geht es .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg . Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE])


Darum ist für uns Grüne klar: Wir brauchen kulturelle
Infrastrukturen, die eine langfristige interkulturelle Öff-
nung der Kulturlandschaft ermöglichen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg . Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE])


Kultur kann sicherlich kurzfristig Willkommensräume
bereitstellen, aber langfristig muss gleichberechtigte
Teilhabe ermöglicht werden . Also, werte Kolleginnen
und Kollegen, inwiefern muss sich hierfür der etablierte
Kulturbetrieb öffnen? Wie sollte die Kulturförderung im
Hinblick auf interkulturelle Kriterien neu gestaltet wer-
den? Auf diese wesentlichen Fragen finde ich in diesem
Antrag gar keine Antworten, und das ist zu wenig .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg . Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE])


Dafür wären aktuelle Daten zum Stand der interkultu-
rellen Öffnung von Kulturinstitutionen als erster Schritt
unerlässlich . Ich sage Ihnen: Schon da kneifen Sie . Un-
seren Haushaltsantrag, den wir vor drei Wochen genau
zu diesem Thema vorgelegt haben, haben Sie abgelehnt .
Das ist wenig glaubwürdig .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Ich frage mich: Wie wichtig ist Ihnen dieses Thema
wirklich, wenn Sie dann auch noch die politische Ausei-
nandersetzung nicht wollen? Sie wollen heute sofort ab-
stimmen . Warum keine Überweisung in den Ausschuss?
Über die Zielsetzung, durch Kultur Brücken zu bauen,
müssen wir doch fachpolitisch diskutieren können . Ich
verstehe das überhaupt nicht . Der richtige Ort dafür ist
der Ausschuss .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Wir sind ein Parlament, in dem in den Ausschüssen de-
battiert wird, und das verweigern Sie . Oder wird das Ihre
neue Art, Politik zu machen? Keine Kulturdebatten mehr
wie auch beim Beschluss zum Wiederaufbau der Ko-
lonnaden? Das ist höchst kritikwürdig, und das wissen

Sie auch . Deswegen muss ich das an dieser Stelle noch
einmal betonen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg . Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE])


Meine Damen und Herren, der vorliegende Antrag ist
weder falsch noch richtig, er ist nichtssagend . Er bringt
nichts nach vorne . Aber weil wir die vielen aufgezählten
Initiativen und Projekte unterstützen, insbesondere die
Soziokultur, werden wir als Bundestagsfraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen diesen Antrag nicht ablehnen, wir
werden aber auch nicht zustimmen .

Sie, meine Damen und Herren von der Großen Koali-
tion, haben ein wichtiges Thema mit viel heißer Luft auf-
geblasen und dabei eine echte Chance vertan. Ich finde,
ein Schaufensterantrag ohne Impulse, der den Stillstand
der Großen Koalition widerspiegelt, ist zu wenig für Ihr
Brückenbauprojekt Kultur. Ich kann nur sagen: Ich finde
das sehr bedauerlich . Dennoch wünsche ich Ihnen schö-
ne Feiertage . Bis im nächsten Jahr!

Vielen Dank .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1821009400

Das Wort hat der Kollege Dr . Volker Ullrich für die

CDU/CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Volker Ullrich (CSU):
Rede ID: ID1821009500

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Kultur als Brücke braucht Sprache als Funda-
ment . Menschen verstehen sich, wenn sie sich verstän-
digen können . Es ist daher keine Zumutung, sondern
eine Selbstverständlichkeit, wenn wir als Schlüssel zur
Integration nicht nur den Erwerb, sondern auch den Ge-
brauch der deutschen Sprache fördern und einfordern .
Das ist die erste und wichtigste Botschaft dieses Antrags .

Wenn Menschen nicht oder noch nicht die gleiche
Sprache sprechen, gibt es ein weiteres Fundament, das
verbindet . Das ist die gemeinsame Begeisterung für Mu-
sik oder Kunst, für Kulinarisches oder Architektur, für
gelebte Traditionen und Bräuche . Die innere Kraft un-
seres Landes zur Integration erwächst aus der Stärke
der eigenen kulturellen Werte und Traditionen und nicht
aus deren Relativierung . Eine vermeintliche Rücksicht-
nahme auf Neues oder eine Ausblendung von Traditio-
nen und Konventionen, beispielsweise – um im Bild der
Jahreszeit zu bleiben – indem Sankt-Martins-Umzüge in
Lichterfeste und der Christkindlmarkt in Wintermarkt
umbenannt werden, stärken nicht die Integration . Damit
werden jene, die wir respektvoll in unserer Gesellschaft
begrüßen wollen, am Ende irgendwie entmündigt, weil
wir ihnen den Eindruck vermitteln, ihnen seien unsere
Traditionen nicht zumutbar . Das Gegenteil ist der Fall .
In welche Gesellschaft sollen sich Menschen integrieren,
wenn wir selbst unsere Traditionen und Werte hinterfra-
gen? Eine Kulturnation braucht Beständigkeit, aber eben

Ulle Schauws

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 2016 21093


(A) (C)



(B) (D)


auch Offenheit und Neugierde. Sie braucht Respekt und
Toleranz, aber eben keine Duldung von Intoleranz .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das bringt uns zu der ganz grundlegenden Frage, was
denn eine Kulturnation ist . Das ist der Kern dieses An-
trags: dass wir einen Versuch unternehmen, dies auch zu
definieren.


(Burkhard Blienert [SPD]: Stimmt doch nicht!)


Meine Damen und Herren, von viel berufenerer Seite
ist die Kultur in unserem Land in den Dimensionen von
Glaube und Vernunft vermessen worden . Dabei meint
Glaube kein religiöses Verständnis, sondern das Wissen
um die notwendige Orientierung in einer Gesellschaft,
Werte also, die unser Gemeinwesen begründen und zu-
sammenhalten . Vernunft dagegen, ohne dass dies ein Ge-
gensatz ist, fordert in der Tradition der Aufklärung frei-
es Denken und Reden und einen säkularen Rechtsstaat,
dessen Regeln allgemeine Geltung besitzen . Daraus wird
klar: Der Staat selbst darf keine bestimmte Kultur vor-
schreiben oder gar verordnen . Er hat vielmehr diese Ge-
sellschaft zu schützen, aus der er in Freiheit entstanden
ist. Das kann letzten Endes nur eine offene demokrati-
sche Gesellschaft sein, die trotz aller Veränderungen auf
der Grundlage der Ideen des Rechts, der Freiheit und der
Menschenwürde existiert .

Die Menschen, meine Damen und Herren, fragen
sich, wie sich unser Land verändert, und nicht wenige
machen sich Sorgen, in welchem Ausmaß diese Verän-
derung spürbar sein wird . Manche sagen gar, dass Verän-
derungen völlig ausgeblendet werden müssen . Das aber
zu behaupten, wäre unehrlich, im schlimmsten Fall gar
demagogisch . Literatur, Architektur, Wissenschaft und
Technologie, aber auch Kunst und Kultur sind Verände-
rungen unterworfen .

Es gibt aber auch eine Sphäre, die sich nicht verän-
dern darf . Das sind die grundlegenden Regeln und Wer-
te unseres Zusammenlebens . Dazu gehört die Würde
des Menschen, der bereits das Grundgesetz das Attri-
but „unantastbar“ verleiht. Die universelle Geltung der
Menschenrechte und die Freiheit als Prinzip, wie eine
Gesellschaft organisiert wird, damit sich jeder Einzelne
mit seinem Lebensentwurf darin wiederfinden kann, die
Gleichheit aller Menschen und die Gleichheit zwischen
Mann und Frau, die Freiheit, seinen Glauben zu leben
oder auch keinen zu besitzen, die Gewissheit, dass ein sä-
kularer Rechtsstaat diese Werte nicht nur garantiert, son-
dern sie auch aktiv einfordert – wer immer auch zu uns
kommt, für den sind diese Regeln keine unverbindlichen
Handlungsempfehlungen . Wir fordern zu Recht ein, dass
sie gelten, und zwar für alle und ausnahmslos .

Wenn wir in diesen Tagen auf die Welt blicken, dann
sehen wir so viele Menschen, denen dieses Leben in Frie-
den und Freiheit verwehrt bleibt, die nicht ihre Kultur le-
ben können, die nicht von einer Kulturnation profitieren.
Umso kostbarer ist es, zu schätzen, was wir erreicht ha-
ben durch Toleranz, in Gemeinsamkeit und im Vertrauen
auf diese Werte . Wir haben alles dafür zu tun, dass die-
ser Frieden, dieser Weihnachtsfrieden überall entstehen

kann. Das ist unsere Verpflichtung. Sie erwächst auch aus
einer viel bedeutenderen Kultur, nämlich der Kultur der
Mitmenschlichkeit . Darauf lässt sich bauen .

Vielen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1821009600

Das Wort hat der Kollege Josip Juratovic für die

SPD-Fraktion .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Josip Juratovic (SPD):
Rede ID: ID1821009700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich danke der Union dafür, dass wir mit dem
Antrag „Kultur baut Brücken“ gemeinsam ein positives
Beispiel für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft bie-
ten können . Was mich an dem Antrag so freut, ist, dass
er in seiner Anlage und Haltung einmalig ist . Noch vor
wenigen Jahren herrschte die Auffassung, Multikulti sei
gescheitert . Mit dem vorliegenden Antrag wird nun deut-
lich, dass das Bekenntnis zur multikulturellen Gesell-
schaft in allen Parteien unseres Parlaments angekommen
ist .


(Beifall bei der SPD)


Das hat nichts, aber auch gar nichts mit der sogenann-
ten Leitkultur zu tun, wie es eine auflagenstarke Zeitung
schreibt . Ja, in unserem Antrag ist die Rede von Deutsch-
land als Kulturnation, geprägt von den Werten der Auf-
klärung, von Freiheit und Humanität . Ist das richtig?
Ja . Ist das schlimm? Natürlich nicht . Sind wir an einem
Punkt, wo wir als demokratische Parteien nicht mehr be-
nennen können, was Deutschland prägt? Ich kann Ihnen
nur sagen, dass ich, wenn ich nach Kroatien fahre, für
viele nur noch „der Deutsche“ bin. Warum? Weil sie an
mir deutsche Verhaltensweisen erkennen . Das ist nun
einmal so . Aber das alles hat nichts mit unserem Antrag
zu tun . Denn nach dieser – ich nenne es einmal so –
Standortbestimmung heißt es auch, dass unser Land vom
Zusammenleben verschiedener Kulturen und von unter-
schiedlichen Lebenswelten geprägt ist . Das hätte sich die
Zeitung als Schlagzeile nehmen sollen: Union und SPD
bekennen sich zur Gesellschaft der Vielfalt . – Denn das
ist der Kern unseres Antrags „Kultur baut Brücken“.

Kultur baut Brücken, und mit Kultur kann man vieles
zum Ausdruck bringen, das man nicht in Worte fassen
kann . Kultur verbindet emotional und ermöglicht die Vi-
sion von einer Traumwelt . Vieles, was heute Realität ist,
war einst ein Traum. Kulturschaffende erkennen gegen-
seitig ihre Fähigkeiten und gehen in der Regel respektvoll
miteinander um . Das ist beispielhaft für die Gesellschaft
und ein wichtiger Beitrag für das friedliche Miteinander .

An dem Kulturbegriff, der unserem Antrag zugrun-
de liegt, gefällt mir besonders, dass er so umfassend ist .
Denn es ist die Vielfalt kultureller Initiativen, die unsere
Gesellschaft ausmacht .


(Beifall bei der SPD)


Dr. Volker Ullrich

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 201621094


(A) (C)



(B) (D)


Sie unterstützen und würdigen wir mit unserem Antrag .
So begrüßen wir nicht nur die Einrichtung der „Initiative
kulturelle Integration“, sondern auch das Engagement der
Bundesagentur für Arbeit, die in zwei Jahren kurzfristig
200 000 Asylbewerberinnen und Asylbewerbern Sprach-
kurse ermöglicht hat . Denn auch Sprache ist Kultur .

Wir möchten nicht nur Integrationskurse durch regel-
mäßige kulturelle Aktivitäten ergänzen, wir wollen auch
digitale Teilhabe und Medienbildung für Flüchtlinge
fördern . Genauso förderwürdig im Zusammenhang mit
Integration ist das Programm „Fußball trifft Kultur“.
Dort können Kinder nicht nur Fußballspielen und gesell-
schaftliche Tugenden wie Teamgeist und Zusammenhalt
erlernen, sie erhalten auch Förderunterricht . Auch das ist
Teil der Alltagskultur .

Kultur ist eben kein Subventionsloch, in dem Gelder
für verrückte Projekte verschwinden, sondern eine wich-
tige Investition in die Zukunft .


(Beifall bei der SPD sowie des Abg . Uwe Schummer [CDU/CSU])


Jede und jeder Einzelne hat täglich mit Kultur zu tun, und
genauso allgegenwärtig sind ihre Möglichkeiten der Inte-
gration . Allein, es muss der Wille der Gesellschaft sein .

Diesen Willen konnten wir in den vergangenen zwei
Jahren deutlich erkennen . 8 Millionen Menschen haben
sich im vergangenen Jahr ehrenamtlich engagiert . Vie-
le der Freiwilligen haben auch kulturelle Angebote ge-
macht, zum Beispiel die Banda Internationale in Dres-
den oder das Projekt „Brücken der Kulturen“ von Guy
Ramon in meinem Wahlkreis Heilbronn . Sie sind die
stillen Helden hierzulande und helfen kaum hörbar . Die
800 000 Schreihälse hingegen, die rechte Parolen brüllen,
werden von allen gehört . Lassen Sie uns dafür sorgen,
dass den Engagierten unseres Landes mit diesem Antrag
signalisiert wird, dass wir ihre Arbeit richtig und wichtig
finden und uns nicht an den Bedenkenträgern orientieren


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


und dass wir ein gemeinsames Ziel haben: eine starke,
widerstandsfähige Gesellschaft der Vielfalt mit einer le-
bendigen, abwechslungsreichen Kunst- und Kulturszene
als unverzichtbarem Bestandteil .

Ich bitte Sie, diesem Antrag zuzustimmen .

Danke schön für die Aufmerksamkeit .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1821009800

Ich schließe die Aussprache .

Wir kommen zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD auf der Drucksache 18/10634 mit dem Ti-
tel „Kultur baut Brücken – Der Beitrag von Kulturpoli-
tik zur Integration“. Die Fraktionen der CDU/CSU und
SPD wünschen Abstimmung in der Sache, die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen wünscht Überweisung an den
Ausschuss für Kultur und Medien .

Wir stimmen nach ständiger Übung zuerst über den
Antrag auf Ausschussüberweisung ab . Ich frage deshalb:
Wer stimmt für die von der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen beantragte Überweisung? – Wer stimmt dage-
gen? – Wer enthält sich? – Die Überweisung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Oppositionsfraktionen abgelehnt .

Wir kommen damit zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksa-
che 18/10634 . Wer stimmt für den Antrag? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist mit den
Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Frakti-
on bei Enthaltung der Fraktionen Die Linke und Bünd-
nis 90/Die Grünen angenommen .

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 31 auf:

Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD

Starke Forschung und Innovation für Euro-
pas Zukunft

Drucksache 18/10635

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-
nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen .

Sobald die noch herbeigeeilten Kolleginnen und Kol-
legen einen Platz gefunden haben, kann ich die Ausspra-
che eröffnen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla-
mentarische Staatssekretär Thomas Rachel .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


T
Thomas Rachel (CDU):
Rede ID: ID1821009900


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir lesen jeden Tag, dass sich Europa von den
Menschen entfernt habe, dass die Nationalstaaten Proble-
me besser alleine bewältigen könnten, dass Europa in der
Krise stecke . Denjenigen, die dies behaupten, empfehle
ich die Lektüre dieses Antrags .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Denn dieser Antrag erzählt von einer Erfolgsgeschichte,
einer Erfolgsgeschichte, die die Europäische Union und
ihre Mitgliedstaaten gemeinsam geschrieben haben .

Es stimmt: Europa steht derzeit vor großen Herausfor-
derungen . Seit dem Brexit beschleicht mich die Sorge,
dass die historischen Errungenschaften der Europäischen
Union verspielt werden . Europa wird von vielen Men-
schen nicht mehr als selbstverständlich hingenommen,
sondern kritisch hinterfragt . Wir müssen uns gemeinsam
diesen Fragen stellen und die richtigen Antworten fin-
den. Der Antrag „Starke Forschung und Innovation für
Europas Zukunft“ kommt deshalb genau zum richtigen
Zeitpunkt .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Josip Juratovic

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 2016 21095


(A) (C)



(B) (D)


Zur Bewältigung großer Herausforderungen hilft es,
sich auf seine Stärken zu besinnen . Und eine Stärke der
europäischen Zusammenarbeit ist die europäische For-
schungspolitik . Es gibt keinen anderen Politikbereich in
der Europäischen Union, in dem so eng zusammengear-
beitet wird wie in Wissenschaft und Forschung . Dies ist
eine erfreuliche Entwicklung, aber nicht nur das . Es ist
vielmehr der einzige Schlüssel zur Bewältigung der gro-
ßen gesellschaftlichen Herausforderungen, wie sie vom
Forschungsprogramm „Horizont 2020“ adressiert sind.

Ich möchte daran erinnern: Das Leben im System
Erde basiert auf Vielfalt . Die passenden wissenschaftli-
chen Antworten können nur aus einer ebensolchen Viel-
falt des Zusammenwirkens entstehen . Denn wenn es um
Antworten geht, dann wissen wir, dass diese nur transna-
tional zu finden sind.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wissenschaft und Forschung sind deshalb hervor-
ragende Beispiele für den europäischen Gedanken und
auch den unmittelbaren Mehrwert Europas für die Bür-
gerinnen und Bürger . Die Bundesregierung hat die eu-
ropäische Forschungspolitik von Anfang an unterstützt
und mitgestaltet . Sie hat für uns höchste Priorität . Und
wir waren 2014 das erste Land, das eine nationale Stra-
tegie für den Europäischen Forschungsraum vorgelegt
hat . Andere Mitgliedstaaten sind dem nun gefolgt . Der
vorliegende Antrag greift das Thema „Europäischer For-
schungsraum“ daher zu Recht prominent auf.

Die europäische Forschungs- und Innovationspolitik
ist mittlerweile ein zentraler und integraler Bestandteil
der Forschungspolitik der Bundesrepublik Deutschland .
Verantwortung übernehmen bedeutet aber auch, dass wir
durch unsere gute nationale Förderung deutsche Forsche-
rinnen und Forscher im europäischen Wettbewerb kon-
kurrenzfähig machen . Hier sprechen die Zahlen für sich .

Deutschland ist sehr erfolgreich in „Horizont 2020“.
Bis heute wurden mehr als 3 Milliarden Euro einge-
worben . Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an
deutschen Forschungseinrichtungen konnten unter „Ho-
rizont 2020“ allein beim Europäischen Forschungsrat,
ERC, also in der absoluten Spitzenforschung, in einem
hochkompetitiven Auswahlverfahren 368 Grants einwer-
ben . Voraussichtlich werden wir im nächsten Jahr den
1 000 . Grantee in Deutschland begrüßen können . Diese
ERC-Förderung bedeutet bisher 1,7 Milliarden Euro zu-
sätzlich für die deutsche Spitzenforschung .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Europa ist eine Gemeinschaft, basierend auf dem Ge-
danken der Solidarität . Wenn wir wollen, dass Europa
insgesamt stark ist, dann müssen wir allerdings auch die
Staaten mit einbeziehen, die noch nicht ihr volles Poten-
zial haben heben können . Hier sehen auch wir uns in der
Verantwortung .


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gut!)


Bei der nationalen Konferenz zum Europäischen For-
schungsraum am 10 . Oktober hat Ministerin Professor
Wanka die Stipendiaten und Stipendiatinnen des neuen
BMBF-Programms „ERA Fellowships“ persönlich be-
grüßt . Damit wollen wir engagierten Nachwuchswissen-
schaftlern aus den mittel- und osteuropäischen Ländern
das Angebot machen, eine Zeitlang praktische Erfahrung
besonders im Wissenschaftsmanagement in Deutschland
zu sammeln . Damit kriegen sie die Chance, sich europä-
isch zu vernetzen .

Dies ist ein Beispiel dafür, wie wir unsere gesamteu-
ropäische Verantwortung wahrnehmen wollen, und auch
bei anderen Mitgliedstaaten besteht noch erhebliches
Potenzial, den europäischen Forschungsrahmen gerade
auch durch solche bilaterale Maßnahmen auszugestalten .
Es reicht eben nicht, nur den Blick nach Brüssel zu rich-
ten, meine Damen und Herren .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Gerade den Mitgliedstaaten, die in einer wirtschaftlich
und sozial schwierigen Lage sind, kann man nur sagen:
Investitionen in Forschung helfen . Sie sind ein Schlüssel,
diese Phase zu überwinden . – Forschungskooperationen
können neuen Schub geben . Aktuell haben wir gerade
in der letzten Woche das zweite Deutsch-Griechische
Forschungsprogramm gestartet. Dieses eröffnet gerade
jungen Wissenschaftlern neue Perspektiven im eigenen
Land und wirkt so einem Braindrain entgegen .


(Beifall des Abg . René Röspel [SPD])


Nicht zuletzt: Die europäische Forschungsförderung
ist wichtig für das gegenseitige Verständnis und den
gemeinsamen Fortschritt . Kulturelle, soziale und wirt-
schaftliche Vielfalt, das sind die großen Stärken der Eu-
ropäischen Union . Das Zusammenbringen der europäi-
schen Forschung bringt viele positive Synergieeffekte.
Viele junge Menschen, die durch die Mobilitätsprogram-
me „Erasmus“ oder die Marie-Curie-Maßnahmen geför-
dert werden, können Europa hautnah erleben, machen
Erfahrungen in anderer kultureller und wissenschaftli-
cher Umgebung und kommen mit diesen Erfahrungen in
ihr eigenes Land zurück .

Bei allen positiven Betrachtungen des Istzustands
möchte ich aber auch den Blick in die Zukunft rich-
ten; denn wir gehen jetzt darauf zu, das Rahmenpro-
gramm 2021 zu erarbeiten . Und dazu werden wir uns
frühzeitig einbringen . Lassen Sie mich vier Elemente
unserer Position benennen:

Erstens. Wir wollen eine gute finanzielle Ausstattung.
Damit setzen wir ein klares Signal an die Bürger und an
die Mitgliedstaaten: Forschung hat Priorität, auch in Zu-
kunft .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Zweitens . Bei der Debatte zum nächsten Rahmenpro-
gramm müssen wir uns klar dazu positionieren, was wir
national machen wollen, was wir gemeinsam bilateral
organisieren wollen und was wir auf gesamteuropäischer
Ebene organisieren wollen . Der Antrag beschreibt hier

Parl. Staatssekretär Thomas Rachel

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 201621096


(A) (C)



(B) (D)


eine kluge und kohärente Arbeitsteilung nationaler, bi-
lateraler und europäischer Forschungs- und Innovations-
politik .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Drittens . Bei der derzeitigen Debatte um einen euro-
päischen Verteidigungsfonds darf nicht übersehen wer-
den, dass das bisherige EU-Forschungsrahmenprogramm
aus gutem Grund rein zivil ausgerichtet ist .


(Beifall des Abg . René Röspel [SPD])


Bei der verteidigungsorientierten Forschung bedarf es
aufgrund der besonderen Sensibilität eigener Richtlinien
und eigener Teilnahmebedingungen . Dies kann deshalb
nur in einem eigenen Programm verwirklicht werden .

Und schließlich viertens . Europa kann sich keine For-
schungs- und Innovationslücke zwischen den alten Mit-
gliedstaaten und den EU 13 leisten .


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Tut es aber!)


Nein, wir sind ein Europa .

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Wissenschaft, For-
schung und Innovation spielen eine zentrale Rolle für
Wohlstand und Lebensqualität im vereinten Europa . Sie
stehen für eine freie und offene Gesellschaft. Dies wol-
len wir gemeinsam fördern und unterstützen . Wenn die-
se Werte jetzt infrage gestellt werden, müssen wir mehr
denn je die Debatte über die Zukunft Europas führen .
Forschung und Innovation sind immer auch ein Plädoyer
für Vielfalt und Freiheit, und der Antrag für starke For-
schung und Innovation in Europa ist ein solches Plädoyer
für ein starkes, freies und für die Zukunft gerüstetes Eu-
ropa – ein richtiges Signal zur rechten Zeit .

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1821010000

Das Wort hat der Kollege Ralph Lenkert für die Frak-

tion Die Linke .


(Beifall bei der LINKEN)



Ralph Lenkert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1821010100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen

und Kollegen! Mit diesem Beweihräucherungsantrag
versetzt uns die Koalition in weihnachtliche Stimmung .
Am Weihnachtsbaum Forschung und Innovation strah-
len helle Lichter. Das Programm „Horizon 2020“ stellt
80 Milliarden Euro für Forschung und Innovation bereit;
das begrüßen wir . Dass die Bundesregierung Forschungs-
förderung für Atomreaktoren ablehnt, das begrüßen wir .


(Beifall bei der LINKEN)


Dass die Koalition mehr Chancengleichheit in Wissen-
schaft und Forschung und einen höheren Frauenanteil in

wissenschaftlichen Führungsgremien fordert, das unter-
stützt die Linke .


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg . Dr . Simone Raatz [SPD] – Martin Rabanus [SPD]: Das wird ja eine Superrede!)


Dass kleinere und mittlere Unternehmen mehr Berück-
sichtigung in der europäischen Forschungspolitik finden
sollen, das unterstützt die Linke .


(Beifall bei der LINKEN)


Dass im Bundeshaushalt die Forschungsmittel erhöht
wurden, auch das unterstützt die Linke .


(Dagmar Ziegler [SPD]: Da bleibt ja nicht mehr viel übrig!)


Aber im Baumschatten versteckt liegen falsche Gaben:
die Schließung des Instituts für Gemüse- und Zierpflan-
zenbau in Erfurt . Die Beschäftigten bangen um ihren Job,
der Gartenbau verliert seine angewandte Forschung .


(Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Das haben Sie bei Ihrer letzten Rede schon gesagt!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, nehmen Sie Ihren An-
trag zum Gartenbau ernst, und retten Sie zusammen mit
dem rot-rot-grün regierten Thüringen das IGZ in Erfurt .
Das wäre ein echtes Geschenk .


(Beifall bei der LINKEN – Dagmar Ziegler [SPD]: Was soll denn das jetzt? – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das hat doch nichts mit Bildung und Forschung zu tun!)


Die Zentralbibliothek Medizin in Köln wird abgewi-
ckelt .


(Dr . Stefan Kaufmann [CDU/CSU]: Wahlkampf!)


Wie es mit den Datenbanken und Beständen nach 2019
weitergeht, ist ungeklärt . Sie können dies in den Kleinen
Anfragen nachlesen, die ich an die Bundesregierung ge-
stellt habe .


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Aber das ist Sache des Landes!)


Medizinischer und pharmazeutischer Nachwuchs, die
Forscherinnen und Forscher sowie die Firmen bangen
um diese Datenbasis . Liebe Kolleginnen und Kollegen,
zwingen wir die Regierung per Beschluss, den Fortbe-
stand dieser weltweit größten Datenbanken zu Lebens-
wissenschaften zu erhalten und Pflege und Ausbau der
Bestände der ZB MED zu sichern . Das wäre ein echtes
Weihnachtsgeschenk .


(Beifall bei der LINKEN)


Dann liegt da noch das Geschenk, dessen Annahme
die Rektoren und Rektorinnen der deutschen Universi-
täten und Hochschulen verweigerten . Liebe Kolleginnen
und Kollegen, was den Hochschulen von der Verwer-
tungsgesellschaft Wort, VG Wort, aufgezwungen werden
soll, ist dreist .


