Protokoll:
18120

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 18

  • date_rangeSitzungsnummer: 120

  • date_rangeDatum: 9. September 2015

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 18:33 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 18/120 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 120. Sitzung Berlin, Mittwoch, den 9. September 2015 Inhalt Tagesordnungspunkt 1 (Fortsetzung): a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes über die Feststellung des Bundes- haushaltsplans für das Haushaltsjahr 2016 (Haushaltsgesetz 2016) Drucksache 18/5500 . . . . . . . . . . . . . . . . . 11603 A b) Beratung der Unterrichtung durch die Bun- desregierung: Finanzplan des Bundes 2015 bis 2019 Drucksache 18/5501 . . . . . . . . . . . . . . . . . 11603 B Einzelplan 04 Bundeskanzlerin und Bundeskanzleramt Dr . Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 11603 B Dr . Angela Merkel, Bundeskanzlerin . . . . . . . 11609 A Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11614 C Thomas Oppermann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 11619 A Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 11622 A Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 11625 B Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 11625 D Bettina Hagedorn (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 11625 D Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 11627 C Martin Gerster (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11630 A Ewald Schurer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11631 C Monika Grütters, Staatsministerin BK . . . . . . 11632 D Sigrid Hupach (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 11634 A Burkhard Blienert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 11635 A Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 11636 D Rüdiger Kruse (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 11637 D Ulle Schauws (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 11639 B Dr . Eva Högl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11640 A Einzelplan 05 Auswärtiges Amt Dr . Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister AA 11642 B Michael Leutert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 11645 C Dr . Franz Josef Jung (CDU/CSU) . . . . . . . . . 11646 C Stefan Liebich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 11647 B Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 11647 D Dr . Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11649 C Niels Annen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11651 A Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . 11652 B Jürgen Hardt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 11653 C Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 11655 C Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015II Dr . Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11655 D Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11656 C Detlef Seif (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 11657 C Alois Karl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 11659 A Einzelplan 14 Bundesministerium der Verteidigung Dr . Ursula von der Leyen, Bundesministerin BMVg . . . . . . . . . . . . . . 11661 A Michael Leutert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 11663 D Karin Evers-Meyer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 11665 A Dr . Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11666 B Henning Otte (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 11667 D Dr . Alexander S . Neu (DIE LINKE) . . . . . . . 11669 C Rainer Arnold (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11671 B Doris Wagner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11672 D Ingo Gädechens (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 11674 A Lars Klingbeil (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11675 B Bartholomäus Kalb (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 11676 B Dr . Fritz Felgentreu (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 11677 C Einzelplan 23 Bundesministerium für wirtschaftliche Zu- sammenarbeit und Entwicklung Dr . Gerd Müller, Bundesminister BMZ . . . . . 11678 D Michael Leutert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 11681 B Sonja Steffen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11682 C Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11683 D Dagmar G . Wöhrl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 11685 A Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 11686 D Dr. Bärbel Kofler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 11688 B Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11689 D Jürgen Klimke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 11691 B Gabriela Heinrich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 11693 A Volkmar Klein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 11694 C Stefan Rebmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 11696 A Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11697 D Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . . 11699 A (A) (C) (B) (D) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11603 120. Sitzung Berlin, Mittwoch, den 9. September 2015 Beginn 9 .00 Uhr
  • folderAnlagen
    Stefan Rebmann (A) (C) (B) (D) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11699 Anlage zum Stenografischen Bericht Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Amtsberg, Luise BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 09 .09 .2015 Beck (Bremen), Marieluise BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 09 .09 .2015 Becker, Dirk SPD 09 .09 .2015 Brand, Michael CDU/CSU 09 .09 .2015 Brandl, Dr . Reinhard CDU/CSU 09 .09 .2015 De Ridder, Dr . Daniela SPD 09 .09 .2015 Dröge, Katharina BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 09 .09 .2015 Ebner, Harald BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 09 .09 .2015 Groth, Annette DIE LINKE 09 .09 .2015 Hartmann (Wackern- heim), Michael SPD 09 .09 .2015 Hirte, Dr . Heribert CDU/CSU 09 .09 .2015 Irlstorfer, Erich CDU/CSU 09 .09 .2015 Kiziltepe, Cansel SPD 09 .09 .2015 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Klein-Schmeink, Maria BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 09 .09 .2015 Kolbe, Daniela SPD 09 .09 .2015 Lenkert, Ralph DIE LINKE 09 .09 .2015 Mihalic, Irene BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 09 .09 .2015 Mortler, Marlene CDU/CSU 09 .09 .2015 Obermeier, Julia CDU/CSU 09 .09 .2015 Pfeiffer, Sibylle CDU/CSU 09 .09 .2015 Renner, Martina DIE LINKE 09 .09 .2015 Röspel, René SPD 09 .09 .2015 Sarrazin, Manuel BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 09 .09 .2015 Schwarzelühr-Sutter, Rita SPD 09 .09 .2015 Tressel, Markus BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 09 .09 .2015 Satz: Satzweiss.com, Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de http://www.satzweiss.com http://www.printsystem.de http://www.betrifft-gesetze.de 120. Sitzung Inhaltsverzeichnis TOP 1 Einbringung Haushaltsgesetz 2016 – Finanzplan des Bundes 2015 bis 2019 Epl 04 Bundeskanzlerin und Bundeskanzleramt Epl 05 Auswärtiges Amt Epl 14 Verteidigung Epl 23 wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Anlage
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1812000000

Nehmen Sie bitte Platz . Die Sitzung ist eröffnet . Gu-

ten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir setzen die Haushaltsberatungen – Tagesordnungs-
punkt 1 – fort:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das
Haushaltsjahr 2016 (Haushaltsgesetz 2016)


Drucksache 18/5500
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss

b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung

Finanzplan des Bundes 2015 bis 2019

Drucksache 18/5501
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss

Für die heutige Aussprache haben wir gestern eine Re-
dezeit von insgesamt achteinhalb Stunden beschlossen .

Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich der Bun-
deskanzlerin und des Bundeskanzleramtes, Einzel-
plan 04.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke .


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1812000100

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und

Herren! Zunächst muss ich Ihnen natürlich eine falsche
Hoffnung nehmen: Es ist nicht meine letzte Rede als
Fraktionsvorsitzender im Bundestag . Sie müssen mich
schon noch einmal ertragen .


(Zurufe von der CDU/CSU und der SPD: Oh! – Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Das wollte ich Ihnen nur vorher schon sagen, damit Sie
nicht falsch strahlen .


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Herr Gysi, Eitelkeit kennt keine Grenzen!)


Aber kommen wir einmal zu der Frage, wie die Welt
heute aussieht . Ich glaube, die Situation ist sehr ernst . Wir
stehen vor gewaltigen Problemen . Kriege und kriegsähn-
liche Auseinandersetzungen finden in Syrien, im Jemen,
im Irak, in der Türkei, in der Ukraine und in anderen Län-
dern statt . Kriege töten, vernichten und zerstören, und die
Menschen fliehen, um nicht getötet, nicht vernichtet zu
werden .

Wie sehen die Staaten aus, in denen auch der Westen
Krieg geführt hat? Afghanistan – eine einzige Katastro-
phe: Armut, undemokratische Verhältnisse, terroristische
Selbstmordanschläge und zunehmend Flüchtlinge . Alle
anderen Fraktionen waren für den Krieg in Afghanistan,
nur die Linke war dagegen und hat vor den Folgen ge-
warnt .


(Christine Lambrecht [SPD]: Das ist momentan das Wichtigste, was zu klären ist!)


Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen: Wir
hatten recht .


(Beifall bei der LINKEN – Thomas Oppermann [SPD]: Mit Ihnen wäre das alles nicht passiert!)


Glücklicherweise hat sich Deutschland nicht unmit-
telbar an den Kriegen gegen den Irak und gegen Libyen
beteiligt, aber die USA, Großbritannien, Frankreich und
andere Länder . Hussein war schlimm und ist weg . Aber
ist die Situation jetzt besser? Gaddafi war schlimm und
ist weg . Aber ist die Situation jetzt besser? Krieg muss
überwunden werden, wenn man ernsthaft will, dass Men-
schen diesbezüglich nicht gezwungen werden, zu fliehen.


(Beifall bei der LINKEN)


Deutschland ist aber der drittgrößte Waffenexporteur
der Welt und verdient an jedem Krieg . Waffen werden
auch an Diktaturen wie Saudi-Arabien und Katar ver-
kauft . Saudi-Arabien führt einen Krieg gegen Jemen,






(A) (C)



(B) (D)


bezieht dennoch Waffen aus Deutschland . Diese unheil-
volle Politik muss überwunden werden . Verhindern Sie
doch wenigstens Waffenverkäufe an Diktaturen und in
Krisengebiete .


(Beifall bei der LINKEN)


Das ist doch nur ein Minimum . Wenigstens die Sozialde-
mokratische Partei Deutschlands müsste darauf bestehen .

Wir erleben darüber hinaus eine Entstaatlichung von
Staaten . Wir haben zunehmend Länder, in denen Re-
gierung, Polizei, Justiz, Bildung und Gesundheitswesen
nicht funktionieren . Oft ist es die Folge der vom Westen
geführten Kriege . Wenn es keine funktionierenden Re-
gierungen gibt, gibt es auch keine Verhandlungspartner,
die etwas durchsetzen können . Die Bürgerinnen und
Bürger können so nicht geschützt werden . Entstaatlich-
te Staaten sind Syrien, Libyen, Irak, Jemen, Somalia . In
den ersten vier Ländern sind inzwischen 9 000 Schulen
geschlossen worden. Lehrerinnen und Lehrer fliehen,
und auch die Eltern mit ihren Kindern fliehen, weil die-
se ohne Schulbildung in ihrem Leben chancenlos wären .
Was tut die Bundesregierung dagegen? Ich bin gespannt
auf Ihre Antwort, Frau Bundeskanzlerin . Und warum er-
fahren wir eigentlich in den Medien so wenig über die
mörderischen Auseinandersetzungen in diesen Ländern?
Ich finde, dass Information wichtig ist.

Ich wiederhole mich: Jährlich sterben auf der Erde
etwa 70 Millionen Menschen. Die häufigste Todesursa-
che ist der Hunger . Jährlich sterben etwa 18 Millionen
Menschen auf der Erde an Hunger . Wir haben aber welt-
weit eine Landwirtschaft, die die Menschheit zweimal
ernähren könnte . Menschen, die Angst haben, zu verhun-
gern, fliehen. Was tut die Bundesregierung dagegen, dass
der Profit von Konzernen Vorrang vor dem Überleben
von Menschen hat? Auch darauf, Frau Bundeskanzlerin,
müssten Sie eine Antwort geben .

Not, Elend, also Armut, nehmen weltweit ebenso zu,
wie der Reichtum anwächst . Nur ganz wenige Zahlen:

Seit 2008 hat sich die Zahl der Milliardäre auf der Erde
verdoppelt . Die reichsten 80 Personen auf der Erde besit-
zen genauso viel wie die ärmere Hälfte der Menschheit,
das heißt wie 3,5 Milliarden Menschen . 80 Menschen
besitzen genauso viel wie 3,5 Milliarden Menschen! Vor
fünf Jahren waren es noch 388 Personen . Interessant ist:
Aus 388 Personen werden nicht 400, 500 und dann 600,
sondern daraus werden 80, weil der Reichtum sich ganz
anders konzentriert . Eine Milliarde Menschen haben ein
Einkommen von einem Dollar pro Tag . Armut, bittere
Armut führt ebenso zur Flucht .

Dagegen unternimmt die Bundesregierung nichts .
Denn auf wesentlich höherem Niveau passiert in Euro-
pa und Deutschland das Gleiche . Die OECD stellte jetzt
fest, dass die Kluft zwischen Arm und Reich in Deutsch-
land sich deutlich vergrößert hat, übrigens immer mit ei-
ner SPD in der Regierung; ich kann es doch nicht ändern .


(Unruhe bei der SPD)


– Sie müssen es sich einfach anhören . – Die reichsten
zehn Prozent der Bevölkerung verdienten Mitte der
80er-Jahre fünfmal so viel wie die ärmsten zehn Prozent

unserer Bevölkerung . Inzwischen verdienen sie sieben-
mal so viel .

Ein Prozent der Bevölkerung in Deutschland besitzt
32 Prozent des gesamten Vermögens, und die finanziell
schwächere Hälfte der Haushalte, also 50 Prozent unse-
rer Haushalte, besitzt ein Prozent des Vermögens . 50 Pro-
zent besitzen ein Prozent des Vermögens! Das Interes-
sante ist: 1998 besaß diese Hälfte noch vier Prozent des
Vermögens . Aus vier Prozent werden nicht fünf Prozent
und dann sechs Prozent und sieben Prozent, sondern aus
vier Prozent wird ein Prozent . Das ist eine Katastrophe .
Damit machen Sie die Gesellschaft kaputt .


(Beifall bei der LINKEN)


Ein Staat, der selbst so ungerecht verteilt, kann sich auch
nicht weltweit wirksam gegen Armut einsetzen und orga-
nisiert mithin schon wieder Flüchtlinge .

Nachgewiesen wird von der OECD übrigens auch,
wie schädlich für die Binnenwirtschaft die Schwächung
der Kaufkraft eines großen Teils unserer Bevölkerung ist .
Der Generalsekretär der OECD sagte – ich zitiere wört-
lich –:

Der Kampf gegen Ungleichheit muss in das Zent-
rum der politischen Debatte rücken .

Die Linke wird genau das versuchen .


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf des Abg . Johannes Kahrs [SPD])


Weltweit muss auch ein entschiedener Kampf gegen
Rassismus geführt werden . Sinti und Roma sind zum
Beispiel die in vielen europäischen Ländern erheblich
benachteiligten Teile der Bevölkerung. Sie fliehen in
der Hoffnung, endlich irgendwo hinzukommen, wo sie
gleichberechtigt behandelt werden . Gerade in diesen viel
diskutierten westlichen Balkanländern findet eine men-
schenrechtsverletzende und menschenrechtsverachtende
Politik gegenüber Sinti und Roma statt . Außerdem ist die
Politik von Orban in Ungarn schlicht indiskutabel . Dage-
gen muss ganz entschieden Stellung genommen werden .


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn die Bundesregierung nicht ernsthaft beginnt, die
Fluchtursachen wirksam zu bekämpfen, die Weltproble-
me ernsthaft anzugehen, werden sie täglich verschärfter
zu uns kommen, bis sie unbeherrschbar sind . Natürlich,
Frau Bundeskanzlerin, können Sie das nicht allein . Das
erwartet auch niemand . Aber was bereden Sie eigentlich
auf den G-7-, G-8- oder G-20-Gipfeln? Warum drängen
Sie nicht darauf, wirksam gegen Krieg, Hunger, Not,
Elend, Armut und Rassismus vorzugehen? Das wäre
doch wohl das Mindeste .


(Beifall bei der LINKEN)


Nun erwarten wir in diesem Jahr 800 000 Flüchtlin-
ge in Deutschland, die eigentlich kein Problem, sondern
eine Chance sind .


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich begrüße es ausdrücklich, Frau Bundeskanzlerin, dass
Sie für die Flüchtlinge in Ungarn hier die Türen geöffnet
haben . Aber ich sage: Auch die Zustände in Ungarn müs-

Dr. Gregor Gysi






(A) (C)



(B) (D)


sen ganz deutlich verbessert werden . Dazu komme ich
noch . Also: Es ist eigentlich fantastisch, dass viele Tau-
sende Menschen zu uns kommen, aber es ist noch fantas-
tischer, wie viele Tausende Menschen, die ehrenamtlich
aktiv sind, sie begrüßen und sie unterstützen . Ich glaube,
das hätte es so vor zehn Jahren noch nicht gegeben . Das
ist eine sehr gute Entwicklung .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Aber man darf das auch nicht überziehen . Auch ehren-
amtliche Helfer sind irgendwann müde, sind irgendwann
abgespannt . Das heißt, der Bund muss eingreifen und vor
allen Dingen die strukturellen Probleme lösen .

Auf der anderen Seite haben wir einen rechtsextremen
Mob, der rassistisch hetzt, hasst und Flüchtlingsunter-
künfte in Brand setzt . Ich sage Ihnen: Dagegen müssen
wir geschlossen auftreten, egal wie groß ansonsten unse-
re Meinungsunterschiede sind .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Aber es gibt auch Menschen, die Ängste damit verbin-
den, die glauben, dass es ihnen besser ginge, wenn es we-
niger Flüchtlinge gäbe . Ich habe sie gefragt, ob es ihnen
besser ging, bevor die Flüchtlinge kamen . Das mussten
sie verneinen . Es ist überhaupt kein logisches Argument,
aber wir sind trotzdem verpflichtet, diese abstrakten
Ängste abzubauen. Und wir sind verpflichtet, mehr so-
ziale Gerechtigkeit herzustellen . Ich sage Ihnen: Wenn
Verhältnisse so sozial ungerecht sind, dann nutzt das der
Rechtsextremismus aus, um Leute für sich zu gewinnen
mit schlichten rassistischen und anderen Losungen . Also
kämpfen wir nicht nur aus materiellen Gründen, sondern
auch aus wichtigen ideellen Gründen für deutlich mehr
soziale Gerechtigkeit in Deutschland .


(Beifall bei der LINKEN)


Im Übrigen: Der ärmere Teil der Bevölkerung ist der
Teil, der immer seltener zur Wahl geht . Das ist demo-
kratiegefährdend . Wir müssen also auch mehr soziale
Gerechtigkeit gestalten, damit diese Menschen wieder
die Demokratie begrüßen und sich an Wahlen beteiligen .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Flüchtlinge sind schon deshalb eine Chance, weil
uns immer mehr Arbeitskräfte fehlen . Der Arbeitgeber-
präsident begrüßt deshalb den Zustrom an Flüchtlingen .
Jedes Jahr sterben bekanntlich mehr Deutsche als gebo-
ren werden . Da es ja handwerklich nicht verlernt wor-
den ist, müssen wir uns doch einmal Gedanken darüber
machen, woran das liegt . Ich sage Ihnen: Das liegt dar-
an, dass wir keine kinderfreundliche Gesellschaft sind .
Es liegt daran, dass wir ein Bildungssystem aus dem
19 . Jahrhundert haben, dass es keinen chancengleichen
Zugang zu Bildung, Kunst und Kultur bei Kindern gibt .
Von einem solchen Zugang kann nicht einmal im Ansatz
die Rede sein .

Die umfassende prekäre Beschäftigung dank Agenda
2010 verhindert, dass die Menschen verantwortungs-

bewusst Kinder in die Welt setzen können . Massenhaft
kriegen junge Leute nur befristete Arbeitsverträge von
einigen Monaten . Sie wissen nicht einmal, was aus ihnen
wird, geschweige denn, was aus ihren Kindern werden
soll . All das sind die Ursachen dafür .

Aber selbst wenn wir – das muss ich so deutlich sa-
gen – Flüchtlinge wirtschaftlich nicht brauchten, sind wir
verpflichtet, sie anständig zu behandeln, sie anständig
unterzubringen und sie zu integrieren .


(Beifall bei der LINKEN)


Deshalb ist es gut, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie im
kommenden Jahr sechs Milliarden Euro im Bundeshaus-
halt dafür einsetzen wollen . Das ist ein Schritt in die rich-
tige Richtung . Aber das Geld genügt nicht, und vor allem
ist das keine strukturelle Lösung . Deshalb sage ich Ihnen
noch einmal: Wir müssten den Solidaritätszuschlag nicht
abschaffen, sondern beibehalten und das Aufkommen da-
raus gerecht unter den 16 Bundesländern verteilen, damit
diese die Aufgaben bei der Unterbringung und bei der
Integration der Flüchtlinge meistern können .


(Beifall bei der LINKEN)


Das Asylverfahren ist übrigens Bundesrecht . Insofern
müssen die Kosten meines Erachtens auch vom Bund
getragen werden, aber nicht von den Ländern und Kom-
munen .

Es ist richtig, dass Sie mehr Deutschkurse anbieten .
Ihre Überlegungen, Flüchtlinge schneller loszuwerden,
gehen aber eindeutig in die falsche Richtung .


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Sie erweitern die Zahl sicherer Herkunftsländer, um
schneller abschieben zu können . So soll nun der Koso-
vo ein sicheres Herkunftsland sein, wenn ich Sie richtig
verstanden habe . Sie begründen uns doch immer die Not-
wendigkeit der Bundeswehr im Kosovo damit, dass es
dort so unsicher ist . Was stimmt denn nun? Braucht man
dort die Bundeswehr, oder ist das ein sicheres Land? Sie
müssen auch einmal Logik in Ihre Politik bringen .


(Beifall bei der LINKEN)


Übrigens: Der Vorschlag, Bargeld für Flüchtlinge
abzuschaffen und durch Gutscheine zu ersetzen, wider-
spricht einer Entscheidung des Bundesverfassungsge-
richts . Gehen Sie doch keinen grundgesetzwidrigen Weg .
Er ist immer falsch .


(Beifall bei der LINKEN)


Flüchtlinge sollen nach drei Monaten Aufenthalt
Leiharbeit verrichten dürfen . Sie wollen also einen neuen
Sektor für Niedriglohn eröffnen . Auch das ist indiskuta-
bel. Darunter sind übrigens oft viele qualifizierte Kräfte.
Mir wird immer gesagt, dass man nicht weiß, ob die Qua-
lifikation stimmt. Mein Gott, wir haben doch immer eine
Probezeit . Da weiß beispielsweise ein Arzt sofort, ob die
Qualifikation stimmt oder nicht stimmt. Hier müssen wir
einmal etwas lockerer, etwas unbürokratischer werden
und dafür sorgen, dass die Menschen so schnell wie mög-
lich Beschäftigung finden.


(Beifall bei der LINKEN)


Dr. Gregor Gysi






(A) (C)



(B) (D)


Sechs osteuropäische Länder erklärten, niemals mit
Flüchtlingsquoten einverstanden zu sein: Tschechien, die
Slowakei, Polen, Ungarn, Litauen und Lettland . Nun bin
ich auch gegen Quoten, weil es sich nämlich um Men-
schen handelt und nicht um Sachen; die kann man nicht
einfach verteilen .


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Aber eine gerechte Kostenverteilung innerhalb der
Europäischen Union halte ich für zwingend erforderlich .
Wenn dann Länder, die kaum Flüchtlinge aufnehmen,
nicht bereit sind, ihren Kostenanteil zu zahlen, müssen
ihnen die Zuschüsse von der EU entsprechend gekürzt
werden . Da muss man jetzt einmal mehr Mumm zeigen,
Frau Bundeskanzlerin .


(Beifall bei der LINKEN)


Übrigens erklärt die polnische Regierung, dass Polen
für muslimisch gläubige Flüchtlinge ungeeignet sei . Nun
ist dieses Land bekanntlich schwer katholisch geprägt .
Es kann doch nicht wahr sein, dass ich denen jetzt schon
wieder die Bergpredigt von Jesus Christus erklären muss .


(Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN – Zuruf von der SPD: Das ist aber peinlich!)


Wenn diese Mitglieder der polnischen Regierung zur
Beichte gehen, müssen sie so viele Rosenkränze beten,
dass sie gar nicht mehr aus der Kirche herauskommen .
Ich kann nur sagen: Führen Sie mit denen mal eine schar-
fe und deutliche Auseinandersetzung .


(Beifall bei der LINKEN)


Ungarn . Orban schafft Schritt für Schritt die Demo-
kratie ab und strebt eindeutig autoritäre Strukturen an .
Das verkündet er sogar . Die USA haben bereits Sankti-
onen ausgesprochen . Und was macht unsere Bundesre-
gierung? Sie mault etwas vor sich hin . Das reicht nicht .
Hier müssen wirklich Maßnahmen ergriffen werden,
aber nicht nur von der Bundesregierung, sondern auch
von der EU .


(Beifall bei der LINKEN)


Und noch etwas, das interessiert mich, Frau Dr .
Merkel, Herr Kauder und Frau Hasselfeldt . Orbans Par-
tei ist Mitglied der konservativen Fraktion im Europäi-
schen Parlament . Das heißt, die Abgeordneten der CDU
und der CSU sitzen gemeinsam in einer Fraktion mit den
Mitgliedern von Orbans Partei . Meinen Sie nicht, es ist
höchste Zeit, diese Partei aus Ihrer europäischen Fraktion
rauszuschmeißen, und zwar achtkantig?


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Insgesamt sieht man die unzureichenden Strukturen
der EU . Nichts Wirksames geschieht gegen Orbans un-
erträgliche Politik .

Russland . Russland ist eine Weltmacht, und nicht, wie
Obama meinte, eine Regionalmacht . Russland ist eine
Vetomacht . Russland ist das militärisch stärkste Land in
Europa . Obama verlangte Wirtschaftssanktionen durch
die EU, auch durch die Bundesrepublik . Wie immer sind
Sie den Forderungen der US-Administration artig gefolgt

und haben alles gemacht, was sie wollte . Wir haben da-
durch deutliche Wirtschaftseinbußen . Ich kenne mittel-
ständische Unternehmen, die an Russland geliefert haben
und jetzt nicht wissen, wie sie die Insolvenz verhindern
sollen .

Nun lese ich, dass nach russischen Angaben der Handel
zwischen den USA und Russland um sechs bis elf Pro-
zent zugenommen hat . Ich meine, es wäre doch eine sa-
genhafte Frechheit, von uns Sanktionen zu verlangen und
selbst den Handel zu steigern . Deshalb sage ich Ihnen:
Hören Sie endlich damit auf! Sie müssen eine eigenstän-
dige Interessenpolitik machen . Es gibt keinen Frieden in
Europa ohne oder gegen Russland . Das müssen wir be-
achten .


(Beifall bei der LINKEN)


Noch etwas: Jetzt höre ich plötzlich, dass Russland
Waffen und Truppen um Syrien zusammenzieht . Dann
lese ich, das sei alles mit den USA abgestimmt . Dann
lese ich wiederum, dass die US-Regierung die russische
Regierung warnt . Jetzt frage ich mich: Ist die Warnung
auch abgestimmt, indem man sagt: „Macht das mal, aber
wir müssen so tun, als ob wir dagegen sind“? Ich hoffe,
Frau Bundeskanzlerin, Sie können uns einmal aufklären
und sagen, wie es da wirklich aussieht . Es wird Zeit, dass
unsere Bevölkerung diesbezüglich informiert wird .


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Noch etwas: Ich verstehe sehr gut, dass man Assad
nicht mag; das kann ich alles nachvollziehen . Er verletzt
Menschenrechte in vielfacher Hinsicht . Aber man wird
einen Frieden ohne Assad doch wirklich nicht finden. Ist
die Friedensfrage nicht wichtiger als die Frage, wen man
aus Menschenrechtsgründen ablehnt oder nicht ablehnt?


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Gilt das auch für andere? – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Sehr eigenartig!)


Letztlich müssen wir begreifen und danach handeln:
Frieden und Sicherheit brauchen wir überall auf der Erde .
Deutschland darf nicht der drittgrößte Waffenexporteur
der Welt sein .


(Beifall bei der LINKEN – Johannes Kahrs [SPD]: Wenn Sie jetzt hier Assad verteidigen, dann wird es grenzwertig!)


Türkei . Es gab einen Friedensprozess zwischen der
Regierung der Türkei und den Kurdinnen und Kurden .
Dann hat sich die Regierung entschieden, gegen die PKK
Krieg zu führen . Jetzt sagt Erdogan, es gibt für ihn nur
noch eine militärische Lösung . Er marschiert sogar in
den Irak ein . Aber gerade die syrischen und irakischen
Kurdinnen und Kurden, wenn ich darauf einmal hinwei-
sen darf, führen den einzig wirklich wirksamen Kampf
am Boden gegen den „Islamischen Staat“ . Die werden
jetzt aber bekriegt, und zwar von einem NATO-Partner .
Und was machen Sie dagegen? Nichts . Geben Sie doch
einmal dieses Schweigen auf und suchen Sie die wirk-
liche Auseinandersetzung mit Erdogan, weil das nicht
mehr hinnehmbar ist!


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dr. Gregor Gysi






(A) (C)



(B) (D)


Griechenland . Herr Schäuble, vielleicht haben Sie Ihr
Ziel erreicht, und die linke Regierung ist gestürzt . Wir
warten das Ergebnis der Wahlen ab .


(Ulli Nissen [SPD]: Das ist ja großzügig! – Volker Kauder [CDU/CSU]: Was ganz Neues!)


Aber eines hat die linke Regierung von Griechenland
erreicht: eine Diskussion in ganz Europa über den Euro
und über die EU-Strukturen, wie wir sie noch nie hatten .
Jetzt stellt sich die Frage, ob die EU weiter in Richtung
Demokratie- und Sozialabbau oder endlich umgekehrt in
Richtung mehr Demokratie und mehr soziale Gerechtig-
keit gestaltet wird . Wir brauchen die EU für den Frieden
in Europa, aber eben auch für mehr Demokratie und so-
ziale Gerechtigkeit .


(Beifall bei der LINKEN)


Ich sage Ihnen, Herr Schäuble, Sie haben leider mit
Ihrer Politik erreicht – Sie natürlich auch, Frau Bundes-
kanzlerin –, dass der Rechtspopulismus und der Rechts-
extremismus, die zu den alten Nationalstaaten zurück-
wollen, in den europäischen Ländern Erfolge zeigen .
Schon das müsste Sie wachrütteln und die Politik gänz-
lich ändern .


(Beifall bei der LINKEN)


TTIP . Wir haben immer die mangelnde Transparenz
bei dem sogenannten Freihandelsabkommen, das da zwi-
schen den USA und der Europäischen Union verhandelt
wird, kritisiert . Es hat sich ein kleines bisschen verbes-
sert, aber nicht viel . Jetzt nenne ich Ihnen drei Probleme:

Erstens . Wir kennen ein Vorsorgeprinzip, das in den
USA unbekannt ist . Die kennen ein Nachsorgeprinzip .
Das heißt, wenn man in Deutschland ein neues Lebens-
mittel auf den Markt bringen will, muss man beweisen,
dass das nicht schädlich ist .


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Quatsch!)


Dass wir da manchmal falsche Beweise kriegen, ist eine
andere Frage . Man muss es aber beweisen . In den USA
ist es genau umgekehrt . Da kann man jedes Lebensmittel
auf den Markt bringen . Wenn man dann aber Schaden
anrichtet, wird man irgendwann zu ein paar Milliarden
Schadenersatz verurteilt . Das ist eine völlig umgekehrte
Herangehensweise .


(Thomas Oppermann [SPD]: Das stimmt nicht mit der Wahrheit überein!)


Die mittelständischen Unternehmen sagen mir, sie liegen
damit zwei bis drei Jahre zurück und haben dadurch ei-
nen ganz großen Nachteil . Das sollte Sie doch eigentlich
interessieren .


(Johannes Kahrs [SPD]: Ich weiß nicht, was Sie uns hier erzählen wollen!)


Zweitens . Die Schiedsgerichte sind abenteuerlich . Sie
müssen sich einmal Folgendes überlegen: Da kommt ein
kanadischer oder amerikanischer Konzern, klagt vor ei-
nem Schiedsgericht und bekommt dann 200 Milliarden
Euro Schadenersatz durch die Bundesregierung zugebil-

ligt, und man kann nichts mehr machen . Es gibt kein wei-
teres Gericht, weder ein deutsches noch ein europäisches .
Die eigenen Unternehmen müssen bis zum Europäischen
Gerichtshof oder bis zum Bundesverfassungsgericht ge-
hen, um irgendetwas durchzusetzen . Das ist wiederum
eine schwere Benachteiligung .


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Wahnsinn!)


Ich weiß, dass die Wirtschaft für ein Freihandelsab-
kommen ist . Wir sagen dazu Nein . Ich weiß auch, welche
Kritik Sie daran üben, und die sollten Sie ernst nehmen .

Drittens .


(Ulli Nissen [SPD]: Jetzt mal was Neues!)


Das für uns entscheidende Kriterium ist das Verbot von
Investitionshemmnissen . Ich bitte Sie: Wissen Sie, was
das heißt? Das heißt Folgendes: Ein amerikanischer Kon-
zern gründet zu irgendeinem Zeitpunkt, als es eine be-
stimmte rechtliche Situation gab, seinen Sitz in Deutsch-
land . Danach gibt es Neuwahlen in der Bundesrepublik
Deutschland, und – sagen wir einmal – es entsteht eine
vernünftige Regierung, also aus oder mit Linken; nur ein-
mal angenommen .


(Dr . Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn Sie selber wollen würden! Aber Sie wollen es selber nicht! – Zuruf von der CDU/CSU: Träumer!)


– Ja, man darf doch träumen, das ist doch nicht ver-
boten . – Passen Sie auf: Jetzt erlaubt diese Regierung
sich, die Mitbestimmung in Unternehmen zu erweitern,
vielleicht sogar ein kleines bisschen die Steuern für die
Konzerne zu erhöhen . Und dann sagen die: Das verstößt
gegen das Verbot von Investitionshemmnissen . – Wenn
Sie das unterschreiben, dann sagen Sie, dass eine Poli-
tik in einer bestimmten Richtung verboten ist und dass
die Verhältnisse nur noch reaktionärer werden dürfen .
Da kann doch die Sozialdemokratische Partei Deutsch-
lands in Anbetracht ihrer Geschichte eigentlich niemals
zustimmen; aber Sie organisieren das Ganze noch .


(Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei der SPD)


Ich komme zur prekären Beschäftigung . Wir haben in
Deutschland nach wie vor den größten Niedriglohnsektor
in Europa . Wir hatten einmal – vor 20 Jahren – 26 Milli-
onen Menschen in Vollzeitbeschäftigung, jetzt nur noch
22 Millionen . Der Anteil der prekären Beschäftigung,
das heißt erzwungenen Teilzeit, Befristung, Leiharbeit
und geringfügigen Beschäftigung, ist um 70 Prozent ge-
stiegen und beträgt jetzt 21 Prozent aller Beschäftigungs-
verhältnisse . Ich sage Ihnen ganz klar: Leiharbeit ist für
mich eine moderne Form der Sklaverei und muss verbo-
ten werden .


(Beifall bei der LINKEN)


Aber wenn Sie schon Ausnahmen machen, dann müs-
sen Sie wenigsten dafür sorgen, dass eine Leiharbeiterin
oder ein Leiharbeiter ab der ersten Stunde der Beschäf-
tigung Anspruch auf 110 Prozent des Lohnes hat, den
ein anderer Beschäftigter in dem Unternehmen für die
gleiche Tätigkeit bezieht, damit diese Leiharbeit endlich

Dr. Gregor Gysi






(A) (C)



(B) (D)


zur Ausnahme wird und nicht zu einem Nötigungsmittel,
um der eigenen Belegschaft das Weihnachtsgeld, das Ur-
laubsgeld und vieles andere zu entziehen .


(Beifall bei der LINKEN)


Befristung darf es nur noch mit Sachgrund geben und
nicht – wie heute – willkürlich .


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Auch die erzwungene Teilzeit müssen wir loswerden .
Wenn es Teilzeit schon gibt, dann muss sie freiwillig
sein, aber mit dem Recht auf Rückkehr zur Vollbeschäf-
tigung . Übrigens, die Frauen trifft es besonders hart .
Die Vollzeitbeschäftigungsquote bei Frauen sank von
55 Prozent auf 40 Prozent, und die Zahl der Teilzeitjobs
für Frauen nahm zu von 3,8 auf 6,3 Millionen . Ich sage
Ihnen: Armut ist immer weiblich . Deshalb war der Streik
der Erzieherinnen und Erzieher und der Sozialarbeite-
rinnen und Sozialarbeiter so wichtig, um wenigstens zu
erreichen, dass diese klassischen Frauenberufe endlich
nicht mehr so grottenschlecht bezahlt werden, wie das
gegenwärtig der Fall ist . Wir brauchen gleichen Lohn für
gleichwertige Arbeit .


(Beifall bei der LINKEN)


Übrigens, Frau Nahles, wann setzen Sie Ihre – aus
unserer Sicht völlig unzureichenden – Gesetze zur Be-
grenzung von Leiharbeit und gegen den Missbrauch von
Werkverträgen endlich um? Das wird Zeit, das kann man
doch nicht bloß beschließen .


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das ist die Rede vom letzten Mal!)


Also, ich sage Ihnen ganz klar: Wir werden einen ent-
schiedenen Kampf gegen die prekäre Beschäftigung und
den Niedriglohnsektor in Deutschland führen .

Ich komme zum Schluss und sage Ihnen Folgendes:


(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)


– Ich will Ihnen zwischendurch auch mal eine kleine
Freude machen . -


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Super!)


Wenn wir jetzt über die Halbzeit der Großen Koalition
reden, dann darf ich doch drei Dinge bewerten:

Erstens . Immer wieder wird behauptet, dass Sie, Frau
Dr . Merkel, die CDU sozialdemokratisiert haben . Wel-
ches Bild muss inzwischen eigentlich von der Sozialde-
mokratie herrschen, wenn Ihre Politik als sozialdemokra-
tisch gilt?


(Beifall bei der LINKEN)


Aber ich frage mich, welche Projekte Sie eigentlich in den
nächsten zwei Jahren anfangen wollen . Leider glaube ich
nicht, dass Sie wirksam die Fluchtursachen bekämpfen,
die Rüstungsexporte wesentlich und deutlich beschrän-
ken, einen Kampf führen gegen den Niedriglohnsektor,
gegen die prekäre Beschäftigung und gegen die Altersar-
mut und endlich eintreten für Chancengleichheit, insbe-
sondere für Kinder beim Zugang zu Bildung, Kunst und
Kultur . Dazu gehört übrigens auch ein deutlich billigerer

öffentlicher Nahverkehr . Aber was haben Sie stattdessen
vor? Erzählen Sie es uns .

Zweitens . Die CSU ist ein besonders trauriger Fall .


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg . Dr . Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das sagt der Richtige! – Widerspruch der Abg . Gerda Hasselfeldt [CDU/CSU])


– Ja, Frau Hasselfeldt, ich muss es Ihnen sagen . Sie hat-
ten aus Ihrer Sicht zwei tolle, aus meiner Sicht zwei ganz
besonders blöde Projekte . Das war einmal das Betreu-
ungsgeld, mit dem Sie Eltern dafür bezahlten, dass sie
das Lernen ihrer Kinder in Kindertagesstätten unterbin-
den .


(Sabine Weiss Quatsch!)


Wir haben Ihnen gesagt, dass es grundgesetzwidrig ist .
Sie haben es uns nicht geglaubt . Inzwischen hat es das
Bundesverfassungsgericht eindeutig festgestellt .


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das stimmt ja nicht! Das müssten Sie ja als Jurist wissen, Herr Dr . Gysi!)


Und dann die Maut! Liebe CSU, ich habe Ihnen ge-
sagt, mit Tricks kann man Europarecht nicht umgehen .
Sie wollten es mir nicht glauben und mussten nun alles
stoppen, nachdem in der EU ein Verfahren gegen unser
Land eingeleitet wurde . Ich werde Sie nicht inhaltlich
überzeugen können .


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Traut bloß den Eltern nicht!)


Aber glauben Sie mir: Wenn Sie diesbezüglich nicht über
solche Mitglieder verfügen, müssen Sie sich wenigstens
Beraterinnen und Berater suchen, die sich im Europa-
recht und im Grundgesetz auskennen . Glauben Sie mir
das!


(Beifall bei der LINKEN – Ulrike Gottschalck [SPD]: Aber nicht in Leiharbeit!)


Drittens: die SPD . Die SPD sitzt, auch wenn sie es
gelegentlich vergisst, ebenfalls in der Bundesregierung .
Viel zu spüren ist das allerdings nicht .


(Ulli Nissen [SPD]: Das sehen Sie völlig falsch!)


Sie stehen vor einer spannenden Frage: Wollen Sie ein
Anhängsel der Union bleiben oder doch zu einem Ge-
genüber werden?


(Ulli Nissen [SPD]: Wer hat denn die Mietpreisbremse gemacht?)


Die Depressionen bei Ihnen gehen ja schon so weit, dass
in Ihren Reihen, lieber Herr Gabriel, diskutiert wird, ob
man überhaupt noch eine eigene Kanzlerkandidatin oder
einen eigenen Kanzlerkandidaten aufstellen sollte . Mein
Gott! Wann kehrt in die Sozialdemokratie endlich mal

Dr. Gregor Gysi






(A) (C)



(B) (D)


wieder Leidenschaft, Kampfgeist, und zwar für Frieden
und soziale Gerechtigkeit, zurück?


(Beifall bei der LINKEN – Ulli Nissen [SPD]: Was meinen Sie, was wir für Leidenschaft haben in unserer Politik! – Zuruf von der CDU/ CSU, an die SPD gewandt: Der macht sich echt Sorgen um euch!)


Mein letzter Satz: Viel Hoffnung für die Bevölkerung
entsteht durch die – übrigens wegen der großen Mehr-
heit – demokratiegefährdende Große Koalition für die
nächsten beiden Jahre nicht, aber wer weiß, was 2017
passiert!


(Beifall bei der LINKEN – Johannes Kahrs [SPD]: Solange Ihr Verein so politikunfähig ist, wird das mal nichts!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1812000200

Das Wort erhält nun die Bundeskanzlerin .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Angela Merkel (CDU):
Rede ID: ID1812000300

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine Damen und Herren! Unsere Wirtschaft
ist stark, unser Arbeitsmarkt robust . In vielen Branchen
werden Fachkräfte sogar regelrecht gesucht . Das heißt,
man kann sagen, Deutschland ist in diesen Monaten in
guter Verfassung .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ein entscheidender Grund – bei Weitem nicht der ein-
zige –, warum Deutschland stark ist, liegt in der soliden
Finanz- und Haushaltspolitik dieser Bundesregierung .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir sind den Weg der wachstumsorientierten Konsoli-
dierung gegangen, und er hat sich bewährt . Das gibt uns
den nötigen Rückhalt und macht uns voll handlungsfä-
hig . Wir haben im vergangenen Jahr mit dem Haushalt
für 2015 einen historischen Wendepunkt erreicht: keine
neuen Schulden . Und das gilt auch weiter für die mittel-
fristige Finanzplanung .

Das heißt, Deutschlands Finanzen stehen auf einem
soliden Fundament . Das ist wiederum einer der Gründe
dafür, dass sich auch die wirtschaftspolitische Halbzeit-
bilanz der Bundesregierung mehr als sehen lassen kann .
Die Wirtschaft wächst deutlich . Wir haben eine Rekord-
beschäftigung . Die Zahl der Erwerbstätigen ist im Juli
auf knapp 43 Millionen Personen gestiegen . Das waren
160 000 mehr als im Vorjahr . Was ich besonders bemer-
kenswert und wichtig finde: Der Anstieg geht auf mehr
sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zurück. Das
ist ja genau unser Ziel .

Die Arbeitslosigkeit ist so niedrig wie seit 1991 nicht
mehr . Die bundesweite Arbeitslosenquote lag im August
bei 6,4 Prozent und damit 0,3 Prozentpunkte unter dem
Vorjahresniveau . Wir haben mit einer Quote von 7,7 Pro-

zent – immer noch zu hoch, aber immerhin – die nied-
rigste Erwerbslosigkeit unter den Jugendlichen in der
Europäischen Union .

Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben mehr Geld
in der Tasche . Seit Amtsantritt dieser Bundesregierung
sind die Löhne in jedem Quartal stärker gestiegen als die
Inflation. Die deutschen Exporte erreichen einen neuen
Höchststand . Das alles geschieht in einem Umfeld, das ja
bei Weitem nicht nur als stabil bezeichnet werden kann .
Die Weltwirtschaftslage ist nicht völlig ohne Risiken .
Die Schwellenländer gehen durch eine schwierige Phase .
Aber wir als Bundesregierung rechnen mit einem Wirt-
schaftswachstum von 1,8 Prozent in diesem und auch im
nächsten Jahr .

Solide Finanzen – das zeigt sich in diesen Tagen –
machen es möglich, dass wir auf plötzlich auftretende
neue Herausforderungen reagieren können, wie jetzt im
Haushaltsplan für 2016 . Es sind sechs Milliarden Euro
Mehrausgaben vorgesehen, davon drei Milliarden Euro
für den Bund und drei Milliarden Euro für die Unterstüt-
zung von Ländern und Kommunen .

Nachhaltige Haushaltspolitik – das hat sich in den ver-
gangenen Jahren gezeigt – eröffnet eben auch Spielräu-
me, Möglichkeiten für zukunftsorientierte Investitionen .
Wir haben wichtige Impulse gesetzt: in der Infrastruktur,
bei Forschung und Entwicklung, in der Energie- und Kli-
mapolitik und im digitalen Umbau von Wirtschaft und
Gesellschaft . Vor allem die Verkehrsinvestitionen sind
deutlich erhöht worden . Wir geben in dieser Legislatur-
periode fünf Milliarden Euro zusätzlich für Verkehrsin-
frastruktur aus . An einigen Stellen sind die Planungen
noch gar nicht so weit fortgeschritten, dass das Geld auch
ausgegeben werden kann . Aber es gibt Bundesländer, die
Reserven haben .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Hinzu kommen weitere 4,35 Milliarden Euro aus dem
Investitionspaket 2016 bis 2018 .

Wir haben 2009 die Breitbandstrategie der Bundesre-
gierung gestartet, und sie zahlt sich aus: Fast 70 Prozent
der Haushalte haben heute Bandbreiten von mindestens
50 Megabit pro Sekunde – Anfang 2010 waren es nur
39 Prozent –, und bis 2018 wird es eine flächendeckende
Breitbandversorgung geben, auch im ländlichen Raum .

Meine Damen und Herren, wir haben nicht nur an
Bundesinvestitionen gedacht . Wir wissen, dass die Kom-
munen die wichtigste Ebene für öffentliche Investitionen
sind . Die Kommunen haben auch Steuermehreinnahmen,
aber die Finanzlage der Kommunen insgesamt ist unter-
schiedlich . Deshalb unterstützen wir die Kommunen so
sehr, wie das nie zuvor geschehen ist . Aber wir haben
noch einen besonderen Schwerpunkt gesetzt: Der Bund
wird gerade die finanzschwachen Kommunen mit einem
Sonderfonds für Zukunftsinvestitionen unterstützen . Für
die Jahre 2015 bis 2018 sind dafür, zusätzlich zu den
normalen und für alle Kommunen geltenden finanziellen
Hilfen, 3,5 Milliarden Euro vorgesehen . Ich glaube, das
ist ein absolut richtiger Akzent .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Dr. Gregor Gysi






(A) (C)



(B) (D)


Eines der zentralen Vorhaben dieser Bundesregierung
ist und bleibt die Energiewende . Wir haben mit dem Ka-
binettsbeschluss vom 1 . Juli dieses Jahres wichtige Wei-
chen gestellt, damit die Energiewende erfolgreich umge-
setzt werden kann . Wir haben den Strommarkt zu einem
Strommarkt 2 .0 weiterentwickelt . Wir haben klare Ent-
scheidungen getroffen und damit auch für Berechenbar-
keit der Investitionen bezüglich des Netzausbaus gesorgt .
Wir haben mehr finanzielle Mittel für den Klimaschutz
bereitgestellt und die entsprechenden Weichen gestellt,
um unsere Klimaziele zu erreichen . Und wir haben im
Zusammenhang mit dem Ausstieg aus der Kernener-
gie noch einmal deutlich gemacht, dass die Sicherheit
während der Restbetriebslaufzeit und beim Abbau von
Kernkraftwerken unbedingt zu gewährleisten ist . Das
gilt auch für die Entsorgung radioaktiver Abfälle . Die
Bundesregierung geht dabei vom Grundsatz aus, dass die
Kosten von den Verursachern zu tragen sind .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Unbeschadet aller uns in diesen Tagen beschäftigenden
Herausforderungen dürfen wir nicht vergessen, dass wir
einen qualitativen Wandel unseres Arbeitslebens, unseres
gesellschaftlichen Lebens durchlaufen, und zwar durch
die Digitalisierung . Und die Bundesregierung antwortet
darauf . Wir wissen, dass das Wirtschaft und Gesellschaft
gleichermaßen betrifft . Mit dem Regierungsprogramm
„Digitale Agenda 2014–2017“ wird die Bundesregierung
den digitalen Wandel aktiv mitgestalten . Wir werden auf
der Kabinettsklausur am Dienstag der kommenden Wo-
che die Digitalisierung als Schwerpunkt haben und über
Themen wie Industrie 4 .0, automatisiertes Fahren, Cy-
bersicherheit und E-Health sprechen wie über viele an-
dere Themen .

Nur wenn wir wirklich verstehen, was durch die Digita-
lisierung passiert, wird es auf Dauer gelingen, hochpro-
fitable Wertschöpfungsketten in Deutschland zu halten.
Unser Plus in diesen Tagen ist, dass der Anteil der in-
dustriellen Produktion in Deutschland im internationalen
Maßstab nach wie vor vergleichsweise hoch ist . Aber in
Zukunft werden sich die Wertschöpfungsketten ändern .
Die Frage der Datenverarbeitung wird eine wesentliche
Rolle spielen . Wenn wir diesen Prozess der Wertschöp-
fung aus Daten nicht zeitnah mitgestalten, wenn wir nicht
die richtigen Rahmenbedingungen dafür schaffen, dann
laufen wir Gefahr, mit unserer industriellen Produktion
zu einer verlängerten Werkbank zu werden, und das muss
verhindert werden . Ich glaube, das können wir schaffen .
Auf der europäischen Ebene werden mit der Daten-
schutzgrundverordnung, die jetzt beraten wird, wichtige
Weichen gestellt . Im Übrigen brauchen wir eine europä-
ische Strategie für die Digitalisierung . Glücklicherweise
gibt es auch diesbezüglich erste Fortschritte .

Wir arbeiten genauso beharrlich daran, die europä-
ische Staatsschuldenkrise zu überwinden . Wir haben
in diesem Sommer ein umfassendes Programm auf den
Weg gebracht, das Griechenland eine Chance bietet, in
der klassischen Herangehensweise – Solidarität und Ei-
genverantwortung – wieder zu Wirtschaftswachstum und
mehr Beschäftigung zu kommen . Wenn wir auf den Eu-
roraum insgesamt blicken, können wir sagen: Es gibt eine
wirtschaftliche Erholung, die Wirtschaftslage ist besser

als noch vor einem Jahr, und insbesondere reformstarke
Euroländer wie Spanien und Irland wachsen überdurch-
schnittlich . Spanien wächst jetzt so schnell, wie es vor
der Krise gewachsen ist . Man kann hier nur sagen, dass
sich der Reformweg gelohnt hat .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ermutigend ist, dass die sogenannte Staatsschuldenquote
2015 erstmals abnehmen wird, im Euroraum auf 94 Pro-
zent des BIP, im gesamten EU-Raum auf 88 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts . Wenn wir uns die Vorgaben des
Stabilitäts- und Wachstumspakts anschauen, müssen wir
ehrlich sagen: Auch Deutschland hat noch eine Wegstre-
cke vor sich . Länder wie Polen, Schweden und Däne-
mark haben wesentlich weniger Schulden im Verhältnis
zum Bruttoinlandsprodukt als wir . Also müssen auch wir
uns weiter anstrengen .

Ich halte es zur Schaffung von Wachstumsvoraus-
setzungen für absolut wichtig, dass wir die Freihandel-
sabkommen intensiv weiterverhandeln . Wir sehen die
Chancen dieser Freihandelsabkommen mit den Verei-
nigten Staaten von Amerika und Kanada . Ich will dar-
auf hinweisen, dass wir Punkt für Punkt – das ist hier
nicht der Rahmen dafür – all das, was darüber erzählt
wird, entkräften . Es handelt sich um ein Freihandelsab-
kommen zwischen zwei Wirtschaftsräumen der Welt mit
den höchsten Standards, sowohl was Verbraucherschutz
als auch was Umweltschutz anbelangt . Wenn diese Re-
gionen es schaffen, ein faires gemeinsames Abkommen
zu schließen, wird dies Wirkung haben auf alle anderen
Handelsabkommen weltweit, die sich heute fast gar nicht
um Verbraucherschutzstandards, um soziale Standards
oder um Umweltschutzstandards kümmern . Das könnte
ein Freihandelsabkommen der Zukunft sein, weil es dar-
in nicht einfach nur um Zölle geht, sondern um sehr viel
mehr . Damit können wir Maßstäbe setzen .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Auch wenn wir viel über Infrastrukturprojekte spre-
chen, über die Energiewende, über die Digitalisierung
und über die Bewältigung der europäischen Staatsschul-
denkrise, so steht doch im Zentrum unserer Politik immer
auch die Frage: Was bedeutet das für die Menschen? Der
einzelne Mensch in seiner Lebenssituation in unserem
Land zählt für uns . Deshalb möchte ich heute ein Thema
herausgreifen, bei dem die Große Koalition exemplarisch
gezeigt hat, dass sie sich gerade auch um die Sorgen und
Nöte der Menschen kümmert. Es geht um die Pflege al-
ter oder kranker Menschen, die – das gilt für fast jede
Familie – die Angehörigen vor gewaltige Herausforde-
rungen stellt. Wir haben mit dem Pflegestärkungsgesetz,
das zum 1 . Januar dieses Jahres in Kraft trat, einen ersten
Schritt gemacht . Damals haben wir unter anderem deut-
liche Verbesserungen im Bereich der ambulanten Pflege
beschlossen .

Jetzt unternehmen wir einen zweiten Schritt, und das
ist ein revolutionärer Schritt . Viele werden sich erinnern,

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel






(A) (C)



(B) (D)


wie lange wir über den neuen Pflegebegriff diskutiert ha-
ben .


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zehn Jahre!)


– Richtig . – Es war eine lange, ausführliche Diskussi-
on – einen Teil der Verzögerungen nehme ich auf meine
Kappe –, weil uns wichtig war, dass wir sicherstellen,
dass der neue Pflegebegriff körperliche, geistige und psy-
chische Einschränkungen gleichermaßen berücksichtigt .

Wir hatten ja schon einen ersten Schritt im Hinblick auf
Demenzerkrankungen gemacht . Aber genauso wichtig
war mir und uns, dass niemand durch den neuen Pflege-
begriff in eine Situation kommt, in der er sich schlechter
stellt und nicht versteht, warum wir eine Pflegebedürf-
tigkeit gegen eine andere ausspielen . Das haben wir
sorgsam geprüft, und jetzt liegt ein Gesetzentwurf vor,
der mit Sicherheit für alle, die der Pflege bedürfen, eine
Verbesserung mit sich bringt . Wir haben dafür auch eine
Beitragserhöhung von 0,2 Prozent beschlossen . Aber ich
glaube, das ist gut investiertes Geld für Menschen in ei-
ner schwierigen Lebenslage und ihre Familien . Deshalb
halte ich das für einen ganz wichtigen Schritt .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich stelle überhaupt
nicht in Abrede, dass noch viel zu tun ist in Deutschland .
Aber wenn wir sehen, was um uns herum in der Welt
passiert, dann möchte ich heute hier auch einmal sagen:
Es ist ein Privileg, und es ist ein Glück, in guten demo-
kratischen Verhältnissen zu leben und über einen Haus-
haltsentwurf wie diesen zu sprechen . Ich sage das auch
mit Blick auf 25 Jahre deutsche Einheit, meine Damen
und Herren .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Das ist wirklich nicht überall auf der Welt so . Denken
wir zum Beispiel nur an die Lage vor unserer eigenen
Haustür, nämlich in der Ukraine, die uns unverändert
Sorgen macht . Die Achtung des Rechts ist unabdingbare
Voraussetzung für ein friedliches und partnerschaftliches
Zusammenleben . Durch die Annexion der Krim und den
von Russland unterstützten Separatismus in der Ostuk-
raine hat Russland diese Ordnung fundamental verletzt .

Wir haben uns in den letzten Monaten immer und im-
mer wieder dafür eingesetzt, dass die Krise in der Uk-
raine auf diplomatischem Weg gelöst werden kann . Das
Ziel dabei ist, dass die territoriale Integrität der Ukraine
wiederhergestellt werden kann . Das Maßnahmenpaket
von Minsk wurde im Februar beschlossen . Es ist nach
wie vor Richtschnur auf diesem Weg . Wir haben seit An-
fang September nach vielen Rückschlägen einen immer
noch fragilen, aber etwas verbesserten Waffenstillstand .
Aber wir wissen, wir sind längst nicht am Ziel .

Ich darf Ihnen sagen, dass die Bundesregierung, der
Bundesaußenminister und auch ich, gemeinsam immer
und immer wieder – auch im Normandie-Format – zu-
sammen mit dem französischen Außenminister und dem
französischen Präsidenten darüber wachen werden und
Anstrengungen unternehmen werden, um diesen Prozess
voranzubringen, der jetzt auch in eine entscheidende

politische Phase gekommen ist, was Verfassungsände-
rungen anbelangt, was die Frage von Lokalwahlen anbe-
langt . Wir sind da längst nicht über den Berg . Aber wir
werden in unseren Bemühungen nicht nachlassen, weil
wir nur diesen diplomatischen Weg sehen, meine Damen
und Herren, und den zu gehen müssen wir immer und
immer wieder versuchen .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte mich in diesem Zusammenhang auch bei
der OSZE bedanken . Die Beobachter der OSZE leisten
hier eine herausragende Arbeit . Manch einer hatte die
Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit schon
ein bisschen sozusagen in die Reihe der auslaufenden
Organisationen gestellt . Ich kann nur sagen: Wenn wir
sie nicht hätten, wären wir in diesem Prozess mit der
Ukraine längst nicht an dem Punkt . Deshalb ist es auch
gut, dass Deutschland im nächsten Jahr den Vorsitz über-
nimmt . Wir arbeiten heute schon mit der Schweiz und
Serbien in der Troika zusammen und werden das nächs-
tes Jahr fortsetzen .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, trotz dieses tiefgreifenden
Konflikts mit Russland gibt es in diesem Jahr in der inter-
nationalen Politik auch manches, das positiv überrascht
und das Mut macht, zum Beispiel die Einigung der E3+3,
also unter Beteiligung Russlands und Chinas, mit dem
Iran auf einen gemeinsamen umfassenden Aktionsplan
im Zusammenhang mit dem Nuklearprogramm . Dieser
Aktionsplan beruht nicht auf Vertrauen oder der Vermu-
tung, wie der Iran in zehn oder 15 Jahren aussehen könn-
te, sondern auf sehr detaillierter Kontrolle, um den Weg
Irans zu einer Nuklearwaffe zu stoppen .

Ich möchte an dieser Stelle unserem Außenminister
Dr . Frank-Walter Steinmeier ganz herzlich danken . Er
hat wirklich Stunden und Aberstunden und Tage in Genf
verbracht . Danke für Ihr Mittun .


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Positives sehen wir auch bei den Vereinten Nationen;
denn die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen haben
sich in New York auf eine 2030-Agenda für eine nach-
haltige Entwicklung verständigt . Übernächste Woche
sollen die Texte von den Staats- und Regierungschefs
offiziell verabschiedet werden. Erstmals haben wir einen
universell gültigen Aktionsplan mit 17 konkreten Zielen .
Armutsreduzierung wird mit dem Ziel weltweiter nach-
haltiger Entwicklung verbunden . Das ist ein Fortschritt .

Ich glaube, gerade diese Verabschiedung der
2030-Agenda gibt auch einen Impuls zu einer anderen
wichtigen internationalen Tagung in diesem Jahr, näm-
lich der Klimakonferenz in Paris . Hier arbeiten Deutsch-
land und Frankreich sehr eng zusammen . Wir wollen
alles tun, damit die französischen Gastgeber eine erfolg-
reiche Konferenz durchführen können . Nach Kopenha-

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel






(A) (C)



(B) (D)


gen brauchen wir diesen Erfolg . Auf der Welt geschieht
vieles, was uns optimistisch stimmt .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Aber die wenigen internationalen Lichtblicke können
nun wirklich nicht darüber hinwegtäuschen, dass das
Jahr 2015 für so viele Länder und vor allen Dingen für
so viele Menschen bislang ein furchtbares Jahr ist . Nur
wenige Flugstunden von Europa entfernt gibt es Krieg,
Terror, Tod und Verzweiflung. Nie nach dem Zweiten
Weltkrieg hat es so viele Flüchtlinge weltweit gegeben
wie im Augenblick . In Syrien hat der Krieg inzwischen
250 000 Menschenleben gekostet . Innerhalb des Landes
sind über sieben Millionen Menschen auf der Flucht .
Vier Millionen Syrer haben in den Nachbarländern, in
Jordanien, im Libanon, in der Türkei, Zuflucht gefunden.

Die Terrororganisation „Islamischer Staat“ kontrol-
liert weite Gebiete im Osten Syriens und im Nordwesten
des Iraks . Deutschland hat hier Verantwortung übernom-
men . Ich erinnere an unseren Beschluss, den Peschmerga
im Norden des Iraks zu helfen . Das war ein völlig neuer
Schritt in unserem Herangehen, weil wir nicht die Au-
gen verschließen konnten vor der Verfolgung der Jesi-
den, vor der Verfolgung anderer, auch vor der Verfolgung
von Muslimen . Wir haben uns entschlossen, zu helfen,
und diese Hilfe wird auch anerkannt . 3 000 irakisch-kur-
dische Sicherheitskräfte wurden ausgebildet . Sicherlich
werden wir in Zukunft auch weiter über Möglichkeiten
der Ausbildung sprechen .

Der Kampf gegen den „Islamischen Staat“ ist eine
der großen Herausforderungen . Es ist noch nicht sicher,
dass er erfolgreich sein wird, aber wir müssen daran ar-
beiten . Der Kampf gegen den „Islamischen Staat“ bringt
uns auch immer wieder in Erinnerung, dass Kämpfer
dort aus unseren Ländern kommen, aus den Ländern
Deutschland, Großbritannien, Frankreich, aus europäi-
schen Ländern . Das heißt, wir können nicht sagen: „Das
ist da irgendwo ein Problem“, sondern es beschäftigt
auch uns . Das ist ein Element davon, dass wir insgesamt
nachdrücklich spüren, dass diese Konflikte in Syrien, im
Irak nicht irgendwo stattfinden, sondern letztlich vor den
Toren Europas. Diese verheerenden Konflikte sind nicht
etwas, das man nur im Fernsehen sieht, sondern ihre Fol-
gen erreichen uns .

Eine dieser Folgen ist, dass voraussichtlich bis zu
800 000 Menschen einen Antrag auf Status als Bürger-
kriegsflüchtling oder auf politisches Asyl stellen werden.
Das wäre die höchste in Deutschland jemals registrier-
te Zahl . So weit die Zahlen . Doch dahinter stehen ja
Schicksale . Wir alle verfolgen, welche Tragödien sich
abspielen, ob es Fotos von toten Kindern sind, die auf
entsetzliche Art und Weise umgekommen sind, oder ob
es das entsetzliche Leid und der Tod der Menschen in
dem Lkw waren . Sie stehen exemplarisch für viele, viele
Schicksale .

Deshalb sind wir in der Verantwortung . Diese Verant-
wortung nehmen wir wahr . Sie fordert uns . Bund, Länder
und Kommunen wollen das in guter Zusammenarbeit
schaffen und arbeiten daran. Heute findet ein weiteres
Bund-Länder-Treffen statt . Wir haben bereits im Juni ge-

sagt: Das ist eine nationale Aufgabe . Am 24 . September
werden wir dann eine Sonder-MPK mit der Bundesregie-
rung durchführen, auf der wir hoffentlich die notwendi-
gen Beschlüsse fassen .

Die Koalition hat im Koalitionsausschuss am Sonntag
gemeinsame Positionen erarbeitet, wie wir die richtige
Antwort auf die augenblickliche Asyl- und Flüchtlingssi-
tuation geben . Es ist klar: Wir werden nicht einfach wei-
termachen können wie bisher, sondern wir werden Re-
gelungen überdenken müssen, wir werden Regelungen
zeitweise außer Kraft setzen müssen, wir müssen Abläu-
fe verbessern, wir müssen Entscheidungen schneller fäl-
len . Wir brauchen uns auch nicht gegenseitig die Schuld
zuzuschieben, wer dies und jenes noch nicht gemacht
hat, sondern wir müssen jetzt einfach anpacken und alle
konkreten Hindernisse aus dem Weg räumen, um den
Menschen, die zu uns kommen, zu helfen und ein friedli-
ches Zusammenleben in unserem Land zu gewährleisten .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


So wie wir schnell auf die Finanz- und Wirtschaftskri-
se reagiert haben, werden wir auch schnell – das ist mit
den Fraktionen besprochen – auf die Herausforderungen
in diesem Zusammenhang reagieren . Wir wollen noch
im Oktober dieses Jahres das Paket beschließen, das die
notwendigen Rahmenbedingungen schafft . Ich will hier
nicht die einzelnen Maßnahmen referieren; die kennen
Sie . Wichtig ist, dass wir in dieser Situation über ein paar
grundsätzliche Gedanken sprechen .

Erstens . Diejenigen, die als Asylsuchende zu uns
kommen oder als Kriegsflüchtlinge anerkannt werden,
brauchen unsere Hilfe, damit sie sich schnell integrieren
können . Sie brauchen Hilfe, um schnell Deutsch zu ler-
nen. Sie sollen schnell eine Arbeit finden. Viele von ihnen
werden Neubürger unseres Landes werden . Wir sollten
aus den Erfahrungen der 60er-Jahre, als wir Gastarbeiter
zu uns gerufen haben, lernen und von Anfang an der In-
tegration allerhöchste Priorität einräumen .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn wir es gut machen, dann birgt das mehr Chancen
als Risiken .

Zweitens . Diejenigen, die nicht vor politischer Verfol-
gung oder Krieg flüchten, sondern aus wirtschaftlicher
Not zu uns kommen, werden nicht in Deutschland blei-
ben können .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


So schwer ihr persönliches Leben auch sein mag, so ge-
hört dies dennoch zur Wahrheit, und wir sprechen sie
auch aus . Wir werden die Anerkennungs- und Regist-
rierungsverfahren und auch die Rückführungen deutlich
schneller und konsequenter durchführen müssen als bis-
lang .

Drittens . Ein Land, das viele, die neu zu uns kommen,
willkommen heißt, das auch viele willkommen heißt,

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel






(A) (C)



(B) (D)


die aus ganz anderen Kulturkreisen kommen, muss auch
deutlich machen, welche Regeln bei uns gelten . Auch das
gehört zu einer offenen Gesellschaft . Wir dürfen nicht
wegsehen, wenn sich Milieus verfestigen, die Integration
ablehnen, oder wenn sich Parallelgesellschaften heraus-
bilden . Hier darf es keine Toleranz geben; auch das müs-
sen wir von Anfang an sagen .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Viertens . Wir werden nicht zulassen, dass unsere
Grundwerte und unsere Menschlichkeit von Fremden-
feinden verraten werden . Abstoßend und beschämend
ist es, wenn Flüchtlingsheime angegriffen werden, wenn
Menschen angepöbelt werden, wenn Menschen angegrif-
fen werden und wenn dumpfe Hassbotschaften wo auch
immer verbreitet werden . Wir werden mit der ganzen
Härte des Rechtsstaates dagegen vorgehen – auch im In-
ternet, was der Justizminister jetzt ja tut .


(Beifall im ganzen Hause)


Fünftens . Die Bewältigung der aktuellen Flüchtlings-
krise gelingt nicht allein auf nationaler Ebene . Sie ist eine
Herausforderung für die Europäische Union, für jeden
Mitgliedstaat in der Europäischen Union, und das nicht
nur in praktischer Hinsicht, weil wir vielleicht sagen: Wir
haben sehr viele Flüchtlinge und andere wenige . – Nein!
Wenn Europa in der Flüchtlingsfrage versagen würde,
dann ginge ein entscheidender Gründungsimpuls eines
geeinten Europas verloren, nämlich die enge Verbindung
mit den universellen Menschenrechten, die Europa von
Anfang an bestimmt hat und die auch weiter gelten muss .
Dafür werden wir gemeinsam kämpfen, meine Damen
und Herren .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Deshalb müssen wir in Europa zu tragfähigen und
solidarischen Lösungen kommen . Die Westbalkankonfe-
renz in Wien vor wenigen Tagen war ein guter Beitrag .

Tragödien, wie die erstickten Flüchtlinge, die in einem
Lkw in Österreich gefunden wurden, dürfen sich nicht
wiederholen . Wir müssen die Situation auf dem Mittel-
meer, aber auch die zwischen der Türkei und Griechen-
land viel besser unter Kontrolle bekommen . Wir müssen
effektiv gegen Schlepperbanden vorgehen . Hierfür gibt
es jetzt den Einstieg in die zweite Phase der entsprechen-
den Operationen auf dem Mittelmeer .

Die deutschen Schiffe haben sich an der Rettung
von Flüchtlingen beteiligt, und ich möchte den Solda-
tinnen und Soldaten der Marine, die bereits mehr als
7 200 Flüchtlinge aus Seenot gerettet haben, ausdrück-
lich einen herzlichen Dank sagen .


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir müssen viel enger mit den Transit- und Her-
kunftsstaaten zusammenarbeiten . Auch sie müssen sicht-
bar Verantwortung übernehmen . Wir werden im Novem-
ber einen Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs mit
den Vertretern der Afrikanischen Union auf Malta haben
und darüber reden . Die Europäische Kommission wird
das vorbereiten . Daneben werden wir auch das Gespräch

mit der Türkei intensivieren müssen . Denken wir nur ein-
mal an die Route, die von der Türkei in Richtung Ungarn
und dann nach Österreich und Deutschland führt .

Ich habe gestern mit dem türkischen Ministerpräsi-
denten telefoniert . Wir werden die Gespräche fortsetzen .
Donald Tusk ist heute als Ratspräsident in der Türkei, um
Gespräche mit dem Präsidenten Erdogan und mit dem
Ministerpräsidenten zu führen . Hierbei wird es auf der
einen Seite darum gehen, zu sagen: „Ja, die Türkei hat in
den letzten Jahren sehr viel Verantwortung übernommen,
und vielleicht haben wir das auch für selbstverständ-
lich genommen und einfach gedacht, das werde schon
so weitergehen“, auf der anderen Seite müssen wir aber
auch eine vernünftige Kooperation mit der Türkei in der
Flüchtlingsfrage finden. Denn es kann nicht sein – die
Türkei und Griechenland sind NATO-Mitgliedstaaten –,
dass Schlepper sozusagen das bestimmende Element in
einer Region sind, in der diese beiden Länder ihre Grenze
haben . Das muss verändert werden .


