Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-
legen! Lieber Herr Castellucci, auf die Verantwortung der
Grünen in den Ländern komme ich in meiner Rede auf
jeden Fall noch zu sprechen . Aber eins muss ich schon
sagen: Wenn Sie auf den grünen Ministerpräsidenten in
Baden-Württemberg rekurrieren, dann müssen Sie das
auch in Bezug auf den Innenminister des Landes NRW
tun, der aus Ihrer Partei kommt,
und im Übrigen auch auf die Politik, die diese Bundesre-
gierung im Asylbereich macht . Da reicht es eben nicht –
auch wenn ich Sie sehr schätze –, wenn von Ihrer Seite
schöne Reden gehalten werden .
Aber zum Thema . Es ist schon abenteuerlich, dass die-
ses Parlament gestern mit Verweis auf die Sicherheitsla-
ge in Afghanistan ein Bundeswehrmandat verlängert hat
und wir heute hier erleben müssen, wie vor allen Dingen
von Innenpolitikern der Union versucht wird, den Popanz
vom sicheren Afghanistan aufrechtzuerhalten . Da besteht
ein Widerspruch, und den muss man hier klar benennen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der UNHCR ver-
deutlicht immer wieder die ständig wachsende Zahl zi-
viler Opfer, den massiven Einfluss der Taliban in weiten
Teilen des Landes und die zunehmenden Agitationen
durch den IS . Zu Recht rät das Auswärtige Amt von Rei-
sen nach Afghanistan ab und warnt vor Entführungen,
vor Terroranschlägen, vor Gewaltakten . Von den angeb-
lich sicheren Gebieten, die der Bundesinnenminister uns
auch auf wiederholte Nachfrage nicht benennen kann, ist
in der Einschätzung des Auswärtigen Amts, unserer Bun-
deswehr und im Übrigen auch der Vereinten Nationen
nichts zu lesen und zu hören .
Auch wenn die Lage nicht überall gleich gefährlich ist,
ist erst einmal festzuhalten, dass ganz Afghanistan vola-
til ist, überall eine fragile Situation herrscht und sich die
Situation jeden Tag, und zwar überall, ändern kann . Das
gehört zu einer klugen Sicherheitseinschätzung dazu .
Das Einzige, was in Afghanistan dieser Tage sicher ist,
ist das Risiko . Dieses in Kauf zu nehmen und in großem
Stil Abschiebungen durch die Bundesländer zu erzwin-
gen, ist der Inbegriff von Verantwortungslosigkeit; da-
hinter gehe ich keinen Meter zurück .
Im Übrigen ist es auch kalkuliert; das macht der Re-
debeitrag meines Kollegen Stephan Mayer sehr deutlich,
der überhaupt nicht auf die Sicherheitslage in Afghanis-
tan eingegangen ist, die wir zur Grundlage unseres An-
trages machen . Denn was der Bundesinnenminister und
auch die Hardliner seiner Partei wollen, ist, ein Exempel
Dr. Lars Castellucci
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 2016 21109
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zu statuieren, ganz gleich, zu welchem menschenrecht-
lichen Preis . Der Ruf nach der verstärkten Abschiebung
von Afghanen, die große Lüge über angeblich eine halbe
Million ausreisepflichtiger Personen in Deutschland, die
es dringend abzuschieben gilt, all das ist Symbolpoli-
tik aus wahltaktischen Erwägungen, buchstäblich ohne
Rücksicht auf Verluste .
Meine Fraktion nimmt die Sicherheitsbedenken der
Akteure vor Ort ernst . Wenn diese auch nur einen Zwei-
fel daran lassen, dass wir die Menschen in Sicherheit zu-
rückschicken, dann muss man klar und deutlich sagen:
Abschiebungen in dieses Land sind nicht vereinbar mit
unserem menschenrechtlichen Anspruch .
Der Bundesinnenminister hat sich gestern zu der Sam-
melabschiebung geäußert . Er hat die Abschiebung als
„richtig“, „verantwortungsvoll“ und „behutsam“ betitelt.