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Von der KMK! Nicht von der VG Wort!)


Parl. Staatssekretär Thomas Rachel

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 2016 21097


(A) (C)



(B) (D)


Zuerst forschen Wissenschaftlerinnen und Wissen-
schaftler mithilfe von öffentlichen Geldern, aber die For-
schungsresultate sind privat . Dann werden die Resultate
ihrer Forschung mit öffentlichen Mitteln publiziert. Aber
am Vertrieb, den Publikationen, verdient der Verlag .


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht schon um europäische Forschungspolitik?)


Bibliotheken kaufen mit öffentlichen Mitteln die Pu-
blikationen, um sie für Studierende und Wissenschaftle-
rinnen und Wissenschaftler nutzbar zu machen . Dreimal
muss die Gesellschaft bezahlen, um das Ergebnis der
Forschung nutzen zu können .


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Sie haben sich gestern Abend darüber geeinigt!)


Verwenden Professoren oder Lehrkräfte Ausschnitte
aus Büchern und kurzen Veröffentlichungen, dann zahlen
sie nochmals – an die VG Wort, die GEMA des Geschrie-
benen . Ab 2017 wird dann noch eins draufgesetzt . Statt
bisheriger Pauschalabrechnung sollen die Hochschulen
eine Einzelabrechnung vornehmen . Für jeden Artikel, für
jeden Ausschnitt, für jede einzelne Seite sollen je Unter-
richtskurs und Teilnehmenden 0,8 Cent bezahlt werden .

Ein Beispiel: Ein Germanistik-Professor verwen-
det in seiner Vorlesung 61 vergütungspflichtige Seiten.
723 Studierende sitzen im Hörsaal, und die Vorlesung
wird im Internet von x weiteren Studierenden verfolgt .
Hoffentlich hat sich der Professor nicht verzählt, und hof-
fentlich sind alle registriert, die via Internet zuhören . Die
Hochschule zahlt also für diese Vorlesung 352,82 Euro
plus x mal 61 mal 0,8 Cent fürs Internet an die VG Wort .
Der Professor verwies in den Übungen auf 70 vergü-
tungspflichtige Seiten. Damit zahlt jeder Studierende für
die Übung nochmals 56 Cent an die VG Wort .


(Dagmar Ziegler [SPD]: Gab es heute Glühwein? – Heiterkeit)


Kein Problem, das geht alles online . Jede Seite wird je
Studierenden, je Nutzung, je Vorlesung einzeln abge-
rechnet . Was für ein Bürokratiemonster!


(Beifall bei der LINKEN)


Das kostet die Hochschulen und Studierenden extra Geld
und vor allem eines: Unmengen an Zeit .

Die Hochschulrektorenkonferenz bewertete den Feld-
versuch zu diesem Einzelabrechnungssystem an der Uni-
versität Osnabrück vernichtend . Die Hochschulen haben
die Einzelabrechnung abgelehnt . Zurzeit wird gestritten,
wie es ab Januar 2017 weitergeht . Ohne Lösung dürfen
Professorinnen und Professoren nur noch auf Artikel ver-
weisen; Studierende kopieren oder drucken diese dann
in der Bibliothek aus . Das wäre noch zulässig, aber teuer
und umweltschädlich . Die Linke fordert, dass alle mit
Steuergeldern gewonnenen Forschungsergebnisse unent-
geltlich für öffentliche Forschung, für Ausbildung und
Lehre genutzt werden können .


(Beifall bei der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Forderung
werden Sie wohl leider nicht folgen . Ich bitte Sie jedoch:

Beschließen Sie die Pauschalabrechnung für die VG
Wort . Der Bundestag ist der Gesetzgeber . Wir dürfen das
Urheberrecht verändern .

Ich hoffe auf bessere Weihnachten 2017, dann mit
echten Anträgen statt mit Selbstbeweihräucherung .

Vielen Dank .


(Beifall bei der LINKEN – Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Was hat jetzt die Rede mit dem Thema überhaupt zu tun gehabt? Thema verfehlt! Totale Themaverfehlung!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1821010200

Das Wort hat der Kollege René Röspel für die

SPD-Fraktion .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)



René Röspel (SPD):
Rede ID: ID1821010300

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Eigentlich war ich ganz froh, dass wir am Ende
eines Jahres, das mit Blick auf Europa ein sehr schwieri-
ges Jahr war – über viele politische Entwicklungen kann
man in große Sorge verfallen –, in einer der letzten De-
batten tatsächlich über Europa reden, statt wieder wie ein
Müllsammler, der an den Wegesrändern entlanggeht, da-
nach zu suchen, welche Probleme es irgendwo gibt .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie des Abg . Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Vielleicht trägt genau das auch zu der schwierigen
Situation und einer Stimmung bei, die es Europa nicht
leichter macht .


(Ralph Lenkert [DIE LINKE]: Verdrängung macht es nicht besser!)


– Lieber Ralph Lenkert, bei der Frage des Urheberrechts
wäre vielleicht der Blick nach Europa angebracht; denn
mit dem, was die Europäische Kommission im Bereich
der Open-Access-Strategie – dazu wird Elfi Scho-
Antwerpes gleich etwas sagen – oder zum europäischen
Urheberrecht vorschlägt, ist Europa viel weiter als wir
angesichts der Mühen, mit denen wir uns in Deutschland
jeden Tag beschäftigen müssen .

Neben den Sorgen, die es in Europa gibt, gibt es, wie
ich finde, auch große Hoffnung. Die Abstimmung über
den Brexit hat gezeigt, dass sich gerade die jungen Men-
schen für Europa entschieden haben – mehr als drei Vier-
tel von ihnen haben für ein freies und vielfältiges Europa
gestimmt –: es waren eher die alten Säcke, die damit Pro-
bleme haben – sie haben auch an jeder Stelle über die
Probleme genörgelt – und für den Brexit gestimmt haben .

Wenn unsere französische Gasttochter Aurore am
Sonntag nach zwei Monaten in unserer Familie nach
Lyon zurückkehrt, wird sie hoffentlich ein anderes Bild
von Deutschland haben als das, das Marine Le Pen gera-
de in Frankreich verbreitet . Wenn meine Kinder ihrerseits
die Erfahrung machen konnten, in einer französischen
Familie zu leben, dann ist es für sie eine selbstverständ-

Ralph Lenkert

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 201621098


(A) (C)



(B) (D)


liche und gute Normalität, in Nachbarschaft und Frieden
miteinander zu leben .

Als letzte Woche an einem Hagener Berufskolleg,
dem Cuno, der Europatag begangen wurde, haben junge
Auszubildende von ihren Erfahrungen von einem Aus-
landsaufenthalt berichtet und erzählt, wie gut und wich-
tig das ist . Auch wenn ich meine, dass wir da noch viel
zu schlecht aufgestellt sind und Erasmus+ noch viel zu
wenig vertreten können, ist Teil meiner Hoffnung, dass
Europa etwas wirklich sehr Gutes ist .

Gerade wir Deutschen müssten uns eigentlich da-
ran erinnern, wie wichtig die Zusammenarbeit bei Wis-
senschaft und Forschung ist; denn es war die manch-
mal vergessene, aber doch so wichtige Reise des
Max-Planck-Präsidenten und Nobelpreisträgers Otto
Hahn 1959 nach Israel unter dem Stichwort der Wissen-
schaftszusammenarbeit, die ein neues Fundament für die
Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Israel ge-
legt hat . Er bzw . die Wissenschaft hat den Weg zu einem
friedlichen Miteinander bereitet .

Ich danke Stefan Kaufmann und unseren Mitarbei-
tern für eine wirklich gute Zusammenarbeit bei diesem
Antrag . Wenn die Koalition heute einen Antrag mit dem
Titel „Starke Forschung und Innovation für Europas Zu-
kunft“ vorlegt, dann ist man fast bemüht, sich durch die
Details unseres guten Antrags zu wühlen . Ich möchte,
ohne uns selbst beweihräuchern zu wollen – das liegt
mir fern; ich bin nicht katholisch –, wie Thomas Rachel
den Schwerpunkt auf Europas Zukunft legen, weil wir
mit diesem Antrag Menschen näher zusammenbringen
wollen . Wir wollen, dass junge Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler mobiler werden, ein paar Monate
im Ausland forschen und dass viele aus Europa zu uns
kommen und uns und unsere Wissenschaft kennenlernen .
Dann macht mir die Zukunft Europas keine Bange . Das
ist ein guter Weg .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Den wollen wir beschreiten, indem wir die Hürden, die
es noch gibt, weiter aus dem Weg räumen .

Wir wollen auch die Länder innerhalb Europas näher
zusammenbringen, indem wir im Sinne einer Solidarität
zwischen den Ländern diejenigen, die noch schwächer
sind und beispielsweise nicht so exzellente Forschungs-
einrichtungen wie wir in Deutschland haben, in die Lage
versetzen, aufzuholen. Auch das ist, finde ich, ein ganz
wichtiger Punkt .

Wir halten die Verbundforschung in Europa für ei-
nen Kern der europäischen Forschungspolitik . Verbund-
forschung heißt, dass mindestens drei Partner aus drei
Ländern zusammen in einem Forschungsprojekt arbei-
ten müssen . Wer das einmal mitgemacht hat, weiß, wie
völkerverbindend, friedenschaffend und wissenschaftlich
wichtig das ist .

In unserem Antrag ist von strukturellem Pluralismus
die Rede . Damit ist gemeint, dass wir die Vielfalt der
Wissenschaftssysteme und der Gesellschaften Europas
nicht als Nachteil oder als Übel, sondern als Chance be-
greifen . Wir wollen diese Vielfalt nicht wegharmonisie-
ren, sondern stärken . Sie muss erhalten bleiben, damit

alle im Rahmen ihrer unterschiedlichen wissenschaftli-
chen Vorgehensweisen innerhalb der europäischen For-
schungsprogramme zum Erfolg beitragen können .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Wir sind ausdrücklich der Auffassung, dass Exzellenz-
und Grundlagenforschung der Kern des Wohlstands un-
serer Gesellschaft ist . Wir wollen keinen Deut weniger
Geld für Grundlagenforschung ausgeben . Deswegen sind
wir sehr froh über die Äußerung der Regierung, sich wei-
terhin dafür einzusetzen, dass hier nicht gekürzt wird .
Wir sind aber auch der Meinung, dass Europa im Bereich
der angewandten Forschung besser werden kann, also
dann, wenn es darum geht, aufgrund wissenschaftlicher
Erkenntnisse wirtschaftlich nutzbare Ergebnisse zu er-
zielen und damit Wachstum zu befördern .

Nicht zuletzt müssen wir in Europa bei der Förderung
der Sozial- und Geisteswissenschaften, der Migrations-
forschung, der Bildungsforschung sowie der Friedens-
und Konfliktforschung besser und sichtbarer werden. Die
Menschen in Europa interessiert, wie es mit unserer Ge-
sellschaft weitergeht und welche Ziele wir mit einem ge-
meinsam gestalteten sozialen Europa erreichen können .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Dazu kann die Forschung einen wichtigen Beitrag leis-
ten . Deswegen kann ich nur bitten: Arbeiten Sie mit an
der Zukunft Europas, und unterstützen Sie unseren An-
trag!

Vielen Dank .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1821010400

Das Wort hat der Kollege Kai Gehring für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen .


(Beifall des Abg . Jürgen Hardt [CDU/CSU])



Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1821010500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Linksfraktion, in einer Debatte über den Euro-
päischen Forschungsraum nur über nationale Fehler zu
lamentieren, offenbart Ihr ganzes Haltungsproblem zur
Europäischen Union .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)


Die Europäische Union und Deutschland als große Volks-
wirtschaft und Wissensnation haben in diesen herausfor-
dernden Zeiten eine immense politische Verantwortung .
Wenn wir vielerorts wachsenden Populismus und zuneh-
mende Wissenschaftsfeindlichkeit feststellen, dann kön-
nen manchmal Zweifel aufkommen, wie wir als Europäi-
sche Gemeinschaft zusammen die Kurve kriegen . Solche
Zweifel dürfen aber nicht zu Selbstblockade, Fatalismus

René Röspel

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 2016 21099


(A) (C)



(B) (D)


und Gleichgültigkeit führen . Vielmehr braucht es die
Haltung „Jetzt erst recht“ für ein besseres Europa.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Europa braucht Ideenreichtum und die Kreativität al-
ler Bürgerinnen und Bürger . Gerade in der Forschungs-
und Innovationspolitik wäre daher eine Rückkehr zu na-
tionalen Egoismen und Kleinstaaterei verheerend .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Denn wir brauchen wissensbasierte und zukunftsweisen-
de Lösungen für die großen gesellschaftlichen und glo-
balen Herausforderungen unserer Zeit . Nur gemeinsam
schaffen wir es – den Ergebnissen der Klimaforschung
folgend –, mehr Druck für internationalen Klimaschutz
und die europäische Energiewende Richtung Erneuerba-
re, Einsparung und Effizienz auszuüben. Nur gemeinsam
können wir im internationalen Wettbewerb bestehen und
dabei auch hohe ethische und bürgerrechtliche Standards
durchsetzen, ob bei Big-Data-Datenschutz, der Technik-
folgenabschätzung beim autonomen Fahren oder Du-
al-Use-Problemen . Solche klaren Ziele und Prioritäten
geben den Menschen in Europa Orientierung, Zuversicht
und Motivation . Wir wollen eine Innovationsunion und
einen Europäischen Forschungsraum . Auch so kann Eu-
ropa wieder mehr Optimismus entfachen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)


Die Koalition lobt sich in diesen Tagen gerne über den
grünen Klee, weil das nationale 3-Prozent-Ziel erreicht
sei .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dazu können wir nur sagen: Endlich! – Deutschland
hatte sich schon gemäß den Lissabon-Zielen für 2010
verpflichtet, 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in For-
schung und Entwicklung zu investieren . Die EFI fordert
ebenso wie wir seit Jahren, 3,5 Prozent anzupeilen, um
wieder zu den Innovationsspitzenreiterländern aufzu-
schließen . Nachdem Sie nun 6 Jahre zu spät die 3 Pro-
zent erstmalig erreicht haben, erklären Sie diese in Ihrem
Antrag zur Untergrenze für ganz Europa . Wie soll das
bitte schön funktionieren? Einerseits haben Sie Europa
einen Spar- und Austeritätskurs aufgedrückt, anderer-
seits fordern Sie von finanzschwächeren Staaten eine
FuE-Quote, die selbst wir als stärkste Volkswirtschaft
gerade erst erreicht haben . Das ist ebenso fragwürdig wie
unrealistisch . So kommen wir zu keinen nachhaltigen
und chancengleichen Aufstiegspfaden in ganz Europa . In
den Mittelpunkt der Debatte muss doch gehören, wie wir
die krasse Forschungs- und Innovationskluft zwischen
Mitgliedstaaten und Regionen endlich schließen . Darauf
geben Sie keine Antworten .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Eine starke öffentliche Forschungsförderung durch
die EU und die Mitgliedstaaten ist für die Innovati-
onsfähigkeit unverzichtbar . Dies gilt vor allem für die

Grundlagenforschung . Heute berät der Bundesrat über
einen Antrag der Länder Nordrhein-Westfalen – größtes,
schönstes und wichtigstes Bundesland –,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Bremen und Brandenburg zur Zwischenevaluation von
„Horizont 2020“. Wir teilen die darin formulierte Sorge
um die zukünftige Förderung der Grundlagenforschung .
Veränderungen der Förderstruktur dürfen nicht zu deren
Lasten gehen . Wir brauchen ein exzellentes Wechselspiel
von erkenntnis- und anwendungsorientierter Forschung;
denn ohne Neugier und Experimentierfreude ist Techno-
logietransfer einfach undenkbar .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


In Ihrem Antrag vermisse ich schmerzlich, die Men-
schen in den Mittelpunkt zu rücken . Sie sind es doch, die
dank ihrer Kreativität eine Innovationsunion überhaupt
bauen können . Die Perspektiven von Forscherinnen und
Forschern, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern,
Azubis und Studierenden der Generation Erasmus, Grün-
derinnen und Gründer sind ein blinder Fleck Ihres An-
trags, und das ist seine größte Schwäche .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Diese und weitere Themen wären es wert gewesen,
mit einem gemeinsamen, interfraktionellen Antrag ange-
gangen zu werden . Diese Chance hat die Koalition leider
nicht genutzt . So hätten wir unter anderem das klare Nein
zu EU-Forschungsmitteln für die Atomenergie gemein-
sam an die EU-Kommission richten können – das wäre
sicherlich ein tolles Signal vom gesamten Bundestag
gewesen – und die Forderungen insgesamt klarer prio-
risieren können, als es in Ihrem 13-seitigen Antrag der
Fall ist .

Wir werden uns bei der Abstimmung über den Koa-
litionsantrag enthalten und versprechen, auch 2017 bei
der Suche nach gemeinsamen Lösungen für Europa nicht
nachzulassen, sondern jetzt erst recht dafür zu ackern .

Besinnliche Feiertage und bis bald in 2017 .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Konstruktiver Beitrag!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1821010600

Das Wort hat der Kollege Dr . Stefan Kaufmann für die

CDU/CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg . René Röspel [SPD])



Dr. Stefan Kaufmann (CDU):
Rede ID: ID1821010700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lieber Kollege Ralph Lenkert, ich bin katholisch, und
ich kann auch etwas mit Weihrauch anfangen; ich war
Ministrant . Ihre Anwürfe prallen an mir völlig ab .

Mit dem vorliegenden Antrag beteiligen sich die Ko-
alitionsfraktionen sehr frühzeitig am Diskussionsprozess

Kai Gehring

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 201621100


(A) (C)



(B) (D)


zum nächsten Forschungsrahmenprogramm . Indem wir
heute diesen Antrag beschließen, leistet der Deutsche
Bundestag als erstes und bislang auch einziges nationales
Parlament seinen Beitrag zu diesem wichtigen Vorhaben .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Gerade vor dem Hintergrund der anstehenden Zwischen-
evaluierung des aktuell laufenden Programms „Hori-
zont 2020“ sowie mit Blick auf das künftige Nachfol-
geprogramm muss sich nach unserer Auffassung der
Deutsche Bundestag schon jetzt in die Debatte auf eu-
ropäischer Ebene einbringen und so dazu beitragen, dass
die Leitplanken der künftigen EU-Forschungs- und Inno-
vationspolitik auch richtig gesetzt werden .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


So haben wir es im Übrigen auch schon bei unserem
8 . Forschungsrahmenprogramm gemacht .

Mit dem Antrag geben wir der Kommission einen
Leitfaden an die Hand, den diese bei der Erarbeitung des
neuen Rahmenprogramms nutzen kann und – da bin ich
mir sehr sicher – auch nutzen wird . Ich danke ausdrück-
lich dem Kollegen René Röspel und auch den Kollegin-
nen und Kollegen aus den mitberatenden Fachausschüs-
sen für ihre konstruktiven Beiträge, die diesen Antrag aus
unserer Sicht zu einem sehr gelungenen, einem sehr sub-
stanziellen Beitrag des Deutschen Bundestages in dieser
Debatte machen .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Angesichts vielfältiger politischer, wirtschaftlicher
und auch gesellschaftlicher Krisen und Umbrüche – das
wurde angesprochen – ist die Europäische Union heu-
te mehr denn je gefordert, sich den Herausforderungen
der Zukunft zu stellen . Spätestens seit dem 23 . Juni, dem
Brexit-Votum der Briten, hat auch in Deutschland eine
umfassende Debatte über Europas Zukunft begonnen .
Die jüngsten Entwicklungen in Italien und Österreich,
aber auch die bevorstehenden Wahlen in den Niederlan-
den und in Frankreich beobachten wir nicht nur als Nach-
barn, sondern vor allem als Europäer mit ganz besonde-
rer Aufmerksamkeit .

Klar ist – das wurde schon betont –: Nur gemeinsam
kann Europa angesichts eines immer härter werdenden
internationalen Wissens- und Innovationswettbewerbs
seine Rolle als ein Kontinent der Ideen mit einer führen-
den Rolle in Wissenschaft, Forschung und Technologie
behaupten . Hierfür müssen wir bereits heute in diversen
politischen Handlungsfeldern, aber auch und gerade auf
dem wichtigen Feld der Forschungs- und Innovationspo-
litik die richtigen Weichen stellen .

Was genau wollen wir als Parlament in diesem Prozess
erreichen? Warum dieser Antrag? Was soll die Bundesre-
gierung – Thomas Rachel hat ja schon gesprochen – auf
europäischer Ebene einbringen? Ich freue mich, dass wir
hier in einem großen Gleichklang arbeiten .

Beispiel „Europäischer Forschungsraum“. Es geht uns
darum, bei der weiteren Gestaltung des Europäischen
Forschungsraums sowohl die nationale wie auch die

gemeinsame europäische Roadmap zum Europäischen
Forschungsraum weiter konsequent umzusetzen und
miteinander zu verzahnen . Es geht darum, dass der Eu-
ropäische Forschungsraum zudem unverändert mitglied-
staatengetrieben und unter Berücksichtigung des Subsi-
diaritätsprinzips weiterentwickelt wird .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Vor allem soll die Bundesregierung dafür Sorge tragen,
dass die für das laufende EU-Rahmenprogramm „Hori-
zont 2020“ vorgesehenen Finanzmittel auch tatsächlich
in vollem Umfang für die bisher bestimmten Zwecke zur
Verfügung stehen .


(Beifall des Abg . René Röspel [SPD])


Bei der Ausrichtung des Nachfolgeprogramms von
„Horizont 2020“ – jetzt blicken wir in die Zukunft – sind
uns insbesondere folgende Punkte wichtig – jetzt möchte
ich doch, lieber Kollege René Röspel noch etwas zum
Antrag sagen –


(René Röspel [SPD]: Gerne! Ich habe darauf gehofft!)


– du hattest darauf gehofft, dass ich das mache; genau –:

Ganz wichtig ist für uns die finanzielle Ausstattung
des Nachfolgeprogramms, das ab 2021 laufen soll . Es
soll mindestens denselben Umfang haben wie der ur-
sprüngliche Haushaltsansatz für „Horizont 2020“, das
heißt ein Haushaltsansatz ohne die gegenüber der Aus-
gangsplanung faktischen Kürzungen der letzten Jahre .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg . René Röspel [SPD])


Die Exzellenz muss bei der Vergabe von Fördermit-
teln weiter höchste Priorität haben . Das haben alle Red-
ner hier noch einmal betont .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg . René Röspel [SPD])


Die Verbundforschung muss auch in Zukunft Kern der
europäischen Forschungsförderung bleiben . René Röspel
hat ausgeführt, was das heißt . Die Verbundforschung er-
möglicht seit vielen Jahren erfolgreich grenzüberschrei-
tende Zusammenarbeit der besten Forschungsakteure aus
öffentlichem und privatem Sektor und bietet auch den
KMU einen Einstieg in europäische Kooperationsnetz-
werke . Deshalb ist dieses Instrument gerade für Deutsch-
land so wichtig .


(Beifall des Abg . René Röspel [SPD])


Außerdem schafft es für Europa einen Mehrwert, um den
es uns gerade bei der europäischen Forschungsförderung
immer wieder geht und der sich auch in den letzten Jah-
ren gerade im Bereich der Verbundforschung bestätigt
hat .

Noch ein Punkt, der uns sehr wichtig ist: Die zuwen-
dungsbasierte Forschungs- und Innovationsförderung
darf nicht weiter durch Kreditfinanzierungen ersetzt wer-
den .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg . Bernhard Kaster [CDU/CSU])


Dr. Stefan Kaufmann

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 2016 21101


(A) (C)



(B) (D)


Ich sage es an dieser Stelle noch einmal deutlich: Wir
halten den EFSI in seiner bestehenden Form nach wie
vor für keine besonders gute Idee .

Gleichzeitig müssen wir die Rahmenbedingungen für
den Wagniskapitalmarkt in Europa und vor allem den
Zugang von Start-ups und innovativen KMU zu Wagnis-
kapital weiter verbessern . Da hat Europa noch eine große
Herausforderung zu bewältigen .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir fordern darüber hinaus als weitere Leitmotive des
künftigen Programms Mut zur Prioritätensetzung, das
heißt auch zur Bildung kritischer Massen bei gleichzeiti-
ger Flexibilität in den Forschungsbereichen . Wir fordern
Klarheit der Struktur, vor allem Transparenz . Wir fordern
eine Kontinuität bei den bestehenden Instrumenten, und
wir fordern – ganz wichtig für die Antragstellung – eine
konsequente Fortführung der Bemühungen um die Ver-
einfachung bei der Antragstellung .

Es wurde bereits gesagt: Der Europäische Forschungs-
rat als Flaggschiff der europäischen Spitzenforschung
muss auch in der künftigen EU-Forschungsförderung
eine herausgehobene Stellung einnehmen . Wir wol-
len ihn weiter stärken . Ich bin dafür dankbar – Thomas
Rachel hat dazu einige Zahlen genannt –, wie Deutsch-
land von diesem Instrument profitiert.

Ich möchte noch etwas zu dem sehr wichtigen Punkt
„Innovationskluft in Europa“ sagen – Thomas Rachel hat
es angesprochen –: Vor dem Hintergrund der anhaltend
großen Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten bei
der Beteiligung und erfolgreichen Einwerbung von For-
schungsmitteln sollte das durch „Horizont 2020“ neu ein-
geführte Förderformat „Verbreitung von Exzellenz und
Ausweitung der Beteiligung“ – so heißt es dort –, das wir
unter anderem mit Teaming- und Twinning-Maßnahmen
auf den Weg gebracht haben und das der Verringerung
der Forschungsinnovationskluft in Europa dienen soll,
spürbar ausgeweitet werden und – das ist eine neue Idee,
die ich eingebracht habe – als Querschnittsmaßnahme in
allen Programmlinien etabliert werden,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


sozusagen als ein Mainstreaming über alle Programmli-
nien hinweg .


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie hilft das jetzt Rumänien und Griechenland konkret?)


Dieser Vorschlag wurde im Übrigen auf der Konferenz
im Oktober dieses Jahres in Berlin, von der Thomas
Rachel vorhin berichtet hat, insbesondere von den osteu-
ropäischen Partnern begrüßt .

Das künftige Forschungsrahmenprogramm muss wei-
terhin ausschließlich für zivile Zwecke und Anwendun-
gen gelten. Deshalb – das ist auch unsere Auffassung;
hier sind wir d’accord mit dem Ministerium – muss ein
künftiges europäisches Programm zur Verteidigungsfor-

schung separat vom Forschungsrahmenprogramm eta-
bliert werden .


(Beifall des Abg . René Röspel [SPD] – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn man es überhaupt braucht!)


Ein letzter Punkt: Um das Potenzial und die Chancen
der Digitalisierung in Wissenschaft und Forschung opti-
mal nutzen zu können, unterstützen wir den Aufbau ei-
ner European-Open-Science-Cloud auf Basis der von der
Europäischen Kommission aus unserer Sicht zu Recht
vorgeschlagenen europäischen Cloudinitiative . Das ist
aus unserer Sicht ein guter und richtiger Ansatz .