(Zuruf der Abg . Heike Hänsel [DIE LINKE])


Wir brauchen innerhalb Europas natürlich Solida-
rität . Zur Stunde hält Jean-Claude Juncker seine Rede
zur Lage der Union . Er wird Vorschläge für einen ers-
ten Schritt der fairen Verteilung unterbreiten . Insgesamt
brauchen wir aber eine verbindliche Einigung über eine
verbindliche Verteilung von Flüchtlingen nach fairen
Kriterien zwischen allen Mitgliedstaaten, also eine an-
dere Verteilung als jetzt noch . Es wäre ja schon ein
wichtiger Schritt, wenn wir das erreichen würden, was
Jean-Claude Juncker heute vorschlägt, zum Beispiel eine
erste Diskussion auf dem Rat der Innen- und Justizminis-
ter am nächsten Montag .

Wir können nicht nur sagen: „Wir verteilen eine be-
stimmte Zahl von Flüchtlingen“, sondern wir müssen
auch überlegen, wie wir mit den Flüchtlingen, die bei uns
ankommen, umgehen . Man kann hier keine Höchstgren-
ze setzen und sagen, dass man sich darüber hinaus nicht
darum kümmert,


(Dr . Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Sehr richtig!)


sodass dies die Sache von zwei, drei oder vier Ländern
ist, sondern es muss hier eine europäische Verantwortung
geben . Nur so werden sich alle Mitgliedstaaten auch um
die Behebung von Fluchtursachen und internationalen
Konflikten kümmern. Auch das ist eine Gemeinschafts-
aufgabe .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sechstens . Die geopolitische Situation, ob es der Bür-
gerkrieg in Syrien ist, ob es der islamistische Terror im
Nordirak ist, ob es die politischen Systeme in Eritrea
oder Somalia sind, wird sich nicht über Nacht ändern .
Selten haben wir in diesem Haus gespürt, wie eng die
Innenpolitik, die Entwicklungspolitik und die Außen-
politik zusammenhängen . In Europa wird oft gesagt, es
gebe keinen Unterschied mehr, ob die europäische Po-
litik ein wenig mehr Innen- oder mehr Außenpolitik ist .
Die Globalisierung bringt uns in eine Situation, in der wir

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel






(A) (C)



(B) (D)


plötzlich merken: Wenn wir – auch über die europäischen
Grenzen hinaus – außen- und entwicklungspolitisch et-
was nicht tun, dann kann das innenpolitisch gravierende
Folgen haben . Das – davon bin ich zutiefst überzeugt –
wird die Realität des 21 . Jahrhunderts sein . Das ist der
Anfang und nicht das Ende einer Entwicklung, und wir
müssen lernen, darauf zu reagieren . Daran arbeiten wir .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Siebtens . Wir erleben immer wieder, dass es in Europa
Herausforderungen gibt, bei denen es ganz besonders auf
uns ankommt, auf Deutschland, auf Deutschlands Kraft
und auf Deutschlands Stärke . Sehr oft haben wir diese
Herausforderungen zusammen mit Frankreich bewältigt .
Auch jetzt haben wieder der französische Präsident und
ich, nach Vorarbeit der Innenminister, Vorschläge an die
Kommission gemacht, wie wir die Flüchtlingssituation
besser meistern können . Aber wir erleben auch Situa-
tionen wie jetzt am Wochenende, als wir zum Beispiel
gemeinsam mit Österreich eine Entscheidung gefällt ha-
ben . Und wir haben diese Entscheidung aus humanitären
Gründen gefällt .

Wir wissen: Auch in der Euro-Krise haben wir nicht
immer alle zusammengestanden, sondern da stand
Deutschland manchmal ganz schön alleine da, so jeden-
falls meine Erinnerung . Aber was wir immer wieder er-
lebt haben – das sollte uns Mut machen –, ist, dass es
genau diese Bereitschaft und diese Kraft Deutschlands
sein kann, die schließlich den Weg für eine europäische
Lösung freimacht .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Nicht, wenn wir uns verweigern, wird es wahrscheinlich,
dass wir eine europäische Lösung finden. Vielmehr wird
es dann, wenn wir mutig sind und manchmal vorange-
hen, wahrscheinlicher, dass wir eine europäische Lösung
finden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Das ist aller Anstrengungen wert .

Liebe Kolleginnen und Kollegen, so groß die Her-
ausforderung auch ist – diese Herausforderung ist lang
andauernd, und sie ist groß; ich mache mir da über-
haupt keine Illusionen –, so sehr bin ich überzeugt, dass
Deutschland sie bewältigen kann . Mehr noch: Ich bin
überzeugt, dass wir es nicht nur können, sondern dass
wir, wenn wir es gut machen, wenn wir es mutig ange-
hen, wenn wir nicht verzagt sind, sondern Ideen suchen,
wenn wir kreativ sind, letztlich nur gewinnen können .
Das sollte uns leiten bei der Bewältigung dieser Heraus-
forderung .

Herzlichen Dank .


(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1812000400

Das Wort erhält nun die Kollegin Katrin Göring-Eckardt

für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN .


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und liebe Kolle-
gen! Bevor ich auf die Flüchtlinge in unserem Land und
in Europa und ihre Situation zu sprechen komme, will
ich gern auf zwei Dinge eingehen, Frau Bundeskanzle-
rin, die Sie hier in Ihrem Rechenschaftsbericht erwähnt
haben und die vielleicht wenigstens eines Faktenchecks
bedürfen .

Der erste Punkt . Sie haben gesagt, die Bundesregie-
rung hätte einen Schwerpunkt auf Investitionen gelegt .
Wir haben in der Tat einen gigantischen Investitionsstau
in unserem Land . Schienen, Straßen, Brücken, Schulen
und vieles andere liegen im Argen . Diese Last wird vor
allen Dingen von den Kommunen und Ländern getragen .
Frau Bundeskanzlerin, wenn Sie sich Ihren Haushalt an-
schauen und wenn Sie sich die mittelfristige Finanzpla-
nung anschauen, dann sehen Sie: Investitionsquote unter
10 Prozent mit sinkender Tendenz bis 2019 . Sie sollten
hier ehrlich sein, Frau Bundeskanzlerin .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der zweite Punkt . Sie haben sich in einem Nebensatz
regelrecht verraten, indem Sie gesagt haben, TTIP wäre
jetzt in diesem Haus nicht das Thema .


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Den Eindruck haben wir auch . Die Unterlagen zu den
Verhandlungen zum Freihandelsabkommen sind nämlich
keinem einzigen Bundestagsabgeordneten zugänglich .
Aber 139 Personen können diese Unterlagen im Auftrag
der Bundesregierung in der amerikanischen Botschaft
einsehen . Das verstehe ich nicht unter Parlamentarismus,
und das verstehe ich nicht unter Transparenz . Dann müs-
sen Sie sich nicht wundern, wenn die Leute dagegen auf
die Straße gehen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir erleben in Deutschland derzeit ein echtes Septem-
bermärchen: Am Münchner Hauptbahnhof, in Dortmund,
in Saalfeld


(Ulli Nissen [SPD]: In Frankfurt!)


Und auch in vielen anderen Orten stehen Menschen an
den Bahnsteigen mit Essen und Trinken, mit Rat und Tat .
Wir sind plötzlich Weltmeister der Hilfsbereitschaft und
Menschenliebe . „Die Welt zu Gast bei Freunden“ – das
bekommt plötzlich eine ganz andere Bedeutung . Und ich
kann zum ersten Mal sagen, dass ich uneingeschränkt
stolz auf mein Land bin, wären da nicht schon wieder
Unterkünfte angezündet worden . Doch die Nazis sind in
der Minderheit, und sie bleiben es auch .

Was mich bewegt, ist der Ruck, der durch die Zivilge-
sellschaft geht . Es gibt Menschen, die bei der Bereitstel-
lung von Unterkünften anpacken und Flüchtlinge bei sich
zu Hause aufnehmen – wie unser Kollege Martin Patzelt .
Sie bringen ihnen Deutsch bei, vermitteln sie in Arbeit
und binden sich sogar lebenslang mit Bürgschaften . Sie
zeigen, dass Deutschland ein starkes und funktionsfähi-

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel






(A) (C)



(B) (D)


ges Land ist . Davon, Frau Bundeskanzlerin, haben Sie
die ganze Zeit geredet; aber eigentlich müssten diese
Menschen Sie auch beschämen . Denn ohne die tausend-
fache Hilfe, die gerade landauf, landab geleistet wird,
wären wir nicht in der Lage, die Flüchtlinge angemessen
zu versorgen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg . Halina Wawzyniak [DIE LINKE])


Sie bemühen sich hier, den Eindruck zu erwecken, als
hätten Sie alles im Griff, als würde der Innenminister ei-
nen guten Job machen, als hätten die Koalitionspartner
an diesem Wochenende weitreichende Beschlüsse ge-
fasst, als könnten Sie die Defizite im Umgang mit den
Flüchtlingen sozusagen „wegmerkeln“ . Doch Sie ste-
cken in einem echten Dilemma und in einer Politikkrise .
Anders kann man es nicht bezeichnen .

Frau Bundeskanzlerin, Sie waren vor Heidenau kein
einziges Mal in einer Flüchtlingsunterkunft . Ich gebe
zu, ich konnte es gar nicht glauben, dass Sie bis dahin
einen Bogen um die Schicksale derer gemacht haben,
deren Verwandte im Mittelmeer ertrunken sind, deren
Geschwister in Aleppo sitzen und am Telefon Schüsse
hören .

Sie haben, als Sie in der Schweiz diskutierten, spät,
sehr spät, aber dann die richtigen Worte gefunden – auch
zum Islam in unserem Land und zum Christentum . Vie-
le sehen das Filmchen jetzt im Internet . Sie haben letzte
Woche Worte gefunden und am Wochenende auch deut-
lich gemacht: Wir sind aufnahmebereit . Als ich Sie heute
hier gehört habe, habe ich gedacht, dass Sie schon wie-
der im Verwaltungsmodus sind . Jetzt müssen aber Taten
folgen, deutsche Flexibilität, ja, aber noch viel wichtiger
deutsche Schnelligkeit . Es kann nicht sein, dass jetzt wie-
der Wochen verstreichen, bis verhandelt wird .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg . Halina Wawzyniak [DIE LINKE])


Packen Sie bitte in die Konzepte für morgen nicht
schon wieder die Rezepte von gestern: Sachleistungen in
Erstaufnahmeeinrichtungen . Ja, sollen denn demnächst
tatsächlich Drogeriegutscheine, Fahrkarten oder Ziga-
retten als Sachleistung ausgegeben werden? Haben die
Helfer denn wirklich nichts anderes zu tun, meine Damen
und Herren?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Frau Bundeskanzlerin, Sie haben gesagt: Wir stehen
vor einem Problem von der Dimension der deutschen
Einheit . Da gebe ich Ihnen auch recht . Deshalb dürfen
wir aber die Fehler von damals nicht wiederholen . Der
Osten besteht heute nicht nur aus blühenden Landschaf-
ten, und es hat auch mehr als ein paar Pfennige gekostet .
Genauso wenig lässt sich die Flüchtlingshilfe jetzt mit
einer Einmalzahlung von 3 Milliarden Euro an die Län-

der irgendwie begleichen . Das ist eine wirklich große
Aufgabe .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es ist nicht einfach . Zu uns kommen Menschen, die
einen Bürgerkrieg, Diktatur und Verfolgung erlebt haben,
Menschen aus anderen Kulturen, mit einem viel strenge-
ren Religionsverständnis, mit Vorstellungen zu Gleich-
stellung und Homosexualität, die nicht die unsrigen sind .
Heute geht es darum, winterfeste Quartiere zu organisie-
ren, aber morgen schon darum, zu vermitteln, was unser
Grundgesetz ausmacht . Ja, wir werden auch über unsere
Werte, über unsere Identität diskutieren müssen . Und wir
werden klarmachen müssen: Unsere Gesetze gelten in
diesem Land .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Integration, das geht nicht per Koalitionsbeschluss an
einem Wochenende . Deutschland funktioniert auch nicht
nach dem Motto „Alte Bundesrepublik, neue Bundeslän-
der und Flüchtlinge – und das war’s dann“ . Unser Land
wird sich verändern, und es hat sich schon verändert .
Heute haben bereits 30 Prozent der Kinder und Jugend-
lichen einen Migrationshintergrund, und dabei habe ich
die „Ossis“ noch nicht mitgerechnet .

Welche Aufmerksamkeit, welche Energie und welche
Ressourcen lassen wir denen zukommen, die heute schon
in unserer Gesellschaft chancenlos sind? Auch diese Fra-
ge müssen Sie beantworten . An den Langzeitarbeitslosen
in unserem Land droht der Zug der Koalitionsbeschlüsse
nämlich gänzlich vorbeizuziehen . Ich halte das für un-
verantwortlich mit Blick auf den Zusammenhalt in der
Gesellschaft .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Merkel und die Koalition, Sie haben ein So-
fortprogramm vorgelegt . Aber das reicht nicht . Bei
Migration und Integration geht es um eine gesamtge-
sellschaftliche Aufgabe . Deswegen brauchen wir mehr:
Wir brauchen einen nationalen Flüchtlingspakt . Setzen
Sie sich mit allen zusammen, die Verantwortung haben
und übernehmen: mit den Ländern, den Kommunen, den
Gewerkschaften, den Wohlfahrtsverbänden, den Kirchen
und den Arbeitgebern! Es muss jetzt um die Frage ge-
hen, wie Deutschland in 20 Jahren aussieht und was un-
sere Identität ausmacht, statt darum, zu verwalten und zu
„merkeln“ .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg . Halina Wawzyniak [DIE LINKE])


Warum – diese Frage muss ich stellen, weil ich finde,
aus der Vergangenheit zu lernen, kann auch einen Erfolg
für die Zukunft bedeuten – sind wir jetzt in diesem Kri-
senmodus? Wegen der 800 000 Menschen, die dieses
Jahr zu uns kommen sollen, wie der Innenminister pro-
gnostiziert? Vermutlich werden es mehr sein, wie Han-
nelore Kraft zu Recht sagt . Ja, aber diese Menschen sind
schon lange unterwegs . Nur ist das der Bundesregierung
nicht aufgefallen .

Ich greife willkürlich ein Jahr heraus: 2008 verzeich-
nete Deutschland 28 000 Anträge auf Asyl . So viele kom-

Katrin Göring-Eckardt






(A) (C)



(B) (D)


men derzeit in drei Tagen zu uns . Für 2008 meldete der
UNHCR 42 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht .
Heute sind es 60 Millionen . Sie hätten es sehen können .

Frau Bundeskanzlerin, die Flüchtlingspolitik ist in
der Krise . Aber Sie haben den Grund dafür bisher nicht
benannt . Deswegen will ich das tun: Das deutsche
Sankt-Florians-Prinzip ist in sich zusammengebrochen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das Prinzip, Flüchtlinge sollten möglichst weit weg von
Deutschland bleiben, am besten in den Herkunftsländern,
deren Nachbarländern oder jedenfalls in den Staaten der
EU-Außengrenzen, ist wie ein Dominospiel zusammen-
geklappt .

Bevor Deutschland in die Krise kam, haben wir ande-
re Staaten in dieselbe geschickt . Im Libanon ist heute je-
der vierte Einwohner ein Flüchtling . In der Türkei leben
fast 2 Millionen Flüchtlinge . Als Sie mit Herrn Erdogan
geredet haben, Frau Merkel, haben Sie, hoffe ich, auch
etwas zum Umgang mit der Halkların Demokratik Partisi

(HDP) und den Kurden gerade in diesem Land gesagt .



(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Bei uns wird ein Flüchtling auf 100 Einwohner kom-
men . Wie lange konnte dieses Ungleichgewicht noch
weitergehen? Dieser Dominostein kippte als erster . Im
letzten Jahr kamen schon 170 000 Flüchtlinge nach Ita-
lien und 43 500 nach Griechenland . Das war ein Anstieg
um 280 Prozent . Jedem kritischen Beobachter war klar:
Hier bahnte sich ein Kollaps an, und das europäische
und deutsche Asylsystem kann nicht mehr funktionieren .
Hier kippte der nächste Dominostein .

Ich will daran erinnern, was die Antworten des Innen-
ministers waren: mehr Frontex, mehr scheinbar sichere
Herkunftsstaaten und eine tödliche lange Zeit keine Un-
terstützung der italienischen Marine bei Mare Nostrum
und der Seenotrettung . Es mussten erst an einem Wo-
chenende 1 000 Menschen ertrinken, bevor die Bun-
desregierung bereit war, Schiffe und Bundesmarine zu
mobilisieren . Das war beschämend . Daran muss erinnert
werden, damit es nie wieder passiert, auch wenn die Bil-
der von den ersten Seiten der Zeitungen verschwinden .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg . Ulli Nissen [SPD])


In dieser Zeit wurde übrigens auch nicht über gerechte
Verteilung innerhalb Europas diskutiert . Ich will Sie nur
daran erinnern: 2013 konnte man sich nicht einigen, ob
man in Deutschland nun 5 000 oder 10 000 Flüchtlinge
aus Syrien aufnimmt . Wer heute mit dem Finger auf an-
dere Länder zeigt, darf sich zumindest daran erinnern .

Hat sich eigentlich das Bundesinnenministerium je-
mals gefragt, was passiert, wenn dieser Asylschutzschirm
zusammenbricht, den Sie über Deutschland gespannt hat-
ten? Wie haben Sie die Länder und Kommunen in der
Vorbereitung unterstützt? Welche Krisenpläne hatte das
BMI eigentlich ausgearbeitet? Die Antwort ist ein vielfa-
ches Nichts . Stattdessen hat Deutschland gerade einmal
so viele Entscheider für Asylverfahren wie die Nieder-
lande: 500 . 250 000 Anträge liegen im Bundesamt für

Migration und Flüchtlinge . Hinter jedem dieser Anträge
steht ein Mensch, der nicht weiß, was die Zukunft für ihn
bringt . Dieses Versagen von Verwaltung, diese Langsam-
keit und dieses Sich-nicht-darum-Kümmern, dass Men-
schen dort eingestellt oder dahin versetzt werden – das
müssen Sie sich sagen lassen, Herr Innenminister –, hat
diese Krise, in der wir sind, und die Schwierigkeiten, in
denen die Länder und Kommunen jetzt sind, verstärkt
herbeigeführt .


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Ist doch Quatsch!)


Wenn Sie jetzt nicht umkehren und nicht ganz schnell
dafür sorgen, dass Hunderte zusätzliche Entscheider
beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zur Be-
arbeitung der Anträge eingestellt werden, dann werden
wir in eine zunehmend schwierigere Situation kommen .
Das wird dann auf dem Rücken der Flüchtlinge sowie der
Kommunen und Länder ausgetragen . Das geht so nicht .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg . Halina Wawzyniak [DIE LINKE])


Es geht um Flexibilität, wie die Bundeskanzlerin ge-
sagt hat . Ja, ich bin dafür . Ich bin dafür, Standards abzu-
senken, wenn es um den Bau von Quartieren geht . Das
ist nun einmal so in dieser Situation, auch wenn uns das
nicht gefällt und das nicht von Dauer sein darf . Bund und
Länder sollen nun 3 Milliarden Euro bekommen . Wofür
soll das eigentlich reichen? Mit welchen Flüchtlingszah-
len rechnet man? Soll dieser Betrag für 150 000 Flücht-
linge, für 300 000 Flüchtlinge, von denen wir zu Beginn
dieses Jahres ausgingen, oder für 800 000 bzw . 1 Million
Flüchtlinge, von denen andere ausgehen, reichen? Was
wir jetzt brauchen, ist Verlässlichkeit . Die Kommunen
müssen wissen, welchen Betrag pro Flüchtling sie erhal-
ten und dass sie diesen Betrag vom Bund auf jeden Fall
bekommen, egal wie viele Flüchtlinge kommen; darauf
kommt es jetzt an . Es darf kein Geschenk geben, nur weil
alle wieder einmal laut schreien . Wichtig ist Verlässlich-
keit . Diese kann man von der Bundesregierung erwarten .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie haben die Entwicklungen in Europa und die au-
ßenpolitische Situation angesprochen . Aber es kann doch
nicht sein, dass wir noch immer keine sicheren Wege nach
Europa haben . Es kann doch nicht sein, dass man noch
immer einem Schlepper 1 000 oder sogar 4 000 Euro zah-
len muss, obwohl ein Flug von Bodrum nach Berlin nur
77 Euro kostet . Schlepperbekämpfung betreibt man am
besten mit sicheren Wegen . Das macht man nicht, indem
man nur so tut, als würde man Schlepper bekämpfen,
aber letztendlich „Schiffe versenken“ spielt . Schlepper
bekämpft man, indem man sichere Wege nach Europa
schafft und diesem Unwesen endlich ein Ende setzt .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Ich will noch ein Wort zu den sogenannten Anreizen
und zur CSU sagen, die von dieser fixen Idee nicht lassen
will . Ob nun Zäune errichtet werden, Gutscheine einge-
setzt werden oder abgelehnte Asylbewerber schlechter
behandelt werden – ich glaube übrigens, dass dieser Vor-

Katrin Göring-Eckardt






(A) (C)



(B) (D)


schlag verfassungswidrig ist –, all das ist den Kriegs-
und Armutsflüchtlingen keinen einzigen Gedanken wert.
Wenn Horst Seehofer einmal mit den Flüchtlingen in den
Erstunterkünften gesprochen hätte, wüsste er das . Ange-
sichts der Äußerungen der CSU am Wochenende habe
ich mich gefragt: Warum steht der bayerische Minis-
terpräsident eigentlich nicht am Hauptbahnhof in Mün-
chen? Gibt es momentan wichtigere Aufgaben als das?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Herr Steinmeier, im April letzten Jahres – ich habe das
extra nachgeschaut – haben wir Sie auf den Schwarzhan-
del mit Visa in Beirut aufmerksam gemacht . Seither ist
die dortige Visastelle etwas ausgebaut worden .


(Dr . Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Etwas?)


Aber die Wartezeit auf ein Visum beträgt in Beirut noch
immer ein halbes und in Ankara fast ein ganzes Jahr . Hier
geht es um Familienzusammenführung und Menschen,
die unter fürchterlichen Bedingungen leben und zu uns
kommen dürfen . Sie müssen warten, weil die Adminis-
tration nicht funktioniert . Ich akzeptiere das nicht und
erwarte von Ihnen, dass Sie dort Abhilfe schaffen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Bundeskanzlerin, in der Finanzkrise haben Sie
bemerkenswerte Ruhe und Schnelligkeit – darauf haben
Sie selbst hingewiesen – an den Tag gelegt . Aber dann
kam erst einmal nichts, keine Bankenregulierung und
keine effiziente Aufsicht. Kurze Zeit später stolpert Eu-
ropa in die Griechenland-Krise . Beispiel Atomausstieg:
Unter dem Eindruck der Ereignisse in Fukushima korri-
gierten Sie Ihren Fehler beim Atomausstieg . Aber seither
dümpelt die Energiewende vor sich hin . Ich kann nur hof-
fen, dass es diesmal anders ist und dass Sie nun voraus-
schauend und auf Dauer handeln .

Ein starkes Land wie unseres kann die Aufnahme von
Schutzsuchenden stemmen . Wir können das Zusammen-
leben organisieren und die Menschen mit ihren Befürch-
tungen und Ängsten mitnehmen . Aber dafür braucht es
mehr als technokratisches Administrieren, nämlich Em-
pathie, Überzeugungskraft und eine entschlossene Hal-
tung gegenüber fremdenfeindlichen Tendenzen, wie Sie
selber gesagt haben . Ich hoffe sehr, dass das so bleibt .
Dafür kann ich Ihnen auch die Mitarbeit der Grünen zu-
sagen .

Da gibt es ein paar Grundsätze: Jede und jeder hat
das Recht, überprüfen zu lassen, ob er oder sie Anspruch
auf Asyl hat . Weil es dieses Grundrecht gibt, meine Da-
men und Herren, kann es schon rechtslogisch gar keinen
Asylmissbrauch geben . Deswegen: Hören Sie auf, solche
Worte zu benutzen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Herr Kollege Straubinger, Ihnen kann ich nur sagen:
Gehen Sie doch rüber . Gehen Sie einmal nach Damaskus,
und schauen Sie sich an, wie es sich dort gerade lebt .


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Warum? Er ist Deutscher!)


Treffen Sie doch einmal ein paar Flüchtlinge, statt vom
Schreibtisch aus die Welt zu erklären . Jetzt zu sagen, man
könne auch nach Syrien abschieben, das finde ich der Si-
tuation nicht angemessen. Ich finde, das ist den Flüchtlin-
gen gegenüber eine Katastrophe . Sie schüren Unsicher-
heit, und Sie schüren damit zugleich noch Ressentiments .
Hören Sie damit sofort auf!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das, was uns die Bürgerinnen und Bürger jetzt gerade
vormachen, können wir nutzen, etwa als Aufbruch . Ich
meine die Humanität, die Freundlichkeit und auch die
Bereitschaft, etwas über die eigene Kraft hinaus zu tun .
Wir können es aber auch nutzen, um klarzumachen: Das
geht weiter . Ja, wir brauchen ein modernes Einwande-
rungsgesetz, damit die Neubürger, von denen Sie gespro-
chen haben, Frau Bundeskanzlerin, irgendwann zu Mit-
bürgerinnen und Mitbürgern werden können . Ich frage
mich, wie viel Unterstützung hat eigentlich Ihr General-
sekretär dafür?

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, so
groß Ihr Fortschrittsvorsprung gefühlt auch sein mag,
leider ist Ihnen recht spät aufgefallen, dass Sie wenigs-
tens ein „Einwanderungsgesetz light“ wollen . Lieber
Sigmar Gabriel, da müssen Sie sich vielleicht fragen:
WwTSt? – Was würde Til Schweiger tun? Wir werden
einen entsprechenden Entwurf hier noch einmal zur Ab-
stimmung stellen, und dann können auch Sie für ein Ein-
wanderungsgesetz stimmen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, Flüchtlingspolitik, ja, das
ist eine europäische Aufgabe . Wir sind das potenteste
Land in Europa, und aus dieser Stärke folgt dann eben
auch Verantwortung . Die Verantwortung darf aber eben
nicht heißen: „Was ist gut für Deutschland?“, sondern
muss heißen: Was ist gut für Europa? Das ist der qualita-
tive Schritt, um den es geht . Wir können hier nicht über
die Lasten der Flüchtlingsaufnahme stöhnen und weiter
jeden Elan bei der Bekämpfung der Fluchtursachen ver-
missen lassen .

Das gilt aber übrigens auch für die Bekämpfung der
Fluchtursachen auf dem europäischen Kontinent . Wer
Geld in Staaten mit korrupter Verwaltung gibt, muss kon-
trollieren, wo und wie dieses Geld ankommt, und zwar
erst recht, wenn es um die Verbesserung der Situation der
Schwächsten, nämlich der Roma in einigen Balkanstaa-
ten, geht .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg . Dr . Petra Sitte [DIE LINKE])


Wer, wie Herr Juncker das getan hat, das Signal an den
Westbalkan sendet, dass Europa nicht dorthin kommt,
muss sich nicht wundern, dass sich die Menschen auf-

Katrin Göring-Eckardt






(A) (C)



(B) (D)


machen, um in dieses Europa zu kommen . Deswegen ist
der Arbeitsmarktzugang für diese Menschen so wichtig .
Wir helfen an dieser Stelle ja gern mit Ideen . Haben Sie
sie aufgenommen? Ich hoffe, Sie setzen sie auch so um,
dass es nicht nur bei Überschriften bleibt, die eine Beru-
higungspille sein sollen .

Herr Gysi, vielleicht können Sie das Ihrer Fraktion
als Abschiedsgeschenk ins Stammbuch schreiben: Wer
Europa immer nur schlechtredet, kann auf der anderen
Seite nicht an die europäische Solidargemeinschaft ap-
pellieren .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD und der Abg . Halina Wawzyniak [DIE LINKE])


Es ist immer viel leichter, das Böse in den USA zu se-
hen, als sich selber Gedanken über Fluchtursachen und
über eine gerechte Verteilung der Flüchtlinge in Europa
zu machen .


(Ulli Nissen [SPD]: Sehr gut!)


Meine Damen und Herren, vor eineinhalb Jahren be-
gann die Debatte über mehr Verantwortung in der Welt .
Zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung war das
sehr schnell eine Debatte über den Einsatz militärischer
Mittel . Da passt es ja ganz prima, wenn der Wirtschafts-
minister munter im Namen der Wirtschaftsförderung
Rüstungsgüter in autokratische Staaten und in Krisen-
regionen exportiert . Ich weiß, dass Sie das nervt, Herr
Gabriel . Ich werde es trotzdem immer wieder sagen . Ich
werde es auch laut sagen, weil Sie sich an dem messen
lassen müssen, was Sie selber überall versprechen und
wie einen heiligen Gral mit sich herumtragen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dazu gehört es auch, dass wir mit unseren Expor-
tüberschüssen verhindern, dass schwächere Länder eige-
ne rentable Wirtschaftsstrukturen aufbauen können; viel-
mehr zerstören wir vielerorts die kleinbäuerliche lokale
Landwirtschaft und lassen durch unser „Geiz ist geil“
im Fleischkonsum ganze Weltregionen über die Klinge
springen .

Vielleicht hoffen Sie ja, dass angesichts der gegenwär-
tigen Situation und wegen der Aufnahme der Flüchtlinge
die Klimakrise aus dem Blick gerät . Falsch! Während
Barack Obama trotz des beginnenden Wahlkampfes sein
politisches Gewicht mit Blick auf die Klimaschutzab-
kommen in die Waagschale wirft, verharrt die Bundesre-
gierung im Mittelmaß .

Es gibt viele Lichtblicke auf der Welt . – Das haben Sie,
Frau Bundeskanzlerin, vorhin gesagt . Das stimmt – nur
leider nicht bei uns . Auf dem internationalen Parkett re-
den Sie von Klimaschutz, aber dann vergessen Sie auf
dem Heimweg immer, dass Sie zu Hause auch liefern
müssen . Jetzt ist die Gefahr riesig, dass Paris auf die letz-
te Minute ein unbefriedigendes Ergebnis erzielt, weil es
eben nicht ordentlich vorbereitet ist .

Sie reden von Dekarbonisierung der Wirtschaft, aber
Sie scheinen davon auszugehen, dass das irgendwie
von allein passiert. Stattdessen finden sich auch in die-

sem Haushaltsentwurf wieder und wieder Milliarden für
umweltschädliche Subventionen . Energiewende im Ver-
kehrsbereich? Anstieg statt Reduzierung des Verbrauchs!
Nur halb so viel Strom aus Erneuerbaren – nicht wie wir,
wie Sie sich vorgenommen haben –, ja, hat das irgend-
was mit Energiewende zu tun? Das ist das Gegenteil von
Energiewende!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn man das Klimaschutzprogramm der Bundes-
regierung liest, dann muss man Aktionen schon mit
der Lupe suchen . Prüfauftrag, Prüfauftrag, Gutscheine
für Sprit-Spar-Training bei Neuwagenkauf – eine wirk-
lich sehr schöne Maßnahme . Wen soll das eigentlich
beeindrucken? Stattdessen subventionieren Sie weiter
Kohledreckschleudern, obwohl die ordentlichen Gas-
kraftwerke dastehen . Das ist eine Subvention der Koh-
leindustrie . Das hat nichts mit Versorgungssicherheit
für die Menschen und Stromkunden zu tun, sondern mit
Versorgungssicherheit für die Kohleindustrie, meine Da-
men und Herren . Nein, wir werden dieses Thema nicht
vergessen


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Schön!)


und werden Ihnen immer wieder sagen: Sie haben auch
hier eine Verantwortung .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich bleibe dabei, trotzdem: Die Flüchtlingsfrage wird
die größte Aufgabe sein und bleiben . Ich habe mir den
Clip angeguckt, Frau Bundeskanzlerin . Sie haben in
Zürich, als Sie über den Islam sprachen, auch über das
Christentum geredet und beklagt, dass man in Deutsch-
land zu wenig Kenntnisse darüber habe, was das Pfingst-
fest bedeutet . Diese Chance kann ich mir jetzt nicht ent-
gehen lassen .


(Dr . Angela Merkel, Bundeskanzlerin: Ich weiß es!)


– Dass Sie es wissen, ist mir klar .


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie auch! Das wissen wir auch!)


Als der Heilige Geist erschien, begannen die hebrä-
isch sprechenden Jünger, plötzlich fremde Sprachen zu
verstehen . Ich schlage vor: Wir nehmen dieses Bild für
genau das, was Deutschland als Vision gut gebrauchen
kann . Wir verstehen einander: unterschiedliche Kultu-
ren, Religionen, Herkunft, Geschichten . Damals war es
der Geburtstag der Kirche . Ehrlich gesagt, wenn wir es
schaffen könnten, das Ganze jetzt als Chance zu betrach-
ten, dann wäre das vielleicht der Geburtstag eines neuen
Deutschland –


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Neues Deutschland, das hatten wir mal! Das war nichts!)


wenn Sie es ernst meinen, wenn Sie es tun und wenn Sie
es nicht nur verwalten .

Vielen Dank .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Katrin Göring-Eckardt






(A) (C)



(B) (D)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1812000500

Das Wort erhält nun der Kollege Thomas Oppermann

für die SPD-Fraktion .


(Beifall bei der SPD sowie des Abg . Volker Kauder [CDU/CSU])



Thomas Oppermann (SPD):
Rede ID: ID1812000600

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Katrin Göring-Eckardt, ich fand nicht alles falsch, was
Sie als Kritik gesagt haben, aber angesichts der Größe
der Aufgabe, mit der wir es zu tun haben, fand ich Ihre
Kritik insgesamt doch ein bisschen kleinteilig .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Vor allen Dingen habe ich vermisst, dass Sie wenigstens
an einer Stelle sagen: Wir schaffen das . – Diese Aufgabe
ist so groß, dass auch die Opposition mithelfen muss .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das habe ich gesagt! Da haben Sie wieder nicht zugehört!)


Meine Damen und Herren, was wir in diesem Som-
mer, was wir insbesondere am letzten Wochenende erlebt
haben, das wird uns noch lange in Erinnerung bleiben .
Nachdem Tausende von Flüchtlingen tagelang, zum Teil
ohne Trinkwasserversorgung, in Budapest auf öffentli-
chen Plätzen und Bahnhöfen ausharren mussten, immer
verzweifelter wurden, einige sich schon aufgemacht
hatten, um in Fußmärschen über die Autobahn nach
Deutschland und Österreich zu kommen, hat die Bundes-
regierung die Entscheidung getroffen, diese Flüchtlinge
aufzunehmen. Ich finde, das war eine absolut richtige,
das war die einzig mögliche Entscheidung, die getroffen
werden konnte .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Volker Kauder [CDU/CSU]: Möglich waren noch andere, aber richtig war es!)


20 000 Flüchtlinge an einem Wochenende! Ich finde,
München hat diese Situation hervorragend gemeistert .
Während in Budapest das Chaos und die Hilflosigkeit
dominierten, gab es aus München Bilder der Hilfsbereit-
schaft, der Solidarität und des gegenseitigen Respekts .
Ich möchte mich bei allen Mitarbeitern des öffentlichen
Dienstes und bei allen Ehrenamtlichen, die das geleistet
haben, ganz herzlich bedanken .


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der LINKEN)


Dank dieser Helfer zeigt sich Deutschland in diesen Ta-
gen der ganzen Welt von seiner besten Seite .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Als am Sonntagmorgen um 6 Uhr ein Zug aus Mün-
chen mit 900 Flüchtlingen in Braunschweig ankam, hat-
ten Stunden zuvor schon die Malteser, die Johanniter, das
Rote Kreuz und die freiwillige Feuerwehr aus den Braun-
schweiger Ortsteilen mitten in der Nacht dafür gesorgt,
dass die Flüchtlinge aufgenommen werden können, dass

sie versorgt werden können, bis sie weiterverteilt wer-
den. Ich finde, das ist großartig.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


In der Griechenland-Krise haben wir gelernt, wie un-
erlässlich ein funktionierendes Staatswesen ist . In der
Flüchtlingskrise sehen wir jetzt, wie unschätzbar wert-
voll eine mitfühlende, aktive und gut organisierte Zivil-
gesellschaft ist .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Diese Hilfsbereitschaft gehört zu den wertvollsten Tu-
genden, zu den wertvollsten Ressourcen unserer Gesell-
schaft . Sie macht unser Land stark, sie hält es zusam-
men, und sie zeigt uns allen: Wir können es schaffen . Ich
bin überzeugt: Auf Dauer kann diese Kraft weit über die
Flüchtlingsfrage hinaus unser Land positiv verändern .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Deutschland ist gewiss ein starkes Land . Daraus er-
wächst eine besondere Verantwortung . Wir werden auch
in Zukunft mehr Flüchtlinge aufnehmen als andere . Aber
zu einer realistischen Bewertung unserer Kräfte gehört
auch, dass wir sagen: Allein mit Schweden und Öster-
reich an unserer Seite können wir es nicht schaffen . Ganz
Europa muss sich der Verantwortung für die Flüchtlinge
stellen . Das können nicht einzelne Länder schaffen .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ich finde, der schwedische Premierminister Stefan
Löfven, der gestern bei der Kanzlerin war, hat recht,
wenn er sagt: Die Flüchtlingskrise ist eigentlich in Euro-
pa keine Flüchtlingskrise, sondern eine Verantwortungs-
krise .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Jedem muss doch klar sein: Wenn sich die Europäische
Union nicht auf eine faire Verteilung der Flüchtlinge nach
festen Quoten einigen kann, dann steht eine der größten
Errungenschaften dieser Union infrage, nämlich die offe-
nen Grenzen . Wir wollen die offenen Grenzen verteidi-
gen . Aber dafür brauchen wir eine gemeinsame europäi-
sche Flüchtlingspolitik, meine Damen und Herren .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Zehntausende Flüchtlinge auf der Balkan-Route, über-
füllte griechische Inseln – all das zeigt: Die alte Ordnung
funktioniert nicht mehr, und zwar nicht erst, seitdem
Deutschland die Anwendung von Dublin III auf syrische
Flüchtlinge ausgesetzt hat . Es ist doch schon länger klar,
dass die Ankunftsländer wie Italien, Griechenland oder
jetzt auch Ungarn damit überfordert sind, die große Zahl
der Flüchtlinge allein zu bewältigen . Darüber – das muss
man ehrlicherweise sagen – haben wir selber lange genug
hinweggesehen .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ein erster richtiger Schritt ist es jetzt, dass die EU Auf-
nahmezentren zur Registrierung der Flüchtlinge in den
Ankunftsländern zusammen mit dem UNHCR aufbaut .
Aber im Grunde genommen brauchen wir einheitliche






(A) (C)



(B) (D)


Asylregeln in ganz Europa; denn nur wenn Flüchtlin-
ge innerhalb Europas gleichbehandelt werden, wird der
Verschiebebahnhof für Flüchtlinge in Europa enden . Ich
finde, dieser Verschiebebahnhof muss aufhören, meine
Damen und Herren .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich glaube auch, dass Deutschland mit seinem mu-
tigen Vorgehen viele in Europa wachgerüttelt hat . Vie-
le Menschen schauen auf Deutschland und fragen sich:
Warum sind unsere Regierungen nicht dabei? Immerhin
will jetzt auch David Cameron Flüchtlinge aufnehmen:
20 000 Syrer in vier Jahren, so viel wie am vergangenen
Wochenende in München angekommen sind. Ich finde,
das darf nicht das letzte Wort von David Cameron sein .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Mit aller Entschlossenheit müssen wir jetzt auch die
Fluchtursachen bekämpfen; denn Menschen auf der
Flucht in Europa Asyl zu gewähren, ist immer nur die
zweitbeste Lösung . Die bessere Lösung ist, dafür zu sor-
gen, dass sie gar nicht erst fliehen müssen.

Dabei brauchen vor allem die Anrainerstaaten der
Herkunftsländer dringend Hilfe . In Jordanien, im Liba-
non, in der Türkei verlassen jeden Tag Tausende Men-
schen die Flüchtlingslager, weil dort katastrophale Ver-
hältnisse herrschen . Das UN-Flüchtlingswerk braucht
in diesem Jahr 4,5 Milliarden Euro, um die Menschen
in den Lagern um Syrien herum angemessen zu versor-
gen . Aber im Augenblick stehen nur 1,7 Milliarden Euro
zur Verfügung . Wenn der UN-Flüchtlingskommissar aus
Finanznot die Lebensmittelrationen kürzen muss, dann
dürfen wir uns nicht wundern, wenn immer mehr Flücht-
linge aus diesen Lagern weiterziehen nach Europa .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Diese Lücke muss die internationale Staatengemein-
schaft schließen . Ich bin froh, dass die Koalition dafür
400 Millionen Euro bereitstellen will . Aber das wird
nicht reichen . Deshalb bitten wir den Entwicklungshil-
feminister, zu prüfen, welche Umschichtungen in sei-
nem Etat möglich sind . Dieser wächst in diesem Jahr
um 880 Millionen Euro . Aber für die Sonderinitiative
„Fluchtursachen bekämpfen“ sind bisher nur 40 Millio-
nen Euro zusätzlich vorgesehen. Ich finde, wir müssen in
der Entwicklungspolitik einen deutlich stärkeren Akzent
auf die Fluchtursachen setzen .


(Beifall bei der SPD)


Meine Damen und Herren, mit ihrer großartigen Hilfs-
bereitschaft sind die Menschen in Deutschland in den
vergangenen Wochen und Monaten bei der Flüchtlings-
aufnahme quasi in Vorleistung gegangen . Jetzt müssen
auch die notwendigen staatlichen Entscheidungen getrof-
fen werden . Wir müssen zeigen, dass der Staat die Lage
im Griff hat und fähig ist, die Aufnahme der Flüchtlinge
so zu gestalten, dass der soziale Zusammenhalt unserer
Gesellschaft nicht verloren geht .

Deshalb hat die Koalition am vergangenen Wochen-
ende ein kräftiges Paket beschlossen . Wir werden die

Unterbringung der Flüchtlinge verbessern und die Asyl-
verfahren beschleunigen . Unser Ziel ist es, dass nur noch
Flüchtlinge mit Bleibeperspektive auf die Kommunen
verteilt werden, damit sich diese von Anfang an voll und
ganz auf die Integration konzentrieren können .

Wir werden neue Erstaufnahmeplätze finanzieren und
das Abweichen von Baustandards erlauben, um jetzt
schnell handeln zu können . Am wichtigsten ist natürlich,
dass wir die Länder und Kommunen mit 3 Milliarden
Euro unterstützen . Denn wir dürfen die Sorgen der Men-
schen, die hier leben, nicht vergessen . Die Kommunen
müssen trotz der Aufnahme von Flüchtlingen handlungs-
fähig bleiben . Das ist der entscheidende Faktor für den
sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir haben am Sonntag auch entschieden, dass unser
Bildungssystem und der Arbeitsmarkt für die Flüchtlin-
ge schnell geöffnet werden müssen . Das ist von großer
Bedeutung . Wir dürfen die Fehler nicht wiederholen –
darauf hat die Bundeskanzlerin auch hingewiesen –, die
wir bei den Gastarbeitern gemacht haben . Bei ihnen ha-
ben wir auf schnelle Integration verzichtet in dem Glau-
ben, sie würden uns bald wieder verlassen . Das war ein
schwerer, ein folgenreicher Irrtum .

Auch die meisten Flüchtlinge aus Kriegsgebieten wer-
den auf Dauer bei uns bleiben . Das dürfen wir nicht nur
als Belastung sehen . Das müssen wir auch begreifen als
eine große Chance für eine alternde Gesellschaft, junge
Fachkräfte zu gewinnen .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wenn wir es dieses Mal besser machen, dann können
nicht nur die Flüchtlinge von Deutschland, dann kann
auch Deutschland von den Flüchtlingen profitieren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Deshalb müssen wir jetzt unsere volle Konzentration
richten auf Kita, Schule, Spracherwerb, Ausbildung, Be-
schäftigung . Bei den Flüchtlingen, die ohne Ausbildung
zu uns kommen, ist es genauso wie bei denen, die bei uns
leben und keine Ausbildung haben . Ich bin davon über-
zeugt, dass sich jeder Euro, den wir heute in Ausbildung
und Qualifizierung stecken, in Zukunft um ein Vielfaches
auszahlen wird . Die Frage, wie lebenswert Deutschland
in 10 oder in 20 Jahren sein wird, hängt davon ab, wie wir
heute mit den Flüchtlingen umgehen, wie wir sie aufneh-
men und wie wir sie integrieren .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zur Wahrheit dieses Sommers gehört aber auch, dass
nicht nur Kriegsflüchtlinge und politisch Verfolgte zu
uns kommen, sondern auch viele Menschen, insbeson-
dere aus dem Balkan, die Arbeit und ein besseres Leben
suchen . Dafür habe ich ganz viel Verständnis . Aber diese
Leute haben keine Chance, bei uns Asyl zu bekommen .
Deshalb, finde ich, ist es auch ein Gebot der Fairness,
ihnen das ganz klar zu sagen, damit sie nicht weiterhin
immer wieder ihre gesamten Ersparnisse den Schleusern

Thomas Oppermann






(A) (C)



(B) (D)


anvertrauen . Deswegen ist es auch richtig, dass wir über
die Anträge aus diesen Ländern in einem vereinfachten
Verfahren entscheiden .

Bei der Frage der sicheren Herkunftsländer geht
es nicht darum, die Flüchtlinge in gute und schlechte
Flüchtlinge einzuteilen, sondern es geht um unterschied-
liche Grade der Schutzbedürftigkeit . Weil wir nicht alle
aufnehmen können, müssen wir uns auf die besonders
Schutzbedürftigen konzentrieren .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Die richtige Antwort ist deshalb ein Einwanderungsge-
setz,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


ein Einwanderungsgesetz, mit dem wir die Nachfrage
nach gut ausgebildeten Arbeitnehmern steuern können .
Ich bin froh, dass wir uns immerhin darauf verständigt
haben, in begrenzter Zahl Arbeitsvisa für qualifizierte
Arbeitnehmer aus dem Westbalkan zu vergeben, die in
Deutschland einen tarifgebundenen Arbeits- oder Ausbil-
dungsplatz haben . Auch wenn es in der Koalition noch
keine Einigung über ein Einwanderungsgesetz gibt – das
ist ein erster Schritt in die richtige Richtung .


(Beifall bei der SPD)


Sosehr uns die Hilfsbereitschaft in unserem Land in
den letzten Wochen beeindruckt hat, so besorgt macht
uns die rechte Hetze, die sich derzeit in den Kommunen
und in den sozialen Medien ausbreitet . Das ist unerträg-
lich, und dagegen müssen wir mit aller rechtsstaatlich
gebotenen Härte vorgehen. Ich finde gut, dass Heiko
Maas, unser Justizminister, jetzt auch die Hetzparolen im
Internet zum Thema gemacht hat . Facebook und Twitter
müssen stärker prüfen, was gelöscht werden muss .


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Freiheit im Netz!)


Das Internet darf nicht zu einem Ort des Hasses und der
Hetze gegen Ausländer werden .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)


Die Chancen, rechtsextreme Gewalttäter in Deutsch-
land politisch zu isolieren, sind heute größer als vor
20 Jahren . Die ganz überwiegende Mehrheit der Deut-
schen empfindet eine tiefe Abscheu gegen Menschen,
die Brandsätze in Flüchtlingswohnheime werfen . Viele
dieser Gewaltakte werden von der NPD organisiert oder
gefördert . Das sollte sorgfältig dokumentiert werden, da-
mit bei den anstehenden Verhandlungen vor dem Bun-
desverfassungsgericht keine falschen Vorstellungen über
den gewalttätigen Charakter dieser Partei existieren .


(Beifall bei der SPD)


Aber es genügt natürlich nicht, nur die NPD zu ver-
bieten . Jeder einzelne von uns muss sich den Rechts-
extremen entgegenstellen, so wie es der Bürgermeister
von Heidenau gemacht hat, als der rechte Mob durch die
Straßen seiner Stadt zog und Polizei und Asylbewerber
bedrohte . Das ist ein vorbildliches Verhalten . Solche mu-

tigen Menschen wurden in Sachsen viel zu lange allein-
gelassen . Ich hoffe, das ändert sich jetzt .


(Beifall bei der SPD sowie des Abg . Dr . Dietmar Bartsch [DIE LINKE])


Auch wenn die gesamte öffentliche Aufmerksamkeit
im Augenblick der Flüchtlingsfrage gilt, dürfen wir da-
rüber die anderen politischen Fragen nicht vergessen .
Deutschland ist ein Land mit stabilem Wachstum . Wir
haben die niedrigste Arbeitslosenquote und den höchsten
Stand der Beschäftigung seit der deutschen Einheit; wir
haben wachsende Steuereinnahmen . Aber die Börsentur-
bulenzen in China zeigen, wie schnell die internationale
konjunkturelle Lage sich ändern und wie schnell damit
auch die deutsche Exportwirtschaft unter Druck geraten
kann . Deshalb ist es gut, dass wir in dieser Koalition mit
dem Mindestlohn, mit den hohen Tarifabschlüssen


(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Das haben Sie aber nicht gemacht!)


und mit Investitionen eine starke Binnenwirtschaft als
zweites wirtschaftliches Standbein geschaffen haben .
Der Export bleibt natürlich für unser Land eminent wich-
tig; aber wir haben jetzt durch wachsende Kaufkraft eine
starke Binnenwirtschaft, und das hilft uns sehr .

Mit unserem Haushaltsentwurf für 2016 zeigen wir, dass
diese Koalition die Infrastruktur unseres Landes weiter
im Auge hat . Wir investieren in Verkehrswege, in schnel-
le Netze, in unsere Kommunen, in die Sicherheit, und ich
hoffe, dass sich die Bundesregierung bei ihrer Klausur
in Meseberg auch darauf verständigen kann, dass wir
die Finanzierung von jungen, wachsenden Unternehmen
verbessern . Berlin ist inzwischen bei Unternehmensgrün-
dungen dynamischer als London . Aber mit der Gründung
ist es nicht getan . Die Unternehmen brauchen auch Kapi-
tal, um sich zu größeren mittelständischen Unternehmen
entwickeln zu können . Das Wachstum neuer Ideen ist
von entscheidender Bedeutung für unsere Wettbewerbs-
fähigkeit, und deshalb müssen wir dringend etwas tun,
um diese Start-ups auch in späteren Phasen gut mit Ka-
pital auszustatten .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der Haushaltsentwurf 2016 ist der dritte ausgegliche-
ne Haushalt in Folge . Wir sind zuversichtlich, dass das
auch am Ende des Jahres so bleibt . Das zeigt, wie richtig
es war, in guten Jahren für einen ausgeglichenen Haus-
halt zu sorgen . Damit sind wir heute in der Lage, zusätz-
liche Herausforderungen wie die Ankunft der Flüchtlinge
ohne neue Schulden zu bewältigen . Das schafft Spielräu-
me, die wir nutzen können . Wirtschaftliche Stärke schafft
Kraft für Solidarität. Ich finde, diesen Weg sollten wir
weitergehen . Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1812000700

Volker Kauder ist der nächste Redner für die CDU/

CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg . Ewald Schurer [SPD])


Thomas Oppermann






(A) (C)



(B) (D)



Volker Kauder (CDU):
Rede ID: ID1812000800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Die Haushaltsplanberatungen für den Haushalt 2016 ste-
hen ganz im Zeichen der vielleicht größten Herausforde-
rungen, die wir im Nachkriegsdeutschland zu bewältigen
haben. Der Bundesfinanzminister hat gestern darauf hin-
gewiesen, dass dies nun die Priorität der nächsten Zeit
ist, der wir uns zuwenden müssen . In der Vergangenheit
wurde er manchmal kritisiert: Er sehe nur die schwarze
Null, er sehe nur Haushaltskonsolidierung . Aber heute,
auch in dieser Debatte, nehme ich wahr, dass alle froh
sind, dass wir in dieser Koalition die Voraussetzungen
dafür geschaffen haben, jetzt nicht kleinkariert über das
notwendige Geld reden zu müssen, sondern das Geld zu
haben, das notwendig ist, und zwar als Ergebnis einer
hervorragenden Haushalts- und auch Wirtschaftspolitik .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Gestern habe ich die eine oder andere Stimme gehört,
die sagte, das sei das Ergebnis einer gut laufenden Wirt-
schaft . Dazu muss ich sagen: Ja, wir haben eine stabile
Konjunktur, und die Wirtschaft ist stark . Aber: Wenn wir
einen Blick in die Welt werfen, dann sehen wir: Wenn
die Rahmenbedingungen nicht stimmen, dann kann die
Wirtschaft auch keine richtigen Ergebnisse produzieren .
Wenn daher der Satz fällt, ein Teil des Ergebnisses, das
wir haben, sei bedingt durch eine florierende Wirtschaft,
dann möchte ich, dass wir auch in Zukunft und gerade
jetzt, da die Herausforderungen groß sind und wo es
nicht nur eine gesamtpolitische, sondern eine gesamt-
gesellschaftliche Aufgabe gibt, zu der die Wirtschaft ge-
hört, alles dafür tun, dass diese Wirtschaft entsprechende
Rahmenbedingungen hat und dass sie weiter so erfolg-
reich arbeiten kann .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das heißt, dass es nun ernst wird mit dem von uns auf den
Weg gebrachten Bürokratieabbau . Da sollten wir jetzt die
Chance nutzen, die diese Herausforderung bietet, und
überlegen, ob alles, was wir in der Vergangenheit an Bü-
rokratie aufgebaut haben, tatsächlich notwendig ist . Bei
den jetzt anstehenden Gesetzesvorhaben – es sind ja eini-
ge bereits angekündigt: aus dem Arbeitsministerium, aus
anderen Ministerien – werde ich schon noch mal darauf
hinweisen: Wir haben den Grundsatz mit dem schönen,
neuen deutschen Wort „One in, one out“ beschlossen .
Wenn ein neues Gesetz mehr Bürokratie bringt, muss sie
an anderer Stelle abgebaut werden . Da bin ich mal sehr
gespannt, liebe Kolleginnen und Kollegen in der Großen
Koalition, ob wir dazu die Kraft haben . Wir müssen sie
haben, damit der Satz auch in Zukunft stimmt: Jawohl, es
ist ein Gesamtergebnis – gute Haushaltspolitik und eine
funktionierende Wirtschaft –, das uns zum Erfolg bringt
und uns jetzt die Aufgaben lösen lässt, die wir haben .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg . Thomas Oppermann [SPD])


Also: Rahmenbedingungen für die Wirtschaft zu schaf-
fen, bleibt ein zentrales Thema .

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich habe schon
in meiner letzten Rede darauf hingewiesen: Das, was

Griechenland anbelangt, ist schon eine Aufgabe, aber
das, was bei der Flüchtlingsthematik auf uns zukommt,
könnte eine noch wesentlich größere Herausforderung
werden . – Dies trifft jetzt ja auch zu . Aber wir können
es schaffen . Ja, ich bin sicher, dass wir dies in der Gro-
ßen Koalition zusammen mit den Bundesländern und der
Opposition – ich finde, bei den ganz großen Fragen sollte
sich auch eine Opposition nicht verweigern, wenn es um
eine gesamtpolitische, gesamtgesellschaftliche Aufgabe
geht – schaffen können .

Ich finde, es müssen ein paar zentrale Botschaften ge-
sagt werden:

Erstens . Die Flüchtlinge, die zu uns kommen, einen
Asylgrund haben und damit über eine längere Zeit in un-
serem Land bleiben werden, müssen nicht nur menschen-
würdig in der Erstaufnahmeeinrichtung untergebracht
werden, sondern es muss auch alles getan werden, damit
sie sehr schnell den Weg mitten in unsere Gesellschaft
und auf den Arbeitsmarkt schaffen . Das ist die große He-
rausforderung .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die zweite Botschaft . Thomas Oppermann hat es auch
klar gesagt: Man kann ja aus persönlichen Gründen ver-
stehen, wenn der eine oder andere sagt: Ich suche mir ein
Land, in dem ich mit meiner Familie größere Chancen
habe als in meiner Heimat . – Ich weiß, wovon ich rede:
Vor über 100 Jahren sind die Menschen aus der Schwäbi-
schen Alb nach Amerika ausgewandert, weil die Scholle
sie nicht mehr ernährt hat . Aber es ist auch klar, dass wir
sagen müssen: Diejenigen, die keinen Asylgrund haben
und trotzdem kommen, müssen so schnell als möglich
wieder in ihre Heimat zurückkehren . – Diese Botschaft
muss klar sein, und da darf man auch keine Kompromis-
se machen . Um diejenigen, die einen Grund haben, zu
bleiben, kümmern wir uns mit ganzer Kraft, und die an-
deren können eben nicht in diesem Land bleiben . –


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das ist eine weitere Botschaft .

Drittens . Europa steht mit dieser Aufgabe vor einer
noch größeren Herausforderung als wir in Deutschland .
Denn da geht es nicht nur darum, ob Europa jetzt eine
Aufgabe lösen kann, sondern es geht ganz konkret da-
rum, ob wir alle den Eindruck gewinnen, dass Europa
nicht nur stark ist, wenn es um kleine Fragen geht, son-
dern dass Europa auch gerade dann stark ist, wenn es um
große Herausforderungen geht .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ich kann nicht erkennen, dass sich bisher in Europa etwas
signifikant geändert hat. Jede kleinkarierte Frage, ob nun
etwas in einem Nationalstaat in Ordnung ist oder nicht,
wird von den Kommissaren verfolgt und vor Gericht ge-
bracht. Ich finde aber, dass es jetzt nicht um die Frage
geht, ob da ein bisschen mehr oder weniger an Bürokra-
tie oder an Konsequenzen zu fordern ist, sondern darum,
dass wir uns alle miteinander sagen: Dieses Europa ist
nicht nur die größte Friedenssicherung, sondern dieses






(A) (C)



(B) (D)


Europa ist auch in der Lage, größte Herausforderungen
zu bewältigen, für die der eine oder andere Nationalstaat
vielleicht tatsächlich zu klein ist .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Und darum sage ich, dass es bei Europa um die Frage
geht, ob die Menschen den Eindruck gewinnen: Wenn es
wirklich ernst und schwierig wird, dann ist dieses Europa
tatsächlich da .

Viertens . Wir alle erkennen in diesen Tagen, dass au-
ßenpolitische Konflikte und außenpolitische Fragen, die
wir als weit weg betrachtet haben, für die wir uns nicht
zuständig fühlten, auf einmal ganz nah an uns heranrü-
cken und wir uns deshalb mehr um diese Fragen küm-
mern müssen . – Um diese vier Botschaften geht es in der
nächsten Zeit .

Lassen Sie mich auf die erste Botschaft zurückkom-
men: für die da zu sein, die ein Bleiberecht haben und
über längere Zeit in Deutschland bleiben werden . Hier
geht es darum, dass wir die notwendigen Aufgaben ge-
meinsam lösen, und zwar jeder die Aufgabe, die er hat .
Wir haben uns in der Großen Koalition zunächst einmal
darauf verständigt, darüber zu sprechen: Was muss getan
werden? Wer muss es tun? Welche Instrumente brauchen
wir? Erst dann reden wir über das Geld . Ich muss schon
sagen: Vor diesem Hintergrund kann ich manche Ein-
lassung aus dem einen oder anderen Bundesland nicht
nachvollziehen . Wir wollen uns doch auf dem Flücht-
lingsgipfel von Bund und Ländern darüber verständigen,
welche Aufgaben von wem erledigt werden müssen .
Aber bevor darüber überhaupt eine Einigung erzielt ist,
kommen schon einige und sagen: Die 3 Milliarden Euro
reichen nicht aus . – Ja, woher wollen die das denn wis-
sen? Wir müssen uns doch erst darüber verständigen, was
gemeinsam zu tun ist . Im Übrigen: Nicht nur der Bund
hat Steuermehreinnahmen, auch die Länder und Kom-
munen . Wenn es heißt: „Wir alle müssen uns konzentrie-
ren“, dann gilt das nicht nur für den Bund, sondern auch
für Länder und Kommunen .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg . Bettina Hagedorn [SPD] – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber die Bundesländer machen das schon! Die Länder machen das jeden Tag!)


Ich bin mir sicher, dass wir darüber in den nächsten Ta-
gen eine Verständigung erzielen werden .

Frau Göring-Eckardt, Sie haben darauf hingewiesen,
dass alles viel schneller gehen müsse .


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Da kann ich nur sagen: Ihre Partei ist in den vergangenen
Jahren nicht gerade als diejenige Partei aufgefallen, die
alles viel schneller gemacht hat . Sie haben davon gespro-
chen, dass wir einen Investitionsstau haben .


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Das stimmt; das wissen wir . Deswegen wollen wir mehr
Geld für Investitionen ausgeben, die notwendig sind, um
unseren Wirtschaftsstandort voranzubringen . Aber ich
kann mich noch sehr gut erinnern, dass Investitionen von
Ihrer Partei geradezu aufgehalten worden sind . Alle Plät-
ze für die Schnecke, und der Rest bleibt auf der Strecke –
so hieß es doch immer, wenn wir über den Straßenbau
gesprochen haben .


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Deswegen bin ich froh, dass Sie jetzt von diesem Pult
aus anmahnen, dass Investitionen schneller vorangetrie-
ben werden müssen . Richtig! Ich hoffe, dass Sie bei den
Planungen für den Straßenbau und den Leitungsbau für
schnelles Internet mit mir an der Spitze stehen,


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vergessen Sie nicht die Schiene, Herr Kauder!)


und zwar nicht, um die Proteste zu unterstützen, sondern
die Investitionen . Herzlichen Dank für diese Bereitschaft .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1812000900

Herr Kollege Kauder, die Kollegin Hänsel brennt dar-

auf, Ihnen eine Frage zu stellen .


Volker Kauder (CDU):
Rede ID: ID1812001000

Nein .


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1812001100

Nein . – Gut . Dann haben wir das geklärt .


Volker Kauder (CDU):
Rede ID: ID1812001200

Ich möchte darauf hinweisen, dass wir, um die anste-

henden Aufgaben zu bewältigen, nicht nur Bürokratie
abbauen, sondern auch Standards senken müssen . Als ich
vor 35 Jahren im Landratsamt tätig war, stand ich vor ei-
ner großen Aufgabe, als Hunderttausende von Menschen
zu uns gekommen sind . Auch damals mussten konkrete
Aufgaben gelöst werden . Wir haben nicht danach ge-
fragt, ob jemand hundertprozentig qualifiziert ist, etwa
durch ein pädagogisches Studium, um Kinder zu betreu-
en oder Sprachkurse durchzuführen . Gestern Abend habe
ich gehört, wir müssten schnellstens 20 000, 30 000 Leh-
rer ausbilden . Ich kann nur sagen: So lange, bis diese
Lehrer ausgebildet sind, können die Menschen, die jetzt
Hilfe brauchen, nicht warten . Menschen, die bisher qua-
lifizierten Sprachunterricht an einer Volkshochschule
gegeben haben, können doch auch Deutschunterricht in
Integrationskursen geben . Sie müssen kein akademisches
Studium absolviert haben .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg . Thomas Oppermann [SPD])


Ich bitte darum, dass wir die Standards auch in diesem
Bereich reduzieren; denn wir brauchen jetzt eine große
Kraftanstrengung .

Volker Kauder






(A) (C)



(B) (D)


Herr Kollege Oppermann, ja, wenn es um die Stär-
kung der Wirtschaft geht, muss auch die Frage „Wo be-
komme ich qualifizierte Arbeitskräfte her?“ beantwortet
werden . Jetzt muss ich aber einmal Folgendes sagen:
Ich kann nicht verstehen, wenn jetzt, da in diesem Jahr
800 000 Menschen erwartet werden – im letzten Jahr
sind 400 000 gekommen –, so getan wird, als seien unter
diesen 800 000 Menschen keine 10 000, 20 000, 30 000
oder 40 000 Menschen, die in den Arbeitsmarkt integriert
werden können . Bevor wir uns lange Diskussionen und
Kraftanstrengungen leisten, um auf der Welt Arbeitskräf-
te zu suchen, ist es zuvörderst unsere Pflicht und Aufga-
be, uns darum zu kümmern, dass von den jungen Men-
schen, die jetzt in unser Land gekommen sind, so viele
wie möglich in Arbeit kommen und qualifiziert werden.
Das ist die Aufgabe der Stunde . Darüber sind wir uns ei-
nig .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sicher sind wir uns auch darüber einig, dass noch eine
andere Aufgabe angepackt werden muss, die ich seit Jah-
ren anmahne und bei der es im Ergebnis nicht zu Ver-
besserungen gekommen ist – und dafür ist, um es sehr
vorsichtig zu formulieren, nicht der Bund zuständig . Ich
finde, dass wir es nicht hinnehmen können, dass Jahr für
Jahr etwa 70 000 junge Menschen aus unseren Schulen
ohne Abschluss in die Gesellschaft entlassen werden .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Jeder weiß: Wer bei uns keinen qualifizierten Abschluss
hat, hat bei uns kaum eine Chance . Das können Sie in
Thüringen ja jetzt besser machen .


(Zuruf von der LINKEN: Das machen wir auch!)


Deswegen kann ich nur sagen: Bevor wir über Einwan-
derung reden, sollten wir über diese 70 000 und über die
Tausende, die jetzt in unser Land gekommen sind, reden .
Sie brauchen eine Chance, um auf eigenen Füßen stehen
zu können .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wenn wir darüber reden, wer einen Beitrag leisten
kann, bin ich immer einigermaßen erstaunt darüber, dass
die reichen arabischen Länder bisher nur einen geringen
Beitrag leisten .


(Ulrike Gottschalck [SPD]: Ja!)


In einem Filmbericht gestern Abend sagten Muslime in
Ägypten: Gott sei Dank gibt es das christliche Deutsch-
land; denn von unseren Glaubensbrüdern in der arabi-
schen Welt werden wir nicht aufgenommen . – Dazu muss
ich sagen: Da müssen sich die islamischen Staaten ein-
mal etwas überlegen . Das ist kein gutes Bild in der Welt .
Wenn ihre Glaubensbrüder sagen: „Außer dem christ-
lichen Europa hilft uns niemand in dieser Welt“, dann
muss in der arabischen Welt einmal darüber nachgedacht
werden, ob das der richtige Weg ist .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich nehme die Meldung nicht besonders ernst; trotzdem
möchte ich darauf hinweisen, damit nicht etwas Falsches
auf den Weg gebracht wird: Ein Hilfsangebot aus der ara-
bischen Welt, das da lautet: „Wir bauen in Deutschland
200 Moscheen“, können wir als Hilfe nicht akzeptieren .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir brauchen schon ein bisschen mehr als so etwas .

Eine Ausnahme muss man allerdings machen: Jor-
danien leistet einen großartigen Beitrag . Wir hatten in
der letzten Woche den jordanischen Außenminister bei
uns zu Gast . Er hat gesagt, was Jordanien trägt . Dieses
Land mit 6 Millionen Einwohnern hat dauerhaft bereits
2,5 Millionen Palästinenser im Land und nimmt jetzt
noch 1,5 bis 2 Millionen Flüchtlinge, vor allem aus Syri-
en, auf . Das ist ein großartiges Beispiel dafür, dass auch
ein kleines Land – zwei Drittel des Landes sind Wüste –
in der Lage ist, Flüchtlinge aufzunehmen .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Jetzt komme ich zu einem wichtigen Punkt . Als ISIS letz-
tes Jahr im August die große Stadt Mosul gestürmt und
eingenommen hat, als die Menschen zu Hunderttausen-
den geflohen sind, als sie vertrieben wurden, vor allem
Christen und Jesiden – sie sind nach Kurdistan, insbe-
sondere nach Erbil und Dohuk, gegangen –, war ich in
dieser Region . Ich habe Tausende von Menschen in der
katholischen Kirche und noch viel mehr in den Regionen
vor Dohuk gesehen . Diese Menschen – Sie saßen dort
in Zelten bei Hitze – haben gesagt, dass sie ganz genau
wissen, dass sie in absehbarer Zeit nicht in ihre Heimat
zurückkönnen . Sie haben gesagt, sie wünschten sich so
sehr, dass sie eines Tages wieder in ihre Heimat können .
Da war nicht pauschal die Rede von „Wir hauen alle ab“,
sondern eher: Vielleicht können wir in unsere Dörfer
zurück . – Viele Fragen wurden diskutiert, auch Flugver-
botszonen . Aber sie haben auch gesagt – ich habe es hier
im Deutschen Bundestag gesagt; das war ein schwerfälli-
ger Gang –: Wenn wir in unseren Flüchtlingslagern keine
Perspektive für ein einigermaßen angemessenes Leben
sehen, dann machen wir uns auf den Weg .

Ich war in Jordanien in dem großen Flüchtlingslager,
in dem schon einige andere Kolleginnen und Kollegen
waren . Dort sind 80 000 bis 100 000 Menschen, viele
aus dem Süden Syriens, einfache Bauern, die sagen: Wir
können mit unserer Qualifikation in Europa gar nicht viel
anfangen . Wir möchten wieder zurück . Wir warten hier
jetzt einmal . – Aber wenn die erkennen, dass die Versor-
gung von Tag zu Tag schlechter wird, dann werden sie
nicht dort bleiben . Deswegen kann ich nur sagen: Flücht-
lingspolitik, die wir in unserem Land betreiben, kann
sich nicht darin erschöpfen, denen zu helfen, die da sind .
Vielmehr müssen wir alle, die Weltgemeinschaft und Eu-
ropa, stärker als bisher dafür sorgen, dass die Menschen,
die zu Millionen in den Lagern sitzen, eine Perspektive
haben und sich nicht auch noch auf den Weg machen,
liebe Kolleginnen und Kollegen . Auch dafür muss Geld
zur Verfügung gestellt werden .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Volker Kauder






(A) (C)



(B) (D)


In wenigen Tagen, Frau Bundeskanzlerin, tagt die Voll-
versammlung der UNO in New York . Vielleicht wäre es
auch einmal ein Thema, sich damit zu beschäftigen, dass
die Weltgemeinschaft hier Unterstützung leistet .