Ich frage Sie allen Ernstes, ob wir von demselben Vor-
gang sprechen. „Verantwortungsvoll“: mit Blick auf die
Sicherheitslage in Afghanistan wohl kaum. „Behutsam“:
Ich frage Sie, Herr Innenminister: Ist es behutsam, Men-
schen ohne Ankündigung aus dem Berufsschulunterricht
zu reißen und sie unter Zwang nach Frankfurt zum Flie-
ger zu bringen? Ist es behutsam, alle 34 Menschen in die-
sem Flugzeug an Hand und Fuß gefesselt nach Afghanis-
tan zu fliegen?
Und „richtig“: Halten Sie es für richtig, dass ein Mann,
der seit 21 Jahren in Deutschland mit einer Duldung lebt
und ein drei Monate altes Kind hat, nachts um 2 Uhr
aus seiner Wohnung geholt und zum Flieger verbracht
wird? Halten Sie es für richtig, dass ein suizidgefährde-
ter Mann – das ist im Übrigen ein bayerischer Fall, kein
baden-württembergischer – aus der Psychiatrie abgeholt
und gefesselt zum Flughafen gebracht wird? Wir nicht .
Zum Glück wurden diese beiden Menschen in letzter
Sekunde unter großem Einsatz – unter anderem auch der
Grünen in den Ländern – durch Gerichte vor der Ab-
schiebung geschützt; aber diese Fälle stellen nicht die
einzigen Einzelfälle dar . Damit müssen wir uns ausein-
andersetzen .
Von der Abschiebung betroffen waren auch Min-
derheitenangehörige . Ein Hindu, der Familie hier in
Deutschland hat, wurde vorgestern Nacht abgeschoben .
Auf der Liste stand ein Mann, der sich hier in Deutsch-
land zum Christentum bekannt hat . Auch jemand, der
bereits die Einwilligung zur freiwilligen Ausreise unter-
schrieben hatte, wurde unter Zwang in diesen Flieger in
Frankfurt gesetzt .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Sammelab-
schiebung beklemmt und macht wütend . Viele dieser
Einzelfälle zeigen, dass die Ausländerbehörden dem
politischen Druck und der Hysterie, die innenpolitisch
betrieben wird, nachgegeben haben . Mit dieser vom
Bundesinnenminister initiierten Sammelabschiebung hat
sich keiner der politischen Akteure – das gilt es deutlich
zu sagen – mit Ruhm bekleckert . Aber dass sich die In-
tegrationsbeauftragte und die Beauftragte der Bundesre-
gierung für Menschenrechtspolitik im Nachhinein von
diesen Abschiebungen distanzieren, macht mich wirklich
fassungslos . Wir brauchen keine Regierungsbeauftrag-
ten, die eine rückschauende Analyse vornehmen . Wir er-
warten von ihnen, dass sie handeln, bevor der Flieger in
der Luft ist;
Gelegenheit werden sie dazu bekommen, jetzt im Übri-
gen im Zweiwochentakt .
Ja, diese Erwartung kann die Zivilgesellschaft – zu
Recht – auch an die Grünen in den Ländern haben . Des-
halb fordern die Grünen in den Ländern, dass jeder dieser
Einzelfälle künftig auf ihrem Tisch landet und dass die
Innenminister der Länder eben nicht einfach schalten und
walten können, wie sie wollen, sondern dass über diese
Dinge gesprochen wird, damit klar ist, wer abgeschoben
werden soll, und damit es nicht erneut zu solch schlim-
men humanitären Situationen kommt . Dafür werden
auch wir als Bundestagsfraktion uns weiter einsetzen .
Vielleicht noch eine kleine Anmerkung zu den
3 000 Ausreisewilligen . Das, was dazu gesagt wurde, ist
natürlich richtig . Auch ich sage ganz deutlich: Jeder, der
sich zutraut, in sein Heimatland zurückzukehren – un-
ter dieser Bedingung –, muss unterstützt werden, mo-
ralisch und finanziell, muss begleitet werden und muss
die Chance haben, das zu tun, was er selber möchte –
selbstverständlich . Aber diese Fälle als Kronzeugen für
Abschiebungen, die unter Zwang stattfinden, zu nehmen,
halte ich für wirklich unanständig .
Denn es macht einen Unterschied, ob man in Hand- und
Fußfesseln und unter Begleitung der Bundespolizei am
Flughafen in Kabul abgeliefert wird oder ob man freiwil-
lig dorthin zurückreist .
Herzlichen Dank .