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, wir, die Unionsfraktion, sind der festen Über-
zeugung, dass Europas Zukunft maßgeblich davon ab-
hängen wird, dass Forschung und Innovation eine wich-
tige Rolle spielen; das wurde schon mehrfach betont . Nur
so kann auch in Zukunft wirtschaftliches Wachstum ge-
neriert werden . Nur mit größtmöglicher Innovationskraft
werden wir die Herausforderungen des 21 . Jahrhunderts
für die Menschen bewältigen . Kai Gehring und andere
Redner vor mir haben ja schon einige Aufgaben benannt .
In der Hoffnung, dass diese Erkenntnis dazu beitragen
wird, den europäischen Gedanken weiterzutragen und
das Projekt „Europäische Union“ langfristig zu einem
Erfolgsmodell zu machen, werden wir unseren heutigen
Beschluss, so wir ihn nachher fassen werden, zeitnah
dem zuständigen EU-Forschungskommissar in Brüssel
zur Kenntnis bringen und damit diese Position des Deut-
schen Bundestages dort auch verankern .

Ich danke allen Beteiligten für die gute Zusammenar-
beit und darf Ihnen allen frohe Weihnachten und einen
guten Start ins neue Jahr wünschen . Ich freue mich auf
die weitere Zusammenarbeit in 2017 .

Danke sehr .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1821010800

Das Wort hat die Kollegin Elfi Scho-Antwerpes für

die SPD-Fraktion .


(Beifall bei der SPD)



Elfi Scho-Antwerpes (SPD):
Rede ID: ID1821010900

Danke schön . – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Lie-

be Gäste auf den Tribünen! Liebe Kollegen und Kolle-
ginnen! Europa ist immer noch da, und das, obwohl der
Begriff „Krise“ seit Jahren gleichsam omnipräsent, ja,
sogar inflationär, durch die Gazetten geistert: Finanzkri-
se, Wirtschaftskrise, Flüchtlingskrise, Krise der Demo-
kratie usw . – Der Rechtspopulismus wird stärker und
fängt Menschen ein . Was der Brexit und Herr Trump für
Europa bedeuten, ist noch unklar . Die Bedrohung durch
Terror und Krieg, die uns so nahe gekommen ist wie seit
Jahrzehnten nicht mehr, bedarf hier keiner weiteren Er-
klärung .

Das Europa, das ich mir vorstelle, ist allerdings keines
der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen oder politischen

Dr. Stefan Kaufmann

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 201621102


(A) (C)



(B) (D)


Störungen . Mein Europa ist immer eine Chance gewesen
und muss es bleiben . Frieden, Freiheit, Wohlstand und
Sicherheit statt Krieg und Krise –


(Beifall bei der SPD)


die EU bleibt für diese Ziele der allerbeste Weg .

Wir müssen nachhaltige europäische Antworten auf
die zahlreichen gesellschaftspolitischen Herausforderun-
gen finden. Wie wollen wir in Zukunft leben? Wie verän-
dert sich die Art, wie wir arbeiten? Woher kommt unsere
Energie? Was ist mit unserer Gesundheit, mit unserer
Umwelt, mit unserer Sicherheit, mit unserer Mobilität,
mit unserer Ernährung?

Forschung und Innovation sind die Schlüssel, die uns
die Tür zu einer guten und friedlichen Zukunft öffnen
werden .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich möchte noch einen Begriff hinzufügen, der imma-
nent ist: Bildung . Von der Kita bis zu hochspezialisierten
Forschungseinrichtungen müssen wir höchste Standards
setzen . Leider verlieren wir uns dabei immer noch zu
oft im Klein-Klein irgendwelcher Zuständigkeitsfragen,
wodurch wir viele Möglichkeiten schon im Ansatz ersti-
cken. Ich finde das bisweilen unerträglich und rückwärts-
gewandt .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Heute geht es um die Chancen . Mit Blick auf eine eu-
ropäische Forschungs- und Innovationspolitik sind wir
mit „Horizont 2020“ auf einem sehr guten Weg; Herr
Kaufmann hat das eben schon gesagt . Wir sind dabei,
den Europäischen Forschungsraum zu etablieren und
auszubauen, in dem wir von den Stärken der Europäi-
schen Union profitieren. Das Programm zeigt, wie gut
Europa zusammenarbeiten kann . Wir wirken als gemein-
samer Innovationstreiber und setzen dank der Forschung
unserer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler maß-
gebliche Impulse für unsere gemeinsame Zukunft . Da-
ran lässt sich mit einem sinnvoll ausgestalteten Nachfol-
geprogramm wunderbar anknüpfen . Lassen Sie uns das
kraftvoll tun; es lohnt sich .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Für die Entwicklung zukunftsfester Produkte und
Dienstleistungen ist es notwendig, Innovationsprozesse
zu öffnen und gleichzeitig regulatorische Innovations-
hemmnisse abzubauen . Das ist wichtig . Bei allem Lob
über unsere qualitativ hochwertige Forschung ist zu
konstatieren, dass wir bei der Etablierung entsprechen-
der Innovationen international nicht an der Spitze sind .
Hier gilt es, zukünftig besser zu werden, etwa über eine
Erweiterung des Risikokapitalangebots für Start-ups und
innovative Unternehmen . In diesen Zusammenhang ge-
hört auch die Förderung exzellenter kleiner und mittel-
ständischer Unternehmen, die wir nicht aus dem Blick
verlieren dürfen .

Im Sinne einer europäischen Open-Science-Strategie
ist der Zugang zu erstklassigen Dateninfrastrukturen
und sicheren Cloud-basierten Diensten zu gewährleis-
ten . Das bildet eine entscheidende Grundlage für den

wissenschaftlichen Erfolg . Dass das unter den höchsten
Datenschutz- und Sicherheitsstandards zu geschehen hat,
ist selbstverständlich .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Um Wissenschaft möglichst offen, nachvollziehbar
und nutzbar zu gestalten, bedarf es neben einer aufzubau-
enden European Open Science Cloud auch vernünftiger
Open-Access-Möglichkeiten . Nur über einen möglichst
ungehinderten Transfer von Forschungsergebnissen und
den offenen Zugang zu Publikationen lassen sich Innova-
tionen generieren . Wer das nicht versteht, darf sich inter-
national hinten anstellen .


(Beifall bei der SPD)


Es gilt also, den Antrag gut zu lesen und das mitzuneh-
men, was uns allen wichtig erscheint .

Ich danke sehr herzlich fürs Zuhören, bedanke mich
für die gute Zusammenarbeit, was diesen Antrag angeht,
auch bei der Regierung, und wünsche allen eine friedli-
che, innovative und gemütliche Weihnachtszeit . Auf dass
wir alle uns mit Kraft und gesund hier wiedersehen!


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Darf ich noch kurz etwas sagen, Frau Präsidentin?


(Heiterkeit)


Es werden, glaube ich, alle zustimmen: All denen, die
hinter uns ihren Dienst tun – Sie wissen, wen ich mei-
ne –, gebührt einmal, wie ich finde, ein Riesenapplaus.

Vielen Dank .


(Beifall – Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Davor auch!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1821011000

Herzlichen Dank . – Ich bitte alle nachfolgenden

Rednerinnen und Redner trotzdem, die guten Wünsche
möglichst nicht in die Zeit nach Ablauf der Redezeit zu
verlegen, sondern zu versuchen, das in der verabredeten
Redezeit zu schaffen.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war eine wunderbar unkonventionelle Lösung!)


Ich schließe die Aussprache .

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksa-
che 18/10635 mit dem Titel „Starke Forschung und In-
novation für Europas Zukunft“. Wer stimmt für diesen
Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
Der Antrag ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion
und der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktionen Die
Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen .

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 32 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Innenausschusses (4 . Ausschuss)


Elfi Scho-Antwerpes

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 2016 21103


(A) (C)



(B) (D)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke,
Sevim Dağdelen, Frank Tempel, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE

Abschiebestopp und Schutz für Flüchtlinge
aus Afghanistan

– zu dem Antrag der Abgeordneten Luise
Amtsberg, Omid Nouripour, Tom Koenigs,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Schutz für Flüchtlinge aus Afghanistan

Drucksachen 18/6869, 18/6774, 18/7974

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-
nen Widerspruch . Dann ist es so beschlossen .

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Stephan Mayer für die CDU/CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1821011100

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kol-

leginnen! Sehr geehrte Kollegen! Meine sehr verehrten
Kollegen von der Opposition, Sie werden überrascht
sein, aber ich bin Ihnen wirklich dankbar, dass Sie die
beiden Anträge gestellt haben, die heute zur Debatte ste-
hen . Diese Debatte gibt uns die Gelegenheit, manches
zurechtzurücken, was aus meiner Sicht in den letzten
beiden Tagen vollkommen fehl dargestellt wurde . Es gibt
uns auch die Gelegenheit, damit aufzuräumen, dass Sie
einen Umstand skandalisieren, nämlich die Sammelab-
schiebung, die am Mittwoch stattgefunden hat, die über-
haupt kein Skandal ist .


(Beifall bei der CDU/CSU – Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Ach nee!)


Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, der
eigentliche Skandal liegt in anderen Dingen . Schauen Sie
sich in Berlin um . Schauen Sie sich den neuen Koaliti-
onsvertrag der rot-rot-grünen Landesregierung an .


(Dr . Eva Högl [SPD]: Ja, der ist super!)


Hier setzt sich die Landesregierung ganz klar dafür ein,
Abschiebegewahrsam, Abschiebehaft auf die Bundes-
ebene zu schieben, obwohl es täglich vorkommt, dass
abzuschiebende Personen sich verflüchtigen und am Tag
der Abschiebung nicht aufzufinden sind. Sie haben nach
wie vor in Berlin über 3 000 Flüchtlinge in Schulturn-
hallen untergebracht . Damit ist es Kindern und Jugend-
lichen nach wie vor nicht möglich, dem Sportunterricht
nachzugehen . Hier wäre Handlungsbedarf gegeben . Das
ist der eigentliche Skandal, meine sehr verehrten Kolle-
ginnen und Kollegen .


(Beifall bei der CDU/CSU – Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Thema!)


Abschiebungen sind ein wesentlicher Bestandteil ei-
ner konsequenten Durchführung des Asyl- und Flücht-
lingsrechts .


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Christdemokraten kurz vor Weihnachten! – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Sozialsenator war für die Unterbringung zuständig!)


Die Rechtsfolge kann doch nicht die gleiche sein, Frau
Kollegin Künast . Gerade Sie als Vorsitzende des Rechts-
ausschusses müssten doch ein Interesse daran haben,


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und wie!)


dass es eine unterschiedliche Behandlung der Personen
gibt, die ausreisepflichtig sind, gegenüber den Personen,
die ein Bleiberecht haben . Es kann doch nicht sein, dass
Personengruppen in der Rechtsfolge gleichbehandelt
werden, unabhängig davon, ob sie als Flüchtlinge aner-
kannt werden oder nicht .


(Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die werden nicht gleichbehandelt!)


Das ist der entscheidende Punkt . Deswegen gehört die
Ausreise derer, die ausreisepflichtig sind, die kein Blei-
berecht bekommen, zum Gesamtpaket des Asylrechts .
Ich möchte einem deutlich entgegentreten, weil vonsei-
ten der Opposition in den letzten beiden Tagen immer
wieder der Vorwurf insinuiert wurde, Deutschland wäre
herzlos, Deutschland wäre inhuman,


(Beifall der Abg . Ulla Jelpke [DIE LINKE])


wenn diese Sammelabschiebung stattfindet.

Ich möchte ohne Überhebung ganz klar sagen:


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Weihnachten!)


Bei der Flüchtlingskrise hat sich neben Schweden kein
Land in den letzten 15 Monaten so humanitär gezeigt wie
Deutschland .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Deswegen ist dieser Vorwurf vollkommen verfehlt . Es
muss dazugehören, dass wir uns offen gegenüber den-
jenigen zeigen, die schutzbedürftig sind, die Verfolgung
erlitten haben, die malträtiert wurden, die geknechtet
wurden, die vergewaltigt wurden . Gegenüber denjenigen
muss Deutschland immer offen und aufgeschlossen sein.
Aber zum Gesamtkonzept gehört auch, dass diejenigen,
die kein Bleiberecht haben, unser Land konsequent ver-
lassen müssen .


(Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zum Thema, Herr Mayer! Afghanistan!)


Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, der-
zeit befinden sich ungefähr 250 000 afghanische Flücht-
linge in Deutschland . Afghanistan steht nach wie vor auf
Platz zwei der Herkunftsländer . Im Jahr 2015 sind über
32 000 Asylanträge von afghanischen Staatsangehörigen

Vizepräsidentin Petra Pau

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 201621104


(A) (C)



(B) (D)


gestellt worden . Allein in diesem Jahr sind es bislang
über 115 000 . Die Anerkennungsquote liegt derzeit bei
rund 50 Prozent . Das bedeutet, dass ungefähr die Hälfte
der afghanischen Antragsteller abgelehnt wird .


(Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, das ist politisch gewollt!)


Ihnen wird also weder ein Flüchtlingsstatus zuerkannt
noch der Status des Asylbewerbers .

Wir haben derzeit über 12 500 ausreisepflichtige Af-
ghanen in Deutschland. Ich finde es deshalb sehr kon-
sequent und ich bin der Bundesregierung und vor allem
dem Bundesinnenminister sehr dankbar, dass in den
letzten Monaten sehr massiv die freiwillige Ausreise ge-
fördert wurde . Es haben – das ist in der Debatte bislang
leider untergegangen – allein schon in diesem Jahr über
3 200 freiwillige Ausreisen von afghanischen Staatsan-
gehörigen in ihr Heimatland stattgefunden . Das bedeu-
tet eine Verzehnfachung der freiwilligen Ausreisen im
Vergleich zum Jahr 2015 . Die Bundesregierung und die
Große Koalition unterstützen diese freiwilligen Ausrei-
sen richtigerweise .

Wir haben allein im Bundeshaushalt 2017 90 Mil-
lionen Euro zusätzlich für die Förderung der freiwilli-
gen Ausreise und vor allem auch für die Förderung der
Reintegration zur Verfügung gestellt . Es geht doch ganz
entscheidend darum, dass man den Heimreisenden die
Integration im Heimatland erleichtert . Dafür stellen wir
entsprechend Mittel zur Verfügung . Es wird bei freiwil-
liger Ausreise nicht nur die Heimreise bezahlt; es wer-
den auch 500 Euro pro Person für die Reintegration im
Heimatland zur Verfügung gestellt und Beihilfen für die
Reise innerhalb des Heimatlandes gewährt . Ich glaube,
Deutschland zeigt sich hier wirklich sehr human und
auch sehr unterstützend .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, nun
konkret zum angeblichen Skandal, der vorgestern stattge-
funden haben soll . Was ist passiert? Es sind 34 Personen
abgeschoben worden, davon 10 einschlägig vorbestrafte
Straftäter, die sich Delikte wie Totschlag, Vergewalti-
gung, Raub und Diebstahl schuldig gemacht haben . Ich
bin der Meinung, es ist gut, dass sie mittlerweile außer
Landes sind .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich möchte auch in aller Deutlichkeit sagen: Es ist bei
jedem Einzelnen der 34 eine umfangreiche Einzelfallprü-
fung durchgeführt worden,


(Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das glauben Sie doch selber nicht! Das kann ich Ihnen gleich erzählen!)


ob die Rückführung ins Heimatland zumutbar ist . Natür-
lich ist die Sicherheitslage in Afghanistan problematisch;
aber es gibt durchaus auch Gegenden und Städte, in de-
nen man mittlerweile wieder gefahrlos und sicher leben
kann .

Ich möchte hier für die CDU/CSU-Fraktion ganz deut-
lich sagen: Wir unterstützen unseren Bundesinnenminis-
ter Thomas de Maizière weiterhin nachdrücklich in dem
Bestreben, dass nach dem Sammelflug vom Mittwoch im
nächsten Jahr weitere Sammelrückführungen stattfinden
werden .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich bin auch dem Bundesinnenminister sehr dankbar,
dass er persönlich mit dazu beigetragen hat, dass ein
Rückführungsabkommen zwischen Deutschland und Af-
ghanistan zustande gekommen ist .

Abschließend geht mein klarer Appell an die Adresse
der Länder, sich intensiver zu beteiligen . Es haben nur
sechs Länder afghanische Staatsangehörige für diesen
Sammelflug vom vergangenen Mittwoch gemeldet. Wir
haben derzeit über 210 000 ausreisepflichtige Personen.
Die Befürchtung ist, dass diese Zahl deutlich ansteigt
und sich vielleicht bis zum Ende nächsten Jahres sogar
mehr als verdoppelt . Damit dies verhindert wird, müs-
sen Abschiebungen weiterhin konsequent durchgeführt
werden, weil damit auch der Anreiz reduziert wird, sich
weiterhin auf den gefahrvollen Weg nach Deutschland zu
machen, und – das ist für mich ein ganz entscheidender
Punkt – weil damit auch das Verständnis und die Akzep-
tanz in der deutschen Bevölkerung für unser Asylrecht,
das sehr human ist, wieder gestärkt werden .

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit .


(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1821011200

Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke für die Fraktion

Die Linke .


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1821011300

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr

Kollege Mayer, diese Abschiebung hier auch noch als
humanitär zu verkaufen, ist in menschenrechtlicher Hin-
sicht wirklich eine Grausamkeit –


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das sagen Sie!)


und das auch noch vor Weihnachten .


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es ist wirklich unerträglich .

Meine Damen und Herren, man muss sich das einfach
mal vorstellen: Nur einen Tag nach dieser Abschiebung
hat der Bundestag hier ein weiteres Mal den Kriegsein-
satz in Afghanistan verlängert . Das ist doch schon ein
Beweis dafür, dass die Lage in Afghanistan keineswegs
sicher ist .


(Beifall bei der LINKEN)


Zu den Abgeschobenen gehören auch Menschen, die
hier seit Jahren integriert waren . Familien und Arbeits-
plätze hatten sie hier . In Baden-Württemberg wurde bei-

Stephan Mayer (Altötting)


Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 2016 21105


(A) (C)



(B) (D)


spielsweise ein suizidgefährdeter Afghane aus der Psy-
chiatrie herausgeholt . In Hamburg wurde ein Hindu, dem
in Afghanistan schwere Verfolgung droht, abgeholt und
abgeschoben . Das alles zeigt, wie brutal und menschen-
feindlich diese Abschiebeaktion war .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Für uns ist ganz klar: Abschieben in Kriegsländer geht
gar nicht .


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg . Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Deswegen beantragen wir heute hier den Abschiebestopp
für Flüchtlinge aus Afghanistan .

Meine Damen und Herren insbesondere von der Uni-
on, Anfang März dieses Jahres hat die EU-Kommission
in einem internen Papier davon gesprochen, es gebe in
Afghanistan – ich zitiere – eine „sich verschlechternde
Sicherheitslage mit einem Rekordniveau terroristischer
Anschläge und ziviler Opfer . . . Ungeachtet hiervon müs-
sen möglicherweise über 80 000 Personen in der nahen
Zukunft zurückgebracht werden.“ Diese Absicht haben
Sie inzwischen übrigens in zwei Abkommen mit der af-
ghanischen Regierung festgehalten .

Meine Damen und Herren, ungeachtet der Kriegssitu-
ation Zehntausende Menschen abschieben zu wollen, das
ist wirklich ausgesprochen zynisch . Um die Abschiebung
zu legitimieren, redet die Bundesregierung ständig von
sicheren Gebieten, die es in Afghanistan angeblich geben
soll . Aber das ist nichts weiter als eine Lüge .


(Beifall bei der LINKEN)


Die Bundesregierung sollte auf ihre eigene Menschen-
rechtsbeauftragte hören, die nämlich auch sagt: Es gibt
dort keine sicheren Regionen . Interessant ist übrigens,
dass die Abschiebungen selbst in der AfD umstritten
sind. Hier will der Innenminister ganz offensichtlich die
Rechtspopulisten noch rechts überholen .


(Beifall bei der LINKEN – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Da zeigt sich wieder, wo ihr steht! Seite an Seite mit der AfD!)


In einer Antwort auf eine unserer Kleinen Anfragen ist
der Innenminister sogar so weit gegangen, die Taliban in
Afghanistan zu verharmlosen, indem man sie als Zeugen
anführt. Ich zitiere wieder: Die Taliban wollen „zivile
Opfer vermeiden“ und die „zivile Infrastruktur schonen“.
Die Bundesregierung macht die Taliban zu Kronzeugen
ihrer Abschiebepolitik . Da kann man nur sagen: Dafür
sollten Sie sich schämen. Ich finde es wirklich einen Rie-
senskandal .


(Beifall bei der LINKEN)


Um Sie noch eines Weiteren zu belehren: Im nichtöf-
fentlichen Lagebericht des Auswärtigen Amtes steht,


(Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Nichtöffentlich!)


die Taliban würden „ohne Rücksicht auf Zivilisten“ vor-
gehen; das ist wieder ein Zitat .


(Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: So viel zum Thema „nichtöffentlich“!)


Die UN-Mission in Afghanistan hat alleine im ersten
Halbjahr dieses Jahres 1 601 Opfer gezählt und 3 565 Ver-
letzte . 23 Prozent dieser Opfer – um Ihnen das einmal
deutlich zu sagen – sind durch afghanische Sicherheits-
kräfte und ihre Verbündeten verursacht; sie haben diese
Opfer zu verantworten . Über diese afghanischen Sicher-
heitskräfte ist im Lagebericht des Auswärtigen Amtes zu
lesen – ich zitiere wieder –: „In weiten Teilen Afghanis-
tans, vor allem in den Rängen von Armee und Polizei,
… ist der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugend-
lichen nach wie vor ein großes Problem.“ Den Tätern
fehlt jedes Unrechtsbewusstsein . – Trotzdem haben Sie
in dem Abkommen festgelegt, dass auch Minderjährige
abgeschoben werden . Sie wissen ganz genau, dass gerade
Minderjährige unter dem Zugriff der Warlords stehen, die
sie in der Vergangenheit zu Kriegsdiensten zwangsrekru-
tiert haben . In meinen Augen ist es einfach nur widerlich,
dass man so etwas in ein Abkommen hineinschreibt und
Jugendliche abschiebt .


(Beifall bei der LINKEN)


Interessant ist auch, dass die Anerkennungsquote
bei afghanischen Flüchtlingen im vergangenen Jahr bei
77,6 Prozent lag . Jetzt plötzlich liegt sie nur noch bei
50 Prozent . Das Bundesamt für Migration und Flüchtlin-
ge ist vom Bundesinnenministerium mit politischen Vor-
gaben belegt worden. Man will offensichtlich die Afgha-
nen abschrecken und daran hindern, hierherzukommen .
Auch das ist nicht hinnehmbar .


(Beifall bei der LINKEN)


Ich sage es zum Schluss noch einmal: Die Bundesre-
gierung muss endlich aufhören, mantraartig das Trugbild
von sicheren Zonen in Afghanistan zu beschwören . In
Afghanistan herrscht Krieg . Alle Kriegsparteien verursa-
chen Tausende von Toten . Man darf in dieses Land nicht
abschieben, und deswegen fordern wir den Abschie-
bestopp .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1821011400

Der Kollege Dr . Lars Castellucci hat für die SPD-Frak-

tion das Wort .


(Beifall bei der SPD)



Dr. Lars Castellucci (SPD):
Rede ID: ID1821011500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Als ich mich auf diesen Beitrag hier vorbereitet habe,
erklang aus den Tiefen des Paul-Löbe-Hauses „In dul-
ci jubilo, nun singet und seid froh“: das jährliche Ad-
ventssingen hier im Deutschen Bundestag . Was für ein
Kontrast! Ein Kontrast, der auch unsere Feiertage prägen
wird zwischen so viel Elend rings um uns herum und den
vielen Lichtern hier bei uns . Aber vielleicht – dafür ist

Ulla Jelpke

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 201621106


(A) (C)



(B) (D)


Kontrast dann gut – hilft er, unseren Blick zu schärfen,
zum Beispiel für die Situation in Afghanistan .

Ist Afghanistan denn sicher genug, um Menschen, die
hier kein Bleiberecht haben, dorthin abzuschieben? Das
ist die Frage, über die wir streiten . Das Auswärtige Amt
sagt, dass sich die Bedrohungslage für Zivilisten nicht
wesentlich verändert habe . William Swing, Direktor der
Internationalen Organisation für Migration – das ist eine
vernünftige Organisation, die jetzt nicht gekauft oder
schlecht beraten ist –, sagt, in einigen Regionen in Afgha-
nistan sei es ausreichend sicher . Martin Bröckelmann-
Simon von Misereor sagt, das sei ein Mythos . Er hält es
für unmenschlich, die Menschen dorthin zurückzuschi-
cken . Ähnlich äußern sich alle Hilfsorganisationen hier
im Land, allen voran und sehr kenntnisreich Pro Asyl .

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir brau-
chen aber nicht länger zu spekulieren, ob Afghanistan
denn nun sicher sei; denn am Mittwoch haben wir eine
Art Feldversuch gestartet .


(Dr . André Hahn [DIE LINKE]: Feldversuch mit Menschen!)


34 Menschen wurden ausgeflogen. Wir werden dies bald
einfach nachvollziehen können anhand der Frage: Wie
viele von ihnen leben noch nach einem halben Jahr oder
vielleicht nach einem Jahr? Dann können wir kalt be-
rechnen: Afghanistan ist zu 80 Prozent sicher, vielleicht
auch nur zu 60 Prozent, vielleicht auch zu 90 Prozent .
Der Rest hat jedenfalls Pech . Ich bitte Sie, Herr Innen-
minister, dass Sie uns über diese Zahlen entsprechend
unterrichten .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Solche Sätze müssten einem eigentlich im Hals ste-
cken bleiben . Aber mir ging es genau umgekehrt bei der
Vorbereitung auf diese Rede . Es ist die harte Wahrheit, so
wie ich sie sehe, und die muss raus .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir schicken sie zurück in ein Leben, das ihnen vielleicht
gelingt oder misslingt und das ihnen vielleicht genom-
men wird . So einfach ist das – jedenfalls für uns, die zu-
rückbleiben .

Ich habe einmal gesagt: Leben zu schützen, ist die
erste Aufgabe, die sich uns stellt . – Wenn Europa eine
Wertegemeinschaft sein will, dann ist Leben schützen der
erste Wert .


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Das ist eine Maxime politischen Handelns . Ich habe
erhebliche Zweifel, ob wir ihr mit dem, was wir diese
Woche veranstaltet haben, gerecht werden . Die Sammel-
abschiebung vom Mittwoch halte ich für hochproblema-

tisch . Läge die Entscheidung darüber in meiner Verant-
wortung, hätte ich sie nicht veranlasst .


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Oppositi-
on, bevor Sie jetzt denken, es gehe alles in Ihrem Sinne
so weiter,


(Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, das haben wir nicht gedacht!)


möchte ich mich an Sie wenden; denn auch Sie machen
es sich zu einfach .

Zunächst einmal zu Ihnen von der Linken . Gestern
haben Sie dagegengestimmt, als wir einen Antrag einge-
bracht haben, mit dem wir versuchen, für mehr Sicher-
heit in Afghanistan zu sorgen . Heute sagen Sie, in Afgha-
nistan gebe es keine Sicherheit .


(Dr . André Hahn [DIE LINKE]: Es klappt ja nicht!)


Mit dieser Art von Logik sind Sie kurz davor, zum Arzt
zu müssen .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren von den Grünen, Sie sa-
gen – das ist Ihre Forderung –: Abschiebungsstopp und
fertig. Unter den Abgeschobenen befinden sich aber auch
Geflüchtete aus Baden-Württemberg. Ich frage Sie jetzt
einmal: Was sagt eigentlich Ihr Ministerpräsident dazu


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hat das zum Teil gestoppt!)


oder gar Herr Palmer? Oder ist der schon zur AfD ge-
wechselt?


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Der ist Realist!)


Sie können hier leicht Anträge stellen; denn Sie sind
nicht in der Verantwortung . Der entscheidende Punkt ist:
Da, wo Sie in der Verantwortung sind, ergibt sich plötz-
lich ein gemischtes Bild, kein bloßes Schwarz-Weiß .