Meine sehr verehrten Damen und Herren, natürlich
müssen wir uns auch darum kümmern – deswegen wird
Außenpolitik so wichtig –, dass die Bedingungen in ein-
zelnen Staaten besser werden. Ich finde, wir dürfen nicht
mehr schweigen, wenn in Ländern, denen wir Entwick-
lungshilfe geben, die Bedingungen so miserabel sind,
dass die Menschen das Land verlassen . Da müssen wir
sagen: Jede Regierung, jeder Staatschef eines Landes,
aus dem die Menschen weggehen, weil sie keine Pers-
pektive haben, muss sich dafür schämen, dass das Land
in einem solchen Zustand ist . Das muss einmal gesagt
werden .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Deswegen glaube ich schon, dass wir jetzt nicht nur in
Deutschland, sondern in der ganzen Welt vor einer gro-
ßen Herausforderung stehen . Ich bin sicher, dass wir sie
meistern werden .

Zur Zeit der letzten Großen Koalition haben in einer
Phase wie heute viele gefragt: Was macht ihr eigentlich
noch in den nächsten zwei Jahren? Jetzt ist Halbzeit, und
ihr habt den Koalitionsvertrag abgearbeitet . – Als wenn
sich eine Regierungskoalition ausschließlich darauf ver-
ständigt, einen Koalitionsvertrag abzuarbeiten! Während
der letzten Großen Koalition kam die Finanz- und Wirt-
schaftskrise, und wir mussten handeln und haben, ohne
dass es im Koalitionsvertrag stand, gemacht, was richtig
war und Deutschland wieder auf den Weg gebracht hat .
Jetzt haben wir wieder eine Aufgabe, die wir uns nicht
gesucht haben, aber annehmen . Ich habe so manchen Ko-
alitionsausschuss erlebt, nicht nur in der letzten Großen
Koalition, sondern auch in der letzten kleinen Koalition,
auch schon in dieser Großen Koalition, und ich muss sa-
gen: Selten waren wir uns so einig wie am vergangenen
Wochenende, was gemacht werden muss . Wenn dies in
Zukunft so weitergeht, Thomas, dann bin ich ganz sicher,
dass wir sagen können: Wir schaffen es .


(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1812001300

Vielen Dank . – Die Kollegin Hänsel hat jetzt das Wort

zu einer Kurzintervention .


Heike Hänsel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1812001400

Danke schön, Frau Präsidentin . – Herr Kauder, ich

wollte doch noch einmal bei Ihnen nachfragen, weil Sie
im Rahmen der Flüchtlingsdebatte gerade als vierte Er-
kenntnis die Tatsache genannt haben, dass viele außen-
politische Konflikte, mit denen wir nichts zu tun haben,
ganz plötzlich für uns hier ein Problem werden . Auch die
Kanzlerin hat ja gesagt, dass die Flüchtlinge jetzt eine
innenpolitische Herausforderung sind .

Das wundert mich jetzt aber etwas, da gerade Sie aus
einem Wahlkreis kommen, in dem eine der größten Rüs-

tungsschmieden Deutschlands angesiedelt ist, nämlich
Heckler & Koch .


(Sabine Weiss die alte Leier! – Weitere Zurufe von der CDU/ CSU: Oh!)


Sie werden ja als Patron von Heckler & Koch genannt,
und die CDU in Ihrem Wahlkreis hat Tausende von Euro
Spendengelder dieser Firma erhalten . Auch die gesamte
Bodenseeregion strotzt nur so vor Rüstungsfirmen; der
Wohlstand dort baut vor allem auf Rüstungsproduktion
und Exporten auf . Wie kommen Sie dann eigentlich zu
einer solchen Aussage?

Ich möchte nachfragen, ob es eigentlich bei der CDU
einen Erkenntnisfortschritt gibt, dass wir so nicht wei-
termachen können. Es gibt fast keinen Konflikt auf der
Welt, bei dem nicht deutsche Waffen im Spiel sind .


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Und russische!)


Auch Heckler & Koch, die Kleinwaffen produzieren, tra-
gen weltweit dazu bei, dass Hunderttausende Menschen
getötet werden . Die tödlichsten Waffen der Welt sind die
Kleinwaffen . Ich hätte von Ihnen gerne einmal eine Ant-
wort darauf, ob Sie so weitermachen wollen wie bisher .

Nun noch zu Ihren Glaubensbrüdern . Sie haben er-
wähnt, dass die Nachbarregionen keine Flüchtlinge
aufnehmen wollen . Ich nenne hier vor allem Ihre Waf-
fenbrüder in Saudi-Arabien . Saudi-Arabien ist ein Land,
das so gut wie überhaupt keine Flüchtlinge aufnimmt, im
Gegensatz zu den anderen arabischen Ländern . Ich hätte
von Ihnen gerne einen Kommentar dazu .


(Beifall bei der LINKEN – Sabine Weiss Herr Kollege Kauder . Sehr geehrte Frau Kollegin, Ihr Beitrag muss uns ei gentlich in der jetzigen Stunde und Debatte sehr traurig machen . Sie haben überhaupt nicht verstanden, worum es geht . Bei Ihnen ist die große Herausforderung nicht angekommen . (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


(Wesel I) [CDU/CSU]: Verhaltener Beifall!)

Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1812001500
Volker Kauder (CDU):
Rede ID: ID1812001600


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1812001700

Vielen Dank . – Nächste Rednerin ist die Kollegin

Bettina Hagedorn, SPD-Fraktion .


(Beifall bei der SPD)



Bettina Hagedorn (SPD):
Rede ID: ID1812001800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lieber Herr Kauder, ich bin Ihnen ganz besonders dank-
bar dafür, dass Sie am Ende Ihrer Rede noch einmal sehr
nachdrücklich und deutlich darauf hingewiesen haben,
dass es vor allen Dingen auch darum geht, mit noch mehr
Nachdruck Fluchtursachen zu bekämpfen . Dem will ich

Volker Kauder






(A) (C)



(B) (D)


mich – bestimmt mit dem ganzen Haus – anschließen .
Aber weil Frau Göring-Eckardt vorhin auch davon ge-
sprochen hat, wie stolz sie und wir alle auf die Menschen
in Deutschland sind für das, was sie aktuell an Solidarität
leisten – das treibt einem als Politiker manchmal fast die
Schamröte ins Gesicht –, muss ich, um bei der Wahrheit
zu bleiben, sagen: Das ist natürlich bei der Bekämpfung
der Fluchtursachen nicht anders . Denn wir haben es bei
dem Thema „Bekämpfung der Fluchtursachen“ ja nicht
mit Neuigkeiten zu tun . Wir haben seit Jahren kein Er-
kenntnisdefizit, sondern ein Handlungsdefizit,


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


und zwar in Europa, weltweit und auch in Deutschland .

Unser Fraktionsvorsitzender, Thomas Oppermann, hat
darauf aufmerksam gemacht, dass der elementare Mitte-
laufwuchs im Entwicklungshilfeministerium – ich nen-
ne es jetzt einmal so verkürzt – im Jahr 2016 bisher nur
zu einem Bruchteil zur Bekämpfung der Fluchtursachen
eingesetzt werden soll . Da muss man sagen: Hier müssen
wir unser Handeln verändern und dürfen nicht nur darü-
ber reden .


(Beifall bei der SPD)


Ich will einen kurzen Blick 35 Jahre zurück wer-
fen . Damals hat Willy Brandt als Vorsitzender der
Nord-Süd-Kommission einen berühmten Bericht vorge-
legt . Er hat mit seiner Kommission – leider – sehr ge-
nau prognostiziert, wie reich die Nordhalbkugel werden
wird, wie arm die Südhalbkugel werden wird, was das an
weiteren Konflikten, an Massenelend, an Hunger, an Not
und damit natürlich auch an Flüchtlingsströmen mit sich
bringen wird . All das ist heute längst eingetroffen . Ein
Erkenntnisdefizit gab es also nicht, auch nicht im Deut-
schen Bundestag .

Für alle, die damals noch nicht dabei waren, sage ich:
Ich bin im April 2007 mit Kolleginnen und Kollegen des
Haushaltsausschusses, und zwar aus allen Fraktionen,
in Spanien und Marokko gewesen . Der Titel der Reise
lautete: „Flüchtlingsproblematik aus Afrika im Mittel-
meerraum“ . Das war das Thema, mit dem wir uns damals
beschäftigt haben . Ich möchte jetzt aus einem Papier zi-
tieren, das wir 2007 vom deutschen Botschafter vorge-
legt bekommen haben . Darin heißt es:

Die Kanarischen Inseln sehen sich vor allem in den
letzten fünf Jahren

– also wohlgemerkt: seit 2002 –

mit einem zuvor nie erlebten Ausmaß an illegaler
Einwanderung auf dem Seeweg vom Nachbarkon-
tinent Afrika konfrontiert . Einen Höhepunkt er-
reichten die Einwanderungsströme im Jahr 2006 .
Fast 32 000 Menschen haben in kaum seetauglichen
Booten und den damit verbundenen Tragödien auf
hoher See mit schätzungsweise 9 500 Toten den Ar-
chipel erreicht .

Das war 2007 . Wenn man diesen Bericht liest, dann er-
schüttert einen schon, dass all das, was dort steht und was
auch wir erfahren haben, so viel mit dem zu tun hat, was
wir heute immer noch erleben .

Herr Juncker stellte gerade einen Aktionsplan für
Flüchtlinge auf europäischer Ebene vor . Er hat vorhin
gesagt: Flüchtlinge lassen sich nicht durch Grenzen und
Zäune aufhalten . – Das stimmt . Es ist trotzdem so, dass
die Europäische Union damals, 2006, angesichts der Zahl
von fast 10 000 Toten auf der Flucht nach Europa vor
allen Dingen eines gemacht hat: Sie hat Frontex aufge-
baut . Mit den Konsequenzen haben wir uns beschäftigt .
Der Aufbau von Frontex hat vor allen Dingen dazu ge-
führt, dass die Fluchtwege weiter geworden sind, dass
sie gefährlicher geworden sind, dass es noch mehr Tote
gegeben hat . Die Zahl derer, die sich in ihren Ländern
voller Verzweiflung in Boote gesetzt und sich auf eine
gefährliche Reise begeben haben, wurde dadurch nicht
einmal ansatzweise gesenkt . Vor diesem Hintergrund –
wir wissen das alles ja nicht erst seit vorgestern – ist es
unglaublich wichtig, dass dem, was hier in vielen Reden
benannt worden ist, nämlich Bekämpfung der Fluchtur-
sachen, endlich Taten folgen .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich will mit Blick auf die erwähnte Reise noch daran
erinnern: Wir waren auch in Flüchtlingslagern – einige
Kollegen, die damals mit dabei waren, gehören dem
Deutschen Bundestag noch an -; wir waren übrigens die
ersten Abgeordneten aus einem europäischen Land, die
überhaupt dort waren . Wir waren auch in Melilla, einer
Enklave in Nordafrika, wie viele von Ihnen wissen . Wer
kann sich eigentlich noch an die Bilder von damals erin-
nern? Es war 2005, als 2 000 Menschen über die 12 Ki-
lometer lange Grenze in Melilla, die schon damals durch
einen Zaun gesichert war, geklettert sind; wir haben die
Bilder in den Nachrichten gesehen . Es hat dabei viele
Todesopfer gegeben . Was war die Reaktion 2006? Der
Zaun wurde auf 6 Meter erhöht . Geändert hat sich da-
durch nichts .


(Dr . André Hahn [DIE LINKE]: Leider, leider! – Dr . Gregor Gysi [DIE LINKE]: Ja, das stimmt!)


Ich möchte jetzt auf das eigentliche Thema zu spre-
chen kommen . Dieser Einstieg war allerdings, denke ich,
wichtig, weil es natürlich auch darum geht, was wir hier
in Deutschland machen . Unser Handeln muss in eine
internationale und vor allen Dingen in eine europäische
Verantwortung eingebettet werden . Wie glaubwürdig wir
im Hinblick auf die Idee Europa in Zukunft weltweit da-
stehen werden, wird sich daran messen lassen müssen,
wie wir als Europäer mit dieser Herausforderung fertig-
werden .

Es war im Jahr 2000, nach einem Brandanschlag auf
die Düsseldorfer Synagoge, als Gerhard Schröder das Zi-
tat geprägt hat:

Wir brauchen einen Aufstand der Anständigen,
wegschauen ist nicht mehr erlaubt .

Es war Sigmar Gabriel, der 2015 bei der SPD-Veranstal-
tung „Verantwortungsvolle Flüchtlingspolitik – Jetzt!“
daraus folgenden Ausspruch gemacht hat:

Bettina Hagedorn






(A) (C)



(B) (D)


Den Aufstand der Anständigen zu fordern, nützt nur
dann was, wenn der Anstand der Zuständigen sicht-
bar wird .

Darum geht es jetzt in meiner Rede .

Es ist schon viel darüber gesprochen worden, was wir
in Deutschland tun wollen und was wir mit diesem Haus-
halt nach den Haushaltsberatungen bewältigen werden .
Ob die 6 Milliarden Euro, die in der letzten Woche ver-
einbart worden sind, letzten Endes ausreichen werden,
kann heute noch niemand sagen . Ich danke aber allen, die
sich am Sonntagabend getroffen haben, weil von diesem
Treffen das starke Signal ausgegangen ist, dass all die
Menschen, die sich in Deutschland für die Flüchtlinge
einsetzen, ob hauptamtlich oder ehrenamtlich, nicht al-
leingelassen werden und dass wir alles in unserer Macht
Stehende tun werden – darin sind wir uns einig –, um uns
diesen Aufgaben zu stellen. Am 24. September findet der
Flüchtlingsgipfel statt . Danach werden wir wissen – Sie
haben darauf hingewiesen –, ob das Geld reicht .

Fakt ist – ich finde, das muss man noch einmal sa-
gen –, dass erst diese Große Koalition ein neues Asyl-
bewerberleistungsgesetz eingeführt hat . Bis dahin waren
ausschließlich die Länder und Kommunen in den ersten
vier Jahren für die Leistungen nach dem Asylbewerber-
leistungsgesetz zuständig . Den Bund hat das in dieser
Zeit kein Geld gekostet . Das ist noch nicht lange her . Erst
2012 hat das Bundesverfassungsgericht geurteilt, dass
diese Situation – die Asylbewerber haben damals nur
60 Prozent der SGB-II-Leistungen erhalten – nicht ver-
fassungskonform ist . Wir haben daraufhin in der Großen
Koalition eine neue Regelung mit den Ländern gefunden .
Es wurde vor allen Dingen geregelt, dass die Asylbewer-
ber viel früher einen Anspruch auf Sprachkurse und den
Zugang zum Arbeitsmarkt haben . Das kostet den Bund
selbstverständlich eine Menge Geld . Angesichts dieser
Flüchtlingsströme stehen wir natürlich vor der Heraus-
forderung, dieses Geld auch bereitzustellen .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dabei wird es darauf ankommen, dass die Flüchtlinge,
die heute in Erstaufnahmeeinrichtungen sind, registriert,
erstversorgt und medizinisch betreut werden . Ein großer
Teil von ihnen wird vor dem Hintergrund dieses neuen
Asylbewerberleistungsgesetzes schon bald vor unseren
Jobcentern und der Bundesagentur für Arbeit stehen .

Ja, Herr Kauder, wir wollen, dass diese Menschen
schnellstmöglich in Deutschland arbeiten können . Wir
wissen aber, dass vom Mathematikprofessor bis zum
Analphabeten die ganze Bandbreite der Gesellschaft
hierherkommt . Deswegen werden sie sehr individuelle
Angebote brauchen, um letzten Endes arbeiten zu kön-
nen, was sie auch ganz ausdrücklich wollen . Das wird
die Mitarbeiter in den Jobcentern jedoch vor ganz neue
Herausforderungen stellen . Wir müssen hier zum einen
personell tätig werden . Vor allen Dingen aber müssen
wir qualitätsvolle Bildungsangebote sicherstellen, die die
Voraussetzung für Integration und Arbeit sind . An die-
ser Stelle wird sich zeigen, ob wir wirklich erfolgreich
sind . Ich denke, die Haushaltsberatungen werden sehr
stark von diesem Faktor getragen werden . Ich bin mir

eigentlich ziemlich sicher, dass es alle Kolleginnen und
Kollegen im Haushaltsausschuss als ihre Hauptaufgabe
ansehen, dies zu ermöglichen, und dann werden wir diese
Herausforderung auch gemeinsam bewältigen .

Ich danke Ihnen allen herzlich für Ihre Aufmerksam-
keit .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1812001900

Vielen Dank . – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht

jetzt die Kollegin Gerda Hasselfeldt .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1812002000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Es ist in dieser Haushaltsdebatte unbestritten zum Aus-
druck gekommen: Die zentrale Herausforderung unserer
Zeit ist die Bewältigung der Flüchtlingsströme .

Wir erleben in diesen Wochen und Monaten, speziell
in den letzten Tagen, ein großartiges Engagement vieler
Menschen . Wir haben es am Wochenende gerade in Mün-
chen erlebt . Innerhalb von drei Tagen kamen 25 000 Men-
schen . Wir haben den Einsatz vieler ehrenamtlich Täti-
ger, Frauen und Männer, erlebt, die spontan oder auch im
Rahmen ihrer Organisationen geholfen haben . Wir haben
aber auch eine hervorragende Organisation erlebt . Die
Zusammenarbeit von Beamten verschiedener Behörden,
die Zusammenarbeit mit den Transportunternehmen, mit
der Bahn, hat reibungslos funktioniert . Wir erleben und
erlebten ein großartiges Engagement . Wir erleben ein
sehr hohes Maß an Humanität und Solidarität . Dafür, lie-
be Kolleginnen und Kollegen, möchte ich ganz herzlich
danken .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir in Bayern brauchen keinen Nachhilfeunterricht in
Sachen Umgang mit Fremden . Noch vor wenigen Jah-
ren hatten wir eine Einwohnerzahl von 11 Millionen,
heute liegt sie bei fast 13 Millionen . Die Hälfte dieses
Zuwachses ist auf Menschen zurückzuführen, die aus an-
deren Teilen Deutschlands zu uns kamen und kommen .
Die andere Hälfte sind Menschen aus anderen Ländern .
Die Integration funktioniert . Das ist eine großartige Leis-
tung, eine Leistung der Menschen in Bayern, aber auch
der Migranten, eine Leistung in den Kinderbetreuungs-
einrichtungen, in den Schulen und eine großartige Leis-
tung auch in den Behörden . Das lassen wir uns auch nicht
kaputtreden .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das, was wir zu bewältigen haben, ist eine große
Aufgabe, eine Aufgabe aller politischer Ebenen, der des
Bundes, der Länder und der Kommunen . Wir spüren alle,
dass viele derjenigen, die hier aktiv mitarbeiten, hauptbe-
ruflich oder ehrenamtlich, an die Grenze ihrer physischen
und ihrer psychischen Leistungsfähigkeit gelangen . Wir
spüren auch, dass wir insgesamt an personelle, an or-

Bettina Hagedorn






(A) (C)



(B) (D)


ganisatorische und auch an finanzielle Grenzen kom-
men . Deshalb müssen wir diese Problematik sehr ernst
diskutieren, auch differenziert diskutieren . Aber sie zu
verkürzen und in den Mittelpunkt womöglich noch die
finanzielle Situation zu stellen, das, meine Damen und
Herren, wird der Bedeutung der Aufgabe mit Sicherheit
nicht gerecht. Ich finde, es ist viel zu kurz gesprungen,
wenn man den Fokus nur auf die finanzielle Situation
zwischen Bund, Ländern und Kommunen legt . Deshalb
ist es auch zu kurz gesprungen, jetzt nur die 3 Milliarden
Euro vonseiten des Bundes für die Kommunen und die
Länder zu sehen .

Es ist vorhin schon mehrfach angesprochen worden:
Nicht nur der Bund hat zusätzliche Steuereinnahmen,
sondern auch die Länder und Kommunen; auch darauf
will ich hinweisen .

Zum Zweiten will ich auf Folgendes hinweisen: Zu-
nächst müssen wir uns fragen: Was ist an strukturellen
Maßnahmen notwendig? Wie können wir die Menschen,
die hier bleiben, die also nicht mehr zurück in ihre Hei-
mat können, weil dort Krieg herrscht, am schnellsten und
am besten integrieren? Wie schaffen wir es aber auch,
dass diejenigen, die keine Bleibeperspektive haben, in
ihre Heimatländer zurückgeführt werden? Das ist die
zentrale Aufgabe . Dann können wir uns auch über die
finanzielle Situation unterhalten. Wir vonseiten des Bun-
des haben in den vergangenen Jahren mehrfach unter Be-
weis gestellt, dass wir die Kommunen in ihrer Aufgaben-
wahrnehmung unterstützen . Darauf können sie sich auch
künftig verlassen .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, etwa 40 Prozent – das
schwankt noch ein bisschen –, auf jeden Fall ein großer
Teil derjenigen, die zu uns kommen, stammt aus den Bal-
kanländern . Wir in der CSU-Landesgruppe haben nicht
nur angesichts der großen Zahl der Menschen, die in den
letzten Wochen und Monaten zu uns gekommen sind, auf
ein Problem aufmerksam gemacht, sondern schon im Ja-
nuar dieses Jahres auf einen Punkt hingewiesen . Wir ha-
ben damals gesagt, dass wir differenzieren müssen zwi-
schen denen, die wirklich schutzbedürftig sind, die aus
Bürgerkriegsgebieten kommen und die persönlich ver-
folgt sind, und den anderen, die aus ganz anderen Grün-
den zu uns kommen: weil es ihnen bei uns wirtschaftlich
besser geht, weil sie hier sozial besser ausgestattet sind
und vieles andere mehr .

Wir können das nicht in einen Topf werfen . Wir kön-
nen die Flüchtlinge aus Bürgerkriegsgebieten nicht in
den gleichen Topf werfen wie diejenigen, die aus Wohl-
standsgründen zu uns kommen, meine Damen und Her-
ren . Wegen dieser Meinung sind wir im Januar dieses
Jahres, wie Sie wissen, hart gescholten worden . Heute
ist diese Grundüberzeugung – Gott sei Dank – Meinung
aller 16 Ministerpräsidenten, und es ist weitgehend Kon-
sens in der Gesellschaft, dass diese Trennung auch vorge-
nommen werden muss .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg . Thomas Oppermann [SPD])


Wir müssen bei den Bürgerkriegsflüchtlingen – bei
denen, die tatsächlich verfolgt sind – dafür sorgen, dass
sie – mit Sprachkursen und am Arbeitsmarkt – schnell in
diese Gesellschaft integriert werden . Das ist unbestritten,
und da geschieht auch vieles . Wir müssen aber, um dies
sinnvoll und effizient zu gestalten, auch dafür sorgen,
dass wir schnellere Asylverfahren bekommen . Das ist
eine ganz große Notwendigkeit .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dazu sind zusätzliche Stellen beim Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge notwendig . Dazu ist auch die
Hilfe anderer Behörden notwendig . Ich bin sehr dank-
bar, dass es zwischen dem Bundesfinanzminister und der
Bundesarbeitsministerin Gespräche gegeben hat, Teile
der Mitarbeiter des Zolls für diese Aufgabe, für diese
neuen Herausforderungen, die wir zu bewältigen haben,
zur Verfügung zu stellen und dafür auch so manche ande-
ren bürokratischen Kontrollen – zum Beispiel beim Min-
destlohn – ein bisschen hintanzustellen . Das ist genau der
richtige Ansatz .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Zusätzlich müssen wir natürlich dafür sorgen, dass
die Menschen schon in den Erstaufnahmeeinrichtungen,
wo immer es möglich ist, ihre Verfahren abgeschlossen
bekommen, damit dann auch die Konsequenz daraus ge-
zogen wird, nämlich sie in ihre Heimatländer zurückzu-
führen . Das, meine Damen und Herren, muss mit auf der
Tagesordnung stehen, sonst bewältigen wir diese große
Zahl von Flüchtlingen nicht .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ein Zweites gehört – neben den schnelleren Verfah-
ren, es hängt aber auch ein bisschen damit zusammen –
dazu . Wir brauchen eine Ausweitung der sogenannten
sicheren Herkunftsstaaten . Das ist übrigens auch die
Meinung von so manchen Kommunalpolitikern aus den
Reihen der Grünen wie beispielsweise des Oberbürger-
meisters von Tübingen . All diejenigen, die sich ernsthaft
mit den Dingen beschäftigen und Erfahrungen aus der
Praxis einbringen, geben uns darin recht, übrigens auch
der Präsident des Bundesamtes für Migration und Flücht-
linge . Die Erfahrungen der letzten Monate haben auch
gezeigt, dass dies erstens dazu führt, dass das richtige
Signal in diese Länder gesendet und ihnen aufgezeigt
wird: Wir nehmen euch nicht die Arbeitskräfte weg, die
ihr selbst zum Aufbau eures Landes braucht . – Zweitens
ist das aber auch eine Grundlage für schnellere Verfah-
ren, obwohl jeder Einzelne auch dabei sein persönliches
Asylverfahren erhält .

Wir brauchen ein Drittes, um den Zustrom zu begren-
zen, und das ist, Fehlanreize zu verhindern . Wir wissen
alle, dass gerade aus den Balkanstaaten viele zu uns kom-
men, die mit den Sozialleistungen, die sie bei uns bekom-
men, besser leben, als wenn sie in ihren Heimatländern
arbeiten würden . Das ist Fakt . Alle Experten, alle, die
etwas von der Sache verstehen, sagen uns: Das hat eine
Sogwirkung . Deshalb, meine Damen und Herren, müs-
sen wir, wenn wir uns auf den Schutz derjenigen und die
Hilfe für diejenigen konzentrieren wollen, die tatsächlich

Gerda Hasselfeldt






(A) (C)



(B) (D)


verfolgt sind und unsere Hilfe brauchen – ich denke, das
müssen wir –, auch dafür sorgen, dass wir keine zusätz-
lichen Anreize für die Menschen geben, die nur aus wirt-
schaftlichen Gründen zu uns wollen . Dazu gehört auch,
die Fehlanreize zu reduzieren und zu minimieren, wenn
wir sie schon nicht ganz abschaffen können .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Frau Göring-Eckardt hat vorhin davon gesprochen,
Deutschland würde eine Art Sankt-Florians-Prinzip be-
treiben . Das kann ich überhaupt nicht nachvollziehen .
Wenn mehr als 40 Prozent der Flüchtlinge, die in die
Europäische Union kommen, von Deutschland aufge-
nommen werden und noch mehr nach Deutschland kom-
men, dann weiß ich nicht, was das mit dem Sankt-Flori-
ans-Prinzip zu tun hat . Im Gegenteil: Wir brauchen eine
gerechte, eine faire Verteilung in Europa . Das sind wir
übrigens auch den Menschen schuldig . Wir können nicht
alle Probleme der Welt nur auf deutschem Boden lösen .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Deshalb begrüße ich es sehr, dass auf europäischer
Ebene jetzt eine verstärkte Aktivität in der Flüchtlings-
politik erkennbar ist . Wir sind damit noch nicht dort, wo
wir eigentlich hinmüssen, aber wir sind ein Stück wei-
ter, als wir es noch vor einigen Monaten waren . Ich gehe
so weit, zu sagen: Dieses Thema, der Umgang mit der
Flüchtlingsproblematik, ist auch ein Stück Bewährungs-
probe für ganz Europa . Hier zeigt sich, in welchem Aus-
maß wir eine echte Wertegemeinschaft sind und wie es
mit der Solidarität und im Übrigen auch mit dem Einhal-
ten der Regeln in Europa aussieht . Auch darauf müssen
wir – genauso, wie wir es beim Euro gesagt haben – be-
sonders achten .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich will all das unterstreichen, was zur Bekämpfung
der Fluchtursachen gesagt wurde . Auch das gehört in die-
sen Kanon . Ich glaube, es ist uns gerade in dieser Zeit be-
sonders bewusst geworden, dass Innenpolitik, Entwick-
lungshilfepolitik und Außenpolitik zusammengehören
und nicht getrennt werden können, dass außenpolitische
und entwicklungshilfepolitische Fragen Auswirkungen
auf unsere innenpolitische Situation und Debatte haben .
Deshalb darf dies in diesem Zusammenhang nicht außen
vor gelassen werden .

Ich danke sehr herzlich der Bundeskanzlerin, dem
Bundesaußenminister, dem Bundesinnenminister und
auch dem Bundesentwicklungshilfeminister für die Akti-
vitäten und die vielen Gespräche auf europäischer Ebene
in diesem Bereich, bei denen es darum geht, dicke Bret-
ter zu bohren, um die Gesamtverantwortung der freien
Welt zum Ausdruck zu bringen .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg . Bettina Hagedorn [SPD])


Meine Damen und Herren, ich will das Ganze neben
den fachlichen Fragen auch in einen politischen Zusam-
menhang stellen . Es ist eine Gesamtverantwortung von
Bund, Ländern und Gemeinden, die wir haben . Ich den-
ke aber auch, es ist eine Gesamtverantwortung, der sich

alle demokratischen Parteien stellen müssen . Ich bin alt
genug, um mich nicht nur als Beobachterin an den An-
fang der 90er-Jahre zu erinnern, sondern als jemand, die
damals schon dabei war . Aus dieser Erfahrung heraus
kann ich nur sagen: Wir werden rechtsradikale Tenden-
zen und Bestrebungen im Land nicht dadurch bekämp-
fen, dass wir Dinge verschweigen und die Lebensrealität
der Bevölkerung in den Städten und Gemeinden nicht
wahrnehmen, genauso wenig, wie wir sie durch dumpfe
Parolen bekämpfen werden . Vielmehr werden wir sie nur
dann bekämpfen können, wenn wir die Aufgabe lösen,
den Problemen ins Auge sehen und die Herausforderung
annehmen . Dazu gehört aber auch, dass wir die Men-
schen mitnehmen, dass wir ihre Sorgen und Ängste ernst
nehmen und dass wir mit der nötigen Differenziertheit
diskutieren, handeln und entscheiden .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir sind für diese große Aufgabe und Herausforde-
rung meines Erachtens gut gewappnet . Die Bundeskanz-
lerin hat heute deutlich gemacht, dem Land geht es gut .
Es gibt mehr als 43 Millionen sozialversicherungspflich-
tige Beschäftigte, so viele wie noch nie . Die Konjunktur
läuft gut . Die Prognosen sind gut . Die Steuereinnahmen
nicht nur des Bundes, sondern auch der Länder und Kom-
munen sind gestiegen . Wir haben Handlungsspielräume
nicht zuletzt aufgrund der soliden Politik der letzten Jah-
re . Das zahlt sich heute aus . In den Jahren 2008 und 2009
wären wir nicht in der Lage gewesen, die Herausforde-
rungen, die sich uns heute stellen, zu meistern . Heute
sind wir dazu in der Lage, weil wir solide gewirtschaf-
tet und solide Politik gemacht haben . Wir haben heute
Handlungsspielräume nicht nur in finanzieller Hinsicht,
sondern auch von der Stimmung in der Bevölkerung her .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich sage das nicht, um uns in Zufriedenheit, schon gar
nicht Selbstzufriedenheit zu wiegen . Vielmehr sage ich
das in großer Dankbarkeit gegenüber allen Beteiligten in
unserer Gesellschaft, den Arbeitnehmern, den Tarifpar-
teien und den Unternehmern, aber auch gegenüber denje-
nigen, die politische Verantwortung getragen haben und
weiterhin tragen .

Der vorliegende Haushalt setzt meines Erachtens
die völlig richtigen Prioritäten . Erstens . Wir nehmen
die große Herausforderung, die die Bewältigung der
Flüchtlingsströme darstellt, an . Zweitens . Es bleibt bei
der soliden Haushaltspolitik und der weiteren Entlastung
der Kommunen . Drittens . Der Schwerpunkt bleiben die
Investitionen in die Zukunft . Wir verstärken das bei der
Verkehrsinfrastruktur und der Breitbandinfrastruktur, um
nur zwei Bereiche zu nennen . Dazu gehören aber auch
Bildung und Forschung. Viertens. Das Ganze findet in ei-
nem völlig stabilen sozialen Umfeld statt . Wir vergessen
nicht die Kranken und Schwächeren in unserer Gesell-
schaft. Die Bundeskanzlerin hat bereits auf die Pflege-
versicherung und die entsprechenden Stärkungsgesetze
hingewiesen .

Ich möchte ergänzend auf das hinweisen, was wir für
die Familien getan haben . Zum Betreuungsgeld kann ich

Gerda Hasselfeldt






(A) (C)



(B) (D)


nur sagen: Die bayerischen Familien können sich darauf
verlassen, dass sie auch künftig das Betreuungsgeld be-
kommen .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das Bundesverfassungsgericht hat nicht, wie Herr Gysi
behauptet hat, das Betreuungsgeld gekippt, sondern nur
die Zuständigkeit moniert; ein bisschen Wahrheit muss
schon sein, Herr Gysi .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist genau der
richtige Politikansatz, den wir in diesen schwierigen Ta-
gen brauchen .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1812002100

Vielen Dank . – Als Nächster hat der Kollege Martin

Gerster, SPD-Fraktion, das Wort .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Martin Gerster (SPD):
Rede ID: ID1812002200

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Die Haushaltsdebatte im Deutschen Bundestag ist traditi-
onell die Zeit und der Ort für zum Teil harte Auseinander-
setzungen sowie kontroverse Bewertungen von Einnah-
me- und Ausgabepositionen und der damit verbundenen
Schwerpunktsetzung auf politischer Ebene . Manche nut-
zen diese Debatte auch zur Generalabrechnung . Aber in
diesem Jahr ist es etwas anders, wie ich finde; denn wir
führen in Anbetracht der vielen Millionen Flüchtlinge in
der Welt und der prognostizierten 800 000 Flüchtlinge,
die in Deutschland Schutz sowie eine neue Bleibe- und
Lebensperspektive suchen, die Haushaltsdebatte unter
ganz anderen Vorzeichen . Jedenfalls sind wir gut bera-
ten, das so zu tun . Vor diesem Hintergrund steht es uns
gut an, den Menschen und die Menschlichkeit, aber auch
den Umgang miteinander in den Vordergrund zu rücken .
Wir sollten deutlich machen, dass wir auf der Seite der-
jenigen stehen, die Schutz sowie eine neue Bleibe- und
Lebensperspektive suchen .

Ich will an dieser Stelle einfach sagen, dass ich nach-
drücklich beeindruckt bin, fasziniert bin und dankbar
bin – ich glaube, das geht vielen Kolleginnen und Kol-
legen so – von dieser Hilfsbereitschaft in unserem Land .
Es ist unglaublich, wie viele ehrenamtliche Helferinnen
und Helfer unterwegs sind, die sich auch spontan in Ini-
tiativen zusammenschließen . Ich verweise auf unsere Or-
ganisationen wie das THW, die Feuerwehren, das Rote
Kreuz, die Johanniter, die Malteser, die zur Stelle sind,
auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im öffentlichen
Dienst des Bundes, der Länder und auf kommunaler
Ebene . Überall leisten Menschen mehr, als sie eigentlich
müssten . Ich denke, es steht uns gut an, hier einmal Dan-
ke schön zu sagen . Wenn ich das sage, denke ich insbe-
sondere an die fleißigen Leute der Bundespolizei und des
Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge sowie auch
an die Ehrenamtlichen in den Kirchen, in den Sportver-

einen und anderswo . Ihre Arbeit anzuerkennen, auch das
ist ein Signal, das von der Haushaltsdebatte heute ausge-
hen sollte .


(Beifall bei der SPD sowie des Abg . Heinz Wiese Wir in der Koalition wissen um die Bedeutung, um die Dimension, um die Größe der Aufgabe . Wir leisten unseren Beitrag . Wir haben das in der Vergangenheit getan, auch in den letzten Haushaltsberatungen . Wir haben dafür gesorgt, dass beispielsweise das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge immer mehr Stellen bekommen hat, um die vielen Anträge entsprechend bearbeiten zu können . Wir wissen, dass wir da noch mehr tun müssen . Aber wir wissen auch, dass es letztendlich diese Entscheidung war, die ermöglicht hat, dass dieses Bundesamt immer mehr Standorte für die Bearbeitung dieser Anträge eröffnen konnte, dass mobile Teams gegründet werden können und dass es letztendlich ein gutes Stück vorangeht . Ich freue mich, dass der Koalitionsausschuss zuletzt ganz gezielt gesagt hat: Wir unterstützen die Länder und Kommunen mit einem großen Betrag . Wir haben aber auch ganz klar gesagt: Für die fleißigen Mitarbeiter der Bundespolizei, die vor Ort ihren Mann und ihre Frau stehen, gibt es Unterstützung: 3 000 zusätzliche Stellen . Ich glaube, das ist genau die richtige Botschaft . Wir müssen jetzt schauen, wie wir mit Hochdruck und möglichst schnell die nötigen Arbeitskräfte finden und in den Dienst bringen . Wir verstehen Flüchtlinge – das will ich noch einmal ganz klar sagen – in erster Linie nicht als Krise oder als Problem, sondern als Herausforderung, die wir bewältigen können, die wir meistern können, und als Chance für dieses Land . Deswegen sage ich: Wir müssen auch über den Tag hinausdenken . Das sollte auch in diesen Haushaltsberatungen verstärkt Berücksichtigung finden. Ich denke an die Sprachförderung für diejenigen, die hier ankommen . Ich denke an das Thema Integrationskurse, für die wir mehr Plätze brauchen, weil es schon jetzt ein Rekordinteresse an diesen Plätzen gibt . Wir müssen auch einmal schauen, wie wir genügend Dozentinnen und Dozenten für diese Integrationskurse bekommen; denn beim jetzigen Anforderungsprofil und bei der Bezahlung wird es in manchen Regionen schwierig sein, überhaupt noch jemanden zu finden, der diese Kurse geben kann . (Beifall bei der SPD – Bettina Hagedorn [SPD]: Besser bezahlen!)


(Beifall bei der SPD)


(Beifall bei der SPD)


(Johannes Kahrs [SPD]: Anständig bezahlt!)


Ich meine auch, dass wir schauen müssen, ob wir nicht
einen zusätzlichen Schwerpunkt beim Thema sozialer
Wohnungsbau setzen; denn die Leute müssen ja auch
irgendwo wohnen, die Leute sollen ja auch irgendwo ar-
beiten . Deswegen bin ich in der Tat der Meinung: Wir
müssen im Bereich Arbeit und Soziales noch einmal auf-
stocken, wir müssen mit der Bundesagentur für Arbeit ins

Gerda Hasselfeldt






(A) (C)



(B) (D)


Gespräch kommen, wir müssen schauen, was wir für die
Kinderbetreuung, Stichwort „Kitaausbau“, tun . Natürlich
sind auch Schule und Ausbildung ein Riesenthema . Ich
bin auch der Meinung, dass wir uns bei den Beratungen
im Haushaltsausschuss noch einmal genau anschauen
sollten, ob wir nicht noch mehr tun können, ob wir nicht
noch entschiedener vorgehen können gegen die Schleu-
serbanden, gegen diese Schlepperorganisationen und ob
wir das Bundeskriminalamt an dieser Stelle nicht etwas
besser ausstatten .


(Beifall bei der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, viele haben dieses
Thema in ihren Reden hier zuvor schon angesprochen:
die Entwicklungszusammenarbeit . Ich lege hier schon
Wert darauf, dass das Wort „Entwicklungszusammenar-
beit“ genannt wird und dass wir nicht weiter von „Ent-
wicklungshilfe“ reden . Ich glaube, das macht einen gro-
ßen Unterschied .

Ich möchte aus heutiger Sicht schon etwas dazu sagen,
wie dieser Politikbereich in den Jahren der christlich-li-
beralen Koalition, also der schwarz-gelben Koalition aus
CDU, CSU und FDP, behandelt wurde . Da war ein Mi-
nister Niebel, von dem auch Sie bei der Union sich haben
verleiten lassen, Entwicklungszusammenarbeit vor allem
unter der Priorität zu definieren: Gute Entwicklungszu-
sammenarbeit ist dann gegeben, wenn sie der deutschen
Wirtschaft nutzt . – Ich glaube, spätestens jetzt wäre der
Zeitpunkt gekommen, um sich davon abzuwenden und zu
sagen: Gute Entwicklungszusammenarbeit ist vor allem
dann gegeben, wenn sie Menschen Lebensperspektiven
in ihrer Heimat gibt und somit Fluchtursachen minimiert
werden können . – Wenn deutsche Unternehmen mit ihrer
Innovation, mit ihrer Technologie dazu beitragen kön-
nen, dann ist es schön und gut, aber das darf nicht die
allererste Priorität sein, so wie dies in der Vergangenheit
definiert wurde.


(Beifall bei der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube auch,
dass wir noch einmal genau darauf schauen müssen, ob
wir genug tun, um diesem „Pack“ richtig etwas entge-
genzusetzen. Sigmar Gabriel, finde ich, hat es bei sei-
nem Besuch in Heidenau exakt richtig benannt: Das ist
ein Pack . – Es ist gut, dass wir in der Großen Koalition
schon in den vergangenen Haushaltsjahren im Etat von
Manuela Schwesig die Mittel für das Programm „Demo-
kratie leben!“ deutlich aufgestockt haben . Ich habe den
Eindruck: Das, was wir da getan haben, ist noch nicht
genug . Deswegen müssen wir da noch einmal heran . Ich
glaube, das ist auch eine Geschichte, die wir in den Haus-
haltsberatungen noch einmal besprechen müssen .


(Beifall bei der SPD)


Ich bin der Meinung: Wir dürfen im Kampf gegen
Rechtsextremismus und im Werben für Demokratie, für
Toleranz, für Rechtsstaatlichkeit und Menschenwürde
niemals nachlassen . Niemals!

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1812002300

Vielen Dank . – Als Nächster hat der Kollege Ewald

Schurer, SPD-Fraktion, das Wort .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ewald Schurer (SPD):
Rede ID: ID1812002400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen

und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Der Generaldebatte, die jetzt zu Ende geht, liegt der
Entwurf des Bundeshaushalts für 2016 zugrunde . Wer
einen Haushalt richtig zu interpretieren weiß, der kann
sich das vorstellen: Es ist eine Art politisches Lesebuch
einer Bundesregierung . – Dieser Haushalt setzt Priori-
täten in vielen wichtigen gesellschaftlichen Bereichen:
Förderung von Kitas, Familienpolitik, Bildung, For-
schung, Außenpolitik, Gesundheit, Pflege, Infrastruktur
und jetzt aufgrund einer aktuellen gesellschaftlichen
Herausforderung ganz neu: Flucht, Asyl und Integration
von Menschen, die zu uns kommen und dann nach der
Anerkennung eine Chance haben sollen, über Arbeit, So-
ziales sozusagen voll in diese Gesellschaft aufgenommen
zu werden und Teil dieser Gesellschaft zu werden . Es ist
eine große Herausforderung . Den Zahlen – der Kollege
hat es bereits gesagt – stehen dann immer auch Schicksa-
le und menschliche Entwicklungen in dieser Gesellschaft
gegenüber .

Deutschland – das ist auch von Herrn Kauder her-
ausgearbeitet worden – macht das aus einer Position der
ökonomischen Stärke heraus . Es ist schon etwas Au-
ßergewöhnliches, dass wir nicht nur bei der Wertschöp-
fung, bei der Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts,
im Bereich Arbeitsmarkt – mehr Arbeitskräfte denn je,
geringere Arbeitslosigkeit denn je –, sondern auch in an-
deren Bereichen der Gesellschaft eine sehr positive Ent-
wicklung haben . Aus dieser ökonomischen Stärke – die
korrespondiert mit den Zahlen des Bundeshaushalts –
erwächst eine besondere Verantwortung Deutschlands –
nicht Deutschlands allein –, die Integration der Men-
schen positiv zu befördern .

Überhaupt ist es so im Haushalt, meine lieben Kolle-
ginnen und Kollegen: Das Wollen ist die entscheidende
Frage . Will ich, dass die Menschen, die zu uns kommen
und die Anerkennung bekommen, wirklich voll und ganz
in diese Gesellschaft integriert werden? Ich denke, bei
allen Akzentunterschieden hier im Parlament war heute
der Common Sense: Wir wollen, dass die Menschen voll
und ganz integriert werden .

Nur, an dieser Stelle mache ich mir schon Sorgen über
den europäischen Prozess . Ich weiß, dass die Kanzlerin,
das Kabinett, die Minister, dass alle alles tun, um hier
auch in Europa den zerbrochenen Konsens wiederher-
zustellen . Wir haben – das darf man in der Debatte im
Deutschen Bundestag sagen – derzeit für Europa eine be-
drohliche Situation . Es sind nicht die Menschen, die von

Martin Gerster






(A) (C)



(B) (D)


Budapest über München zu uns kommen, sondern es ist
der fehlende Konsens . Mir tut es im Herzen und im Glau-
ben weh, dass die Staatschefs aus Polen, der Slowakei,
aus Tschechien und Ungarn, die sich am letzten Freitag
in Prag getroffen haben, im Brustton der Überzeugung
sagen, sie wollen sich an dieser Integrationsarbeit nicht
beteiligen . Das ist vor dem geschichtlichen Hintergrund
der 25 Jahre währenden Verantwortung des damaligen
Westeuropas für die ehemaligen Staaten im kommunis-
tischen Verbund eine ganz schwache Leistung, eine Be-
drohung für die Europäische Union .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deswegen möchte ich unterstreichen, dass wir in
Deutschland die Verantwortung haben und in der Lage
sind, diese Integrationsarbeit mit der ökonomischen Stär-
ke, dem nötigen Willen und dem nötigen Geist zu leisten .
Aber es wird nicht gehen – wie schon gesagt –, wenn
nur Österreich und Schweden dies offensiv tun und an-
dere große Länder sagen: „Ich nehme 4 mal 5 000 in der
nächsten Dekade“, und glauben, sie könnten sich damit
aus dem Gesamtwerk der Europäischen Union verab-
schieden . Das macht mir große Sorge . So stark wir öko-
nomisch in Deutschland sind – das hat Carsten Schneider
erwähnt –, so schwierig ist die makroökonomische Si-
tuation in vielen anderen Ländern . Wir haben Handels-
bilanzüberschüsse, die sehr stark sind . Das liegt aber
auch daran, dass unsere europäischen Partner zum Teil
leider ökonomisch schwach sind oder nicht so stark sind .
Deswegen müssen wir über alle Herausforderungen hin-
weg versuchen – Griechenland, Ukraine kann man leider
nicht vergessen; es ist die größte Stellschraube bezüglich
der Bedrohung –, die anderen Länder einzubeziehen . Ich
denke hier auch an den Juncker-Plan mit den 300 Milli-
arden Euro . Das darf nicht nur diskutiert werden, sondern
das muss im Europäischen Parlament mit den National-
staaten umgesetzt werden .

Griechenland wird nach der 86-Milliarden-Euro-Ret-
tung, womit man fiskalisch überhaupt erst die Grundla-
ge für Wachstum geschaffen hat, Wachstumsprogramme
brauchen . Es wird sich in Griechenland nichts tun, wenn
nicht die Menschen vor Ort, die innovativ sind, mit Geld
in neue Existenzen investieren . Das Ganze gilt auch für
die anderen europäischen Länder . Wir brauchen – das
muss man in der Generaldebatte noch einmal unterstrei-
chen – europäische Partnerländer, die sich ökonomisch
wieder erholen, die ökonomisch stärker werden und die
von Wirtschaftswachstum getragen mit uns auf einer Au-
genhöhe als politische und ökonomische Partner in einer
wiedererstarkten EU sind . Die Europäische Union hat es
nämlich nötig .

Ich freue mich über jede Erfolgsmeldung aus Spanien,
aus Portugal, aus Irland oder anderen Ländern, dass nach
der gigantischen Wirtschaftskrise diese Länder langsam,
aber sicher wieder in eine eigene Tragfähigkeit kommen
und in der Lage sind, das Konzert der 28 europäischen
Länder positiv mitzugestalten . Davon leben wir . Darauf
muss man bei einer Haushaltsdebatte des Bundestages
hinweisen . Nur aus der Interaktion aller europäischen
Länder mit einer ökonomischen Führung Deutschlands –
das darf man hier sagen, ohne sich schämen zu müssen –,

aber auch mit einem starken Partner Frankreich können
wir dieses Haus künftig gestalten .

Zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen: Die
Felder sind genannt worden . Der Bundeshaushalt leistet
unwahrscheinlich viel . Das ist in der Generaldebatte noch
nicht das Thema . Das kommt dann bei den Lesungen zu
den verschiedenen Einzelplänen . Wir haben eine Erwei-
terung des Volumens von 302 auf 312 Milliarden Euro
und in der mittel- bis langfristigen Projektion steigt es bis
2019 auf 333 Milliarden Euro . Das zeigt, dass der Bund
in den Sozialleistungsgesetzen, auch im investiven Ver-
halten, in vielen Bereichen enorm viel Geld in die Hand
nimmt, um die Politikfelder gemeinsam mit den Länder-
haushalten und den 12 500 Gemeinden in Deutschland
nach vorne zu gestalten . Der Bund ist der wichtigste Ak-
teur . Aber genauso wichtig sind die Länder und natürlich
auch die Kommunen .

Wir haben bei der Stärkung der Investitionen noch
Nachholbedarf; das ist bereits gesagt worden . Gerade die
Flucht-, Asyl- und Integrationsfragen, Frau Präsidentin,
können nur gelöst werden, indem wir in Deutschland
Milliarden von privatem Kapital mit öffentlicher Unter-
stützung für sozialen Wohnungsbau verwenden, der sich
an den Bedürfnissen der Menschen orientiert, egal ob die
Menschen hier schon lange leben oder jetzt kommen .
Hier werden wir im investiven Bereich auch in dieser
Koalition in den nächsten Jahren noch mehr tun müssen
als bisher .

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1812002500

Vielen Dank . – Für die Bundesregierung spricht jetzt

die Staatsministerin Professor Monika Grütters .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


M
Monika Grütters (CDU):
Rede ID: ID1812002600


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
1,28 Milliarden Euro sieht der Haushaltsentwurf der
Bundesregierung im Jahr 2016 für Kulturausgaben vor .
Das sind 56 Millionen Euro mehr als im Regierungsent-
wurf des Vorjahres . Ein starkes kulturpolitisches Signal .

Dennoch will ich eine andere Zahl, die uns alle be-
wegt, in den Mittelpunkt meiner Haushaltsrede stellen .
800 000 Menschen suchen in diesem Jahr Zuflucht in
Deutschland, 800 000 Menschen, die ihre Heimat zu-
rückgelassen haben und mit nichts anderem als ihrer
Hoffnung auf Frieden und Freiheit, auf ein besseres
Leben bei uns ankommen . Das ist die größte politische
Herausforderung in diesen Monaten und vielleicht auch
Jahren . Das ist vor allen Dingen auch eine kulturpoliti-
sche Herausforderung, zunächst einmal, weil kulturelle
Teilhabe eine grundlegende Voraussetzung dafür ist, dass
Zuwanderer in der Fremde ihre neue Umgebung verste-
hen und dass auch sie hier verstanden werden, weil kul-
turelle Teilhabe eben auch gesellschaftliche Teilhabe ist,
aber auch, weil die diffuse Angst vor den Fremden, wie

Ewald Schurer






(A) (C)



(B) (D)


wir sie mancherorts erleben, das große Bedürfnis nach
Selbstvergewisserung unserer eigenen kulturellen Iden-
tität einmal mehr deutlich offenbart, vor allem aber, weil
kulturelle Vielfalt sowie die großartige Welle der Hilfs-
bereitschaft, die wir aktuell erleben, ganz maßgeblich zu
dem Bild eines weltoffenen Deutschlands beiträgt, das
wir all denen entgegenhalten müssen, die uns mit ihrer
Fremdenfeindlichkeit beschämen .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Kultur ist Brückenbauerin und Türöffnerin, aber auch
Spiegel unseres Selbstverständnisses . 1,28 Milliarden
Euro für 2016 sind gut angelegtes Geld, um die Kultur
genau in dieser Rolle zu bestärken . Liebe Kolleginnen
und Kollegen, deshalb bitte ich Sie herzlich um Ihre Zu-
stimmung zum Regierungsentwurf .

Dieser sieht unter anderem mehr Unterstützung für die
von meinem Haus geförderten Kultureinrichtungen vor,
insbesondere 38 Millionen Euro für zusätzliche Perso-
nalausgaben zum Ausgleich von Tariferhöhungen .

Der größte Einzelbetrag – 12 Millionen Euro mehr als
im Vorjahr – kommt der Deutschen Welle – lieber Herr
Dörmann, dafür haben wir gemeinsam viel getan – zu-
gute . Sie ist als Botschafterin unseres demokratischen
Rechtsstaats gerade in Krisenregionen und autoritär re-
gierten Staaten für viele Menschen die maßgebliche, für
viele aber auch die einzige Verbindung in die freie Welt .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Vom Plus bei den Personalmitteln profitieren aber
nicht nur die großen Einrichtungen . Vielmehr ist es erst-
mals gelungen, 2016 auch kleine und mittlere Häuser, die
wir nur dauerhaft über Projekte finanzieren, besserzustel-
len . Dafür bin ich besonders dankbar, vor allen Dingen
auch dem Finanzminister Schäuble, der dazu einen be-
rührenden Brief geschrieben hat .

Vielen ist gar nicht bewusst, wie viel unsere Kultur-
einrichtungen landauf, landab – das heißt gerade auch
jenseits der großen Metropolen – zum Umgang mit kul-
tureller Vielfalt vor Ort beitragen .

Wichtig ist es mir aber auch, den Mut zum Experi-
ment zu fördern, den, wie es Habermas einmal gesagt
hat, avantgardistischen Spürsinn für Relevanzen, mit der
Kunst und Kultur notwendige gesellschaftliche Verände-
rungsprozesse anzustoßen .

Deshalb werde ich künftig, analog zum guten Beispiel
in der Kino- und Musikbranche, auch einen Theaterpreis –
die Theater sind wirklich die direkteste Verbindung vor
Ort mit den Bürgern – und einen Buchhandlungspreis
verleihen . Damit ermutigen wir die Überzeugungstäter
in den Branchen, die leidenschaftlichen Theatermacher,
Literaturliebhaber unter den Buchhändlern, die auch jen-
seits des Mainstreams, aber flächendeckend zu einem
vielfältigen kulturellen Angebot beitragen . In diesem
Zusammenhang will ich außerdem die kulturelle Film-
förderung stärken .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ob Poesie, ob Malerei, ob Film, Musik, Theater oder
Tanz, Kunst kann gemeinsame Sprache sein, wo unter-
schiedliche Begriffe sonst Missverständnisse verursa-
chen . Kunst kann gemeinsame Erfahrungen bescheren,
wo unterschiedliche Herkunft oft ab- oder ausgrenzt .
Kunst kann uns helfen, zu verstehen, was uns ausmacht,
wer wir sind, als Individuen, als Deutsche, aber auch und
insbesondere als Europäer .

Kunst kann uns aber auch nötigen, einmal die Perspektive
zu wechseln und die Welt aus anderen Augen zu sehen .
Dazu wird künftig auch das Humboldt-Forum beitra-
gen . Vor kurzem, im Juni, haben wir zwei Jahre nach der
Grundsteinlegung Richtfest gefeiert . Das Humboldt-Fo-
rum fördert neuartige Kunst- und Kulturerfahrung – das
haben wir uns vorgenommen – und verfügt über Wis-
sen – das ist der Kernbestand – über unterschiedliche,
aber gleichberechtigte Weltkulturen . Aktueller hätte man
dieses größte Projekt der Kultur in der Bundesrepublik
nicht planen können .

Dieses Projekt wird unsere kulturelle Identität ganz
maßgeblich prägen und natürlich auch zeigen, dass
Deutschland sich als Partner in der Welt versteht . Denn
allein, dass wir im Herzen der deutschen Hauptstadt nicht
uns selbst in den Kulturmittelpunkt stellen, sondern dass
die Welt in Berlin ein Zuhause findet, dass Deutschland
sich also statt in reiner Selbstbezüglichkeit mit einem
Blick nach außen empfiehlt, sagt, denke ich, viel über
das Selbstverständnis der Kulturnation Deutschland am
Beginn des 21 . Jahrhunderts aus .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Mit Neil MacGregor konnte ich einen der weltweit re-
nommiertesten Museumsexperten nach Berlin holen . Ich
finde, dass das so ein bisschen etwas wie die schönsten
Vorschusslorbeeren sind, die wir uns alle für das Hum-
boldt-Forum wünschen konnten . Um die Bespielung
vorzubereiten, möchte ich im kommenden Jahr 3,5 Mil-
lionen Euro für die Gründungsintendanz zur Verfügung
stellen .

Diese Beispiele illustrieren, wie wir die Mittel im
Haushalt – auch meines Hauses – im Sinne eines weltof-
fenen Deutschlands einsetzen . Kultur und Medien haben
allein schon wegen ihrer herausgehobenen Rolle im öf-
fentlichen Diskurs auch und ganz maßgeblich eine echte
Verantwortung dafür, wie kulturelle Vielfalt in Deutsch-
land wahrgenommen wird: als fremd oder als vertraut,
als einladend oder als trennend, als bedrohlich oder als
bereichernd .

Heimat ist da, wo ich verstehe und wo ich
verstanden werde .

Das hat einmal der große Philosoph Karl Jaspers gesagt .
Ich bin überzeugt, dass Kultur und Medien mit ihrem
Beitrag zum Verstehen und Verstanden-Werden denen,
die gerade zu Hunderttausenden neu in unser Land kom-
men, dabei helfen können, zeitweise oder dauerhaft in
Deutschland Fuß zu fassen, und denen, die diese gewal-
tige Entwicklung mit Sorge betrachten, vielleicht helfen
können, sie als Chance zur Bereicherung unseres Mitein-
anders anzunehmen .

Staatsministerin Monika Grütters






(A) (C)



(B) (D)


In diesem Sinne: Vielen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1812002700

Vielen Dank . – Nächste Rednerin ist die Kollegin

Sigrid Hupach, Fraktion Die Linke,


(Beifall bei der LINKEN)


der ich an dieser Stelle noch einmal zu ihrem heuti-
gen Geburtstag gratulieren möchte . Herzlichen Glück-
wunsch!


(Beifall – Sigrid Hupach [DIE LINKE]: Vielen Dank, Frau Präsidentin!)



Sigrid Hupach (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1812002800

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verfolgt man in den
letzten Wochen und Monaten die Nachrichten – das
wurde heute vielfach angesprochen –, erfährt man täg-
lich von neuem, unvorstellbarem Leid . Man erfährt, dass
Menschen genötigt sind, ihre Heimat zu verlassen und
sich unter größten Gefahren allein, mit Kindern oder so-
gar als Minderjährige auf die Flucht zu begeben .

Welche Relevanz hat die heutige Debatte um den Kul-
turhaushalt angesichts solcher Dramen? Ich meine, eine
sehr, sehr große . Gerade angesichts ganz existenzieller
Probleme muss man sich mit Kultur beschäftigen . Man
muss Künstlerinnen, Künstlern und Kulturschaffenden
alle Möglichkeiten geben, diese gesellschaftlichen Wand-
lungsprozesse – herausfordernd, wie sie auch sind – kon-
struktiv und kritisch zu begleiten .


(Beifall bei der LINKEN)


Wir Linke fordern daher nicht nur die Verdoppelung der
Mittel für das Bundesprogramm „Demokratie leben!“
und die Schaffung dauerhafter Strukturen im Kampf ge-
gen Rechtsextremismus, sondern wir wollen, dass der
Bund auch entscheidend mehr Geld für Soziokultur und
kulturelle Bildung einstellt .


(Beifall bei der LINKEN)


Kulturelle Bildung – davon bin ich fest überzeugt –
belebt die Auseinandersetzung mit dem eigenen kulturel-
len Hintergrund und mit kultureller Vielfalt . Sie befähigt
dazu, die gesellschaftlichen Entwicklungen zu reflektie-
ren und selbstbestimmt mitzugestalten . Somit ist sie eben
auch Voraussetzung für eine gelingende Demokratie, erst
recht in einem Europa, dessen solidarische und humanis-
tische Idee gegenwärtig von nicht wenigen infrage ge-
stellt wird .

Auch aus diesem Grund möchte ich Ihnen, Frau
Staatsministerin Grütters, danken, dass es Ihnen erneut
gelungen ist, einen Aufwuchs im Kulturhaushalt zu er-
reichen .


(Beifall bei der LINKEN)


Ich danke Ihnen auch, dass Sie hervorgehoben haben,
wie wichtig und notwendig kulturelle Teilhabe auch für
die Menschen, die zu uns kommen, ist .

Aber sie ist auch nur möglich, wenn die Infrastruktur
und die Voraussetzungen dafür geschaffen werden .

Besonders positiv bewerten wir Linken zudem, dass
der größte Teil der 56 Millionen Euro in den Personal-
bereich fließt und dass nun auch bei den überwiegend
projektfinanzierten Einrichtungen eine Anpassung an das
Tarifrecht möglich ist . Das war mehr als überfällig . Hier
stimmt also die Richtung . Zu tun bleibt dennoch genug .
Ich erinnere dabei an die ungeklärte und prekäre Situa-
tion der vielen freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
an den Goethe-Instituten. Gerade für Freiberufler und für
kurzfristig beschäftigte Menschen im Kultur- und Krea-
tivbereich brauchen wir dringend weitere Verbesserun-
gen .


(Beifall bei der LINKEN)


Drittens begrüßen wir die Herauslösung der Kul-
turförderfonds aus der Kulturstiftung des Bundes und die
Neueinrichtung des Fonds für zeitgenössische Musik . Ob
die Finanzierung ausreicht, wird sich zeigen müssen .

Nach dem Lob nun aber auch etwas Kritik: Kriti-
sche Töne sind auf jeden Fall angebracht, wenn es um
die notwendigen Mittel für so dringliche Aufgaben wie
die Digitalisierung und Sicherung des kulturellen Erbes,
des schriftlichen Kulturguts und des Filmerbes geht . Wir
bleiben hier konsequent und fühlen uns durch die Ex-
pertenanhörung im Kulturausschuss bestärkt . Es braucht
eine nationale Digitalisierungsstrategie und die entspre-
chenden Mittel dazu . 30 Millionen Euro sehen wir hier
als nötig an . Die eingestellten 1,3 Millionen Euro sind
dieser Aufgabe ebenso wenig angemessen wie die 1 Mil-
lion Euro, die im Haushalt für die Sicherung des Film-
erbes eingestellt ist . 10 Millionen Euro pro Jahr nennt
das Gutachten im Auftrag der Filmförderanstalt unter
der Annahme, dass die digitalisierten Originale im An-
schluss einfach entsorgt werden könnten . Was ist das für
eine absurde Idee? Sicherung des Filmerbes heißt beides,
die Digitalisierung und die Archivierung der Originale .


(Beifall bei der LINKEN)


Selbst die 10 Millionen Euro können daher nur ein An-
fang sein, aber sie wären enorm wichtig .

Auch bei der Filmförderung besteht dringend Hand-
lungsbedarf . Der Deutsche Filmförderfonds hat seine
50 Millionen Euro für dieses Jahr bereits jetzt aufge-
braucht . Das ist ein deutliches Zeichen für die Unter-
finanzierung dieser wichtigen Kultur-, Regional- und
Wirtschaftsförderung .

Weiterhin ist zu fragen: Wo sind die in den letzten Mo-
naten zum Teil mit großer Geste angekündigten Mittel
für die zukunftsweisende Kulturpolitik in den ländlichen
Räumen, für den Erhalt der Welterbestätten, die Einrich-
tung eines UNESCO-Kompetenzzentrums, die Auswei-
tung des Kulturerhaltprogramms oder für die kulturelle
Bildung?

Wir Linke sind fest davon überzeugt, dass wir vom
Grundsatz her eine andere Kulturfinanzierung brauchen:

Staatsministerin Monika Grütters






(A) (C)



(B) (D)


eine ohne Kooperationsverbot, eine als Gemeinschafts-
aufgabe und eine mit solide finanzierten Kommunen.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg . Ewald Schurer [SPD])


Ich hoffe sehr, dass wir in den Haushaltsverhandlun-
gen zu entscheidenden Korrekturen kommen werden .
Die schockierenden Bilder von hasserfüllten Demonstra-
tionen und erst recht von brennenden Asylbewerber- und
Flüchtlingsunterkünften machen mehr denn je deutlich:
Ja, Kultur kostet, aber Unkultur kostet noch viel mehr .

Vielen Dank .


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1812002900

Vielen Dank . – Als Nächstes hat Burkhard Blienert,

SPD-Fraktion, das Wort .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Burkhard Blienert (SPD):
Rede ID: ID1812003000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die aktuelle
Situation gebietet auch meinerseits die folgende Anmer-
kung, die mir persönlich wichtig ist: Deutschland ist in
vielerlei Hinsicht ein reiches und starkes Land, und wir
können, sollten und müssen uns die größtmögliche Hu-
manität erlauben . Mir geht es dabei im Wesentlichen um
den kulturellen Reichtum in unserem Land, ein kulturel-
les Erbe, geprägt von einer reichen Sprache, vielfältiger
Literatur, Musik und Kunst . Es ist im Übrigen ein kultu-
relles Erbe, das uns in doppelter Hinsicht zur Humanität
verpflichtet. Es ist ein kulturelles Erbe, das sich durch
Heterogenität und Verschiedenheit überhaupt erst entwi-
ckelt hat und entwickelt . Wir wollen es erhalten, demo-
kratisieren und vielen Menschen zugänglich machen .

Die Menschen, die nun zu uns kommen, bringen etwas
Bereicherndes mit, nämlich ihre vielfältigen kulturellen
Traditionen und Identitäten . Dies müssen wir als das se-
hen, was es ist: eine fruchtbare Bereicherung für unsere
Gesellschaft und unsere Kultur .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich begrüße daher ausdrücklich die Initiativen aus dem
kulturellen Bereich unterschiedlicher Art und Weise wie
zum Beispiel die des deutschen Buchhandels zur Unter-
stützung der kulturellen Angebote insbesondere für Asyl-
suchende und Flüchtlinge, die unter der Schirmherrschaft
von Navid Kermani steht . Es ist Navid Kermani, der uns
im letzten Jahr am 23 . Mai in seiner Rede zum 65 . Jah-
restag des Grundgesetzes so eindrücklich zu einer Kultur
der Anerkennung und des Respekts ermahnt hat .

Das war schon sehr beeindruckend . Er hat uns noch
mal ins Stammbuch geschrieben, was unsere Aufgabe ist .

Die Kulturförderung des Bundes trägt neben der Kul-
turförderung der Kommunen und Länder wesentlich
dazu bei, die kulturelle Vielfalt zu fördern . Ich möchte
hier einige Aspekte herausstellen . Neben der Erfüllung

der institutionellen und repräsentativen Kulturaufgaben
des Bundes ist es wichtig, die Rahmenbedingungen für
kreative Arbeit zu verbessern . Es ist unsere Aufgabe,
zu verhindern, dass Kulturschaffende durch das soziale
Netz fallen .

Der Entwurf für den Haushalt 2016 der BKM bietet
eine gute Grundlage . Für die SPD-Bundestagsfraktion
will ich ausdrücklich positiv hervorheben, dass es er-
neut gelungen ist, den Etatansatz für Kultur im Regie-
rungsentwurf zu steigern, nämlich um knapp 4,5 Pro-
zent . Darin enthalten sind auch die Aufwüchse bei den
Personalmitteln, für die wir uns in den Beratungen zum
Haushalt 2015 erfolgreich eingesetzt haben . Dass diese
zusätzlichen Mittel für alle durch den Bund geförderten
Kultureinrichtungen sowie die Deutsche Welle, die lange
überfällig waren, nun fortgeschrieben werden, begrüßen
wir sehr .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Auf diese Weise können die Einrichtungen die Tarifstei-
gerungen auffangen, ohne dass Einsparungen bei Perso-
nal, Programm oder Inhalt vorgenommen werden müs-
sen . Andererseits wurden einige der Aufwüchse aus dem
parlamentarischen Verfahren zum Haushalt 2015 bedau-
erlicherweise nicht fortgeschrieben . Wir werden uns in
den jetzt anstehenden Beratungen gemeinsam anschauen
müssen, was dort zu tun ist .


(Beifall des Abg . Martin Dörmann [SPD])


Auch diejenigen Kulturschaffenden, die von den Ta-
rifsteigerungen nicht profitieren, müssen wir im Blick ha-
ben, allen voran die freiberuflich tätigen Kulturschaffen-
den, deren Zahl in den letzten Jahren stetig angestiegen
ist. Freiberufliche Leistungen im Kulturbereich unterlie-
gen keinen gesetzlichen Vorgaben . Einige Berufsverbän-
de haben Honorarempfehlungen oder Handreichungen
zur Berechnung freiberuflicher Arbeit erstellt. Dieser
Weg muss konsequent weitergegangen werden . Hier
trägt auch die öffentliche Hand eine Verantwortung,
wenn es darum geht, dass in der Kulturförderung faire
Vergütungen und Honorare gezahlt werden .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wir müssen eine Zweiklassengesellschaft von denen, die
in den vom Bund geförderten Einrichtungen von Tarif-
steigerungen profitieren, und denen, die auf der Basis
von Projektförderung künstlerischer und kreativer Arbeit
nachgehen, vermeiden .

Von existenzsichernder Wichtigkeit für viele freibe-
rufliche Kulturschaffende ist nach wie vor die Künstler-
sozialversicherung . Wir haben einen weiteren Anstieg
des Abgabesatzes verhindert, für eine gerechtere Lasten-
verteilung gesorgt und die Künstlersozialversicherung
auf sichere Beine gestellt .

Die Arbeitsverhältnisse von Kulturschaffenden sind
besonderen Umständen unterworfen . Das gilt insbeson-
dere für den Erwerb des Anspruches auf ALG I . Da die
aktuell gültige Regelung für kurz befristet Beschäftigte
Ende 2015 ausläuft, müssen wir noch in diesem Jahr eine
Entscheidung treffen . Davon sind viele Kulturschaffende
betroffen . Wir brauchen eine Anschlussregelung, die die

Sigrid Hupach






(A) (C)



(B) (D)


Besonderheiten in der Kultur- und Kreativwirtschaft be-
rücksichtigt .

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Grundlage kreativer
Erwerbsarbeit sind geistige Schöpfungen . Deshalb müs-
sen wir eine angemessene Vergütung für die Nutzung
kreativer Leistungen sicherstellen und geistiges Eigen-
tum vor Rechtsverletzungen im digitalen Raum schützen .
Dazu brauchen wir ein faires und zeitgemäßes Urheber-
recht, das die Interessen von Urhebern, Verwertern, Nut-
zern und Konsumenten ausgleicht .

