Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Als ich mich auf diesen Beitrag hier vorbereitet habe,
erklang aus den Tiefen des Paul-Löbe-Hauses „In dul-
ci jubilo, nun singet und seid froh“: das jährliche Ad-
ventssingen hier im Deutschen Bundestag . Was für ein
Kontrast! Ein Kontrast, der auch unsere Feiertage prägen
wird zwischen so viel Elend rings um uns herum und den
vielen Lichtern hier bei uns . Aber vielleicht – dafür ist
Ulla Jelpke
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 201621106
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Kontrast dann gut – hilft er, unseren Blick zu schärfen,
zum Beispiel für die Situation in Afghanistan .
Ist Afghanistan denn sicher genug, um Menschen, die
hier kein Bleiberecht haben, dorthin abzuschieben? Das
ist die Frage, über die wir streiten . Das Auswärtige Amt
sagt, dass sich die Bedrohungslage für Zivilisten nicht
wesentlich verändert habe . William Swing, Direktor der
Internationalen Organisation für Migration – das ist eine
vernünftige Organisation, die jetzt nicht gekauft oder
schlecht beraten ist –, sagt, in einigen Regionen in Afgha-
nistan sei es ausreichend sicher . Martin Bröckelmann-
Simon von Misereor sagt, das sei ein Mythos . Er hält es
für unmenschlich, die Menschen dorthin zurückzuschi-
cken . Ähnlich äußern sich alle Hilfsorganisationen hier
im Land, allen voran und sehr kenntnisreich Pro Asyl .
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir brau-
chen aber nicht länger zu spekulieren, ob Afghanistan
denn nun sicher sei; denn am Mittwoch haben wir eine
Art Feldversuch gestartet .
34 Menschen wurden ausgeflogen. Wir werden dies bald
einfach nachvollziehen können anhand der Frage: Wie
viele von ihnen leben noch nach einem halben Jahr oder
vielleicht nach einem Jahr? Dann können wir kalt be-
rechnen: Afghanistan ist zu 80 Prozent sicher, vielleicht
auch nur zu 60 Prozent, vielleicht auch zu 90 Prozent .
Der Rest hat jedenfalls Pech . Ich bitte Sie, Herr Innen-
minister, dass Sie uns über diese Zahlen entsprechend
unterrichten .
Solche Sätze müssten einem eigentlich im Hals ste-
cken bleiben . Aber mir ging es genau umgekehrt bei der
Vorbereitung auf diese Rede . Es ist die harte Wahrheit, so
wie ich sie sehe, und die muss raus .
Wir schicken sie zurück in ein Leben, das ihnen vielleicht
gelingt oder misslingt und das ihnen vielleicht genom-
men wird . So einfach ist das – jedenfalls für uns, die zu-
rückbleiben .
Ich habe einmal gesagt: Leben zu schützen, ist die
erste Aufgabe, die sich uns stellt . – Wenn Europa eine
Wertegemeinschaft sein will, dann ist Leben schützen der
erste Wert .
Das ist eine Maxime politischen Handelns . Ich habe
erhebliche Zweifel, ob wir ihr mit dem, was wir diese
Woche veranstaltet haben, gerecht werden . Die Sammel-
abschiebung vom Mittwoch halte ich für hochproblema-
tisch . Läge die Entscheidung darüber in meiner Verant-
wortung, hätte ich sie nicht veranlasst .
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Oppositi-
on, bevor Sie jetzt denken, es gehe alles in Ihrem Sinne
so weiter,
möchte ich mich an Sie wenden; denn auch Sie machen
es sich zu einfach .
Zunächst einmal zu Ihnen von der Linken . Gestern
haben Sie dagegengestimmt, als wir einen Antrag einge-
bracht haben, mit dem wir versuchen, für mehr Sicher-
heit in Afghanistan zu sorgen . Heute sagen Sie, in Afgha-
nistan gebe es keine Sicherheit .
Mit dieser Art von Logik sind Sie kurz davor, zum Arzt
zu müssen .
Meine Damen und Herren von den Grünen, Sie sa-
gen – das ist Ihre Forderung –: Abschiebungsstopp und
fertig. Unter den Abgeschobenen befinden sich aber auch
Geflüchtete aus Baden-Württemberg. Ich frage Sie jetzt
einmal: Was sagt eigentlich Ihr Ministerpräsident dazu
oder gar Herr Palmer? Oder ist der schon zur AfD ge-
wechselt?
Sie können hier leicht Anträge stellen; denn Sie sind
nicht in der Verantwortung . Der entscheidende Punkt ist:
Da, wo Sie in der Verantwortung sind, ergibt sich plötz-
lich ein gemischtes Bild, kein bloßes Schwarz-Weiß .