(Beifall bei der SPD sowie des Abg . Heinz Wiese [Ehingen] [CDU/CSU] – Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind doch auch in der Verantwortung!)


Das mag Sie jetzt empören, aber es ist nur der Spiegel,
den ich Ihnen vorhalte .


(Dr . Thomas de Maizière, Bundesminister: Und jetzt noch zu NRW!)


Es gibt eine zweite Sache, die Europa ausmacht und
die durch die globale Flüchtlingskrise herausgefordert
wird . Globale Flüchtlingskrise heißt für mich: 65 Millio-
nen Menschen sind weltweit auf der Flucht . Die wenigs-
ten schaffen es überhaupt, bis nach Europa zu kommen.
Das, was herausgefordert wird, ist dieses: Europa ist ein
Kontinent, auf dem die Stärke des Rechts zählt, nicht das
Recht des Stärkeren . Das ist ein Prinzip, das unseren so-
zialen Frieden sichern soll .

Dr. Lars Castellucci

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 2016 21107


(A) (C)



(B) (D)


Hier komme ich dann zu ein paar Punkten, die durch-
aus dem entsprechen, was Herr Mayer hier vorgetragen
hat .


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie mal was zu Nordrhein-Westfalen!)


Die Menschen in unserem Land haben manchmal den
Eindruck, es gehe nicht überall mit rechten Dingen zu .
Im vergangenen Jahr sind Hunderttausende über die
Grenze gekommen, ohne registriert zu werden . Diejeni-
gen, die es bis zu uns schaffen, sind die vergleichsweise
Starken, diejenigen, die gesund genug sind, sich auf den
Weg zu machen, die das Geld haben, um die Schleuser
zu bezahlen. Arme, Kranke oder Behinderte finden sich
selten in unseren Unterkünften . Ist das gerecht?

Ja, es stimmt auch: Wir halten unser Asylrecht hoch,
aber es befinden sich viele in unserem Land, die kein
Bleiberecht haben, und nichts passiert .

Ich halte es für völlig in Ordnung, dass da Fragen auf-
kommen . Der Rechtsstaat ist wie die Politik auf Vertrau-
en angewiesen . Deswegen haben wir nur zwei Möglich-
keiten: Die eine ist, das Recht, das wir uns gesetzt haben,
konsequent anzuwenden . Die andere ist, es zu verändern .
Recht einfach nicht anzuwenden oder auszusetzen, so
wie Sie das vorschlagen, ist jedenfalls alleine keine trag-
fähige Lösung .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zum Recht – da gehe ich etwas weiter als Sie, Herr
Mayer –: Das Recht bezieht sich nicht nur auf unsere
Gesetze, sondern eben auch auf die Verfahren . Auf diese
blicke ich durchaus kritisch . Das ist für mich kurzfristig
das Wichtigste . Im Asylverfahren prüft das Bundesamt
für Migration und Flüchtlinge, wer schutzbedürftig ist .
Bei den Afghaninnen und Afghanen – wir haben es ge-
hört – liegt die Zahl im Moment bei 55 Prozent . Vor einer
Abschiebung prüft dann noch einmal die Ausländerbe-
hörde, ob es Abschiebungshindernisse gibt . Erst dann
kann vollzogen werden .

Das Augenmerk unserer Politik muss vor allem darauf
liegen, dass diese Verfahren ordentlich laufen . Ich frage
mich, ob sie das tun . Jetzt schauen wir noch einmal auf
die Nachrichtenlage nach dem vergangenen Mittwoch .
Die entscheidende Tickermeldung war nicht, dass je-
mand abgeschoben wurde, sondern dass das Bundesver-
fassungsgericht entschieden hatte, dass in letzter Sekun-
de jemand aus dem Flieger geholt wurde .


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Nicht nur einer!)


Ich muss hierzu anmerken: Man kann jetzt sagen, dass
der Rechtsstaat funktioniert . Eine Rettung in letzter Se-
kunde mag ich beim Krimi am Samstagabend vielleicht
ganz gerne, aber bei einem Rechtsstaat ist das nicht mein
Maßstab .


(Beifall der Abg . Ulla Jelpke [DIE LINKE] – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber Rechtsstaat!)


Ich finde, dass so eine Last-minute-Aktion ein Licht
darauf wirft, dass wir ein Problem haben und die Ver-
fahren im Vorfeld wahrscheinlich nicht ordentlich abge-
laufen sind . Wir sollten uns aus meiner Sicht an ande-
ren Ländern ein Beispiel nehmen, die eine ordentliche
Rechtsberatung für die Geflüchteten direkt in die Verfah-
ren integrieren. Das schafft Rechtssicherheit für alle Be-
teiligten und sorgt dafür, dass solche Vorkommnisse wie
das am Mittwoch eben nicht passieren .

Nachts um 2 .36 Uhr habe ich eine E-Mail bekommen,
in der es darum ging, dass ein Afghane im Flieger sei, der
zum Christentum konvertiert sei . Ihm drohe Unheil in
Afghanistan . Ich als Abgeordneter kann das nicht über-
prüfen . Ich kann auch nicht überprüfen, wie ernst er es
mit seiner Konversion meint . Das sind hier gar nicht die
Themen . Aber Fakt ist: Solche Punkte müssen doch ge-
klärt sein, bevor jemand in solch einen Flieger kommt,
und nicht erst an dem Tag oder in den Wochen danach,
nachdem man ihn wieder herausgeholt hat .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das müssen Sie der CDU sagen!)


Fakt ist: Der junge Mann ist nicht mitgeflogen. Er wurde
aus dem Flieger geholt, und alle 34 anderen haben sich
gewundert, was mit dem ist und was mit ihnen nicht ist .
Ich finde, da muss man hinschauen. Die Verfahren sind
so nicht in Ordnung .


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das ist ein unterirdischer Beitrag! Dann klagen Sie mal gegen die Verfahren!)


Ich finde, auch unsere Menschenrechtsbeauftragte hat
recht, dass es nicht sein kann, dass es auf das Bundesland
ankommt, in dem man lebt, ob man nun abgeschoben
werden kann oder nicht . Das Recht muss doch für alle
gleich gelten .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Genau! Das geht nach Berlin!)


Wir haben in den vergangenen Monaten – das ist mir
jetzt sehr wichtig, weil es mir nicht um Schelte für das
Bundesamt geht – einen immensen Druck auf das Bun-
desamt ausgeübt . Die Verfahren sollen schneller laufen .
Die Zahl der Mitarbeiter wurde mehr als verdoppelt . Das
war richtig so . Aber jetzt müssen wir auf die Qualität der
Arbeit achten und die Qualität der Arbeit sichern . Denn
ordentliche Verfahren sind die Basis . Das sage ich an
alle Abschiebungsfetischisten, die es in unserem Land
gibt: Wenn Sie Härte beweisen wollen, dann gehen Sie
die Verfahren mit Härte an, und sorgen Sie für Qualität .
Denn das ist das eigentlich Wichtige .


(Beifall des Abg . Frank Tempel [DIE LINKE])


Im Übrigen will ich Ihnen sagen, Frau Jelpke: Ich
glaube nicht an eine Weisung des Innenministers Rich-
tung Bundesamt, aber ich glaube, dass wir ein Sorgfalts-
problem haben . Diesem Sorgfaltsproblem müssen wir
uns stellen .

Dr. Lars Castellucci

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 201621108


(A) (C)



(B) (D)


Ein weiterer Punkt sind die innerstaatlichen Fluchtal-
ternativen . Wenn man das, was wir von Ihnen hören, zu
Ende denkt, dann heißt das, dass wir Menschen gar nicht
in Gebiete zurückschicken können, in denen Sicherheit
gewährleistet ist. Ich bin der Auffassung, dass wir Men-
schen zunächst einmal helfen müssen, aus Bombenhagel
und Terror zu fliehen. Wir müssen ihnen dann helfen,
dort, wo sie hingeflohen sind, unterzukommen, überle-
ben zu können und Perspektiven zu haben . Besonders
Schutzbedürftigen muss man auch legale und sichere
Wege auf Basis von Kontingenten raus aus diesen Kri-
sengebieten eröffnen.

Wenn Schutz und Lebensperspektiven in den Lagern
in den angrenzenden Ländern gewährleistet sind – das
war mein zweiter Punkt –, müssen wir dafür sorgen, dass
es innerstaatliche Fluchtalternativen für die Menschen
gibt, also dass die Länder sicherer werden . Das Gegen-
teil wäre doch, dass wir die Länder einfach sich selbst
überlassen .

Deswegen will ich auch positiv hervorheben: Alles,
was wir an Hilfe und Zusammenarbeit mit Herkunfts-
ländern, Transitländern und Aufnahmeländern bereits
leisten, ist gut . Ich bin froh darüber, aber natürlich wäre
mehr besser .

Zu den Straftätern möchte ich abschließend etwas
sagen . Unter den Abgeschobenen haben sich Straftäter
befunden; das ist erwähnt worden . Ich mag Straftäter
auch nicht . Aber ich will an dieser Stelle auch klar sagen:
Straftaten müssen Aufklärung, gerichtliche Verfahren
und Sanktionen zur Folge haben . Straftaten sind niemals
ein Grund dafür, jemanden in den Bombenhagel, zu Ter-
roristen oder Folterdrohungen zurückzuschicken .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Nach internationaler Konvention verboten!)


In neun Tagen wird das „In dulci jubilo“ wieder er-
klingen . Vielleicht spiele ich es sogar selber, weil ich in
meiner Heimatgemeinde an der Orgel sitzen werde .


(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)


Dann liegt das Kind wieder in der Krippe . Die Heiligen
Drei Könige schaffen es in diesem Jahr leider nicht über
Bomben, Mauern und Zäune hinweg . Und wenn die Hei-
lige Familie fliehen muss, nach Ägypten und dann viel-
leicht weiter nach Libyen, wird sie keine Sicherheit fin-
den . Vielleicht wird sie versuchen, über das Mittelmeer
zu kommen . Die Fortsetzung der Geschichte überlasse
ich Ihnen .

Ich wünsche Ihnen frohe Weihnachten und, ja: Friede
auf Erden .


(Beifall bei der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1821011600

Das Wort hat die Kollegin Luise Amtsberg für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .


Luise Amtsberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1821011700

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-

legen! Lieber Herr Castellucci, auf die Verantwortung der
Grünen in den Ländern komme ich in meiner Rede auf
jeden Fall noch zu sprechen . Aber eins muss ich schon
sagen: Wenn Sie auf den grünen Ministerpräsidenten in
Baden-Württemberg rekurrieren, dann müssen Sie das
auch in Bezug auf den Innenminister des Landes NRW
tun, der aus Ihrer Partei kommt,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Mahmut Özdemir [Duisburg] [SPD]: Das ist kein Selbstgerechtigkeitswettbewerb hier!)


und im Übrigen auch auf die Politik, die diese Bundesre-
gierung im Asylbereich macht . Da reicht es eben nicht –
auch wenn ich Sie sehr schätze –, wenn von Ihrer Seite
schöne Reden gehalten werden .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Aber zum Thema . Es ist schon abenteuerlich, dass die-
ses Parlament gestern mit Verweis auf die Sicherheitsla-
ge in Afghanistan ein Bundeswehrmandat verlängert hat
und wir heute hier erleben müssen, wie vor allen Dingen
von Innenpolitikern der Union versucht wird, den Popanz
vom sicheren Afghanistan aufrechtzuerhalten . Da besteht
ein Widerspruch, und den muss man hier klar benennen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, der UNHCR ver-
deutlicht immer wieder die ständig wachsende Zahl zi-
viler Opfer, den massiven Einfluss der Taliban in weiten
Teilen des Landes und die zunehmenden Agitationen
durch den IS . Zu Recht rät das Auswärtige Amt von Rei-
sen nach Afghanistan ab und warnt vor Entführungen,
vor Terroranschlägen, vor Gewaltakten . Von den angeb-
lich sicheren Gebieten, die der Bundesinnenminister uns
auch auf wiederholte Nachfrage nicht benennen kann, ist
in der Einschätzung des Auswärtigen Amts, unserer Bun-
deswehr und im Übrigen auch der Vereinten Nationen
nichts zu lesen und zu hören .

Auch wenn die Lage nicht überall gleich gefährlich ist,
ist erst einmal festzuhalten, dass ganz Afghanistan vola-
til ist, überall eine fragile Situation herrscht und sich die
Situation jeden Tag, und zwar überall, ändern kann . Das
gehört zu einer klugen Sicherheitseinschätzung dazu .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das Einzige, was in Afghanistan dieser Tage sicher ist,
ist das Risiko . Dieses in Kauf zu nehmen und in großem
Stil Abschiebungen durch die Bundesländer zu erzwin-
gen, ist der Inbegriff von Verantwortungslosigkeit; da-
hinter gehe ich keinen Meter zurück .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Im Übrigen ist es auch kalkuliert; das macht der Re-
debeitrag meines Kollegen Stephan Mayer sehr deutlich,
der überhaupt nicht auf die Sicherheitslage in Afghanis-
tan eingegangen ist, die wir zur Grundlage unseres An-
trages machen . Denn was der Bundesinnenminister und
auch die Hardliner seiner Partei wollen, ist, ein Exempel

Dr. Lars Castellucci

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 2016 21109


(A) (C)



(B) (D)


zu statuieren, ganz gleich, zu welchem menschenrecht-
lichen Preis . Der Ruf nach der verstärkten Abschiebung
von Afghanen, die große Lüge über angeblich eine halbe
Million ausreisepflichtiger Personen in Deutschland, die
es dringend abzuschieben gilt, all das ist Symbolpoli-
tik aus wahltaktischen Erwägungen, buchstäblich ohne
Rücksicht auf Verluste .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Thorsten Frei [CDU/ CSU]: Fakten sind das!)


Meine Fraktion nimmt die Sicherheitsbedenken der
Akteure vor Ort ernst . Wenn diese auch nur einen Zwei-
fel daran lassen, dass wir die Menschen in Sicherheit zu-
rückschicken, dann muss man klar und deutlich sagen:
Abschiebungen in dieses Land sind nicht vereinbar mit
unserem menschenrechtlichen Anspruch .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Der Bundesinnenminister hat sich gestern zu der Sam-
melabschiebung geäußert . Er hat die Abschiebung als
„richtig“, „verantwortungsvoll“ und „behutsam“ betitelt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich frage Sie allen Ernstes, ob wir von demselben Vor-
gang sprechen. „Verantwortungsvoll“: mit Blick auf die
Sicherheitslage in Afghanistan wohl kaum. „Behutsam“:
Ich frage Sie, Herr Innenminister: Ist es behutsam, Men-
schen ohne Ankündigung aus dem Berufsschulunterricht
zu reißen und sie unter Zwang nach Frankfurt zum Flie-
ger zu bringen? Ist es behutsam, alle 34 Menschen in die-
sem Flugzeug an Hand und Fuß gefesselt nach Afghanis-
tan zu fliegen?

Und „richtig“: Halten Sie es für richtig, dass ein Mann,
der seit 21 Jahren in Deutschland mit einer Duldung lebt
und ein drei Monate altes Kind hat, nachts um 2 Uhr
aus seiner Wohnung geholt und zum Flieger verbracht
wird? Halten Sie es für richtig, dass ein suizidgefährde-
ter Mann – das ist im Übrigen ein bayerischer Fall, kein
baden-württembergischer – aus der Psychiatrie abgeholt
und gefesselt zum Flughafen gebracht wird? Wir nicht .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Zum Glück wurden diese beiden Menschen in letzter
Sekunde unter großem Einsatz – unter anderem auch der
Grünen in den Ländern – durch Gerichte vor der Ab-
schiebung geschützt; aber diese Fälle stellen nicht die
einzigen Einzelfälle dar . Damit müssen wir uns ausein-
andersetzen .

Von der Abschiebung betroffen waren auch Min-
derheitenangehörige . Ein Hindu, der Familie hier in
Deutschland hat, wurde vorgestern Nacht abgeschoben .
Auf der Liste stand ein Mann, der sich hier in Deutsch-
land zum Christentum bekannt hat . Auch jemand, der
bereits die Einwilligung zur freiwilligen Ausreise unter-
schrieben hatte, wurde unter Zwang in diesen Flieger in
Frankfurt gesetzt .

Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Sammelab-
schiebung beklemmt und macht wütend . Viele dieser

Einzelfälle zeigen, dass die Ausländerbehörden dem
politischen Druck und der Hysterie, die innenpolitisch
betrieben wird, nachgegeben haben . Mit dieser vom
Bundesinnenminister initiierten Sammelabschiebung hat
sich keiner der politischen Akteure – das gilt es deutlich
zu sagen – mit Ruhm bekleckert . Aber dass sich die In-
tegrationsbeauftragte und die Beauftragte der Bundesre-
gierung für Menschenrechtspolitik im Nachhinein von
diesen Abschiebungen distanzieren, macht mich wirklich
fassungslos . Wir brauchen keine Regierungsbeauftrag-
ten, die eine rückschauende Analyse vornehmen . Wir er-
warten von ihnen, dass sie handeln, bevor der Flieger in
der Luft ist;


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Gelegenheit werden sie dazu bekommen, jetzt im Übri-
gen im Zweiwochentakt .

Ja, diese Erwartung kann die Zivilgesellschaft – zu
Recht – auch an die Grünen in den Ländern haben . Des-
halb fordern die Grünen in den Ländern, dass jeder dieser
Einzelfälle künftig auf ihrem Tisch landet und dass die
Innenminister der Länder eben nicht einfach schalten und
walten können, wie sie wollen, sondern dass über diese
Dinge gesprochen wird, damit klar ist, wer abgeschoben
werden soll, und damit es nicht erneut zu solch schlim-
men humanitären Situationen kommt . Dafür werden
auch wir als Bundestagsfraktion uns weiter einsetzen .

Vielleicht noch eine kleine Anmerkung zu den
3 000 Ausreisewilligen . Das, was dazu gesagt wurde, ist
natürlich richtig . Auch ich sage ganz deutlich: Jeder, der
sich zutraut, in sein Heimatland zurückzukehren – un-
ter dieser Bedingung –, muss unterstützt werden, mo-
ralisch und finanziell, muss begleitet werden und muss
die Chance haben, das zu tun, was er selber möchte –
selbstverständlich . Aber diese Fälle als Kronzeugen für
Abschiebungen, die unter Zwang stattfinden, zu nehmen,
halte ich für wirklich unanständig .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Denn es macht einen Unterschied, ob man in Hand- und
Fußfesseln und unter Begleitung der Bundespolizei am
Flughafen in Kabul abgeliefert wird oder ob man freiwil-
lig dorthin zurückreist .

Herzlichen Dank .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1821011800

Das Wort hat der Kollege Thorsten Frei für die CDU/

CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Thorsten Frei (CDU):
Rede ID: ID1821011900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir diskutieren über die Frage, ob es zumutbar, ange-
messen und richtig ist, abgelehnte afghanische Asylbe-
werber nach Afghanistan zurückzuführen . Wenn in der
Debatte der Eindruck erweckt wird, es handele sich bei

Luise Amtsberg

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 201621110


(A) (C)



(B) (D)


Afghanistan um einen sicheren Herkunftsstaat, dann ist
das nicht zutreffend.


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Tun Sie doch immer! Sie machen das doch! – Zuruf des Abg . Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wir sehen das nicht so, weil wir genau wissen, dass die
Sicherheitslage in Afghanistan schwierig und kompli-
ziert ist . Das ist übrigens auch der Grund, warum wir
gestern über die Fortsetzung des Mandats Resolute Sup-
port diskutiert und entschieden haben: weil wir natürlich
wissen, dass die Sicherheitslage in Afghanistan schwie-
rig ist und wir noch einiges unternehmen müssen, um die
afghanischen Sicherheitskräfte zu ertüchtigen und ihnen
zu ermöglichen, die Sicherheitsverantwortung in Afgha-
nistan eigenverantwortlich zu übernehmen .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist
heute immer wieder davon gesprochen worden, dass wir
bei afghanischen Asylbewerbern eine Anerkennungsquo-
te von 50 Prozent hätten . Dem ist aber nicht so . Wir ha-
ben eine Schutzquote von 50 Prozent bei afghanischen
Asylbewerbern . Was bedeutet das? Wenn man sich die
Zahlen aus dem Jahre 2016 ansieht, stellt man fest: Die
echte Anerkennungsquote, entweder nach Artikel 16a des
Grundgesetzes oder nach der Genfer Flüchtlingskonven-
tion, liegt bei Afghanen bei etwa 20 Prozent, 10 Prozent
von ihnen haben einen subsidiären Schutzstatus,


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der ist gleichgestellt!)


und weitere 10 Prozent sind deshalb in Deutschland, weil
ein Grund nach § 60 Absatz 5 oder Absatz 7 des Auf-
enthaltsgesetzes vorliegt, man also gerade die schwieri-
ge Sicherheitslage im Herkunftsland berücksichtigt und
einpreist .

Damit ist doch eines deutlich: Natürlich findet eine
individuelle Prüfung statt, ob Fluchtgründe vorhanden
sind, ob Anerkennungsgründe vorhanden sind, und auch,
ob die Rückführung in das Herkunftsland zumutbar ist
oder nicht . Deswegen ist es schlicht ein Popanz, der hier
von der Opposition aufgebaut wird . Sie vermitteln eine
Hysterie, die nichts mit der Realität in Deutschland zu
tun hat . Das Gegenteil ist der Fall: Wir gehen verantwor-
tungsvoll mit diesen Herausforderungen und Pflichten
um .


(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch der Abg . Ulla Jelpke [DIE LINKE])


Dass hier an diesem Pult übrigens im Rahmen der
Frage, wie denn eigentlich die Sicherheitslage in Afgha-
nistan ist, über nichtöffentliche Protokolle und nichtöf-
fentliche Berichte der Bundesregierung gesprochen wird,
finde ich bemerkenswert. Es gibt doch öffentlich zugäng-
liche Berichte, etwa den SIGAR-Report des amerikani-
schen Senats, in dem ganz genau dargestellt wird, wie

die Sicherheitslage in Afghanistan ist; und die ist eben
different.


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Da sind Widersprüchlichkeiten enthalten! – Zuruf der Abg . Heike Hänsel [DIE LINKE])


Es gibt da Unterschiede, nicht nur zwischen den 34 Pro-
vinzen Afghanistans, sondern auch zwischen den 407 Di-
strikten Afghanistans . Es gibt 268 Distrikte – das sind
etwa zwei Drittel –, die unter der Kontrolle der Regie-
rung sind . Zwei Drittel der Afghanen leben im Großen
und Ganzen in sicheren Verhältnissen . 36 Distrikte sind
in den Händen der Aufständischen, und 104 dieser Di-
strikte sind in Gefahr . Deshalb muss man genau darauf
eingehen .

Berücksichtigen Sie bitte auch Folgendes: Es gibt
nicht nur 3 000 Afghanen, die freiwillig aus Deutsch-
land zurückgekehrt sind, sondern wir haben die Situati-
on, dass mit zunehmender Geschwindigkeit afghanische
Flüchtlinge – beispielsweise aus dem Iran und aus Pakis-
tan – in ihr Land zurückkehren .


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Da spricht der Zynismus pur!)


Schauen Sie sich einmal die Zahlen aus Pakistan an: Von
Januar bis Juni dieses Jahres gab es 8 704 Rückkehrer,
und seit Juli sind es 155 000 Rückkehrer aus Pakistan
nach Afghanistan .


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Die werden gezwungen!)


Und das sind nur die registrierten . Tatsächlich ist es so,
dass zusammen mit den unregistrierten Flüchtlingen ins-
gesamt etwa 300 000 bis 400 000 afghanische Flüchtlin-
ge aus Pakistan zurückgekehrt sind .


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber was heißt das denn?)


Wenn man sich das im Land einmal anschaut, dann
stellt man fest, dass es nicht nur größere Gebiete gibt, die
sicher sind . Tatsächlich ist es so, dass die Menschen, die
innerhalb des Landes auf der Flucht sind – das sind etwa
1,2 Millionen Menschen –, in klaren Bereichen innerhalb
des Landes, etwa den städtischen, Schutz suchen . Und
das ist doch ein klarer Beweis dafür, dass nicht ganz Af-
ghanistan unsicher ist .


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Warum kann denn die Bundesregierung darauf nicht antworten?)


In diesem Land, das eine Fläche hat, die doppelt so groß
ist wie Deutschland, gibt es also sehr wohl Bereiche, in
denen man sicher leben kann; und die Afghanen nehmen
diese Möglichkeit auch wahr .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist von
daher auch wichtig, sich genau anzuschauen, wo die
Probleme liegen . Wir haben große Probleme etwa im
Bereich der Sicherheitskräfte . Viele von denen werden
Opfer von Anschlägen . Allein im letzten Jahr sind 7 000
afghanische Soldaten und Polizisten ums Leben ge-

Thorsten Frei

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 2016 21111


(A) (C)



(B) (D)


kommen . Etwa 14 000 Soldaten und Polizisten wurden
schwer verletzt .

Wir hatten klare Zuordnungen . Deswegen möchte ich
Sie an dieser Stelle einfach fragen: Wir haben gestern
über die militärische und auch die zivile Unterstützung
Afghanistans gesprochen . Es sind nicht nur Soldaten
aus Deutschland in Afghanistan; es sind insgesamt etwa
1 300 bis 1 400 Deutsche als Soldaten und als zivile Auf-
bauhelfer in Afghanistan tätig . Die schicken wir in dieses
Land, damit sie es wieder aufbauen, damit sie es sicher
machen und damit sie Perspektiven schaffen. Warum soll
es jungen afghanischen Männern nicht zuzumuten sein,
ebenfalls in dieses Land zurückzugehen und einen Bei-
trag dazu zu leisten, es wieder aufzubauen?


(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der LINKEN)


Wir können helfen, aber es müssen die Afghanen
sein, die Afghanistan wiederaufbauen . Deshalb, glaube
ich, liegen Sie völlig falsch mit Ihren Schlussfolgerun-
gen . Wir unterstützen unseren Bundesinnenminister und
erwarten von ihm, dass er auf diesem Weg konsequent
weitergeht .

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1821012000

Der Kollege Armin Schuster hat für die CDU/

CSU-Fraktion das Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Armin Schuster (CDU):
Rede ID: ID1821012100

Meine Damen und Herren! Das Land hat eine riesi-

ge Aufgabe vor sich . Seit 2014 haben wir 1,5 Millionen
Menschen Schutz geboten, und gut die Hälfte von ihnen
hat einen Schutzstatus bekommen . Der andere Teil hat
keinen Schutzstatus bekommen, nicht einmal subsidiären
Schutz. Wir haben also Hunderttausende ausreisepflichti-
ge Menschen im Land .


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Weil ihr das Asylrecht immer weiter ausgehöhlt habt!)


Das möchte ich von Hause aus eine Herkulesaufgabe
nennen . Für die Bewältigung dieser Aufgabe gibt es zwei
Wege . Diese konnten Sie heute wunderbar kennenlernen .

Der erste Weg – das ist der der Opposition –: einfach
pauschal nicht abschieben . Dann gibt es auch kein Pro-
blem mit Rückführungen .


(Dr . Eva Högl [SPD]: Das hat, glaube ich, niemand gesagt, Herr Schuster!)


Meine Damen und Herren, das ist wohl die schlichteste
Lösung, die einfachste Lösung, die man sich vorstellen
kann .