Im Mittelpunkt müssen jedoch weiterhin der Urheber
und sein kreatives Schaffen stehen; denn sie schaffen den
Inhalt, den Content . Mit der bevorstehenden Reform des
Urhebervertragsrechts wollen wir die strukturell schwä-
chere Position des Urhebers im Verhältnis zum Verwerter
verbessern . Die Erfahrungen seit der letzten Anpassung
des Urheberrechtsgesetzes 2002 haben gezeigt, dass dies
auch wirklich nötig ist .


(Beifall bei der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch in der Filmpo-
litik hatten wir uns für die laufende Wahlperiode einiges
vorgenommen . Wir haben die Digitalisierung unserer Ki-
nolandschaft mit dem erfolgreichen Digitalisierungspro-
gramm abgeschlossen .

Wir haben die zeitliche Befristung des Deutschen Film-
förderfonds aufgehoben und damit die Förderung der
Filmwirtschaft auf Dauer gestellt . Sicherlich: Als Kultur-
politiker hätte ich mir gewünscht, dass wir das auf dem
alten Niveau hätten fortsetzen können . Umso mehr freue
ich mich über die Initiative von Bundeswirtschaftsminis-
ter Sigmar Gabriel, die Förderung der Filmwirtschaft mit
Mitteln aus seinem Etat zu ergänzen . Ich begrüße das;
denn nur so können wir unsere kulturpolitische Zielset-
zung in der Filmpolitik erreichen .

Unser Ziel ist die Sicherung einer breiten Vielfalt
beim Filmschaffen in Deutschland . Dafür ist neben Wirt-
schaftsförderung weit mehr erforderlich . Wir müssen
auch verstärkt etwas dafür tun, dass in Deutschland mehr
Filme entstehen können, bei denen die künstlerische
Qualität nicht zu kurz kommt . Deshalb sollten wir unser
gesamtes Fördersystem von Bund und Ländern in den
Blick nehmen, um hier nach Möglichkeiten zu suchen,
mit denen wir den künstlerischen Output im deutschen
Filmschaffen nachhaltig stärken können . Die anstehende
Novelle zum Filmförderungsgesetz (FFG) bietet hierzu
genügend Ansatzpunkte und Möglichkeiten, das auch
umzusetzen .

Wenn wir die Vielfalt des deutschen Films sichern
wollen, dann müssen wir uns auch um unser großes und
großartiges Filmerbe kümmern; denn vieles droht in der
Versenkung zu verschwinden oder gar unwiederbringlich
verloren zu gehen . Mit der Digitalisierung der alten Fil-
me können wir altes, vom Verfall bedrohtes Filmmaterial
retten, wir können beschädigte Kopien restaurieren, und
vor allem können wir unser Filmerbe auf völlig neuen
Distributionswegen verfügbar machen .

Obgleich wir im parlamentarischen Verfahren für
2015 1 Million Euro für das Filmerbe bereitgestellt ha-
ben, enthält der vorliegende Haushaltsentwurf für 2016

für das Filmerbe keine entsprechenden Mittel . Aber das
ist angesichts der aktuellen Situation auch schnell erklärt .
Bevor sich nun der Bund verpflichtet, müssen wir die an-
deren mit an Bord nehmen, die auch Verantwortung tra-
gen . Das sind vor allem die Länder und die Filmbranche .
Die dazu notwendigen Gespräche werden bereits geführt .
Ich bin zuversichtlich, dass wir im kommenden Jahr ein
entsprechendes Programm auf den Weg bringen werden,
um auch hier dafür zu sorgen, dass unser reiches kulturel-
les Filmerbe erhalten und zugänglich bleibt .


(Beifall bei der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe meine
Rede mit einem Appell . Wenn wir die kulturelle Vielfalt
unserer Gesellschaft als Chance nutzen wollen, müssen
wir die kulturelle Bildung fördern . Kulturelle Bildung
bietet ein großes Potenzial, um mit den Menschen, die in
unser Land kommen, ins Gespräch zu kommen, um uns
für ihre und sie für unsere Kultur zu öffnen . Viele Kul-
tureinrichtungen widmen sich bereits jetzt mit großem
Engagement der kulturellen Bildungsarbeit mit Flücht-
lingen, allen voran mit Kindern und Jugendlichen . Dies
ist der richtige Weg, den wir in Zukunft noch viel konse-
quenter und energischer gehen müssen .

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1812003100

Vielen Dank . Das war wirklich eine Punktlandung . –

Das Wort hat jetzt Anja Hajduk, Bündnis 90/Die Grünen .


(Wolfgang Hellmich [SPD]: Gute Hamburgerin!)



Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1812003200

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Ich möchte über das Projekt „Museum der Mo-
derne“ sprechen, wofür wir im vergangenen Haushalt
200 Millionen Euro bereitgestellt haben; das kommt
nicht jährlich vorkommt .

Frau Grütters, wir sind uns zumindest in einem Punkt
einig: Dieses Museumsprojekt mit der Aussicht ganz
wunderbare Kunstobjekte zu präsentieren, hat eine ganz
große kulturelle Bedeutung für unsere Hauptstadt . Des-
wegen möchte ich es in den Mittelpunkt meiner Rede
stellen .

Wir Grüne – das will ich hier auch betonen – sind Un-
terstützer dieses Projektes und wollen es auch bleiben .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Aber – und das gehört zur Ehrlichkeit dazu –: Vergan-
gene Woche ist der Ideenwettbewerb von Ihnen in der
Öffentlichkeit präsentiert worden, und er beginnt jetzt .
Frau Grütters, wie war das öffentliche Echo auf dieses ei-
gentlich so gewinnende Projekt? Das öffentliche Echo in
den Medien, ob Süddeutsche Zeitung, ob Die Zeit, ob die
Berliner Zeitung oder andere, war – wenn man es freund-
lich ausdrückt – bescheiden . Wenn man die Artikel mit
Interesse liest, muss man feststellen: Das Echo war von

Burkhard Blienert






(A) (C)



(B) (D)


viel Unverständnis für Sie geprägt, Frau Grütters, wie Sie
das Projekt jetzt auf die Spur gesetzt haben .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich zitiere Die Zeit vom 27 . August 2015, Herrn Rau-
terberg:

Eigentlich geht es in einem ersten Schritt . . . darum,
Ideen zu sammeln . Die Architekten sollen ihre Fan-
tasie spielen lassen, sollen zeigen, was überhaupt
möglich wäre, wenn denn alle, der Bund und das
Land Berlin, das Kulturforum endlich ernst nähmen .

Und weiter zu Ihnen, Frau Grütters, schreibt er:

Sie wagt nicht die Offenheit, die es braucht . Sie lässt
den Architekten nicht die Freiheit, die für eine sol-
che Aufgabe nötig ist . Gegen alle Ratschläge, gegen
die Proteste der wichtigsten Architektenverbände
und die Einwände vieler kluger Einzelstimmen . . .
hat sie sich festgelegt: Das neue Museum kann nur
an einem Ort entstehen, an der Potsdamer Straße .

Ich muss es Ihnen deutlich sagen, Frau Grütters: Ich
finde, Sie haben ein falsches Rollenverständnis. Sie sind
die Kulturstaatsministerin . Es ist lobenswert, wenn Sie
so ein Projekt nach vorne bringen; aber Sie sollten Ar-
chitekten und Städteplaner so mitwirken lassen, dass die
städtebaulich beste Entwicklung an diesem weltweit be-
deutenden Standort möglich ist .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dass Sie sagen: „Ich entscheide“, halte ich für falsch,
für eine politische Hybris . Das wird auch von vielen an-
deren so gesehen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich finde es dreist, wenn Sie das auch noch damit
rechtfertigen, dass der Bund Mittel für den Museumsbau
zugesagt habe, nicht aber für städtebauliche Visionen .
Dies ist ein Ort, an dem der Städtebau mitgedacht wer-
den muss . Die Situation im Haushaltsausschuss dazu war
schon absurd . An dieser Stelle muss ich die Kollegen der
Regierungsfraktionen einmal in Schutz nehmen . Sie ha-
ben tapfer darum gekämpft, dass offenbleibt, an welchen
Standort wir gehen .


(Bettina Hagedorn [SPD]: Ja!)


Das ist aber von oben durchgezogen worden . Der
Haushaltsausschuss hat die städtebauliche und kulturelle
Diskussion offenhalten wollen; aber die Kulturstaatsmi-
nisterin sagt: Bums, das mache ich so .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Man muss sich einmal fragen: Welche Rolle spielt
eigentlich Berlin dabei? Dazu muss ich sagen – Frau
Grütters ist die wirkliche Berlin-Expertin -: Berlin hat
die Planungshoheit und hält sich seltsamerweise zurück .
Als Vollstrecker des Bundeswillens hält sich der Senat
in Berlin zurück . Ich bin mir nicht sicher, ob das ange-
sichts des langen Planungsverfahrens, das vor uns liegt,
am Ende gutgehen wird . Senatsbaudirektorin Lüscher
hat nun anscheinend, wenn der Bericht aus der Berliner
Zeitung von Herrn Bernau richtig ist, letzte Woche ge-

sagt, man müsse nun – Zitat – „volles Risiko gehen – und
vielleicht dann feststellen, dass man hier nicht bauen
kann“ . Man muss wissen, dass an dem Standort, von dem
Frau Grütters sagt, dass es der einzig richtige ist, eine
Starkstromleitung verläuft, sodass die wichtige, absolut
notwendige Verbindung zur Neuen Nationalgalerie zu-
mindest in den nächsten 15 Jahren gar nicht möglich ist .
Eine aus europäischer Sicht wichtige Starkstromleitung
wird nämlich deswegen nicht verlegt . Wenn das, was
Frau Lüscher sagt, ernst zu nehmen ist, dann verantwor-
ten Sie, Frau Grütters, wenn dieses Museumsprojekt eine
sehr lange Zeitspanne für die Verwirklichung braucht,
etwas, was Sie immer verhindern wollten .

Im Namen meiner Fraktion möchte ich einen letzten
Punkt ansprechen . Ich sage Ihnen schon heute ganz klar:
Wir werden nicht akzeptieren, dass es eine investoren-
getriebene Architektur gibt, weil Sie das als PPP bauen
wollen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Ich finde es mehr als bemerkenswert, ich finde es
unfair und unangemessen, dass Sie das Bundesamt für
Bauwesen und Raumordnung ständig schlechtreden und
behaupten, das Bundesamt könne das nicht unter Einhal-
tung des Kostenrahmens bauen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich wünsche mir, dass Frau Hendricks sich das nicht
bieten lässt . So einseitig kann man nicht vorgehen .

Deswegen rufe ich Sie auf, Frau Grütters: Passen Sie
auf, dass Sie nicht die Unterstützer verlieren . So ein Pro-
jekt braucht eine faire öffentliche Beteiligung und faire
Mitsprachemöglichkeiten für Experten . In diesem Sinne
haben Sie umzusteuern .

Schönen Dank .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1812003300

Vielen Dank . – Jetzt hat Rüdiger Kruse, CDU/

CSU-Fraktion, das Wort .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg . Johannes Kahrs [SPD])



Rüdiger Kruse (CDU):
Rede ID: ID1812003400

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Zurzeit strömen Hunderttausende Menschen
nach Europa, und wir sind irgendwie überrascht . Ange-
sichts der europäischen Geschichte ist es verständlich,
dass wir überrascht sind; denn über Jahrhunderte haben
wir selbst Migranten produziert durch Krieg, Vertreibung
und Verfolgung . Jetzt ist offenbar ein Bild von Europa
entstanden, das so attraktiv ist, dass nun Menschen aus
anderen Regionen aus den gleichen Gründen, aus denen
Menschen aus Europa geflohen sind, nach Europa flie-
hen .

Anja Hajduk






(A) (C)



(B) (D)


Dass wir so überrascht sind, hat auch etwas damit zu
tun, dass wir kein geschlossenes Selbstbild von Euro-
pa haben, ein Problem, das wir Deutschen gut kennen .
Wenn man kein eigenes Selbstbild hat, dann wundert
man sich erst recht über das Fremdbild, auch wenn man
es als Kompliment annehmen darf, wenn Menschen
sagen: Dort wollen wir hin . Es wäre also sinnvoll, ein
Selbstbild zu finden, es zu definieren.

Das haben wir auch in der Finanzkrise gesehen . Es ist
nicht möglich, Europa nur mit Zahlen zu bauen . Das hält
nicht zusammen . Das würde nicht funktionieren . Wenn
Europa eine Holding wäre, dann hätte man viele Länder
nach drei Monaten auf Verkauf gestellt . Das entspräche
aber nicht der europäischen Idee .

Was ist jetzt die Chance? Die Chance ist in etwa so, als
wenn Sie Besuch haben oder jemand neu in Ihre Firma
kommt, der Ihre Stadt nicht kennt . Dann haben Sie die
Chance, Ihre Stadt selber kennenzulernen, indem Sie sie
ihm zeigen . Wenn jemand kommt und Ihre Kultur nicht
kennt, Sie aber die Erwartung haben, dass er sich in diese
Kultur integriert, dann sollten Sie zumindest wissen, wel-
che Kultur Sie denn meinen . Das, glaube ich, ist unser
Auftrag .

Die Staatsministerin hat gesagt, dass wir Projekte und
Initiativen stärken müssen, die sich mit der kulturellen
Einbindung von Migranten beschäftigen . Das ist sehr
wichtig . Aber das wäre zu wenig; denn dann hätten wir,
wenn es richtig gut läuft, bloß 1 Million Menschen mehr,
die die deutsche oder europäische Kultur kennen . Das
heißt, an die – geschätzt – 50 Millionen in Deutschland
kennen sie immer noch nicht; denn wir haben das Prob-
lem, dass Kultur derzeit eine Angelegenheit ist, die ver-
erbt wird . Sind Ihre Eltern ins Theater gegangen, ist die
Chance sehr hoch, dass Sie das irgendwann auch einmal
mussten . Das mussten Sie dann so oft, bis Sie Gefallen
daran gefunden haben . Das ist so ähnlich wie beim ersten
Bier: Hat irgendjemandem sein erstes Bier geschmeckt?
Nein, natürlich nicht . Das erste Bier schmeckt nicht . Sie
trinken es aus Gruppengefühl .

Jetzt will ich nicht weiter über diese legale Droge
reden . Ich will aber sagen: Sie müssen irgendwie die
Chance bekommen, diesen ersten Schluck von Kultur
zu nehmen . Diese Chance müssen nicht nur die Migran-
ten bekommen . Da ist es sehr naheliegend . Da ist auch
eine große Neugier da . Das ist der große Vorteil . Aber
wir müssen natürlich auch etwas dafür tun, dass die brei-
te restliche Bevölkerung, die wir seit der Gründung der
Bundesrepublik immer noch nicht mitgenommen ha-
ben, nun mitkommt . Das nennt man Demokratisierung
der Kultur . Das muss unser Antrieb sein, weil wir sonst
jedes Mal, wenn wir einen Haushalt beraten – und sei
der Anteil des Kulturhaushalts am Bundes- oder Lan-
deshaushalt auch so verschwindend gering, dass es sich
überhaupt nicht lohnt, über Kultur zu reden –, bei der
Auflistung von unnötigen, überflüssigen und Luxuspro-
jekten die Kultur weit vorne haben und die meisten Leute
der Ansicht sind, würde man bei der Kultur sparen, hätte
man schon den halben Haushalt saniert . Das also wollen
wir nicht .

Wir brauchen ein Mehr an Kultur, und wir brauchen
bessere Zugänge dazu . Es reicht nicht, dass wir neue
Museen bauen und alte erhalten und zudem durch Tari-
fangleichung dafür sorgen, dass die Leute, die morgens
das Licht an- und abends wieder ausschalten, anständig
bezahlt werden . Das kriegen wir hin . Was wir zurzeit
nicht hinkriegen, sind Ausstellungen von Weltrang, die
richtig spannend sind . Wir kriegen es nicht hin, dass
wirklich breite Bevölkerungsteile in Ausstellungen ge-
hen und dann heftig darüber diskutieren . Wir brauchen
Skandalausstellungen .


(Dr . Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister: Was?)


Wir brauchen Ausstellungen, die uns betreffen, über die
wir auch in der Politik reden und mit denen wir uns aus-
einandersetzen . Wir haben ganz gute Ansätze gewählt,
wo wir Dinge verstärken . Wir machen ja inzwischen
auch mehr . Wir machen sogar offene Projekte; ich denke
da an das Haus der Kulturen der Welt . Aber wir brau-
chen deutlich mehr, und deswegen ist ein Aufwuchs von
4 oder 5 Prozent noch zu wenig .

Es geht auch überhaupt nicht, dass da, wo wir als
Bund für einen Aufwuchs sorgen, Länder und Kommu-
nen zurückfahren .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Man muss bei all den Debatten, die wir führen, auch ein-
mal daran erinnern, dass nicht nur der Bundeshaushalt
mit Steuermehreinnahmen gesegnet ist; vielmehr ist es
so – Sie kennen die Verteilung -: Wenn wir mehr kriegen,
kriegen auch die Länder und Kommunen mehr . Zudem
hat der Bund sehr viele Entlastungsschritte in diese Rich-
tung unternommen . Deshalb muss man in den Verhand-
lungen mit den Ländern und Kommunen auch einmal
sagen: Dafür, verdammt noch mal, verlangen wir, dass
ihr euren Kulturetat nicht kürzt, sondern ihn aufstockt!

Herfried Münkler, der sich mit Deutschland als Macht
in der Mitte beschäftigt hat, hat in seinem Buch ein Kapi-
tel der kulturellen Macht gewidmet, die er dann als „Soft
Power“ bezeichnet . Er sagt, dass diese kulturelle Macht
wahrscheinlich die kostengünstigste Möglichkeit ist, Po-
pulismus entgegenzuwirken . Das gilt auch für das, was
ja ebenfalls gefordert worden ist: den Kampf gegen Ex-
tremismus . Extremismus entspringt aus Unkenntnis und
aus Angst, Angst vor dem Fremden zum Beispiel . Ein
schöner und erfolgreicher deutscher Film, ein kulturell
wertvoller deutscher Film war Angst essen Seele auf . Die
Angst vor dem Fremden kann man durch die Neugier auf
das Fremde überwinden . Das wiederum weckt Kultur .
Daher macht es sehr viel Sinn, wenn wir uns in diesem
Bereich stärker engagieren .

Wir müssen natürlich eines wissen – auch das sagt
Münkler -: Politiker machen keine Filme; sie können
es auch nicht . Wenn sie ganz besonders waren, sind sie
vielleicht einmal ein Motiv für einen Film oder für ein
Buch . Wir sind Handwerker . Wir müssen die Rahmenbe-
dingungen schaffen, damit andere das machen . Wir müs-
sen sie jetzt auch so schaffen, dass das auf europäischer
Ebene möglich ist . Wir müssen dafür sorgen, dass es in
der Finanzkrise nicht zu Kürzungen im Bereich der Kul-

Rüdiger Kruse






(A) (C)



(B) (D)


tur kommt – bei anderen Ländern kann ich das viel mehr
verstehen, wenn sie sehr viel kürzen müssen -; denn dann
wären das unattraktive Ruinen . Das heißt, wir brauchen
eine europäische Initiative .

Wir sollten den Ansatz finden, eine europäische
Renaissance einzuleiten . Das Wesen der Renaissance be-
steht aus zwei Dingen: aus der Rückbesinnung, also aus
der Beschäftigung mit dem, was vorher war – nicht in
einem konservativen Sinne, sondern in einem, dass man,
wenn man es kennt und sich damit auseinandersetzt,
Neues entwickeln kann –, und aus einer starken Verbrei-
terung des kulturellen Austausches . Eigentlich war das
damals unvorstellbar .

Wir können ja einmal versuchen, den Künstler El
Greco zuzuordnen . Er wurde in Griechenland geboren .
Angefangen hat er auf Kreta, dann ist er nach Venedig
gegangen und dann nach Rom . Später war er in Tole-
do bestimmender Meister des spanischen Manierismus .
Ich weiß jetzt nicht, ob das nun ein griechischer, spani-
scher oder italienischer Künstler ist . Von der Geburt her
ist es eindeutig . Seine Kunst ist international . Was die
damals an gegenseitiger Beeinflussung geschafft haben,
können wir heute doch viel leichter . Wir sollten die Aus-
tauschmöglichkeiten nutzen und stärken und im Sinne
einer europäischen Kulturpolitik dahin gehend wirken,
dass wir unsere Maßstäbe auch nach außen senden .

Man muss auch den Menschen, die hierherwollen, sa-
gen, dass sie alles an Kreativität mitbringen dürfen, aber
die gesamte Engstirnigkeit bitte zu Hause lassen und
überwinden . Es gibt nicht die Einladung, dass diejenigen,
die von Ignoranten vertrieben worden sind, ihre eigenen
Ignoranzen hier ausleben . Zur Vermeidung dessen brau-
chen diese Menschen ein positives politisches und kul-
turelles Bild von Europa, und wir müssen uns um dieses
Bild bemühen . Dafür ist es notwendig, dass wir nicht nur
unseren eigenen Etat deutlich stärken, sondern als Deut-
sche maßgeblich auf eine europäische Kulturinitiative
hinwirken; denn das ist eine der günstigsten Möglichkei-
ten, etwas für Freiheit und Recht in dieser Welt zu tun .

Danke schön .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1812003500

Vielen Dank . – Das Wort hat jetzt Ulle Schauws,

BÜNDNIS 90/Die Grünen .


Ulle Schauws (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1812003600

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste! Kulturpolitisch
war in letzter Zeit viel von großen Plänen und Namen
zu hören, leider weniger von handwerklich guten Kon-
zepten oder nachhaltigen Strukturlösungen . Aber es kann
und darf bei dem Auftrag, den die Bundeskulturpolitik
hat, nicht nur um schnelle Erfolge und leere Ankündi-
gungen gehen .

Ein erstes Paradebeispiel ist die ausstehende Novellie-
rung des Kulturgutschutzgesetzes . Hier war im Sommer

die Aufregung groß . Die Feuilletons waren voll davon .
Da stellt man sich die Frage: Warum war das so? Weil un-
sinnige Neuregelungen bei Künstlern und Sammlern Pa-
nikreaktionen ausgelöst haben . Es ging um private Leih-
gaben in öffentlichen Museen, es ging um die Rechte auf
Zutritt zu privaten Sammlungen . Diese Regelungen, Frau
Staatsministerin, befanden sich in einem Referentenent-
wurf Ihres Hauses . Jetzt müssen Sie unter Hochdruck
nachbessern . Da sage ich Ihnen: Das war nicht nur hand-
werklich ganz schlecht, sondern das hätte Ihnen so auch
nicht passieren dürfen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Einmal ganz abgesehen von Ihrer miserablen Kommu-
nikation . Es bei einem so hart umkämpften Gesetz zu
versäumen, das Warum und das Wie von Regelungen
verständlich zu erklären, war ein eklatanter Fehler . Sie
haben unnötig Öl ins Feuer der Händlerlobby gegossen .
Hier hätte ich mir von einer Staatsministerin – das muss
ich ganz ehrlich sagen – mehr Weitblick und einen pro-
fessionelleren Umgang erwartet .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Mit massivem Widerstand durch die Händlerlobby
war zu rechnen; das haben Sie gewusst . Das hat bereits
die Umsetzung des Kulturgüterrückgabegesetzes 2007
gezeigt . Die wichtigen Fragen, zum Beispiel unter wel-
chen Voraussetzungen Kulturgut zukünftig als national
wertvoll eingetragen wird, lassen Sie weiter offen . Hier
bestätigt sich Ihre Vorgehensweise: Großes ankündigen,
nicht entsprechend inhaltlich nachliefern .

Noch ein Thema der Kategorie „Schöner Plan – feh-
lendes Konzept“ steht auf der kulturpolitischen Agenda:
das Humboldtforum; Sie haben es eben wieder erwähnt .
Auch hier hören wir von der Bundesregierung vor allem
euphorisierte Superlative . Mit dem Gründungsintendan-
ten Neil MacGregor steht uns herausragende Kompetenz
zur Verfügung; ganz ohne Frage . Das ist gut, aber das
reicht ja nicht aus .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Bis heute haben Sie konzeptionell immer noch nichts
Substanzielles geliefert . Offen bleibt neben dem Inhalt
außerdem die zukünftige Finanzierung .

Auch bei TTIP sind wir Zeuginnen und Zeugen einer
Kulturpolitik, die Großes verkündet und erst dann schaut,
wohin die Reise geht . Sie behaupteten, Frau Staatsmi-
nisterin, die Kultur könne von den Verhandlungen durch
eine Generalklausel ausgenommen werden . Haben Sie
konkret etwas dazu gemacht? Wir haben seitdem nichts
mehr von Ihnen dazu gehört .

Das Gutachten unserer Fraktion zu den möglichen
Auswirkungen von TTIP auf den Kulturbereich hat ge-
zeigt: Die Verhandlungsstrategie der USA lässt eine sol-
che Ausnahme überhaupt nicht zu . Ich sage Ihnen: So be-
deutende Verhandlungen können Sie nicht laufen lassen
nach dem Motto „Wird schon gut gehen“ . Das reicht uns,
das reicht auch den Kulturleuten nicht aus .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Rüdiger Kruse






(A) (C)



(B) (D)


Was wir von einer Kulturstaatsministerin erwarten –
und zu Recht erwarten können –, sind eine nachhaltige
Kulturpolitik und eine Vision für morgen . Meine Damen
und Herren von der Bundesregierung, ich frage Sie: Wo
finden wir die im Koalitionsvertrag angekündigte kon-
zeptorientierte Kulturförderung, wo die Analysen und
Statistiken einer verstärkten Kulturpolitikforschung
und die angekündigten Maßnahmen zu Inklusion, Ge-
schlechtergerechtigkeit und interkultureller Öffnung von
Kulturbetrieben? Gerade jetzt, da uns alle das Thema
„Flucht vieler Menschen“ beschäftigt, da es uns alle an-
geht – viele von Ihnen haben es heute erwähnt –, ist auch
die Kulturpolitik der Regierung gefordert, ihren Beitrag
zu leisten . Ich hoffe, dass wir Ihre Konzepte dazu bald
bekommen werden . Ich sage noch einmal: Große Plä-
ne brauchen gute und nachhaltige Konzepte . Das ist im
BKM eine große Leerstelle . Darum, Frau Grütters: Ma-
chen Sie Ihre Hausaufgaben! Sie haben nur noch zwei
Jahre Zeit .

Vielen Dank .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1812003700

Vielen Dank . – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die

Kollegin Dr . Eva Högl .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Eva Högl (SPD):
Rede ID: ID1812003800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Zum Ende unserer Debatte – wir haben jetzt
fast vier Stunden diskutiert – und zum Ende unserer kul-
turpolitischen Debatte möchte ich Sie alle ganz herzlich
einladen, einen übergeordneten Blick auf die Rolle der
Kultur zu werfen, gerade auf die Bedeutung der Kultur-
politik im Zusammenhang mit der außenpolitischen Situ-
ation, mit der Situation von Flüchtlingen .

Ich möchte darauf hinweisen, dass Kultur in zwei
Richtungen wirkt und beide Richtungen gleichermaßen
wichtig sind:

Kultur hat ganz starke Signalwirkung nach außen; ich
halte es für sehr wichtig, dass wir das auch in dieser De-
batte betonen . Investitionen in Kulturgüter und kulturelle
Projekte entfalten ihre Ausstrahlungskraft weit über die
Grenzen Deutschlands hinaus . Durch seine Kultur prä-
sentiert sich Deutschland, und zwar weltoffen, und heißt
Menschen willkommen . Der Umgang einer Nation mit
ihren Kulturschätzen zeichnet sie auch aus .

Ich möchte heute ein Beispiel nicht unerwähnt lassen,
das uns alle erschüttert hat, als wir es vernommen ha-
ben – der Umgang mit Kultur in dieser Region erschüt-
tert uns ja seit Wochen und Monaten -: die Zerstörung der
antiken Grabstätten in der syrischen Oasenstadt Palmyra .
Das ist ein tragischer Verlust einmaligen und nie wieder-
herzustellenden Kulturguts . Palmyra war ein Treffpunkt
der Kulturen . Palmyra steht für multikulturelles Mitei-
nander, griechisch-römische Architektur, orientalisch
verziert . Die Stadt wurde 1980 zum UNESCO-Weltkul-
turerbe erhoben . Durch die gezielte Zerstörung durch die

Terrormiliz „Islamischer Staat“ ging dieser Kulturschatz
für immer verloren . Diese Tragik kann man, glaube ich,
nicht genügend betonen . Es ist wichtig, dass wir bei der
Diskussion über die Lage in der Welt immer auch die
Kultur im Blick haben; denn sie sagt etwas über die Lage
in der Welt aus .

Darüber hinaus wirkt Kultur nach innen, und darü-
ber reden wir in unserer Debatte heute ja auch sehr viel .
Kultur ist ein Ausdruck unserer Werte . Sie schafft Zu-
sammenhalt und Identifikation. Kultur fördert das ge-
sellschaftliche Miteinander, und sie schafft auch für die
Menschen, die zu uns kommen – das ist heute schon er-
wähnt worden –, Teilhabe, Entfaltungs- und Ausdrucks-
möglichkeiten und nicht zuletzt für uns alle Freude an
Schönem und Wunderbarem .

Aus diesem Grunde ist es richtig und wichtig, dass
wir weiterhin intensiv in Kultur und kulturelle Projekte
investieren . Ich sage das ganz besonders vor dem Hinter-
grund, dass es in diesen Tagen bei den Haushaltsberatun-
gen darum geht, unsere gemeinsamen Anstrengungen in
die Versorgung und Betreuung der Flüchtlinge zu inves-
tieren . Das geht aber nicht gegeneinander, sondern das
erfordert eine gemeinsame Kraftanstrengung von Bund,
Ländern und Kommunen . Hier brauchen wir auch Inves-
titionen in Kultur, und deswegen freue ich mich über die
Steigerung des Kulturetats .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich möchte auch noch einmal deutlich sagen, dass wir
Parlamentarierinnen und Parlamentarier es sind, die trotz
einer guten Vorlage – natürlich von Frau Grütters – im-
mer noch eine Schippe drauflegen. Ich verspreche mir
das selbstverständlich auch von den weiteren Haushalts-
beratungen . In der Vergangenheit sind das Denkmal-
schutz-Sonderprogramm und die Aufstockung der Mittel
für die Deutsche Welle im parlamentarischen Verfahren
erreicht worden . Dies waren gute Signale für die Ausstat-
tung von Kultur und Medien .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Vier Themen möchte ich kurz ansprechen, liebe Kol-
leginnen und Kollegen:

Erstens . Ich beginne – wie könnte es anders sein – mit
der Hauptstadtkulturförderung . Als Berlinerin mit dem
Wahlkreis Berlin-Mitte liegen mir diese Projekte natür-
lich sehr am Herzen . Sie liegen aber auch dem ganzen
Haus am Herzen, und deswegen hoffe ich natürlich, dass
wir die Hauptstadtkultur auch weiterhin gut fördern;
denn Berlin repräsentiert die Kultur Deutschlands und
exemplarisch auch die kulturelle Vielfalt in unserem
Land . Hier gibt es kein Gegeneinander der Fläche und
der Hauptstadt, aber das bedarf einer gesonderten Finan-
zierung und eines besonderen Augenmerks . Deswegen
hoffe ich, dass wir bei der Finanzierung der Hauptstadt-
kultur auch weiterhin gemeinsam gute Wege gehen und
Berlin entsprechend ausstatten, sodass es diese Aufgabe
übernehmen kann .

Ich möchte daran erinnern, dass es in Berlin viele
Leuchtturmeinrichtungen gibt, die wir mit Bundesmitteln

Ulle Schauws






(A) (C)



(B) (D)


unterstützen: die Berlinale, den Martin-Gropius-Bau, die
Akademie der Künste oder auch das Haus der Kulturen
der Welt . Das kennen und schätzen wir alle . Sie alle ha-
ben eine große Bedeutung .

Ich möchte hervorheben, dass zum Beispiel der Mar-
tin-Gropius-Bau aus der Projektmittelförderung heraus-
und in die institutionelle Förderung hineingekommen
ist . Ich denke, das ist ein guter Weg, den wir auch weiter
beschreiten sollten .

Zweitens . Keine Rede zur Kultur ohne die Erwähnung
des Humboldt-Forums! Der Bau des Humboldt-Forums
ist auf einem guten Weg . Jetzt kommt es auf die inhaltli-
che Ausgestaltung an . Ich möchte aber noch einmal ganz
deutlich machen, dass die Baustelle des Humboldt-Fo-
rums in Berlin – darauf sind wir alle sehr stolz – unsere
Vorzeigebaustelle ist . Das ist ja nicht bei allen Baustellen
der Fall, aber das Humboldt-Forum ist unter guter Regie
auf einem guten Weg; es ist im Kosten- und Zeitplan . Wir
alle freuen uns schon auf die Eröffnung .

Jetzt geht es natürlich darum, das Humboldt-Forum
inhaltlich gut auszugestalten . Das Humboldt-Forum liegt
im Herzen von Berlin und – Frau Grütters hat es eben
schon gesagt – soll die Kulturen der Welt anziehen und
sie im Herzen von Berlin vertreten und widerspiegeln .
Darüber werden wir miteinander sprechen und das gut
ausgestalten .

Ich freue mich ganz besonders, dass wir bei der letz-
ten Sitzung des Stiftungsrates des Humboldt-Forums
entschieden haben, dass ein Vertreter des Auswärtigen
Amts Mitglied des Stiftungsrates wird, weil es natürlich
ein wichtiges Signal ist, dass wir das Auswärtige Amt an
Bord haben und auch die Auswärtige Kulturpolitik ein-
beziehen können .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Drittens . Ebenfalls im Herzen von Berlin wird das
Museum der Moderne geplant . Frau Hajduk hat ja ihre
gesamte Redezeit auf das Museum der Moderne ver-
wandt und einiges kritisch angemerkt . Auch ich möchte
ein paar Worte dazu sagen und an der einen oder anderen
Stelle einen anderen Akzent setzen .

Zunächst einmal ein herzliches Dankeschön an alle im
Haushaltsausschuss, die das Museum der Moderne durch
die Bereitstellung der Mittel in Höhe von 200 Millionen
Euro möglich machen . Es wird eine wichtige Ergänzung
der Neuen Nationalgalerie werden, und wir werden die
Chance bekommen, im Herzen von Berlin die Sammlun-
gen Pietzsch, Marx und das Archiv Marzona zu zeigen .
Das ist eine wirkliche Bereicherung für die gesamte Kul-
turlandschaft und natürlich auch für die Berliner Kultur .

Ich bin sehr optimistisch, liebe Kolleginnen und Kol-
legen, dass wir dieses Ziel mit einem Ideenwettbewerb
gut erreichen; denn es ist ein offener Ideenwettbewerb .
Von diesem Ideenwettbewerb verspreche ich mir natür-
lich genauso wie Sie, Frau Hajduk,


(Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie kennen das Problem!)


dass er eine Ausstrahlungskraft auf das gesamte Areal hat
und auch die Möglichkeit beinhaltet, das Kulturforum
städtebaulich zu verbessern und aufzuwerten;


(Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und warum schränken Sie es ein?)


denn das ist dringend erforderlich . Wenn wir aber das
ganze Areal städtebaulich aufwerten wollen, wie uns
das wahrscheinlich gemeinsam vorschwebt, müssen wir
noch deutlich mehr Geld in die Hand nehmen .


(Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch eine totale Ablenkungsdiskussion!)


Dafür reichen die 200 Millionen Euro für den Museums-
bau nicht aus . Ich lade herzlich ein, dass wir uns über
diesen Ideenwettbewerb für den Bau hinaus gemeinsam
Gedanken machen,


(Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das werden wir auch!)


wie wir das Kulturforum aufwerten können .

Für die SPD-Fraktion jedenfalls sage ich, dass wir den
Standort des Museums der Moderne an der Potsdamer
Straße richtig finden.


(Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt doch gar nicht! Das gilt doch gar nicht für alle SPDler!)


Das ist der geeignete Standort . Dahin gehört das Muse-
um . Aber ich bin natürlich auch dafür, dass in dem Ide-
enwettbewerb darüber gesprochen wird, wie man den
Standort im Einzelnen ausgestaltet . Ich hoffe sehr, dass
wir dann auch im Kosten- und Zeitplan bleiben, sodass
wir uns auf eine wunderbare Museumseinweihung im
Jahr 2021 freuen können .


(Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein!)


Eine Bemerkung zu der Frage, wie das Museum ge-
baut wird und welche Form der Projektsteuerung wir
wählen . Ich will auch für die SPD-Fraktion ganz offen
sagen, dass wir ein großes Fragezeichen hinter die inten-
sive Überlegung machen, das Projekt in öffentlich-priva-
ter Partnerschaft zu realisieren .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich möchte mich ganz deutlich dafür aussprechen, dass
wir ernsthaft und konzentriert überlegen und am Ende –
das wäre mir die liebste Variante – dazu kommen, das
Projekt in öffentlicher Verwaltung durchzuführen .

Ich denke, das wäre für dieses Museum das Richti-
ge . Dass wir das können, zeigt das Humboldt-Forum;
ich habe es eben schon erwähnt . Es ist ein exzellentes
Beispiel dafür, dass wir in der Verantwortung der öffent-
lichen Verwaltung schöne Gebäude errichten können


(Bettina Hagedorn [SPD]: Bundesinnenministerium!)


und dabei im Kosten- und Zeitplan bleiben . Deswegen
bitte ich darum, diese Überlegungen ernsthaft zu prüfen .

Dr. Eva Högl






(A) (C)



(B) (D)


Ich wäre sehr froh, wenn wir dazu kämen, den Bau in
der Verantwortung der öffentlichen Hand durchzuführen .


(Beifall bei der SPD)


Meine vierte und letzte Bemerkung bezieht sich auf
die Novellierung des Kulturgutschutzgesetzes . Diese No-
vellierung ist dringend erforderlich, weil wir nämlich im
nationalen und internationalen Rahmen – ich habe zu Be-
ginn meiner Rede im Zusammenhang mit Palmyra von
internationaler Kultur gesprochen – einen Beitrag für den
verantwortungsvollen Umgang mit Kulturgütern leisten
müssen . Es geht sowohl um die Ausfuhr als auch um die
Einfuhr von Kultur . Wir brauchen dringend neue Rege-
lungen . Deswegen ist ein neues Kulturgutschutzgesetz
ganz wichtig, um im internationalen Kontext bessere und
richtige Regelungen zu bekommen .

Dass im Vorfeld Kritik geäußert wurde, hat uns si-
cherlich alle, vor allem hinsichtlich der Deutlichkeit,
überrascht . Es war von „Bedrohung des deutschen
Kunstmarktes“ und „Enteignung“ die Rede . Ich bin der
Auffassung, dass ein Teil dieser Kritik deutlich überzo-
gen war . Man kann sie aber aus dem jeweiligen Interesse
heraus verstehen .

Ich kann zusagen, dass wir dieses Gesetzesvorhaben
sehr sorgfältig prüfen und uns die Details anschauen .
Aber ich sage es noch einmal: Wir brauchen bessere Re-
gelungen für die Einfuhr; das scheint mir ziemlich unum-
stritten zu sein . Hinsichtlich der Kritik an den Ausfuhr-
regelungen – Stichwort „Enteignung“ – werden wir uns
ganz genau ansehen, welche Regelungen wir brauchen .
Aber darüber, dass wir auch da Regelungen brauchen,
um nationales Kulturgut zu schützen, sind wir im Haus
sicherlich einer Meinung .

Herzlichen Dank . Ich freue mich auf die weiteren Be-
ratungen .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1812003900

Vielen Dank . – Weitere Wortmeldungen zu diesem

Einzelplan liegen nicht vor . Wir schließen deshalb die
Beratungen zu diesem Einzelplan damit ab .

Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Auswär-
tigen Amtes, Einzelplan 05.

Bevor wir damit starten, warten wir noch ein bisschen,
bis alle Kolleginnen und Kollegen, die an dieser Debatte
teilnehmen wollen, ihren Platz eingenommen haben . –
Das Wort erteile ich als erstem Redner dem Bundesmi-
nister Dr . Frank-Walter Steinmeier .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des
Auswärtigen:

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Welt ist aus den Fugen, habe ich vor ungefähr einem Jahr
hier von diesem Pult aus gesagt . Ich befürchte, davon
ist nichts zurückzunehmen . Wir bereiten jetzt mit dem
Haushaltsentwurf das nächste Jahr vor, das, so befürchte

ich, ein Jahr sein wird, das ähnlich mit Krisen und Kon-
flikten gefüllt sein wird. Sie werden nicht viel weniger
werden .

Damit wir, obwohl wir uns berechtigte Sorgen ma-
chen, nicht verzweifeln und daran glauben und daran ar-
beiten, dass eine Veränderung möglich ist, will ich mit ei-
nem positiven Bild einsteigen – einem Bild, das gerade in
dieser Krisenzeit Hoffnung macht . Für viele von uns war
es, wenn ich das sagen darf, ein fast unerwartetes Bild
von riesiger Anteilnahme und großer Solidarität . Es gibt
eine Riesenanzahl von Deutschen, die in diesen Tagen
hinausgehen und mithelfen, Menschen aus den Krisenre-
gionen bei uns Zuflucht zu geben. Es ist eine große Hilfs-
bereitschaft vorhanden . Darüber können wir uns freuen .
Dafür will ich am Anfang allen – ob Freiwilligen oder
denjenigen, die es von Berufs wegen tun – ganz herzlich
Dank sagen .


(Beifall im ganzen Hause)


Diese Mitmenschlichkeit ist genau die Basis – davon bin
ich überzeugt –, die wir brauchen, damit wir mit dieser
riesigen Herausforderung fertigwerden .

Ich habe letzte Woche in Brüssel gesagt: Man hat im-
mer den Eindruck, dass die Probleme, an denen man ar-
beitet, die größten sind, die man zu bewältigen hat . Wir
haben das bei Griechenland gedacht . Die Herausforde-
rung Migration wird für uns und für ganz Europa noch
viel größer sein .

Damit die Hilfe aber funktioniert, brauchen wir die-
se Basis von Mitmenschlichkeit, die ich eben gezeich-
net habe . Uns in der Politik muss aber auch klar sein:
Diese Bereitschaft und diese Mitmenschlichkeit brau-
chen einen Rahmen . Wenn die Fragen jetzt noch nicht
gestellt werden, so werden sie irgendwann – auch von
denjenigen, die jetzt helfen – gestellt werden: Wie viel
kann Deutschland leisten? Was muss am Ende gesche-
hen, damit wir diese Herausforderung auf lange Sicht
bewältigen werden?

Ich will versuchen, in meiner Rede drei Antworten zu
geben bzw . zu beschreiben, welche drei Dinge jetzt zu
tun sind .

Erstens . In einer Haushaltsdebatte geht es natürlich
auch um Geld, selbst wenn wir nicht immer nur darüber
reden . Ich bin froh, dass die Bundesregierung am Wo-
chenende ein Maßnahmenpaket für Bund, Länder und
Kommunen verabredet hat . Für das Auswärtige Amt ge-
hört zu diesem Paket, dass wir eben – insbesondere in
den Herkunfts- und Transitländern – neue Anstrengun-
gen unternehmen und dank der Unterstützung auch un-
ternehmen können .

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Migrationswel-
len beginnen ja nicht am Ostbahnhof in Budapest und
auch nicht am Strand von Kos – den Eindruck könnte
man gewinnen, wenn man abends Fernsehen schaut –,
sondern dort, wo die Konflikte toben, wo schon Nach-
barländer nicht mehr in der Lage sind, die menschlichen
Notlagen in den Griff zu bekommen, und wo Schlep-
perbanden – auch das gehört zur Wahrheit – ihr großes
Geschäft wittern . Dort setzen wir mit den Möglichkeiten
des Auswärtigen Amtes an . Wir werden dank der Ver-

Dr. Eva Högl






(A) (C)



(B) (D)


abredungen im Koalitionsausschuss in diesen Regionen
helfen können und mehr Stabilität in den Herkunfts- und
Transitländern – ich nenne die riesigen Flüchtlingslager
in Jordanien, im Libanon und in der Türkei – schaffen .
Den Binnenvertriebenen, ob in Syrien oder im Irak, müs-
sen wir helfen, damit sie in ihren Heimatregionen lang-
sam wieder eine Perspektive entwickeln können .

Deshalb kann ich an dieser Stelle erst einmal nur mei-
nen Dank dafür aussprechen, dass wir schon so weit ge-
kommen sind . Das wird uns helfen, die Migrationswelle
besser zu bewältigen . Es wird vor allen Dingen den Men-
schen in den Regionen helfen, meine Damen und Herrn .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Für uns heißt das vor allen Dingen, direkte humanitäre
Hilfe zu leisten . Das ist aber nur der kleinere Teil . Dazu
gehört vor allen Dingen auch die Ertüchtigung der inter-
nationalen Hilfsorganisationen, insbesondere der Verein-
ten Nationen, deren Hilferufe in den letzten Wochen und
Monaten auch die Regierungschefs erreicht haben, ohne
dass der notwendige Erfolg wirklich eingetreten ist .

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist ein Skandal,
dass der UNHCR in diesen Tagen der größten Flücht-
lingsbewegung so unterfinanziert ist, dass die Essensra-
tionen in den Flüchtlingslagern im Irak und im Libanon
halbiert werden müssen . Das können wir so nicht ertra-
gen und erst recht nicht erdulden .


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Für die Migration, über die heute Morgen schon viele
gesprochen haben, heißt das: Wenn es bei dieser Unterfi-
nanzierung bleibt, hat das nicht nur Folgen für die Men-
schen, die in den Lagern leben, sondern dann treibt das
auch eine neue Dynamik in der Migrationsbewegung an .

Deshalb gibt es einen doppelten Grund, dass wir uns
beteiligen – und nicht nur wir . Wir müssen eine bessere
Finanzierung des UNHCR sicherstellen . Denn nur dann,
wenn wir dies tun, werden wir auch andere glaubwürdig
auffordern können, sich mit eigenen Mitteln und den ei-
genen Möglichkeiten an der Hilfe zu beteiligen .

Ich werde jedenfalls – das mag im Rahmen unserer
zu Ende gehenden G-7-Präsidentschaft noch möglich
sein – während der Generalversammlungswoche zu einer
kurzen Sitzung nicht nur mit den G-7-Staaten, sondern
auch mit den arabischen Nachbarn einladen, um zu sa-
gen: Wenn uns das Schicksal dieser Menschen wirklich
gemeinsam am Herzen liegt, dann sorgt wenigstens da-
für, dass der UNHCR das notwendige Geld bekommt,
um ihnen die tägliche Essensration zu geben! Das ist
notwendig .


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Zweitens . Wir können, glaube ich, das Problem nicht
nach dem Muster „Jeder für sich allein“ bewältigen – das
kann auch der größte und wirtschaftlich stärkste Staat in
Europa nicht –, sondern wir werden den Verfolgten nur
dann Schutz gewähren können, wenn dies eine gesam-

teuropäische Aufgabe ist . Deshalb würde ich zunächst
einmal allen diejenigen, die darüber zu reden haben, vor-
schlagen, im Zusammenhang mit Flüchtlingen, die vor
Verfolgung oder aus einem Bürgerkrieg fliehen, nicht
von einem Problem und insbesondere nicht von einem
deutschen Problem zu reden . Denn dies ist nicht ein
deutsches Problem, sondern es ist zunächst einmal eine
humanitäre Pflicht. Es ist zudem nicht nur eine deutsche
Pflicht, sondern es eine europäische Verantwortung.

Ich glaube, hier wird sich beweisen – wir streiten nicht
umsonst so hartnäckig darüber wie in der vergangenen
Woche beim europäischen Außenministertreffen in Brüs-
sel –, ob Europa in Fragen, in denen es nicht nur um Geld
geht, in der Lage ist, nicht nur von gemeinsamen Werten
zu reden, sondern den Schutz vor Verfolgung auch als
gemeinsamen europäischen Wert anzuerkennen und da-
nach zu handeln . Hier muss sich Europa beweisen und
zeigen, dass in dieser Situation nicht nur Zusammenhalt,
sondern auch Handlungsfähigkeit gewährleistet ist . Wir
arbeiten daran, und dies ist unter Beweis zu stellen, liebe
Kolleginnen und Kollegen .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich darf noch eines zu Europa sagen – Frau Bundes-
kanzlerin, ich glaube, das ist Ihnen auch nicht anders ge-
gangen -: Im Sommer gab es Situationen, da waren wir
alle nicht sehr amused, dass wir auf der einen Seite Bil-
der von Flüchtlingen in Griechenland sahen, die keinen
Schluck Wasser hatten, und auf der anderen Seite euro-
päische Unterstützung – jedenfalls zu diesem Zeitpunkt
-nicht sichtbar geworden ist . Deshalb haben wir von
deutscher Seite aus sehr frühzeitig in den Sommermo-
naten Vorschläge unterbreitet, weil zu ahnen war, dass
danach gefragt würde, wie europäische Antworten auf
diese Herausforderung aussehen .

Ich glaube, wir dürfen von unserer Seite, vonseiten der
deutschen Regierung, durchaus sagen, dass die Vorschlä-
ge, die wir dazu öffentlich gemacht haben, inzwischen in
das europäische Handeln eingeflossen sind. Wer die Rede
von Kommissionspräsident Juncker verfolgt hat, hat ge-
merkt, dass vieles von dem, was von hier ausgegangen
und in das gemeinsame deutsch-italienisch-französische
Papier vom vergangenen Wochenende eingeflossen ist,
sich in Junckers Rede vor dem Europäischen Parlament
wiederfindet, auch die Passagen über eine fairere und ge-
rechtere Verteilung von Flüchtlingen .

Lassen Sie es mich noch einmal sagen: Es kann nicht
sein, dass weniger als eine Handvoll Länder in Europa
das gesamte Flüchtlingsproblem bewältigen, sondern
hier müssen sich alle beteiligen . Hier müssen Europäer
zusammenstehen .

Selbst wenn wir im Augenblick noch weit entfernt
von der Akzeptanz einer Quote sind, so zeigen die De-
batten, die am vergangenen Wochenende geführt wur-
den, und die sichtbaren öffentlichen Reaktionen, die wir
aus Großbritannien vernehmen – es gibt auch ein wenig
Bewegung in Polen und Frankreich –, dass man einfach
nicht aufgeben darf, dass sich auch in diesem Punkt Be-
harrlichkeit lohnt . Selbst wenn wir nicht zu einer Quote

Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier






(A) (C)



(B) (D)


und damit zu einer vollkommen gerechten Verteilung
kommen, glaube ich, dass wir uns auf eine gerechtere
Verteilung beim Flüchtlingsproblem hinbewegen, als das
in der jüngeren Vergangenheit der Fall war . Die gerechte
Verteilung bleibt ein dickes Brett . Aber ich verspreche
für die Bundesregierung: Wir werden es weiter bohren .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Drittens . Es geht um die Lösung der Krisen . Das ist
vielleicht das Zentrale; denn die Flüchtlingsströme, über
die wir zu Beginn geredet haben, werden kein Ende neh-
men, wenn wir das Übel nicht an der Wurzel packen und
wenn es nicht endlich mehr Sicherheit und Stabilität in
den Regionen gibt, aus denen Menschen flüchten. Das
betrifft den ganzen Krisenbogen, beginnend in Afgha-
nistan bis hin nach Libyen . Die Lage ist schwierig und
verfahren – das ist keine Frage –, gerade in Syrien – viele
von Ihnen haben das angesprochen –, wo der Bürgerkrieg
im fünften Jahr ist, was bislang zu 12 Millionen Flücht-
lingen und Vertriebenen sowie mehr als 250 000 Toten
geführt hat . Genauso schwierig ist die Lage in Libyen,
wo die staatliche Funktionsfähigkeit völlig zerstört ist .
An weiteren Beispielen fehlt es leider nicht .

Die Lage ist schwierig . Trotzdem weigere ich mich
gleichzeitig, anzunehmen, dass alle außenpolitischen
Bemühungen aussichtslos oder vergeblich sind. Ich fin-
de – Frau Merkel, Sie haben das heute Morgen angespro-
chen –, gerade das Beispiel Iran zeigt, dass man selbst
über zehn Jahre nicht die Geduld und vor allen Dingen
nicht die Beharrlichkeit verlieren darf . Man braucht ein
Fenster der Geschichte, in dem nicht neue Vorschläge
plötzlich die Wende bringen, sondern in dem veränderte
Interessenkonstellationen in Zusammenhang mit schon
auf dem Tisch liegenden Vorschlägen ein Abkommen
wie das mit dem Iran ermöglichen . Dieses Abkommen
schließt nicht nur den Griff des Iran nach der Atombom-
be dauerhaft und nachprüfbar aus . Vielmehr weise ich
darauf hin, dass dieses Abkommen, wenn es gut geht,
eine völlig neue Perspektive in die Gesamtarchitektur
des Mittleren Ostens und in die Verhältnisse der dortigen
Staaten zueinander bringen kann .

Als wir in Wien die Unterschrift unter das Abkommen
setzen konnten, habe ich gesagt: Mit dieser Unterschrift
endet nicht die Verantwortung der E3+3 bzw . der Fünf-
plus-eins-Staaten . Das Wiener Abkommen ist nicht das
Ende unserer Diplomatie, sondern im Grunde genommen
erst der Anfang .

Ich bitte, in diesem Sinne meine erste Reise in den
Iran, die gerade vorbereitet wird, zu verstehen . Auf die-
ser Reise geht es nicht darum, irgendetwas abzufeiern .
Sie dient vielmehr der Prüfung, ob der Iran bereit ist,
eine neue verantwortliche Rolle in dieser friedlosen Re-
gion des Mittleren Ostens tatsächlich anzunehmen und
Verantwortung zu übernehmen . Entscheidend ist: Es
muss sich zeigen, ob das Modell, das geholfen hat, den
Iran-Konflikt zu lösen, tauglich ist, einen der nächsten
größeren Konfliktherde anzugehen.

Ohne allzu optimistisch zu sein, bin ich, ehrlich ge-
sagt, der Meinung, dass die letzten Entwicklungen in
Libyen die kleine Hoffnung begründen, dass wir doch
einen Schritt weitergekommen sind . Wir in Deutschland

dürfen ein bisschen stolz darauf sein, dass wir Gehhilfe
auf dem letzten Wegstück leisten konnten, indem wir die
verfeindeten Konfliktparteien aus Libyen – Sie dürfen
nicht vergessen, dass diese noch nie an einem Tisch ge-
sessen hatten – nach Berlin eingeladen und anderthalb
Tage mit ihnen gesprochen und verhandelt haben .

Ich glaube, wir sind gerade hier in Berlin natürlich
dank der unermüdlichen Arbeit des EU-Sonderbeauf-
tragten Bernardino León ein entscheidendes Stück wei-
tergekommen. Wir haben den Konfliktparteien hier in
Berlin immer wieder gesagt: Nur wenn ihr mithelft – am
Anfang muss eine Regierung der nationalen Einheit ste-
hen –, diesen zerstörten Staat mit erodierenden admi-
nistrativen Strukturen, mit gegeneinander kämpfenden
Milizen – manche sprechen von Hunderten – wieder auf-
zubauen, dann haben auch wir, Deutsche und Europäer,
einen Ansatzpunkt, diesen Aufbauprozess tatsächlich zu
unterstützen und funktionierende Staatlichkeit langsam
wieder aufzubauen .

Ich glaube, dass wir ein Stück vorangekommen sind .
Ich würde mich wirklich freuen, wenn wir es innerhalb
der nächsten vier Wochen zustande brächten, trotz dieser
völlig zerfahrenen, völlig verworrenen Lage, in der täglich
viele sterben und über die nur wenig berichtet wird, we-
nigstens den Rumpf dieser Regierung der nationalen Ein-
heit aufzustellen . Ich spreche über Libyen, und ich müsste
eigentlich viel mehr zu Syrien sagen, zu einem Land, bei
dem wir ja nicht nur aus politischen, sondern mit Blick auf
die Zahlen, die ich vorher genannt habe, auch aus morali-
schen Gründen verpflichtet sind und in der Verantwortung
stehen, dem Morden dort ein Ende zu setzen .

Bei Syrien ist die Lage eigentlich nicht anders als bei
Libyen . Eigentlich schafft das Abkommen mit dem Iran
hier auch eine Chance . Wenn sich der Iran aus der Rolle
zurückziehen würde, Konfliktparteien finanziell und mit
Waffen zu unterstützen, und andere es gleichtäten, dann
eröffnete sich zum ersten Mal eine Chance, auch in Syri-
en weiterzukommen .

Der Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen Staf-
fan de Mistura, mit dem ich heute Morgen telefoniert
habe, hat in Genf und an anderen Stellen 42 Gespräche
mit unterschiedlichen Parteien geführt, um zu sondieren,
wo der kleinste gemeinsame Nenner liegt, von dem aus
man die Plattform zimmert, auf der der gemeinsame Weg
Richtung Entschärfung des Konfliktes und dann nach
und nach hin zu politischen Lösungen möglich ist . Wir
sind nicht weit; aber wir waren noch nie so weit wie im
Augenblick . Deshalb sehe ich, ganz ehrlich gesagt, mit
einiger Bestürzung die Nachrichten der letzten Tage: dass
Großbritannien, dass Frankreich sich stärker militärisch
engagieren werden und dass vor allen Dingen Russland,
so sagen jedenfalls die Pressemeldungen, im Augenblick
dabei ist, mehr Militärmaterial nach Syrien zu schaffen
als in der Vergangenheit, mit welchem Zweck auch im-
mer .

Ich habe gestern mit dem amerikanischen Außenmi-
nister gesprochen; ich werde heute mit dem russischen
Außenminister sprechen . Es kann nicht sein, dass in
dieser Situation, in der wir vielleicht zum ersten Mal ei-
nen Ansatzpunkt haben, mit dem Syrien-Konflikt anders

Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier






(A) (C)



(B) (D)


umzugehen, wichtige Partner, die wir brauchen, auf die
militärische Karte setzen und Verhandlungslösungen, die
zum ersten Mal möglich sind, zerstören .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg . Stefan Liebich [DIE LINKE])


Dieser Syrien-Konflikt ist wirklich eine Geschichte der
ausgelassenen Chancen, die ich jetzt nicht referieren will .
Aber ich sage noch einmal: Aus politischen und morali-
schen Gründen dürfen wir diese Chance nicht auslassen .

Letzter Punkt: Ukraine-Krise . Auch hier könnte ich
sagen: Das Minsker Abkommen, über das wir Stunden
und Tage verhandelt haben, ist auch nicht das Ende von
Diplomatie, sondern der Anfang von etwas Neuem, der
Anfang von Verantwortung . Wenn der Waffenstillstand
offensichtlich gebrochen wird – vorletzte Woche gab es
entsprechende Bilder in den Medien –, wenn es zu unser
aller Bedauern wieder zu Toten und Verletzten kommt,
dann kann ich verstehen, wenn angesichts der damit ver-
bundenen Bilder viele sagen und schreiben: Minsk ist
zu Ende . Noch einmal: Ich kann das verstehen . Aber ich
kann es nicht wiederholen; denn meine Aufgabe ist nicht,
einen Konflikt zu beschreiben, sondern meine Aufgabe
besteht darin, einen Zustand, der außer Kontrolle gerät,
möglichst wieder unter Kontrolle zu bringen .

Wir haben deshalb sozusagen nicht eingestimmt in
den Versuch, Minsk als gescheitert zu erklären, sondern
wir haben schlicht und einfach mit den Beteiligten inten-
siv gesprochen, sie gemahnt und gedrängt, Einfluss zu
nehmen und die Gewaltsamkeit wieder zurückzuführen .
Ich habe mit den Außenministern gesprochen, Frau Bun-
deskanzlerin mit ihren Kollegen .

Jetzt mag man sagen: Was sind das schon für Instru-
mente? Aber immerhin: Seit dem 1 . September haben
wir einen Waffenstillstand, der weitgehend respektiert
wird . Deshalb sage ich: Das Scheitern ist leicht erklärt .
Nur, ich rate aus eigener Erfahrung dazu, Instrumente
nicht für gescheitert zu erklären, solange man keine an-
deren in der Hand hat . Deshalb sage ich für die Bundes-
regierung: Wir werden auf diesem Weg weiterarbeiten .


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg . Stefan Liebich [DIE LINKE])


Ich darf Ihnen ganz herzlich danken, meine Damen
und Herren, und bitte Sie mit Blick auf ein Jahr, das vor
uns liegt und nicht einfacher werden wird, um Zustim-
mung zu unserem Haushalt .

Ganz herzlichen Dank .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1812004000

Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt der Kollege

Michael Leutert .


(Beifall bei der LINKEN)



Michael Leutert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1812004100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrter Herr Minister, der Haushaltsvorschlag, den
Sie vorgelegt haben, ist leider nicht ausreichend . Er ist
keine angemessene Antwort auf die vor uns liegenden
Probleme . Damit meine ich im Übrigen nicht bloß die
finanzielle Ausstattung des Auswärtigen Amts, sondern
ich meine auch die inhaltliche Dimension . Es fehlen ein-
fach die Konzepte hinter den Zahlen .

Wir haben – Sie haben das alles angesprochen – noch
immer die Ukraine-Krise . Wir haben Krieg in Syrien .
Wir haben Krieg im Irak, in Libyen . In Afghanistan herr-
schen katastrophale Zustände . Die vielen destabilisierten
Staaten in Afrika sind zu nennen . Diese Krisenherde sind
der Grund für die enorme Flüchtlingsbewegung, die wir
derzeit erleben .

Aber Antworten darauf, wie wir mit diesen Krisen
umgehen wollen, kann man in diesem Haushalt nicht
finden. Was sind die Konzepte des Auswärtigen Amts zu
diesen Krisen? Mit welchen Instrumenten wollen wir die
Not der Flüchtlinge lindern? Welche Idee hat die Bun-
desregierung zur Beendigung des Bürgerkriegs in Syrien
und des Terrors im Irak? Wie geht es eigentlich weiter
mit Afghanistan?

Herr Minister, ich weiß, Sie sind unermüdlich und mit
vollem Einsatz an den meisten Brennpunkten der Welt .
Aber Sie sind immer nur als Feuerwehr im Einsatz . Wenn
wir hier 4,3 Milliarden Euro beschließen sollen, dann
müssen wir schon wissen, mit welchen Konzepten Sie
die Krisen lösen oder wenigstens eindämmen wollen .

Vor einem Jahr haben wir hier den Haushalt 2015
beraten . Wir alle haben damals betont, dass die vielen
Konflikte in der Welt, mit denen wir konfrontiert sind,
nicht irgendwo weit weg sind, sondern dass sie direkt
vor unserer Haustür stattfinden, nicht weit entfernt von
den Stränden, an denen auch deutsche Touristen so gern
Urlaub machen . Niemand wäre damals auf die Idee ge-
kommen, dass sich die Lage so dramatisch zuspitzt, wie
wir es heute erleben . Heute haben sich die Menschen aus
diesen Krisengebieten zu Tausenden als Flüchtlinge auf
den Weg gemacht und sind jetzt bei uns, auch in unserem
Alltag, angekommen .

Liebe Kolleginnen und Kollegen, spätestens seit letz-
ter Woche Mittwoch hat das unendliche Leid dieser Men-
schen auch einen Namen und ein Gesicht . Es ist Aylan
Kurdi . Der kleine dreijährige kurdische Junge aus Koba-
ne lag an einem der Strände, wo normalerweise Touris-
ten sind – ertrunken, gemeinsam ertrunken mit seinem
fünfjährigen Bruder und seiner Mutter . Das Bild, welches
von diesem kleinen leblosen Körper um die Welt ging, ist
so unfassbar grausam, dass es einen nicht einfach kalt-
lassen kann. Ich finde, wir sollten alles dafür tun, dass
solche Bilder nicht mehr entstehen können .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg . Dr . Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Aus diesem Grund müssen wir jetzt anfangen, grund-
legend umzudenken . Wir müssen jetzt anfangen, andere
Schwerpunkte zu setzen, und wir müssen jetzt auch an-

Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier






(A) (C)



(B) (D)


fangen, unmenschlichen Worten und Taten entgegenzu-
treten .

Ich weiß, wir stehen in Europa vor schwierigen Auf-
gaben und dürfen kein Öl ins Feuer gießen . Aber wenn
ich, das Bild von dem Jungen vor Augen, aus Ungarn
Sätze höre wie „Das sind keine Flüchtlinge; das ist eine
Invasion“, dann macht mich das wütend . Wenn ich höre,
dass Orban überlegt, die Armee gegen Flüchtlinge einzu-
setzen, dann macht mich das nicht nur wütend, sondern
auch ratlos . Was will er denn tun? Auf Flüchtlingsfamili-
en schießen lassen?

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das sind Worte und
Gedanken, die im Europa des 21 . Jahrhunderts nichts
verloren haben .


(Beifall bei der LINKEN)


Herr Außenminister, ich bitte Sie dringend, das so deut-
lich gegenüber der ungarischen Regierung zu formulie-
ren und dem im Zweifelsfall auch Taten folgen zu lassen .

Wenn der sozialdemokratische Ministerpräsident der
Slowakei meint, sein Land hätte die humanitäre Kata-
strophe nicht zu verantworten, weil sein Land in den
Staaten keinen Krieg geführt hätte, weshalb es keine
Verantwortung für die Flüchtlinge übernehmen müsste,
dann ist das unterirdisch . Ich bitte Sie, ihn freundschaft-
lich daran zu erinnern, dass die Slowakei sehr wohl mit
Soldaten an der Koalition der Willigen beteiligt gewe-
sen ist, als in den Irak einmarschiert wurde . Und wenn
Tschechiens Präsident sagt, man hätte die Flüchtlinge
nicht eingeladen, dann ist das an Zynismus nicht mehr
zu überbieten . Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist
geistige Brandstiftung, die den europäischen Gedanken
nachhaltig beschädigt . Dem müssen Sie, Herr Minister,
und wir alle mit aller Kraft entgegentreten .


(Beifall bei der LINKEN)


Europa muss eine solidarische Gemeinschaft sein .
Das ist klar . Aber Solidarität ist keine Einbahnstraße .
Wenn wir uns in der Europäischen Union untereinander
noch nicht einmal über solch simple Dinge wie beispiels-
weise die Flüchtlingsfrage einigen können: Wie wollen
wir dann eine Abstimmung mit Russland zu noch viel
schwierigeren Fragen bewerkstelligen? Auch zur Lösung
des Syrien-Konfliktes – Sie haben es angesprochen –
werden wir Russland brauchen . Putin unterstützt, so die
Pressemeldungen, derzeit in aller Ruhe militärisch das
Assad-Regime, also den Hauptverantwortlichen für diese
Katastrophe . Nur weil vor vier Jahren Jugendliche Paro-
len gegen sein Regime an Hauswände gesprüht haben,
hat Assad sein Land in Not und Elend gebombt . Jetzt sind
von 21 Millionen Syrer 12 Millionen auf der Flucht .

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist nur ein klei-
ner Ausschnitt der Realität, dem sich unsere Außenpoli-
tik heute stellen muss . Sie haben es selbst angesprochen,
Herr Minister, und dafür bin ich Ihnen sehr dankbar: Das
Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, UNHCR,
ist derzeit an seiner Belastungsgrenze angelangt . Wir
müssen das UNHCR als zentralen Akteur stärken und mit
den notwendigen Mitteln ausstatten .

Aber nicht nur das: Ich würde mich sehr freuen, wenn
sich Deutschland endlich auch mit einer verbindlichen
Quote dauerhaft am Resettlement-Programm des UNHCR
beteiligen würde . In diesem Programm werden besonders
schutzbedürftige Flüchtlinge, zum Beispiel Familien mit
Kindern, die auch in ihrem Fluchtland keine Perspektive
mehr haben, in dem jeweiligen Programmland aufgenom-
men . Wir könnten uns jährlich mit 7,2 Prozent – das ist die
Prozentzahl, mit der wir uns normalerweise an UN-Frie-
denseinsätzen finanziell beteiligen – am Resettlement-Pro-
gramm beteiligen und Plätze zur Verfügung stellen . Der-
zeit verfügt UNHCR nur über 80 000 Plätze . Der Bedarf
liegt allerdings bei 800 000 Plätzen . So, liebe Kollegin-
nen und Kollegen, lieber Herr Minister, könnte Deutsch-
land international mit gutem Beispiel vorangehen, und so
könnten wir auch mehr Verantwortung auf internationaler
Ebene übernehmen .


(Beifall bei der LINKEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1812004200

Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Dr . Franz

Josef Jung .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1812004300

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, es ist
zutreffend, dass die Situation der Flüchtlinge nicht nur
eine humanitäre Antwort, nicht nur eine innenpolitische
Antwort von Bund, Ländern und Gemeinden erforderlich
macht, sondern dass sie auch eine Herausforderung für
die Außenpolitik darstellt . Der Außenminister hat auf ein
paar Akzente hingewiesen . Ich möchte das noch einmal
unterstreichen, auch und gerade im Hinblick auf die eu-
ropäische Situation .

Meine Damen und Herren, es ist meine felsenfeste
Überzeugung, dass Europa auch in Zukunft seinen Bei-
trag zur friedlichen Entwicklung nur leisten kann, wenn
wir auch in schwierigen Zeiten zusammenstehen und
keine einseitige Lastenverteilung vorgenommen wird .
Europa hat zusammengestanden bei der Bewältigung der
Finanzkrise und im Hinblick auf die Ostukraine, als es
um Sanktionen ging. Ich finde, Europa muss auch jetzt
zusammenstehen, wenn es darum geht, die Bewältigung
der Flüchtlingssituation in Deutschland zu meistern .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, aber auch bei der Bewäl-
tigung der Fluchtursachen ist eine weitere europäische
Komponente gefordert .

Zu Recht – die Bundeskanzlerin hat heute Morgen dem
Außenminister dafür gedankt – ist auf die Initiative E3+3
und insbesondere auf das deutsche Engagement hingewie-
sen worden, als es darum ging, dazu beizutragen, dass es
im Iran nicht zu einer atomaren Bewaffnung kommt .