Das mag Sie jetzt empören, aber es ist nur der Spiegel,
den ich Ihnen vorhalte .
Es gibt eine zweite Sache, die Europa ausmacht und
die durch die globale Flüchtlingskrise herausgefordert
wird . Globale Flüchtlingskrise heißt für mich: 65 Millio-
nen Menschen sind weltweit auf der Flucht . Die wenigs-
ten schaffen es überhaupt, bis nach Europa zu kommen.
Das, was herausgefordert wird, ist dieses: Europa ist ein
Kontinent, auf dem die Stärke des Rechts zählt, nicht das
Recht des Stärkeren . Das ist ein Prinzip, das unseren so-
zialen Frieden sichern soll .
Dr. Lars Castellucci
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Hier komme ich dann zu ein paar Punkten, die durch-
aus dem entsprechen, was Herr Mayer hier vorgetragen
hat .
Die Menschen in unserem Land haben manchmal den
Eindruck, es gehe nicht überall mit rechten Dingen zu .
Im vergangenen Jahr sind Hunderttausende über die
Grenze gekommen, ohne registriert zu werden . Diejeni-
gen, die es bis zu uns schaffen, sind die vergleichsweise
Starken, diejenigen, die gesund genug sind, sich auf den
Weg zu machen, die das Geld haben, um die Schleuser
zu bezahlen. Arme, Kranke oder Behinderte finden sich
selten in unseren Unterkünften . Ist das gerecht?
Ja, es stimmt auch: Wir halten unser Asylrecht hoch,
aber es befinden sich viele in unserem Land, die kein
Bleiberecht haben, und nichts passiert .
Ich halte es für völlig in Ordnung, dass da Fragen auf-
kommen . Der Rechtsstaat ist wie die Politik auf Vertrau-
en angewiesen . Deswegen haben wir nur zwei Möglich-
keiten: Die eine ist, das Recht, das wir uns gesetzt haben,
konsequent anzuwenden . Die andere ist, es zu verändern .
Recht einfach nicht anzuwenden oder auszusetzen, so
wie Sie das vorschlagen, ist jedenfalls alleine keine trag-
fähige Lösung .
Zum Recht – da gehe ich etwas weiter als Sie, Herr
Mayer –: Das Recht bezieht sich nicht nur auf unsere
Gesetze, sondern eben auch auf die Verfahren . Auf diese
blicke ich durchaus kritisch . Das ist für mich kurzfristig
das Wichtigste . Im Asylverfahren prüft das Bundesamt
für Migration und Flüchtlinge, wer schutzbedürftig ist .
Bei den Afghaninnen und Afghanen – wir haben es ge-
hört – liegt die Zahl im Moment bei 55 Prozent . Vor einer
Abschiebung prüft dann noch einmal die Ausländerbe-
hörde, ob es Abschiebungshindernisse gibt . Erst dann
kann vollzogen werden .
Das Augenmerk unserer Politik muss vor allem darauf
liegen, dass diese Verfahren ordentlich laufen . Ich frage
mich, ob sie das tun . Jetzt schauen wir noch einmal auf
die Nachrichtenlage nach dem vergangenen Mittwoch .
Die entscheidende Tickermeldung war nicht, dass je-
mand abgeschoben wurde, sondern dass das Bundesver-
fassungsgericht entschieden hatte, dass in letzter Sekun-
de jemand aus dem Flieger geholt wurde .
Ich muss hierzu anmerken: Man kann jetzt sagen, dass
der Rechtsstaat funktioniert . Eine Rettung in letzter Se-
kunde mag ich beim Krimi am Samstagabend vielleicht
ganz gerne, aber bei einem Rechtsstaat ist das nicht mein
Maßstab .
Ich finde, dass so eine Last-minute-Aktion ein Licht
darauf wirft, dass wir ein Problem haben und die Ver-
fahren im Vorfeld wahrscheinlich nicht ordentlich abge-
laufen sind . Wir sollten uns aus meiner Sicht an ande-
ren Ländern ein Beispiel nehmen, die eine ordentliche
Rechtsberatung für die Geflüchteten direkt in die Verfah-
ren integrieren. Das schafft Rechtssicherheit für alle Be-
teiligten und sorgt dafür, dass solche Vorkommnisse wie
das am Mittwoch eben nicht passieren .
Nachts um 2 .36 Uhr habe ich eine E-Mail bekommen,
in der es darum ging, dass ein Afghane im Flieger sei, der
zum Christentum konvertiert sei . Ihm drohe Unheil in
Afghanistan . Ich als Abgeordneter kann das nicht über-
prüfen . Ich kann auch nicht überprüfen, wie ernst er es
mit seiner Konversion meint . Das sind hier gar nicht die
Themen . Aber Fakt ist: Solche Punkte müssen doch ge-
klärt sein, bevor jemand in solch einen Flieger kommt,
und nicht erst an dem Tag oder in den Wochen danach,
nachdem man ihn wieder herausgeholt hat .