Sie müssen sich übrigens, wenn Sie ansonsten im-
mer die Vereinfachungen von Populisten beklagen, sel-
ber einmal die Frage stellen: Ist der Vorschlag, pauschal
nicht abzuschieben, wirklich eine Lösung für dieses
Land? Nein, dieser Vorschlag ist inhuman in schärfster

Form . Damit wird Menschen, die nicht hierbleiben dür-
fen, monatelang vorgegaukelt, sie könnten doch bleiben .
Wenn dann aber durchgegriffen wird, müssen wir diese
Menschen aus den Kitas und Schulen herausholen . Das
ist nicht human . Deswegen bin ich für eine konsequente
Haltung und für sofortige Abschiebung . Was wollen wir
den Menschen denn ansonsten noch antun? Ich bin für
klare Entscheidungen . Das hilft den Bleibeberechtigten,
für die wir mehr Kraft haben, und es hilft den nicht Blei-
beberechtigten . Schnelle Entscheidungen sind immer
gut .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Rüdiger Veit [SPD]: Richtige sind noch besser!)


Der zweite Weg – das ist der der Regierungskoalition;
das hoffe ich jedenfalls, Herr Castellucci – ist der Weg
des Rechts und unserer Gesetze .


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1821012200

Kollege Schuster, gestatten Sie eine Zwischenfrage

der Kollegin Keul?


Armin Schuster (CDU):
Rede ID: ID1821012300

Nein, danke . – Die Gesetze, die wir hier gemacht ha-

ben, umzusetzen, heißt, Balance zu halten: Willkommen
für diejenigen, die bleiben dürfen; Abschied für diejeni-
gen, die gehen müssen .


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nach 21 Jahren!)


So sehen unsere Gesetze aus . Die haben wir hier ge-
macht, und die möchte ich gerne einhalten, und das tut
der Bundesinnenminister .


(Beifall bei der CDU/CSU – Frank Tempel [DIE LINKE]: Die Sie gemacht haben! – Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Internationales Recht! Menschenrechtskonvention!)


Die Gesetze mal anzuwenden und mal nicht, je nach ei-
gener ideologischer Befindlichkeit, meine Damen und
Herren, das wäre ein Albtraum für einen Rechtsstaat,
wenn Sie regieren würden . Wir halten uns an die Geset-
ze, die wir machen .


(Frank Tempel [DIE LINKE]: Genau! Die Sie gemacht haben! Das ist richtig!)


Sie wollen tun, was Sie möchten und was sich nach Ihrer
ideologischen Befindlichkeit ergibt.


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: So ein Quatsch! Richtiger Quatsch ist das!)


So kann man nicht arbeiten .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, was der liebe Herr Weise
als Präsident des BAMF ertragen müsste, wenn Sie ihm
Anordnungen geben könnten, es wäre furchtbar: Gesin-
nungsbefehle von morgens bis abends darüber, wie das
BAMF Anträge zu bescheiden habe . Nein, CDU und
CSU lassen die Finger vom BAMF, außer dass wir ihnen

Thorsten Frei

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 201621112


(A) (C)



(B) (D)


das notwendige Personal zur Verfügung stellen und die
richtigen Gesetze machen .


(Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Schuster, ich bitte Sie! Das glauben Sie doch selber nicht!)


Dann entscheiden die Mitarbeiter des BAMF mit ihrer
Expertise und ohne jede Ideologie . Das ist der Weg eines
Rechtsstaats .


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr . André Hahn [DIE LINKE]: Sie geben bloß was vor!)


Ich komme zu Ihren bisherigen Rezepten, mit denen
Sie an der Lösung des Problems mitwirken wollen . Sie
wollten 2015 den Westbalkan nicht als sichere Her-
kunftsregion einstufen . Was für ein Wahnsinn!


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Was für ein Wahnsinn, welche Menschen Sie dorthin abgeschoben haben!)


Sie haben gegen das Asylpaket II gestimmt . Den Fami-
liennachzug für subsidiär Schutzbedürftige würden Sie
für alle Zeiten öffnen. Ein Wahnsinn! Die Einstufung des
Maghreb als sichere Herkunftsstaaten – Sie haben bis
heute nicht verstanden, wie groß dieses Problem ist – im
Bundesrat ist überfällig, meine Damen und Herren .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg . Burkhard Lischka [SPD])


Sie lehnen die Abschiebung in die Balkanstaaten ab . Das
ist Ihre Grundhaltung . Ich sage es Ihnen ganz ehrlich:
Damit kann man keine Politik machen . All das lehnen
wir ab, und zwar aus guten Gründen .

Erstens . Thema Sicherheit: Da vertraue ich den Fach-
leuten . Herr Castellucci, das Originalzitat des Chefs der
Internationalen Organisation für Migration lautet: Große
Teile des Landes sind sicher. – Sie sprachen von „einigen
Teilen“. In Wirklichkeit heißt es aber „große Teile“.


(Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Schuster, welche denn? Nennen Sie einmal eine der 34 Provinzen! – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Dann fahren Sie doch hin!)


Ich vertraue der Expertise der Fachleute . Ich vertraue
aber nicht den selbsternannten Fachleuten aus Berlin, die
sich möglichst weit weg von Kabul aufhalten, meine Da-
men und Herren .


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Sie sind doch weit weg! – Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Nennen Sie doch mal eine sichere Provinz!)


Ein Wort an die Grünen: Ich fand das Statement von
Marieluise Beck in der gestrigen Sitzung des Deutschen
Bundestages beeindruckend .


(Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat doch überhaupt nichts mit der Frage zu tun!)


Es war ein beeindruckendes Statement dafür, was in
15 Jahren Einsatz für Afghanistan an Aufbauarbeit ge-

leistet wurde . Nehmen Sie Frau Beck als Expertin und
Anwältin dafür, warum es gut ist, dieses Land zu unter-
stützen .


(Dr . Eva Högl [SPD]: Die Bundeswehr hinschicken ist aber ganz was anderes!)


Zweitens . Wir tragen Verantwortung für Afghanistan .
Ich möchte dieses Land nicht seiner Zukunft berauben,
indem wir auch dem Letzten noch deutlich machen:
Komm lieber nach Deutschland . Es lebt sich hier besser .
Wie soll so Afghanistan jemals eine humane Zukunft ha-
ben? Das wäre so unmöglich .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Rückführungsabkommen mit Afghanistan schließt
nicht nur Deutschland, sondern Länder aus der ganzen
Europäischen Union einschließlich Griechenland . Die
dortige Regierung dürfte Ihnen sehr nahe liegen; sie
hat es aber auch gemacht . Auch das wirklich humane
Schweden schließt ein solches bilaterales Abkommen
wie wir . Warum? Nein, Herr Castellucci, nicht weil es
Abschiebungsfetischisten sind; das war übrigens eine
Unverschämtheit . Vielmehr geht es darum, dass wir seit
15 Jahren Verantwortung für ein Projekt Afghanistan ha-
ben, das nicht so enden darf, wie es schon einmal geendet
hat . Dafür kämpfe ich, wie es Marieluise Beck gesagt hat .
Ich höre nicht auf, dafür zu kämpfen und optimistisch zu
sein . Deshalb berauben wir dieses Land nicht seiner jun-
gen Männer . Mit Ihrem Antrag täten wir das aber, meine
Damen und Herren .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wer Ihren Anträgen folgt, stärkt das Geschäftsmodell
der Schleuser .


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Und Sie stärken die Taliban und den IS!)


Wollen Sie das wirklich? Das kann nicht unser Ziel sein .
Ihre Politik würde bedeuten: Wer in Deutschland Asyl
genießt, darf bleiben . Wer es nicht genießt, darf auch
bleiben .


(Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach, Herr Schuster, jetzt hören Sie mal auf mit diesem Populismus hier! Was soll denn das?)


Meine Damen und Herren, so würden wir niemals
agieren . Diese Regierung setzt nicht auf Ideologie,


(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ha, ha!)


sondern auf Expertise und unsere Gesetze, die wir hier
gemacht haben . Deswegen sind wir ein humaner Rechts-
staat . Unsere Lösungen sind human . Bei Ihren Lösungen
würde ich noch einmal scharf nachdenken, ob sie wirk-
lich als human zu bezeichnen sind .

Ich danke Ihnen .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1821012400

Ich schließe die Aussprache .

Armin Schuster (Weil am Rhein)


Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 2016 21113


(A) (C)



(B) (D)


Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Innenausschusses auf Drucksa-
che 18/7974. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/6869 mit dem
Titel „Abschiebestopp und Schutz für Flüchtlinge aus
Afghanistan“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der CDU/
CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen
der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen
angenommen .

Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/6774 mit
dem Titel „Schutz für Flüchtlinge aus Afghanistan“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/
Die Grünen angenommen .

Ich rufe den Zusatzpunkt 10 auf:

Aktuelle Stunde

auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Haltung der Bundesregierung zum CDU-Par-
teitagsbeschluss zur Wiedereinführung des
Optionszwangs

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Volker Beck für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1821012500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!

Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von
dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt ge-
schätzet würde… Und jedermann ging, dass er sich
schätzen ließe, ein jeglicher in seine Stadt .


(Dr . Philipp Lengsfeld [CDU/CSU]: Nichts zu tun mit dem Thema!)


Da machte sich auf auch Joseph aus Galiläa aus
der Stadt Nazareth in das judäische Land zur Stadt
Davids, die da heißt Bethlehem, darum, dass er von
dem Hause und Geschlechte Davids war,


(Dr . Philipp Lengsfeld [CDU/CSU]: Hat nichts damit zu tun!)


auf dass er sich schätzen ließe mit Maria, seinem
vertrauten Weibe, die war schwanger .


(Dr . Philipp Lengsfeld [CDU/CSU]: Nichts!)


Joseph war Galiläer, und er stammte aus Judäa, eine
Zugehörigkeit zu zwei Provinzen, zu zwei Teilen des jü-
dischen Königreichs, sozusagen ein judäisch-galiläischer
Doppelstaatler . Jetzt sagen die Historiker unter Ihnen
vielleicht: Ja, aber das alles waren nur römische Pro-
vinzen, und es regierte der König Herodes, den wir alle
wegen des Kindermordes von Bethlehem kennen . – Ja,
dieser König Herodes regierte Judäa, Galiläa und Sama-

ria zusammen. Nach seinem Tod zerfiel das Reich wieder
und wurde von drei Königen regiert . Diese Herrschaft
ähnelte der von Königin Elisabeth II ., die Australien
und das Vereinigte Königreich als Staatsoberhaupt re-
giert . Keiner würde daran zweifeln, dass es hier um zwei
Staatsangehörigkeiten geht .


(Dr . Philipp Lengsfeld [CDU/CSU]: Sind wir in der falschen Debatte?)


Oder nehmen wir Paulus, einen griechisch gebildeten
Juden, geboren in Tarsus in Kilikien,


(Dr . Philipp Lengsfeld [CDU/CSU]: Thema!)


vom israelischen Stamm Benjamin und römischer Staats-
bürger . Wir wissen viel über Paulus, zum Beispiel dass
ihn seine Identität damals vor Damaskus fast zerrissen
hätte, seine Doppelstaatlichkeit allerdings nicht . Paulus
hinterlässt uns das, worauf es ankommt – da möchte ich
Sie, die Sie das C im Namen Ihrer Partei führen, doch
dran erinnern –:


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Da nun der Glaube kommen ist, sind wir nicht mehr
unter dem Zuchtmeister .

Unter säkularen Aspekten könnte man sagen: Es kommt
auf die Menschenrechte, die Gottesebenbildlichkeit oder
die Menschenwürde aller an . Paulus gibt uns mit auf den
Weg:

Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Skla-
ve noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn
ihr seid allesamt einer in Christus Jesus .

Oder: Es kommt am Ende auf die Haltung zu Demo-
kratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten an und
nicht darauf, ob man zwei Pässe hat .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Vor einigen Jahren hat sich die Bild-Zeitung gefreut:
„Wir sind Papst“. Wir konnten aber nur Papst sein, weil
wir in unserem Staatsangehörigkeitsrecht hingenommen
haben, dass Benedikt XVI . zugleich Staatsbürger des Va-
tikan und Deutscher war . Ansonsten wären wir nie Papst
geworden .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg . Frank Tempel [DIE LINKE] – Zurufe von der CDU/CSU)


Da sehen wir doch: Doppelstaatlichkeit kann zu Erfolgen
eines Landes beitragen und am Ende zum Guten dienen .

Aber was haben Sie auf Ihrem CDU-Parteitag be-
schlossen? Sie haben beschlossen, das, was Sie mit der
SPD mühsam vereinbart haben, nämlich den Options-
zwang, weitgehend einzudampfen, wenn auch leider
nicht völlig abzuschaffen, und das Ganze mit einer Phi-
lippika gegen die doppelte Staatsangehörigkeit . Mike
Mohring, Thüringer CDU-Landesvorsitzender, sagte
dem Münchner Merkur, es sei nötig – das müsse Schwer-
punktthema des Wahlkampfes sein –, dass unser Land die
uneingeschränkte staatsbürgerliche Loyalität seiner Bür-

Vizepräsidentin Petra Pau

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 201621114


(A) (C)



(B) (D)


ger genießt, und dazu gehöre für ihn die Pflicht, sich für
einen Pass entscheiden zu müssen .

Sie haben damit 4,3 Millionen Doppelstaatlern in un-
serem Land den Fehdehandschuh hingeworfen und sie
durch den Verdacht der Illoyalität gegenüber unserem
Staat und den Werten unseres Grundgesetzes denunziert .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg . Birgit Wöllert [DIE LINKE] – Tankred Schipanski [CDU/ CSU]: Quatsch!)


Das spaltet das Land; das treibt auseinander . Das ist so
etwas von 19 .-Jahrhundert-Denken . So kann man die Zu-
kunft im 21 . Jahrhundert, in der Zeit der Globalisierung,
in der Zeit von Migration, Immigration und Emigration,
einfach nicht gestalten .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Dieser Beschluss war ja nicht nur ein Tritt in die Knie-
kehlen der Kanzlerin. Nein, er ist auch eine Chiffre für
eine Koalitionsoption Richtung AfD .


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wer dieses Thema zum Wahlkampfschlager machen will,
weiß, dass er weder bei uns Grünen noch bei der SPD
auch nur einen Abgeordneten findet, der dabei mithilft,
ein entsprechendes Gesetz über die 50-Prozent-Hürde im
Deutschen Bundestag zu bringen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Dr . André Hahn [DIE LINKE]: Bei uns auch nicht!)


Das ist Spaltung, und das dürfen wir nicht zulassen .

Meine Damen und Herren, wir bräuchten eigentlich
eine Reform der Staatsangehörigkeit, die nach vorne
geht und Einbürgerung erleichtert . Lassen Sie uns damit
Schluss machen, dass jedes zweite Kind, das von Aus-
länderinnen in Deutschland geboren wird, nicht als Deut-
scher geboren wird . Die Willkommenskultur muss im
Kreißsaal beginnen . Wer hier zur Welt kommt als Kind
von Eltern, die hier legal sich aufhalten und leben, dem
muss von Anfang an die Zugehörigkeit zu unserem Land
garantiert werden .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1821012600

Kollege Beck, ich bitte, zum Schluss zu kommen .


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1821012700

Zum Schluss, Frau Präsidentin: Weihnachten, Ad-

ventszeit, das ist die Zeit der Besinnlichkeit .


(Dr . Philipp Lengsfeld [CDU/CSU]: Nicht ein Satz zum Thema!)


Deshalb fordere ich Sie auf: Besinnen Sie sich . Denken
Sie dabei auch an das Kind in der Krippe, in Windeln ge-
wickelt . Besinnen Sie sich auf das C, und lassen Sie die
Philippika gegen den Doppelpass einfach stecken .

Vielen Dank .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1821012800

Das Wort hat der Kollege Dr . Peter Tauber für die

CDU/CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt möchte ich seine Windungen einmal sehen!)



Dr. Peter Tauber (CDU):
Rede ID: ID1821012900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Herr Kol-
lege Beck, wenn es an der Stelle einen zentralen Unter-
schied zwischen Ihnen und uns gibt – es gibt ja viele Un-
terschiede zwischen Ihnen und uns und Gott sei Dank
zwischen Ihnen und mir auch –, dann ist es der, dass das
Staatsbürgerschaftsrecht für die Union keine religiöse
Frage ist . Sie haben es zu einer solchen gemacht und es
damit völlig überhöht .


(Beifall bei der CDU/CSU – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben nicht zugehört!)


Man könnte antworten: Gebt des Kaisers, was des Kai-
sers ist .

Wir reden über eine ganz sachliche Frage,


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hat nichts verstanden!)


nämlich über die Frage, nach welchen Rechtsnormen
man Teil eines Staatsvolkes ist . Die CDU hat – das freut
mich an der Stelle – auf ihrem Parteitag über diese Frage
gestritten und an einer Stelle etwas bestätigt, was unsere
Grundhaltung vorher war und auch jetzt ist, nämlich dass
wir die generelle doppelte Staatsbürgerschaft nicht für
richtig halten .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn eine generelle doppelte Staatsbürgerschaft? Generell wäre es, wenn sie zur Pflicht wird!)


Wir haben Regelungen für Bürger der Europäischen
Union, und wir haben in der Großen Koalition, wie ich
finde, jetzt eine Regelung gefunden, die auch wir in die-
ser Koalition nicht infrage stellen, nämlich junge Men-
schen, die in Deutschland geboren werden,


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Trotzdem machen Sie daraus ein Wahlkampfthema!)


Volker Beck (Köln)


Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 2016 21115


(A) (C)



(B) (D)


nicht vor die Entscheidung zu stellen, zwischen dem
Land ihrer Väter und ihrem Vaterland wählen zu müssen .


(Beifall des Abg . Charles M . Huber [CDU/ CSU])


Diese Regelung halte ich in der Tat auch für klug .

Trotzdem – und das ist ein zweiter wesentlicher Un-
terschied zwischen Ihnen und uns in der Debatte – sind
wir der Überzeugung, dass man die Frage von Identität,
Loyalität und auch Zusammengehörigkeitsgefühl nicht
allein an einem Stück Papier festmachen kann .


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Richtig! – Zuruf von der SPD: Eben!)


Deswegen springt man auch zu kurz, wenn man sich fest-
legen soll, ob man für oder gegen die doppelte Staatsbür-
gerschaft ist .


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Erzählen Sie das doch mal der Jungen Union!)


Denn in der Vergangenheit haben wir gelernt, dass die
Option nicht dazu geführt hat, dass jeder, der sich für den
deutschen Pass entschieden hat, sich auch als Bürger die-
ses Landes fühlt .

Ob die Regelung, die wir gefunden haben und die jetzt
gilt, in Zukunft einen anderen Effekt haben wird, müssen
wir uns erst anschauen .


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich denke, Sie haben einen Beschluss gefasst! Sie haben gerade behauptet, Sie hätten einen Beschluss gefasst! Jetzt wollen Sie es sich anschauen? Wissen Sie es nicht so recht?)


Ob der Wegfall der Option dazu führt, dass es eine stär-
kere Identifizierung bei denen, die dann zwei Staatsbür-
gerschaften haben, gibt, bleibt, glaube ich, offen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Generalsekretär, Sie sind mit Ihren eigenen Beschlüssen nicht ganz so zufrieden, scheint mir!)


– Lieber Herr Beck, weil Sie immer dazwischenrufen:
Wenn Sie zuhören würden, würden Sie vielleicht selbst
in Ihrem Alter noch etwas lernen .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hat darauf reagiert! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich hatte auch einiges an Geräuschen bei meiner Rede!)


– Ich habe Ihnen sehr aufmerksam zugehört, und das fiel
sehr schwer, lieber Herr Beck .


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil er den Kern getroffen hat!)


Unser Parteitag hat – da zeigt sich der dritte große
Unterschied zwischen Ihnen und uns – eine große Über-

schrift gehabt. Wir haben gesagt: „Unsere Werte. Unsere
Zukunft.“, darum geht es.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unsere Werte sind Menschenwürde und Gleichheit der Verschiedenen!)


Sie aber verteilen Papiere und verleugnen Werte . Auf der
Basis von Werten und nicht auf der Basis eines Stücks
Papier entstehen Zusammengehörigkeitsgefühl und
Identität .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wenn Sie sagen, dass, wenn Menschen, die hier le-
ben, kein Deutsch können, wir halt ihre Sprache lernen
müssen,


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das habe ich nie gesagt!)


dann ist das das falsche Signal .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wenn aus Ihren Reihen Menschen kommen und sagen:
„Ach, wir könnten jemanden beschweren. Darum nennen
wir den Martinsumzug nicht mehr Martinsumzug, son-
dern Sonne-Mond-und-Sterne-Umzug“, dann ist das das
falsche Signal .


(Beifall bei der CDU/CSU – Sebastian Hartmann [SPD]: Wer macht denn so etwas?)


Wenn man Weihnachtsmärkte in Lichtermärkte oder
Lichterfeste umbenennt, dann ist das ebenfalls das fal-
sche Signal .


(Beifall bei der CDU/CSU – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie dürfen nicht den Broschüren der AfD glauben!)


Wissen Sie, was ich noch bemerkenswerter finde?
Diese Vorschläge kommen nie von Menschen, die nach
Deutschland eingewandert sind, sondern immer nur aus
dem linken politischen Spektrum,


(Beifall bei der CDU/CSU – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ein Blödsinn!)


weil Sie in Wahrheit mit der eigenen Geschichte und den
Traditionen dieses Landes nicht viel am Hut haben .


(Beifall bei der CDU/CSU – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nennen Sie mal Quellen dafür! Sie sind ja eine Fake-News-Schleuder hier!)


Man kann also die linke Politik dieses Hauses in ei-
nem kurzen Satz zusammenfassen: Fahne doof, Hymne
doof, Sprache doof . – Das ist Ihr Bild von Deutschland .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Ich glaube nicht, dass
wir auf dieser Basis Menschen dafür begeistern, sich

Dr. Peter Tauber

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 201621116


(A) (C)



(B) (D)


stolz Bürger dieses Landes zu nennen, egal woher die
Eltern kommen .


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Also, das ist wirklich unter Ihrem Niveau, Herr Tauber! Peinlich! – Zuruf des Abg . René Röspel [SPD])


Der entscheidende Punkt ist: Es braucht ein Bekenntnis
zu diesem Land, zu seinen Werten und Überzeugun-
gen, zu seiner Geschichte, auch zu diesen drei Farben
Schwarz, Rot, Gold .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Deswegen reicht es nicht, nur die Frage zu stellen: Hat
jemand zwei Pässe oder nicht? Man muss die Frage stel-
len: Was fühlt er?


(René Röspel [SPD] Wir haben schon Schwarz-Rot-Gold gutgeheißen, da waren Sie noch kaisertreu!)


– Ich war nie kaisertreu, Herr Röspel, im Gegensatz zu
Ihnen .


(Widerspruch bei der SPD)


– Entschuldigung: Sie tragen die rote Fahne, nicht ich .
Ich trage nur Schwarz- Rot-Gold . Ich habe keine andere
Fahne .


(Beifall bei der CDU/CSU – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: O Mann, da muss man sich ja fremdschämen!)


Insofern brauchen wir an dieser Stelle von Ihnen keine
Nachhilfe .

Wir haben ein Gesetz zur Integrationspflicht auf den
Weg gebracht . Wir laden Menschen ein, dieses Land zu
ihrem eigenen zu machen . Ob man dies tut, ist die ent-
scheidende Frage, die man beantworten muss .

Lieber Herr Beck, Sie haben Ihre Rede mit einer wun-
derschönen Stelle aus der Heiligen Schrift begonnen .
Deswegen rufe ich Ihnen am Ende meiner Rede zu: Blei-
ben Sie fröhlich – schöne Weihnachten!


(Beifall bei der CDU/CSU – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Du sollst nicht lügen!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1821013000

Die Kollegin Sevim Dağdelen hat für die Fraktion Die

Linke das Wort .


(Beifall bei der LINKEN – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und jetzt kommen wir zurück zum Thema, zur Sachlichkeit! – Michael Brand [CDU/CSU]: Brüder, zur Sonne, zur Freiheit!)



Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1821013100

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Herr Tauber, wer hier ideologische Scheuklappen hin-
sichtlich des Themas doppelte Staatsbürgerschaft trägt,

das sind Sie . Das haben Sie gerade mit Ihrer Parteitagsre-
de statt einer Bundestagsrede bewiesen .


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie sind so etwas von Ideologie verbrämt . Sie sprechen
davon, dass Sie Ihren Standpunkt nicht zu einer Region
überhöhen wollen . Dabei sind Sie der Einzige, der hier
bisher zum Thema Religion gesprochen hat .


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deshalb lade ich Sie dazu ein, sachlich zu diesem Thema
zu sprechen .

Wissen Sie, was das Problem ist? Ich gebe Ihnen teil-
weise recht:


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Applaus von der falschen Seite!)


Nichts ist in den letzten Jahren in der Innenpolitik so stark
ideologisiert worden wie das Thema doppelte Staatsbür-
gerschaft – was ich als ein Kind von Gastarbeitern aus
der Türkei allerdings bedauere, weil ich weiß, wie es
bei vielen Tausenden Jugendlichen in Deutschland, die
Eltern haben, die aus der Türkei kommen, die dort viel-
leicht selbst geboren sind, ankommt: Es ist ausgrenzend,
und es ist das Gegenteil von Integration . Glauben Sie
mir, meine Damen und Herren .


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es bringt auch nichts, dass die Kanzlerin selbst oder
Minister in staatsmännischer Manier versöhnlich auftre-
ten, aber auf der anderen Seite die Basis der CDU und
viele anderen Funktionäre rechts außen gewähren lassen .
Das ist eine fiese und miese Doppelstrategie der CDU.
Ich sage Ihnen: Sie wird nächstes Jahr im Wahlkampf
nicht aufgehen .


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Vor 18 Jahren fand im Bundesland Hessen, wo ich zu
dem Zeitpunkt studiert habe, der bisher geschmackloses-
te und auch gefährlichste Wahlkampf in der Geschichte
des Bundeslandes Hessen statt . Ihr Spitzenkandidat, der
später aufgrund eines Wahlkampfes gegen den Doppel-
pass Ministerpräsident wurde, hat auf dem Rücken von
Migrantinnen und Migranten Stimmung gemacht . Die
Menschen sind zu den CDU-Infoständen in den Fußgän-
gerzonen gegangen und haben gefragt: Wo kann ich ge-
gen Ausländer unterschreiben?


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Nein! „Gegen den Doppelpass unterschreiben!“)


Sie wollten nicht etwa gegen die doppelte Staatsbürger-
schaft oder etwas Ähnliches unterschreiben . Die CDU
hat das bewusst kalkulierend, also aus wahltaktischen
Gründen, gemacht . Der Beschluss des Essener Bundes-
parteitages, die doppelte Staatsbürgerschaft abzulehnen,
die sogenannte Optionspflicht wieder einzuführen, ist
nichts anderes als „Roland Koch reloaded“. Das ist ein

Dr. Peter Tauber

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 2016 21117


(A) (C)



(B) (D)


Weg zurück in die Vergangenheit, und wir wollen dies
nicht mitmachen .


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dieser Beschluss richtet sich vor allen Dingen gegen
Türkinnen und Türken in diesem Land; denn EU-Bür-
gerinnen und -Bürger sollen selbstverständlich weiterhin
zwei Pässe haben dürfen . Damit treiben Sie einem Dikta-
tor wie dem türkischen Staatspräsidenten Erdogan viele
Menschen in die Arme, und Sie spielen seinem Netzwerk
in die Hände . Das ist Gift für die gesellschaftliche Stim-
mung in diesem Land . Deshalb bitte ich Sie: Kommen
Sie zur Vernunft! Sagen Sie Nein zu rassistischen Wahl-
kämpfen wie in der Vergangenheit!