Meine Damen und Herren, wir sollten eine solche Initi-
ative auch mit Blick auf Syrien vorantreiben . Wir brauchen
eine Perspektive, dass dieser Krieg in Syrien endlich been-
det wird und dass es wieder zu einer friedlichen Entwick-

Michael Leutert






(A) (C)



(B) (D)


lung kommt . Es gibt Signale; sie gehen nicht nur vom Si-
cherheitsrat aus, sondern auch von Russland und vom Iran .
Ich kann nur unterstreichen, dass wir alle Bemühungen
darauf ausrichten müssen, dass es in Syrien möglichst bald
zu einer Beendigung der kriegerischen Auseinandersetzung
und zu einer friedlichen Entwicklung kommt . Dies ist ein
entscheidender Beitrag, Fluchtursachen zu verhindern .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, ich denke, es ist notwendig
und richtig, dass wir selbst aktiv sind . Wir müssen aber auch
den UN-Beauftragten Bernardino León unterstützen, wenn
es um Libyen geht . Wenn es darum geht, Fluchtursachen zu
beseitigen, ist es meines Erachtens entscheidend, für eine
Entwicklung in Libyen hin zur Stabilität zu sorgen .

Libyen ist als Failing State zurzeit eine der Hauptur-
sachen für die Schleuserkriminalität im Mittelmeerraum .
Deshalb ist es sinnvoll und notwendig, alle Anstrengungen
zu unternehmen, um diese kriminellen Aktivitäten, diesen
brutalen Menschenhandel, der von libyscher Seite ausgeht,
zu unterbinden und gegebenenfalls mit neuen Maßnahmen
wie EUNAVFOR MED aktiv zu werden . Ich glaube, wir
sind es den Menschen schuldig, alles zu unternehmen, eine
derartige kriminelle verbrecherische Schleuseraktivität im
Mittelmeer zukünftig zu verhindern .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wenn wir über Fluchtursachen sprechen, müssen wir
natürlich auch einen vernetzten Ansatz im Blick haben .
Dazu gehört natürlich auch eine entwicklungspolitische
Komponente im Hinblick auf die Rückführung von
Flüchtlingen, wenn sich beispielsweise Staaten weigern,
die Menschen wieder aufzunehmen .


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1812004400

Herr Kollege Dr . Jung, gestatten Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Liebich?


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1812004500

Bitte sehr .


Stefan Liebich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1812004600

Herr Jung, vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen .

Sie haben vorhin über die Mission gesprochen, die die
Europäische Union verabredet hat, um gegen die soge-
nannten Schlepper militärisch vorzugehen . Stimmen Sie
mir nicht zu, dass das, solange es keine legalen Wege für
die Flüchtenden nach Europa gibt, ein Kampf ist, der nie
gewonnen werden kann? Solange die Grenzen geschlos-
sen sind, wird es immer wieder Menschen geben, die
versuchen, auf anderen Wegen hierherzukommen . Das
heißt, der Einsatz von Soldaten dagegen ist nicht nur äu-
ßerst riskant, sondern auch im Ergebnis zwecklos .


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1812004700

Ich halte es für richtig und notwendig, dass unsere

Bundeswehr Menschen im Mittelmeer rettet, damit das
Mittelmeer nicht zum Friedhof wird .


(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das war nicht die Frage!)


– Ich komme auf Ihre Frage noch zu sprechen .

Für umso wichtiger erachte ich es allerdings, dass ge-
gen diese verbrecherischen Schleuser wirkungsvoll vor-
gegangen wird . Was dort betrieben wird, ist Menschen-
handel mit Inkaufnahme von Todesfolge . Die Menschen
in solche Nussschalen zu setzen und letztlich auch dem
Risiko des Todes auszusetzen, halte ich für unverant-
wortlich .

Dagegen wirkungsvoll vorzugehen, gegebenenfalls
auch mit militärischer Unterstützung, halte ich im In-
teresse der Humanität und im Interesse der betroffenen
Menschen für sinnvoll und notwendig .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1812004800

Herr Kollege Dr . Jung, auch die Kollegin Hänsel würde
gerne eine Zwischenfrage stellen .


(Zurufe von der CDU/CSU: Och nö!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1812004900

Eine lasse ich noch zu .


Heike Hänsel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1812005000

Herr Dr . Jung, vielen Dank, dass Sie auch meine Frage

zulassen . Ich möchte noch einmal nachhaken . Sie spra-
chen davon, Schlepperbanden würden unter Inkaufnah-
me des Todes ihr Geld machen . Wie bewerten Sie dann
eigentlich Rüstungsexporte? Ich habe das heute Morgen
schon thematisiert . Wie bewerten Sie deutsche Rüstungs-
exporte in die Krisengebiete dieser Welt, wo auch unter
Inkaufnahme des Todes Geschäfte gemacht werden? Ist
das weniger verbrecherisch?


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1812005100

Frau Kollegin, ich habe eben zum Thema Libyen, zur

Frage des Failing State und zur Frage der Bekämpfung
der verbrecherischen Schleuserkriminalität gesprochen .
Das hat mit dem Thema Rüstungsexporte nun wahrlich
gar nichts zu tun . Wir sollten uns darauf konzentrieren,
gegen diese verbrecherischen Aktivitäten aktiv vorzuge-
hen, die teilweise mehr Geld einbringen als der Drogen-
handel und die Menschenleben vernichten . Die Schleu-
ser nehmen dabei in Kauf, dass die Menschen in diesen
Nussschalen im Mittelmeer dem Tod ausgesetzt sind .
Deshalb halte ich die Mission EUNAVFOR Med, die
jetzt geplant ist, für sinnvoll und notwendig .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Da 40 Prozent der Flüchtlinge aus dem Westbalkan
kommen, müssen wir weiterhin dafür sorgen, dass sich
die Lage in dieser Region stabilisiert . Wir müssen außer-
dem für eine wirtschaftliche und auch für eine europä-
ische Perspektive sorgen . Auch das hat etwas mit dem
Thema „Beseitigung von Fluchtursachen“ zu tun .

Lassen Sie mich einen letzten Punkt ansprechen . Ich
denke, auch der Kampf gegen den ISIS-Terror hat etwas
mit dieser Frage zu tun . Wenn die Menschen, die vor

Dr. Franz Josef Jung






(A) (C)



(B) (D)


dem ISIS-Terror fliehen, keine Perspektive mehr haben
und keine Möglichkeit mehr sehen, aus den Flüchtlings-
lagern in ihre Heimat zurückzukehren, dann werden sie
sich auch weiterhin für die Flucht nach Europa entschei-
den . Deshalb ist es notwendig und sinnvoll, dass wir den
Kampf gegen den ISIS-Terror entsprechend unterstützen .

Die einzelnen Maßnahmen, die aus der Luft erfolgen,
mögen okay sein . Ich bin aber der felsenfesten Überzeu-
gung, dass es am wirkungsvollsten ist, vom Boden aus
gegen die ISIS-Terroristen vorzugehen . Es ist deshalb
sinnvoll, dass wir die Peschmerga unterstützen und Aus-
bildungsmaßnahmen im Irak ergreifen . Auf diese Weise
leisten wir einen Beitrag dazu, dass die Terroristen zu-
rückgedrängt werden und die Menschen wieder die Per-
spektive haben, in Zukunft in ihre Heimat zurückkehren
zu können .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die der
ISIS-Terror verursacht, erfordern, wie ich finde, unsere
Schutzverantwortung . Gerade letzte Woche hat unser
Fraktionsvorstand ein Gespräch mit dem jordanischen
Außenminister geführt – darauf wurde heute schon hin-
gewiesen –, der deutlich gemacht hat, dass die Muslime
selbst den Kampf gegen die ISIS-Terroristen führen müs-
sen . Ich glaube aber, es ist auch notwendig und sinnvoll,
dass wir sie in diesem Kampf unterstützen und sie aus-
rüsten . Die Bundeswehr hat zudem Einheiten von Jesi-
den, die stark unter dem brutalen ISIS-Terror gelitten ha-
ben, entsprechend ausgebildet . So besteht nun erstmals
die Möglichkeit, dass sich die Jesiden dem Terror wir-
kungsvoll entgegenstellen können . Somit haben sie auch
selbst wieder die Perspektive, friedlich in dieser Region
leben zu können .

Lassen Sie mich noch eines sagen: Ein Soldat der
Bundeswehr, der als Ausbilder im Nordirak eingesetzt
ist, hat es so formuliert – ich zitiere -: Das hier ist das
Sinnvollste, das ich in sieben Auslandseinsätzen bisher
getan habe . – Das zeigt, wie sinnvoll und notwendig es
ist, die Unterstützung von unserer Seite zu leisten, um
dem ISIS-Terror wirkungsvoll entgegenzutreten . Ich
möchte allen Soldatinnen und Soldaten herzlich danken,
die einen Beitrag zur Ausbildung im Irak, zu einem wir-
kungsvollen Entgegentreten gegen den ISIS-Terror und
somit zur Beseitigung von Fluchtursachen leisten .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wenn ich von der Außenpolitik spreche, dann darf ich
natürlich nicht die Situation der Ostukraine auslassen;
der Außenminister hat sie gerade eben angesprochen .
Ich halte es für gut und wichtig, dass in einem Schulter-
schluss mit Frankreich das Minsk-II-Abkommen erreicht
worden ist . Auch wenn es im Februar beschlossen wur-
de und der erste Schritt die Waffenruhe war, müssen wir
leider feststellen, dass diese eben nicht über die gesamte
Zeit eingehalten wurde . Aber seit dem 1 . September gibt
es wieder einen Waffenstillstand, und ich kann nur hof-
fen und wünschen, dass auch die weiteren Schritte erfol-
gen: dass die schweren Waffen abgezogen werden, dass
die Reformmaßnahmen umgesetzt werden und dass die
OSZE die Möglichkeiten zur Kontrolle erhält . Ich glau-

be, es ist notwendig und richtig, dass Russland endlich
mit der Destabilisierung der Ostukraine aufhört .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich denke, dass es auch im Interesse Russlands wäre, zu
einer anderen Politik zurückzukehren, damit wir poten-
ziell wieder zu einer friedlichen Entwicklung in der Uk-
raine insgesamt kommen .

Das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine ver-
pflichtet uns auch im Interesse einer Annäherung an Eu-
ropa, den Reformprozess zu unterstützen . Die beschlosse-
ne Verfassungsreform und die damit im Zusammenhang
notwendige Dezentralisierung sind eine Stärkung der
Demokratie in der Ukraine und zeigen den richtigen
Weg . Deshalb kann man überhaupt kein Verständnis für
gewaltsame Proteste gegen diese Verfassungsreform ha-
ben, bei denen drei Polizisten zu Tode gekommen sind .
Wir müssen deutlich machen, dass wir diesen extremis-
tischen Kräften mit Nachdruck entgegentreten . Sie scha-
den der Ukraine, sie spielen den Destabilisierungsaktivi-
täten Russlands in die Hände, und sie sind kein Beitrag
zu einer positiven Entwicklung in der Ukraine, ganz im
Gegenteil . Deshalb muss diesen Kräften mit Nachdruck
entgegengetreten werden .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich sage auch: Wir haben im Hinblick auf das Assozi-
ierungsabkommen deutlich gemacht, dass sich dies nicht
gegen Russland richtet und dass wir durchaus weiterhin
ein Interesse an normalen Beziehungen zu Russland ha-
ben . In der Frage der internationalen Sicherheit haben
das Iran-Abkommen und das Beispiel Syrien dies deut-
lich gemacht . Es wäre durchaus sinnvoll, insgesamt zu
einer partnerschaftlichen Situation zu kommen .

Damals in der Zeit, als wir noch gemeinsam die Au-
ßen- und Verteidigungspolitik zu vertreten hatten, waren
wir innerhalb der NATO auf dem Weg, die Frage der
partnerschaftlichen Zusammenarbeit innerhalb Europas
voranzubringen . Leider Gottes haben sich die Dinge völ-
lig zerschlagen, aber ich bin der felsenfesten Überzeu-
gung, dass es auch im Interesse Russlands wäre, wieder
zu partnerschaftlichen Beziehungen mit Europa zurück-
zukehren . Dies wäre nicht nur im Hinblick auf die wirt-
schaftliche Situation, sondern auch im Hinblick auf die
Gesamtsituation in Russland zwingend notwendig und
sinnvoll . Deshalb kann ich nur hoffen und wünschen,
dass Russland im eigenen Interesse in Zukunft einen an-
deren Weg einschlägt; denn die Beziehungen zu Europa
sind ein Beitrag zu einer positiven Entwicklung in Russ-
land .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg . Dr . Rolf Mützenich [SPD])


Meine Damen und Herren, lassen Sie mich nur noch
schlagwortartig sagen: Wir haben in diesem Jahr 60 Jah-
re NATO gefeiert . Das unterstreicht unsere transatlanti-
schen Beziehungen . Die transatlantischen Beziehungen
sind weiterhin der Grundpfeiler unserer Außenpolitik .
Wir dürfen nie vergessen, dass die Sicherheitsgarantien
der NATO, aber auch die Sicherheitsgarantien der Ver-
einigten Staaten von Amerika letztlich die Vorausset-

Dr. Franz Josef Jung






(A) (C)



(B) (D)


zungen dafür geschaffen haben, dass wir in diesem Jahr
25 Jahre deutsche Einheit in Frieden und Freiheit feiern
können . Daher sollten wir die transatlantischen Bezie-
hungen weiterhin positiv entwickeln .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, bei aller Unterschiedlich-
keit der Positionen im Einzelnen denke ich, dass die ge-
meinsamen Werte von Freiheit, Demokratie und Rechts-
staatlichkeit uns gemeinsam tragen . Dies sollte sich auch
in Zukunft in den Beziehungen widerspiegeln .

Meine Damen und Herren, wir feiern in diesem Jahr
70 Jahre Vereinte Nationen . Der Außenminister hat eini-
ges zu den Aktivitäten gesagt . Ich will hier sagen: Mit der
Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948
wurde für die Weltgemeinschaft ein verbindliches Wer-
tefundament geschaffen . Der damalige Generalsekretär
Hammarskjöld hat einmal formuliert:

Die Vereinten Nationen wurden nicht gegründet, um
uns in den Himmel zu bringen, sondern um uns vor
der Hölle zu retten .

Wenn man an die aktuelle Situation denkt, kann man das
sehr deutlich nachvollziehen und verstehen .

Seit zehn Jahren gibt es eine Schutzverantwortung
der Vereinten Nationen, die sogenannte Responsibility
to Protect . Deshalb ist es richtig, dass es Friedenssolda-
ten gibt, die ein durchschlagsfähiges Instrument gewor-
den sind . Ich glaube aber, dass wir als Bundesrepublik
Deutschland die Friedenstruppen der Vereinten Nationen
noch stärker unterstützen müssen . Wir belegen zurzeit
Platz 59 von 126 truppenstellenden Nationen, das ist un-
serem Land nicht angemessen .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Hier sollten wir einen weiteren Beitrag leisten, um die
Friedenstruppen der Vereinten Nationen zu unterstützen .

Meine Damen und Herren, im Rahmen dieser Schutz-
verantwortung ist es auch notwendig, zu einer schnel-
leren Reaktionsfähigkeit zu kommen . Deshalb wäre es
sinnvoll, wenn die ständigen Mitglieder des VN-Sicher-
heitsrates bei Abstimmungen über Maßnahmen zur Be-
kämpfung von Völkermord und Verbrechen gegen die
Menschlichkeit auf ihr Vetorecht verzichteten . Denn wir
haben zu oft erlebt, dass es Blockadesituationen gab und
dann nicht entsprechend wirkungsvoll geholfen werden
konnte .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb wäre ein solcher Verzicht auch ein Schritt zu ei-
ner besseren Umsetzung der Menschenrechte .

Ein letzter Punkt, meine Damen und Herren . Seit
50 Jahren unterhalten wir diplomatische Beziehungen zu
Israel . Für uns ist das Existenzrecht Israels ein Ausdruck
unserer Staatsräson . Hier wäre es klug und sinnvoll,
wenn wir in dem Format, das sich bewährt hat, nämlich
E3+3, gemeinsam versuchten, eine Sicherheitsarchitek-

tur für den Nahen Osten zu entwickeln, bei der das Exis-
tenzrecht des Staates Israel im Vordergrund steht .

All das sind Punkte, die letztlich unsere Außenpolitik
prägen . Man darf aber nicht verkennen, dass es die Bür-
gerinnen und Bürger zurzeit als besonders wichtig und
notwendig ansehen, einen Beitrag zur Beseitigung der
Fluchtursachen zu leisten . Deshalb sollten wir alle Akti-
vitäten, gerade im Bereich der Außenpolitik, auf diesen
Bereich konzentrieren . Es ist eine große Herausforde-
rung; aber ich glaube, wenn wir zusammenstehen, kön-
nen wir diese Herausforderung gemeinsam bewältigen .

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1812005200

Nächster Redner ist der Kollege Dr . Frithjof Schmidt,

BÜNDNIS 90/Die Grünen .


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Uns erschüttern die Nachrichten und die Bil-
der zur Situation der Flüchtlinge auf dem Weg zu uns, auf
dem Mittelmeer, auf dem Balkan und auch anderswo . Ein
Satz, den die Außenpolitiker immer wieder parteiüber-
greifend gesagt haben, bestätigt sich jetzt viel dramati-
scher, als die meisten gedacht haben: Wir können und
dürfen die Kriege und Krisen der Welt und insbesondere
in unseren Nachbarregionen nicht ausblenden; denn sie
werden über kurz oder lang buchstäblich nach Europa
kommen .


(Beifall der Abg . Claudia Roth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Genau das passiert jetzt .

Die postkoloniale Ordnung löst sich in großen Teilen
des Nahen Ostens, des nördlichen Afrikas und der Sa-
helzone auf . Die Europäische Union und, ich glaube,
wir alle haben darauf noch keine nachhaltige politische
Antwort gefunden . Sicher ist aber, dass es dafür keine
schnellen Lösungen gibt und wir uns gemeinsam auf die
Suche nach solchen Lösungen machen müssen . Das ist
eine große Aufgabe, und das müssen wir den Menschen
in unserem Land auch so sagen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Diese Herausforderungen werden uns noch lange be-
schäftigen, und wir suchen noch nach Lösungen .

Umso wichtiger ist jetzt schnelle Hilfe für die flüchten-
den Menschen, die auf dem Weg zu uns sind bzw . hier
ankommen . Herr Außenminister, deshalb unterstützen
wir nachdrücklich die Erhöhung des Etats für humanitäre
Hilfe . Wir glauben, dass hier auf lange Sicht noch viel
mehr Mittel benötigt werden, als Sie bisher eingeplant
haben . Ich will Sie daran erinnern, dass Sie diesen Etat
vor einem Jahr um 40 Prozent kürzen wollten . Setzen Sie
den Etat dieses Mal realistischer an . Deswegen schlagen
wir Ihnen vor, hierfür weitere Mittel einzustellen . Es ist

Dr. Franz Josef Jung






(A) (C)



(B) (D)


ja jetzt von weiteren 400 Millionen Euro für Flüchtlinge
die Rede .


(Frank Schwabe [SPD]: Auf einen schon erhöhten Ansatz!)


Sie werden sie brauchen . Unsere Unterstützung dafür
hätten Sie jedenfalls .

Es gibt in diesem Zusammenhang etwas, das Sie
schnell ändern müssen . Es geht um die Möglichkeit, ei-
nen Antrag auf ein Visum zu stellen, um durch Familien-
zusammenführung nach Deutschland zu kommen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Flüchtlinge, die alle Papiere zusammenhaben, müssen
bei unseren Konsulaten und Botschaften auf einen Ter-
min für die Antragstellung teilweise zwischen sechs und
neun Monaten warten . Es geht hier um Tausende Men-
schen, die stranden . Ich glaube, Kolleginnen und Kolle-
gen aus allen Fraktionen kennen solche Härtefälle und
empfinden sie als skandalös.

Nun haben Sie im Nachtragshaushalt 2015 und im
vorliegenden Entwurf für 2016 insgesamt 50 neue Stel-
len beantragt . Das reicht doch in dieser Lage nicht! Ich
frage Sie: Warum erst jetzt, und warum so wenig? Das
müssen Sie zur Chefsache machen und beschleunigen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Es ist wirklich höchste Zeit dafür .

Liebe Kolleginnen und Kollegen, alle sprechen jetzt
darüber, dass es darum gehen muss, Fluchtursachen zu
beseitigen . Dazu müssen in der Außenpolitik die Kon-
fliktprävention und die Entwicklungspolitik Hand in
Hand gehen . Das muss der Außenminister zu seiner Sa-
che machen .

Gestatten Sie mir hierzu zwei Bemerkungen . Es ist
gut, wenn es in diesem Haushalt deutlich mehr Mittel
für die Entwicklungspolitik gibt . Aber es fehlt jede kon-
krete Überlegung, wie das 0,7-Prozent-Ziel bei der Ent-
wicklungsfinanzierung durch Deutschland mittelfristig
erreicht werden soll . Es gibt keinen Aufholplan zur Ein-
haltung unserer internationalen Verpflichtungen im Rah-
men der UNO . Da geht es auch um die Beseitigung von
Fluchtursachen . Da tauchen Sie als Außenminister weg .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Außerdem möchte ich die Politik in Bezug auf die
Waffenexporte ansprechen . Das hat für die Krisenpräven-
tion große Bedeutung . Da werden weiter schwere Fehler
gemacht . Nehmen wir das Beispiel Saudi-Arabien – das
ist von zentraler Bedeutung für den Nahen Osten -: Wir
liefern Waffen, wir bilden immer noch die Polizei der
diktatorischen Monarchen aus, und es gibt von der Bun-
desregierung keine klare Kritik an den Flächenbombar-
dements im Jemen durch Saudi-Arabien .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Im Jemen sind inzwischen weit über 1 Million Menschen
auf der Flucht . Diese deutsche Politik, Herr Außenminis-
ter, darf so nicht fortgesetzt werden .

Natürlich können wir die aktuellen Probleme nicht al-
lein lösen, aber wir sollten in diesen Fragen eine klare
Haltung und eine klare Linie haben . Die vermisse ich bei
der Bundesregierung und bei Ihnen, Herr Außenminister .

Noch ein Wort zur Seenotrettung im Mittelmeer . Es
war ein schwerer Fehler, dass die erfolgreiche italieni-
sche Mission Mare Nostrum nicht von der Europäischen
Union übernommen und fortgeführt wurde; denn sie hat
vielen Menschen das Leben gerettet . Wir haben damals
über eine zweistellige Millionensumme geredet .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es ist gut, dass die Schiffe von EUNAVFOR Med sich
jetzt vor allem an der Seenotrettung beteiligen . Wir begrü-
ßen ausdrücklich, dass die Bundeswehr mit zwei Schif-
fen dabei ist . Wir würden auch ein stärkeres Engagement
bei der Seenotrettung unterstützen . Aber ich halte die
Annahme für falsch, dass eine Militäraktion in den Ge-
wässern vor Libyen oder an Land in diesem Zusammen-
hang etwas Positives bewirken kann . Frau Mogherini
betreibt das ja energisch, und die Bundesregierung sollte
dem eine klare Absage erteilen . Das Flüchtlingsdrama im
Mittelmeer lässt sich nicht militärisch lösen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie der Abg . Dr . Ute Finckh-Krämer [SPD])


Angesichts der dramatischen Lage an den europäi-
schen Außengrenzen treten viele andere Themen in den
Hintergrund . Ich möchte aber noch ein wichtiges Poli-
tikfeld ansprechen . Was die Gespräche über das Transat-
lantische Handels- und Investitionsabkommen betrifft:
Da geht es natürlich auch um eine zentrale Frage unserer
Beziehungen zu den USA . Das fällt auch in Ihr Ressort,
Herr Steinmeier; auch wenn Sie häufig den Anschein
erwecken, als hätten Sie mit dem Thema eigentlich gar
nichts zu schaffen .

Da wird unter der Überschrift „Regulatorische Koope-
ration“ über eine Art Handelsverträglichkeitsprüfung für
jede ordnungspolitische Maßnahme in der EU und den
USA verhandelt . Das kann die systematische Unterord-
nung von Standards unter Handelsinteressen bedeuten .
Die vorgesehenen außergerichtlichen Schiedsgerichts-
verfahren mit wechselseitigen Schadenersatzklagen ge-
gen neue Gesetze würden in der Bevölkerung in Europa
und in den USA eine zerrüttende politische Wirkung für
die transatlantischen Beziehungen haben . Sie sollten da-
rüber einmal mit amerikanischen Gewerkschaftlern und
Gewerkschaftlerinnen reden .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Es ist auch eine außenpolitische Aufgabe, das zu verhin-
dern .

Ich danke für die Aufmerksamkeit .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dr. Frithjof Schmidt






(A) (C)



(B) (D)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1812005300

Der Kollege Niels Annen spricht jetzt für die SPD .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Niels Annen (SPD):
Rede ID: ID1812005400

Vielen Dank, Herr Präsident! -Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Lieber Herr Schmidt, Sie haben,
wie ich denke, zu Recht, die Bekämpfung von Fluchtur-
sachen angesprochen . Sie haben dabei den Außenminis-
ter angesprochen . Ich kann nur sagen: Die Bekämpfung
der Fluchtursachen ist das Ziel der Bundesregierung .
Ich finde, in der Rede von Frank-Walter Steinmeier ist
sehr deutlich geworden, wie mühsam, wie mühevoll,
wie energieintensiv diese Arbeit ist und dass man einen
langen Atem braucht . Aber dass die Bekämpfung der
Fluchtursachen das zentrale Ziel der Regierungspolitik
ist, steht, glaube ich, außer Zweifel .

Wenden wir uns einmal in Richtung Syrien . Schau-
en wir uns an, wie sich die Lage dort darstellt . Natürlich
gibt es in Syrien Regionen, die in den letzten Monaten
und Jahren im Wesentlichen nicht vom Krieg betroffen
waren, in denen heute aber gekämpft wird . Das löst neue
Fluchtbewegungen aus und hat Auswirkungen, und zwar
innerhalb Syriens, aber auch – das erleben wir täglich
in unseren Wahlkreisen – auf die Situation in unserem
Land .

Ich bin sehr dankbar dafür, dass in dieser Debatte
deutlich geworden ist, dass es Entwicklungen gibt, die
wir nicht unmittelbar beeinflussen können. Dafür brau-
chen wir – Stichwort Bekämpfung der Fluchtursachen –
den langen Atem, und den haben wir in dieser Großen
Koalition .

Es gibt aber auch Elemente, die wir direkt beeinflus-
sen können . Deswegen bin ich froh darüber, dass wir in
diesem Hause darüber reden – denn das ist in der Tat ein
Skandal –, dass die Weltgemeinschaft es nicht schafft,
diese wenigen Milliarden zusammenzukratzen, derer
es bedarf, um die Operationen des Welternährungspro-
gramms, des UNHCR und des Palästinensischen Flücht-
lingshilfswerks der Vereinten Nationen auszufinanzieren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich bin in den letzten zwei Jahren mehrfach in diesen
Flüchtlingslagern gewesen . Die Menschen haben sich
nach zwei, drei Jahren Krieg damit abgefunden, dass sie
nicht in wenigen Monaten in ihr Land zurückgehen kön-
nen . Diese Hoffnung gab es ja . Auch viele von uns haben
gedacht, dass Assad relativ schnell stürzen würde und
man das Land dann wieder betreten könnte, um sich eine
Existenz aufzubauen . Wenn man mit diesen Familien ge-
sprochen hat, merkte man, dass sie sich im wahrsten Sin-
ne des Wortes eingerichtet haben – mit der Hilfe der in-
ternationalen Gemeinschaft, auch mithilfe des deutschen
Steuerzahlers . Heute bekommen sie kein Geld mehr . An
wen sollen sie sich eigentlich wenden? Das ist etwas,
was wir mit beeinflussen können. Das spiegelt sich auch
in diesem Etat wider. Ich finde, das ist die eigentliche
Botschaft: Ja, Deutschland übernimmt Verantwortung .

Finanziell beteiligen wir uns stärker, als wir das eigent-
lich müssten, weil das notwendig ist . Deswegen erwartet
dieses Haus – ich denke, das können wir gemeinsam so
festhalten –, dass sich die anderen europäischen Staaten
und weitere Länder an dieser Aufgabe, die bewältigt wer-
den kann, beteiligen. Auch ich finde, dass sich die rei-
chen Golfstaaten einmal die Frage stellen sollten, ob sie
diese wenigen Milliarden Euro nicht aufbringen können,
um die Arbeit der Vereinten Nationen auszufinanzieren.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Als Reaktion auf das Flüchtlingsdrama haben wir in
den letzten Tagen Deklarationen zur Kenntnis genom-
men, auch von engen Verbündeten von uns, die angekün-
digt haben, sich stärker bzw . erstmals an Luftschlägen
gegen ISIS zu beteiligen . Grundsätzlich bin ich der Mei-
nung, dass ein größeres Engagement im Rahmen der An-
ti-IS-Koalition etwas ist, was man begrüßen muss . Wir
werden diesen Konflikt nicht mit diplomatischen Mitteln
allein lösen können . Allein mit Luftangriffen werden wir
diesen Konflikt aber auch nicht beseitigen können. Ich
bin ein bisschen in Sorge, dass der Eindruck entsteht: Wir
schicken ein paar mehr Flugzeuge, werfen Bomben über
von ISIS kontrolliertem Gebiet ab und leisten damit einen
Beitrag zur Bekämpfung der Fluchtsituation . Das kann
sich sehr schnell als Irrtum herausstellen, auch weil ein
Großteil der Menschen, die zu uns nach Europa kommen
oder in eines der Nachbarländer fliehen, nicht unbedingt
nur vor ISIS fliehen, sondern auch vor den Fassbomben,
die Assad jeden Tag einsetzt, vor den Chemiewaffen, die
er einsetzt, vor der Brutalität seiner Sicherheitskräfte .


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Deswegen brauchen wir am Ende eine politische
Entwicklung, die doch nur dazu führen kann, dass alle
Akteure in Syrien selber, aber auch diejenigen, die dort
direkt und indirekt Einfluss nehmen, die Regionalmächte
Saudi-Arabien und der Iran, aber auch unser Verbünde-
ter, die Türkei, die dort bestenfalls eine ambivalente Rol-
le spielt, Russland und die Vereinigten Staaten und auch
wir hier in der Europäischen Union dafür sorgen, dass
keine dieser Kriegsparteien mehr der Illusion erliegt,
den Konflikt militärisch gewinnen zu können. Solange
irgendjemand das noch glaubt, wird dieser Krieg nicht
enden .

Deswegen bin ich dem Außenminister sehr dankbar,
dass er so energisch und engagiert die Vereinten Natio-
nen und den Sonderbeauftragten de Mistura dort unter-
stützt; denn das ist am Ende die einzige Möglichkeit, die
wir haben . Ich glaube, dafür brauchen wir nicht nur die
Unterstützung dieses Hauses, sondern der gesamten Eu-
ropäischen Union und der Weltgemeinschaft .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Lassen Sie mich am Ende meiner Redezeit noch etwas
zur Ukraine sagen . Auch bei uns, in der Öffentlichkeit
und unserer Mediengesellschaft, ist alles sehr kurzlebig .






(A) (C)



(B) (D)


Man hat manchmal den Eindruck, es gibt nur noch ein
Thema . Vor wenigen Monaten gab es nur das Thema
„Beziehungen zu Russland und zur Ukraine“ . Deswegen
will ich die Gelegenheit nutzen, ohne hier Euphorie ver-
breiten zu wollen, noch einmal darauf hinzuweisen, dass
im Gegensatz zu dem, was uns viele aufgeschrieben und
gesagt haben, das Minsker Abkommen weiterhin eine
Grundlage dafür bildet, mit den Konfliktparteien einen
Prozess zu bestreiten, und dass die Diplomatie Erfolge
vorzuweisen hat – nicht die Lösung des Problems, aber
Erfolge vorzuweisen hat: Der Waffenstillstand, der ver-
handelt worden ist, wird weitgehend eingehalten . Es ist
unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass das so weitergeht .

Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass auch die Unter-
stützung für die Kräfte in der Ukraine vernehmlich arti-
kuliert wird, die sich ja – Kollege Jung hat darauf hinge-
wiesen – nicht nur einer erbitterten Opposition, sondern
sogar terroristischer Mittel erwehren müssen . Wir müs-
sen die ukrainische Politik und die Gesellschaft auf die-
sem Weg unterstützen . Die Entscheidungen in der Rada
sind ein ganz wichtiger Schritt in diese Richtung . Auch
da, glaube ich, gibt es eine breite Unterstützung in die-
sem Hause .

In diesem Sinne bedanke ich mich für die Aufmerk-
samkeit und freue mich auf die weiteren Beratungen .
Vielen Dank .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1812005500

Der Kollege Wolfgang Gehrcke spricht jetzt für die

Fraktion Die Linke .


(Beifall bei der LINKEN)



Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1812005600

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich

denke, dass man nüchtern und traurig aussprechen muss,
dass wir heute wieder in Kriegszeiten und nicht in Frie-
denszeiten leben . Wir leben in Zeiten des Krieges . Kurze
Zeit schien es so, als ob man den Krieg endgültig von
unserer Erde verbannen könnte, zumindest von unserem
Kontinent . Kurze Zeit schien es auch so, als könnte man
Atomwaffen wirklich abschaffen . Eine Welt ohne Atom-
waffen! Es war leider nicht so . Das Gegenteil ist der Fall .
Ich spreche es nüchtern aus: Aus meiner Sicht ist heute
das Überleben der Gattung Mensch und unseres Planeten
infrage gestellt . Um nichts weniger geht es bei der Frage,
ob man aus diesen katastrophalen Entwicklungen einen
Ausweg finden kann.


(Beifall bei der LINKEN)


Mir sind dieser Tage immer wieder einige Zeilen von
Bertolt Brecht durch den Kopf gegangen . Ich will sie Ih-
nen nicht ersparen . Brecht schreibt in seinem Gedicht An
die Nachgeborenen:

Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!
. . .
Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist

Weil es ein Schweigen über so viele Untaten ein-
schließt!

Mahnt uns das? Mahnt uns das nicht, Schweigen über
Untaten? Reden wir doch einmal darüber, dass weltweit
60 Millionen Menschen auf der Flucht sind . 60 Milli-
onen weltweit! Reden wir darüber, dass jeden Tag auf
der Erde 57 000 Menschen verhungern . Die Erde wäre
reich genug, um alle ernähren zu können . Reden wir
darüber, dass durch schlechte Wasserversorgung, auch
durch Privatisierungen, jedes Jahr 100 000 Menschen
sterben . Fluchtursachen muss man bekämpfen und nicht
die Flüchtenden .


(Beifall bei der LINKEN)


Wir haben es zu tun mit einem Krieg der Reichen
gegen die Armen dieser Welt . Auch das muss man aus-
sprechen, wenn man über alternative Außenpolitik nach-
denkt .


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Die Kriegstoten, die Flüchtenden, die Verhungernden
sind Opfer einer kannibalischen Weltordnung . Es ist die
Unordnung der Macht des Profits, des Kapitalismus. Ein
Bruch mit der Macht des Kapitalismus, mit der Macht
transnationaler Konzerne ist nötig, wenn die Menschheit
überleben soll .


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Das erfordert auch weltweite Eingriffe in die Eigen-
tumsverhältnisse, in die Verfügungsgewalt über Eigen-
tum, und das erfordert auch eine Unterbindung weltwei-
ter Finanzspekulationen . Das sagt selbst der Papst . Das
ist ja keine linke Erfindung.


(Zuruf des Abg . Dr . Rolf Mützenich [SPD])


Wahrlich, wir leben in finsteren Zeiten, in Kriegszei-
ten, auch in Europa . Europa steckt in seiner schwers-
ten Krise seit Ende des Systemkonflikts. Seitdem war
das Verhältnis EU-Deutschland-Russland noch nie so
schlecht wie heute . Für die Verschärfung der euroatlanti-
schen Großkonflikte, des ukrainischen Konfliktes inklu-
sive der gegenseitigen Drohungen der USA und Russ-
lands mit Atomwaffen trägt auch die deutsche Politik mit
Verantwortung . Sanktionen, Dialogverbote und primitive
antirussische Propaganda sind keine Argumente, sondern
zerstören die Grundlagen von Zusammenarbeit . Auch
das muss hier ausgesprochen werden .


(Beifall bei der LINKEN)


Ich möchte an dieser Stelle mit wirklicher Trauer da-
rauf aufmerksam machen: In seinem letzten Dokument
hat Egon Bahr mit dem Willy-Brandt-Kreis der SPD an
uns alle appelliert, sich auf eine gemeinsame europäische
Friedensordnung zurückzubesinnen . Ich denke, dass man
von der Bundesregierung fordern muss: Macht uns die
Russen nicht zu Feinden . NATO-Manöver und damit
auch deutsche Soldaten an der Westgrenze Russlands,
das ist eine unvorstellbar kaputte Politik . In diesem Jahr
haben bereits 16 solcher Manöver stattgefunden .

Deutschland muss überhaupt aus dem ganzen Kriegs-
getöse aussteigen, denke ich . Hören Sie einmal in die
Friedensbewegung hinein . Sie waren ja früher einmal

Niels Annen






(A) (C)



(B) (D)


sehr eng mit der Friedensbewegung verbunden; lang ist
es her . Die Losung „Deutsche Waffen, deutsches Geld
morden mit in aller Welt“ finde ich begründet und be-
weisbar .


(Beifall bei der LINKEN)


Es sollte für uns eine Schande sein, wenn man zu solch
einer Feststellung kommt .

Syrien, Afghanistan, Irak, Libyen, Jemen, in Euro-
pa der Krieg in Jugoslawien und jetzt in der Ukraine –
in diesen Kriegen haben 350 000 Menschen ihr Leben
verloren . An vielen dieser Kriege war Deutschland di-
rekt oder indirekt beteiligt . Ich möchte wissen, was die
Bundesregierung in der Auseinandersetzung mit dem
NATO-Partner Türkei macht, dem sie ja die Patriot-Ra-
keten vor die Tür gestellt hat, um zu verhindern, dass es
in der Türkei zu einem Bürgerkrieg kommt . Das ist doch
ein Problem, über das auch in der NATO debattiert wer-
den muss und mit dem man sich auseinandersetzen muss .

Herr Außenminister, Herr Steinmeier, Sie haben ein-
mal formuliert, dass Deutschland die Weltpolitik nicht
von der Außenlinie betrachten soll . Meine Überlegung
ist: Besser an der Außenlinie der Weltpolitik stehen blei-
ben, als ein Teil der Kriege dieser Welt zu werden . Das
ist eine andere Politik, und darüber muss man streiten .


(Beifall bei der LINKEN – Manfred Grund [CDU/CSU]: Dazwischen gibt es auch noch anderes!)


Ich sage sehr offen, weil immer wieder darüber speku-
liert wird: Die Außenpolitik der Linken geht nicht mit der
Außenpolitik der SPD und dieser Regierung zusammen .
Dazwischen liegen Welten . Ich bin stolz darauf, dass
Welten dazwischen liegen .


(Dr . Rolf Mützenich [SPD]: Wem sagen Sie das jetzt? – Dr . Tobias Lindner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt ist die Katze aus dem Sack!)


– Ich sage es euch und der Öffentlichkeit, weil ich von
euch erwarte, dass ihr endlich eure Außenpolitik verän-
dert und zu einer Außenpolitik, wie Egon Bahr sie be-
trieben hat, wie andere sie betrieben haben, zurückkehrt .


(Dr . Rolf Mützenich [SPD]: Wollen Sie ihn auch noch vereinnahmen?)


Das wäre vernünftig . Besinnt euch auf Willy Brandt, und
lernt endlich wieder von einer solchen Außenpolitik .


(Beifall bei der LINKEN)


Ich komme zum Schluss . In diesem sehr schönen Ge-
dicht von Bertolt Brecht gibt es einen Rat an uns alle, den
ich bitte zu beherzigen . Brecht schreibt:

Ich wäre gerne auch weise .

In den alten Büchern steht, was weise ist:

Sich aus dem Streit der Welt halten . . .

So weit Brecht . Die deutschen Außenpolitik sollte weise
sein, sich aus dem militärischen Streit der Welt heraus-
halten, nicht aufrüsten und nicht Soldaten in alle Welt
schicken, sondern still und beharrlich für den Frieden

arbeiten . Das wäre eine Grundlage der Zusammenarbeit,
die ich mit ganzem Herzen bejahen würde .

Danke .


(Beifall bei der LINKEN – Dr . Rolf Mützenich [SPD]: Das ist nur selbstgerecht!)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1812005700

Der Kollege Jürgen Hardt spricht jetzt für die CDU/

CSU .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Jürgen Hardt (CDU):
Rede ID: ID1812005800

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Lassen Sie mich zu Beginn meiner Rede als
neuer außenpolitischer Sprecher meiner Fraktion sagen,
dass ich gerne, auch im Namen der Außenpolitiker der
Union, die Tradition meiner Vorgänger fortführe und den
konstruktiven Dialog innerhalb der Koalition, mit der
Regierung, aber natürlich auch mit der Opposition su-
che . Es ist ein echtes Asset der deutschen Außenpolitik,
dass wir in ganz vielen Fragen bzw . in den großen Fra-
gen einen weit über die Parteigrenzen hinausgehenden
Konsens haben . Damit können wir für unser Land, für
unsere Bürgerinnen und Bürger, aber eben auch in der
Weltgemeinschaft mehr erreichen, als wenn wir uns aus
ideologischen Gründen streiten . In diesem Sinne, glaube
ich, sollten wir die Arbeit hier in diesem Hause fortset-
zen . Dass wir den Weltkommunismus in unsere Überle-
gungen zur Lösung der Konflikte auf dieser Erde mögli-
cherweise nicht einbeziehen, Herr Gehrcke, werden Sie
mir nachsehen .


(Beifall bei der CDU/CSU – Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)


Der Beitrag des Weltkommunismus zum Weltfrieden ist
vergleichsweise gering, wenn man ihn allein daran misst,
was die Bundesregierung zu leisten in der Lage ist .


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Es ehrt mich, wenn ich der Vertreter des Weltkommunismus bin!)


Wir sprechen in diesen Tagen viel über die Sympto-
me der Erschütterungen der Welt in Form von Flücht-
lingen, die bei uns anlanden, zu uns kommen und Hilfe
suchen . Wir reden auch über die großartigen Leistungen,
die dabei erbracht werden: von Beamten, von Angestell-
ten, von zivilen Hilfskräften, aber auch von ganz vielen
Ehrenamtlichen . Sache der Außenpolitik ist es, sich den
Ursachen zuzuwenden . Was die Ursachen der Flucht
angeht, sind der IS-Terror, die religiös verbrämte Bewe-
gung IS und alle, die ihr in Zentralafrika, im Norden Af-
rikas und in anderen Ländern der Welt nacheifern, natür-
lich ein entscheidender Punkt . Ich möchte zum deutschen
Beitrag im Kampf gegen den IS nur sagen: Wir leisten
mit unserer Ausrüstungs- und Ausbildungsunterstützung
für die kurdischen Peschmerga im Norden Iraks einen
hervorragenden Beitrag . Er wird allgemein anerkannt . Es
ist auch keine kleine Sache, mit Soldaten dort vor Ort zu
sein und diese Hilfe zu leisten .

Wolfgang Gehrcke






(A) (C)



(B) (D)


Dem einen oder anderen, der darauf hinweist, dass an-
dere Staaten Luftschläge gegen IS-Stellungen, von denen
Bedrohungen für den Irak ausgehen, durchführen, sage
ich: Deutschland fährt gut mit der Maßnahme, die wir
dort ergreifen, nämlich mit der Ausbildungs- und Aus-
rüstungsunterstützung . Für den Fall, dass die Regierung
zu dem Ergebnis kommt, vielleicht mehr tun zu müssen,
wird sich der Bundestag sicherlich offen zeigen, darüber
zu reden . Aber ich denke, dass es bei der Unterstützung
der kurdischen Peschmerga bleiben sollte und dies unser
großer und zentraler Beitrag ist .

Weitere Fluchtursachen, die mittel- und langfristig
anzupacken sind, sind Dürre, Hunger und Armut in der
Welt, ausgelöst durch schlechte Regierungen, aber auch
ausgelöst durch Klimaveränderungen .

Es gibt ein großes Projekt, Herr Außenminister, das
in diesem Jahr nicht nur, aber auch ein außenpoliti-
sches Thema ist: Wir müssen uns bemühen, den Pari-
ser UN-Klimagipfel zu einem Erfolg zu führen . Denn
dann sind wir in der Lage, einen Beitrag zu leisten, die
Fluchtursachen, insbesondere was Afrika angeht, mittel-
und langfristig zurückzudrängen . Ich kann Sie nur un-
terstützen und ermutigen, alles zu tun, um hier zu einem
Erfolg zu kommen . Die Situation sieht ja besser aus, als
es der eine oder andere vielleicht noch vor einem Jahr
erwartet hat .

Auch wenn wir den Bürgerinnen und Bürgern ein Ge-
fühl dafür geben wollen, dass wir mit der außenpoliti-
schen Aufgabe der Bekämpfung der Fluchtursachen ver-
antwortungsvoll umgehen, werden wir ihnen natürlich
nicht für jedes Problem eine Lösung servieren können .
Aber wir können ihnen sagen, nach welchen Prinzipi-
en wir unsere Außenpolitik ausrichten . Ich glaube, das
erste Prinzip, das man nennen muss, lautet: Deutschland
hält sich an Recht und Gesetz im Rahmen der Völker-
gemeinschaft und im Rahmen der Charta der Vereinten
Nationen . Das schließt allerdings auch ein, dass wir an
der Weiterentwicklung der Völkerrechtsordnung und der
Vereinten Nationen aktiv mitwirken . Deutschland ist be-
reit, in einem zu reformierenden UN-Sicherheitsrat Ver-
antwortung zu übernehmen .

Ein Kollege hat es schon angesprochen: Wir würden
uns wünschen, dass es zumindest gelingt, auf der Basis
einer freiwilligen Erklärung von den Vetomächten des
UN-Sicherheitsrates die Zusage zu bekommen, dass sie
ihr Veto dann nicht einlegen, wenn es um Völkermord
und Vertreibung geht, sodass wir die Dinge, die wir in
Bezug auf Syrien erlebt haben – hier sind wir letztlich
vier Jahre lang nicht zu einem Konsens gekommen, was
wir in der Völkergemeinschaft tun können –, für die Zu-
kunft ausschließen .

Wenn es um Recht und Gesetz geht, geht es auch um
Menschenrechte . Ich möchte an dieser Stelle ausdrück-
lich loben, dass sich, wenn es zum Beispiel um verfolg-
te Christen geht, insbesondere der Fraktionsvorsitzende
der CDU/CSU, aber auch viele andere Kollegen für die
Durchsetzung der Menschenrechte überall auf der Welt
einsetzen . Jeder von uns hatte in seiner politischen Arbeit
schon mit diesem Thema zu tun . Für viele war es eine
Motivation, in die Politik einzutreten, sich für die Einhal-

tung der Menschenrechte überall auf der Welt einzuset-
zen . Deswegen, glaube ich, sollten wir das auch deutlich
machen .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das zweite Prinzip . Wir suchen in Deutschland immer
den integrierten Ansatz . Wir scheuen nicht davor zurück,
gegebenenfalls auch zu robusten Mandaten zu greifen –
daran ist der Bundestag ja maßgeblich beteiligt –, aber
wir sehen auch, dass für eine nachhaltige Lösung der
Probleme das Zusammenspiel von zivilen, militärischen,
diplomatischen und sozialen Initiativen unverzichtbar ist
und dass man einen langen Atem braucht .

Mit Blick auf Afghanistan – darüber werden wir in
den nächsten Monaten ja sicherlich auch diskutieren –
haben wir mit der Mission Resolute Support einen am-
bitionierten Plan, aber ich glaube schon, dass wir uns
möglicherweise von dem starren Zeitplan lösen und be-
reit sein sollten, über den bisher vorgegebenen Zeitplan
hinaus in Afghanistan engagiert zu bleiben – auch außer-
halb Kabuls –, weil es eben im Sinne der Nachhaltig-
keit nicht gut wäre, wenn wir dort vorzeitig die Flinte ins
Korn werfen würden . Wir sollten mit unseren Partnern in
der Welt ganz konkret darüber reden, was nach Resolute
Support kommt und wie ein modifiziertes Mandat mög-
licherweise aussieht .

Klar ist aber auch, dass wir das gemeinsam machen .
Wir sind in Afghanistan gemeinsam engagiert . „Gemein-
sam rein, gemeinsam raus“ war immer unser Grundsatz .

Das Dritte ist – darauf habe ich im Zusammenhang mit
Afghanistan eben schon hingewiesen –, dass Deutsch-
land keine außenpolitischen Alleingänge macht, sondern
dass wir uns immer in partnerschaftlichen Organisatio-
nen engagieren .

Wir haben Formate gefunden, in denen Deutschland
massiv und erfolgreich wirkt . Das E3+3-Format ist ein
Beispiel dafür . Ich möchte alle Kolleginnen und Kollegen
ermutigen, auch mit den Kollegen aus Israel darüber zu
reden, dass wir Deutschen der Meinung sind, dass das eine
deutliche Erhöhung der Sicherheit Israels bedeutet, was
für uns Deutsche Staatsräson ist . In den Gesprächen, die
wir mit den israelischen Kolleginnen und Kollegen führen,
sollten wir immer wieder versuchen, sie davon zu über-
zeugen, dass von diesem Abkommen keine Bedrohung für
Israel ausgeht . Das ist mir ein wichtiges Anliegen .

Wir haben zwei Partner, mit denen wir seit Jahrzehn-
ten und für Jahrzehnte eng verbunden sind:

Das ist zum einen die Europäische Union, die sich
gegenwärtig auf den Weg der Erarbeitung einer außen-
und sicherheitspolitischen Strategie begibt . Von vielen
Seiten wird davon nicht viel erwartet . Ich sage: Gerade
mit Blick auf die Flüchtlinge und die Fluchtursachen
haben wir die Chance, auf dem EU-Gipfel im nächsten
Jahr diesbezüglich einen mächtigen Akzent zu sehen und
diejenigen positiv zu überraschen, die sich von der Euro-
päischen Union in diesem Punkt nicht so viel erwarten .

Zum anderen haben wir eine Verbindung zu den Ver-
einigten Staaten von Amerika, die transatlantische Part-

Jürgen Hardt






(A) (C)



(B) (D)


nerschaft . Sie bewährt sich in ganz vielen Feldern . Eines
möchte ich nennen, nämlich den Ukraine-Konflikt. Es
gibt einen ganz engen Schulterschluss Nordamerikas mit
dem, was die Europäer für richtig halten . Sie unterstützen
das, was wir dort tun, und wir sind gemeinsam der Mei-
nung, dass es eine diplomatische Lösung geben muss und
dass das völkerrechtswidrige Handeln Russlands durch
Sanktionen beantwortet werden muss .

Es ist aber mehr als eine Sicherheitspartnerschaft . Es
ist eine Wertepartnerschaft und natürlich auch eine Wirt-
schaftspartnerschaft . Deswegen kommt dem Handelsab-
kommen TTIP eine große Bedeutung zu .

Ich glaube, der Kollege Schmidt hat es eben angespro-
chen: Wenn Gewerkschaften, deren Mitglieder in expor-
tintensivsten Industrieunternehmen arbeiten – zum Bei-
spiel die IG Metall –, undifferenziert gegen ein solches
Handelsabkommen sprechen, dann ist das ein Grad an
Irrationalität, den ich nicht nachvollziehen kann . Es wird
so getan, als seien Verabredungen getroffen worden . Es
gibt aber überhaupt noch keine Vereinbarung . Im Übri-
gen müssen der Deutsche Bundestag und das Europäi-
sche Parlament zustimmen . Ich kann die Gewerkschaften
nur dringend auffordern, im Interesse ihrer Mitglieder die
Chancen dieses Abkommens zu begreifen und sich eben
nicht auf die Seite derer zu schlagen, die aus dumpfem
Antiamerikanismus gegen dieses TTIP-Abkommen sind .


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!)


Ich glaube, dass wir mit diesem Abkommen die große
Chance haben, strategisch weiterzukommen . Wenn wir
unsere Maßstäbe in Bezug auf den fairen Welthandel
durchsetzen, dann ist das besser, als wenn wir uns von
der Entwicklung in der Welt treiben lassen .


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1812005900

Herr Kollege Hardt, gestatten Sie zum Ende Ihrer Re-

dezeit noch eine Zwischenfrage des Kollegen Trittin?


Jürgen Hardt (CDU):
Rede ID: ID1812006000

Ja .


Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1812006100

Herr Kollege Hardt, da Sie Kritiker aus den Gewerk-

schaften, die zum Beispiel die intransparenten Schieds-
verfahren und die regulatorische Kooperation beanstan-
den, mit dem Begriff des „dumpfen Antiamerikanismus“
belegt haben,


(Peter Hintze [CDU/CSU]: Stimmt leider!)


würden Sie diesen Begriff dann auch auf jene Gewerk-
schafter in den USA anwenden, die dieses Abkommen
aus exakt den gleichen Gründen, nämlich aus der Be-
fürchtung heraus, dass im Zusammenhang mit diesem
Abkommen die Demokratie vermindert und Arbeitneh-
merrechte abgebaut werden könnten, ablehnen? Sind die-
se amerikanischen Gewerkschaften auch von „dumpfem
Antiamerikanismus“ geprägt?


(Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Jürgen Hardt (CDU):
Rede ID: ID1812006200

Herr Trittin, Antiamerikanismus bei amerikanischen

Arbeitnehmern habe ich bei meinen Besuchen in Ame-
rika nicht beobachten können . Ich möchte aber dennoch
sagen: Es geht darum, dass wir uns bei diesem Abkom-
men an die konkreten Fakten halten, dass wir vor dem
Hintergrund, dass wir ein solches Abkommen wollen, für
uns, für Europa und für Nordamerika das beste Ergebnis
erlangen . Dabei hilft es überhaupt nicht, Behauptungen
aufzustellen, die nicht belegt und unwahr sind; Stichwort
„Intransparenz von Schiedsverfahren“ .

Ich kenne das Schiedsverfahren, wie es bei CETA vor-
gesehen ist . In diesem Abkommen ist bei diesem Verfah-
ren Transparenz explizit vorgesehen . Sie kennen den Be-
schluss des Europaparlaments, der als Leitplanke für die
Verhandlungen der EU-Kommission dienen soll . Auch in
diesem Beschluss ist bei diesem Verfahren Transparenz
vorgesehen . Ich bitte diejenigen, die TTIP infrage stellen,
anzuerkennen, dass es über bestimmte Dinge, die als ge-
geben in den Raum gestellt werden, längst Klarheit gibt
und dass es kein intransparentes Schiedsverfahren geben
wird . Dass im Übrigen die regulatorische Kooperation
die Rechtsetzungsmöglichkeiten der Parlamente der teil-
nehmenden Staaten nicht außer Kraft setzt, können Sie
im Text zum CETA-Abkommen, bisher nur in der engli-
schen Fassung, nachlesen .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1812006300

Vielen Dank, Herr Kollege Hardt . Damit ist Ihre Re-

dezeit beendet .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Nächster Redner ist der Kollege Dr . Tobias Lindner
für BÜNDNIS 90/Die Grünen .


Dr. Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1812006400

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ihnen, Herr Kolle-
ge Hardt, auch von unserer Seite aus alles Gute in Ihrem
neuen Amt und viel Glück dabei . Wenn Sie die Koopera-
tion der grünen Fraktion bei der Kontrolle der Bundesre-
gierung suchen, dann sind wir dazu gerne bereit .

Ich weiß nicht, ob Sie Zugang zu diesem ominösen
Datenraum in der US-Botschaft haben .


(Jürgen Hardt [CDU/CSU]: Ich bin angemeldet!)


– Sie sind angemeldet! Sehen Sie: Vielleicht können wir
ins Geschäft darüber kommen, was das Thema Transpa-
renz bei gewissen Dokumenten betrifft, und dann eine
ehrliche Debatte über das Freihandelsabkommen TTIP
führen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Lassen Sie mich aber, da wir in einer Haushaltsdebat-
te sind, etwas zum Etatentwurf des Auswärtigen Amtes
sagen . Ja, Herr Minister, es ist richtig, Ihre Ausgaben
steigen erneut um 15 Prozent . Das ist nicht nichts, wenn
man sieht, dass von diesen 670 Millionen Euro, um die

Jürgen Hardt






(A) (C)



(B) (D)


der Etat steigt, 500 Millionen Euro an die Vereinten Na-
tionen gehen . Das ist zwar richtig und notwendig, liebe
Kolleginnen und Kollegen . Aber da wir in dieser Debatte
beispielsweise auch über das UNHCR gesprochen haben,
wird es, denke ich, eine Aufgabe für die Haushaltsbera-
tungen sein, zu schauen, ob an dieser Stelle mehr Mittel
notwendig sind; denn das Geld wäre hier gut angelegt .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das, worüber wir uns gestern in der allgemeinen Fi-
nanzdebatte einig waren, dass dieser Bundeshaushalt wie
kaum ein anderer Haushalt zuvor im Beratungsverfahren
massive Veränderungen erfahren wird, gilt natürlich erst
recht für den Haushalt des Auswärtigen Amtes . Ja, für
die humanitäre Hilfe erhöhen Sie die Mittel signifikant.
Aber gerade in der Außenpolitik sollten Verlässlichkeit,
Verbindlichkeit und Angemessenheit wichtige Maßstäbe
sein . Sie, Herr Steinmeier, haben vorhin, als der Kollege
Schmidt dies erwähnte, noch den Kopf geschüttelt .

Ich habe mir aber die Zahlen gerade bestätigen lassen: Im
Haushaltsentwurf für dieses Jahr, also für 2015, sollten
die Mittel für humanitäre Hilfe erst um 38 Prozent abge-
senkt werden . Zum Glück ist es in den Haushaltsberatun-
gen gelungen, die Mittel doch wieder aufzustocken . Jetzt
wächst dieser Titel wieder . Nun wird es erneut auf das
Parlament ankommen, diese Mittel in einem auskömm-
lichen Bereich weiter aufzustocken, weil wir realisie-
ren, dass sich der Bedarf an humanitärer Hilfe seit 2012
weltweit verdoppelt hat . Deswegen, liebe Kolleginnen
und Kollegen, sagen wir Grüne: Hier muss ein weiterer
Schwerpunkt gesetzt werden . Hier braucht es mehr Geld,
als im Etat vorgesehen ist .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ein zweiter Punkt, bei dem Verlässlichkeit und Ver-
bindlichkeit wichtig sind, betrifft den Bereich der Kri-
senprävention . Ja, die Gelder bleiben bei 95 Millionen
Euro . Ich denke, auch hier sollten wir – zumal beim Koa-
litionsgipfel vom Sonntagabend zum Ausdruck gebracht
wurde, dass hier ein Schwerpunkt gesetzt werden soll –
schauen, ob mehr gemacht werden kann . Denn es geht
nicht nur um Geld, liebe Kolleginnen und Kollegen, es
geht um die Strukturen, die dahinter stehen, um die Men-
schen, die mit diesem Geld dann auch Dinge verrichten
sollen . Da besteht Aufholpotenzial .

Ich will Ihnen ein Beispiel geben . Bisher bewilligen
wir Gelder in diesem Bereich an NGOs bzw . an Dritte,
welche die Projekte ausführen, nur im Jahresrhythmus .
Das führt dazu, dass im Herbst bzw . im November teil-
weise Ortskräfte entlassen werden müssen und dass die
Organisationen ihre Aktivitäten drosseln bzw . herunter-
fahren müssen, bis ein neuer Bundeshaushalt beschlos-
sen wurde . Dann geht wieder alles von vorne los und
muss hochgefahren werden . Dagegen schaffen wir es im
BMZ bereits, solche Bewilligungen für zwei oder auch
mehr Jahre auszusprechen . Ich denke, liebe Kollegin-
nen und Kollegen, an solchen Dingen sollte eine bessere
Krisenprävention Deutschlands nicht scheitern . Darauf
sollten wir bei den Haushaltsberatungen auch ein Augen-
merk richten .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich komme zum letzten Punkt . Sie haben sich beim
Koalitionsgipfel – das habe ich zumindest den Papieren
entnehmen können – darauf geeinigt, die Mittel für Kri-
senprävention um 400 Millionen Euro zu erhöhen . Noch
ist nicht klar, in welche Bereiche genau diese Gelder
fließen werden. Ich habe immer die Auskunft erhalten:
Das ist eine politische Vereinbarung, die wir umsetzen
müssen .

Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns diese
Arbeit verrichten und schauen, wo Bedarfe gestiegen sind .
Lassen Sie uns schauen, wo sich mehr Verantwortung
Deutschlands in der Welt auch im Haushalt niederschlagen
muss . Lassen Sie uns vor allen Dingen die Diskussion füh-
ren, wie dieses Geld – von den Strukturen bzw . Projekten
her – am sinnvollsten ausgegeben werden kann . Wir Grü-
ne werden dazu in den kommenden Wochen unsere Vor-
schläge machen . Wir freuen uns auf Ihre Unterstützung .

Vielen Dank .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1812006500

Nächster Redner ist der Kollege Frank Schwabe für

die SPD .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Frank Schwabe (SPD):
Rede ID: ID1812006600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Auch wenn ich nur ganz wenig Redezeit habe, will ich
zumindest ein Land erwähnen, zu dem sonst kaum je-
mand schaut, das in Deutschland in den letzten Tagen
aber ein bisschen mehr Aufmerksamkeit bekommen hat .
Das ist aber eines der Beispiele, wo nicht alles gut ist,
aber wo es Hoffnung gibt, nämlich Guatemala . Ich bin –
wie andere in diesem Hause auch – relativ häufig in Gu-
atemala unterwegs . Ich hätte nie gedacht, dass wir dort
wieder eine lebendige Zivilgesellschaft erleben können .
Es gab dort jetzt Präsidentschaftswahlen . Aus ihnen wird
wahrscheinlich ein Präsident hervorgehen, mit dem man
auch nicht so richtig viel anfangen kann . Das ist es aber
nicht, was ich meine . In Guatemala gibt es eine lebendi-
ge Zivilgesellschaft . Es gibt dort engagierte junge Men-
schen bzw . Studenten, die friedlich auf die Straße gehen .
Das macht auch Hoffnung für dieses Land in Zentrala-
merika .

Das Spannende, was wir vielleicht aus der schwieri-
gen Debatte der letzten Tage und Wochen dauerhaft mit-
nehmen können, ist das, was die Kanzlerin heute und was
auch Frank-Walter Steinmeier gesagt hat: Wir müssen be-
greifen, dass das, was wir außenpolitisch bzw . entwick-
lungspolitisch machen, etwas mit dem zu tun hat, was
innenpolitisch in Deutschland sowie in anderen Teilen
Europas und der Welt passiert . Auch wenn das hier keine
entwicklungspolitische Debatte ist, wird klar, dass das,
was wir da tun, viel mehr darstellt als Almosen, sondern
das ist eine Entwicklungsfinanzierung im wohlverstan-
denen eigenen Interesse . Und so müssen wir das, glaube
ich, auch in den nächsten Jahren miteinander diskutieren .


(Beifall bei der SPD)


Dr. Tobias Lindner






(A) (C)



(B) (D)


Das, was wir gerade erleben und was – wie ich finde,
leichtfertig – als Völkerwanderung beschrieben wird, ist
keine Völkerwanderung . Ich weiß nicht, was noch alles
kommen mag . Für das aber, was wir gerade erleben, die
Flucht von Menschen, gibt es zwei Gründe . Der eine
Grund ist die hoffnungslose Situation in Südosteuropa .
Hier kann es nur über die Europäische Union gelingen,
den Menschen dort eine Perspektive zu geben . Der an-
dere Grund ist das, was wir gerade in Syrien als Bürger-
krieg erleben, von dem über 20 Millionen Menschen be-
troffen sind und wo viele dieser Menschen im Land und
außerhalb des Landes auf der Flucht sind .

Folgender Satz – er fiel schon heute Morgen – muss
auch gesagt werden: Wie man, wie Herr Straubinger,
auf die Schnapsidee kommen kann, syrische Flüchtlinge
nach Syrien zurückführen zu wollen, ist mir völlig schlei-
erhaft . Obwohl es dort natürlich Gebiete gibt, die befrie-
det sind, ist es auch logistisch vollkommen unmöglich,
Menschen dorthin zurückzuführen . Ich glaube, solche
Debatten sollten wir nicht führen .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dem Problem Syrien kann man sich nur stellen, wenn
es erstens politische Initiativen gibt, von denen der Au-
ßenminister gesprochen hat, und wir zweitens wenigs-
tens dafür sorgen, dass die humanitäre Lage für die
Flüchtlinge einigermaßen erträglich ist . Wir reden über
zurzeit 60 Millionen Flüchtlinge weltweit; davon sind
12 Millionen Syrer . Ich bitte, auch die anderen 48 Milli-
onen Flüchtlinge nicht zu vergessen .

Niels Annen hat es schon gesagt, und ich kann das
nur bestätigen . Ich war vor zwei Wochen im Libanon .
Dort sitzen einem Menschen gegenüber, denen die Nah-
rungsmittelration zum dritten Mal gekürzt worden ist:
auf 13,50 Dollar pro Kopf und pro Monat . Wenn Sie
den Menschen gegenübersitzen, die Ihnen in die Augen
schauen und Sie fragen, was sie tun sollen, dann können
Sie es mit Händen greifen, dass sie nicht nach Syrien zu-
rückkehren können und dass sie, wenn sie meinen, nicht
mehr dort bleiben zu können, nur eine Chance haben,
nämlich sich in Richtung Europa aufzumachen . Deswe-
gen ist es auch in wohlverstandenem eigenem Interesse,
für eine vernünftige Finanzierung der humanitären Hilfe
dort zu sorgen .

In diesem Zusammenhang muss ich sagen, Frithjof
Schmidt: Die humanitäre Hilfe ist aufgestockt worden .
Sie ist in den letzten Jahren zum Glück deutlich aufge-
stockt worden, weil das auch dringend notwendig ist . Wir
haben jetzt einen Aufwuchs von 400 Millionen Euro, von
denen der größte Teil für die humanitäre Hilfe vorgese-
hen ist . Das war dringend notwendig .

Frank-Walter Steinmeier hat es schon gesagt: Wir soll-
ten das von deutscher Seite ein bisschen als Hebel nut-
zen, um andere, auch arabische Staaten, zu motivieren,
Ähnliches zu tun . Dann hat, glaube ich, das Flüchtlings-
paket, wie ich es mal nenne, einen guten Anteil daran,

wie wir Flüchtlinge dazu bewegen können, in ihrer Her-
kunftsregion zu bleiben .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1812006700

Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Detlef Seif .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Detlef Seif (CDU):
Rede ID: ID1812006800

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Prog-

nose von bis zu 800 000 Flüchtlingen, die in diesem Jahr
nach Deutschland kommen und Asyl beantragen könnten,
beruht ganz wesentlich auch auf der bereits diskutierten
Situation in Syrien . Die Hoffnung vieler Syrer auf ein
schnelles Ende des Bürgerkrieges ist in den letzten Mo-
naten endgültig zerstört worden . Die kriegerischen Aus-
einandersetzungen zwischen der Assad-Regierung, Oppo-
sitionellen, der al-Nusra-Front, der Hisbollah-Miliz, ISIS
und anderen – eine völlig undurchsichtige Situation – dau-
ern unvermindert an . Die terroristische ISIS-Organisation
verbreitet sich in der Region quasi wie ein bösartiges Ge-
schwür: in Syrien, Irak und jetzt auch regional in Libyen .

Rund 6 Millionen Syrer sind innerhalb ihres Landes
auf der Flucht, über 4 Millionen außerhalb . Sie sind in
den Nachbarländern Türkei, Jordanien, Libanon, Irak
und Ägypten untergekommen .

Es ist schon angesprochen worden: Der UN-Flücht-
lingskommissar, António Guterres, hat letzte Woche ge-
genüber der Washington Post gesagt: Diese Situation, die
sich zurzeit abzeichnet, ist eine Tragödie, wie wir sie in
diesem Ausmaß in den letzten Jahren nicht erlebt haben .
Weiter sagte er: Was die Unterversorgung der Flüchtlin-
ge angeht, war in den letzten vier Jahren bereits nur die
Hälfte dessen verfügbar, was man eigentlich benötigt
hätte, um die Menschen vor Ort menschenwürdig zu ver-
sorgen .

Wir sollten aber an dieser Stelle sagen: Wenn alle
Mitgliedsländer der Vereinten Nationen einen ähnlichen
Beitrag leisten würden wie die Bundesrepublik Deutsch-
land, dann wäre das Problem behoben . Ich spreche nicht
dagegen, dass wir hier noch draufsatteln können, aber ich
spreche dafür, dass wir das Problem international ange-
hen und auch alle anderen an ihre Verpflichtungen erin-
nern sollten .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg . Dr . Rolf Mützenich [SPD] und Claudia Roth Ganz wesentlicher Bestandteil deutscher Politik, aber auch deutscher Außenpolitik – das hat man früher nicht so gesehen – ist die Bekämpfung von Fluchtursachen . Wenn jede Ursache im Ausland bekämpft wird, kommt uns das menschlich, aber insbesondere auch finanziell zugute. Uns muss viel daran liegen, die prekäre und fragile Lage gerade jetzt in den Nachbarländern Libanon und Jordanien (Claudia Roth DIE GRÜNEN]: Irak!)


(Augsburg) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Frank Schwabe






(A) (C)



(B) (D)


durch massive internationale Unterstützung zu stabili-
sieren . Diesen beiden Staaten müssen wir dankbar sein,
dass sie Flüchtlinge in einem Umfang aufgenommen
haben, der einem Viertel ihrer Bevölkerung entspricht .
Übertragen auf Deutschland bedeutet das – das ist unvor-
stellbar -: Wir müssten 20 Millionen syrische Flüchtlinge
aufnehmen, wenn wir im selben Maße Hilfe leisten woll-
ten . Ganz wichtig ist zudem, dass humanitäre Korridore
und sichere Aufenthaltsorte für die Flüchtlinge in Syrien
und im Irak sowie für den Roten Halbmond und das Rote
Kreuz geschaffen werden .

Zählt man die Hohe Vertreterin für Außen- und Si-
cherheitspolitik mit, dann stellt man fest, dass zurzeit
fünf EU-Kommissare für die Flüchtlingspolitik zustän-
dig sind. Das führt natürlich dazu, dass wir zerfledderte
Zuständigkeiten haben und dass die Arbeit vor Ort nicht
so effektiv ist, wie sie sein sollte . Bundesminister Gerd
Müller hat vorgeschlagen, einen EU-Sonderbeauftragten
zu berufen, der die Handlungsfähigkeit und die Sicht-
barkeit der Europäischen Union beim Umgang mit der
Flüchtlingskrise erhöhen soll . Meine Meinung ist, dass
wir diesen Vorschlag mit allem Nachdruck aufgreifen und
den Minister dabei unterstützen sollten, die EU-Kommis-
sion aufzufordern, unverzüglich einen EU-Sonderbeauf-
tragten für Flüchtlingspolitik zu berufen .