Fakt ist: Der junge Mann ist nicht mitgeflogen. Er wurde
aus dem Flieger geholt, und alle 34 anderen haben sich
gewundert, was mit dem ist und was mit ihnen nicht ist .
Ich finde, da muss man hinschauen. Die Verfahren sind
so nicht in Ordnung .
Ich finde, auch unsere Menschenrechtsbeauftragte hat
recht, dass es nicht sein kann, dass es auf das Bundesland
ankommt, in dem man lebt, ob man nun abgeschoben
werden kann oder nicht . Das Recht muss doch für alle
gleich gelten .
Wir haben in den vergangenen Monaten – das ist mir
jetzt sehr wichtig, weil es mir nicht um Schelte für das
Bundesamt geht – einen immensen Druck auf das Bun-
desamt ausgeübt . Die Verfahren sollen schneller laufen .
Die Zahl der Mitarbeiter wurde mehr als verdoppelt . Das
war richtig so . Aber jetzt müssen wir auf die Qualität der
Arbeit achten und die Qualität der Arbeit sichern . Denn
ordentliche Verfahren sind die Basis . Das sage ich an
alle Abschiebungsfetischisten, die es in unserem Land
gibt: Wenn Sie Härte beweisen wollen, dann gehen Sie
die Verfahren mit Härte an, und sorgen Sie für Qualität .
Denn das ist das eigentlich Wichtige .
Im Übrigen will ich Ihnen sagen, Frau Jelpke: Ich
glaube nicht an eine Weisung des Innenministers Rich-
tung Bundesamt, aber ich glaube, dass wir ein Sorgfalts-
problem haben . Diesem Sorgfaltsproblem müssen wir
uns stellen .
Dr. Lars Castellucci
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 201621108
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Ein weiterer Punkt sind die innerstaatlichen Fluchtal-
ternativen . Wenn man das, was wir von Ihnen hören, zu
Ende denkt, dann heißt das, dass wir Menschen gar nicht
in Gebiete zurückschicken können, in denen Sicherheit
gewährleistet ist. Ich bin der Auffassung, dass wir Men-
schen zunächst einmal helfen müssen, aus Bombenhagel
und Terror zu fliehen. Wir müssen ihnen dann helfen,
dort, wo sie hingeflohen sind, unterzukommen, überle-
ben zu können und Perspektiven zu haben . Besonders
Schutzbedürftigen muss man auch legale und sichere
Wege auf Basis von Kontingenten raus aus diesen Kri-
sengebieten eröffnen.
Wenn Schutz und Lebensperspektiven in den Lagern
in den angrenzenden Ländern gewährleistet sind – das
war mein zweiter Punkt –, müssen wir dafür sorgen, dass
es innerstaatliche Fluchtalternativen für die Menschen
gibt, also dass die Länder sicherer werden . Das Gegen-
teil wäre doch, dass wir die Länder einfach sich selbst
überlassen .
Deswegen will ich auch positiv hervorheben: Alles,
was wir an Hilfe und Zusammenarbeit mit Herkunfts-
ländern, Transitländern und Aufnahmeländern bereits
leisten, ist gut . Ich bin froh darüber, aber natürlich wäre
mehr besser .
Zu den Straftätern möchte ich abschließend etwas
sagen . Unter den Abgeschobenen haben sich Straftäter
befunden; das ist erwähnt worden . Ich mag Straftäter
auch nicht . Aber ich will an dieser Stelle auch klar sagen:
Straftaten müssen Aufklärung, gerichtliche Verfahren
und Sanktionen zur Folge haben . Straftaten sind niemals
ein Grund dafür, jemanden in den Bombenhagel, zu Ter-
roristen oder Folterdrohungen zurückzuschicken .
In neun Tagen wird das „In dulci jubilo“ wieder er-
klingen . Vielleicht spiele ich es sogar selber, weil ich in
meiner Heimatgemeinde an der Orgel sitzen werde .
Dann liegt das Kind wieder in der Krippe . Die Heiligen
Drei Könige schaffen es in diesem Jahr leider nicht über
Bomben, Mauern und Zäune hinweg . Und wenn die Hei-
lige Familie fliehen muss, nach Ägypten und dann viel-
leicht weiter nach Libyen, wird sie keine Sicherheit fin-
den . Vielleicht wird sie versuchen, über das Mittelmeer
zu kommen . Die Fortsetzung der Geschichte überlasse
ich Ihnen .
Ich wünsche Ihnen frohe Weihnachten und, ja: Friede
auf Erden .