Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frei – das steht auf einem Armband, das uns
eine NGO vor wenigen Wochen vorgestellt hat . Damit
können wir möglicherweise ein Statement setzen: Ich bin
frei . Aber Millionen von Männern, Frauen und Kindern
sind es eben nicht . Sie können ihre Meinung nicht frei
äußern . Sie können ihren Glauben nicht so ausleben, wie
sie es wünschen . Viele sind sehr menschenunwürdigen
Arbeitsbedingungen ausgesetzt . Das hat in der globalen
vernetzten Welt – das entnehme ich auch Ihrer Rede –
natürlich auch immer mit uns zu tun .
Denken wir einmal 26 Jahre zurück . Die Welt ist im
Aufbruch . Es kommt zur Wende . In der Folge stehen
sich die großen Blöcke nicht mehr wie im Kalten Krieg
feindlich gegenüber . Diktaturen sind gefallen, auch in
Afrika . Viele der Indizes für die Not, für das Leid haben
sich in den meisten Ländern gravierend verbessert, weil
man sich nicht mehr in diesem Dualismus gegenüber-
steht . Extreme Armut, Zugang zu Wasser, Mütter- und
Kindersterblichkeit, Gesundheitsversorgung, Bildung für
Mädchen, die Todeszahlen in Konflikten – wir denken
heute, das alles hätte sich verschlechtert . Aber die Indizes
sind damals kontinuierlich gefallen . Wir haben Freiheit
neu erlebt, für manche vielleicht das erste Mal definiert.
Die Hoffnung pfiff sich durch den Gorki Park. „Glasnost“
und „Perestroika“ waren die Wörter des Jahrzehnts. Et-
was später gab es Mandela .
Und heute? Die Menschenrechte scheinen auf dem
Rückzug zu sein . In vielen Ländern werden Menschen-
rechtsverteidiger zurückgedrängt . Gestern trafen wir mit
Kollegen Herrn Fred Bauma aus der Demokratischen
Republik Kongo . Viele von uns haben ähnliche Begeg-
nungen . Diese Menschen sagen uns, dass sie bereits am
Flughafen verhaftet werden, wenn sie in ihr Land zu-
rückkehren . Es wirkt fast wie eine alte Rollback-Strate-
gie: Land für Land, Gesetz für Gesetz wird es enger, und
zwar oft unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung . Das
hat auch mit uns zu tun .
Wenn man sich mit dem Jahresbericht von 2015, den
wir heute behandeln, beschäftigt und mit Menschen-
rechtsverteidigern redet, wie gerade genannt, dann wird
einem ganz anders . Ich vermute, der Bericht für 2016
wird eher noch schlimmer ausfallen . Wenn ich von sol-
chen Terminen komme oder wenn ich abends in mein
Zimmer in Berlin komme, dann ist es nicht selten der
Fall, dass ich entweder weinen muss oder dass mir zum
Kotzen zumute ist . Das ist nicht erst seit Aleppo so, wenn
auch seitdem noch besonders .
Was passiert mit unserer Welt? Was lassen wir zu? Was
darf auch mit uns passieren hier in Deutschland? Die drei
Stichworte, die ich in meiner Rede noch nennen möchte,
sind Kinder, Rechtlosigkeit und Religionsfreiheit .
45 Millionen Menschen leben zurzeit in Sklaverei
oder sklavenähnlichen Verhältnissen; das zeigt der Glo-
bal Slavery Index . Nur einmal zum Vergleich: Wie stolz
konnte die Menschheit sein, als William Wilberforce
und Abraham Lincoln, der eine in England, der andere
in den Vereinigten Staaten, die Sklaverei abgeschafft ha-
ben . Das ist viele Jahre her . Aber ganz ehrlich: Ist uns
bewusst, dass wir heute mehr Sklaven haben als damals?
Millionen davon sind Kinder . Sie bekommen keinen Zu-
gang zu Schulbildung, müssen unter schwersten Bedin-
gungen auf Baumwollfarmen oder in Minen arbeiten und
erleben täglich Gewalt und Krieg am eigenen Leib, oft
für die Produkte, die wir hier billig kaufen wollen . Frei-
heit ist für sie eine Worthülse, deren wirkliche Bedeutung
sie wahrscheinlich nur erahnen können .