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg . Jürgen Coße [SPD])


Sie schüren damit Vorbehalte und Misstrauen – und
das allein aus diesen niederen wahltaktischen Gründen .
Das ist schäbig und wird im Ergebnis weder der CDU
noch der CSU, sondern eher den Parteien rechts außen
nutzen, weil es in der Vergangenheit immer so war: Das
Original und nicht die miese Kopie wird gewählt .


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Deshalb sage ich Ihnen auch noch einmal – ich kann
es nicht oft genug betonen –: Dieser Beschluss zur Op-
tionspflicht gibt ein abweisendes Signal an die Hundert-
tausenden jungen Deutschen, deren Eltern aus der Türkei
nach Deutschland eingewandert sind; denn diese Gruppe
wird vor allem betroffen sein, und das wissen Sie auch.
Das wurde in den Reden auf dem Parteitag ja auch ge-
sagt . Sie sagen nämlich: Ihr seid Deutsche nur auf Probe
und Bürger zweiter Klasse .


(Zuruf von der CDU/CSU: Dummes Zeug!)


Das hat eine ausgrenzende statt eine integrierende Wir-
kung .

Ich möchte auch an Ihren Bundesinnenminister de
Maizière erinnern . Er sprach hier im Bundestag über den
Kompromiss zwischen CDU, CSU und SPD und erin-
nerte in seiner Rede zu dieser Neuregelung daran, dass
die Haltung der Union – ich zitiere – eine grundlegende
innere Ablehnung einer doppelten Staatsbürgerschaft sei .
Daneben erinnerte er daran, dass hierzu erbitterte Wahl-
kämpfe geführt worden sind .

Deshalb sage ich Ihnen: Lassen Sie uns wirklich kei-
nen Schritt zurück in die Vergangenheit machen, sondern
einen Schritt vorwärts in Richtung Zukunft! Hören Sie
mit Ihrer Diskriminierung und Ausgrenzung von türki-
schen Jugendlichen auf! Hören Sie auch auf, den Inte-
grationsfeinden in unserem Land in die Hand zu spielen!

Es muss doch möglich sein, das antiquierte Staatsbür-
gerschafsrecht des Deutschen Kaiserreiches von 1913
ohne Wenn und Aber zu beerdigen und zu einem fort-
schrittlichen Staatsbürgerschaftsrecht des 21 . Jahrhun-
derts zu kommen . Dazu gehört aber eben auch die Mög-
lichkeit der doppelten Staatsbürgerschaft .

Vielen Dank .


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1821013200

Das Wort hat die Kollegin Dr . Katarina Barley für die

SPD-Fraktion .


(Beifall bei der SPD – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ohne Loyalitätskonflikte, mit Doppelpass!)



Dr. Katarina Barley (SPD):
Rede ID: ID1821013300

Herzlichen Dank . – Liebe Präsidentin! Liebe Kolle-

ginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Herr Kollege Tauber,
das war schon ein interessantes Lehrstück dafür,


(Dr . Peter Tauber [CDU/CSU]: Sehen Sie, so können Sie etwas lernen!)


wie vehement man werden muss, wenn man gegen die
eigene Position Beschlüsse der Partei vertreten muss .


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir sind ja jetzt in der Weihnachtszeit, und als ich
von dem CDU-Parteitagsbeschluss gehört habe, habe ich
erst einmal gedacht: alle Jahre wieder . Alle Jahre wie-
der wird in der Mottenkiste gekramt und danach gesucht,
was gerade zur Stimmung passt und womit man gerade
gut Stimmung machen kann . Und man hat – die Kolle-
gin Dağdelen hat es ja schon erwähnt – ein Spezialre-
zept hervorgeholt, das schon immer funktioniert hat und
sich ein bisschen gegen Ausländer richtet . Ich habe dann
gedacht, dass die Union wieder im vorigen Jahrhundert
zurück ist . Roland Koch lässt grüßen!

Andererseits sieht man daran eben auch, wie die CDU
wirklich tickt, und das ist für die Menschen in diesem
Land natürlich ausgesprochen spannend .


(Dr . André Hahn [DIE LINKE]: Erschreckend ist das!)


Wenn man sagt: „Wir definieren, wer ein guter Deutscher
ist, und deutsch kann man nur ganz oder gar nicht sein,
also entscheide dich“, dann definiert man das Deutsch-
Sein im Grunde genommen dadurch, dass man sich erst
einmal gegen etwas anderes abgrenzen muss, nämlich
gegen die Heimat der Eltern möglicherweise, gegen
das Land, aus dem man vielleicht selbst gekommen ist .
Sie können hundertmal „Zusammenhalt“ auf Plakaten
schreiben und schicke Bilder dazu machen . Das ist trotz-
dem ein Signal von Spaltung und eine Form von Sünden-
bock-Wahlkampf .


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Das ist nicht nur falsch, sondern auch gefährlich; denn
in diesen Zeiten brauchen wir doch mehr denn je genau
das gegenteilige Signal . Gerade jetzt brauchen wir ein

Sevim Dağdelen

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 201621118


(A) (C)



(B) (D)


Signal der Verständigung, anstatt irgendein nationalisti-
sches Gepolter loszutreten .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Sie gießen damit bewusst Öl ins Feuer .


(Dr . Peter Tauber [CDU/CSU]: Sie haben Ihre Rede schon geschrieben, bevor ich geredet habe! Das ist lächerlich!)


Ich muss ganz ehrlich sagen – und ich meine das ganz
ernst –: Das ist ein Feuer, das Sie nicht mehr beherrschen
können . Wir sind nämlich nicht mehr im letzten Jahrhun-
dert .


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wenn ich schon höre, dass jeder Mensch nur gegen-
über einem Staat loyal sein kann!


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: So ist es!)


Ich hoffe, dass Sie sowohl in Ihrem privaten als auch in
Ihrem politischen Leben die Erfahrung machen, dass Lo-
yalität kein Nullsummenspiel ist, dass Sie Loyalität also
nicht nur dann zeigen können, wenn Sie an anderer Stelle
nicht mehr loyal sind . Natürlich kann man loyal gegen-
über zwei Staaten sein .

Was heißt es denn, loyal zu sein? Mein Vater ist Brite,
meine Mutter ist Deutsche . Obwohl ich in Deutschland
geboren bin und eine deutsche Mutter habe, war ich bei
meiner Geburt keine Deutsche . In dem damals noch viel
patriarchalischeren Deutschland war die Abstammung
von meiner Mutter nicht so viel wert wie die Abstam-
mung von meinem Vater .

Wenn Sie meine Rede damals zum Brexit gehört ha-
ben, haben Sie mitbekommen, dass man auch als briti-
sche Staatsangehörige gegenüber den Entscheidungen
des britischen Volkes ausgesprochen kritisch sein kann .


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist illoyal!)


Was soll denn das heißen, ich könne nicht loyal sein?
Wenn Sie sagen, ich könne nicht loyal sein gegenüber
zwei Staaten, dann kann das doch nur eines heißen: Sie
stellen einen Staat gegen einen anderen .


(Dr . Philipp Lengsfeld [CDU/CSU]: Schon mal was von russischen Hackerangriffen gehört?)


Genau das ist es, was wir jetzt nicht tun dürfen .


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Davon einmal ganz abgesehen – das ist jetzt nur eine
Randnotiz –: Oft lese ich: Man kann nicht Diener zwei-
er Herren sein . – Was ist denn das für ein Staatsbürger-
schaftsverständnis? Wir sind als Bürgerinnen und Bürger
dieses Staates doch keine Diener des Staates .


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Da sollten Sie mal Goldoni fragen! Er hat es in seiner Komödie aufgezeigt!)


Um Himmels willen! Was ist denn das für eine Anschau-
ung?

Was Sie wirklich missverstehen – ich weiß nicht, ob
bewusst oder unbewusst –: Menschen, die die deutsche
Staatsbürgerschaft haben, haben eine Bindung zu diesem
Land . Entweder bekommt man sie qua Geburt, oder man
erwirbt sie . Die meisten in diesem Haus haben nichts da-
für getan, dass sie Deutsche sind . Es hat sie nie jemand
gefragt, wie sie zum deutschen Staat stehen .


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch den Lengsfeld nicht!)


Diejenigen, die Deutsche geworden sind, sind gefragt
worden, und sie mussten Hürden überwinden . Auch da-
von gibt es einige in diesem Haus . Ich weiß nicht, ob Sie
dem Kollegen McAllister oder der Kollegin Dağdelen
oder mir diese Staatsbürgerschaft irgendwann wieder
entziehen wollen, wenn Sie der Meinung sind, dass wir
mit unserer Auffassung nicht mehr loyal zu diesem Staat
sind . Wie stellen Sie sich das denn vor?


(Dr . Philipp Lengsfeld [CDU/CSU]: Die glauben das wirklich!)


Sie sagen: Die Menschen können sich nur für Deutsch-
land entscheiden, wenn sie sich gegen ein anderes Land
entscheiden . – Damit stoßen Sie viele Millionen Men-
schen vor den Kopf .

In Wirklichkeit geht es auch gar nicht darum – das
muss man einmal sagen –; in Wirklichkeit geht es um
etwas ganz anderes . Es geht um diesen großen Topf: Es
geht um Anti-Islam, es geht um Anti-Flüchtlinge .


(Sylvia Pantel [CDU/CSU]: Das ist Quatsch!)


Es geht um diese ganze wabernde Stimmung . Das wird
in einen Topf gerührt, und das ist das eigentlich Gefähr-
liche .


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Ist das eine Hate Speech, oder was?)


Sagen Sie mir mal einen vernünftigen Grund, warum
Sie diesen Kompromiss wieder aufschnüren wollen! Sa-
gen Sie mir doch mal einen vernünftigen Grund, der da-
für spricht,


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den gibt es nicht!)


dass Menschen wie ich, Menschen wie Sie, Menschen
wie Herr Mutlu sich zwischen ihren beiden Staaten ent-
scheiden müssen! Was bringt es denn irgendeinem von
Ihnen, wenn wir unseren zweiten Pass abgeben? Gar
nichts! Es verändert Ihr Leben nicht . Es verändert dieses
Land nicht .


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Wahrheit ist: Doppelstaatler sind keine besseren
Menschen, sie sind auch keine besseren Deutschen, aber

Dr. Katarina Barley

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 2016 21119


(A) (C)



(B) (D)


sie sind auch keine schlechteren . Seien Sie froh, dass es
Menschen gibt, die Brücken zwischen Staaten bauen .


(Dr . Philipp Lengsfeld [CDU/CSU]: Sie haben nicht eine Minute darüber nachgedacht, was Sie da erzählen!)


Die allermeisten Doppelstaatler bauen Brücken zwischen
Staaten . Davon brauchen wir eher mehr als weniger .

Vielen Dank .


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1821013400

Das Wort hat der Kollege Dr . Stephan Harbarth für die

CDU/CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Stephan Harbarth (CDU):
Rede ID: ID1821013500

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren Kollegen! Häufig war in den letzten Jahren die
Rede davon, die politischen Parteien würden sich gar
nicht mehr unterscheiden; es sei praktisch alles eins . Wir
sehen heute: Das Gegenteil ist der Fall . Wir in CDU und
CSU sind in puncto Integration und Staatsangehörigkeit
ganz anderer Auffassung als der Rest dieses Hauses, und
das ist auch gut so .

Wir haben für diese Legislaturperiode eine Koaliti-
onsvereinbarung mit der SPD geschlossen . Die gilt . Aber
es ist nicht Aufgabe einer Partei, nachzuplappern, was in
einer Koalitionsvereinbarung steht, sondern die Aufgabe
ist, eigene Positionen zu entwickeln .


(Dr . Katarina Barley [SPD]: Genau!)


Deshalb hat meine Partei auf dem Bundesparteitag einen
Beschluss gefasst, mit dem sie sich für eine Rückkehr zur
Optionspflicht ausspricht.

Es geht in diesem Beschluss – Frau Barley, wenn Sie
den Beschluss gelesen hätten, dann hätten Sie das in Ihrer
Rede auch anders darstellen können – nicht um die Be-
seitigung der doppelten Staatsangehörigkeit;


(Dr . André Hahn [DIE LINKE]: Aber um die Brüskierung der Kanzlerin!)


es geht in diesem Beschluss einzig und allein um die
Frage: Sollen junge Erwachsene, die in Deutschland als
Kinder zweier ausländischer Eltern geboren worden und
in Deutschland aufgewachsen sind, eine Wahl zwischen
der deutschen Staatsangehörigkeit und der ihrer Eltern
treffen? Das ist die Frage.

Es war ein Beschluss, der mit knapper Mehrheit ge-
fasst wurde . Schon das zeigt: Es gibt gute Gründe, die
für die eine wie für die andere Auffassung sprechen. Die
Folgen sind nicht trivial . Deshalb sollten wir über diese
Fragen sachlich diskutieren und Andersdenkende nicht
dämonisieren .


(Beifall bei der CDU/CSU – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sollten Sie einmal in die Reihen der CDU/CSU sagen!)


Wer in den Tagen nach unserem Bundesparteitag den
Grünen zugehört hat – auch heute wieder –, der musste
sich fürchten und bekam es fast mit der Angst zu tun,
wenn manches nicht so lächerlich gewesen wäre .


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie schüren Angst und Ressentiments!)


Da war die Rede von schlimmem Populismus . Da war
die Rede von einem bösen Rechtsruck . Meine Damen
und Herren von den Grünen, Sie haben ein kurzes Ge-
dächtnis .


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt passt Ihr geschriebener Text nicht zu meiner Rede! Das ist aber dumm!)


Deshalb helfe ich Ihnen gerne . Das, was Sie als schlim-
men Populismus schmähen, war bis vor genau zwei Jah-
ren geltendes deutsches Recht .


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zu Recht aufgeweicht! – Dr . André Hahn [DIE LINKE]: Das ist zum Glück geändert worden!)


Dieses geschmähte Recht ist im Jahr 1999 von niemand
anderem gemacht worden als von SPD und Grünen
selbst .


(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Mit Ihren überzogenen Kommentaren treffen Sie deshalb
nicht die Union, sondern Sie ballern in Ihrem Fanatismus
auf den eigenen Laden, meine Damen und Herren . Das
ist die Wahrheit .


(Beifall bei der CDU/CSU – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schon einmal etwas von der Funktion des Bundesrates gehört? – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Er kennt unseren Ursprungsentwurf!)


Gerade von den Grünen braucht sich die Union in der
Integrations- und Staatsangehörigkeitspolitik nicht be-
lehren zu lassen .

Wir, nicht Sie, haben den Integrationsgipfel ins Le-
ben gerufen . Wir, nicht Sie, haben einen Nationalen In-
tegrationsplan vorgelegt . Wir, nicht Sie, haben in diesem
Jahr ein Integrationsgesetz verabschiedet . Während wir
gehandelt haben, haben Sie in der Opposition Ihre Multi-
kultikonzepte gepflegt. Das ist die Wahrheit und der zen-
trale Unterschied zwischen Ihnen und uns .


(Beifall bei der CDU/CSU – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat denn die Integrationskurse erfunden? Sie oder wir?)


Die Grünen empfehlen in Gestalt der Kollegin Künast
der Polizei, bei Einsätzen in Moscheen die Schuhe aus-
zuziehen . Wir in der Union sagen: Wenn die Polizei vor
der Tür steht, dann klopft nicht ein unerwünschter Hau-
sierer, sondern der deutsche Rechtsstaat . Und der deut-

Dr. Katarina Barley

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 201621120


(A) (C)



(B) (D)


sche Rechtsstaat kommt nicht auf Socken daher, meine
Damen und Herren .


(Beifall bei der CDU/CSU – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind jetzt auch Fake News, Herr Harbarth! – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zitieren Sie doch nicht ständig die AfD!)


Die Grünen raten in Gestalt des Kollegen Beck einem
Deutschen, der darüber klagt, dass er die Menschen in
seiner Straße nicht mehr versteht, die fremde Sprache zu
lernen . Wir in der Union sagen: Das Erlernen der deut-
schen Sprache ist das Mindeste, was wir als Vorausset-
zung für gelungene Integration brauchen .


(Beifall bei der CDU/CSU – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das habe ich davor ausführlich gesagt!)


Wer in diesem Land als Kind ausländischer Eltern
aufwächst, macht das in einem Land, das ihm unendlich
viele Chancen bietet .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aus einem Kind ausländischer Eltern kann in Deutsch-
land alles werden . Es kann eine gute Schule besuchen .
Es kann jeden Beruf ergreifen . Es kann an einer unserer
besten Universitäten studieren . Alles in Freiheit, alles
in Sicherheit und alles unter dem Schutz dieses Landes .
Wenn dieses Land am Ende dieses Prozesses den jun-
gen Erwachsenen bitten würde, sich bei der Wahl seiner
Staatsangehörigkeit zu entscheiden, dann wäre das kein
schlimmer Populismus, dann wäre das kein schlimmer
und böser Rechtsruck, sondern dann wäre das nur recht
und billig, meine Damen und Herren .

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr . Katarina Barley [SPD]: Warum? Aus welchem Grund?)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1821013600

Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestatten Sie mir,

bevor ich in der Debatte wieder das Wort erteile, einen
Hinweis an die erfreulicherweise so zahlreichen Zu-
schauerinnen und Zuschauer, die sich beispielsweise
fragen, warum die Meldung der Kollegin Künast nicht
zum Erfolg geführt hat . Wir sind in einer Aktuellen Stun-
de . In diesem Format ist es nicht wie sonst in unseren
Debatten möglich, Fragen zu stellen, Bemerkungen zu
machen oder Dinge bilateral zu diskutieren . Dieser Aus-
tausch muss auf anderem Wege erfolgen . – Das nur zur
Erklärung, damit wir hinterher nicht die entsprechenden
Nachfragen bearbeiten müssen .

Wir fahren fort in der Debatte zur Aktuellen Stunde .
Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke für die Fraktion
Die Linke .


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1821013700

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen

Sie mich grundsätzlich noch einmal festhalten: Die Ab-
schaffung der Optionspflicht war ein wichtiger Schritt

zur Integration von jungen Migranten in unserer Gesell-
schaft . Ich denke, das dürfen wir uns von der CDU/CSU
nicht kaputtmachen lassen .


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn es nach der Union geht, soll ein Mensch nur ei-
nen Pass besitzen dürfen, gleichsam als Test seiner Loya-
lität zu Deutschland . Das ist ein Denkansatz, der in der
Tat aus dem vorigen Jahrhundert stammt . Loyalität zu
einer Gesellschaft kann man eben nicht an der Frage der
Staatsbürgerschaft messen . Die Wiedereinführung der
Optionspflicht würde einen Generalverdacht gegenüber
den hier geborenen Kindern bedeuten, denen Sie damit
das Signal geben würden: Ihr gehört nur zu uns, wenn ihr
euch für einen deutschen Pass entscheidet, andernfalls
bleibt ihr dauerhaft Fremde . – Damit wird Integration er-
schwert, und das ist genau der falsche Ansatz .


(Beifall bei der LINKEN)


Meine Damen und Herren, wir können nach dem
CDU-Parteitag feststellen, dass führende Vertreter der
Union vom Parteitagsbeschluss abrücken . Das ist eine er-
freuliche Nachricht . Andererseits muss man sagen: Den
Leitantrag muss man genau lesen; denn der Beschluss
zur Optionspflicht ist noch lange nicht das Schlimmste
gewesen, was auf dem CDU-Parteitag beschlossen wur-
de . Man muss hier sehr deutlich sagen: Diese rassistische
Rhetorik, die Sie für den Wahlkampf 2017 in diesem An-
trag ankündigen, ist wirklich unerträglich .


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das Problem ist Ihre ideologische Verblendung! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Bleiben Sie doch mal bei der Wahrheit!)


Dafür möchte ich gerne ein paar Beispiele geben .

Der Antrag enthält Forderungen, die darauf hinaus-
laufen, das Asylrecht bis zum Gehtnichtmehr zu ver-
schärfen: Ausweitung der Abschiebehaft, rücksichtslose
Abschiebung; wir haben hier eben eine Debatte über Ab-
schiebungen nach Afghanistan geführt . Im Leitantrag der
Union wird sogar gesagt, dass es eine nationale Kraftan-
strengung geben soll, um diese Dinge umzusetzen . Ich
denke, genau mit dieser Rhetorik gießen Sie Wasser
auf die Mühlen von Rechtsextremisten, und Sie unter-
graben zugleich die Aufnahme- und Hilfsbereitschaft in
Deutschland, die viel größer ist, als Sie hier unterstellen .


(Beifall bei der LINKEN)


Rechtspopulismus in Reinkultur ist auch die Forde-
rung nach einem Burkaverbot, die Sie dort niederge-
schrieben haben; denn Sie wollen lediglich Ressenti-
ments gegen Muslime bestärken . Das würde den Frauen
überhaupt nichts nutzen – absolut nichts .

Im CDU-Leitantrag wird auch gefordert, Internie-
rungslager für Flüchtlinge in Nordafrika zu schaffen, also
in Ländern, in denen schwere Menschenrechtsverletzun-
gen an der Tagesordnung sind . Wenn Flüchtlingen der
Zugang zu fairen Asylverfahren gewaltsam verweigert
wird, wird faktisch das internationale Flüchtlingsrecht
aufgekündigt .

Dr. Stephan Harbarth

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 2016 21121


(A) (C)



(B) (D)


In dem Leitantrag wird das Türkei-Abkommen als
sehr erfolgreiches Beispiel genannt . Ich halte das wirk-
lich für einen schlechten Witz; denn auch dabei geht es
nur um Abschottung und Entrechtung von Flüchtlingen .


(Dr . Philipp Lengsfeld [CDU/CSU]: Das geht am Thema vorbei, aber das nur nebenbei! Das zeigt mir, dass Sie keine Argumente haben, dass Sie die ganze Zeit über abseitige, andere Themen reden!)


Zehntausende sind dort zurzeit in primitiven Lagern
untergebracht; sie leiden unter Perspektivlosigkeit und
menschenunwürdigen Verhältnissen . Das darf so nicht
sein . Also weiten Sie nicht Ihre Zusammenarbeit mit der
Diktatur Türkei auf nordafrikanische Regime aus, die
ebenfalls nicht rechtsstaatlich sind!

Zu welchen Hetzkampagnen die Union imstande ist,
zeigt auch die Äußerung von Bayerns Finanzminister
Markus Söder . Erst gestern behauptete er, wegen der
Flüchtlinge gebe es einen Kontrollverlust hinsichtlich
unserer Straßen und Plätze . Gegen die Flüchtlinge will er
jetzt den sogenannten Heimatschutz in Stellung bringen .
Das Bundeskriminalamt hat im Übrigen schon mehr-
fach bestätigt, dass Flüchtlinge keineswegs krimineller
sind als andere Menschen . Aber davon lassen sich Söder
und die Union nicht beeindrucken . So deutlich wie Herr
Söder hat im Übrigen noch nie ein CSU-Mann Flüchtlin-
ge als Bedrohung, ja als Gegner bezeichnet, die man be-
kämpfen müsse . Das ist wirklich menschenverachtende
Hetze, meine Damen und Herren .


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ein deutschtümelnder Wahlkampf mit rassistischen
Schlammschlachten ist das Letzte, was wir jetzt brau-
chen . Ich kann nur an die Union appellieren: Kommen
Sie zur Besinnung, erkennen Sie an, dass in einer Ge-
sellschaft Menschen mit vielen Identitäten und vor allen
Dingen auch mit verschiedenen Staatsbürgerschaften zu-
sammenleben können . Denn sonst verschieben Sie den
gesellschaftlichen Diskurs immer weiter nach rechts und
stärken am Ende damit die rechtsextremistischen Scharf-
macher . Das können wir in der gegenwärtigen Situation
alle nicht wollen .


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1821013800

Das Wort hat der Kollege Josip Juratovic für die

SPD-Fraktion .


(Beifall bei der SPD)



Josip Juratovic (SPD):
Rede ID: ID1821013900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich bin jemand, der der Gastarbeitergeneration angehört .
Ich kam vor 42 Jahren als 15-Jähriger nach Deutschland .
Meine Vita lautet: Gastarbeiter, Migrant,


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gewerkschafter!)


und heute bin ich Deutscher mit Migrationshintergrund .
Übrigens: Ich wollte immer nur Mensch sein in diesem
Land .


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich habe als Gastarbeiter an einem der übelsten Ar-
beitsplätze bei Audi angefangen . Ich habe Unterboden-
schutz von Hand aufgetragen, als es noch keine Roboter
gab, Schulter an Schulter mit Menschen vieler Nationa-
litäten, auch mit Deutschen . Wir haben damals Arbeits-
kämpfe zum Erhalt des Werkes geführt, übrigens wir
Arbeiter, nicht „die da oben“; die haben nur aus dem
Fenster geschaut .

Wir haben uns in der Gesellschaft engagiert, ich per-
sönlich in verschiedenen, auch politischen Vereinen .
Meine Kinder wollte ich im Sinne der Werte und Tugen-
den der Gesellschaft erziehen, in der wir leben . Ich habe
immer gedacht, das ist unser Land . Ich habe immer von
„unserem“ Land gesprochen. Allerdings fällt es mir an-
gesichts der Reden auf dem letzten CDU-Parteitag und
angesichts der Debatten, die dort vom Zaun gebrochen
wurden, schwer, zu glauben, dass ich tatsächlich gleich-
berechtigt bin .


(Sylvia Pantel [CDU/CSU]: Wieso?)


Damit wir uns verstehen: Es gab immer Menschen in
unserem Land, die gesagt haben: Du kannst hundertmal
einen deutschen Pass haben, du bist kein Deutscher . – Da-
mit konnte ich leben . Aber womit ich nicht leben kann,
ist, dass dieser Punkt in der größten deutschen Volkspar-
tei immer noch ein Thema ist .


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Noch eine Bemerkung zum Parteitag der CDU . Ich
verstehe die Frechheit der Jugend; ich war auch einmal
Juso. Dass irgendein paar Rotzlöffel einen Antrag vorle-
gen, das ist auch okay .


(Dr . Stephan Harbarth [CDU/CSU]: Vergleichen Sie mal die Junge Union nicht so leichtfertig mit den Jusos! Da gibt es schon Unterschiede! – Gegenruf der Abg . Dr . Eva Högl [SPD]: Zum Glück gibt es da Unterschiede!)


Aber was ich nicht gut fand, war, dass man das Thema
benutzt hat, um Frau Merkel für ihre Flüchtlingspolitik
eins auszuwischen .


(Widerspruch bei der CDU/CSU)


Man hat wieder einmal eine Debatte auf dem Rücken der
Ausländer vom Zaun gebrochen – wie schon so oft in der
Vergangenheit –, und das finde ich schäbig.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben Erfahrung damit, meine sehr geehrten Da-
men und Herren . Pkw-Maut, Lkw-Maut und verschie-
dene andere Beschlüsse sind von der CDU vom Zaun
gebrochen worden mit dem Argument: Das ist gegen
Ausländer .


(Widerspruch bei der CDU/CSU)


Ulla Jelpke

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 201621122


(A) (C)



(B) (D)


Dadurch haben Sie niedere Instinkte geweckt . Mit diesen
Geschichten macht man immer noch Politik .


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Was? Das ist Quatsch!)


Allerdings muss ich Ihnen eines sagen: Dieses Thema
kann die AfD besser . Lassen Sie das! Sie dienen dem fal-
schen Herrn .


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Integration kann nur durch Identifikation funktionie-
ren . Dazu braucht es die Menschen, die zu uns kommen,
und auch die Menschen, die sie aufnehmen, eine Gesell-
schaft der Vielfalt . Es gibt Millionen von Menschen, die
sich täglich bemühen, um die Integration voranzutreiben .
Wir geben in Integrationskurse und verschiedene ande-
re Maßnahmen Gelder in Milliardenhöhe . Aber wenn es
um die Diskussion geht: „Gehöre ich dazu oder nicht?“,
verläuft das alles im Sand . Deshalb ist es verlogen, hier
zu sagen: „Wir machen etwas für die Integration“, wenn
Sie gleichzeitig die niederen Instinkte bedienen . Das geht
nicht, meine Damen und Herren . Lassen Sie das!