Es ist richtig – darüber haben wir bereits gespro-
chen –, dass auch der Einzelplan 05 einen Aufwuchs von
400 Millionen Euro nicht nur für humanitäre Hilfe, son-
dern auch für Krisenprävention aufweist . Wir können da-
rüber streiten, ob das ausreichend ist . Wir werden sicher-
lich die Entwicklung beobachten müssen, um zu wissen,
ob wir eventuell in einem Nachtragshaushalt nachbes-
sern müssen . Aber an dieser Stelle muss man einräumen:
Es ist ein deutlicher Aufwuchs vorhanden .

Die regionalen Fluchtursachen im Mittleren Osten
kann man nur wirksam bekämpfen, wenn der IS-Ter-
rorismus ausgelöscht wird . Wir sprechen natürlich von
einer politischen Lösung . Aber mit dem IS-Terrorismus
werden wir keine politische Lösung hinbekommen . Um
unser Ziel zu erreichen, ist es ganz wichtig, dass in Sy-
rien, dem Irak und Libyen stabile politische Verhältnis-
se herrschen, dass die Menschenrechte vor Ort beachtet
werden und dass dem Bürgerkrieg ein Ende bereitet wird .
Aber bevor wir das machen können – ob mit oder ohne
Bombardierung –, ist entscheidend, dass alle Beteilig-
ten – außer natürlich ISIS – an der Erreichung des Ziels
mitwirken .

Eine Einigkeit im Sicherheitsrat wird durch Russland
und China blockiert . Auch wenn die bisherigen Friedens-
bemühungen nicht sehr erfolgreich waren, dürfen wir
keine Gelegenheit auslassen, hier jeden Impuls zu setzen,
der möglich ist .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Staffan de Mistura, der EU-Sonderbeauftragte für Sy-
rien, ist unermüdlich dabei – der Kollege Jung hat das
schon erwähnt –, Gespräche zu führen und für eine
Befriedung zu sorgen . Aber zurzeit scheint das Format
nicht gegeben zu sein, das geeignet ist, hier tatsächlich
eine Befriedung herbeizuführen . Gemeinsam mit unse-
rem Kollegen Roderich Kiesewetter, dem Vorsitzenden

des CDU-Bundesfachausschusses „Außenpolitik“, bin
ich der Meinung, dass Deutschland und die Europäische
Union eine von der Region mitverantwortlich getrage-
ne Konferenz initiieren sollten, die, beruhend auf den
Erfahrungen des KSZE-Prozesses, einen auf Nah- und
Mittelost zugeschnittenen Ansatz entwickelt . Die Stärke
des KSZE-Prozesses lag gerade in der Führung vieler
Gespräche in unterschiedlichen Formaten, um so Ver-
trauen aufzubauen . Die Ergebnisse sowie der Verhand-
lungs- und Erfolgsdruck waren dabei zweitrangig . Wir
Deutsche und die anderen Europäer sollten unbedingt
eine Initiative in diese Richtung auf den Weg bringen .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das Asylrecht und das Recht von Flüchtlingen und Men-
schen, die im Bürgerkrieg bedroht sind, stehen nicht zur
Disposition; ich glaube, darin sind wir uns alle in diesem
Haus einig . Die Frage ist nur: Wie kann man zukünftig
sicherstellen, dass die Menschen den Schutz, den sie
suchen, in Europa finden? Das ist auch eine Frage der
Kapazitäten . Deshalb müssen wir darauf achten, dass
diejenigen, die Anträge missbräuchlich stellen, schnellst-
möglich einen rechtsmittelfähigen Bescheid in der Hand
haben und wissen, dass sie wieder zurückgeführt werden .
Das ist gerade im Interesse der Flüchtlinge und der Men-
schen, die bedroht sind, wichtig .

Auf europäischer Ebene ist ein wichtiger Schritt, eine
gemeinsame Liste sicherer Herkunftsländer umzusetzen .
Auch die Hotspots sind ein guter Ansatz . Sie müssten
dann aber in der Zuständigkeit des betroffenen Landes
liegen . Gerade Personen mit offensichtlich unbegrün-
deten Anträgen müssen wissen, dass es sich nicht lohnt,
einzureisen, da man zügig und unverzüglich zurückge-
führt wird .

Die ausschließliche Zuständigkeit eines Landes führt
dazu, dass der Anreiz genommen wird, in andere Mit-
gliedstaaten überzusiedeln . Sie werden jetzt sagen: Na ja,
diese Zuständigkeit haben wir ja schon . Dublin III nennt
man das Ganze . – Aber, meine Damen und Herren, Dub-
lin III ist eine Schönwettervorschrift gewesen . Sie passte
bei geringen Flüchtlingszahlen . Eins zu eins umgesetzt
würde diese Vorschrift für Deutschland bedeuten – Herr
Präsident, ich bemühe mich, gleich zum Schluss zu
kommen –, dass wir 3 000 Flüchtlinge im Jahr hätten,
während Griechenland 300 000 Asylanträge bearbeiten
müsste . Das hat zu Verwerfungen geführt .

Wir können jetzt darüber streiten, eine Solidaritätsde-
batte führen und ein Vertragsverletzungsverfahren ein-
leiten, wie Juncker es will . Viel wichtiger wird es aber
sein, ein neues System auf den Weg zu bringen, das auch
von den Ländern, die zurzeit sehr intensiv belastet sind,
geschultert werden kann – personell, materiell und auch
finanziell. Das muss auf den Tisch gelegt werden. Alle
möglichen Streitigkeiten, Solidaritätsfragen usw . bringen
uns nicht weiter . Wir können anderen vorwerfen, euro-
päisch oder uneuropäisch zu sein, wir werden aber die
Frage, die jetzt ansteht, so nicht lösen können .

Vielen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Detlef Seif






(A) (C)



(B) (D)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1812006900

Vielen Dank, Herr Kollege Seif . – Ich bewundere Ihre

Gabe, im Rücken den Blick der Sitzungsleitung zu er-
spüren .

Abschließender Redner in der Debatte zu diesem
Tagesordnungspunkt ist der Kollege Alois Karl für die
CDU/CSU .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Alois Karl (CSU):
Rede ID: ID1812007000

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen
des Deutschen Bundestages! Wir haben jetzt viele inte-
ressante Reden gehört über die deutsche Außenpolitik,
über ihre Inhalte, über ihre Ziele, über ihre Absichten .

Ich möchte meine Rede mit verschiedenen Danksa-
gungen beginnen, zunächst einmal an Sie, lieber Herr
Kollege Lindner von den Grünen . Sie werden überrascht
sein, dass man sich bei Ihnen bedankt; aber ich sage
trotzdem: Sie haben als Einziger Inhalte des Haushaltes
des Auswärtigen Amtes angesprochen . Sie haben Zahlen
angesprochen, und darum geht es ja; darüber werden wir
uns in den nächsten Monaten unterhalten .

Lieber Herr Außenminister Steinmeier, jetzt füge ich
meinen Dank an Sie an . Es wird vielleicht auch Sie über-
raschen, dass ein CSUler sich bei Ihnen bedankt . Aber es
ist in der Großen Koalition in der Tat nichts Ungewöhnli-
ches, dass wir, die Partner, uns gut gefunden haben .


(Dr . Tobias Lindner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Steinmeier, den Tag müssen Sie im Kalender rot anstreichen!)


Dies ist eine politische Konstellation, die uns in Bayern
durchaus versagt ist . So wie es dort nicht nötig ist, über
Große Koalitionen nachzudenken,


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


so ist es hier angebracht, für die gute Zusammenarbeit
mit Ihnen persönlich, mit Staatsminister Roth, mit der
Kollegin Professor Böhmer und anderen zu danken . Sie
alle haben uns bis dato gute Informationen geliefert . Da-
rauf werden wir in den nächsten Monaten in der Tat auf-
bauen, und wir werden zu guten Ergebnissen kommen .

Meine sehr geehrten Damen und Herren, mit unserem
Haushalt, dem Haushalt des Auswärtigen Amtes, bewe-
gen wir uns in der Tat auf einem spannenden Terrain .
Wir befinden uns sozusagen im Schnittpunkt zwischen
Haushaltspolitik und Außenpolitik, also den Main Points
unserer politischen Gestaltung .

Wir wissen, dass all dies, das, was heute schon vor-
getragen worden ist, und das, was noch hinzukommt,
auch finanziert werden muss. Es ist davon gesprochen
worden, dass wir ein Aufwachsen unseres Haushaltes
von 3,7 Milliarden Euro in diesem Jahr auf 4,4 Milliar-
den Euro im nächsten Jahr sehen . Wenn dann noch die
Zuschläge dazukommen, über die am Sonntag verhandelt
worden ist, dann wird das noch mehr werden .

Allerdings, meine Damen und Herren, ist es kein
Grund zu großer Freude, wenn unsere Haushaltspositio-
nen anwachsen, insbesondere bei der humanitären Hilfe;
denn wir wissen: Wenn die Ansätze für die humanitäre
Hilfe steigen, dann korrespondiert das damit, dass Not,
Elend und Leid in anderen Ecken der Welt herrschen . Wir
reden im Zusammenhang mit unseren Haushaltsansätzen
darüber und versuchen, das einzudämmen .

Das Anwachsen des Haushalts zeigt auch eine gewisse
Verantwortung für andere in der Welt . Wenn irgendwo
heute Konfliktherde sind, räumlich oft weit weg von uns,
wird uns das alsbald einholen . „Heraushalten ist auch
keine Alternative“, hat die Bundeskanzlerin an diesem
Platz einmal gesagt, und recht hat sie .

So ist unser Thema, sehr geehrter Herr Außenminister,
die verantwortungsvolle Außenpolitik . Es gilt, Außenpo-
litik in Verantwortung zu betreiben für Deutschland, für
Europa, zusammen mit den europäischen Ländern und
den USA .

Außenpolitik werden wir nicht isoliert sehen kön-
nen; denn sehr bald holen uns außenpolitische Konflikte
auch in der Innenpolitik ein . Die Wanderungsbewegun-
gen sind von fast allen Rednern angesprochen worden .
60 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht, ha-
ben wir gehört . Seien wir ehrlich: Nur ein kleinerer Teil
kommt nach Europa; Europa hat nur einen kleineren Teil
dieser weltweit so beachtenswerten und beängstigenden
Entwicklung zu schultern . Es ist richtig, was Sie, Herr
Außenminister, gesagt haben und was du, lieber Franz
Josef Jung, gesagt hat: dass es in der Tat eine europäische
Aufgabe ist, dieses Problem anzugehen und dieses Prob-
lem zu schultern .

Viktor Orban hat gewiss nicht recht, wenn er sagt, das
sei ein deutsches Problem . Wir machen unseren Job, in
den letzten Wochen und in den letzten Tagen in außer-
ordentlichem Engagement und mit außerordentlicher
Hingabe . Wir erfüllen unsere Aufgabe . Aber ich meine
schon, dass wir uns hier auch ehrlich machen müssen,
dass wir hier nicht jedes Jahr 800 000 oder 1 Million
Flüchtlinge, Bürgerkriegsflüchtlinge vertragen können,
dass das in der Tat eine europäische Aufgabe ist .

Sie hatten recht, Herr Bundesaußenminister, als Sie
bei der Konferenz der deutschen Botschafter vor weni-
gen Tagen gesagt haben, dass die Staaten des Balkans –
Albanien, Kosovo, Montenegro – zu den sicheren Her-
kunftsstaaten gehören müssen . Wenn die auf der einen
Seite den Antrag stellen, in die Europäische Union auf-
genommen zu werden, aber auf der anderen Seite Verfol-
gerstaaten sein sollen, dann passt das nicht zusammen .
Das müssen wir hier auch klar und deutlich sagen .


(Beifall bei der CDU/CSU – Zustimmung der Abg . Doris Barnett [SPD])


Wenn 99 Prozent der Flüchtlinge von dort keine Aner-
kennung erhalten – weniger als 1 Prozent ist die Aner-
kennungsquote –, dann ist das in der Tat massenhafter
Missbrauch, von dem vorhin schon gesprochen worden
ist .

Auch das, was vorhin zu den Hilfsmaßnahmen in an-
deren Ländern zur Bekämpfung der Fluchtursachen ge-






(A) (C)



(B) (D)


sagt worden ist, ist von niemandem zu bezweifeln . Heute
früh hat im Morgenmagazin des deutschen Fernsehens
ein Herr Kleinschmidt gesprochen, der Leiter einer gro-
ßen Flüchtlingsauffangstation in Jordanien gewesen ist .
Er sagte: Mit 3 Milliarden Euro – das ist der Beitrag, den
wir seit Sonntag aus dem Bundeshaushalt leisten wollen;
3 weitere Milliarden gibt es für die Bundesländer – könn-
ten wir die Menschen in Syrien wieder so weit ernähren,
dass sie nicht auf die Idee kommen, wegzugehen und den
gefährlichen Weg nach Europa einzuschlagen .

Ein Punkt, meine Damen und Herren, ist meines Er-
achtens etwas zu kurz gekommen . Wir haben in den
vergangenen Jahren manche Länder als Failed States,
als gescheiterte Staaten, bezeichnet . Ich habe mit dem
Bundesaußenminister und auch mit dem Minister Gerd
Müller darüber gesprochen . Zum Beispiel Eritrea wird
von uns seit Jahren nicht beachtet . Eine große Flücht-
lingswelle kommt aus Eritrea nach Deutschland . Na-
türlich herrschen da keine Verhältnisse wie bei uns . De-
mokratie, Rechtsstaatlichkeit, freie Meinungsäußerung,
freie Presse, das alles ist nicht gegeben . Aber wenn wir
denen mit unserem Geld auf die Sprünge helfen würden,
glaube ich, hätten wir vieles erreicht .

Meine Damen und Herren, um die Flüchtlingsfrage abzu-
schließen: Manchmal meine ich, wir sind in Europa auch
etwas geschichtsvergessen . Wir sind geschichtsverges-
sen, weil wir uns nicht mehr darauf besinnen, dass sich
Europa aus den Idealen der Aufklärung und der Französi-
schen Revolution – Humanität, Achtung der Menschen-
rechte – entwickelt hat . In der Französischen Revolution
ist neben der „liberté“, der Freiheit, und der „égalité“, der
Gleichheit, auch die „fraternité“, die Brüderlichkeit, be-
schworen worden . „Brüderlichkeit“ sagt man heute nicht
mehr, man sagt: Solidarität . Zu dieser Solidarität gehört
auch ein gemeinschaftliches Zusammenstehen .

In der Tat: Es ist eine europäische Aufgabe . Versagt
hat nicht Europa mit seinen Institutionen . Im Gegenteil:
Der oft gescholtene Jean-Claude Juncker hat manches
Positive gesagt, zuletzt heute Vormittag . Versagt haben
oft die europäischen Länder, die sich weigern, Flücht-
linge anteilig aufzunehmen . Es ist für mich ein Skandal,
dass von den 28 EU-Ländern 22 keinen Finger rühren
wollen, um dieses Problem, das ein europäisches Prob-
lem ist, zu lösen, sondern dass das sechs Länder alleine
schultern sollen, ganz wesentlich Deutschland .


(Beifall bei der CDU/CSU – Zustimmung der Abg . Doris Barnett [SPD])


Meine sehr geehrten Damen und Herren, man müsste
vieles Weitere über die Außenpolitik sagen . Die OSZE
feiert ihren 40 . Geburtstag . Über die OSZE ist auch das
Minsker Abkommen, an dem Frau Merkel beteiligt war,
verhandelt worden . Wir sind sehr dankbar, dass damit zu-
mindest ein erster guter Schritt gemacht worden ist . Es
handelt sich dabei um einen labilen Frieden; er ist nicht
stabil . Das wissen wir .

Wir freuen uns, dass wir für das nächste Jahr den
Vorsitz in der OSZE übernehmen sollen . Das kostet uns
20 Millionen Euro . Man könnte sagen: Gut, das Geld
könnte man auch für etwas anderes ausgeben . – Aber es
ist in der Tat wichtig, dass wir dieses ehrenvolle Angebot

nicht ausschlagen . Darin sehen wir eine Wertschätzung
unserer Politik .

Meine Damen und Herren, zufällig werden im nächs-
ten Haushalt 20 Millionen Euro auch wieder frei . Dieser
Betrag war als unser Beitrag für unsere G-8-Präsident-
schaft in den Haushalt eingestellt. Ich finde es richtig,
dass sich die Staats- und Regierungschefs auf Schloss
Elmau in Oberbayern getroffen haben und in der Öf-
fentlichkeit und nicht hinter verschlossenen Türen tagen
konnten .

Ich sage auch in diesem Zusammenhang ein Wort des
Dankes, nämlich an unsere Polizeieinheiten aus ganz
Deutschland, die unter der Polizeiführung Bayerns die-
sen Gipfel so wundervoll friedlich über die Bühne haben
gehen lassen . Auch das trägt zu einem hellen und positi-
ven Deutschlandbild bei . Es ist nicht eine Fensterschei-
be zu Bruch gegangen . Wenn ich mir dagegen anschaue,
wie wenige Wochen vorher die Europäische Zentralbank
in Frankfurt eingeweiht worden ist: Dort haben bürger-
kriegsähnliche Zustände geherrscht .


(Dr . Tobias Lindner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das trotz CDU-Regierung!)


In Bayern war es so, lieber Herr Lindner, dass man die-
sen Gipfel mit einem Kaffeekränzchen hätte verwechseln
können . Dort müssen Sie mal hinfahren und nicht nur
nach Jordanien, in den Libanon oder sonst wo hin .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es ist bemerkenswert, dass unsere Polizeieinheiten das
so hervorragend geschafft haben .

Meine Damen und Herren, wir pflegen unsere Bezie-
hungen zum Ausland . Wir sind gute Nachbarn in Europa .
Wir wirken an der Gestaltung des friedlichen Zusam-
menlebens mit . Wir treiben eine gestaltende Außenpoli-
tik . Ich danke all denen herzlich, die daran mitgewirkt
haben, und freue mich auf die nächsten Monate, wo wir
in intensiven Verhandlungen den Haushalt aufstellen
werden, damit wir auch im nächsten Jahr unseren Beitrag
für Frieden und Freiheit in Europa und darüber hinaus
leisten können .

Vielen herzlichen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1812007100

Danke . – Weitere Wortmeldungen zu diesem Einzel-

plan liegen nicht vor . Deshalb verlassen wir den Ge-
schäftsbereich des Auswärtigen Amtes .

Wir widmen uns jetzt dem Geschäftsbereich des
Bundesministeriums der Verteidigung, Einzelplan 14.

Ich bitte die Kollegen, die an diesem Teil der Ausspra-
che teilnehmen wollen, ihre Plätze einzunehmen . Dieje-
nigen Kolleginnen und Kollegen, die diesem wichtigen
Teil der Aussprache nicht folgen wollen, bitte ich, den
Plenarsaal zu verlassen .

Alois Karl






(A) (C)



(B) (D)


Das Wort hat zu Beginn die Bundesministerin
Dr . Ursula von der Leyen, der ich hiermit das Wort er-
teile .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg . Bärbel Bas [SPD])


Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin der
Verteidigung:

Vielen Dank . – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das
Flüchtlingsthema dominiert zu Recht diese Haushaltsde-
batte . Mitten im Herzen Europas erleben wir unmittel-
bar, wie rings um das Mittelmeer Tausende Menschen ihr
Leben riskieren, um aus den Krisenregionen zu flüchten.
Hier im Land erleben wir eine überwältigende Hilfsbe-
reitschaft, mit der diese Menschen aufgenommen wer-
den .

Auch die Bundeswehr möchte ihren Beitrag dazu
leisten . Wir haben allein in den letzten Wochen über
14 000 Unterkunftsplätze in 41 Liegenschaften geschaf-
fen . Allein in den letzten vier Tagen, als die Flücht-
lingszahlen noch einmal deutlich angestiegen sind, sind
4 000 Unterkunftsplätze aus dem Boden gestampft wor-
den: in Hessen, in Sachsen, in Thüringen, in Bremen, in
Niedersachsen und in Nordrhein-Westfalen . Und jeden
Tag kommen neue Anfragen .

Ich bin besonders dankbar für das freiwillige Engage-
ment unserer Männer und Frauen in der Bundeswehr .
Unendlich viele helfen . Es haben sich allein 350 Ange-
hörige der Bundeswehr gemeldet, um im Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge Amtshilfe zu leisten . Ganz
viele helfen unter dem Stichwort „Helfende Hände“, sei
es am Dortmunder Bahnhof oder in Thüringen, von wo
kurzfristig Hilfsanfragen kommen . Viele unterstützen bei
der allgemeinen Versorgung und Betreuung, aber auch
beim Transport . Busse und Busfahrer werden von der
Bundeswehr gestellt . Geholfen wird beim Aufbau der
Unterkünfte . Es werden Zäune errichtet und Zufahrtswe-
ge geschaffen . Wir helfen mit Zelten, mit Betten, mit Kü-
chengeräten und mit mobilen Röntgengeräten . Sanitäter
sind dabei, und zehn Ärzteteams sind aufgestellt worden .

Meine Damen und Herren, ich glaube, ich spreche im
Namen des Hohen Hauses, wenn ich sage: Für dieses
verlässliche, schnelle und unkomplizierte Anpacken dan-
ken wir von Herzen unseren Soldatinnen und Soldaten
sowie den zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg . Michael Leutert [DIE LINKE])


Die Bundeswehr ist natürlich maßgeblich auch au-
ßerhalb unseres Landes engagiert, in Missionen, die mit
großer Mehrheit hier im Hohen Hause legitimiert wor-
den sind . Das gilt für Resolute Support in Afghanistan,
wo wir mit großer Behutsamkeit und lageabhängig die
zeitliche Dauer besonnen betrachten müssen . Das gilt für
KFOR auf dem Balkan . Das gilt natürlich aber auch für
die Regionen, die oft Ursprungsländer für die derzeitigen
Flüchtlingsbewegungen sind . Ich nenne zum Beispiel

unsere Ausbildungsmission im Nordirak . Frank-Walter
Steinmeier hat zu Recht von der Beharrlichkeit gespro-
chen, die wir an den Tag legen müssen .

Mir ist voll und ganz klar, dass man mit Militär nicht
Fluchtursachen bekämpfen kann . Aber wir haben nicht
vergessen, wie letztes Jahr, genau um diese Zeit, der
„Islamische Staat“ den Norden des Iraks quasi zu über-
rennen drohte und die Jesiden ins Sindschargebirge ge-
trieben hat . Damals war es richtig und heute ist es nach
wie vor sinnvoll, beherzt einzugreifen, die Peschmerga
auszurüsten und auszubilden, damit sie Raum schaffen
können, um die Flüchtlinge zu schützen, aber vor allem
um ihr Staatsgebilde aufrechtzuerhalten . Insofern ist
auch dieser Einsatz sinnvoll und mit großem Bedacht
weiterzuführen .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das Gleiche gilt für EUTM Mali, wo im Juli gerade
ein deutscher General die Missionsführung übernommen
hat . Und es gilt natürlich auch für EUNAVFOR Med, un-
seren Einsatz im Mittelmeer .

Sie alle wissen, dass wir seit Mai zwei Schiffe im Mit-
telmeer im Einsatz haben . Im Augenblick sind das die
„Schleswig-Holstein“ und die „Werra“, die bisher über
7 200 Menschen aus dem Mittelmeer gerettet und ihnen
somit das Leben gerettet haben .

Meine Damen und Herren, ich bin voller Hochachtung
vor der deutschen Marine, die bei diesem Einsatz, der ihr
weiß Gott nicht ins ursprüngliche Lastenheft geschrieben
war, über sich hinauswächst . Was die Marine dort leistet,
ist außergewöhnlich .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Ja, wir sind in der ersten Phase der Seenotrettung, und
es wird einen Übergang in die zweite Phase geben . Wir
werden im September gemeinsam ein Mandat dazu er-
arbeiten . Ich sage ganz deutlich: Die Seenotrettung geht
weiter und hat oberste Priorität .

Ich möchte aber mit Blick auf die zweite Phase einen
Punkt aus der Debatte von heute Morgen ansprechen . Die
Fraktionsvorsitzende der Grünen hat im Zusammenhang
mit der Schlepperbekämpfung gesagt, wir sollten nicht
„Schiffe versenken“ spielen . Meine Damen und Herren,
ich finde, das Thema in solch einer Tonart zu diskutieren,
ist vollkommen unangemessen . Das ist kein Spiel; das ist
bitterer Ernst .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wir werden das ausführlich diskutieren . Mir ist aber
wichtig, dass Sie sich wie auch ich in den letzten Wo-
chen und Monaten informieren über die Art dieser Mis-
sion, über die Erkenntnisse, die wir inzwischen gewon-
nen haben, über die Netze organisierter Kriminalität der
Schlepper und Schleuser, die dort ihr Unwesen treiben .
Es ist natürlich nicht die Lösung, damit sind natürlich
nicht die Fluchtursachen beseitigt, aber es ist ein gewich-
tiges Mittel, da die Schlepper und Schleuser im System
organisierter Kriminalität brutalst vorgehen und Milliar-

Alois Karl






(A) (C)



(B) (D)


den verdienen . Das können wir nicht einfach geschehen
lassen . Dagegen müssen wir vorgehen .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, ohne das Engagement der
Bundeswehr könnte Deutschland auf viele politische
Zusagen weltweit keine Taten folgen lassen . Ich möch-
te hier noch einmal betonen, dass Diplomatie und wirt-
schaftliche Zusammenarbeit immer Vorrang haben . Ich
bin der festen Überzeugung: Diplomatie hört nie auf, nie .
Aber wenn wir einmal gerufen werden – und alle hier
im Raume wissen, dass es entsprechende Momente im
letzten Jahr gab –, wenn wir einmal gefordert sind, dann
setzt sich die Bundeswehr auch gleichermaßen beherzt
und besonnen ein .

Wir nehmen zusätzlich zu den mandatierten Einsätzen
natürlich auch viele Verpflichtungen wahr, die nicht man-
datiert sind, sei es die schnelle Speerspitze der NATO, sei
es die OSZE-Beobachtermission in der Ukraine, seien es
Daueraufgaben wie die Luftraumüberwachung im Balti-
kum . Allein dadurch sind insgesamt 13 500 Soldatinnen
und Soldaten gebunden, und es wird nicht ruhiger . Bernd
Ulrich hat es in der Zeit sehr plastisch ausgedrückt, in-
dem er schrieb, die Krise sei heute das Normale, und von
der Gleichzeitigkeit der Krisen, ihrer Geschwindigkeit
und der Haltlosigkeit sprach . Das stimmt . Die Felder, auf
denen wir für Frieden und Freiheit kämpfen, werden un-
endlich viel komplexer, die Vorwarnzeiten immer kürzer .
Und neben vielen Instrumenten, die eben auch in dieser
ausgezeichneten Debatte vor der Beratung unseres Haus-
haltes diskutiert worden sind, brauchen wir dazu auch
Streitkräfte, die modern aufgestellt, vielseitig einsetzbar
und vor allem solide finanziert sind.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir haben in diesem Hohen Hause sehr wohl die bei-
den Pfeiler besprochen, auf denen unsere Arbeit ruht:
einerseits für das Personal die Agenda Attraktivität und
andererseits im Bereich Rüstung die Agenda Rüstung .

Wir haben jetzt über die Hälfte der 30 untergesetzli-
chen Maßnahmen mit der Agenda Attraktivität ganz oder
teilweise umgesetzt . Man spürt, dass sich etwas verän-
dert . Die Bewerberquote ist spürbar gestiegen . Schon im
letzten Jahr haben sich 59 000 Menschen um militärische
Dienstposten beworben . Allein in der ersten Jahreshälfte
2015 waren es bereits über 36 000 Bewerbungen . Mei-
ne Damen und Herren, gerade in einer Zeit, in der es in
Deutschland so viele offene Stellen, so viele Angebote
zur Ausbildung gibt wie nie zuvor, bestärkt uns das, dass
wir hier auf dem richtigen Weg sind .

Die Agenda Attraktivität wirkt inzwischen im Alltag
der Truppe . Die ersten Satellitentelefone sind im Einsatz .
Seit dem 1 . Juli können die Soldatinnen und Soldaten der
ersten seegehenden Einheiten damit grundsätzlich kos-
tenlos telefonieren .

Seit dem 22 . Mai ist auch, wie wir alle wissen, das
Artikelgesetz in Kraft . Ich möchte mich an dieser Stelle
bei Ihnen für Ihre Unterstützung gerade auch bei diesem
Artikelgesetz von ganzem Herzen bedanken .

Die Modernisierung der Bundeswehr geht aber in vie-
len Feldern weiter . Gerade wenn wir spüren, wie sich das
sicherheitspolitische Umfeld und damit natürlich auch
unser Auftrag ändert, gerade in solchen Zeiten dürfen wir
uns nicht nur auf die neuen Herausforderungen konzen-
trieren – das ist die Hauptaufgabe –, sondern müssen wir
auch immer eine kritische Nabelschau anstellen, damit
wir sehen, ob wir auch gut genug aufgestellt sind .

Das sage ich natürlich ganz bewusst . Wir haben näm-
lich im letzten Jahr einen ersten groben Blick auf das
Personalstrukturmodell bzw . den sogenannten Personal-
körper der Bundeswehr – 250 000 in der Zielstruktur –
geworfen . Sie wissen, dass wir die Schichtung zwischen
Berufs- und Zeitsoldaten mit einem Plus von 5 000 Be-
rufssoldaten bereits in einem ersten Schritt angepasst
haben . Es gab auch ein Plus von 1 000 zivilen Beschäf-
tigten . Dennoch müssen wir jetzt im Detail gucken, ob
der Personalkörper richtig dimensioniert und richtig
geschichtet ist, ob also die Fachkräfte und die Gruppen
in der Anzahl und ihrer Aufstellung so sind, wie wir sie
angesichts unserer Aufgaben brauchen . Wir müssen beim
freiwilligen Wehrdienst unbedingt genauer hinschauen,
nämlich beim Verhältnis zwischen fixen Dienstposten
und flexiblen Dienstposten. Da die Nachfrage sehr viel
größer ist, werden wir die Zahl der fixen Dienstposten
erweitern; aber wir müssen uns auch verstärkt mit der
Qualität der freiwillig Wehrdienst Leistenden beschäf-
tigen . Wir müssen schauen, ob diese hochmotivierten
Menschen, die freiwillig kommen, ihre Aufgaben sinn-
voll erfüllen können, ob sie bei uns tatsächlich das fin-
den, was sie suchen . Das ist die vor uns liegende Aufgabe
der nächsten Wochen und Monate .

Im Verteidigungsministerium werden wir mit Blick
auf die nachgeordneten Behörden prüfen, wie die Aufga-
ben verteilt sind, ob Strukturen, Aufgaben, Personalzu-
ordnung und -bedarf zueinanderpassen . Ich sage das sehr
bewusst, weil wir in den letzten Monaten gemeinsam
erlebt haben, dass sich uns viele Fragen gestellt haben:
Warum sind Prozesse so langsam? Warum dauert es so
lange, bis wir eine konsistente Information oder Entschei-
dung hinbekommen? Das hat auch damit etwas zu tun,
dass nach der Neuaufstellung, die in ihrer Grundstruktur
richtig ist, jetzt der Blick auf die Prozesse schärfer wird:
Wie arbeiten die einzelnen Ebenen zusammen? Wie ist
die Abstimmung? Wer hat welche Rolle? Wir sehen hier
einiges, das überarbeitet werden muss . Das heißt, wir
werden eine Organisationsanalyse durchführen, und wir
werden dieser einen Aufgabenkritik anschließen .

Wenn auf Dauer unser oberstes Ziel ist, einsatzbereit,
stark und den Aufgaben gewachsen zu sein, dann müssen
wir unseren Personalkörper so aufstellen, dass die Men-
schen diese Aufgaben auch bewältigen können . Das ist
das Ziel dieser neuen Aufgabe, die vor uns liegt .

Eine zweite entscheidende Voraussetzung für die eben
skizzierten Themen ist eine professionelle Ausrüstung .
Wir haben die Agenda Rüstung gemeinsam viel disku-
tiert . Hier ist noch eine lange Strecke zu gehen, aber die
ersten Schritte sind gemacht . Wir entscheiden . In der ers-
ten Hälfte der Legislaturperiode haben wir 18 sogenann-
te 25-Millionen-Euro-Vorlagen auf den Weg gebracht .

Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen






(A) (C)



(B) (D)


Dahinter stehen Rüstungsprojekte mit einem Haushalts-
volumen von rund 5,2 Milliarden Euro .

Das und vieles mehr steckt in den für 2016 vorgese-
henen 34,4 Milliarden Euro für den Einzelplan 14 . Er
wächst damit gegenüber dem Regierungsentwurf 2015
um rund 750 Millionen Euro . Damit gelingt es uns, die
jahrelange Abwärtsspirale zu stoppen und eine Trend-
wende einzuleiten . Das ist auch notwendig; denn wir
haben einen enormen Nachholbedarf . Das wissen alle,
die sich tiefer mit diesen Themen beschäftigt haben . Es
gilt jetzt, diesen aufzuholen, insbesondere im Zusam-
menhang mit dem Thema Materialerhalt . Die Mittel da-
für steigen um 3,3 Prozent, zum Beispiel im Bereich der
Luftfahrzeuge .

Wir wissen, wie mühsam diese Aufgabe ist; aber sie
ist unerlässlich und schlichtweg eine Verpflichtung ge-
genüber unseren Soldatinnen und Soldaten, aber auch
unseren NATO-Verbündeten dahin gehend, dass sie sich
auf uns verlassen können .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Damit dieser Rahmen aus Personal, Rüstung und den
langfristigen Aufgaben und groß angelegten Projekten,
den ich eben skizziert habe, nachhaltig solide finanziert
ist, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein:

Erstens müssen wir die aktuelle Linie von mindestens
1,17 Prozent in Relation zum BIP halten . Dass wir das
erreicht haben, ist ein Erfolg . Gott sei Dank haben wir
eine starke Wirtschaft; diese führt zu einem starken BIP .
Das heißt: Wenn wir die Linie halten wollen, müssen wir
uns noch mehr anstrengen . Das wissen wir .

Zweitens müssen wir aber sicherstellen, dass wir mittel-
fristig 20 Prozent dieser Mittel in unsere materielle Aus-
stattung investieren können . Da sind wir beileibe noch
nicht . Das ist unverzichtbar; denn sonst haben wir nicht
die Möglichkeit, die Ausrüstung der Bundeswehr, die sie
im Alltag in den Einsätzen braucht, zu regenerieren . Es
geht also um das Basisgeschäft, darum, dass sie für die
Einsätze angemessen ausgerüstet ist . Ich spreche zum
Beispiel von geschützten Fahrzeugen oder Funkgeräten .

Wir brauchen aber auch die Mittelsicherheit, um lang-
fristig geplante Rüstungsvorhaben finanzieren zu kön-
nen, mit denen wir Fähigkeitslücken schließen wollen;
ich nenne das Stichwort „Aufklärung“ . Zudem brauchen
wir die Planbarkeit der Mittel, damit wir die Bundes-
wehr so aufstellen können, dass sie eine an den Aufga-
ben orientierte, strukturgerechte und bedarfsgerechte
Ausstattung hat . Was verbirgt sich hinter diesem Satz?
Dahinter verbirgt sich, dass wir gemeinsam beschlossen
haben, das sogenannte dynamische Verfügbarkeitsma-
nagement – alle hier im Raum wissen, was das ist – gar
nicht erst einzuführen, weil es eine Verwaltung des Man-
gels ist . Das heißt aber, dass wir uns fragen müssen: Was
sind die Aufgaben? Was ist der Bedarf? Wie können wir
die teilweise hohlen Strukturen, die sich gebildet haben,
auffüllen? Wir müssen also den Blick nach vorne richten
und für eine nachhaltige Finanzierung sorgen, damit wir
das angelegte Konstrukt tatsächlich mit Leben erfüllen
können .

Schlussendlich noch zwei Themen . Wir werden
Strukturen innerhalb des Bundesamts für Ausrüstung,
Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr

(BAAINBw) verändern, weil wir erkannt haben, dass die

Großprojekte und die kleinen Projekte über einen Kamm
geschoren werden, was die Projektorganisation angeht .
Ob es der Stiefel ist oder der Eurofighter oder IT-Füh-
rungssysteme – one size fits all. Wir werden die drei
großen neuen Projekte – MKS 180, TLVS/MEADS und
die Euro-Drohne – innerhalb des BAAINBw mit einer
eigenen Struktur und eigenem Personal einkapseln, da-
mit Juristen, Techniker, Wirtschafter konsequent dieser
Struktur zugeordnet arbeiten können . Heute haben wir
oft den Fall, dass die Aufgaben versäult sind und ein Ju-
rist zum Beispiel einmal 10 Prozent seiner Arbeitszeit für
den A400M aufwendet, um dann am nächsten Projekt zu
arbeiten . Bei den großen Projekten brauchen wir in sich
geschlossene Teams, die dann konzentriert an der großen
Aufgabe arbeiten . Wir werden dort einen starken Projekt-
leiter, vergleichbar mit dem Generalsrang, aufsetzen, der
dann direkt im BAAINBw mit der Rüstungsstaatsekretä-
rin die Dinge weiterentwickeln kann .


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1812007200

Frau Ministerin, Sie haben Ihre Redezeit schon deut-

lich überschritten .

Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin der
Verteidigung:

Ja, Sie haben recht . – Dann sage ich einen letzten Satz:
Das eine war, wie wir es machen, das andere ist, mit wem
wir es machen . Vielleicht spare ich mir das für die nächs-
te Rede auf, die ich in diesem Hohen Hause halte .


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1812007300

Wunderbar .

Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin der
Verteidigung:

Ich bitte Sie um Zustimmung zum vorliegenden Ent-
wurf .

Vielen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1812007400

Als nächster Redner hat Michael Leutert von der Lin-

ken das Wort .


(Beifall bei der LINKEN)



Michael Leutert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1812007500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr

geehrte Frau Ministerin! In der Türkei können wir derzeit
beobachten, wie falsche politische Entscheidungen zu im-
mer komplexeren Problemen werden und geradezu in einem
Desaster enden können . Ich möchte einmal daran erinnern:
Seit 2011 herrscht in Syrien Bürgerkrieg . Die Türkei unter-
stützte von Anfang an die syrische Opposition gegen Assad .
Dadurch kam es auch an der türkisch-syrischen Grenzen zu
militärischen Zwischenfällen . Aus diesem Grund startete

Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen






(A) (C)



(B) (D)


im Januar 2013 eine NATO-Operation, und es wurden deut-
sche Soldaten zum Schutz des Bündnispartners in die Re-
gion geschickt . Im Grenzgebiet zwischen Irak, Syrien und
der Türkei leben die Kurden . Die Schwäche Assads führte
dazu, dass die Kurden in Syrien gestärkt wurden – sehr zum
Missfallen der Türkei . Seit 2014 kämpft nun die Terroror-
ganisation IS nicht nur gegen Assad, sondern auch gegen
die Kurden . Deshalb unterstützte die Türkei nun auch den
IS . Da der Westen aber wiederum den IS bekämpft, lieferte
die Bundeswehr Waffen an die Kurden, damit diese sich ge-
gen den IS verteidigen können . Und nun, im Sommer dieses
Jahres, eskalierte der Konflikt zwischen den Kurden und der
Türkei . Erdogan bekämpft die Kurden nun militärisch im
eigenen Land und in den Nachbarländern Syrien und Irak .
Gestern ist die türkische Armee erstmals auf irakisches Ter-
ritorium vorgerückt .

Unterm Strich heißt das: Die Armee des NATO-Mit-
glieds Türkei kämpft gegen die Kurden, die Kurden
wehren sich, mit deutschen Waffen ausgestattet, und mit-
tendrin sind unsere Bundeswehrsoldaten . Somit sind wir
Teil eines Konfliktes, dazu noch auf unterschiedlichen
Seiten, und dieser Konflikt ist die Ursache dafür, dass
12 Millionen Menschen auf der Flucht sind .

Ein Teil dieser Flüchtlinge versucht, mit Schlepperboo-
ten über das Mittelmeer nach Europa zu kommen . Dort
ist wiederum die Bundeswehr im Einsatz, um die Men-
schen vor dem Ertrinken zu retten . Das ist doch ein ab-
surder Zustand .


(Beifall bei der LINKEN)


Ich möchte an dieser Stelle ganz klar sagen: Ja, ich fin-
de es richtig, dass wir den Soldatinnen und Soldaten, die
im Mittelmeer in Not geratenen Menschen unter hohem
persönlichen Einsatz helfen, danken . Ich will deutlich
unterstreichen: Es geht um jedes Menschenleben, das ge-
rettet werden kann .


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Sehr geehrte Frau Ministerin, ich weiß, dass Sie für all
diese Dinge nicht alleine verantwortlich sind – all das
hat der Bundestag beschlossen -; aber ich frage Sie, ob
Sie diese Situation nicht auch etwas absurd finden. Wenn
man sich jetzt noch überlegt, dass der Bundeswehreinsatz
in der Türkei bis zum Abzug 60 Millionen Euro gekostet
hat und die Waffenlieferungen noch einmal 70 Millionen
Euro – das macht zusammen 130 Millionen Euro -: Glau-
ben Sie rückblickend nicht auch, dass es sinnvoller gewe-
sen wäre, dieses Geld nur für die Rettung von Flüchtlin-
gen im Mittelmeer einzusetzen?


(Beifall bei der LINKEN)


In der Türkei kann man jetzt nur noch Schadensbegren-
zung üben, und das heißt ganz klar: Erstens . Es muss einen
sofortigen Abzug der Bundeswehrsoldaten aus der Türkei
geben, nicht erst nächstes Jahr, wenn der Einsatz zu Ende
ist; zu Weihnachten müssen alle gesund und munter zu
Hause sein . Zweitens . Setzen Sie sich mit dafür ein, das
PKK-Verbot aufzuheben! Damit würde man gegenüber
der Türkei ein deutliches Zeichen setzen, dass wir eindeu-
tig an der Seite derjenigen stehen, die den IS bekämpfen .


(Beifall bei der LINKEN)


Schauen wir auf einen anderen Krisenherd: Afghanis-
tan . 2002 ist die Bundeswehr nach Afghanistan gegan-
gen . Die Begründungen für den Einsatz gegenüber der
deutschen Öffentlichkeit waren sehr vielfältig . Es ging
um den Kampf gegen den Terror . Es ging darum, Frau-
en- und Menschenrechte zu etablieren . Es ging darum,
die Freiheit am Hindukusch zu verteidigen . Es ging dar-
um, Stabilität zu schaffen usw . usf . Seit Ende 2014 ist der
Kampfeinsatz beendet . Die Kosten nur des Kampfeinsat-
zes belaufen sich auf ungefähr 6 Milliarden Euro . Ihr Mi-
nisterium gibt jedes Jahr zusätzlich 80 Millionen Euro für
den Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte aus . Das
Auswärtige Amt gibt noch einmal jedes Jahr 180 Mil-
lionen Euro zur Stabilisierung und das BMZ 245 Mil-
lionen Euro für den Wiederaufbau . Das heißt also: Es
wird über eine halbe Milliarde Euro allein für den Auf-
bau der Gesellschaft in Afghanistan ausgegeben . Und
was ist das Ergebnis? Das Ergebnis ist: Terror ist dort
Alltag, Frauenrechte werden nicht eingehalten, Presse-
und Meinungsfreiheit existieren nicht, Folter wird weiter
angewandt, und die Scharia ist gültige Rechtsgrundlage .
Auch hier bleibt uns im Nachgang nur die Möglichkeit,
Schadensbegrenzung für die Zukunft zu üben und die
richtigen Lehren daraus zu ziehen . Man kann eine Ge-
sellschaft nicht von außen und erst recht nicht mit militä-
rischen Mitteln nach unserem Vorbild umformen .


(Beifall bei der LINKEN)


Und gleich für die Zukunft – Sie hatten es angespro-
chen, weil es diskutiert wird -: Man kann Europa nicht
abriegeln, weder mit Stacheldraht noch mit Mauern –
und im Übrigen auch nicht mit einem Kampfeinsatz ge-
gen Schlepper . Diese Probleme sind nicht mit militäri-
schen Mitteln zu lösen . So viel sollten wir mittlerweile
gelernt haben .


(Beifall bei der LINKEN)


Angesichts der Erfahrungen und angesichts der gro-
ßen Herausforderungen, vor denen wir derzeit stehen –
die enormen Flüchtlingsbewegungen, Krieg in Syrien,
Terror im Irak, Instabilität in Afghanistan –, sollten wir
noch einmal darüber nachdenken, ob die Prioritäten hier
richtig gesetzt werden . Wäre es jetzt nicht vielleicht
sinnvoller und wichtiger, in diesen Regionen erst ein-
mal für Stabilität zu sorgen und dafür die Mittel in die
Hand zu nehmen? Stattdessen soll der Verteidigungsetat
um 1,4 Milliarden Euro erhöht werden . Das, liebe Kol-
leginnen und Kollegen, ist der falsche Weg . Die Linke
will die Prioritäten anders setzen, und wir werden in den
kommenden Verhandlungen entsprechende Vorschläge
unterbreiten .

Vielen Dank .


(Beifall bei der LINKEN – Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Warum nicht jetzt schon?)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1812007600

Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Karin

Evers-Meyer von der SPD-Fraktion das Wort .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Michael Leutert






(A) (C)



(B) (D)



Karin Evers-Meyer (SPD):
Rede ID: ID1812007700

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Ministerin von der

Leyen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will zu Be-
ginn der anstehenden Haushaltsberatungen über den Ver-
teidigungsetat zwei Dinge klarstellen: Erstens . Eine gro-
ße Mehrheit der Kollegen hier im Parlament sieht sehr
wohl die Notwendigkeit und ist auch bereit, die Bundes-
wehr und unsere Soldaten wieder vernünftig auszustat-
ten . Es gibt die Bereitschaft, Geld in die Hand zu nehmen
und zu investieren; denn für jeden ist offensichtlich, dass
einige Sparentscheidungen der letzten Jahre schlichtweg
falsch waren .

Ich möchte hier ein letztes Mal das dynamische Ver-
fügbarkeitsmanagement nennen, bevor wir es – hoffent-
lich – endgültig zu Grabe tragen . Da müssen Soldaten
doch tatsächlich die ihnen verbliebene Ausrüstung quer
durch die Republik fahren, damit alle Kameraden we-
nigstens einmal im Jahr mit dem Gerät üben können, mit
dem sie später, im Ernstfall, arbeiten sollen . Vielleicht
können wir irgendwann einmal darüber lachen; aber das
war ernst gemeint . Das Schlimme ist: So etwas lässt sich
nicht über Nacht heilen . Die Liste, wo investiert werden
muss, ist lang . Die Kollegen aus der Fach-AG können
das detaillierter und besser sagen als ich .

Ich komme deswegen direkt zur zweiten Sache . Es
gibt Probleme auf dieser Welt, die sich mit mehr Geld
nicht lösen lassen . Das ist die Art von Problemen, bei de-
nen mehr Geld das Leiden nur verlängert oder etwas ver-
tuscht, bei denen durch mehr Geld eigentlich gar nichts
besser wird . So offensichtlich der Bedarf der Bundeswehr
an Investitionen in Personal, Material und Infrastruktur
ist und so nachvollziehbar der Ruf nach mehr Geld ist,
so offensichtlich ist auch, dass ein großer Teil der Prob-
leme hausgemacht ist . Hunderte Millionen Euro, die in
den letzten Jahren nicht ausgegeben wurden, sind der Be-
weis. Ich stehe hier nicht mit dem erhobenen Zeigefinger
und behaupte hämisch, dass die Bundeswehr dieses Geld
wohl nicht braucht; aber ich sage all denjenigen, die auch
dieser Tage nach Milliarden für die Bundeswehr rufen:
Bevor wir hier über deutlich mehr Geld vom Steuerzah-
ler sprechen, muss das Haus organisatorisch, prozessual
und konzeptionell in Ordnung gebracht werden . Es muss
wieder Vertrauen in das BMVg und seinen Umgang mit
den Finanzen geben . Das ist Voraussetzung . Dann kann
man, wie ich finde, guten Gewissens wieder über mehr
Investitionen sprechen .

Liebe Frau von der Leyen, wenn ich mir vor diesem
Hintergrund den Haushaltsentwurf und die Finanzpla-
nung des BMVg anschaue, habe ich den Eindruck, dass
Sie diese Einschätzung teilen . Daher habe ich gewisse
Teile Ihrer Rede mit Freude vernommen . Warum denke
ich das? Zum einen glaube ich, Ihre Forderungen wären
sonst sicherlich höher ausgefallen, und zum anderen sind
Sie mit Ihrem Team seit einiger Zeit glaubhaft in den Tie-
fen der Ebene unterwegs und packen die notwendigen
Prozesse an . Auch heute haben Sie in Ihrer Rede, wie ge-
sagt, deutlich gemacht, dass Sie die Probleme, etwa bei
großen Beschaffungsprojekten, realistisch sehen und Lö-
sungen für diese Probleme wollen . Als Haushälter haben
Sie uns dabei an Ihrer Seite . Wir wollen Sie dabei, wo es
geht, unterstützen . Das sage ich nicht nur als gute Koa-

litionärin, sondern auch, weil ich durchaus bereit bin, an
die Ernsthaftigkeit Ihres Tuns zu glauben .

Einen Wunsch hätte ich in diesem Zusammenhang
aber: Teilen Sie diese Einschätzung mit Ihren Leuten;
denn nach wie vor höre ich mir an, dass das Problem der
nicht abgeflossenen Haushaltsmitteln eigentlich Folge
der Jährlichkeit des Haushalts sei und dass die Haushäl-
ter doch endlich einmal mehr Flexibilität zeigen sollten .
Das, sehr verehrte Kollegen, weise ich hier ausdrücklich
zurück . Ich bin die Letzte, die etwas gegen mehr Flexi-
bilität in der Verwaltung hätte; aber dass die A400M na-
türlich völlig überraschend nicht ausgeliefert werden und
man in Sachen Regress mehr oder weniger in die leere
Panzerröhre guckt, liegt nicht an der mangelnden Flexi-
bilität des Haushalts . Die Gründe dafür kennen wir alle:
langatmige Beschaffungsentscheidungen, Goldrandfan-
tasien, mangelndes Risikomanagement und schlechtes
Vertragsmanagement .

Das Problem ist auch nicht, dass Rüstungsbeschaf-
fungen etwas Einzigartiges und Komplexes sind . Das
würde ich nur gelten lassen, wenn sich die Probleme auf
dieses Feld beschränken ließen . Das lassen sie sich aber
nicht . Bei der Infrastruktur ist es doch genau dasselbe .
Sie alle waren dankenswerterweise bei mir im Wahlkreis
und haben sich beispielsweise die Feuerwehr des Jagd-
geschwaders in Wittmund angeschaut . Sie waren alle
schockiert, wie es dort aussieht . Man denkt nämlich, man
steht irgendwo in Moldawien und nicht an der deutschen
Nordseeküste . Trotzdem tut sich dort seit Jahren nichts .
Und dann sitze ich in meinem Büro im Paul-Löbe-Haus,
schaue in den Haushalt und sehe: Oh, das Ministerium
gibt Gelder für Infrastrukturmaßnahmen an den Finanz-
minister zurück. – Ich finde, die Sanierung einer Kaser-
ne ist kein Hexenwerk . Das Bauhandwerk ist eines der
ältesten Handwerke . Es gilt als weitgehend erprobt und
verlässlich .

Das Problem liegt, denke ich, auch hier in der Verwal-
tung, also beim BMVg . Sie kennen die Ursachen; auch
mir wurde das mehrfach erklärt . Ich kenne das Hin- und
Hergeschiebe zwischen BMVg, BImA, Landesbehörden,
staatlichem Baumanagement usw . Nur, gelöst ist das Pro-
blem nicht . Die Soldaten vor Ort verstehen das nicht und
ich auch nicht . Sie sind nun in der Verantwortung, es zu
lösen .


(Beifall bei der SPD)


Wenn Sie also versprechen, das in Ordnung zu bringen,
dann verspreche ich Ihnen ein offenes Ohr in Sachen Fle-
xibilisierung und Übertragbarkeit von Haushaltsmitteln .


(Heiterkeit)


Das ist aus meiner Sicht die richtige Reihenfolge, und
dann ziehen wir auch an einem Strang .

Damit das Thema Militärausgaben auch mittel- und
langfristig glaubhaft diskutiert werden kann, braucht es
aus meiner Sicht neben der Ordnung im eigenen Haus
auch eine Perspektive, die über die Schreibtischkante
hin ausreicht . In Bezug auf den Militäretat und in Bezug
auf die Verteidigungsfähigkeit Westeuropas kann diese
Perspektive nur europäisch sein . Das haben Sie auch oft
gesagt . Aber in den Hauptstädten Europas kommt das






(A) (C)



(B) (D)


nicht so richtig an, und um die müssen wir werben . Alle
in Europa müssen erkennen, dass die kostenintensiven
militärischen Parallelstrukturen innerhalb der EU nicht
mehr zeitgemäß sind . Sie sind zu teuer, und sie gefähr-
den langfristig die Verteidigungsfähigkeit Europas . Wir
kennen in Europa – das sage ich nur noch einmal, um
sich das in Erinnerung zu rufen – trotz aller politischen
Willensbekundungen zig nationale Programme für Pan-
zerfahrzeuge . Es gibt sechs verschiedene Programme für
U-Boote, fünf für Kampfflugzeuge und weitere fünf für
Boden-Luft-Raketen . Wir haben in Europa 28 nationale
Armeen mit ungefähr 1,5 Millionen Soldaten . Das Bud-
get beträgt rund 200 Milliarden Euro . Das ist immerhin
mehr als ein Drittel des US-amerikanischen Verteidi-
gungsetats . Aber es gibt ja wohl niemanden, der behaup-
ten würde, dass unsere Leistungsfähigkeit ebenfalls ei-
nem Drittel der Schlagkraft der USA entspricht .

Ich sage nicht: Lasst uns heute oder morgen nach Eu-
ropa gehen, dann wird alles einfacher, besser und billiger .
Aber ich sage: Die Weichen dafür zu stellen, dass wir
irgendwann so etwas wie eine europäische Armee, einen
europäischen Ausrüstungsstandard und eine gemeinsame
europäische Rüstungsindustrie haben, zumindest in Tei-
len, ist nur möglich, wenn man überall, wo es nur geht,
gemeinsame Projekte mit unseren Nachbarn auf die Bei-
ne stellt .


(Beifall bei der SPD)


Mit den Polen, den Dänen und den Nachbarn im Bal-
tikum klappt das . Aber es muss ein Ansporn sein, auch
Partner wie Frankreich oder Großbritannien für gemein-
same Ideen zu gewinnen . Wenn das gelingt, dann haben
Sie nicht nur die Haushälter hier im Deutschen Bundes-
tag auf Ihrer Seite . Dann – da bin ich sicher – werden wir
sogar in der deutschen Bevölkerung eine Mehrheit für
eine Erhöhung des Etats gewinnen können .

Vielen Dank .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1812007800

Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Dr . Tobias

Lindner von der Fraktion BÜNDNIS 90/Die Grünen das
Wort .


Dr. Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1812007900

Vielen Dank, Frau Präsidentin! – Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Kapseln statt Versäulen, das war hier Ihre große Ankün-
digung, Frau Ministerin . Während sich vielleicht viele
hier im Hohen Hause oder zu Hause, die dieser Debatte
lauschen, nicht recht vorstellen können, was sich dahinter
verbirgt, will ich Ihnen, Frau Ministerin, etwas aus mei-
ner Sammlung spontaner Reaktionen auf überraschende
Ankündigungen der Verteidigungsministerin zeigen . Ich
habe Ihnen etwas mitgebracht, nämlich das Protokoll ei-
ner unserer ersten Begegnungen in Ihrem Amt, nämlich
des Berichterstattergesprächs mit den Haushältern im
Frühjahr 2014 . Auf meine Frage, wie Sie mit den Vor-

schlägen der Weise-Kommission umgehen wollen, sag-
ten Sie – so das Protokoll; ich zitiere -:

Sie stellt klar, dass es keine Rüstungsagentur geben
werde .

Sie haben dann geantwortet, dass es darum gehen muss,
die Prozesse im eigenen Haus zu verbessern, und – so
meine Erinnerung – gesagt: Ich muss eher schauen, dass
meine Rüstungsabteilung wie eine Agentur arbeitet .

Ich nehme wahr, dass Sie anscheinend an einigen Stel-
len umgedacht haben; Sie haben es „Kapseln statt Ver-
säulen“ genannt und sich auf das BAAINBw bezogen .
Aber ich bin einmal gespannt, wie Sie es abkapseln, und
vor allem bin ich gespannt darauf, mit welchem Personal .
Jetzt tun sich natürlich für die weiteren Haushaltsbera-
tungen schon Fragen auf: Schaffen Sie nicht eine neue
Parallelstruktur? Was sind die Vorteile? Wie sieht es mit
dem lieben Geld und mit den Verantwortlichkeiten und
vor allem mit der parlamentarischen Kontrolle aus?

Deswegen werden wir als Opposition Sie bei Lern-
prozessen gerne und konstruktiv begleiten, aber in den
Haushaltsberatungen vor allem kritisch auf diese Struk-
tur schauen, sie erst einmal nicht vom Tisch wischen,
aber nachfragen und uns dann ein Urteil darüber bilden .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Henning Otte [CDU/CSU]: Das ist auch eure Aufgabe!)


Der zweite Punkt ist: Das löst natürlich nicht die enor-
men Probleme, die es im Rüstungsbereich gibt . Es gibt
drei neue Projekte, die sich gerade im Anlauf befinden
und für die die Rechnung vermutlich erst zu einer Zeit, zu
der Sie nicht mehr in diesem Amt sein werden, endgültig
vorliegen wird; ich denke hier an Dinge wie TLVS . Es ist
ein Leichtes, sie in einer Agentur oder in einer Kapselung
zu bündeln, aber das darf nicht darüber hinwegtäuschen,
dass wir nach wie vor – die Kollegin Evers-Meyer hat
es angesprochen – enorme Managementprobleme im
Rüstungsbereich haben: Dinge kommen gar nicht, zu
spät, mit Minderleistungen und vor allem zu teuer für die
Steuerzahlerinnen und Steuerzahler .

Ich kann Sie nur auffordern, Frau von der Leyen:
Bleiben Sie hart, wenn Sie mit der Industrie reden . – Ich
denke da an Luftfahrtunternehmen, wo sich zahlreiche
offene Fragen auftun . Deutschland wird in diesem Jahr
vielleicht einen oder auch gar keinen A400M mehr erhal-
ten; von fünf war einmal die Rede . Mir und, ich denke,
auch den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern fehlt jedes
Verständnis dafür, wenn wir an dieser Stelle lasch mit der
Industrie umgehen . – Das ist im Interesse aller .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie haben viel über Personal gesprochen, Frau Minis-
terin, über Personalgewinnung, über Personalverwen-
dung und über Attraktivität . Wenn wir eine Haushaltsde-
batte führen, dann dürfen wir eines nicht aus den Augen
lassen: Die Personalausgaben waren in den vergange-
nen Jahren in Ihrem Haushalt immer strukturell unter-
finanziert. Wenn man sich die Istzahlen, quasi die Ab-
rechnung, die Ihr Haus vorlegt, anschaut, dann erkennt
man, dass in den letzten beiden Jahren Gelder aus dem

Karin Evers-Meyer






(A) (C)



(B) (D)


Rüstungsbereich, die nicht abgeflossen sind, verwendet
wurden – ich will auch sagen: verwendet werden muss-
ten –, um Personalausgaben zu decken . Als Grüner füge
ich hinzu: Als politisches Konzept ist das durchaus gut
so . Aber ich fordere Sie im Sinne von Haushaltsklarheit
und Haushaltswahrheit auf: Dann geben Sie Träume, wie
20 Prozent des Haushalts in die Modernisierung der Aus-
rüstung zu investieren, auf – ich weiß nicht, wie Sie das
im Investbereich darstellen wollen –, und sorgen Sie im
Vorhinein und nicht erst im Nachhinein, wenn sich Lü-
cken auftun, dafür, dass die Personalausgaben auskömm-
lich und angemessen finanziert sind!

Der nächste Punkt ist – das ist in dieser Debatte schon
angesprochen worden -: Kümmern Sie sich darum, dass
es angemessene und ordentliche Unterkünfte gibt . Das
Geld dafür steht bereit. Es ist vielfach zurückgeflossen.
Das ist nicht im Interesse der Menschen, die in Unter-
künften wohnen müssen .

Ein letzter Punkt: das liebe Geld . Sie erhalten in die-
sem Jahr – Sie sind darauf eingegangen – 1,2 Milliarden
Euro mehr . Sie rühmen sich dessen . Sie sprechen von
einer Trendwende im Haushalt . Die Kollegen der Uni-
on beklatschen es . Dabei täuschen Sie darüber hinweg,
dass einmal eine Bundeswehrreform unter Herrn zu Gut-
tenberg und Herrn de Maizière mit dem erklärten Ziel,
8,3 Milliarden Euro einzusparen, angefangen wurde .
Immer wieder und wieder in den Vorjahren, wenn ich
gefragt habe, ob diese Einspareffekte erreicht werden,
h
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1812008000
Ja, ja, die ganzen Einspareffekte
werden erreicht . – Heute ist kein Wort mehr von diesen
Einspareffekten . Mit anderen Worten: Dieses große Ziel
der Bundeswehrreform, dass nämlich auch das Verteidi-
gungsministerium seinen Beitrag zur Schuldenbremse
leistet, ist krachend verfehlt worden .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Florian Hahn [CDU/CSU]: Das war nie das Ziel!)


Sie geben sich noch einem anderen Trugschluss hin .
Da kann ich Sie nur auffordern: Hören Sie mit dem gan-
zen Gerede vom 2-Prozent-Ziel auf! Sie haben eben ge-
sagt: „Wir erreichen mit diesen Ausgaben 1,17 Prozent
des BIP“, und Sie erwarten, dass wir das in den kommen-
den Jahren konstant halten . Wenn Sie sich Ihre eigene
mittelfristige Finanzplanung anschauen, Frau Ministe-
rin, dann werden Sie sehen, dass das gar nicht erreicht
werden kann . Ich nehme nicht an, dass Sie Ihre eigene
mittelfristige Finanzplanung hier in diesem Haus infrage
stellen .

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sage in aller
Deutlichkeit: Angesichts der Herausforderungen, vor
denen wir in Deutschland und in Europa stehen, ange-
sichts der Flüchtlingskrise und der Tatsache, dass wir
uns alle gestern einig waren, dass da mehr Geld fließen
muss, sollten wir solche komischen Kriterien wie ein
Ziel, soundso viel Prozent des BIP zu erreichen, bitte ad
acta legen . Nein, es macht keinen Sinn, hier mehr Geld
reinzupumpen .

Ein letzter Punkt . Sie haben viel über Veränderung ge-
sprochen . Sie haben über Personal gesprochen, Sie haben

über den Rüstungsbereich gesprochen, Sie haben über
Aufgaben gesprochen . Sie drehen an der einen Schraube
etwas, und Sie drehen an der anderen Schraube etwas .
Gleichzeitig machen Sie einen Weißbuchprozess . Unse-
re Fraktion, Frau Brugger und ich haben Ihnen in einer
Kleinen Anfrage zahlreiche Fragen gestellt und wenige
bis gar keine Antworten – teilweise auch eher erheitern-
de, wenn das Thema nicht so ernst wäre – bekommen .
Man kann den Eindruck haben, Sie und Ihr Haus wissen
im Moment selbst gar nicht – Sie haben ja auch heute
nichts dazu gesagt –, wohin dieser Weißbuchprozess füh-
ren soll .

Was machen Sie stattdessen? Bevor das Ergebnis vor-
liegt, gehen Sie her und verändern Strukturen, treffen
Entscheidungen . Wir Grüne sagen: Das muss anders sein .
Wir müssen zuerst darüber reden: Welche Aufgaben hat
die Bundeswehr, welche hat sie nicht? Wo macht mehr
Diplomatie Sinn? Dann müssen wir die Frage beantwor-
ten: Welche Struktur und welchen Umfang braucht es
dafür? Am Ende müssen wir einen Strich unter die Rech-
nung machen, wie viel Geld das kostet oder kosten kann .
In diesem Sinne werden wir in die Haushaltsberatungen
gehen und unsere Vorschläge dazu machen .

Ich danke Ihnen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1812008100

Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Henning Otte

von der Fraktion der CDU/CSU das Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Henning Otte (CDU):
Rede ID: ID1812008200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Deutschland ist in guter Verfassung, so sagte es unsere
Frau Bundeskanzlerin heute hier an diesem Rednerpult .
Die guten wirtschafts- und finanzpolitischen Zahlen be-
weisen dies . Die Welt um uns herum scheint aber aus den
Fugen geraten zu sein; so sagte es sinngemäß unser Au-
ßenminister Frank-Walter Steinmeier . Die Flüchtlings-
bilder in Deutschland beweisen dies . Die Krisenherde
dieser Welt befinden sich am Rande des NATO-Gebie-
tes: im Nahen Osten, auf dem Balkan, in Afghanistan,
im Norden Afrikas – alles im unmittelbaren Umfeld Eu-
ropas . Dies sind Folgen oft jahrelanger Krisen, die sich
in der Verzweiflung der Menschen ausdrücken. Terror,
Krieg, Durst, Hunger lassen die Menschen in eine ver-
meintlich bessere Welt aufbrechen .

Die Sicherheitspolitik muss heute vernetzt gesehen
werden . Justiz-, Innen-, Entwicklungs-, Außen- und eben
auch Verteidigungspolitik greifen immer mehr verzahnt
ineinander . Dieser vernetzte Ansatz ist nicht nur national
zu sehen, sondern er muss auch stärker europäisch ge-
sehen werden . Dies muss mehr gelebt werden, und dies
müssen wir politisch in der Zukunft stärker umsetzen .

Der Verteidigungshaushalt umfasst für das Jahr 2016
34,4 Milliarden Euro . Der mittelfristige Finanzplan sieht
dabei eine Anhebung vor . Meine Damen und Herren, die-
se Anhebung ist notwendig . Sie ist richtig angesichts der
notwendigen und durchgeführten Modernisierung unse-

Dr. Tobias Lindner






(A) (C)



(B) (D)


rer Streitkräfte und der Zunahme der vielfältigen Aufga-
ben, die Sie alle kennen, auch angesichts der aktuellen
sicherheitspolitischen Lage .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Bundeswehr leistet wesentliche Beiträge zur Kri-
senprävention, zur Kriseneindämmung und zur Krisen-
bewältigung: im Kosovo, in Afghanistan, am Horn von
Afrika, in Somalia, in Mali, im Mittelmeer, im Nordirak,
und zwar Ausbildungshilfe, Sanitätsdienst, Kampfeinsät-
ze, Minenräumung, taktische Schulungen, Flüchtlings-
rettung aus Seenot – Frau Ministerin hat das dargestellt –,
um nur einige Aufgaben zu nennen . Dazu gehört als al-
lererste Aufgabe immer noch die Landesverteidigung im
Rahmen der Bündnisverteidigung der NATO .

Meine Damen und Herren, bei jeder großen nationalen
Herausforderung kommt der Ruf nach der Bundeswehr:
Bitte um Unterstützung! Die Bundeswehr kommt dem
immer nach . Das ist auch ein Indiz für das Vertrauen der
Bevölkerung in unsere Bundeswehr und ein Beweis für
die professionelle Arbeit unserer Soldatinnen und Solda-
ten . Darauf können die Soldaten und ihre Angehörigen
zu Recht stolz sein .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Auch und gerade jetzt stellt die Bundeswehr auch
Liegenschaften und Manpower zur Unterstützung und
zur Bewältigung der Herausforderungen infolge der vie-
len Flüchtlinge hier in Deutschland . Als verteidigungs-
politischer Sprecher der Unionsfraktion sage ich diese
Unterstützung auch weiterhin zu . Die Flüchtlinge und
Asylbewerber in Deutschland müssen mit der gebotenen
Menschenwürde angenommen werden . Aber wir müssen
zwischen den Schutzbedürftigen und den nicht Schutzbe-
dürftigen differenzieren . Den Schutzbedürftigen, die aus
Verzweiflung vor Krieg und Terror fliehen, werden wir
helfen .

Ich danke an dieser Stelle auch allen Hilfsorganisa-
tionen und der Bundeswehr, die zum Beispiel auch in
meinem Wahlkreis in Celle einen tatkräftigen Beitrag zur
Unterbringung von Flüchtlingen geleistet und ihnen ein
Dach über dem Kopf geschaffen haben . Herzlichen Dank
dafür .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ich sage aber auch: Den nicht Schutzbedürftigen, die
nur zur Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Lage zu uns
kommen, müssen wir auch durch das Vorzeigen unserer
eindeutigen Rechtslage sagen, dass sie in ihr eigenes
Land zurückkehren müssen, notfalls auch unter Durch-
setzung des Rechts . Das wird nicht immer einfach sein,
ist aber unverzichtbar, auch und insbesondere zur Auf-
rechterhaltung der Akzeptanz der wirklich Schutzbedürf-
tigen, denen wir helfen .

Meine Damen und Herren, wir müssen einen klaren
Blick für die Ursachenbekämpfung behalten, gerade
weil die Auswirkungen der weltweiten Krisen in unse-
ren Städten und Dörfern sichtbar angekommen sind . Wir
müssen es schaffen, vor Ort Sicherheit und Stabilität als
Basis für ein gesichertes Leben mit Perspektiven zu ge-

währleisten . Hier will, muss und wird Deutschland auch
weiterhin einen Beitrag leisten, gerade auch im eigenen
Interesse unseres Landes .

Voraussetzung dafür ist eine finanzielle Absicherung
der Aufgaben und eine personell und strukturell hinrei-
chende Ausstattung, immer nach dem Grundsatz: Der
Staat muss auf jede sicherheitspolitische Frage auch eine
Antwort haben . – Die Bedrohungsszenarien sind dabei
vielfältig: die konventionelle Bedrohung durch militäri-
sche Landnahme wie durch Russland in der Ukraine, der
Vormarsch des IS-Terrors im Nahen Osten, Terrorstruk-
turen in Nigeria, zerfallende Staaten wie Libyen und Je-
men und eine zunehmende Cybergefahr durch Eingriffe
in und Angriffe auf digitale Versorgungs- und militäri-
sche Sicherheitsstrukturen .