Im Südsudan kämpfen 17 000 Kinder – das wurde
uns vorgestern berichtet – in einem verheerenden Bür-
gerkrieg. Das findet hier wenig Beachtung. Wir schauen
woanders hin . Etwas weiter westlich auf dem Kontinent
Afrika ernten 1,2 Millionen Kinder einen Großteil des
Kakaos für die Schokolade, die wir und viele andere zu
Weihnachten und über das Jahr verteilt konsumieren . Sie
gehen deshalb auch nicht oder viel zu selten in die Schu-
le . Durch Bildung könnten sie aus Armut und Abhängig-
keit herauskommen .
Weiter im Osten auf dieser Welt beim philippinischen
Amt für Internetverbrechen gingen bislang 10 000 Hin-
weise auf sexuelle Ausbeutung von Kindern im Internet
ein . Wer sind die User? Der Menschenrechtsbericht der
EU geht davon aus, dass die Gefahr besteht, dass viele
Minderjährige, die sich in den letzten Monaten auf der
Flucht befunden haben, Opfer von Gewalt und Men-
schenhandel geworden sind, auch auf der Flucht zu uns .
Wenn ich das alles sehe, fällt mir wieder dieser Begriff
ein: Ich könnte kotzen . Dafür fällt mir auch kein politisch
korrekterer Begriff ein. Ich höre noch, wie letzte Woche
Frau Merkel in einer Regionalkonferenz in Thüringen
sagte: „Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich schlafe
nicht gut, wenn ich an die Kinder in Aleppo denke.“ Als
Menschenrechtler frage ich mich: Was können wir tun,
um ihnen und anderen mehr Freiheit zu ermöglichen?
Ich bin dankbar, dass Deutschland und die EU – das
wird in dem Bericht auch deutlich gemacht – sich dafür
einsetzen, dass in den letzten Jahren Gesetze entstanden
sind, und ich wünsche mir, dass wir uns, dass sich die
Bundesregierung in unseren Beziehungen zu den ande-
ren Ländern noch mehr und aktiver dafür einsetzt . Da bin
ich Herrn Steinmeier sehr dankbar für das Engagement
in diesem Bereich, damit Kinder vor Krieg und Terror
geschützt werden . Danke dafür!
Der zweite Begriff, den ich genannt habe, ist Rechtlo-
sigkeit . Es muss Opfern von Menschenrechtsverletzun-
gen – je länger, je näher – in diesen Ländern möglich
sein, Zugang zum Rechtssystem zu bekommen . Sonst
wird aus Armut Rechtlosigkeit, und aufgrund der Recht-
losigkeit bleiben sie in der Armut . Das ist eine stille Men-
schenrechtsverletzung, die so allerdings nicht explizit in
dem Bericht auftaucht . Der fehlende Zugang zum Rechts-
Inge Höger
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 210 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 16 . Dezember 201621066
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system hat meist eine grundlegende Ursache, nämlich die
Armut, und dann mündet das vielfach in Sklaverei; ich
habe das bereits erwähnt .
Die moderne Sklaverei macht auch vor unseren Türen
in Deutschland nicht halt . Wir haben vor einem halben
Jahr das Gesetz zu Zwang und Ausbeutung im Prosti-
tutionsgewerbe beschlossen, das dann nächstes Jahr in
Kraft treten wird . Das sind einige Schritte, wenn auch
noch lange nicht genug . Ich bin dankbar, dass wir einen
Überprüfungsmechanismus haben, wonach wir dies dann
in zwei, drei Jahren noch einmal unter die Lupe nehmen
können .
Ein weiterer Bereich, der dritte, ist die Religionsfrei-
heit . In immer mehr Staaten wird sie grundsätzlich garan-
tiert; aber die Wirklichkeit sieht eben oft ganz anders aus .