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Verlogen ist dieser Zusammenhang!)


Wir sind eine Schicksalsgemeinschaft hier in Deutsch-
land, und zwar Deutschstämmige wie Migranten . Wir
sind eine Schicksalsgemeinschaft in einem zerrissenen
Europa . Deutschland muss zu einer starken, geschlosse-
nen Gesellschaft werden, weil wir das Vorbild in Europa
sind .


(Dr . Philipp Lengsfeld [CDU/CSU]: Dafür braucht man einen zweiten Pass, oder was? Dafür braucht man einen türkischen Pass? Unüberzeugend! Sehr unüberzeugend!)


An uns werden viele Erwartungen gestellt . Deshalb ist
es sehr wichtig, dass wir uns auf eine Wertegemeinschaft
auf der Grundlage des Grundgesetzes besinnen, und zwar
wir, die wir hier sind, und die, die zu uns kommen .

Da bald Weihnachten ist, möchte ich darauf hinweisen:
In der Präambel unserer Verfassung ist vom Bewusstsein
der „Verantwortung vor Gott und den Menschen“ die
Rede . Das sollte man verinnerlichen . Ich wünsche Ihnen
ein friedliches und vor allen Dingen auch besinnliches
Weihnachtsfest sowie Gottes Segen .

Danke .


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1821014000

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär

Dr . Günter Krings .


(Beifall bei der CDU/CSU)


D
Dr. Günter Krings (CDU):
Rede ID: ID1821014100


Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Vielleicht nur ein Satz, Herr Juratovic: Ihre Rede
war es inhaltlich nicht wert, auf sie einzugehen .


(Widerspruch bei der SPD – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist wirklich peinlich! Sie sind ein Staatssekretär und hier nicht Populist! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie reden hier für die Bundesregierung! – Dr . Eva Högl [SPD]: Was für eine Arroganz!)


Aber ich muss sagen: Wir sollten uns hier untereinan-
der – das widerlegen Sie gerade – nicht mit Schimpfwor-
ten belegen . Das tun wir normalerweise auch nicht .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben Sie gerade gut vorgeführt!)


Ich sage Ihnen eins ganz klar: Menschen, die sich eh-
renamtlich in demokratischen Parteien organisieren, sei
es in der CDU, in der Jungen Union oder auch in der
SPD, haben es nicht verdient, mit Schimpfworten, wie
Sie es gerade getan haben, belegt zu werden .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir debattieren heute über einen Teilaspekt des deut-
schen Staatsbürgerschaftsrechts, nämlich den Umfang
der Optionspflicht im Kontext der doppelten Staatsbür-
gerschaft. Übrigens ist diese nie abgeschafft worden. Sie
ist abgeschwächt bzw . im Anwendungsbereich begrenzt
worden .


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Leider!)


Es gab und gibt keine Abschaffung dieser Optionspflicht.
Aber es geht natürlich zugleich auch um eine Grundfra-
ge unseres Gemeinwesens . Der moderne Staat basiert
auf drei Grundelementen: Staatsgebiet, Staatsgewalt
und Staatsvolk . Aus guten Gründen gehen wir bei allen
diesen drei Elementen prinzipiell von einer Exklusivität
aus. Ein bestimmter Teil der Erdoberfläche ist nur einem
Staatsgebiet zugeordnet .


(Dagmar Ziegler [SPD]: Wir sind hier nicht in der Uni zum Dozieren! Das ist hier nicht der richtige Ort!)


– Offenbar ist es wichtig, so etwas noch einmal zu wie-
derholen . Ich glaube, sachliches Wissen ist auch von Vor-
teil .

In einem Staat kann nur eine Staatsgewalt ausgeübt
werden – vielleicht gehen Sie auch da noch mit –, und
ein Mensch ist im idealtypischen Fall Bürger nur eines
Staates .


(Dagmar Ziegler [SPD]: Wir wissen es!)


Nur bei diesem letzten Element des Staatsvolkes und da-
mit bei der Staatsbürgerschaft


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vollkommener Quatsch!)


Josip Juratovic

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 2016 21123


(A) (C)



(B) (D)


lassen wir von dieser Regel der Exklusivität gewisse
Ausnahmen zu, aber wir halten an dieser Regel grund-
sätzlich fest, meine Damen und Herren .


(Beifall bei der CDU/CSU – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Jura! Drittes Semester!)


Aber unsere Staatsbürgerschaft ist nach wie vor ein
ebenso wichtiges wie wertvolles Rechtsinstitut und eine
unverzichtbare Säule unseres Verfassungsstaates . Die
Staatsangehörigkeit ist – da sind wir uns vielleicht jeden-
falls in weiten Teilen dieses Hauses noch einig – mehr als
ein nützliches Papier, das mir ein unbefristetes Aufent-
halts- und beliebiges Einreiserecht gewährt . Sie bedeutet
vielmehr ein besonderes Verhältnis zwischen Staat und
Bürger, das durch Identifikation und besondere Loyalität
geprägt sein muss . Die Staatsbürgerschaft erfüllt in der
nationalen wie internationalen Rechtsordnung eine un-
verzichtbare Schutz-, Ordnungs- und Zuordnungsfunk-
tion .


(René Röspel [SPD]: Ordnung! Richtig!)


In einer global vernetzten Welt und in Gesellschaften
mit größeren Bevölkerungsteilen, die auch über Staats-
grenzen hinweg hochmobil leben, schwächt sich diese
wichtige Ordnungsfunktion aber allmählich ab . Wenn
durch Wanderungsbewegungen oder transnationale Ehen
immer mehr Menschen auch immer mehr Staatsangehö-
rigkeiten erwerben


(Dagmar Ziegler [SPD]: Oh! Gefahr droht!)


und sich diese in der Generationenfolge ohne Limit wei-
tervererben, dann droht eine Spaltung der Gesellschaften


(Dagmar Ziegler [SPD]: Oh nein! Das darf doch nicht wahr sein!)


in den Teil derer, die mit einer Staatsbürgerschaft aus-
kommen müssen, und in den Teil derer, die über mehrere
Staatsbürgerschaften verfügen, um sich jeweils auch de-
ren Vorteile zunutze machen zu können .


(Dagmar Ziegler [SPD]: Jetzt kommt auch noch die Genetik! – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sollten nach Karlsruhe gehen!)


Aus diesem Grunde bleibt es sinnvoll und notwendig,
sich Gedanken zu machen, wie wir die Problematik von
multiplen Staatsangehörigkeiten reduzieren und in der
Generationenfolge begrenzen können .


(Dagmar Ziegler [SPD]: Arier! Völkisches Denken!)


Für die Vermeidung von Mehrstaatigkeit sind immer
noch die Gründe ausschlaggebend, von denen sich auch
der von SPD und Bündnis 90/Die Grünen eingebrach-
te Gesetzentwurf zur Reform des Staatsangehörigkeits-
rechts vom 16 . März 1999 hat leiten lassen .

Ich zitiere aus der Gesetzesbegründung . Sie können
nicht sagen, sie sei vom Bundesrat wegen der Union um-
geschrieben worden .


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben damals mit der FDP verhandelt! Mit Herrn Brüderle und Herrn Westerwelle!)


Diese Gesetzesbegründung ist Rot-Grün pur . Sie ist von
den beiden Koalitionsfraktionen, also auch von den Grü-
nen, geschrieben worden . Dort heißt es wörtlich:

Dabei wird der Gesichtspunkt der Vermeidung von
Mehrstaatigkeit angemessen berücksichtigt . Insbe-
sondere unter Ordnungsgesichtspunkten besteht ein
staatliches Interesse, die Fälle mehrfacher Staatsan-
gehörigkeit einzuschränken .

Das steht in dem rot-grünen Dokument .


(Zurufe von der SPD)


Die beiden Koalitionspartner hatten mit dieser Begrün-
dung damals recht .


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf des Abg . René Röspel [SPD])


Sie müssen also wissen, dass die Kollegen von den
Grünen hier gegen ein rot-grünes Gesetz krakeelen, das
sie damals so verfasst haben . Um den Gedanken der von
Ihnen so benannten Ordnungsfunktion des Staatsbür-
gerschaftsrechts zu erhalten, müssen wir beispielsweise
auch international offen darüber reden, dass Staaten kei-
ne Besitzansprüche auf ihre Bürger haben können . Ich
halte es für eine Frage des Menschenrechts, dass Bürger
auf ihren Wunsch aus ihrer Staatsbürgerschaft entlassen
werden können, wenn sie dauerhaft in einem anderen
Staat leben wollen .


(Dr . André Hahn [DIE LINKE]: Ihr wollt sie doch zwingen! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur, wenn sie es wollen! Da sind wir uns sogar einig, Herr Krings!)


– Ich will, dass sie es können .

Ich möchte Ihnen – vielleicht haben Sie noch einen
Augenblick Geduld – einen der traurigsten Momente
schildern, den ich jemals in meiner 14-jährigen Tätig-
keit als Abgeordneter erlebt habe . Das war ein Gespräch
mit einer weinenden Mutter von drei Kindern in meiner
Sprechstunde vor wenigen Jahren . Sie und ihr Mann wa-
ren in Afghanistan geboren, hatten aber längst, so wie
ihre Kinder, die deutsche Staatsangehörigkeit . Als die
Frau sich scheiden ließ und auch das alleinige Sorgerecht
für ihre Kinder erhielt, entführte der Mann die drei Kin-
der nach Kabul . Die afghanischen Behörden behandeln
die Kinder, die nie wirklich in Afghanistan gelebt haben,
als Afghanen, nach dem Grundsatz: einmal Afghane, im-
mer Afghane . Das gilt dann eben auch für die folgenden
Generationen . Unserer deutschen Botschaft ist es trotz
großer Anstrengungen nicht gelungen, die Kinder wie-
der mit ihrer Mutter zu vereinen . Auch das sind konkrete
und tieftragische Auswirkungen doppelter Staatsbürger-
schaft .


(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Eine notwendige zukunftsweisende Weiterentwick-
lung unserer Staatsbürgerschaft verlangt eben auch, über
solche Fälle und solche Folgen nachzudenken . Das erfor-

Parl. Staatssekretär Dr. Günter Krings

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 201621124


(A) (C)



(B) (D)


dert Kopfarbeit . Sie stellen gerade unter Beweis, dass Sie
Kehlkopfarbeit können, aber ob Sie Kopfarbeit bei dem
Thema können, das müssen Sie erst noch beweisen .


(Beifall bei der CDU/CSU – Bettina Hagedorn [SPD]: Wir sind hier nicht auf dem CDU-Parteitag! Unfassbar!)


Das heißt aber auch, dass es eine kurzfristige Änderung
des Staatsangehörigkeitsrechts, weil es eben etwas kom-
plizierter ist,


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie reden gerade für die Bundesregierung, Herr Krings! Nicht für Ihre Partei!)


in dieser Koalition, in dieser Wahlperiode nicht geben
wird .


(Bettina Hagedorn [SPD]: Wir sind hier nicht auf dem CDU-Parteitag!)


Erst im vorletzten Jahr haben Union und SPD gegen
den Widerstand der Linken und der Grünen nicht etwa
die Abschaffung der Optionspflicht, sondern deren Ver-
änderung und die Reduzierung ihrer Anwendungsfälle
gemeinsam verabschiedet . Diese Änderung des Options-
modells beim Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft
ist und bleibt geltendes Recht . Daran ändern weder Par-
teitagsbeschlüsse noch Resolutionen noch Migrationsbe-
richte etwas .

Wir werden auch weiterhin verhindern, dass die Axt
an die Fundamente unseres gewachsenen und bewährten
Staatsangehörigkeitsrechts gelegt wird . Deshalb haben
wir in der Koalition dafür gesorgt, dass etwa ein Antrag
der Grünen aus dem letzten Jahr, im dem gefordert wur-
de, Mehrstaatigkeit generell hinzunehmen und die Not-
wendigkeit der Sicherung des eigenen Lebensunterhalts
und auch das Erfordernis, über grundlegende deutsche
Sprachkenntnisse zu verfügen, weitgehend abzuschaffen,
mit breiter Mehrheit in diesem Hause abgelehnt worden
ist .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt nicht!)


Ebenso lehnen wir abstruse Vorschläge aus den Rei-
hen der Linken ab, wonach alle Flüchtlingskinder sofort
und automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft erhal-
ten sollen . So etwas passt nicht zu unserem Staatsbürger-
schaftsrecht .


(Dr . Eva Högl [SPD]: Das kann man ja ändern!)


Wenn die Integrationsbeauftragte der Bundesregie-
rung in ihrem aktuellen Migrationsbericht – ich zitie-
re – die generelle Hinnahme von Mehrstaatigkeit in
Einbürgerungsverfahren fordert, so respektieren wir das
natürlich als ihre persönliche Meinung, aber wir sagen
auch dazu sehr klar: Eine solche Hinnahme von Mehr-
staatigkeit wird die Bundesregierung nicht beschließen .


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn, dann muss es der Bundestag beschließen!)


Denn auch die Union steht zum Koalitionsvertrag und zu
den Grundprinzipien unseres Staatsangehörigkeitsrechts .
Beide schließen genau diese generelle Mehrfachstaats-
bürgerschaft aus .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich kann daher verstehen, dass viele Praktiker der In-
tegrationspolitik, etwa der SPD-Politiker und ehemali-
ge Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky, sich sehr
grundsätzlich gegen die doppelte Staatsbürgerschaft
wenden .


(Dr . Eva Högl [SPD]: Er spricht nicht für die SPD!)


Anders als dieser Kollege bin ich aber nicht der Mei-
nung, dass eine doppelte Staatsbürgerschaft generell
der Integration schadet . Wir gehen beim Erwerb unserer
Staatsbürgerschaft vom Menschen und seiner individu-
ellen Biografie aus. Deshalb weiß ich, dass es natürlich
Menschen gibt, die zum Beispiel aufgrund eines längeren
Aufenthalts in verschiedenen Staaten, aufgrund beson-
derer Umstände auch Loyalität zu mehr als einem Staat
empfinden können.


(Zuruf von der SPD: Das geht dann auf einmal?)


Aber wir wollen es nicht hinnehmen, wenn Menschen
zwar aus rein praktischen Erwägungen neben einer aus-
ländischen auch die deutsche Staatsbürgerschaft für sich
reklamieren, dabei aber nur eine Loyalität empfinden,
und zwar gerade nicht zu unserem deutschen Staat und
seiner Verfassung, meine Damen und Herren .


(René Röspel [SPD]: Woher wissen Sie das?)


Genau aus diesem Grunde haben CDU und CSU
gegen den Widerstand fast aller politischen Kräfte in
Deutschland den Einbürgerungstest durchgesetzt . Wir
alle werden diesen Test als Herzstück unseres Einbür-
gerungsrechts auch erhalten und gegen alle Widerstände
verteidigen .


(Beifall bei der CDU/CSU – Dagmar Ziegler [SPD]: Aber Sie wissen schon, dass Sie hier als Staatssekretär reden?)


Das Gleiche gilt eben für die Vermeidung von Mehr-
fachstaatsangehörigkeiten . Es bleibt dabei: Wir wollen
Mehrfachstaatsangehörigkeiten im Einklang mit der
geltenden Rechtslage in dieser besonders begründungs-
würdigen Konstellation akzeptieren, aber eben nicht als
generelles Prinzip etablieren .

Dass die Bundesregierung an der Stelle auch im
nächsten Jahr beim geltenden Recht bleibt, ist eigentlich
für alle eine gute Nachricht . Wir werden im neuen Jahr
an dieser Stelle dasselbe Recht wie im alten Jahr haben .
In diesem Sinne darf ich Ihnen allen als letzter Redner
seitens der Bundesregierung ein gutes neues Jahr mit viel
Stabilität, ein gesegnetes Weihnachtsfest und einen schö-
nen vierten Advent wünschen .

Vielen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU – Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: War das jetzt Parl. Staatssekretär Dr. Günter Krings Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 2016 21125 die Regierung oder die CDU? – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war „Der CDU steht das Wasser bis zum Hals“! – Dr . Eva Högl [SPD]: Und die Kanzlerin ist ja auch anderer Auffassung!)


(A) (C)


(B) (D)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1821014200

Das Wort hat der Kollege Özcan Mutlu für die Frakti-

on Bündnis 90/Die Grünen .


Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1821014300

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst

einmal zwei Sätze vorweg . Das beste Beispiel, wie sich
Fake News verbreiten, hat vorhin der Kollege Harbarth
geboten, indem er schlichtweg etwas verbreitet hat, was
die Kollegin Künast nie so gesagt hat . Es ist einfach un-
verschämt, dass Sie dem Haus das antun .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg . René Röspel [SPD])


Wenn ich die heutige Debatte und frühere Debatten zu
diesem Thema in diesem Hause Revue passieren lasse,
frage ich mich mit Blick auf die CDU/CSU-Fraktion und
auch auf den Staatssekretär, bei dem man nicht wusste,
ob er hier auf einem CDU-Parteitag oder für die Bundes-
regierung redet,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Sebastian Hartmann [SPD]: Sehr gute Frage!)


ernsthaft: In welchem Jahrhundert leben Sie? Ihre partei-
politischen Spielchen auf dem Rücken junger Menschen
auszutragen, ist einfach nur schäbig .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg . René Röspel [SPD])


Diese Debatte und das, was wir heute hier erlebt haben,
ist Gift für die Integration und spaltet unsere Gesell-
schaft .

Ich kann mich noch sehr genau an die Zeiten von
Roland Koch erinnern, der damals mit seiner Kampagne
gegen die doppelte Staatsbürgerschaft, die im Übrigen
später, wie Kollegin Dağdelen gesagt hat, in eine „Aus-
länder raus“-Kampagne ausgeartet ist, unserem Land
geschadet hat . Mit dieser Kampagne damals wurde die
Integrationspolitik dieses Landes um Jahre, wenn nicht
sogar um Jahrzehnte zurückgeworfen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Dr . Peter Tauber [CDU/CSU]: Es gab vorher überhaupt keine! Sie haben vorher gar nichts gemacht!)


Nichts anderes tun Sie heute hier in diesem Hause und
mit Ihrem Parteitagsbeschluss . Es ist beschämend, dass
eine große Volkspartei wie die CDU/CSU sich wieder
einem derartigen Populismus hingibt und nichts aus den
Fehlern der Vergangenheit gelernt hat .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Akzeptieren Sie endlich, dass es Millionen Menschen
mit doppelter Staatsbürgerschaft gibt . Das ist in der mo-
dernen Welt auch unvermeidbar . Ich weiß, dass sich die
CDU/CSU, wie so oft, schwertut mit den Realitäten .
Aber Vielfalt ist in unserem Einwanderungsland nun ein-
mal Tatsache, und das ist auch gut so .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg . Matthias Schmidt [Berlin] [SPD])


Wir reden inzwischen von hybriden Identitäten . Verges-
sen Sie einfach mal die Pässe . Etliche Studien, interna-
tionale wie nationale, zeigen, dass die doppelte Staats-
bürgerschaft kein Integrationshindernis ist; im Gegenteil .
Daran ändert sich auch nichts, wenn Teile der CDU/CSU
das weiterhin wider besseres Wissen und fälschlicher-
weise behaupten .

Ihre Behauptungen sind ein massives Integrationshin-
dernis . Noch schlimmer: Sie stellen mit Ihrem Vorhaben
die größte Einwanderungsgruppe unter Generalverdacht .
Es geht Ihnen allein um die Menschen, die aus der Türkei
stammen und seit Generationen bei uns leben . Diese Un-
gleichbehandlung hat einen Namen: Türkenfeindlichkeit,
und das grenzt an Rassismus .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Widerspruch bei der CDU/CSU)


Haben Sie schon einmal eine Deutschrussin oder ei-
nen Deutschpolen gefragt, ob er oder sie Loyalitätspro-
bleme hat? Das sind nämlich die größten Gruppen der
Doppelstaatler, die hier in Deutschland leben . Es wird in
Ihren Debatten immer der Eindruck vermittelt, als wür-
de es darum gehen, zwischen willkommenen und nicht
willkommenen Herkunftsländern zu unterscheiden, und
die Türkei ist nicht willkommen. Das schafft Ängste und
Ressentiments, und das ist nicht gut, weder für unser Zu-
sammenleben noch für die Integration in diesem Land .

Sie geben den Jugendlichen, die hier geboren und auf-
gewachsen sind, immer wieder das Gefühl: Ihr gehört
nicht hierher . Ihr seid anders . Wir wollen euch nicht .


(Dr . Philipp Lengsfeld [CDU/CSU]: So ein Quatsch! Es ist genau andersherum, Kollege!)


Damit treiben Sie die jungen Menschen erst recht in die
Arme Ankaras, und damit schaffen Sie genau die Paral-
lelgesellschaften, die Sie beklagen . Dann wundern Sie
sich, warum .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich kann Ihnen sagen: Das ist weder unser Ziel, noch
darf es das Ziel von irgendjemandem in diesem Haus
sein . Sie stärken damit nämlich die Populisten . So jeden-
falls – das kann ich Ihnen von diesem Pult aus sagen –
werden Sie die Wählerinnen und Wähler, die Sie an die
AfD verloren haben, nicht zurückgewinnen . Mit dieser
gefährlichen Scheindebatte schaffen Sie mehr Unsicher-
heit und mehr Ängste und spalten die Gesellschaft .

Parl. Staatssekretär Dr. Günter Krings

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 201621126


(A) (C)



(B) (D)


Die Einführung der Optionspflicht löst keine Proble-
me, sondern sie schafft viel mehr Probleme. Dabei brau-
chen wir gerade jetzt, in diesen Tagen und Monaten, ei-
nen größeren gesellschaftlichen Zusammenhalt und ein
Aufeinanderzugehen .

Natürlich müssen wir auch über Probleme reden .


(Zuruf von der CDU/CSU: Aha! Na dann mal los!)


Es gibt bei der Integration auch Probleme . Keiner bestrei-
tet das; das hat auch Kollege Volker Beck nie bestritten .
Aber unsere Aufgabe ist es, im Hinblick auf diese Pro-
bleme nach konkreten Lösungen zu suchen und gezielte
Maßnahmen zu ergreifen, besonders im Bereich der Bil-
dung . Die Ablenkungsmanöver mit der Argumentation
gegen die doppelte Staatsbürgerschaft helfen definitiv
nicht; sie spielen nur der AfD in die Hände .


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1821014400

Kollege Mutlu, kommen Sie zum Schluss?


Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1821014500

Ich komme zum Schluss . – Zu guter Letzt möchte ich

Ihnen, weil wir kurz vor Weihnachten sind, gerne eine
Lektüre nahebringen .


(Der Redner hält ein Buch hoch)


In diesem Buch Politik ohne Grenzen stehen die Ge-
schichten von 21 Kolleginnen und Kollegen aus diesem
Haus mit Einwanderungshintergrund, und zwar par-
teiübergreifend – es sind auch Kolleginnen und Kolle-
gen von der CDU/CSU dabei –, die beschreiben, wie ihre
Wege in die Politik waren . Ich kann Ihnen sagen: Loya-
litätskonflikte oder Misstrauen gegenüber der deutschen
Gesellschaft finden Sie in diesem Buch nicht.

In diesem Sinne: Frohe Weihnachten .

Ich schenke dieses Buch jetzt Jens Spahn, damit er et-
was lernt .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Abg . Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN] übergibt dem Parl . Staatssekretär Jens Spahn ein Buch – Dr . Eva Högl [SPD]: Nein! Lieber Herrn Krings!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1821014600

Das Wort hat der Kollege Sebastian Hartmann für die

SPD-Fraktion .


(Beifall bei der SPD)



Sebastian Hartmann (SPD):
Rede ID: ID1821014700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Damen

und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen
Sie mich eines vorweg sagen: Ich glaube nicht, dass zwei
Pässe Loyalitätskonflikte verursachen, sondern das Aber-

kennen von Teilen der eigenen Identität verursacht Loya-
litätskonflikte.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist nicht so, dass diese Debatte im luftleeren Raum
stattfindet. Natürlich sind wir nach einem CDU-Parteitag
in einer bestimmten Debattenlage . Mit Verlaub, sehr ge-
ehrter Herr Staatssekretär Dr . Krings: Ich hatte über wei-
te Strecken nicht den Eindruck, dass Sie eine Erklärung
für die Bundesregierung abgegeben haben, sondern dass
Sie als CDU-Parlamentarier gesprochen haben .


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie haben zumindest nicht für Bundeskanzlerin Angela
Merkel gesprochen, die in dieser Frage ja eine dezidiert
andere Meinung hat .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gegen die eigene Kanzlerin! Das muss man sich mal klarmachen!)


Einen zweiten Punkt möchte ich Herrn Tauber in aller
Deutlichkeit zurufen . Wer der SPD hier im Plenum vor-
wirft, wir würden nur einer roten Fahne hinterherlaufen,
der hat, was die Geschichte angeht, nicht aufgepasst,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Es war das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, das die
Republik verteidigt hat, als sich die Konservativen vom
Acker gemacht haben, meine Damen und Herren . Es är-
gert mich, wenn eine solche Geschichtsklitterung vorge-
nommen wird .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich muss in aller Klarheit sagen: Wir werden uns das mit
der Fahne nicht nehmen lassen . Das machen Sie mit deut-
schen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten nicht .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Es geht in dieser Debatte nicht nur um den Wegfall der
Doppelstaatlichkeit oder um die Wiedereinführung einer
Optionspflicht. Vielmehr geht es um einen Rückfall in
die Zeit davor . Im Kern heißt es: Es war ein Fehler, euch,
die ihr hier aufgewachsen seid und in Deutschland arbei-
tet, den deutschen Pass zu geben .


(Dr . Philipp Lengsfeld [CDU/CSU]: Nein! So ein Blödsinn! Das stimmt doch gar nicht! Das ist falsch!)


Das löst einen weiteren Loyalitätskonflikt aus. Dieser
Beschluss zielt auf junge Erwachsene, die in Deutsch-
land geboren und aufgewachsen sind .


(Dr . Philipp Lengsfeld [CDU/CSU]: Ja, genau! Natürlich! Auf wen sonst?)


Er ist im Kern ein Wegducken in jeglicher Hinsicht . Er
zielt auf den inneren Kern der Integration .

Özcan Mutlu

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 2016 21127


(A) (C)



(B) (D)


Sie haben damit für sich ein Problem produziert . Es
gab einen Teil der CDU-Bundesparteitagsdelegierten, die
sich nicht getraut haben, offen mit der Flüchtlingspolitik
der Kanzlerin zu brechen . Stattdessen haben sie sich mit
der Optionspflicht einzelne Menschen in unserem Land
ausgesucht, und sie haben diese Menschen einem Loya-
litätskonflikt ausgesetzt. Das ist das Ventil, das sich der
Parteitag gesucht hat .


(Beifall bei der SPD)


Und das wird auf dem Rücken von jungen Menschen in
diesem Land ausgetragen . Es ist unverantwortlich, dass
Sie einen internen Machtkampf in dieser Art und Weise
führen, meine Damen und Herren . Das müssen Sie jetzt
in diesem Plenum hier aushalten .


(Dr . Philipp Lengsfeld [CDU/CSU]: Argumentieren Sie doch zur Abwechslung einmal!)


Hier wird versucht, Heimat gegen Herkunft auszuspie-
len, und ich dachte, dass wir in der Debatte weiter sind .