Deutschland tut alles, um die innere und äußere Si-
cherheit unseres Landes zu gewährleisten . Eine absolute
Sicherheit kann es bei diesen asymmetrischen Gefahren-
strukturen nicht geben . Die Investitionen in die äußere
und auch in die innere Sicherheit sind aber gut investier-
tes Geld; denn ohne Sicherheit gibt es keine Freiheit, und
die Freiheit gehört zu unserem Land .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, was gehört zu den notwen-
digen wesentlichen Maßnahmen? Zuallererst gut mo-
tivierte, gut ausgebildete, professionell arbeitende und
loyale Mitarbeiter . Die Bundeswehr hat als größtes Un-
ternehmen solche Mitarbeiter: die Soldatinnen und Sol-
daten und die zivilen Mitarbeiter . Mit dem Einsatzversor-
gungs-Verbesserungsgesetz, dem Reformbegleitgesetz
und dem Bundeswehr-Attraktivitätssteigerungsgesetz
haben wir als Union viel dazu beigetragen, dass sich die
Arbeitsbedingungen verbessert haben .

Sehr geschätzte Frau Kollegin Evers-Meyer, wir alle
müssen stetig eine Überprüfung durchführen . Deswegen
war es auch gut, dass die vielen Privatisierungen des Mi-
nisters Scharping jetzt zurückgenommen worden sind
und wir jetzt den Blick nach vorne richten und sagen:

Erstens . Die sicherheitspolitische Entwicklung mit
einer Zunahme vielfältiger Aufgaben der Bundeswehr
erfordert auch eine stetige Überprüfung, zum Beispiel
der personellen Obergrenze, damit die Bundeswehr auch
in Zukunft ein Garant für die Sicherheit in Deutschland
bleibt .

Zweitens . Die sicherheitspolitische Entwicklung
erfordert auch eine Beibehaltung des breiten Fähig-
keitsspektrums unserer Armee . Das Unvorhergesehene
kommt immer unvorhergesehener, und darauf müssen
wir eine Antwort haben – gerne im europäischen Ver-
bund dort, wo es funktioniert . Als Bottom-up-Prozess .
Dabei müssen wir aber eben auch immer die Sicherheit
unseres Landes fest im Auge haben .

Drittens . Die sicherheitspolitische Entwicklung for-
dert eine konsequente Modernisierung unserer Ausrüs-
tung: eine neue Generation von Gewehren und neuen
Transport- und Kampfhubschraubern, ein Luftvertei-
digungssystem, ein Mehrzweckkampfschiff, ein neuer

Henning Otte






(A) (C)



(B) (D)


Schützenpanzer, ein zu entwickelnder Kampfpanzer . Das
alles ist eine große Aufgabe, die wir tatkräftig anpacken .

Viertens . Unsere Soldatinnen und Soldaten haben ei-
nen Anspruch auf das modernste Gerät, wenn sie für die
Sicherheit einer der führenden Industrienationen bereit
sind, Leib und Leben einzusetzen . Weil diese Ausrüs-
tung nicht herbeigezaubert werden kann, brauchen wir
eine leistungsstarke wehrtechnische Industrie, die genau
solche komplexen, innovativen Systeme entwickeln und
produzieren kann .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Hierbei sind sogenannte Schlüsseltechnologien, wie Sen-
sorik, Schutz, Kommunikation und gepanzerte Fahrzeu-
ge, von Bedeutung, um nicht abhängig zu werden und
um die Souveränität unseres Landes zu gewährleisten .
Abwanderungstendenzen deutscher wehrtechnischer
Unternehmen ins benachbarte Frankreich sollten wir aus
verteidigungspolitischer Sicht mit Skepsis betrachten .

Unter Berücksichtigung der eben genannten vier
Punkte gilt es fünftens, dass wir mit einer gesteuerten
Rüstungsunterstützung gerade auch den Ländern helfen
können, bei denen wir meinen, dass sie die Stabilität und
die Sicherheit ihres Landes gewährleisten können, um
Perspektiven für Wirtschaft, Gesellschaft und Bildung zu
entwickeln .


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Genau wie Saudi-Arabien!)


Ein voranmarschierender IS-Terrorismus – Sie sagen es,
Frau Keul – muss mit allen Mitteln gestoppt werden .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir werden nicht alle Flüchtlinge dieser Welt aufneh-
men können . Wir wollen unsere Soldaten nicht in alle
Krisenländer dieser Welt schicken. Dennoch profitiert
gerade Deutschland von offenen Wegen und einer offe-
nen Gesellschaftsstruktur . Deswegen ist es hier unsere
Aufgabe, mit einem vielfältigen Angebot unseren Beitrag
zu leisten .

Wenn du die Herausforderungen und das Problem vor
Ort nicht löst, dann kommt das Problem zu dir . Bei uns
sind es die Flüchtlinge, die ein sichtbares Zeichen dafür
sind, dass die Menschen vor Ort keine Perspektive mehr
sehen . Es kommt eben darauf an, das zu tun, worauf es
ankommt .

Herr Leutert, als die Dörfer im Nordirak von IS-Ter-
roristen angegriffen worden sind – das wissen Sie ganz
genau –, gab es nur ein Mittel, dagegenzuhalten . Jetzt zu
behaupten, wir hätten die PKK mit Waffen ausgestattet,
ist entweder bewusst falsch dargestellt oder es ist einfach
kaltschnäuzig, nach dem Motto: Man hätte mit ansehen
müssen, wie die Kurden im Nordirak getötet worden wä-
ren . – Die Kurden haben sich dagegen gewehrt . Ich halte
es für richtig, auch aus christlichen Gründen zu sagen:
Wir helfen den Menschen, damit sie ihre Familien und
ihre eigene Heimat beschützen können .


(Beifall bei der CDU/CSU – Christine Buchholz [DIE LINKE]: Das PKK-Verbot aufheben!)


Worauf es ankommt, das soll das neue Weißbuch
als Richtschnur der deutschen Verteidigungspolitik ab-
bilden . Ich bin unserer Bundesverteidigungsministerin
dankbar dafür, dass sie diesen Prozess angeschoben hat .
Offenheit, Transparenz, der Mut zu notwendigen Ent-
scheidungen, das erwarten die Bürgerinnen und Bürger
zu Recht von uns .

Um in Einigkeit und Recht und Freiheit leben zu kön-
nen – ich schließe mit dieser Feststellung -: Es gibt keine
Freiheit ohne Sicherheit . Nur mit Sicherheit können wir
in Freiheit leben . Dafür tragen wir als Deutscher Bundes-
tag Verantwortung . Deswegen sollten wir diesem Haus-
haltsentwurf für 2016 zustimmen .

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1812008300

Vielen Dank . – Als nächster Redner spricht Dr . Neu

von der Fraktion Die Linke .


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1812008400

Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Frau

Präsidentin! Lassen Sie mich drei Anmerkungen zum
Haushaltsplan für die Bundeswehr machen .

Erste Bemerkung . Die Mittel in diesem Haushaltsplan
betragen realiter 36,6 Milliarden Euro, nicht 34 Milliar-
den Euro, nimmt man die Haushaltsposten aus den ande-
ren Einzelplänen mit dazu . Das heißt letztendlich, dass
Deutschland mit dem Volumen des Einzelplans 14 plus
denen der anderen Haushaltstitel über den viertgrößten
NATO-Haushaltsplan verfügt .

Es kommt noch besser . Weltweit belegt der Haushalt
der Bundeswehr den achten Platz . Das heißt, der Militär-
haushalt der Bundeswehr ist der achtgrößte in der Welt .


(Florian Hahn [CDU/CSU]: Quantitativ oder qualitativ?)


Damit gehört Deutschland weltweit zu den führenden
Militärkräften, soweit es die Militärausgaben betrifft .


(Florian Hahn [CDU/CSU]: Relativ oder pro Kopf?)


Sehr geehrte Steuerzahlerinnen und Steuerzahler oben
auf den Tribünen, Sie zahlen im Jahr 2016 450 Euro pro
Nase in diesem Land für die Bundeswehr .


(Florian Hahn [CDU/CSU]: Ich glaube, das schockiert die Leute nicht besonders! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)


Während in diesem Lande Rentnerinnen und Rentner
Pfandflaschen einsammeln müssen, um zu überleben,
während für die Sanierung von Schultoiletten kein Geld
da ist, zahlen Sie 450 Euro für die Bundeswehr .


(Rainer Arnold [SPD]: Nicht alles, was hinkt, ist ein Vergleich!)


Henning Otte






(A) (C)



(B) (D)


Zweite Anmerkung . Die globalen Militärausgaben
betrugen 2014 1,78 Billionen US-Dollar, das heißt
1 780 Milliarden US-Dollar . Davon haben allein die
NATO-Staaten 942 Milliarden US-Dollar aufgewendet .
Das heißt, von den weltweiten Militärausgaben haben die
NATO-Staaten 60 Prozent ausgegeben .

Das neue und beliebte Feindbild der Bundesregierung,
Russland nämlich, hat im Jahr 2014 84,5 Milliarden
US-Dollar für sein Militär ausgegeben .


(Dagmar Ziegler [SPD]: Unsinn!)


Das heißt, 9 Prozent dessen, was Russland ausgegeben
hat – -


(Florian Hahn [CDU/CSU]: Nein! Andersherum! – Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Das verstehe ich jetzt nicht mehr!)


Umgekehrt: Die NATO hat elfmal so viel wie Russland
für den Militärhaushalt ausgegeben .

Wir können gerne weiter vergleichen . Nehmen wir
China . China hat im Jahr 2014 216 Milliarden US-Dollar
für das Militär ausgegeben . Das sind 23 Prozent dessen,
was die NATO ausgegeben hat . Oder umgekehrt: Die
NATO hat viereinhalbmal so viel für ihr Militär ausge-
geben wie China .


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Das macht insgesamt? – Dr . Tobias Lindner [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Bitte noch einmal wiederholen! Ich kam nicht mit! – Florian Hahn [CDU/ CSU]: China hat auch einen echt transparenten Haushalt!)


– Dazu komme ich gleich . – China und Russland kom-
men damit auf 32 Prozent dessen, was für die NATO-Mi-
litärhaushalte ausgegeben wurde . Mit anderen Worten:
Die NATO hat das Dreifache dessen für Militär ausgege-
ben, was China und Russland gemeinsam für ihr Militär
ausgegeben haben .


(Rainer Arnold [SPD]: Er kann sogar rechnen!)


Daraus kann man schließen, dass die NATO den beiden
Ländern China und Russland in militärischen Fragen
weit überlegen ist, zumal die militärischen Fähigkeiten
der Bundeswehr und der US-Streitkräfte denen der russi-
schen und chinesischen überlegen sind .

Dennoch wird hier in diesem Land – und in anderen
NATO-Ländern – so getan, als seien China und Russ-
land eine militärische Bedrohung für den Westen, nur um
langfristig die 2-Prozent-Marke in Bezug auf das Brut-
tosozialprodukt zu erreichen . Das hieße, in den nächsten
Jahren werden wir irgendwann einmal bei 57 Milliarden
Euro für die Bundeswehr liegen .

Die Bundesregierung und ihr Hauptverbündeter, die
USA, bauen auf diese Weise einen Bedrohungspopanz
gegenüber Russland und China auf, der auf Ihre Kosten
geht, sehr geehrte Steuerzahlerinnen und Steuerzahler .


(Beifall bei der LINKEN – Florian Hahn [CDU/CSU]: Das ist ein Popanz, den Sie aufbauen!)


Die Linke hingegen fordert: Stoppen Sie das Durchfüt-
tern der Rüstungsindustrie als einzigem Nutznießer der
angeblichen Bedrohungsszenarien!


(Beifall bei der LINKEN)


Investieren Sie die Steuergelder in zivile Infrastruktur an-
statt in militärische Sandkastenspiele! Die Bundesregie-
rung macht seit Jahren genau das Gegenteil, aber nicht nur
auf Kosten der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, son-
dern auch auf Kosten der inneren Sicherheit . Das vasal-
lentreue Mitmachen bei US-Kriegen und Regime-Cha nge-
Politik stellt eine wachsende Gefahr auch für die innere
Sicherheit dar, da Deutschland als Mitaggressor wahrge-
nommen wird . Die Hochrüstung und die Nibelungentreue
gegenüber den USA schaffen entgegen Ihrer Behauptung
nicht mehr, sondern weniger Sicherheit für Deutschland .


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Dritte Anmerkung. Die flüchtenden Menschen aus Af-
rika und Nahost, die nach Europa kommen, symbolisie-
ren geradezu die zerstörerische Einmischungspolitik und
die Kriege des Westens unter US-Führung . Ich möchte
Ihnen ein Beispiel geben, wie verlogen diese Politik ist .
Zwischen 1991 und 1998 starben laut UNICEF im Irak
500 000 Kinder unter fünf Jahren aufgrund der UN-Sank-
tionen, deren Aufhebung von den USA blockiert wurde .
Zählt man die über fünfjährigen Kinder und die Erwach-
senen hinzu, sind es weit über 1 Million Menschen, die
im Irak aufgrund der Sanktionen ums Leben kamen .

Wie menschenverachtend diese Politik war, hat die
damalige UN-Botschafterin und spätere Außenministerin
der USA, Madeleine Albright, zum Besten gegeben . In
einem Interview mit dem US-Sender CBS sagte sie auf
die Frage des Journalisten – ich zitiere -: „Wie wir hören,
Frau Albright, starben im Irak eine halbe Million Kinder .
Ist es den Preis wert?“ Frau Albright antwortete: „Ja, wir
glauben, es ist den Preis wert .“ Das sollte uns zu denken
geben, sehr geehrte Damen und Herren .


(Beifall bei der LINKEN)


Das sind die Verbündeten unserer Bundesregierung . Das
sind die Werte, die wir mit den USA teilen . Das ist eine
Schande!


(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Frau Albright ist schon lange nicht mehr Außenministerin!)


Aber danach ging es – dagegen wirken die halbe Mil-
lion fast wie „Peanuts“ – erst richtig los: Es gab Krieg
gegen Serbien, den Irak, Afghanistan und Libyen, und es
gibt den derzeit verdeckten Krieg in Syrien . Den Tod von
Millionen Menschen als Kriegsopfer, Kriegsfolgeopfer
und Sanktionsopfer durch NATO-Kriege und Kriege der
USA im Rahmen der Koalition der Willigen kann man
aber nicht verleugnen und auch nicht mehr verstecken .
Auch die Flüchtlinge kommen mittlerweile zu uns .

Die Linke fordert hingegen: Stoppen Sie die Hoch-
rüstung Deutschlands! Das heißt, wir brauchen keine
Kampfdrohnen, wir brauchen keine neuen Panzer, auch
keine Fregatten und Transportflugzeuge.


(Beifall bei der LINKEN)


Dr. Alexander S. Neu






(A) (C)



(B) (D)


Widmen Sie das Geld um in zivile Projekte für Menschen
und Umwelt in diesem Land! Stoppen Sie die Teilnahme
an der Einmischungspolitik und der Regime-Change-Po-
litik gegenüber anderen Staaten! Das bedeutet einfach
nur, das internationale Recht, wie es die UN-Charta dar-
stellt, zu respektieren – nicht mehr und nicht weniger .


(Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: „Und befehlen Sie Frieden!“)


Verhindern Sie den Missbrauch deutschen Staatsgebie-
tes für die US-Kriegsführung! Stichwort Ramstein und
die Drohnentötung, die über Ramstein läuft . Sagen Sie:
Nein, wir wollen das von deutschem Gebiet aus nicht
mehr akzeptieren . Betreiben Sie aktiv Friedenspolitik
für Europa unter Einschluss – nicht unter Ausschluss –
Russlands! Das heißt, tragen Sie dazu bei, dass es einen
ökonomischen und sicherheitskollektiven Raum von Lis-
sabon bis Wladiwostok gibt!

Das sind, sehr geehrte Damen und Herren, die Para-
meter einer vernünftigen Außen- und Sicherheitspolitik .
Das ist im Übrigen wesentlich kostengünstiger als das,
was Sie uns vorschlagen .

Danke .


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1812008500

Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Rainer Arnold

von der SPD-Fraktion das Wort .


(Beifall bei der SPD)



Rainer Arnold (SPD):
Rede ID: ID1812008600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
Verteidigungspolitiker sind es ja in unserem politischen
Alltag gewöhnt, dass – das passiert fast jeden Tag – neue
Probleme auf unseren Tisch hageln . Dabei handelt es
sich um wichtige und weniger große Probleme . Eines
aber merken wir auch: Es relativiert sich alles, was wir
diskutieren, angesichts der gigantischen humanitären
Katastrophe in vielen Ländern Afrikas, an den Rändern
Europas und, ja, auch mitten bei uns in Europa .

Überall leistet die Bundeswehr ihre Beiträge – das
wurde heute auch schon ausgeführt -: In internationalen
Friedens- und Stabilisierungsmissionen, aber auch bei
der Unterbringung der Flüchtlinge hier in unserem Land
arbeiten Soldaten neben den zivilen Helfern und den Hel-
fern aus den Rettungsdiensten . Das heißt, unsere Solda-
ten sind gute Staatsbürger in Uniform, und sie verdienen
Dank und Respekt wie alle Helfer .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Spätestens angesichts dieser Katastrophe, die wir er-
leben, müssten eigentlich alle in der deutschen Gesell-
schaft mit Ausnahme der Linken – das haben wir wie-
der gemerkt; das gebe ich auf – verstehen, was mit der
Forderung gemeint war: Deutschland muss mehr über
die deutsche Verantwortung und die deutsche Rolle in
der Welt sprechen . Es gibt zum Glück in Deutschland

einen Konsens über unsere diplomatische, präventive
und finanzielle Verantwortung angesichts der Lage der
schutzsuchenden Menschen . Aber welche Rolle spielt
das Militär in diesem Zusammenhang? Dies ist letztlich
nicht geklärt, auch wenn wir immer wieder in Einzelfäl-
len bei der Erteilung von Mandaten die Frage konkret
beantworten .

Es fehlt das grundsätzliche Verständnis, dass Streit-
kräfte selbstverständlich nicht die Probleme der Welt
lösen können . Aber sie müssen Teil des vernetzten An-
satzes in der Welt sein . Denn die brutalen Mörderbanden
und unmenschlichen Diktatoren sind nicht mit Worten zu
stoppen, sondern man muss sich denen leider auch mit
Waffen entgegenstellen .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Karin Binder [DIE LINKE]: Wenn man sie vorher beliefert!)


Weil das so ist, werden wir uns alle in der Politik und
Gesellschaft darauf einstellen müssen, dass in den nächs-
ten Jahren die Außen- und Sicherheitspolitik stärker im
Fokus unserer Arbeit liegen wird, auch wenn dies nicht
allen gefällt . Es wird so sein .

Wir müssen uns auch darauf einstellen, dass wir eine
Debatte brauchen: Müssen die Staatengemeinschaft und
wir als Teil dieser Gemeinschaft bei erkennbaren Krisen
nicht früher entschlossener handeln und eingreifen, statt
so lange zu warten, bis das unermessliche menschliche
Leid in der Tagesschau abends wirklich von niemandem
mehr übersehen werden kann?

Vor diesem Hintergrund diskutieren wir unseren Bun-
deshaushalt . Der Verteidigungsetat wächst leicht an . Das
ist gut, und es geht nach den Irrtümern der vergangenen
Jahre in die richtige Richtung .

Aber wenn wir das ernst meinen – wir meinen es alle
ernst –, dass die Fluchtursachen langfristig nur in den
Krisenregionen bekämpft werden können, dann müssen
wir uns auch dazu bekennen, dass alle Etats in unserem
Haushalt, die sich um die internationale Verantwortung
kümmern – humanitäre Hilfe, Polizeiausbildung, wirt-
schaftliche Zusammenarbeit, aber auch der Etat für Ver-
teidigung –, in den nächsten Jahren deutlicher anwach-
sen müssen, um dieser Verantwortung gerecht zu werden .
Dies alles gehört zusammen . Es geht nicht nur um den
Verteidigungsetat .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Sehr geehrte Damen und Herren, diese Koalition,
Abgeordnete und die Verteidigungsministerin haben in
den vergangenen zwei Jahren viel angestoßen und auf
den Weg gebracht, auch vergangene Fehler korrigiert
und Gutes und Notwendiges für die Soldaten eingeleitet,
insbesondere beim Attraktivitätsprogramm . Wir müssen
jetzt allerdings aufpassen, dass wir die zivilen Beschäf-
tigten nicht vergessen .


(Beifall bei der SPD)


Der Wettbewerb um die klugen Köpfe gilt auch, wenn
es gilt, gute Beamte und Administratoren und insbeson-
dere gute technisch Qualifizierte zu finden. Deshalb ist
das noch eine offene Baustelle . Sie haben unsere Unter-

Dr. Alexander S. Neu






(A) (C)



(B) (D)


stützung, wenn wir mehr für die Interessen und Belange
der Zivilbeschäftigten tun .

Sie sind dabei – das ist ein wichtiger Schritt –, die
Anzahl der vorhandenen Großgeräte zu korrigieren . Sie
haben den Begriff des sogenannten dynamischen Verfüg-
barkeitsmanagements selbst verwendet, Frau Ministerin .
Ich glaube, wir alle verstehen ihn nur noch eher ironisch;
denn er kaschiert eigentlich nur den tatsächlichen Man-
gel .

Um das klar zu sagen: Angesichts der internationalen
Aufgaben, die die Bundeswehr hat, und angesichts der
Tatsache, dass sich die NATO notgedrungen wieder stär-
ker auf ihre Kernaufgaben der Bündnisverteidigung be-
sinnt, darf die Bundeswehr keine Strukturen haben, die
hohl und letztendlich nur auf dem Papier vorhanden sind .
Die Menge an Großgerät wieder auf 100 Prozent aufzu-
füllen, ist keine Aufrüstung . Vielmehr haben wir am Ende
die Strukturen, die wir tatsächlich brauchen . Wir haben
dann nichts Neues oder Zusätzliches, sondern nur das
Notwendige für die Soldaten und die deutsche Sicherheit
verfügbar . Nur so werden wir die Glaubwürdigkeit des
NATO-Bündnisses bei der Verteidigungsfähigkeit erhal-
ten und dafür sorgen, dass unsere osteuropäischen Part-
ner mit ihren Sorgen wissen, dass sie sich auf Deutsch-
land und die NATO tatsächlich verlassen können .

Frau Ministerin, es wäre gut, wenn im Zuge dieser
Haushaltsberatungen ein Plan vorgelegt wird, aus dem
hervorgeht, wann in den nächsten Jahren welches Gerät
in welcher Stückzahl beschafft und wie viel es kosten
wird . Darüber müssen wir zügig reden, damit es nicht
bei der Ankündigung bleibt . Sie haben – das ist wichtig –
effizientere Strukturen bei der Rüstungsbeschaffung ein-
geführt . Es gibt nun ein Rüstungsboard, das die Proble-
me nicht unter dem Tisch hält, sondern sie auf den Tisch
legt; das war ein ganz wichtiger Schritt . Die kommenden
großen Projekte wie MEADS, die Drohnenentwicklung
und ein Mehrzweckkampfschiff werden hoffentlich nach
neuen, besseren und effizienteren Verfahren durchgeführt
und zum Erfolg führen .

Nicht alles, was verändert werden muss, lässt sich aber
in Gesetze und Verordnungen pressen . Vielmehr geht es
auch um die Mentalität . Dabei spielt die Fehlerkultur, die
in einem Haus herrscht, eine zentrale Rolle . Auch hier
wurden Veränderungen eingeleitet . Das zeigt sich exem-
plarisch beim G36 . Anstatt wie viele Jahre zuvor Kritik
zu unterdrücken und die Menschen, die Kritik äußern, zu
mobben – das alles hat es im Einzelfall gegeben –, haben
Sie jetzt die Probleme angenommen und offen benannt .
Zusammen mit dem Verteidigungsausschuss haben wir
nun begonnen, das alles aufzuarbeiten . Wir sind gespannt
auf die Ergebnisse der Arbeitsgruppen im Oktober . Wir
werden diese sorgfältig betrachten und darüber diskutie-
ren .

Wir müssen allerdings aufpassen, dass beim G36
kein falscher Eindruck entsteht . Wenn ein Gewehr nach
25 Jahren ausgemustert wird, dann geschieht das, nicht
weil es Schrott ist, sondern weil seine Lebensdauer nur
20 Jahre beträgt . Die Frage, die beantwortet werden
musste, lautete: Kaufen wir in den nächsten 30 Jahren
neue G36 nach, oder entschließen wir uns angesichts

einer veränderten sicherheitspolitischen und technolo-
gischen Welt für ein neues Produkt? Die Entscheidung,
die nun getroffen wurde, ist richtig . Ich wünsche mir al-
lerdings eine Partnerfirma, die das alte, schlichte Prinzip
von Kaufleuten und Selbstständigen befolgt: Der Kun-
de ist König . – Ich habe nicht den Eindruck, dass dies
angekommen ist . Das macht es uns in diesem Bereich
besonders schwer .

Zum Abschluss . Wie Sie bereits sagten, ist schon vie-
les auf den Weg gebracht worden . Wir wissen aber, dass
der Weg im Bereich der Verteidigungspolitik kein end-
gültiges Ziel hat . Auf diesem Weg werden in den nächs-
ten Monaten und Jahren noch viele Stolpersteine liegen .
Uns ist auch klar, dass Verteidigungspolitik nicht nur als
Reaktion auf Krisen zu verstehen ist; auch das muss ge-
leistet werden . Aber Verteidigungspolitik ist mehr . Sie
wird nur gut sein, wenn sie auf einer langen Zeitschiene
Vorsorge für eine Welt trifft, deren Risiken in 20 oder
30 Jahren unbekannt sind . Aber wir wissen eines: Um
dann gut aufgestellt zu sein, müssen in dieser Legislatur-
periode die notwendigen und richtigen Entscheidungen
getroffen werden . Sie haben unsere Unterstützung auf
diesem Weg .

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1812008700

Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Doris Wagner

von der Fraktion BÜNDNIS 90/Die Grünen das Wort .


Doris Wagner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1812008800

Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Werte Kolleginnen

und Kollegen! Eigentlich hat diese Woche ganz erfreu-
lich mit einer guten Nachricht angefangen: Die Bundes-
regierung will künftig jedes Jahr 400 Millionen Euro
mehr für die Bewältigung und Prävention von Krisen
ausgeben . 400 Millionen Euro mehr, das bedeutet eine
Verfünffachung des bisherigen Haushaltsansatzes für die
zivile Krisenprävention . Das ist richtig, und das ist gut .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Doch die schlechte Nachricht ist: Dieses Geld ist gar
nicht in dem Haushaltsentwurf veranschlagt, den wir
heute debattieren . Die Entscheidung, die Mittel für die
zivile Krisenprävention kräftig aufzustocken, fiel kurz-
fristig in einer Sitzung des Koalitionsausschusses am
Wochenende . Damit ist diese Entscheidung eben nicht
Ausdruck grundsätzlicher politischer Einsichten oder
einer langfristigen Strategie; vielmehr offenbart die
Bundesregierung damit vor allem eines: Erst wenn die
Folgen des Krieges unser Land erreichen, erst wenn in
Deutschland Flüchtlingsheime brennen, erst dann ist die-
se Regierung bereit, Geld für Frieden in die Hand zu neh-
men und auszugeben . Mit einer konzeptionellen und stra-
tegisch durchdachten zeitgemäßen sicherheitspolitischen
Finanzplanung hat das in meinen Augen nichts zu tun .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Rainer Arnold






(A) (C)



(B) (D)


Frieden und Sicherheit sind vor allem mit einer vor-
ausschauenden, vorrangig zivilen und umfassenden Au-
ßen- und Sicherheitspolitik zu erreichen . Dazu müssen
wir die verschiedenen Instrumente der Verteidigungs-,
Entwicklungs- und Handelspolitik eng verzahnen; da bin
ich ganz bei Ihnen, Herr Otte .


(Henning Otte [CDU/CSU]: Ich freue mich!)


Doch diese mittlerweile selbstverständliche Erkennt-
nis spiegelt sich in unserem Haushaltsentwurf 2016 lei-
der überhaupt nicht wider .


(Henning Otte [CDU/CSU]: Was?)


Statt einen konsequent umfassenden Ansatz zu verfol-
gen, orientiert sich die Bundesregierung in ihrer Bud-
getplanung an einem völlig veralteten Verständnis von
Sicherheitspolitik . Ich würde gerne zwei Beispiele dafür
anfügen:

Erstens . Sicherheitspolitik à la Schwarz-Rot bedeutet
vor allem Frieden schaffen mit noch mehr Waffen . Kein
anderer Posten des Verteidigungshaushaltes wächst 2016
so stark wie die militärischen Beschaffungen . 550 Milli-
onen Euro mehr will die Ministerin 2016 in Waffen in-
vestieren .


(Florian Hahn [CDU/CSU]: Weil wir zu wenig hatten in den letzten Jahren!)


550 Millionen Euro sind deutlich mehr als die eingangs
erwähnten 400 Millionen Euro für zivile Krisenpräven-
tion .

Zweitens . Außerdem ist die Bundesregierung nicht
bereit, ihre Zusage für die Stärkung der Entwicklungspo-
litik einzulösen . 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkom-
mens haben Sie versprochen; aber tatsächlich stagnieren
die deutschen ODA-Mittel schon seit Jahren bei lediglich
0,4 Prozent .

Ich frage Sie: Tragen wir wirklich zur Stabilisierung
unserer südlichen und östlichen Nachbarschaft bei, in-
dem wir uns vor allem neue Waffen zulegen? Ich denke,
das ist nicht der Fall .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Viel besser wäre unser Geld doch investiert in Bildung,
in Infrastruktur, in Maßnahmen zur Reform des Sicher-
heitssektors in unseren Nachbarregionen . Das ist moder-
ne Sicherheitspolitik .

Ein in meinen Augen völlig veraltetes Verständnis von
Sicherheit zeigt die Bundesregierung auch bei der soge-
nannten Ertüchtigung von Partnerstaaten . Für diese Er-
tüchtigung sind im Einzelplan 60 erstmals 100 Millionen
Euro vorgesehen . Ganz ausdrücklich soll damit auch die
Lieferung letaler Waffen an staatliche Sicherheitsstruk-
turen der Partnerländer finanziert werden. Damit läuft
die Bundesregierung endgültig Gefahr, dass sie mit ihrer
Sicherheitspolitik nicht den Frieden, sondern, im Gegen-
teil, eher den Krieg befördert . Das möchte ich Ihnen mit
drei Gründen darlegen:

Erstens . Viele Menschen außerhalb Europas erleben
staatliche Strukturen wie Armee und Polizei gerade nicht
als Garant für ihre Sicherheit . Im Gegenteil: Soldaten

und Polizisten dienen vielerorts vor allem dazu, unbe-
queme Oppositionelle zu bekämpfen .

Zweitens . Was wir als Sicherheit bezeichnen, wird in
vielen europäischen Staaten gar nicht von Armee und Po-
lizei gewährleistet, sondern von zivilgesellschaftlichen
Akteuren, von Menschen, die alle Bewohner einer Ort-
schaft kennen und die deshalb Vertrauen, Ansehen und
Autorität genießen .

Drittens . Es gibt besonders in schwachen Staaten kei-
nerlei Gewähr dafür, dass die Waffen, die wir ihnen lie-
fern, nicht in dunklen Kanälen verschwinden .

Die sogenannte Ertüchtigung von Partnerstaaten setzt
also bei den falschen Akteuren an . Sie ist ein gefährliches
Spiel mit dem Feuer . Wer Waffen liefert, schafft Gewalt
und neue Fluchtursachen, statt sie zu beseitigen. Das fin-
de ich absurd .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn wir Sicherheit und Frieden wirklich voranbrin-
gen wollen, müssen wir aufhören, unser Geld vor allem
für neue Waffen auszugeben, und wir müssen damit an-
fangen, unsere Unterstützung sehr viel stärker als bisher
auf gesellschaftliche Akteure auszurichten . Deshalb for-
dere ich Sie auf, meine Damen und Herren auf der Regie-
rungsbank: Nutzen Sie den Ressortkreis Zivile Krisen-
prävention, um die deutsche Sicherheitspolitik auf eine
umfassende, moderne Grundlage zu stellen . Investieren
Sie in Friedensforschung; denn nur wer die Ursachen
für die Konflikte kennt, kann sie auch beseitigen. Stel-
len Sie diese 100 Millionen Euro, die zur Ertüchtigung
vorgesehen sind, dem Ressortkreis Zivile Krisenpräven-
tion zur Verfügung; dann könnten auch das BMZ und das
BMI dort Mittel beantragen, die der Stärkung der zivilen
Strukturen und Akteure dienen können . Bitte, drehen Sie
doch jeden Euro zweimal um, den Sie für neue Waffen
ausgeben wollen . Das wird sich für uns alle auszahlen .

Vielen Dank .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1812008900

Vielen Dank . – Als nächster Redner spricht Ingo

Gädechens von der CDU/CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ingo Gädechens (CDU):
Rede ID: ID1812009000

Frau Präsidentin, liebe Frau Bulmahn, Sie haben mir

das letzte Mal erlaubt, dass ich hier Besuchergruppen be-
grüße . Der Zufall will das immer so: Ich freue mich, dass
die Spitze der Kreisjugendfeuerwehr Ostholstein hier ist,
und ich freue mich, dass die neunten Klassen der Insel-
schule Fehmarn – Fehmarn ist meine Heimatinsel – mei-
ner Rede hier live folgen dürfen .


(Heiterkeit und Beifall – Henning Otte [CDU/ CSU]: Schöne Grüße auch von uns!)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1812009100

Aha, gut organisiert .

Doris Wagner






(A) (C)



(B) (D)



Ingo Gädechens (CDU):
Rede ID: ID1812009200

Hervorragend, Frau Präsidentin .

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr ver-
ehrten Damen und Herren! Der Verteidigungsetat – das
machten die Wortbeiträge schon deutlich – ist ein beson-
derer; denn wir entscheiden nicht nur darüber, wie viel
uns unsere Sicherheit wert ist, sondern es geht bei der
Wertigkeit auch um Wertschätzung gegenüber unseren
Soldatinnen und Soldaten, die im Einsatz im schlimms-
ten Fall ihr Leben riskieren . Dies unterscheidet unseren
Etat von anderen Etats des Haushalts .

Der Verteidigungsetat ist vor dem Hintergrund der Viel-
zahl an Krisen, die genannt wurden, und der wachsenden
terroristischen Bedrohung gerade in diesen Tagen alles
andere als trivial . Es geht um grundlegende Weichenstel-
lungen, mit denen Deutschland den sicherheitspolitischen
Anforderungen und seinen Bündnisverpflichtungen ge-
recht werden will, ja gerecht werden muss . Diese Anforde-
rungen und Verpflichtungen sind im Vergleich zum letzten
Etat vor einem Jahr erkennbar größer geworden .

Nach wie vor sehen wir uns konfrontiert mit dem Kon-
flikt in der Ukraine, und wir sehen einen barbarischen
Terror des „Islamischen Staats“ im Irak und in Syrien,
geprägt von unbeschreiblicher Grausamkeit . Wir erleben
eine gefährliche Zuspitzung der Weltlage, von deren Fol-
gen wir nicht unberührt bleiben . Wir erleben, wie aktuell
Abertausende Menschen auf der Flucht vor Krieg und
Gewalt Zuflucht in Europa und ganz besonders bei uns
in Deutschland suchen . Angesichts dieser dramatischen
Bilder bewegt es mich zutiefst, wie unser Land – auch
das wurde schon mehrfach deutlich – zusammensteht
und Flüchtlinge freundlich empfängt . Dies hat uns im
Ausland viel Respekt eingebracht und zeugt vom Mut
der Deutschen, sich mit Engagement dieser Flüchtlings-
krise, diesen Flüchtlingsströmen zu stellen .

Meine Damen und Herren, Deutschland sendet mit
seiner Politik eine klare Botschaft aus: Wir dürfen und
werden die Ausweitung der humanitären Katastrophe
nicht zulassen . – Ich sage aber auch: Wir brauchen ein
starkes Bekenntnis in Europa, dass alle Länder Verant-
wortung für Menschen übernehmen, die vor Verfolgung
und Krieg fliehen.

In Anbetracht des Ausmaßes der Flüchtlingsströme
und des Leids der Menschen müssen wir eingestehen:
Krisen und Konflikte, die manch einer weit weg glaubte,
sind auf einmal ganz nah bei uns . Wir spüren seit Mona-
ten: Kein Staat, kein Bündnispartner kann und darf sich
wegducken . Ein freundliches Desinteresse hilft nicht
weiter .


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Schwätzen auch nicht!)


Die Folgen der Brandherde in Syrien, im Irak, im Jemen,
in Afghanistan und wo auch immer sind über kurz oder
lang auch bei uns zu spüren .

Deshalb – angesichts der zunehmenden Krisen – und
aus vielen anderen Gründen ist die Erhöhung der Vertei-
digungsausgaben notwendig und wichtig .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Erhöhung um rund 1,4 Milliarden Euro ist ein wich-
tiger Schritt und weist in die richtige Richtung . Sie be-
weist, dass Deutschland seiner sicherheitspolitischen
Verantwortung gerecht wird . Von einer Friedensdividen-
de, so wie wir sie in vergangenen Debatten eingefordert
haben, kann keine Rede mehr sein . Nur der Teil auf der
linken Seite des Hauses redet immer wieder und gern von
der Abschaffung der Bundeswehr .

Nein, meine Damen und Herren, innere und äußere
Sicherheit gibt es nicht umsonst. Die finanzielle Aus-
stattung, der Mittelansatz im Einzelplan 14, hat darüber
hinaus eine hohe Symbolkraft, auch für die mit uns be-
freundeten Nationen, gerade in Osteuropa .

Die Bundeswehr hat sich in den vergangenen sechs Jahr-
zehnten stark gewandelt . Von einer reinen Verteidigungs-
armee ist sie zu einer Armee im Einsatz geworden . Ich
würde sogar so weit gehen und sagen: Die Bundeswehr
ist im 60 . Jahr ihres Bestehens zu einer Armee im Daue-
reinsatz geworden .


(Zurufe von der LINKEN: Aha!)


Man gewinnt den Eindruck: Überall dort, wo es
brennt, wo deutsche Hilfe gebraucht wird, wo Deutsche
helfen können und sollen, wird zuallererst die Bundes-
wehr hingeschickt . Wir sehen es ganz aktuell an der
Rettung von Flüchtlingen aus dem Mittelmehr durch die
Einheiten der Deutschen Marine oder an der Flüchtlings-
hilfe in Deutschland, welche Zelte und Unterkünfte zur
Verfügung stellt . Die hohe Motivation, mit der sich die
Soldatinnen und Soldaten diesen immer neuen Heraus-
forderungen stellen, ist bewundernswert und verdient
meinen besonderen Dank und unsere Anerkennung .

Bei meinen Truppenbesuchen in der sitzungsfreien
Zeit spürte ich einmal mehr, wie die Bundeswehr fester
Bestandteil unserer Gesellschaft ist . Dabei geht es nicht
nur um das, was in der regulären Dienstzeit geleistet
wird, sondern es geht auch darum, wie sich Männer und
Frauen der Bundeswehr – egal ob als aktive Soldaten,
Zivilisten oder Reservisten – weit über das normale Maß
in dieser Gesellschaft engagieren . Vielleicht spielt das
innere Pflichtgefühl eine Rolle. Trotzdem ist es für mich
beispielgebend, wie in den Landeskommandos nach zu-
sätzlichen Unterkünften gesucht wurde und unbürokrati-
sche Hilfe geleistet wird, zum Beispiel im Materialdepot
Wester-Ohrstedt . Jeder kennt es . Wer ist dort noch nicht
gewesen? In Wester-Ohrstedt wurden sämtliche zur Ver-
fügung stehenden Zelte in Windeseile zusammengestellt,
und dabei hat keiner der Soldaten oder der 120 zivilen
Mitarbeiter auf die Uhr geschaut, sondern es war Hilfs-
bereitschaft . In meinem Wahlkreis in Schleswig-Holstein
wurden auf dem Truppenübungsplatz Putlos – die Bun-
desministerin hat andere Länder genannt – sehr schnell
900 Aufnahmeplätze bereitgestellt . Das alles ist wahrlich
nicht selbstverständlich, und vielleicht sollten wir die
vielen positiven Beispiele einmal sammeln, um sie in ei-
ner besonderen Weise zu würdigen .

Meine Damen und Herren, die Vielzahl der nationa-
len und internationalen Einsätze erfordert nicht nur ein
ausgesprochen hohes Engagement der Kameradinnen
und Kameraden sowie der zivilen Mitarbeiter . Die unun-
terbrochene Einsatzbelastung fordert ihren Tribut beim






(A) (C)



(B) (D)


Material . Der Verschleiß ist höher, der Lebenszyklus
der Systeme wird kürzer, gleichzeitig steigt der Bedarf
an Einsatzmaterial . Eine Erhöhung der Ausgaben für
Instandsetzung, Wartung und Betrieb ergibt sich daraus
zwangsläufig. Denn die Einsatzbereitschaft der Bundes-
wehr darf nicht durch Materialengpässe gefährdet wer-
den . Man muss sich immer vor Augen führen: Die Bun-
deswehr ist nur zu dem imstande, wozu wir sie befähigen
und wie wir sie finanziell ausstatten. Nur ein solides
Fundament für unsere Streitkräfte sichert Deutschlands
sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit .

Ich bin deshalb sehr froh, dass es unserer Verteidi-
gungsministerin gemeinsam mit dem Bundesfinanzmi-
nister gelungen ist, trotz Schuldenbremse eine Erhöhung
der Verteidigungsausgaben umzusetzen . Damit wird ein
deutliches Signal gesetzt . Die Bundeswehr hat einen ho-
hen Modernisierungsbedarf . Daher ist es besonders zu
begrüßen, dass auch das Investitionsvolumen in der Bun-
deswehr deutlich erhöht wird . Ja, es ist richtig: Bei der
gewünschten Quote von 20 Prozent an Investitionsaus-
gaben sind wir noch lange nicht angekommen, aber eine
Trendumkehr ist sichtbar und ausdrücklich zu begrüßen .

Angesichts der Vielzahl neuer Bedrohungen und Her-
ausforderungen ist es richtig, die Ausgaben im Verteidi-
gungshaushalt zu erhöhen . Wir haben hier einen soliden,
ausgewogenen und durchdachten Haushalt vorgelegt
bekommen . Die Bundesregierung handelt entschlossen,
und ich danke an dieser Stelle der Bundesministerin, die
ihren Worten stets auch Taten folgen lässt .

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Michaela Noll [CDU/CSU]: Da hat er recht!)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1812009300

Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Lars Klingbeil

von der SPD-Fraktion das Wort .


(Beifall bei der SPD)



Lars Klingbeil (SPD):
Rede ID: ID1812009400

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Ministerin! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächst einmal
ein Thema ansprechen, das in dieser Debatte bisher noch
keine große Rolle gespielt hat, dem aber in der Verteidi-
gungspolitik, so denke ich, ein größerer Stellenwert ein-
geräumt werden sollte, nämlich der Cyberpolitik .

Ich glaube, hier stehen wir vor Herausforderungen,
sodass wir in einer politischen Debatte Leitlinien festle-
gen müssen, sodass wir schauen müssen, wie wir agieren
wollen . Wir alle sollten uns gemeinsam bewusst machen,
dass dieses Thema in den nächsten Jahren massiv an Be-
deutung gewinnen wird .

In dieser Haushaltsdebatte müssen wir auch darüber
reden, wie wir im Haushalt zu Verbesserungen kommen
können . Sehr geehrte Frau Ministerin, wenn man sich
den Einzelplan 14 anschaut, dann stellt man fest, dass das
kein Thema ist, das in großer Breite und so angemessen,

wie es sein sollte, im Verteidigungshaushalt auftaucht .
Wir sollten dringend über gemeinsame Schritte reden .

Wir alle wissen und haben es anhand vieler Beispie-
le in den vergangenen Monaten gesehen, wie verletzlich
eine moderne Industriegesellschaft ist . Es geht um Fra-
gen von Elektrizität . Es geht um Mobilität und Kommu-
nikation . Das haben wir im Deutschen Bundestag selbst
schmerzhaft erfahren müssen . Der Cyberraum wird zu
einem neuen Operationsraum, auch wenn es um Kriegs-
führung, wenn es um Angriffe geht . Wir brauchen eine
gesellschaftliche Debatte darüber und ein Bewusstsein
dafür, wie wir gemeinsam vorgehen wollen .

Das ist sicherlich nicht an vorderster Front Aufgabe
des Verteidigungsministeriums . Es fallen uns ganz viele
andere Ressorts ein, die dabei auch eine große Verant-
wortung haben . Wir müssen aber auch in der Sicherheits-
politik über die Frage der Cybersicherheit und über die
Frage der Bedrohung im Cyberraum reden .

Frau Ministerin, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie im
Weißbuchprozess darauf einen Schwerpunkt legen . Hier-
zu findet in der nächsten Woche eine große Veranstaltung
statt . Es wird darum gehen, gemeinsam zu analysieren,
worin Bedrohungen liegen und welche Einsatzszenarien
infrage kommen .

Sie haben die strategischen Leitlinien vorgelegt . Ich
stimme diesen nicht in jedem Punkt zu . Es war aber ein
guter Aufschlag, dass die Debatte durch das Ministeri-
um eröffnet worden ist . Ich glaube, dass wir noch konse-
quenter und noch schneller handeln und den Cyberraum
als Ebene der Außen- und Sicherheitspolitik erschließen
müssen . Das darf kein Modethema sein . Ich bin mir si-
cher: Sicherheits- und Außenpolitik werden dadurch
dauerhaft und nachhaltig verändert . Dabei haben wir in
Deutschland großen Nachholbedarf .


(Beifall bei der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will fünf Felder
nennen, über die eine Debatte in den kommenden Wo-
chen meines Erachtens sehr wichtig ist:

Das betrifft erstens den Schutz unserer kritischen Inf-
rastruktur, den Schutz der Kommunikation . Dabei geht es
darum, Angriffe im Inland abzuwehren . Es geht aber auch
um den Schutz unserer Soldatinnen und Soldaten, wenn
sich diese im Auslandseinsatz befinden. Für diese muss
eine vertrauliche Kommunikation gewährleistet sein . Da-
für brauchen wir die neuesten technischen Geräte, und wir
müssen schauen, wie die Ausrüstung aussehen kann .

Der zweite Punkt betrifft die Aufklärung . Dabei geht
es darum, dass wir eigenständig Lagebilder erstellen
können müssen . Ich will das hier auch deutlich sagen: Ich
habe manchmal kein gutes Gefühl, wenn ich feststelle,
dass wir auf Informationen anderer Länder zurückgreifen
müssen . Da bestehen Abhängigkeiten . Wenn man sich
einmal anschaut, wie mit Informationen vielleicht auch
falsche Informationen ins Spiel kommen, dann kommt
man zu dem Ergebnis, dass es gut ist, eigene Aufklä-
rungskapazitäten zu haben . Wir müssen schauen, wie das
Ganze im Haushalt hinterlegt werden kann .


(Beifall bei der SPD)


Ingo Gädechens






(A) (C)



(B) (D)


Der dritte Punkt, über den wir reden müssen – ich
glaube, das wird die schwierigste Debatte hier im Haus –,
betrifft die Frage, wie es neben den abwehrenden mit
den Offensivkräften aussieht . Was wollen wir da? Wie
sieht es da im Cyberraum aus? Ich habe an vielen De-
batten dazu teilnehmen können . Ich glaube, dass wir in
Deutschland noch keine festgelegte Position dazu haben .
Wir müssen aber dringend darüber reden, ob wir offen-
sive Fähigkeiten haben wollen und wie diese aussehen
können, welche Maßnahmen es gibt und welche Akteure
aktiv werden können .

Der vierte Punkt bezieht sich auf die Strukturen . Wenn
man sich die Bundeswehr anschaut, dann stellt man fest,
dass es rudimentäre Strukturen im Cyberbereich gibt .
Diese sind aber alle zersplittert . Wir müssen schauen,
wie wir Strukturen bündeln können . Eine große Aufgabe
wird es sein, ausreichend Personal vorzuhalten, das über
das notwendige Know-how verfügt, im IT-Bereich unter-
wegs zu sein .

Frau Ministerin, ich bin mir sicher: Wenn man einmal
in Ihrem Haus bzw . bei der Bundeswehr nachschauen
würde, dann würde ein großer Bedarf an zusätzlichem
Personal deutlich werden . Insofern müssen wir gemein-
sam darüber reden, wie wir Personal gewinnen können .

Der letzte und fünfte Punkt, den ich ansprechen will,
gehört auch dazu . Dieser steht sogar im Koalitionsver-
trag . Darin steht, dass wir uns das Völkerrecht anschauen
müssen . Wir müssen schauen, wie der Cyberraum hier
vorgesehen ist, ob es zu einer Weiterentwicklung kom-
men muss . Wir müssen auch über so etwas wie eine ge-
meinsame Abrüstungspolitik im Cyberraum reden . Das
ist eine große gemeinsame Verantwortung, die wir in in-
ternationalen Gremien tragen . Auch das gehört zu dieser
Diskussion .

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin der Mei-
nung, dass diese Debatte hier im Haus dauerhaft die
Außen- und Sicherheitspolitik verändern wird . Auch im
Haushalt des Verteidigungsministeriums ist dieses The-
ma noch nicht ausreichend repräsentiert . Ich glaube, wir
müssen in einer gemeinsamen Kraftanstrengung zu Ver-
änderungen kommen . Insofern wünsche ich mir, dass wir
in der nächsten Woche die Konferenz, aber insgesamt
auch die Haushaltsberatungen nutzen, um zu schauen, in
welchen Bereichen wir vielleicht Nachholbedarf haben .

Herzlichen Dank fürs Zuhören .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1812009500

Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Bartholomäus

Kalb von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Bartholomäus Kalb (CSU):
Rede ID: ID1812009600

Werte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-

legen! Der Verteidigungsetat steigt stärker, als zunächst
vorgesehen, nämlich auf 34,4 Milliarden Euro . Wir ge-
hen praktisch über die ursprünglichen Ansätze der mit-

telfristigen Finanzplanung hinaus . Das ist richtig, das
ist gut, das ist notwendig, weil, wie wir sehen, unsere
Bundeswehr vor ganz neuen großen Herausforderungen
steht und wir diesem Umstand auch im Verteidigungsetat
Rechnung tragen müssen .

Herrn Kollegen Neu würde ich gern erklären, wie
der Anteil von 1,17 Prozent am BIP zustande kommt;
er ist aber nicht mehr da . Ich kann mir jedenfalls nicht
vorstellen, dass er etwa kritisieren wollte, dass in diese
Prozentzahl auch noch die humanitäre Hilfe eingerechnet
wird, die aus dem Topf des Auswärtigen Amtes finanziert
wird – um nur ein Beispiel zu nennen .

Den Kollegen Dr . Lindner kann ich beruhigen . Ich
weiß, dass es in den Kreisen der Fachpolitiker durch-
aus die Annahme gibt, dass man den NATO-Standard
in Höhe von 2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes er-
reichen sollte . Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass
die Lücke zwischen 1,17 Prozent und 2 Prozent noch zu
Zeiten meiner politischen Tätigkeit geschlossen werden
wird .

Wir müssen mit dem Geld, das wir zur Verfügung
haben, sehr gut umgehen, es sehr effizient einsetzen.
So müssen wir die Bündnisfähigkeit gewährleisten . Wir
haben einen hohen Modernisierungsbedarf . Wir müssen
auch die Leistungsfähigkeit wie den Wirkungsgrad und
die Effizienz unserer Waffensysteme verbessern; das hat
etwas damit zu tun, dass wir mit weniger Personal die
Verteidigungsleistung und Schutzwirkung erzielen müs-
sen, die wir brauchen . Wir brauchen eine Kompatibili-
tät der Systeme innerhalb unserer Streitkräfte, aber vor
allen Dingen auch mit unseren Bündnispartnern . Auch
dies sind besondere Herausforderungen, damit wir Ko-
operationsfähigkeit beibehalten bzw . da, wo notwendig,
wiederherstellen können .

Wir wissen zugleich, dass es im Verteidigungsetat gro-
ße Blöcke gibt, in denen ein Großteil der Mittel gebun-
den ist . Wenn ich an die Personalausgaben in Höhe von
11,4 Milliarden Euro und an die Versorgungsausgaben,
für die ja 5,7 Milliarden Euro veranschlagt sind, denke,
dann relativiert sich manches schon .

Ich bin vor diesem Hintergrund sehr froh, dass wir
trotzdem bei den verteidigungsinvestiven Ausgaben noch
eine Steigerung hinbekommen haben . So können wir
dem Umstand Rechnung tragen, dass bestimmte Systeme
demnächst – leider mit Verzögerung – zulaufen . Wenn sie
zulaufen, müssen sie auch bezahlt werden . Wir stehen ja
vor der Beschaffung großer und teurer Systeme . Vor der
Sommerpause haben wir – Frau Ministerin, Sie haben es
vorhin angesprochen – eine Vielzahl von Entscheidungen
getroffen . Wir haben – Sie haben es schon gesagt – 18 so-
genannte 25-Millionen-Vorlagen behandelt, die natürlich
finanzielle Auswirkungen im nächsten, übernächsten und
weiteren Folgejahren zeitigen werden . Wir haben auch
einige grundsätzliche weittragende Entscheidungen ge-
troffen, etwa dass wir mit Frankreich bei Aufklärungs-
systemen zusammenarbeiten wollen, oder auch hinsicht-
lich Flugabwehr und taktischer Luftverteidigung – um
einige Beispiele hier zu nennen .

Auf der anderen Seite haben wir die Entwicklung,
dass sich die Bedrohungsszenarien und damit unsere An-

Lars Klingbeil






(A) (C)



(B) (D)


forderungsszenarien ständig ändern . Auch darauf müssen
wir eine Antwort geben, etwa im Bereich der Ausbildung
und im Bereich der Ausrüstung . Hier stellt sich für die
Führung des Ministeriums und die Führung des Militärs
stets eine neue Aufgabe .

Die Neuausrichtung der Bundeswehr ist noch nicht
abgeschlossen . Wir haben im Frühjahr das Gesetz zur At-
traktivitätssteigerung verabschiedet, das wir alle ja ins-
gesamt sehr begrüßt und unterstützt haben . Das heißt na-
türlich, dass das, was im Gesetz beschlossen wurde, auch
im Haushalt entsprechend umgesetzt werden muss, und
es wird im Haushalt auch entsprechend umgesetzt . Ich
weiß, dass der Kollege Gädechens als engagierter Vertei-
digungspolitiker der Frau Bundesministerin noch weitere
gute Vorschläge zukommen lässt . Das hat auch etwas da-
mit zu tun, dass wir jetzt in einer anderen Situation sind .
Wir haben die Wehrpflicht ausgesetzt. Wir müssen das
Personal auf dem freien Markt gewinnen . Ich freue mich,
dass – Sie haben es bestätigt, Frau Bundesministerin,
und ich konnte das auch im Rahmen meiner Sommerrei-
se zu einigen Standorten feststellen – die Nachwuchsge-
winnung erstaunlich gut läuft . Darüber können wir uns
freuen; denn die Bundeswehr braucht gute Leute . Das
gelingt, wenn das Angebot und die Nachfrage gut sind .

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bundes-
wehr ist zurzeit an vielen Brennpunkten im Einsatz; das
ist schon gesagt worden . Sie gibt Sicherheit, sie leistet
Schutz und Hilfe,


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Oh!)


und sie rettet Leben, wie wir es gerade im Mittelmeer er-
leben . Die Bundesministerin hat zu Recht darauf hinge-
wiesen: Dort konnten 7 200 Menschen gerettet werden .


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Wo denn?)


Ich denke, das ist eine ganz beachtliche Leistung .

Es ist keine Floskel, wenn fast jeder Redner von uns
das hier zum Ausdruck bringt, sondern es ist uns ein Her-
zensanliegen, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern,
den Soldatinnen und Soldaten, aber auch den zivilen Mit-
arbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundeswehr immer
wieder für ihre Arbeit und für ihren Einsatz vor allem
in den besonderen Situationen herzlich zu danken . Wir
haben allen Grund, dankbar zu sein .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Wenn einem nichts mehr einfällt, muss man das sagen! Das ist ritualhaft, jedes Mal!)


Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir
stehen vor wichtigen Veränderungen . Wir müssen unsere
militärischen Fähigkeiten neu ausrichten . Vorhin war bei-
spielsweise die Rede von den Schlüsseltechnologien, die
für uns sehr wichtig sind . Viele Rüstungsunternehmen
arbeiten jetzt im europäischen Verbund . Sie sind gar kei-
ne nationalen Unternehmen mehr oder werden es nicht
mehr sein, sondern sie werden europäische Unternehmen
sein . Wir haben in Deutschland aber neben den Schlüs-
seltechnologien in diesen Bereichen auch eine Vielzahl
von Kernfähigkeiten, unter anderem durch unsere Inge-
nieure und unsere Facharbeiter . Diese sollten wir nicht

verlieren; denn wir brauchen sie dringend, wenn wir un-
sere Bundeswehr und unsere befreundeten Armeen auch
in der Zukunft mit hochwertigem Material und hochwer-
tigen Einsatzmitteln ausstatten wollen .

Deswegen begrüße ich es sehr, dass die Bundesre-
gierung vor kurzem ein Strategiepapier vorgelegt hat .
Offiziell heißt das Strategiepapier „Stärkung der Vertei-
digungsindustrie in Deutschland“ . Ich denke, es ist ein
wichtiges Papier und eine wichtige Grundlage für weite-
re Entscheidungen, die zu treffen sein werden .

Ich habe vorhin schon den Kollegen Gädechens an-
gesprochen . Er hat der Bundesministerin dafür gedankt,
dass sie den Worten ständig Taten folgen lasse . Auch
wir Haushälter werden den Worten Taten folgen lassen:
durch eine intensive und sachgerechte Beratung des Ver-
teidigungsetats .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Karin Evers-Meyer [SPD]: Gut gesprochen!)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1812009700

Vielen Dank . – Als letzter Redner in dieser Runde hat

Dr . Felgentreu von der SPD-Fraktion das Wort .


(Beifall bei der SPD)



Dr. Fritz Felgentreu (SPD):
Rede ID: ID1812009800

Danke sehr . – Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren! Im Verteidigungsetat 2016 wird sich deutlich
niederschlagen, dass wir mehr für die Attraktivität der
Bundeswehr als moderne Freiwilligenarmee tun und auch
in Zukunft tun wollen . Allein für das mit dem wohlklin-
genden Etikett „Agenda Attraktivität“ versehene Maß-
nahmenpaket sind im Entwurf knapp 35 Millionen Euro
vorgesehen . Dieses Geld soll für eine bessere Führungs-
und Organisationskultur ausgegeben werden, für die
Vereinbarkeit von Familie und Dienst – sehr wichtig –,
für planbare Arbeits- und Freizeit, für den Gesundheits-
schutz am Arbeitsplatz und für moderne Unterkünfte .
Hinzu kommen die direkten finanziellen Auswirkungen
des Artikelgesetzes, das wir im Frühjahr beschlossen ha-
ben . Darauf ist schon mehrfach hingewiesen worden . Die
SPD-Fraktion begrüßt diese Entwicklung ausdrücklich .


(Beifall bei der SPD)


Nur eine attraktive Bundeswehr wird als Freiwilligenar-
mee in einem Umfeld bestehen können, in dem Unter-
nehmen und öffentlicher Dienst in scharfer Konkurrenz
um tüchtige Arbeitskräfte werben . Dieses Geld ist des-
wegen gut angelegt, in die Sicherheit und in die Bündnis-
fähigkeit unseres Landes .

Die Attraktivität des Dienstes, liebe Kolleginnen und
Kollegen, hat allerdings eine Dimension, die über die in
der Agenda zusammengefassten Maßnahmen hinausgeht .
Den meines Erachtens wichtigsten Beitrag dazu diskutie-
ren wir, wenn es um die Ausrüstung geht . Mit „Ausrüs-
tung“ meine ich eben nicht nur die hochwertigen, großen
Waffensysteme . Natürlich, die Vollausstattung vom Pan-
zer bis zur Luftabwehrrakete ist zu Recht ein wichtiges
Ziel; Kollege Arnold hat gerade das Wesentliche dazu ge-

Bartholomäus Kalb






(A) (C)



(B) (D)


sagt . Aber Ausrüstung – nicht wahr, Herr Gädechens? –
fängt nun einmal bei den Socken an .


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Ja!)


Für die Zufriedenheit in der Truppe sind die Socken
manchmal sogar wichtiger .


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Ja!)


Denn daran, ob die Bundeswehr es schafft, den Soldatin-
nen und Soldaten die Dinge in ordentlicher Anzahl und
Qualität zur Verfügung zu stellen, die sie für den tägli-
chen Dienst brauchen, ermessen sie vom Gefühl her, wel-
che Wertschätzung ihnen der Dienstherr entgegenbringt .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es kann nicht angehen, dass sich bei jedem Standort-
besuch die Vertrauensleute bei mir darüber beklagen, dass
Kleidungsstücke, Nachtsichtgeräte oder Schutzwesten nicht
in ausreichender Menge zur Verfügung stehen . Es kann auch
nicht so bleiben, dass ein Hauptgesprächsthema unter Sol-
datinnen und Soldaten gerade die Ausrüstungsgegenstände
sind, die sie sich aus eigener Tasche selbst beschaffen, weil
der Dienstherr damit nicht zu Potte kommt . Wir werden
deshalb in der parlamentarischen Beratung noch einmal
sehr genau hinsehen, wie viel Geld und welche organisa-
torischen Verbesserungen vorgesehen sind, damit die not-
wendige Normalausstattung bei den Leuten auch ankommt .

Zweiter Punkt, der mir unter der Überschrift „Attrak-
tivität“ sehr wichtig ist . Meine Gespräche mit Soldatin-
nen und Soldaten mit Kindern – darunter übrigens viele
Alleinerziehende – ergeben ein ganz klares Bild: Die
Kinderbetreuung während der Dienstzeit ist für sehr vie-
le Soldatenfamilien ein Riesenproblem und damit auch
ein Riesenanliegen . Als Familienvater weiß ich genau,
wie wichtig eine zuverlässige Kita ist . Ich bin mir ganz
sicher: Viele Soldatinnen und Soldaten werden auch un-
bequeme Dienstzeiten gerne in Kauf nehmen, wenn sie
wissen, dass ihre Kinder gleichzeitig in guten Händen
sind . Deshalb liegen die Standorte richtig, an denen es
Standortkitas gibt . Niemand versteht die Bedürfnisse von
Soldatenfamilien besser als Erzieherinnen und Erzieher,
deren Arbeitsplatz in der Kaserne liegt . Der Auf- und
Ausbau von Standortkitas ist deshalb der richtige Weg .
Die SPD-Fraktion wird ihr Augenmerk darauf richten,
welche Mittel der Haushaltsentwurf ganz konkret für die
Verbesserung der Betreuungssituation vorsieht .

Wir wollen einen Entwicklungsplan für die Kinderbe-
treuung in Soldatenfamilien, der in absehbarer Zeit zu ei-
ner bedarfsgerechten Versorgung mit Betreuungsplätzen
in unmittelbarer Nähe zum Arbeitsplatz führt . Zumindest
an allen größeren Standorten halte ich die Standortkita
für das beste Konzept . Wer sich selbst davon überzeugen
möchte, dem empfehle ich, die Julius-Leber-Kaserne hier
in Berlin aufzusuchen und sich mal anzugucken, wie das
da umgesetzt wird .

Meine Damen und Herren, die Zeit läuft mir davon .
Wir haben viele Themen besprochen . Ich habe noch eines
auf der Liste, aber das streiche ich jetzt, um Ihre Geduld
nicht überzustrapazieren .


(Henning Otte [CDU/CSU]: Einer geht noch!)


Wir besprechen ein anderes Mal, wie es mit dem Tren-
nungsgeld und der Umzugskostenbeihilfe für Rückkeh-
rer aus dem Ausland ist .

Im Übrigen freue ich mich auf unsere Beratungen zum
Haushalt 2016 und danke Ihnen allen für Ihre Aufmerk-
samkeit auch noch für den letzten Redner in dieser Re-
derunde .

Danke schön .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1812009900

Vielen Dank, auch für die Rücksichtnahme . – Weitere

Wortmeldungen zu diesem Einzelplan liegen mir nicht
vor .

Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung, Einzelplan 23.

Können die Kolleginnen und Kollegen bitte zügig ihre
Plätze einnehmen? Dann können wir mit den Beratungen
beginnen . –

Als erster Redner in dieser Debatte hat der Bundesminis-
ter für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Dr . Müller das Wort .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dr. Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung:

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Jetzt ist die Stunde der Zusammenarbeit, um Kriege und
Krisen zu verhindern und zu bewältigen . Das Auswärtige
Amt, das Verteidigungsministerium, die Verteidigungs-
ministerin und ich als Entwicklungsminister arbeiten
gemeinsam erfolgreich an einem vernetzten Ansatz . Ent-
wicklungspolitik ist Friedenspolitik .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Aber ohne Militär!)


Bis zur Linken wird dieser Satz akzeptiert .


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Ohne Militär! – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Einer fällt immer raus!)


Wir haben eben zu Recht den Dienst der Soldaten der
Bundeswehr gewürdigt . Zehntausende zivile Expertin-
nen und Experten sind in 80 Ländern der Welt, speziell
in Krisen- und Kriegsgebieten, im Einsatz . Dafür möchte
ich allen meinen Dank und meine Anerkennung ausspre-
chen .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Entwicklungspolitik rückt vom Rand ins Zentrum
des politischen Geschehens – auch wenn mein Sitz irgend-
wann einmal hinten an die Regierungsbank geklebt wurde .


(Heiterkeit)


Dr. Fritz Felgentreu






(A) (C)



(B) (D)


Der Entwicklungsminister ist durch die Aufgaben, vor
denen wir stehen, mitten drin . Wir brauchen eine Verstär-
kung der Entwicklungspolitik zur Lösung der Probleme .
Die dramatischen Flüchtlingsströme, die uns fordern und
erschüttern, haben nämlich Ursachen und Gründe . Ich un-
terstütze alles, was diskutiert und auf den Weg gebracht
wird, von der Kommune bis zum Bund; aber nur innen-
politisch zu reagieren, löst die Probleme in den Herkunfts-
ländern nicht . Deshalb müssen wir weiter gehen und die
Ursachen der Probleme in den Herkunftsländern angehen .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie des Abg . Dr . Diether Dehm [DIE LINKE])


Wir, aber auch die anderen Staaten Europas und die Welt-
gemeinschaft sind gefordert, unserer Verantwortung für
Entwicklung, Stabilität und Sicherheit stärker als bisher
nachzukommen .

Ich komme gerade vom Afrika-Forum, das wir zu-
sammen mit der OECD ausrichten . Ich habe mich mit
dem Friedensnobelpreisträger Kofi Annan ausführlich
darüber unterhalten, wie wir in Syrien, im Irak und in
den afrikanischen Ländern die Ursachen dieser Fluchtbe-
wegungen bekämpfen können . Als Entwicklungsminister
möchte ich klar sagen: Das geht nur lokal, national und
international . Das heißt, wir brauchen jetzt dringender als
je zuvor einen neuen Vorstoß der internationalen Staaten-
gemeinschaft . Wir brauchen einen Vorstoß der UN, um
den Krieg und das Morden in Syrien zu stoppen; auch
darüber habe ich mit Kofi Annan gesprochen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Das sollten wir mit den Kolleginnen und Kollegen des
Auswärtigen Ausschusses und des Verteidigungsaus-
schusses besprechen .

Wir brauchen wieder Strukturen und staatliche Insti-
tutionen in Libyen . Das Format der Iran-Verhandlungen
könnte die Basis für einen neuen diplomatischen Verhand-
lungsansatz sein . Millionen von Menschen, Familien in
Syrien, im Irak und in den umliegenden Ländern, befinden
sich in einer dramatischen Situation: 12 Millionen Men-
schen sind auf der Flucht, 500 000 sind in Deutschland
angekommen, 800 000 Flüchtlinge sind prognostiziert .
Denn die Menschen sind Hunger, Tod, Elend, dem drohen-
den Winter und unzureichender Versorgung ausgesetzt . Es
fehlt an allem . Das kann so nicht bleiben .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Es kann und darf doch nicht sein, dass das Welternäh-
rungsprogramm die Nahrungsmittelversorgung für Ba-
bys im Libanon und im Nordirak jetzt kürzen muss . Das
muss man sich einmal vorstellen: 100 000 Babys sind in
diesen Ländern in den letzten zwei Jahren auf Zeltplanen
geboren worden, und weil wir, die Weltgemeinschaft,
nicht genügend Geld zur Verfügung stellen, muss die
Nahrungsmittelversorgung auf 1 000 und weniger Kalo-
rien pro Tag reduziert werden .


(Karin Binder [DIE LINKE]: Schande!)


Das ist nicht die Lösung der Probleme . Da müssen die
Menschen doch zu uns kommen!


(Beifall im ganzen Hause)


Europa mangelt es an Entschlusskraft . Ich habe schon
vor einem Jahr ein Not- und Sofortprogramm mit einem
Volumen von 10 Milliarden Euro und einen Sonderbe-
auftragten der Europäischen Union für Flüchtlingsfragen
gefordert, der die Maßnahmen der EU koordiniert, aber
auch für Europa als zivile Friedensmacht in diesen Län-
dern Flagge zeigt .

Jetzt können Tausende Menschenleben gerettet wer-
den und Hunderttausende von der Flucht abgehalten
werden . Wir dürfen uns nichts vormachen: Die Bilder
von der Ankunft der Flüchtlinge in Deutschland – das ist
großartig, herzlichen Dank; das ist praktizierte Huma-
nität! – werden in den Flüchtlingscamps millionenfach
angeschaut . Sie sind ein Signal: Wenn sie uns hier, im
Nordirak, in Dohuk, in Mossul, in den verschiedenen
Städten und Gebieten in der Türkei, alleinlassen, dann
müssen wir nach Deutschland, nach Europa aufbrechen,
um unser Leben zu retten .