Auch in meinem Land frage ich mich hin und wieder: Ist
uns das noch präsent?
Millionen von Menschen werden weltweit in dieser
Freiheit eingeschränkt . Sie werden verfolgt, gedemütigt,
gefoltert, oft zu Tode gebracht . Dabei müssen wir an alle
Religionen denken . Da sind es die Ahmadiyya-Muslime
in Pakistan, da sind es die Aleviten, teilweise jetzt auch
in Syrien, da sind es Buddhisten, da sind es die Bahai im
Iran, und da sind es als größte Gruppe auch die Christen .
Die aktuellen Entwicklungen im Irak und in Syrien
werfen Schatten voraus, bis zu uns nach Europa, und
Hunderttausende machen sich auf den Weg . Auf der
Flucht vor ihren Peinigern, oft auch dann beim Ankom-
men hier in unseren Schutzunterkünften passiert das
Gleiche wieder, selbst hier in Deutschland . Da passieren
Diskriminierung und Benachteiligung, auch Bedrohung;
ich weiß um Fälle in meiner Stadt .
Anfang der Woche konnten einige von uns den Pater
Jacques Mourad treffen. Er befand sich fünf Monate in
Geiselhaft des IS, bevor er mit seiner katholischen Ge-
meinde von muslimischen Mitbürgern befreit wurde .
Trotz seiner Erfahrungen wirbt er dafür, dass wir in Eu-
ropa für Muslime offen bleiben, dafür, dass uns nicht die
Angst leitet . Und doch wünsche ich mir, dass besonders
Muslime in Deutschland, auch wenn die Anschläge in
Paris, in Nizza und in Brüssel geschahen, noch lauter und
öfter sagen: „Das sind wir nicht“,
und dass wir uns dem Terror gemeinsam mutig entge-
genstellen .
Dazu gehört auch, dass wir genau die Menschen un-
terstützen, die Demokratie fördern wollen, wie es das
Ziel des von Frank Schwabe genannten Programms
„Parlamentarier schützen Parlamentarier“ ist, dass wir an
der Seite derer stehen, die Menschenrechte verteidigen .
Deshalb appelliere ich, dass wir diesen Menschen vorher
Gehör verschaffen, bevor sie möglicherweise in Extre-
mismus abgleiten oder extremisiert werden .
Welche Schlussfolgerungen ziehen wir denn aus die-
sem Bericht? Gesetze und Richtlinien haben wir teilwei-
se; daran müssen wir aber weiter arbeiten: Dazu dient
das Parlamentarische Patenschaftsprogramm, dazu tra-
gen kleine, sichtbare Gesten im Miteinander und Begeg-
nungen bei . Ich für meinen Teil werde für diese Freiheit
weiter kämpfen, auch wenn mich diese Ohnmacht, die
ich gerade beschrieben habe, immer wieder gefangene,
gebundene oder versklavte Menschen zu sehen, oft über-
fällt .
Ich wünsche Ihnen und uns allen
besinnliche und gesegnete Weihnachtstage . Ich tue mich
schwer, Ihnen fröhliche Weihnachten zu wünschen . Das
wird auch ein wenig davon abhängen, ob es die Weltge-
meinschaft hinbekommt, dass die Waffen weiter schwei-
gen werden . Sonst wünsche ich uns auch Scham . Ich
kann nicht einfach fröhlich feiern, wenn uns als Welt-
gemeinschaft diese Kinder von Aleppo irgendwie doch
nur interessieren, als wäre es Scheißdreck, wenn sie links
liegen bleiben .
Weihnachten erinnert an die Geburt eines Kindes in
genau der Region, von der ich gerade geredet habe: ver-
rückt genug, als Kind in einer Krisenregion geboren zu
werden, irgendwie weniger romantisch als bei uns, neben
Kuh- und Eselkacke – im Stall eben –, in einer brisanten
Situation . Ich habe einfach keinen Bock, dann am Weih-
nachtstag aufzuwachen, wieder zu hören, dass die Waffen
nicht geschwiegen haben, und wieder denken zu müssen:
Ich könnte kotzen .