Liebe Kolleginnen und Kollegen, was mich daran är-
gert, ist: Glauben Sie eigentlich wirklich, dass Sie mit
diesem Schlingerkurs in der Integrations- und Innen-
politik tatsächlich irgendeinen rechten Wähler an den
Wahlurnen zur CDU zurückbringen? Das können Sie
doch nicht ernsthaft glauben . Das wird nicht funktionie-
ren . Ich bin bei Ihnen, den Kollegen von den Linken, und
glaube, da wird im Zweifel das Original der entsprechen-
den Populisten gewählt .

Ich bin dem Innenminister Thomas de Maizière aus-
drücklich sehr dankbar, der auf dem Parteitag sagte: In
Wahrheit ist es natürlich eine verkappte Türkei-Diskus-
sion, wenn wir ehrlich sind . – Das ist auf dem Parteitag
gesagt worden,


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und das ist schäbig!)


und das ist nicht in Ordnung .

Sie haben in der Integrationsdebatte einen großen
Schaden angerichtet und damit auch jemanden in Essen,
in meinem Heimatland Nordrhein-Westfalen getroffen,
in dem wir wissen, wie man Integration, Zusammenleben
und Zusammenhalt organisiert .


(Lachen bei der CDU/CSU)


Sie haben damit auch Ihren sogenannten Spitzenkandi-
daten Armin Laschet getroffen, der sich seit diesem Par-
teitag wegduckt und nicht mehr in dieser Frage Stellung
bezieht .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Er war sogenannter Integrationsminister in Nord-
rhein-Westfalen, ein großer Fan der doppelten Staats-
bürgerschaft . Ich könnte die vielen Stapel an Interviews
mitbringen und vorlesen, was er alles gesagt hat, aber ich
habe nicht die entsprechende Zeit . Nach dem Parteitag in
seiner Heimat, in Essen, ist er sprachlos, und das ist das
Problem . Sie haben damit einen Riesenschaden für Ihren

Wahlkämpfer verursacht . Das müssen Sie auch aushal-
ten, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU .


(Zurufe von der CDU/CSU)


Wir haben als Sozialdemokratinnen und Sozialdemo-
kraten diesen Wandel in Nordrhein-Westfalen organi-
siert . Deswegen sage ich Ihnen eine Sache voraus: Armin
Laschet wird nicht Ministerpräsident Nordrhein-Westfa-
lens .


(Beifall bei der SPD)


Ich sage Ihnen eine zweite Sache voraus: Egal wie die
Bundestagswahl ausgeht, Sie werden, außer den Populis-
ten, wenn die überhaupt in das Parlament kommen, nie-
manden finden, der mit Ihnen diesen sogenannten Rück-
nahmebeschluss der Optionspflicht umsetzt, und das ist
das Problem, und das müssen wir sehr deutlich sagen .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch, die AfD!)


Für alle Menschen, die in diesem Land jetzt verunsi-
chert sind, die sich Sorgen machen und sich fragen: „Gilt
denn das noch, was wir beschlossen haben?“, lese ich
es noch einmal vor – es steht in unserem Koalitionsver-
trag –:

Wer in Deutschland geboren und aufgewachsen ist,
soll seinen deutschen Pass nicht verlieren und kei-
ner Optionspflicht unterliegen.

Diese Vereinbarung gilt, und auf deren Einhaltung wer-
den wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in
der Großen Koalition achten, und daran werden wir Sie
erinnern, meine Damen und Herren . Ich glaube, da ste-
hen wir an der Seite derjenigen in Ihrer Partei, die noch
mit Ihrer Kanzlerin mitgehen .


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es werden immer weniger!)


Abschließend: Weil es so ist und weil es einige hier
auch gesagt haben, will ich mit dieser Tradition nicht
brechen . Es ist bald Weihnachten . Ich wünsche Ihnen ein
frohes Weihnachtsfest, eine ruhige Zeit . Die Bescherung
hat der CDU-Bundesparteitag angerichtet .

Danke .


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1821014800

Der Kollege Stephan Mayer hat für die CDU/

CSU-Fraktion das Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1821014900

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle-

ginnen! Sehr geehrte Kollegen! Ich habe gehofft, dass
diese letzte Debatte vor der Weihnachtspause in einer

Sebastian Hartmann

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 201621128


(A) (C)



(B) (D)


vorweihnachtlichen, ruhigen, sachlichen, unaufgeregten
Form abläuft. Diese Hoffnung hat sich leider nicht erfüllt.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Kollege Krings hat das verursacht!)


Wenn man sich als objektiver Beobachter der Debat-
te die Reden der Opposition und leider auch der SPD
angehört hat mit den Vorwürfen, die uns als CDU/CSU
gemacht wurden, dann ist man, glaube ich, erstaunt . Da
kamen die Vorwürfe: Hetze, Populismus, Ideologie, Ras-
sismus, Türkenfeindlichkeit . Kein Vorwurf, den Sie uns
gemacht haben, war Ihnen zu billig .


(Beifall bei der CDU/CSU – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Schlimme ist ja, dass das alles zutrifft!)


Ich sage Ihnen eines ganz deutlich, weil Sie uns, der
CDU/CSU, jetzt mehrmals den Vorwurf gemacht haben,
wir würden mit der Debatte zur Spaltung der Nation, zur
Spaltung unseres Volkes, beitragen:


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das tun Sie!)


Das Gegenteil ist der Fall . Sie tragen mit Ihrer Rhetorik
und Ihren unerhörten Vorwürfen zur Spaltung und zur
Polarisierung unserer Gesellschaft bei .


(Beifall bei der CDU/CSU – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie spalten!)


Ein verständiger und neutraler Beobachter dieser Debatte
muss doch den Eindruck haben, dass Sie an der Realität
in unserem Land vollkommen vorbeidiskutieren .


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat denn den Beschluss gefasst? Das wart ihr in der CDU!)


Ich möchte eines klarstellen: Frau Kollegin Künast,
Ihr Kollege Mutlu hat behauptet, mein Kollege Harbarth
hätte Ihnen ein falsches Zitat in den Mund gelegt . Sie
wissen, ich bin Ihnen zur Seite gesprungen und habe
viel Verständnis für Ihren Unmut über die jüngste Fake
News, die Ihnen zugeschrieben wurde . Aber mein Kol-
lege Harbarth hat vollkommen recht: Sie haben dieses
Zitat bezüglich der Vorgehensweise von Polizisten in
Moscheen in einer Sendung von Maischberger gebracht,
und zwar am Dienstag, den 6 . Oktober 2015 .


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe sie nicht aufgefordert, sondern auf die Frage, ob ich das gut fand, geantwortet! Ich habe gesagt, das finde ich respektvoll!)


Ich wollte das hier nur richtigstellen, meine sehr verehr-
ten Kolleginnen und Kollegen .


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Passen Sie auf! Die rufen gleich den Ältestenrat an!)


Ich möchte deutlich machen: Ich habe Sympathie für
den Parteitagsbeschluss der CDU, was die Rückkehr zur
früheren Rechtslage anbelangt . Ich möchte auch hervor-
heben: Worüber regen Sie sich von den Grünen und von

der SPD auf, wenn die CDU oder auch die CSU in einem
Beschluss die Rückkehr zur früheren Rechtslage fordert?


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wollen wir den Ältestenrat anrufen?)


Genau Sie haben diese Rechtslage 1999 herbeigeführt .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Sie wenden sich gegen etwas, wofür Sie 1999 selbst wa-
ren .

Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen,
wir haben in dieser Legislaturperiode das Staatsange-
hörigkeitsrecht verändert. Wir haben die Optionspflicht
nicht abgeschafft, sondern nur eingeschränkt. Ich möchte
auch keinen Hehl daraus machen: Das war nicht unser
Wunsch, das war der Wunsch unseres Koalitionspartners .
Wir haben uns insofern koalitionsvertragstreu verhalten .


(Bettina Hagedorn [SPD]: Sie haben zugestimmt!)


Wir haben die Optionspflicht unter bestimmten Vo-
raussetzungen für die Menschen aufgehoben – sie konn-
ten also beide Staatsbürgerschaften behalten –, bei de-
nen es klare Indizien dafür gibt, dass sie in die deutsche
Gesellschaft integriert sind . Die Voraussetzungen dafür
sind, dass sie bis zu ihrem 21 . Lebensjahr mindestens
acht Jahre in Deutschland gelebt haben, sechs Jahre zur
Schule gegangen sind oder einen erfolgreichen Schulab-
schluss oder einen erfolgreichen Berufsschulabschluss
gemacht haben . Das sind klare Indizien .

Ich bin auch der Überzeugung, es wäre jetzt falsch, in
gesetzgeberischen Aktionismus zu verfallen


(Dagmar Ziegler [SPD]: Vor allen Dingen erfolglos!)


und in der laufenden Legislaturperiode noch einmal
Hand an das Staatsangehörigkeitsrecht zu legen . Ich
möchte aber auch die Frage stellen, ob wir nicht viel-
leicht vorschnell gehandelt haben . Führen wir uns die
Entwicklungen der letzten Wochen und Monate vor Au-
gen: den Putschversuch in der Türkei am 15 . Juli dieses
Jahres, in der Folge davon die innerstaatlichen Konflikte
in der Türkei, die auch klare Auswirkungen in Deutsch-
land haben .

Auch in Deutschland gab es Demonstrationen von
türkischen Staatsangehörigen und von deutschen Staats-
angehörigen türkischer Herkunft für Erdogan und ge-
gen Erdogan . Wir haben doch klar gesehen, dass diese
Vorkommnisse in der Türkei, auch die bilateralen Span-
nungen zwischen der Türkei und Deutschland, auf unser
Land nicht ohne Auswirkungen geblieben sind und nicht
ohne Auswirkungen bleiben .

Deswegen ist die Frage vollkommen berechtigt: Wem
gilt die Loyalität eines türkischen Staatsangehörigen oder
eines deutschen Staatsangehörigen türkischer Herkunft,
wenn er in Deutschland demonstriert? Gehört die Loya-
lität dem Volk mit einer Bundeskanzlerin Angela Merkel

Stephan Mayer (Altötting)


Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 2016 21129


(A) (C)



(B) (D)


oder dem Volk mit einem Präsidenten Erdogan? Das ist
doch eine berechtigte Frage, Herr Kollege Lischka .


(Beifall bei der CDU/CSU – René Röspel [SPD]: Wenn sich die Bayern zwischen Bayern und Deutschland entscheiden müssten, wären sie immer für den Freistaat! – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie treiben mit Ihrer Politik die Leute in seine Arme! Kapieren Sie es doch!)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind
klar der Auffassung: Es muss beim Grundsatz bleiben,
dass man nur eine Staatsangehörigkeit hat, die Mehrstaa-
tigkeit muss die Ausnahme bleiben . Es ist ein Irrglaube,
meine Kolleginnen und Kollegen von der Opposition und
von der SPD, zu denken, dass man Integration über einen
Ausweis erreicht .


(Dr . Eva Högl [SPD]: Aber auch! – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat hier keiner behauptet!)


Man erreicht Integration über tatsächliche Maßnahmen .

Eines möchte ich Ihnen zum Abschluss ins Stamm-
buch schreiben . Erst seit Angela Merkel im Bundeskanz-
leramt sitzt, ist Integration ganz oben auf der politischen
Agenda angekommen .


(Beifall bei der CDU/CSU – Lachen des Abg . René Röspel [SPD])


Sie haben immer nur geschwätzt und geredet .


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat denn die Integration ins Aufenthaltsgesetz geschrieben?)


Aber Sie haben für Integration nichts getan . – Ich möchte
zu meiner Hoffnung zurückkehren, dass wir die weitere
Debatte in der erforderlichen Sachlichkeit und auch in
der erforderlichen Ruhe führen können .

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin der
festen Überzeugung, dass es richtig ist, in der verbleiben-
den Zeit der Legislaturperiode das Staatsangehörigkeits-
recht so zu belassen, wie es ist .


(Bettina Hagedorn [SPD]: Das geht ja auch gar nicht anders!)


Aber im Wahlkampf werden wir mit Sicherheit mit unse-
ren Wählerinnen und Wählern über dieses gesellschafts-
politisch wichtige Thema sehr intensiv diskutieren . Das
werden wir von der CDU und von der CSU machen .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1821015000

Das Wort hat der Kollege Helmut Brandt für die CDU/

CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Helmut Brandt (CDU):
Rede ID: ID1821015100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Ich war aus rein
persönlichen Gründen nicht auf dem Bundesparteitag der

CDU, aber ich bin der Jungen Union sehr dankbar, dass
sie diesen Antrag eingebracht hat und damit eine Dis-
kussion ermöglicht und eröffnet hat, die ich für absolut
notwendig halte und auch keineswegs rückwärtsgewandt
finde. Denn es geht doch primär gar nicht darum, die dop-
pelte Staatsbürgerschaft an sich infrage zu stellen oder
Beschlüsse, die der Bundestag in dieser Legislaturperi-
ode gefasst hat, infrage zu stellen oder abzuändern . Es
geht doch in Wahrheit um die Frage – das ist der linken
Seite dieses Hauses offensichtlich sehr unangenehm –,
ob man ein Gesetz oder eine Regelung nicht auch einmal
hinterfragen darf und muss .


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber doch nicht durch einen Beschluss!)


Sie fordern bei allen sicherheitspolitischen Gesetzen,
die wir im Bundestag verabschieden, eine Evaluation .
Nur bei diesem Thema scheuen Sie die Evaluation . Da
merken Sie, dass, wenn man das einmal auf die Wirk-
samkeit überprüft, dieser Schuss nach hinten losgeht .


(Dagmar Ziegler [SPD]: Haben Sie es denn überprüft? – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sie waren doch gar nicht da, haben Sie gesagt!)


– Ja, Sie aber zum Glück auch nicht .

Meine liebe Kollegin Barley ist nicht mehr anwesend,
aber vielleicht geben Sie es ihr weiter: Ich habe in mei-
nem Wahlkreis mannigfach Anrufe und Anfragen von
SPD-Mitgliedern und Wählerinnen und Wählern, auch
von Grünen, bekommen,


(Dagmar Ziegler [SPD]: Die sich ausgerechnet bei Ihnen ausweinen! – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Also, Grüne haben sich mit Sicherheit nicht bei Ihnen gemeldet! Das kann ich Ihnen versprechen!)


die gesagt haben: Herr Brandt, setzen Sie sich dafür ein,
dass das wieder zurückgenommen wird! – Wenn ich Ge-
neralsekretär der SPD wäre, dann wüsste ich, dass es in
der eigenen Partei nicht nur solche Stimmen gibt, son-
dern dass sie auch immer lauter werden .


(Dagmar Ziegler [SPD]: Das glaubt Ihnen doch keiner! – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das glaubt Ihnen aber keiner!)


– Das ist etwas, das Ihnen wehtut, Herr Mutlu, und des-
halb schreien Sie . Aber das nützt Ihnen nichts . Sie sollten
einmal darauf schauen, was die Menschen vor Ort tat-
sächlich denken .


(Bettina Hagedorn [SPD]: Dafür brauchen wir Sie nicht!)


Deshalb ist es wichtig, dass man die Diskussion sach-
lich und ruhig führt . Der Kollege Günter Krings, aber
auch andere – im Übrigen auch Sie, Herr Mutlu – haben
zu Recht auf Dinge hingewiesen, die man hinterfragen
muss . Es gibt zunehmend viele Doppelstaatler in unse-
rem Lande, und zwar nicht nur Türken, sondern auch

Stephan Mayer (Altötting)


Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 201621130


(A) (C)



(B) (D)


Menschen, die aus Russland kommen, die kraft Gesetz
beide Staatsbürgerschaften behalten .


(René Röspel [SPD]: Das funktioniert doch, oder nicht?)


Wir stellen auch fest: Die Länder, die ihre Bürger nicht
aus der Staatsbürgerschaft entlassen – das sind Russland
und auch die Türkei –,


(Gülistan Yüksel [SPD]: Die Türkei entlässt doch!)


geben sie ihnen selbst dann direkt wieder zurück, als
Freifahrtschein, sobald sie sie hier abgelegt haben,


(Gülistan Yüksel [SPD]: Das ist doch gar nicht wahr! – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt doch gar nicht! Sie haben doch gar keine Ahnung!)


und zwar deshalb, Herr Mutlu, weil Ihr Präsident
Erdogan – –


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mein Präsident? Das nehmen Sie zurück! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist eine Beleidigung!)


– Ich weiß ja nicht, ob Sie noch die türkische Staatsbür-
gerschaft haben,


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das zeigt, wes Geistes Kind Sie sind! Mein Präsident ist Gauck! Das ist eine Unverschämtheit! Das ist unglaublich! Das ist Rassismus, was Sie betreiben! – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unglaublich! Entschuldigen Sie sich auf der Stelle!)


aber jedenfalls alle, die die türkische Staatsbürgerschaft
haben, können sagen: ihr Präsident Erdogan .


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie wäre es mit einer Entschuldigung?)


Er nutzt nämlich genau die Situation für sich aus . Er
macht in Deutschland Wahlkampf für die AKP und hat
damit erreicht, dass 60 Prozent der in Deutschland leben-
den Türken die AKP gewählt haben .


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja unfassbar!)


Deshalb ist es bei Rückkehr zur Sachlichkeit geboten,
diese Frage zu evaluieren . Deshalb glaube ich, dass wir
in den nächsten Jahren – –


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schämen Sie sich!)


– Ich weiß nicht, weshalb Sie mir zurufen .


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil Sie gesagt haben, Erdogan sei sein Präsident! Das ist unser Kollege! Das ist unglaublich! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hat einen deutschen Pass! – Glocke der Präsidentin)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1821015200

Ich bitte jetzt um Ruhe . Ich habe die Uhr angehalten,

Kollege Brandt, und möchte an dieser Stelle anregen, bis
zum Ende dieses Beitrages darüber nachzudenken, ob
Sie eine Äußerung, die Sie eben gegenüber dem Kolle-
gen Mutlu getätigt haben, korrigieren wollen . Das steht
Ihnen natürlich frei . Dann werden wir nach Abschluss
der Debatte – das sage ich jetzt schon – noch Erklärungen
entsprechend § 30 unserer Geschäftsordnung zur Kennt-
nis nehmen .

Wenn wir die Debatte fortführen – darauf mache ich
aufmerksam –, hat überwiegend der Kollege Brandt das
Wort . Natürlich ist das Instrument des Zwischenrufs da-
mit nicht verboten . Ich mache noch einmal darauf auf-
merksam – da inzwischen auf der Besuchertribüne ein
Wechsel stattgefunden hat –, dass es in diesem Format
der Debatte nicht möglich ist, mit Zwischenfragen und
Bemerkungen zur Aussprache direkt auf geäußerte In-
halte zu reagieren . Deshalb eskalierte hier gerade wahr-
scheinlich die Situation .

Wir fahren in der Debatte fort .


Helmut Brandt (CDU):
Rede ID: ID1821015300

Besten Dank, Frau Präsidentin . – Herr Kollege Mutlu,

mit dem, was ich eben gesagt habe, wollte ich auf keinen
Fall deutlich machen, dass Sie als Person Herrn Erdogan
als Ihren Präsidenten ansehen . Ich wollte deutlich ma-
chen – das ist mir offensichtlich auch gelungen –, dass
diejenigen in Deutschland, die eine deutsche und eine
türkische Staatsbürgerschaft haben und die Möglichkeit
haben, den Präsidenten in der Türkei mitzubestimmen,
in einem Loyalitätskonflikt sind und dass eine solche Si-
tuation von Regimen wie denen von Herrn Erdogan und
Herrn Putin ausgenutzt wird, um hier in Deutschland Po-
litik zu machen .


(René Röspel [SPD]: Kann es sein, dass es Erdogan-Gegner gibt?)


Wenn Sie sich dadurch beleidigt gefühlt haben, bedauere
ich das . Das war nicht meine Absicht . Ich entschuldige
mich dafür bei Ihnen . Aber eines ist ganz klar – das ist
der Punkt, über den wir in den nächsten Jahren nachden-
ken müssen –: Kann es richtig sein, dass immer mehr
Menschen in Deutschland leben, die sich in einem sol-
chen Loyalitätskonflikt befinden, oder müssen wir da
nicht Schranken einbauen? – Darüber sollte die Diskus-
sion in den nächsten Jahren gehen .

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche allen
frohe Weihnachten und ein gutes Jahr 2017 .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1821015400

Die Aussprache ist beendet .

Ich erteile nach § 30 unserer Geschäftsordnung der
Kollegin Renate Künast das Wort zu einer Erklärung zur
Aussprache .

Helmut Brandt

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 2016 21131


(A) (C)



(B) (D)



Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1821015500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich will etwas richtigstellen . Im Netz gibt es eine Kam-
pagne von Rechtsextremen, die mir immer wieder etwas
vorhalten, was mir heute auch Herr Harbarth vorgehalten
hat . Ich bin, ehrlich gesagt, entgeistert, dass er sich auf
solche Dinge bezieht . Im Netz wird immer wieder ge-
sagt, ich hätte Polizeibeamte aufgefordert, unbedingt die
Schuhe auszuziehen, wenn sie Moscheen betreten . Das
ist aus dem Zusammenhang gerissen . Ich habe, soweit
ich das erinnere, auf die Frage, wie ich es finde, dass Po-
lizeibeamte beim Betreten eines Gebetsraums die Schuhe
ausgezogen haben – das tun übrigens die gut ausgebilde-
ten Polizeibeamten dieses Landes, außer es handelt sich
um einen SEK-Einsatz; sie gehen ohne Schuhe in einen
Gebetsraum und setzen eine Kippa auf, wenn sie in eine
Synagoge gehen –, geantwortet: Ich finde das gut und
richtig und würde die Beamten auch auffordern, das zu
tun . – Das ist aber etwas anderes als der Zusammenhang,
den Herr Harbarth oder Rechtsextreme im Netz mir un-
terstellen . Das will ich klarstellen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg . Ulla Jelpke [DIE LINKE])



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1821015600

Ebenfalls nach § 30 hat jetzt der Kollege Harbarth das

Wort zu einer Erklärung zur Aussprache .


Dr. Stephan Harbarth (CDU):
Rede ID: ID1821015700

Sehr geehrte Frau Kollegin Künast, Ihnen sind in den

vergangenen Tagen im Netz Aussagen untergeschoben
worden, die Sie nicht gemacht haben . Das ist aus unse-
rer Sicht erstens inakzeptabel und erfordert zweitens eine
gesetzgeberische Reaktion . Hier geht es aber um einen
anderen Vorgang . Nicht alles, was Sie gesagt haben, lässt
sich im Nachhinein in Fake News umdeklarieren . Sie ha-
ben in der Sendung Maischberger am 6 . Oktober 2015
erklärt:

Wenn der Einsatz so ist, dass man Zeit hat, die
Schuhe auszuziehen, würde ich immer erwarten,
dass man wegen der Religionsfreiheit diesen Res-
pekt macht .


(Beifall der Abg . Ulla Jelpke [DIE LINKE])


Daraufhin hat Frau Maischberger bei Ihnen nachgefragt:
Tatsächlich? Sie haben die Aussage bestätigt: Ja . – Das
können Sie nicht aus der Welt schaffen.


(Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Diejenigen, die sich das anhören möchten, können das
auf YouTube tun . Frau Künast, dann werden Sie sehen,
dass zwischen dem, was ich vorhin gesagt habe, und
dem, was Sie bei YouTube sehen, nicht ein Jota Differenz
ist . Das ist eben der Unterschied zwischen Ihrer Integra-
tionspolitik und unserer. Wir sind der Auffassung, dass
die Spielregeln, die in Deutschland gelten, für alle Teile

unseres Landes gelten, und da haben wir den sachlichen
Unterschied .


(Beifall bei der CDU/CSU – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich danke für die Klarstellung! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind ohne jeglichen Respekt! Das ist unglaublich! – Weitere Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1821015800

Ich bitte jetzt darum, auch noch bis zum Ende dieses

Tagesordnungspunktes die entsprechende Ordnung her-
zustellen, und ich bitte um Aufmerksamkeit für die letzte
Erklärung zur Aussprache nach § 30, die ich jetzt hier
zulasse .

Kollege Mutlu, Sie haben das Wort .


Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1821015900

Danke, Frau Präsidentin . – Zunächst einmal, Kollege

Brandt: Ich akzeptiere Ihre Entschuldigung . Aber wenn
Sie, in meine Richtung blickend, zu mir sagen: „Erdogan,
Ihr Präsident“ und dann versuchen, sich hier zu winden,
dann sage ich Ihnen: Das ist nicht so einfach . So einfach
können Sie es sich nicht machen, weil es in diesem Hause
nicht zum ersten Mal passiert ist, dass aus den Reihen
der CDU/CSU in meine Richtung oder in Richtung von
Kollegin Dağdelen gesagt wurde: Erdogan, Ihr Präsident.

Ich erinnere alle Kollegen, vor allem die der CDU/
CSU, daran, dass all die Kollegen, die aus der Türkei
stammen, seit geraumer Zeit nicht in die Türkei reisen
können, weil dieser Mensch, den Sie statt Herrn Gauck
als unseren Präsidenten bezeichnen, nicht nur gegen uns
aufgerufen hat; wir haben quasi ein Einreiseverbot . Un-
sere Fotos wurden steckbriefartig in der Türkei millio-
nenfach produziert . Und jetzt wird uns immer noch die
Loyalität zu diesem Land unterstellt .

Viele von uns mit türkischer oder kurdischer Abstam-
mung leben nicht nur seit Jahrzehnten hier, sondern sind
als gewählte Volksvertreter in ihren jeweiligen Parteien –
im Übrigen auch die Kollegin Cemile Giousouf – diesem
Land treu und arbeiten für die Menschen, die in diesem
Land leben . Sich hinzustellen und immer noch in uns den
Türken und die Türkin zu sehen, zeigt eben, wes Geistes
Kind Sie sind . Das verurteile ich aufs Äußerste .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1821016000

Ich korrigiere mich: Das Wort zu einer letzten Erklä-

rung zur Aussprache nach § 30 hat der Kollege Brandt .


Helmut Brandt (CDU):
Rede ID: ID1821016100

Frau Präsidentin, nicht weil ich das letzte Wort haben

will,


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das letzte Wort hat die Präsidentin!)


Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 201621132


(A) (C)



(B) (D)


sondern weil ich das, was ich gesagt habe – –


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1821016200


Das habe ausdrücklich ich heute hier .


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Helmut Brandt (CDU):
Rede ID: ID1821016300


Das wollte ich doch sagen . Das gönne ich Ihnen auch .

Herr Mutlu, ich wollte Ihnen eines erwidern, und
zwar nicht mit meinen eigenen Worten, sondern mit den
Worten in einer Kolumne von Jakob Augstein in Spiegel
online, der zu dem Loyalitätskonflikt, den ich deutlich
machen wollte und noch will, gesagt hat:

Es wird noch Jahre dauern, aber eines Tages werden
wir uns fragen müssen: Welchen Ministern und Prä-
sidenten und Premiers werden die künftig Loyalität
schulden?

Das ist der Kern, um den es mir geht und ging bei
dem, was ich eben gesagt habe .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich bin Deutscher und habe nur die deutsche Staatsbürgerschaft! Kapieren Sie das einfach mal!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1821016400

Die Aktuelle Stunde ist beendet . Gleichwohl bleiben

uns diese gesellschaftliche Debatte und auch das Ziehen
der Schlussfolgerungen daraus erhalten .

Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesord-
nung .

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf Mittwoch, den 18 . Januar 2017, 13 Uhr, ein .

Ich wünsche Ihnen ein friedvolles und fröhliches
Weihnachtsfest sowie einen guten Start in das Jahr 2017 .

Die Sitzung ist geschlossen .