Deshalb brauchen diese Aufnahmeländer verstärkt
unsere Hilfe . Ich habe dies schon vor zwei Jahren ge-
sagt . Zwischenzeitlich haben wir, das BMZ, mit unseren
Organisationen – beispielsweise Welthungerhilfe und
UNICEF, um zwei zu nennen – in nahezu 200 Hilfspro-
jekten 1 Milliarde Euro eingesetzt . Wir haben zum Bei-
spiel, um konkret zu werden, im Libanon Schulen für
80 000 Kinder gebaut . Ich kenne die Situation in deut-
schen Schulen, wo bei 25 Kindern in einer Klasse in
Zukunft 5 syrische Flüchtlingskinder mit unterrichtet
werden müssen . Im Libanon sitzen aber neben 25 liba-
nesischen Kindern 25 syrische – halbe-halbe . In Jor-
danien gibt es Städte mit 60 000 Einheimischen und
60 000 Flüchtlingen .

Wir sind aufgerufen, dort in Stabilität und in die Zu-
kunft dieser Menschen zu investieren . Dank des Haus-
haltsaufwuchses – dafür vielen herzlichen Dank – wer-
den wir unsere Maßnahmen gezielt verdoppeln . Neben
Investitionen in die Infrastruktur werden wir mit einer
Ausbildungsinitiative einen neuen Schwerpunkt setzen .
Zunächst sollen fünf neue Berufsbildungszentren entste-
hen .

Wir werden im BMZ auch Haushaltsumschichtungen
vornehmen . Darüber werden wir mit den Fachpolitike-
rinnen und Fachpolitikern diskutieren; das haben wir im
Übrigen auch im letzten Jahr gemacht . Das habe ich auch
Brüssel vorgeschlagen: Nehmt die Siebenjahrespläne
und konzentriert 5 oder 10 Prozent der Haushaltsmittel
auf die aktuellen Herausforderungen . So ergäben sich 10
oder 15 Milliarden Euro in Brüssel .

Wir werden die erwähnte Umschichtung vornehmen,
ohne unsere klassischen Aufgaben zu vernachlässigen .
Mit den von der Koalition am Wochenende beschlos-
senen 400 Millionen Euro werden wir einen weiteren
Schritt unternehmen können, aber die Probleme werden
wir damit nicht lösen . Der Vorschlag ist, eine weitere
Konzentration im BMZ vorzunehmen . Dabei können wir
unsere klassischen Aufgaben aber nicht komplett ver-

Bundesminister Dr. Gerd Müller






(A) (C)



(B) (D)


nachlässigen . Wir konzentrieren unsere Mittel . Deshalb
können wir 1 Milliarde Euro für die Menschen in den
Krisengebieten bereitstellen, für Unterkünfte, für Kinder,
für Schulen, für Krankenhäuser und – das ist mir beson-
ders wichtig – für Traumaarbeit . Ich kündige nicht nur
an – ich stehe hier in Berlin, nicht in Brüssel –, sondern
wir setzen auch um . Wir haben Traumazentren aufge-
baut . Sie arbeiten bereits . Die Frauen und Mädchen, aber
auch die jungen Soldatinnen und Soldaten müssen eine
Unterstützung und eine Behandlung erhalten .

Mit 1 Milliarde Euro in den Krisengebieten können
wir mehr bewegen als mit 10 Milliarden Euro hier . Ich
will nicht beides gegeneinander ausspielen . Die Hilfe
hier ist notwendig; aber mit 1 000 Euro kann das Über-
leben einer Flüchtlingsfamilie im jordanisch-syrischen
Grenzgebiet ein Jahr lang gesichert werden, während da-
für hier der 10-, 15- oder 20-fache Ansatz erforderlich ist .
Die Menschen aus den Krisengebieten – auch das möch-
te ich sagen – wollen eigentlich nicht hierherkommen .
Sie müssen mit ihren Familien hierherkommen, aus Not
und Elend heraus, um zu überleben . Sie würden, wenn es
denn möglich wäre, viel lieber vor Ort bleiben .

Ich begrüße die Analyse und die Vorschläge von Kom-
missionspräsident Juncker bezüglich eines Sonderpake-
tes von 1 Milliarde Euro . Es hat Monate gedauert, und
das Geld fließt noch nicht in die Projekte. Jetzt wurden
1,8 Milliarden Euro, vielleicht auch 1,85 Milliarden Euro
für Afrika angekündigt . Das ist ein richtiger Schritt .
Das ist aber absolut keine ausreichende Antwort . Wir
brauchen ein Gesamtkonzept . Wir brauchen kurz-, mit-
tel- und langfristige Maßnahmen, eine bessere Koordi-
nierung, einen EU-Koordinator, und wir brauchen einen
EU/UN-Vorschlag für den EU-Afrika-Gipfel . Natürlich
müssen wir auch die afrikanischen Staaten in die Ver-
pflichtung nehmen. Ausbildung, Ausbildung, Ausbil-
dung heißt die Devise für Afrika . Dies muss und wird der
Schwerpunkt in den nächsten Jahren sein . Afrikas Jugend
braucht eine Perspektive, eine Lebensperspektive .

Der afrikanische Kontinent – ich komme gerade tief
beeindruckt von den Gesprächen beim Afrika-Forum zu-
rück – wird sich bis 2050 bevölkerungsmäßig verdop-
peln . Es werden 2 Milliarden Babys geboren, 2 Milliar-
den Babys in den nächsten 30 bis 40 Jahren! Diese Kinder
brauchen später Arbeit, sie brauchen eine Zukunft, eine
Lebensperspektive . Ansonsten machen sie sich später auf
über das Mittelmeer nach Deutschland, nach Europa .

Die Dynamik des afrikanischen Kontinents ist auch
eine große Chance . Europa muss – dies ist auch ein kon-
zeptioneller Vorschlag – dabei insbesondere den Blick
auf die nordafrikanischen Staaten richten . Wir Europäer
sind nur einen Steinwurf über das Mittelmeer entfernt .
Viele waren in Spanien und Gibraltar . Nur wenige Kilo-
meter davon entfernt ist Marokko . Auch Kos und andere
griechische Inseln sind letztlich nur wenige Kilometer
von Afrika entfernt . Wir brauchen einen neuen Vorstoß,
den Mittelmeerraum als unseren politischen und wirt-
schaftlichen Partner zu begreifen .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg . Dr . Diether Dehm [DIE LINKE])


Wir brauchen eine neue EU-Afrika-Mittelmeerpartner-
schaft . Diese Länder brauchen den Zugang zu europä-
ischen Märkten . Sie brauchen deutsche, europäische
Investoren . Dazu benötigen wir auch neue Instrumente
im steuerlichen Bereich, im Abschreibungsbereich, um
Investments oder Joint Ventures zu fördern . Diese Anrei-
ze müssen wir entwickeln .

Ich werde deshalb noch in diesem Jahr ein Zentrum
für Wirtschaft und Entwicklung im Haus der Wirtschaft
eröffnen, um wirtschaftliche Partnerschaften zu fördern .
500 000 deutsche Unternehmen sind in der Welt enga-
giert, davon nur 1 000 in Afrika . Das müssen wir ändern .
Wir wollen mittelständische Betriebe, Kommunen, Kam-
mern, Verbände insbesondere an die nordafrikanischen
Märkte heranführen .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Das Entwicklungsjahr 2015 ist auch ein Gipfeljahr .
Der G-7-Gipfel in Elmau war eine entwicklungspoliti-
sche Zeitenwende mit einem Bekenntnis zu fairen Wert-
schöpfungsketten . Liebe Claudia Roth, wir zwei hätten
uns das ein Jahr vorher überhaupt nicht vorstellen kön-
nen . Aber es kam, und diese Wende hat unsere Kanzlerin
herbeigeführt . Elmau war ihr Erfolg, der Erfolg von Bun-
deskanzlerin Angela Merkel . Wir haben ein Bekenntnis
zu fairen Wertschöpfungsketten . Wie wurde ich am An-
fang kritisiert oder belächelt wegen unseres Textilbünd-
nisses! Das ist eine Blaupause für den fairen Handel in
der Welt – weg vom freien zum fairen Handel .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es gibt die Perspektive eines carbonfreien Jahrhun-
derts – carbonfreies Jahrhundert! – und die Vision einer
Welt ohne Hunger . Diese Vision werden wir zur Realität
machen. Ferner gibt es die Verpflichtung zur Stärkung
der Rechte der Frauen .

Nun stehen wir vor den Gipfeln in New York und in Pa-
ris . Deutschland hat auch mit Blick auf den Klimagipfel
in Paris mit seiner Nachhaltigkeitsagenda und mit der
Ankündigung der Verdoppelung der Klimamittel vorge-
legt . Warum sage ich das? Weil wir, das Entwicklungsmi-
nisterium, das operative Klimaministerium sind . Wir set-
zen die Klimaverpflichtungen der Bundesregierung um.
Wenn vom Fraktionsvorsitzenden der SPD und vielen
anderen gesagt wird, der Müller könne doch jetzt alles in
die Bekämpfung von Fluchtursachen investieren, muss
ich sagen, dass das natürlich nicht geht . Wir müssen un-
seren klassischen Aufgaben gerecht werden sowie mittel-
und langfristige Ansätze weiterentwickeln . Dazu gehört
natürlich auch die Umsetzung der Klimaverpflichtungen,
die sich in unserem Haushalt abbilden .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Wir setzen dies um . Beispielsweise habe ich vor
14 Tagen eine Vereinbarung in der Größenordnung von
500 Millionen Euro zum Tropenwaldschutz in Brasilien
geschlossen . In 14 Tagen unterzeichne ich ein Abkom-
men zum Ausbau der erneuerbaren Energien in Indien .
Wir investieren in Waldschutz, in Aufforstung . Der Kli-

Bundesminister Dr. Gerd Müller






(A) (C)



(B) (D)


maschutz ist für mich neben der Ernährungssicherung die
Überlebensfrage der Menschheit .

Eine Welt ohne Hunger schaffen, Klima, Schöpfung
und Umwelt bewahren, in Gesundheit und Ausbildung
investieren – all dies schafft Zukunft für die Menschen
in unseren Partnerländern . Wer Zukunft, Arbeit und Le-
bensperspektive für sich sieht, der begibt sich nicht in die
Hände von Schleppern . Das muss ich sagen, wenn ich
die jungen Leute hier oben auf der Tribüne sehe . Das ist
die Botschaft .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deshalb ist jeder in Entwicklungspolitik investier-
te Euro eine Investition in Zukunft und Frieden . Der
BMZ-Haushalt steigt um 14 Prozent, um nahezu 1 Milli-
arde Euro . Dafür bin ich sehr dankbar . Das ist der höchste
Aufwuchs der vergangenen Jahre oder Jahrzehnte .


(Stefan Rebmann [SPD]: Wir haben schwer dafür gekämpft!)


Herzlichen Dank allen Kolleginnen und Kollegen!

Notwendig aber ist, den Herausforderungen jetzt mit
einem globalen Gesamtkonzept, national, europäisch, in-
ternational, und einem Paradigmenwechsel zu begegnen,
einem Konzept für einen fairen Welthandel, für eine neue
Ressourcenpartnerschaft und für eine Vervielfachung
privater Investitionen . Investitionen in Entwicklung si-
chern Überleben, Frieden und Zukunft für unsere Kinder
und den Planeten .

Vielen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1812010000

Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Michael

Leutert von der Fraktion Die Linke das Wort .


(Beifall bei der LINKEN)



Michael Leutert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1812010100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrter Herr Minister! Ich könnte heute eigentlich
exakt die gleiche Rede halten, die ich hier vor einem Jahr
gehalten habe, als wir über den Haushalt 2015 beraten
haben . Seitdem hat sich nämlich nichts Fundamentales
geändert . Wir stehen vor den gleichen Herausforderun-
gen. Es sind die gleichen Konflikte, die gleichen Pro-
bleme und damit auch identische Aufgaben für uns, nur
mit einem einzigen Unterschied: Alles ist noch viel grö-
ßer geworden . Schaut man sich jetzt die Dimension der
gewaltigen Probleme an, dann weiß man auch: Dies ist
durch ein Land allein nicht zu bewältigen und erst recht
nicht durch ein Ministerium allein .

Wir haben Syrien heute mehrmals angesprochen:
21 Millionen Einwohner, davon 12 Millionen Flüchtlin-
ge. 4 Millionen davon befinden sich in den umliegenden
Ländern, in Jordanien, in der Türkei, im Libanon . Das
Nachbarland Irak ist instabil und wird ebenfalls von Ter-
ror und Krieg beherrscht . Die Terrororganisation „Islami-
scher Staat“ hält weiterhin große Landstriche in Syrien
und im Irak unter seiner Kontrolle .

Nun ist Erdogan so dumm, dass er ganz offen die Kon-
frontation mit den Kurden im eigenen Land, aber auch
in den Nachbarländern Syrien und Irak sucht und mili-
tärisch gegen sie vorgeht . Dadurch besteht natürlich die
Gefahr, dass der Flächenbrand, der ohnehin schon vor-
handen ist, noch größer wird . Wir haben dazu allerdings
auch noch Waffen geliefert . Nach neuesten Informatio-
nen ist Russland ganz klar an der Seite von Assad militä-
risch engagiert .

Wir sind also in dieser Region weiter als je zuvor da-
von entfernt, Frieden zu haben . Krieg ist Fluchtursache
Nummer eins . Deshalb ist die Befriedung dieser Region
Grundvoraussetzung, um die sogenannte Flüchtlings-
krise lösen zu können . Die Befriedung dieser Region ist
Grundvoraussetzung, damit sich wieder wirtschaftliche
Entwicklung entfalten kann . Die Befriedung dieser Re-
gion ist auch Grundvoraussetzung dafür, dass wir wieder
mit der eigentlichen Entwicklungszusammenarbeit be-
ginnen können, also mit dem Kerngeschäft Ihres Minis-
teriums . Wie gesagt, leider sind wir davon sehr weit ent-
fernt . Wir müssen jetzt die Not der Flüchtlinge lindern,
damit ihr Leben zumindest einigermaßen erträglich wird .
Das können wir nicht nur tun, sondern das müssen wir
tun. Das ist unsere humanitäre Pflicht.

Herr Minister, ich weiß: Sie sind mit Herz und Ver-
stand bei der Sache, und Sie sind auch überzeugend . Aber
ich verstehe nicht, warum wir angesichts der immensen
Herausforderungen nicht endlich die notwendigen Mittel
in die Hand nehmen, um effektiv und umfassend helfen
zu können . Wann, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn
nicht jetzt wollen wir unserer internationalen Verpflich-
tung nachkommen und 0,7 Prozent des BIP für die Ent-
wicklungszusammenarbeit zur Verfügung stellen?


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Der Winter steht vor der Tür, und die meisten Flücht-
linge leben immer noch in Zelten . Selbst bei uns in Eu-
ropa ist nicht überall vorgesorgt; ich erinnere nur an die
Bilder, die uns aus Ungarn, Serbien oder Mazedonien er-
reichen . Ich möchte einfach nicht – es gibt schon genug
Bilder von diesem Elend –, dass wir auch noch Bilder
von erfrorenen Flüchtlingskindern sehen müssen . Ich
habe letztes Jahr darauf hingewiesen – ich tue es heute
gern noch einmal –: Im Auswärtigen Amt stehen mittler-
weile über 0,5 Milliarden Euro für die humanitäre Hilfe
zur Verfügung, in Ihrem Ministerium für die Folgehilfe
allerdings nur 220 Millionen Euro . Dort muss nachge-
bessert werden . Das passt so nicht zusammen .

Eine Ihrer Sonderinitiativen heißt „Fluchtursachen be-
kämpfen – Flüchtlinge reintegrieren“ . Dafür haben Sie
110 Millionen Euro vorgesehen, aber global . Allein in
Afghanistan gibt Deutschland jedes Jahr über 500 Mil-
lionen Euro für den Wiederaufbau aus . Auch dort sind
die Ergebnisse eher ernüchternd . Das zeigt doch, dass die
Mittel hinten und vorn nicht ausreichen werden .

Klar ist natürlich, dass unsere finanziellen Möglich-
keiten immer beschränkt sein werden . Deshalb müssen
wir uns auf Schwerpunkte verständigen . Das wurde ver-
schiedenartig versucht, etwa durch regionale Schwer-

Bundesminister Dr. Gerd Müller






(A) (C)



(B) (D)


punkte mit dem Konzept der Ankerländer oder der
Schwerpunktländer . Sie haben es mit einer thematischen
Konzentration in Form der Sonderinitiativen versucht .
Ich glaube, man sollte beides miteinander kombinieren,
damit man zu Synergieeffekten kommt, und man sollte
zuspitzen .

Eine thematische Kernaufgabe – Sie haben sie ange-
sprochen – ist derzeit natürlich die Flüchtlingshilfe . In
diesem Zusammenhang bilden Syrien und die an Syrien
angrenzenden Länder den regionalen Schwerpunkt . Ich
finde, man sollte Prioritäten setzen, zuspitzen und sich in
allererster Linie um die Familien mit Kindern kümmern .
Wenn wir es nicht schaffen, den Kindern – trotz widrigs-
ter Umstände – Bildung mit auf den Weg zu geben und
ihnen so wenigstens einen Hauch von Perspektive zu
verschaffen, dann wird die nächste verlorene Generation
heranwachsen .

Ich meine nicht, Herr Minister – das hatten Sie ange-
sprochen –, dass man die anderen Dinge nicht tun sollte .
Wenn man in einem Flüchtlingslager hilft, muss zuerst
die Schule gebaut werden . Wenn die Schule gebaut ist,
dann kann man auch die Straße bauen .


(Beifall bei der LINKEN)


Sie selbst haben erwähnt, dass es in den syrischen
Flüchtlingslagern mittlerweile circa 100 000 Neugebo-
rene gibt . Liebe Kolleginnen und Kollegen, um diese
Kinder müssen wir kämpfen; ich glaube, es lohnt sich .
Ansonsten haben sie keine Chance, und wir stehen in der
Zukunft vor noch größeren Problemen .

Wir Linken werden uns mit Vorschlägen, die in diese
Richtung weisen, in die Beratungen einbringen . Ich freue
mich auf die Diskussion, die wir in den nächsten Wochen
darüber führen werden .

Vielen Dank .


(Beifall bei der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1812010200

Vielen Dank, Kollege Leutert . – Ich wünsche Ihnen,

liebe Kolleginnen und Kollegen, von meiner Seite aus
einen schönen, guten Nachmittag .

Wenn ich schon einmal das Mikro habe, wünsche ich
dem Minister im Namen der Entwicklungspolitiker und
-politikerinnen und der Haushälter, die für diesen Be-
reich zuständig sind, alles Gute zu seinem kugelrunden
Geburtstag .


(Beifall)


Wir wünschen Ihnen viel Kraft, die Sie angesichts des-
sen, was in der Welt los ist, sicher gebrauchen können .

Ich begrüße den ehemaligen Vorsitzenden des Aus-
schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung, Thilo Hoppe, auf der Tribüne . Herzlich will-
kommen, lieber Thilo!


(Beifall)


Jetzt kommen wir wieder zur Tagesordnung . Die
nächste Rednerin ist für die SPD Sonja Steffen .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Sonja Steffen (SPD):
Rede ID: ID1812010300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Mi-

nister, auch von den Haushaltspolitikern alles Gute zum
runden Geburtstag!

Meine Damen und Herren! Liebe Gäste! Wenn man
die schwierigen Haushaltsdebatten der letzten Tage ver-
folgt hat, stellt man fest: Es gibt einen Grund zur Freude .
Es ist der folgende: Während die Entwicklungszusam-
menarbeit in den letzten Jahren aus meiner Sicht doch
eher ein Schattendasein führte, ist sie in diesen Debatten
zu einem überragend wichtigen Thema geworden . Das
hat mich sehr gefreut . Es freut mich auch, dass wir heute
endlich einmal zu halbwegs prominenter Zeit über diesen
Einzelplan reden .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Bei uns im Bundestag, aber auch innerhalb der gesam-
ten Bevölkerung ist inzwischen deutlich geworden, dass
die Entwicklungszusammenarbeit in der Zukunft mit
über das Schicksal der gesamten Menschheit entscheiden
wird . Es gibt eine aktuelle Studie von Emnid – sie ist ganz
neu –, die besagt, dass sich 81 Prozent der Deutschen –
das sind vier von fünf Deutschen – für die ODA-Quote
aussprechen . 81 Prozent der Deutschen wollen mehr für
die Bekämpfung der Armut und für Forschung und Ent-
wicklung in Bezug auf sogenannte Armutskrankheiten
ausgeben, und, Herr Minister, rund jeder Zweite würde
Fairtrade-Produkte kaufen, und zwar nicht nur Schokola-
de und Kaffee, sondern auch Textilien .

Für das kommende Haushaltsjahr haben wir in unse-
rem Einzelplan – das ist schon gesagt worden – 880 Mil-
lionen Euro mehr als dieses Jahr . Das ist tatsächlich eine
beispiellose Entwicklung . In den letzten zehn Jahren ist
unser Einzelplan um fast 100 Prozent gewachsen . 2005
waren es circa 3,8 Milliarden Euro, jetzt sind wir bei
7,4 Milliarden Euro . Der große Sprung ist sehr erfreulich .
Auf der anderen Seite müssen wir aber auch sehen, dass
sich beispielsweise die Zahl der Flüchtlinge in diesem
Zeitraum um 20 Millionen Menschen erhöht hat .

Wir müssen uns auch der Frage stellen, ob die Ent-
wicklungszusammenarbeit in der Vergangenheit mög-
licherweise versagt hat . Diese Frage kann jedoch nicht
mit einem klaren Ja oder Nein beantwortet werden . Es
gibt beispielsweise eine erfreuliche Zahl: Die Zahl der
ärmsten Menschen – das sind diejenigen, die weniger als
1,25 Dollar täglich zur Verfügung haben – hat sich welt-
weit in den letzten 15 Jahren halbiert . An dieser Stelle
können wir also sagen: Wir haben das Millenniumsziel,
das wir uns gesetzt hatten, erreicht .

Wir müssen daneben auch bedenken, dass es Flucht
und Migration schon immer gab – aus unterschiedlichen
Gründen . Die Menschen wurden vertrieben, oder sie ha-
ben sich selbst auf den Weg gemacht .

Michael Leutert






(A) (C)



(B) (D)


Ich habe mich heute Morgen sehr gefreut, als Kom-
missionspräsident Juncker in seiner Grundsatzrede fol-
genden Satz gesagt hat, den ich für sehr wichtig halte:
Wir alle sind Flüchtlinge . – Das galt bis 1989 übrigens
auch für viele Osteuropäer . Es gab viele Flüchtlinge aus
Osteuropa, und manchmal muss man glauben, dass die
osteuropäischen Länder derzeit von einer gewissen Am-
nesie befallen sind, was sehr traurig ist .

Konflikte sind also die Hauptursache für Flucht und
Vertreibung . Nur ein Bruchteil der Menschen macht sich
aus rein ökonomischen Interessen auf den Weg .

55 Prozent der Flüchtlinge – das wurde schon gesagt –
kommen aus fünf Kriegs- oder Krisenstaaten . Dazu ge-
hören Afghanistan, Somalia, der Irak, Syrien und der
Sudan . Wir müssen uns fragen: Wo kann die Entwick-
lungszusammenarbeit ansetzen, um Fluchtursachen wir-
kungsvoll entgegenzutreten? Müssen wir vielleicht ande-
re Prioritäten setzen?

Wichtig ist, dass wir den Aufwuchs der Mittel, den wir
jetzt zur Verfügung haben, diese 880 Millionen Euro, tat-
sächlich wirkungsvoll einsetzen . Es darf nicht sein, dass
wir nach dem Gießkannenprinzip vorgehen und jeden
Titel – oder auch jeden zweiten – mit etwas mehr Geld
ausstatten . Das geht so nicht . Wir brauchen einen kon-
zentrierten Ansatz und einen Fokus .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Auch ich bin der Meinung, dass wir diesen Fokus im
kommenden Haushaltsjahr auf die Fluchtursachen rich-
ten müssen .

Herr Minister, Sie haben ganz recht: Wir dürfen darü-
ber unsere anderen Aufgaben natürlich nicht vergessen .
Wir haben in dieser besonderen Situation jetzt aber die
Möglichkeit für besondere Maßnahmen .

Mein Kollege Kahrs hat gestern schon den Vorschlag
gemacht, 560 Millionen Euro der 880 Millionen Euro –
um diesen Betrag wurde die ursprüngliche Finanzpla-
nung erhöht – für die Bekämpfung der Fluchtursachen
einzusetzen . Ich kann mich ihm nur anschließen .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Die Frage, die wir uns natürlich auch noch stellen
müssen, ist: Wo können diese Mittel dann eingesetzt wer-
den? Ich mache dazu einmal drei Vorschläge:

Der erste Vorschlag betrifft präventive Aufgaben . Wir
müssen die politische Beratung vor Ort stärken und dafür
sorgen, dass Bürgerkriege, Terrorismus und Korruption
schon an Ort und Stelle bekämpft werden . Dafür haben
wir hier wirklich sehr gute Institutionen: unsere politi-
schen Stiftungen, die Kirchen, die privaten Träger und
den Zivilen Friedensdienst . Wir müssen aber auch Insti-
tutionen wie die Deutsche Welle stärker unterstützen,
weil sie vor Ort sehr wichtige Arbeit leisten können .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ein zweites Handlungsfeld – das ist auch schon vom
Minister angesprochen worden –: Wir müssen gezielt
in Gesundheit, Bildung und Landwirtschaft investieren .
Das Thema Gesundheit ist mir an dieser Stelle besonders

wichtig . Es geht um ganz wichtige Fonds wie GFATM
und GAVI . Ich freue mich, dass GAVI in dem Haushalt
2016 mehr Geld erhält . Ich meine, wir müssen auch bei
GFATM noch einmal nachdenken, ob wir hier nicht noch
etwas drauflegen wollen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Es geht darum, die Erforschung von Armutskrankhei-
ten zu unterstützen . Es kann nicht sein, dass wir dem-
nächst wieder von einer Krankheit wie Ebola überrascht
werden und noch nicht einmal Impfstoffe zur Verfügung
haben, um vorbeugend tätig zu werden .

Es ist ganz wichtig, dass wir die gesundheitliche Ver-
sorgung in den Flüchtlingscamps vor Ort und in den An-
rainerstaaten besser unterstützen . Ich weiß nicht, ob es
bekannt ist: Die Krankheit Kinderlähmung, die wir mit-
hilfe unserer Impfallianzen schon fast ausgerottet hatten,
ist wieder ausgebrochen . In der Ukraine sind zwei neue
Fälle von Kinderlähmung aufgetreten . Das liegt an den
widrigen Umständen in den Flüchtlingslagern . Da müs-
sen wir unbedingt ran .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zum Thema Bildung, Herr Minister, will ich nur noch
Folgendes sagen: Es reicht nicht, nur Schulen zu bauen .
Es ist zwar toll, wenn wir das machen . Aber es kann nicht
sein, dass 90 Kinder in einer Klasse von einem Lehrer
unterrichtet werden . Diese Klasse ist am Anfang voll und
im Nullkommanichts wieder leer . Wir müssen auch die
Lehrerausbildung fördern . Deshalb freue ich mich auch
sehr, dass Sie vorhin die Ausbildungszentren angespro-
chen haben .

Nun bin ich, wie ich sehe, schon fast am Ende meiner
Redezeit angelangt .

Mein dritter und letzter Punkt . Entwicklungsländer,
die Flüchtlinge in ihrer Region aufnehmen, müssen wir
unbedingt stärker unterstützen .

Ich meine, wir haben in den kommenden Wochen
noch viel zu tun . Lassen Sie uns einen besonderen Fo-
kus auf die Mittel legen, die uns zusätzlich zur Verfügung
stehen . Ich freue mich auf die Beratungen .

Vielen Dank .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1812010400

Vielen Dank, Kollegin Steffen . – Nächste Rednerin:

Anja Hajduk für Bündnis 90/Die Grünen .


Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1812010500

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Ja, es ist richtig: Dieser Haushaltsplan im Be-
reich Entwicklungszusammenarbeit steigt um einen er-
heblichen Anteil – es ist ein zweistelliger Prozentsatz –,
nämlich von 6,5 Milliarden Euro auf 7,4 Milliarden Euro .
Herr Minister, das ist erst einmal eine frohe Botschaft .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sonja Steffen






(A) (C)



(B) (D)


Aber man muss auch ganz nüchtern sagen: Das ist ab-
solut notwendig . Ihr Etat hat einen Anteil von 2,2 Prozent
am Gesamthaushalt . Ich nehme einmal – ganz zufällig –
einen anderen Etat zum Vergleich: Der Etat für Verteidi-
gung hat einen Anteil von 11 Prozent am Gesamthaus-
halt . Wir leben in einem Zeitalter, in dem international
niemand infrage stellt, dass das eine Epoche ist, in der
wir das Ausmaß von globaler Flucht erleben – mit 60, 70
oder 80 Millionen Menschen auf der Flucht . Diese Zahl
steigt in Zukunft vielleicht sogar noch an . Vor diesem
Hintergrund ist es schlicht eine moralische Pflicht und
auch vernünftig, in den eigenen Haushalten völlig neue
Akzentsetzungen vorzunehmen .


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der SPD)


Da ist ein Anteil von 2,2 Prozent am Gesamtetat doch
nicht genug .

Deswegen sage ich Ihnen, Herr Minister: Die Erhö-
hung des Etats für das Jahr 2016 ist begrüßenswert; aber
umso bedauerlicher ist es, dass die Langfristentwicklung
stagniert . Das passt nicht zusammen . Sie haben mir ja
gerade applaudiert aus den Koalitionsreihen, dass das
wohl richtig ist . Aber man muss sagen, dass es nicht in
Ordnung war, Herr Minister, als Sie im Mai dieses Jahres
mit den EU-Kollegen eine Vereinbarung getroffen haben,
die Erreichung des 0,7-Prozent-Ziels erst für 2030 anzu-
streben . Sie verantworten eine Finanzplanung, in der Ihr
Etat, also Geld für die Entwicklungszusammenarbeit, mit
einem Anteil von 0,4 Prozent am Bruttoinlandsprodukt
stagniert . Das passt nicht zusammen . Das ist nicht genug,
und da muss die Regierung nachbessern .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg . Heike Hänsel [DIE LINKE])


Vor dem Gipfel in New York war dieses fehlende Signal
eine Enttäuschung für die internationale Gemeinschaft .
Da reicht der Hinweis auf den Gipfel in Elmau nicht aus .
Es wird noch zwei Gipfel geben . Ich kann nicht erkennen,
dass Deutschland seine Verantwortung so wahrnimmt,
dass international das Gefühl aufkommt: Mensch, die
ziehen uns wirklich nach vorne . – Nein, das Gegenteil ist
der Fall: Enttäuschung .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich will nicht sagen, dass international nicht auch an-
erkannt wird, was Deutschland leistet; wir brauchen aber
eine andere Langfristplanung . Wir werden von grüner
Seite mit Blick auf eine wirklich integrierte Betrachtung,
was den Einsatz von ODA-Mitteln für klassische Ent-
wicklungszusammenarbeit und für den internationalen
Klimaschutz angeht, entsprechende Vorschläge während
dieser Haushaltsverhandlungen vorlegen .

Ich möchte noch einen anderen Punkt ansprechen, bei
dem ich glaube, dass wir wirklich auf einem falschen Weg
sind. Sie, Herr Minister, sollten darauf Einfluss nehmen.
Darüber müssen Sie sich im Kabinett vielleicht richtig
streiten . Es geht darum, dass wir in einem Punkt, der in
Addis Abeba als Ziel angestrebt wurde, einen wirklich
großen Schritt weiterkommen, nämlich bei der Bekämp-

fung der Steuervermeidung in Entwicklungsländern . Wir
können nicht immer nur über ODA-Mittel reden . Wir
müssen auch ernst nehmen, dass den Entwicklungslän-
dern jährlich bis zu 1 Billion US-Dollar an finanziellen
Ressourcen durch illegale Kapitalabflüsse und auch
durch legale Steuervermeidung internationaler Konzerne
verloren gehen . Allein auf Afrika bezogen, sind das 50
bis 60 Milliarden US-Dollar .

Sie haben gerade über das Thema Fluchtursachen
gesprochen . Wenn die reichen Länder des Westens kei-
ne internationale Steuerpolitik ermöglichen, die diese
teilweise auch legalen Steuergestaltungsmöglichkeiten
verhindert, dann fehlt uns ein ganz wesentlicher Faktor
bei der Fluchtursachenbekämpfung . Und da müssen wir
heran .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Sie haben im Juli dieses Jahres eigentlich das Gegen-
teil getan . Einerseits hat die Bundesregierung eine Initi-
ative – die Addis Tax Initiative – ins Leben gerufen, was
richtig ist . Diese konzentriert sich darauf, die Steuerbasis
der Entwicklungs- und Schwellenländer in Augenschein
zu nehmen . Gleichzeitig haben Sie aber leider von die-
sem Ziel abgelenkt, indem Sie nicht zugelassen haben,
dass die internationale Gemeinschaft an die ursprüngli-
che Forderung nach einer Gesamtbesteuerung der akti-
ven Konzerne herangegangen ist .

Insofern kann ich nur sagen: Wir sind enttäuscht, dass
sich Deutschland in Addis Abeba dagegengestellt hat, die
Vereinten Nationen bei der Diskussion um Reformen der
internationalen Steuerpolitik mit einzubinden . Das muss
korrigiert werden; denn das untergräbt unsere Glaubwür-
digkeit, wenn es um die Frage geht, ob wir an dieses The-
ma wirklich herangehen wollen .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Herr Minister, wir sind bei Ihnen, wenn die Mittel in
Ihrem Etat – das wird auch aus der SPD heraus vorge-
schlagen – stärker auf Fluchtursachen konzentriert wer-
den . Wir müssen aber aufpassen, dass es keine Kanni-
balisierung zulasten der besonders gering entwickelten
Länder gibt . Deren Anteil an der Hilfe – da sind wir uns,
glaube ich, eigentlich auch einig – muss gesteigert wer-
den . Insofern muss ich Sie bitten, an der Stelle auch vor-
sichtig vorzugehen . Es kann außerdem nicht sein, dass
die im Rahmen des Welternährungsprogramms gewährte
Unterstützung der syrischen Flüchtlinge im Libanon und
in Jordanien im Juni 2015 wegen knapper Finanzen ein-
gestellt werden musste .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich komme zu meinem allerletzten Punkt, wo wir, Herr
Minister, Ihnen nicht folgen . Sie haben meiner Heimat-
stadt Hamburg einen Besuch abgestattet und dort einen
Vorschlag zu Rüstungsexporten gemacht . Sie haben dann
aber auch noch gesagt, dass Rüstungsausgaben an eine
Forderung nach einer Friedensdividende gekoppelt wer-
den sollen . Dazu muss ich Ihnen klar sagen: Wir werden

Anja Hajduk






(A) (C)



(B) (D)


Ihnen da nicht folgen . Wir wollen keine Friedensdividen-
de bei Rüstungsausgaben, mit der man dann diesen auch
noch Freibriefe erteilt . Nehmen Sie bitte davon Abstand,
und schalten Sie in den von mir gerade vorgetragenen
Punkten um . Dann kämen wir einen erheblichen Schritt
voran .

Schönen Dank .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1812010600

Vielen Dank, Kollegin Hajduk . – Nächste Rednerin ist

Dagmar Wöhrl für die CDU/CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dagmar G. Wöhrl (CSU):
Rede ID: ID1812010700

Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle-

gen! Wir wissen, die Haushaltsdebatte, die diese Woche
läuft, ist hauptsächlich von einem Thema beherrscht . Uns
allen sind die schrecklichen Bilder von im Mittelmeer
ertrunkenen Menschen vor Augen – inzwischen sind es
über 2 600 –, von Menschen, die in Europa in Lastwagen
erstickt sind, Flüchtlinge, die mit ihren Familien versu-
chen, an der ungarischen Grenze Stacheldrahtzäune zu
überwinden .

Ein Drittel davon sind Kinder und Jugendliche .

Es sind Bilder, die uns allen nicht mehr aus dem Kopf
gehen . Vielen von uns standen die Tränen in den Augen,
als wir das Bild von Aylan gesehen haben . Aber es sind
auch Bilder, die uns zum Handeln zwingen und die uns
sagen: Wir müssen umdenken . Wir müssen in diesem
Zusammenhang wieder verstärkt das Heft in die Hand
nehmen .

Wir haben gehört, dass über 60 Millionen Menschen
auf der Flucht sind, darunter 38 Millionen Binnenflücht-
linge . 86 Prozent der Menschen, die aus ihrem Heimat-
land fliehen, leben in Entwicklungsländern. Das heißt,
jeder 122 . Mensch auf der Welt ist auf der Flucht . Hier
sind auch wir gefordert, und zwar in vielfältiger Art und
Weise . Gefordert, dass wir verhindern müssen, dass es
in den Ländern, in die die Flüchtlinge vor allem flie-
hen – wie Jordanien oder den Libanon, wo inzwischen
25 Prozent der Bevölkerung Flüchtlinge sind –, zu einer
Destabilisierung kommt .

Ich bin froh, dass wir auch schon in der Vergangenheit
mit 170 verschiedenen Projekten im Rahmen der Syri-
en-Krise aktiv gewesen sind . Ich möchte nicht wissen,
wo wir heute stünden, wenn wir nicht in der Vergangen-
heit schon so aktiv unsere Entwicklungszusammenarbeit
gestaltet hätten .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Deswegen auch vielen herzlichen Dank an die vielen, die
auch in der Vergangenheit mit aktiv gewesen sind! Ich
bin froh, dass wir jetzt durch das Aufstocken des Etats
die Möglichkeit haben, in diesem Bereich noch stärker
aktiv zu werden .

Wir leben in einer Zeit zunehmender Gewalt . Krisen
und Konflikte spitzen sich immer mehr zu. Es gibt im-
mer mehr Vertreibung durch Terrorismus und ethnische
Probleme, und vor allem auch immer mehr bittere Ar-
mut und Hunger, die die Menschen fliehen lassen. Das
Flüchtlingsthema hat also eine neue Dimension erreicht .

Ich bin froh, dass wir die drei Sonderinitiativen haben,
die von unserem Minister auf den Weg gebracht worden
sind, nämlich „EineWelt ohne Hunger“, „Fluchtursachen
bekämpfen – Flüchtlinge reintegrieren“ und „Stabilisie-
rung und Entwicklung in Nordafrika und Nahost“, die es
schon vorher gab, und dass wir die Mittel von 200 Milli-
onen Euro auf 400 Millionen Euro verdoppeln konnten .
Vielen Dank auch an die Haushälter über die Fraktions-
grenzen hinweg! Aber wir wissen, es wirkt immer alles
wie ein Tropfen auf den heißen Stein . Wir würden uns in
diesem Rahmen natürlich mehr wünschen .

Fluchtursachen bekämpfen: Das ist zurzeit in al-
ler Munde . Aber was sind Fluchtursachen? Ich habe es
schon angesprochen: Wie würden wir dastehen, wenn
wir in diesem Zusammenhang bisher nicht aktiv gewe-
sen wären?

Für uns ist es wichtig, dass wir im Rahmen unserer
Entwicklungszusammenarbeit es schaffen, Lebenspers-
pektiven in den Entwicklungsländern bzw . in den krisen-
geschüttelten Ländern zu verbessern . Das sind Länder,
die eine sehr junge Bevölkerung haben . In Afrika leben
jetzt 1,2 Milliarden Menschen . 2100 soll Afrika 4,4 Mil-
liarden Einwohner haben . Das ist fast das Vierfache . Über
50 Prozent sind junge Leute, die eine Perspektive brau-
chen . Das sind junge Leute, die in ihrer Heimat bleiben
wollen . Es ist schließlich nicht so, dass sie ihre Heimat
gerne verlassen . Sie möchten zu Hause bei ihrer Familie
bleiben: bei ihrer Schwester, bei ihrem Bruder oder bei
ihren Kindern . Wir müssen ihnen eine Chance geben . Sie
brauchen unsere Unterstützung, damit sie in ihrem Hei-
matland und in ihrem Heimatort etwas bewegen können .
Sonst werden sich viele von ihnen in Bewegung setzen .

Ich hoffe, dass wir auf dem Gipfeltreffen in Malta
im Herbst geschlossen mit einer Stimme sprechen . Die
Europäische Union ist eine Macht, aber nur dann, wenn
sie auch zukünftig mit einer Stimme spricht . Die Staaten
müssen umdenken . Sie müssen mehr gemeinsam agieren
und auch einmal gegenüber den Regierenden in den af-
rikanischen Ländern mit der Faust auf den Tisch hauen,
nach dem Motto „So geht es nicht weiter“ . Sie müssen
wissen, dass sie in die Pflicht genommen werden, sie
müssen wissen, dass sie selbst den Exodus der Einwoh-
ner ihrer Länder verhindern müssen und dass sie aktiver
sein müssen als bisher .


(Beifall des Abg . Martin Patzelt [CDU/CSU])


Nichtsdestoweniger ist es für uns wichtig, auch wei-
terhin für die Ernährungssicherung zu sorgen, was wir
auch schon in der Vergangenheit gemacht haben: durch
ländliche Entwicklung und Aufklärung der Frauen, damit
sie ihre Kinder ernähren können, und durch viele andere
Maßnahmen mehr .

Bildung und Beschäftigungsförderung sind genauso
wichtige Themen wie die Rückkehr von Flüchtlingen .

Anja Hajduk






(A) (C)



(B) (D)


Gesundheitszentren, die vernichtet wurden, müssen wie-
der aufgebaut werden . Des Weiteren steht die Förderung
von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie im Vordergrund .
In diesem Zusammenhang möchte ich mich besonders
bei unseren politischen Stiftungen bedanken, die hier
hervorragende Arbeit leisten . Ich bin daher froh, dass es
möglich war, den Etatansatz in diesem Bereich zu erhö-
hen .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wichtig ist für uns, in Zukunft mithilfe präventiver
Ansätze noch mehr dafür zu sorgen, dass Konflikte erst
gar nicht zustande kommen; das ist unsere primäre Auf-
gabe . Wir dürfen nicht erst dann aktiv werden, wenn das
Kind schon in den Brunnen gefallen ist . Vielmehr müs-
sen wir zukünftig noch mehr Präventionsmaßnahmen er-
greifen . Dass wir uns um die Ausbildung von Richtern
und kommunalen Verwaltungsbeamten kümmern . Dass
wir funktionierende Justizsysteme in den betreffenden
Ländern aufbauen, damit die Menschen Gerechtigkeit
einfordern können und so nicht mehr zur Flucht gezwun-
gen sind . In den betreffenden Ländern müssen freie und
pluralistische Medienlandschaften entstehen, damit kor-
rupte politische Führungen kontrolliert werden können .
Wir müssen Maßnahmen zu Versöhnungsprozessen er-
greifen, um Konflikte zwischen verfeindeten Gruppen
und Ethnien zu beseitigen .

Ich möchte noch ein Wort zum Westbalkan sagen . Wir
wissen alle, dass es für die Flucht der Migranten vom
Westbalkan andere Ursachen gibt als für die Flucht der
Menschen aus Syrien oder Eritrea, wo eine Militärdikta-
tur herrscht, oder aus Nigeria, wo Boko Haram sein Un-
wesen treibt . Aber wir müssen dafür sorgen, dass auch
die Menschen vom Westbalkan eine wirtschaftliche und
soziale Entwicklung erfahren und eine Zukunft haben,
und zwar unter klaren Bedingungen . Wenn man einmal
gesehen hat, unter welchen Bedingungen die Roma auf
dem Westbalkan leben, dann weiß man, dass das kein
Leben ist . Das ist menschenunwürdig . Man glaubt, im
schlimmsten Entwicklungsland in Afrika zu sein . Die
Roma haben keinen Zugang zu Arbeit und Gesundheits-
systemen, teilweise keinen Zugang zu Schulen . Ange-
sichts dessen frage ich mich, was aus der EU-Konven-
tion geworden und wohin das Geld geflossen ist, das die
betreffenden Länder für die Roma bekommen haben . Ich
glaube, in diesem Zusammenhang müssen wir den Fin-
ger noch viel stärker auf die Wunde legen .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ich bin dem Minister dankbar, dass er mit der GIZ
das DIMAK im Kosovo geöffnet hat . Das ist eine sehr
gute Einrichtung, zu der die Menschen vor Ort hingehen
und von der sie sich Hilfe und Beratung erbeten können .
Für die Verbesserung ihrer beruflichen Chancen in ihrem
Land . Dort werden ihnen aber auch legale Möglichkei-
ten der Arbeitsvermittlung nach Deutschland aufgezeigt .
Ich würde mich freuen, wenn wir auch in Albanien und
anderen Ländern des Westbalkans nach Abschluss der Pi-
lotphase dieses Projekt installieren könnten .

Europa sollte – ich sage absichtlich: sollte – beim
Flüchtlingsthema eine Rolle spielen . Als die Euro-Krise
akut wurde, wurde ein Gipfel nach dem anderen – fast im
Tagesrhythmus – einberufen . Aber wo sind den jetzt die
Gipfel und Zusammenkünfte im Tagesrhythmus, wenn
es um Flüchtlinge geht? Europa muss beweisen, dass es
in der Lage ist, nicht nur von Werten zu reden, sondern
auch den Schutz von Flüchtlingen als gemeinsamen Wert
anzuerkennen .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Europa hat den Friedensnobelpreis bekommen . Es muss
jetzt aber beweisen, dass es diesen Friedensnobelpreis
tatsächlich verdient hat . Europa muss hier langsam in die
Puschen kommen .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich bedanke mich ganz herzlich bei unserem Minister,
der das Ministerium sehr gut aufgestellt hat . Er ist au-
thentisch und ein Vordenker, der erkannt hat, dass sein
Haus das Zukunftsministerium ist und noch mehr im
Fokus der öffentlichen Wahrnehmung stehen wird . Wir,
die wir im exklusiven Wohlstand leben, sitzen in einem
Boot und haben gemeinsam Verantwortung . Ich möch-
te in diesem Zusammenhang auch das Auswärtige Amt
einbeziehen, das sich in vielen Bereichen in die richtige
Richtung neu aufgestellt hat . Vielleicht schaffen wir es,
die Kräfte noch mehr zu bündeln und insbesondere bei
der Verzahnung von humanitärer Hilfe und Übergangs-
hilfe noch besser zusammenzuarbeiten . Ich glaube, das
wäre in diesem Zusammenhang sehr gut .

Wir alle sind gefragt, ob es die Industrieländer sind, ob
es die Schwellenländer sind . Aber vor allem müssen hier
die Entwicklungsländer selbst aktiv werden . Wir haben
unterschiedliche Verantwortlichkeiten entlang der jewei-
ligen Leistungsfähigkeit . Das ist ganz klar; das wissen
wir alle . Entweder sind wir bereit, unseren Wohlstand
mit anderen zu teilen, oder wir teilen mit anderen deren
Schicksal .

In diesem Sinne: Vielen Dank für die Aufmerksam-
keit .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1812010800

Vielen Dank, Dagmar Wöhrl . – Nächste Rednerin:

Heike Hänsel für die Linke .


(Beifall bei der LINKEN)



Heike Hänsel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1812010900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Entwicklungspolitik ist ja jetzt plötzlich in aller
Munde . In jedem Beitrag heute kam irgendwie das The-
ma Entwicklungspolitik vor . Auch die Kanzlerin hat an
prominenter Stelle im Zusammenhang mit den Fluchtur-
sachen die Entwicklungszusammenarbeit genannt . Man
kann sich also schon fast nicht mehr retten, wenn man
nicht wahrnehmen möchte, dass der Fokus auf die Ent-
wicklungszusammenarbeit gerichtet wird .

Dagmar G. Wöhrl






(A) (C)



(B) (D)


Ich möchte gleich dazusagen und auch warnen: Die
Entwicklungszusammenarbeit ist zwar ein wichtiges
Element, aber sie kann nicht der Reparaturdienst für eine
absolut verfehlte Politik sein .


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn zum Beispiel einem afrikanischen Kleinbauern in
Äthiopien das Land genommen wird, wenn er vertrieben
wird, weil ein europäischer Konzern dort Palmöl an-
bauen will, dann nützt es ihm nichts, wenn er von der
deutschen Entwicklungszusammenarbeit einen Traktor
bekommt . Deshalb müssen wir an die Ursachen dieser
verfehlten Politik herangehen,


(Beifall bei der LINKEN)


und wir dürfen nicht annehmen, wir könnten durch Pro-
jekte diese Strukturen grundsätzlich ändern .

Ich möchte auf das verweisen, was ich auf dem Trans-
parent einer Flüchtlingsinitiative gelesen habe . Diese
Initiative hat im August vor dem Sitz von Rüstungskon-
zernen in Baden-Württemberg, genauer: am Bodensee,
demonstriert . Auf diesem Transparent stand: „Wer Inst-
rumente der Gewalt produziert oder die Wirtschaft eines
Landes ausbeutet, erntet Flüchtlinge.“ Ich finde, man hat
es damit auf den Punkt gebracht .


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb kann es bei den Rüstungsexporten in alle Welt
kein Weiter-so geben; ich habe heute mehrfach zu die-
sem Thema nachgefragt . Es kann kein Weiter-so bei der
Beteiligung an Militärinterventionen der NATO geben .
Wenn wir uns Länder wie Irak, Afghanistan, Libyen an-
schauen, dann stellen wir fest: Das sind zerschlagene
Länder . Auch eine Friedenslösung in Syrien wird leider
schon sehr lange vor allem von den USA verhindert, weil
sie keine Beteiligung des Irans an solch einer Initiative
wollten .


(Beifall bei der LINKEN)


Vielleicht tut sich für eine Friedenslösung ein neues Zeit-
fenster auf . Wir müssen schauen, was passiert .

Es kann auch bei der Rohstoffausbeutung kein Wei-
ter-so geben . Wie viele Länder auf dem afrikanischen
Kontinent haben Rohstoffkonflikte und führen Rohstoff-
kriege! Kongo, Mali, Zentralafrikanische Republik – es
gibt so viele Rohstoffkriege . Wenn wir darauf nicht wirk-
lich Antworten geben und nicht unsere Politik ändern,
dann bleibt es bei schönen Worten hier, und es ändert sich
nichts an der Bekämpfung von Fluchtursachen .

Das betrifft auch die Nahrungsmittelspekulation . Es
kann doch nicht wahr sein, dass sich nach wie vor zum
Beispiel die Deutsche Bank eine goldene Nase an den
steigenden Nahrungsmittelpreisen verdient, die in ande-
ren Ländern zu Hunger und Elend führen .


(Beifall bei der LINKEN)


Nahrungsmittelspekulation muss verboten werden; sie ist
verbrecherisch . Das müssen wir so auch benennen .

Die Weltbank, Herr Minister Müller, wird dafür ver-
antwortlich gemacht, dass sie mit ihrer Politik in den

letzten Jahren zur Vertreibung von insgesamt 3,4 Millio-
nen Menschen beigetragen hat . Ein Vertreter der Bundes-
regierung sitzt im Executive Board der Weltbank . Dort
muss er doch darauf reagieren . Wir haben dazu von Ihnen
bis heute nichts gehört, was Sie da eigentlich anders ma-
chen wollen . Das betrifft auch die Freihandelsabkommen
und die Freihandelspolitik . Ich habe von Ihnen gehört –
das fand ich sehr gut; anscheinend haben Sie unseren
Reden oft zugehört –: Fairer Handel statt Freihandel . –
Bravo, sage ich nur .


(Beifall bei der LINKEN)


Wo ist denn dann, bitte schön, Ihr Protest gegen TTIP,
CETA, TiSA, gegen sämtliche Freihandelsabkommen
mit Afrika und Lateinamerika? Diese Abkommen bewir-
ken doch das genaue Gegenteil .

Wir müssen unser Wirtschaftssystem und auch die Fi-
nanzstruktur, die wir nach wie vor stützen, grundsätzlich
infrage stellen . Das wurde vorhin auch von der Kollegin
von den Grünen bereits angesprochen . Ich möchte dazu
noch eine Zahl nennen . Es wird weltweit doppelt so viel
Geld aus dem Süden Richtung Norden abgezogen, wie
an Entwicklungsgeldern aus dem Norden in den Süden
fließt. Das heißt, auf 1 Dollar in der Entwicklungszu-
sammenarbeit kommen 2 Dollar an legalen und illegalen
Geldströmen, die wieder in den Norden zurückfließen.
Wenn wir an diesen Strukturen nicht grundsätzlich etwas
ändern, dann brauchen wir nicht vom Bekämpfen von
Fluchtursachen zu sprechen .


(Beifall bei der LINKEN)


Hier haben Sie, Herr Müller, leider die völlig falsche
Entscheidung getroffen . Dass Sie sich der Initiative
der Länder des Südens, die internationale Steuerpolitik
endlich bei den UN anzusiedeln, verweigert haben, das,
muss ich sagen, spricht wirklich nicht für Sie als Ent-
wicklungsminister .


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN sowie des Abg . Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Was gibt es jetzt an konkreten Vorstellungen der Bundes-
regierung? Ich habe dazu nicht viel gehört . Ich habe heute
nur einen ganz abstrusen Vorschlag gelesen . Er kommt von
Ihren Kollegen der CDU/CSU-Fraktion, von der Frau Weiss
und dem Herrn Strobl . Diese fordern, dass Entwicklungs-
ländern, die keine Flüchtlinge zurücknehmen, die Entwick-
lungsgelder gestrichen werden sollen . Da frage ich mich
doch, Herr Müller: Unterstützen Sie tatsächlich einen derart
abstrusen Vorschlag, eine solche Forderung, die Ursache
und Wirkung vertauscht und die die ganze Verantwortung
jetzt den Ländern des Südens zuschiebt?

Wer ist denn verantwortlich zum Beispiel für Kli-
maflüchtlinge, für den Klimawandel? Wer ist denn ver-
antwortlich für alle diese Vertreibungen, die in den Län-
dern des Südens stattfinden? Da können Sie doch nicht
allen Ernstes jetzt auch noch anfangen, eine Politik der
Erpressung gegenüber den Ländern des Südens anzudro-
hen . Es ist wirklich, muss ich sagen, unanständig, was
Sie hier vorschlagen .


(Beifall bei der LINKEN)


Heike Hänsel






(A) (C)



(B) (D)


Sie schlagen auch noch vor, Flüchtlinge militärisch zu
bekämpfen, bzw .


(Henning Otte [CDU/CSU]: Was?)


die Boote der Flüchtlinge sollen militärisch bekämpft
werden .


(Henning Otte [CDU/CSU]: Dann müssen Sie es differenzieren! Was reden Sie denn da?)


Mir hat bis heute niemand die Frage beantwortet, wie er
eigentlich Fischerboote, Flüchtlingsboote und Schlep-
perboote unterscheiden will .


(Henning Otte [CDU/CSU]: Ja, Schlepperboote! Das ist ja unerhört! – Sabine Weiss – Was passiert denn, wenn die Schlepperboote zerstört werden? Haben Sie einen anderen Vorschlag, wie Flüchtlinge hierherkommen können? Machen Sie doch mal einen Vorschlag, wie zum Beispiel die 30 000 Menschen, die derzeit auf der Insel Lesbos festsitzen, dann noch hierherkommen können! (Henning Otte [CDU/CSU]: Die armen Kinder, die in den Booten umkommen! Das ist unglaublich!)


(Wesel I) [CDU/CSU]: Du überziehst!)


Da gibt es überhaupt keinen Vorschlag von der Bundes-
regierung, weil Sie Ihre Politik nach wie vor darauf aus-
richten, Flüchtlinge im Grunde von diesem reichen Land
abzuhalten,


(Henning Otte [CDU/CSU]: Sie verrennen sich jetzt völlig! – Sabine Weiss [CDU/CSU]: Das ist eine Unverschämtheit!)


und diese Politik werden wir nicht mitmachen .


(Beifall bei der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1812011000

Vielen Dank, Heike Hänsel . – Nächste Rednerin in der

Debatte: Dr. Bärbel Kofler für die SPD.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Bärbel Kofler (SPD):
Rede ID: ID1812011100

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Es ist mehrfach angesprochen worden: Wir diskutieren
einen Entwicklungshaushalt mit einem durchaus erfreu-
lichen Aufwuchs; das möchte ich am Anfang anmerken .
Ich freue mich über 880 Millionen Euro mehr . Ich möch-
te aber deutlich unterstreichen: Das darf kein haushal-
terisches Strohfeuer bleiben . Wir brauchen Kontinuität
im Aufwuchs der Haushaltsmittel für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Warum brauchen wir sie? Schauen wir uns an: Was
steht in unserer eigenen mittelfristigen Finanzplanung,
noch von der Vorgängerregierung aufgestellt? Abgesenk-
te Mittel, und daran bemisst sich der Aufwuchs, über den
wir reden . Was steht in den Ergebnissen der Konferen-

zen der G 7 und der Konferenz von Addis Abeba? Ha-
ben wir darin wirklich Verpflichtungen für die nächsten
Jahre definiert, wie wir Entwicklungszusammenarbeit fi-
nanzieren wollen, oder sind darin noch sehr viele schöne
Absichtserklärungen enthalten? Ich glaube, es ist leider
Letzteres der Fall .

Warum brauchen wir das? Wir haben es heute mehr-
fach diskutiert . Es ist über das Thema Flucht diskutiert
worden . Wir müssen uns fragen: Stellt dieser Haushalt,
so wie er aufgestellt ist, ein Abbild dessen dar, was wir
auf die Herausforderungen der Zeit antworten müssen,
ja oder nein?

Wir haben über Fluchtursachen diskutiert . Es ist zu Recht
angesprochen worden: Da gibt es zwei Dinge, die wir tun
müssten . Das eine ist die akute Hilfe für die Menschen,
die unter ganz erbärmlichen Umständen in Flüchtlingsla-
gern leben, nicht erst seit gestern, sondern über Jahre hin-
weg, und die dort zum Teil ohne Bildung, ohne Sanitär-
anlagen, ohne Gesundheitsvorsorge leben . Es sind ganz
katastrophale Zustände . Die Situation ist nicht erst seit
gestern so . Das wissen wir schon länger . Hier brauchen
wir akut Mittel und finanzielle Unterstützung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir brauchen aber auch, wenn wir über die viel zitier-
ten Fluchtursachen reden, Mittel – das ist angesprochen
worden, das macht die Entwicklungszusammenarbeit –,
um Kriege gar nicht erst entstehen zu lassen, um Bürger-
kriege zu verhindern, um den Ausbruch von Kriegen zu
verhindern und um den Zerfall von Staaten, die in sehr
schwierigen Situationen sind – gerade in Subsahara-Afri-
ka –, zu verhindern, damit die Menschen dort überhaupt
eine Lebensperspektive haben, Zugang zu Nahrung ha-
ben, vielleicht einen Arbeitsplatz finden, um sich selbst
ernähren zu können, und ein Mindestmaß an Sicherheit
garantiert ist, damit sie ihr Leben auch gestalten können .
Wenn Staaten diese Basis nicht haben – finanziell und
institutionell –, dann ist die Flucht vorprogrammiert . Bil-
den wir das wirklich mit diesem Haushalt ab? Ich bin der
Ansicht, wir tun es leider nicht .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


An diesem Rednerpult werden wir in 14 Tagen eine
Regierungserklärung zum Thema „Nachhaltige Entwick-
lungsziele“, das im September in New York eine Rolle
spielen wird, hören . Es sind gute Ziele, die dort verein-
bart werden sollen . Es sind wichtige Ziele . Die extreme
Armut, die dazu führt, dass sich Menschen nicht mehr
ernähren können, soll bis zum Jahr 2030 auf diesem Pla-
neten ausgerottet werden . Aber bilden wir nur diese eine
Forderung dieses Zielkataloges mit diesem Haushalt ab?
Ich glaube, nein .


(Beifall der Abg . Heike Hänsel [DIE LINKE])


Ähnlich ist es bei den Fragen bezüglich des Klima-
wandels . Im Dezember werden wir eine Konferenz in Pa-
ris haben . Auch diese Herausforderungen werden haus-
halterisch nicht abgebildet .


(Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!)


Heike Hänsel






(A) (C)



(B) (D)


Noch einmal: Ich freue mich, dass es seit mehreren
Jahren der erste substanzielle Aufwuchs ist . Aber er darf
nicht einmalig sein . Es muss uns allen klar sein, und zwar
in allen Ressorts, dass dieser Aufwuchs in den nächsten
Jahren und Jahrzehnten verstetigt werden muss .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das gilt für das viel zitierte 0,7-Prozent-Ziel, das wir
endlich einmal erreichen wollen und sollen; denn wir
werden es mit diesem Haushalt nicht erreichen . Es ist
eine Frage der klassischen Entwicklungsfinanzierung. Es
gilt aber auch – das ist von der Vorrednerin angespro-
chen worden – für die Frage: Wie bekommen wir welt-
weit die Staatsfinanzen überhaupt in Ordnung, sodass
Entwicklungsländer eine Basis haben, in ihren Ländern
selbst Einnahmen zu erzielen? Hier geht es um nationa-
le Gesetzgebung . Wir wissen: Im September/ Oktober
legt die OECD, die Organisation für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung, Pläne vor, wie wir das
Thema Steuererosion verhindern können . Hier geht es
darum, dass Konzerne Steuer- und Gewinnverlagerun-
gen vornehmen und dadurch weltweit Milliardenbeträ-
ge im dreistelligen Bereich erzielen und somit den Ent-
wicklungsländern die Finanzbasis entziehen; übrigens
nicht nur denen, auch uns . Wenn wir hier nicht begin-
nen, gemeinsam mit anderen Politikern – hier brauchen
wir die Finanzpolitiker – eine wirklich konsistente ent-
wicklungsfördernde und armutsbekämpfende Politik zu
machen – auch in anderen Feldern des politischen Agie-
rens –, dann werden wir scheitern . Wir brauchen diese
Zusammenarbeit . Wir brauchen dazu bei uns eine natio-
nale Gesetzgebung und müssen vor Ort anfangen .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ähnliches gilt für das Thema „Wirtschafts- und Han-
delspolitik“ . Es ist mehrfach angesprochen worden . Ich
sage es in jeder Rede: Wir brauchen verbindliche Stan-
dards mit verbindlichen guten Arbeitsbedingungen,
ILO-Kernarbeitsnormen, Gesundheitssysteme, soziale
Absicherung . Wir brauchen Transparenz bezüglich der
Rohstoffentnahmen von internationalen Konzernen, und
zwar mit verbindlichen Regeln, damit vor Ort die Basis
für Wertschöpfung und wirtschaftliches Handeln ge-
schaffen wird .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das heißt, wir brauchen eine Zusammenarbeit mit der
Finanzpolitik, mit der Wirtschaftspolitik, mit der Ge-
sundheitspolitik . Unsere Zeit ist sehr schnelllebig . Vor
einem Jahr standen wir hier, haben über Ebola debattiert
und die Frage diskutiert, wie notwendig es ist, Gesund-
heitssysteme weltweit aufzubauen . Genau das müssen
wir jetzt tun, und zwar mit allen Fonds und mit allen Ak-
teuren, die es dafür gibt . Ich würde mir wünschen, unser
Haushalt würde den entsprechenden Aufwuchs abbilden,
und zwar auch in unserer Zukunftsplanung . Das tut er
leider nicht .


(Beifall bei der SPD)


Ich möchte an einem Beispiel deutlich machen, dass
wir mehr tun können, um Entwicklungszusammenarbeit
zur Konfliktprävention und zum Vorbeugen von Krisen,
Kriegen und Fluchtursachen zu nutzen . Es ist nur ein
kleines Beispiel, das keine Milliarden kostet, aber illus-
triert, um was es gehen muss . Vor einem halben Jahr ha-
ben wir mit Institutionen und engagierten Menschen des
Zivilen Friedensdienstes aus dem Libanon gesprochen .

Der Zivile Friedensdienst betreut fünf Kommunen,
in denen Flüchtlinge und Alteingesessene zusammenge-
bracht werden, um Konflikte aufzuarbeiten, die erheb-
lich sind . Das kann man sich ja vorstellen . Das ist heute
mehrfach angesprochen worden . Man kann sich durch-
aus vorstellen, dass es in einem Land wie dem Libanon,
in dem jeder vierte Einwohner ein Flüchtling ist, schwie-
rige Situationen gibt . Dabei geht es um den Zugang zu
Wasser, um die Energieversorgung, um den Schulbesuch,
um Konkurrenz am Arbeitsmarkt usw . Es geht darum,
vor Ort mit den Beteiligten, mit den Kommunen zu klä-
ren, wie man diese Konflikte friedlich lösen und damit
Bürgerkriegssituationen vorbeugen kann .

Es gibt das Ansinnen von lokalen Partnern im Liba-
non, die Zahl der Kommunen von 5 auf 20 auszuwei-
ten . Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir das ma-
chen müssen . Das ist eines der Beispiele dafür, wie wir
Konfliktbewältigung und Konfliktprävention betreiben
können . Insofern muss es bei Organisationen wie dem
Zivilen Friedensdienst einen deutlichen Mittelaufwuchs
gegenüber dem geben, was zurzeit im Haushaltsentwurf
steht .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich nehme das Angebot sehr ernst, noch einmal über
die Ausgestaltung des Haushalts in diesem Bereich zu re-
den . Wenn der Bereich Bildung ernstgenommen werden
soll, müssen wir auch im Bereich der globalen Partner-
schaft für Bildung mehr tun . 7 Millionen Euro aus deut-
scher Hand für diesen Bereich sind beschämend . Wenn es
uns ernst damit ist, die Situation der Menschen in Afrika
durch mehr Bildung zu verbessern und dafür zu sorgen,
dass sie vor Ort etwas tun und selbst aktiv werden kön-
nen, dann müssen wir uns an all diesen internationalen
Aktivitäten anders beteiligen . Das wünsche ich mir sehr .

Wir müssen schnell handeln . Das ist völlig unumstrit-
ten . Wir dürfen darüber hinaus aber nicht vergessen, wel-
ches die grundlegenden Aufgaben der Zusammenarbeit
sind . Entwicklungspolitik muss in allen Ressorts gedacht
werden . Sonst werden wir unsere Aufgaben leider nicht
erfüllen können .

Danke .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1812011200

Vielen Dank, Bärbel Kofler. – Nächster Redner in der

Debatte: Uwe Kekeritz für Bündnis 90/Die Grünen .


Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1812011300

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Selbst der Papst wird an der bisher größten UN-Ver-

Dr. Bärbel Kofler






(A) (C)



(B) (D)


sammlung von über 190 Nationen teilnehmen, die am
28 . September in New York 17 Nachhaltigkeitsziele ver-
abschieden wird . Die damit verbundene Erwartungshal-
tung ist zu Recht sehr groß . Sie muss vor allen Dingen
auch erfüllt werden; denn es gibt viel zu viele globale
und durchaus auch gefährliche Fehlentwicklungen .

Die Einkommensverteilungen in den Ländern haben
sich sehr stark verschlechtert . Die Ernährungs- und Ar-
mutssituation ist trotz zweifelhafter Statistiken von Welt-
bank und FAO kaum besser geworden . Die Biodiversität
schrumpft bedrohlich . Die Klimaveränderung und der
Zerfall von Staaten werden immer gefahrvoller . Demo-
kratische Strukturen werden zurückgedrängt . Autoritäre
Systeme werden stärker .

Genauso entwickeln sich potenzielle Fluchtursachen .
Deshalb müssen die Ziele umgesetzt werden . Deshalb
muss die Klimakonferenz in Paris ein Erfolg werden .

Die wichtigste Botschaft, die sich aus dem SDG-Pro-
zess ergibt, ist für mich, dass alle Länder Entwicklungs-
länder sind, also auch Deutschland .


(Beifall der Abg . Heike Hänsel [DIE LINKE])


Deutschland hat gemeinsam mit anderen Industrie-
staaten globale Entwicklungen vorangetrieben, die dem
Prinzip der Nachhaltigkeit und der globalen Fairness ek-
latant widersprechen . Dafür tragen wir Verantwortung .
Deshalb müssen wir Konsequenzen daraus ziehen .

Wir müssen zum Beispiel dafür sorgen, dass das in-
ternationale Finanzsystem, die globale Agrarwirtschaft,
die Klimapolitik und die Handelsstrukturen verändert
werden . Zentral ist, dass die Strukturen verändert wer-
den müssen. Wir müssen Wege dazu finden und gehen.
Deshalb können wir durchaus sagen: Wir sind ein Ent-
wicklungsland .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg . Heike Hänsel [DIE LINKE])


Die 17 gar nicht so neuen Ziele haben genau diese
große Schwäche . Sie stehen letztlich isoliert da und sind
nicht in strukturelle Veränderungen eingebunden . Das
müssen wir ändern .

Erfolg in der Entwicklungspolitik setzt Verlässlich-
keit voraus . Bei diesem Begriff weiß natürlich Minister
Müller sofort, dass er angesprochen ist . Ich freue mich ja
auch, dass die Mittel steigen, aber auch die Zahl der Pro-
blemfelder ist, wie Sie selbst vorhin gesagt haben, enorm
gestiegen; die Probleme sind größer geworden, und es
sind neue hinzugekommen. Bärbel Kofler hat eine sehr
gute Zusammenfassung geliefert . Die Mittel – das sagen
Sie selbst auch – reichen nicht . Es müssen mehr werden,
vor allen Dingen in der näheren Zukunft . Sie tragen das
aber so vor, Herr Minister Müller, dass ich fast schon ein
schlechtes Gewissen bekomme . Wem machen Sie eigent-
lich den Vorwurf, dass die Mittel nicht reichen? Ich hatte
immer den Eindruck, dass Sie an der Regierung sind und
dass Sie dafür die Verantwortung tragen .


(Heiterkeit der Abg . Heike Hänsel [DIE LINKE] – Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Herr Schäuble!)


– Ja, bitte, das ist doch die Regierung . Das müssen die
schon intern klären .

Ihre Verlässlichkeit war gerade das Thema; aber auch
Ihre Entwicklungspolitik, Herr Minister Müller, wird aus
meiner Sicht immer fragwürdiger . In ihrem Afrika-Kon-
zept von 2014 sagten Sie noch ganz klar: Wir müssen für
afrikanische Probleme afrikanische Lösungen suchen . –
Heute postulieren Sie leider das Gegenteil . Vorgestern
haben Sie in der WDR-Dokumentation Hungrig nach
Profit das Geschäft mit dem Hunger folgendermaßen er-
klärt: Es ist doch zynisch, wenn wir in Afrika den Bauern
unser Wissen und Können, das wir in 100 Jahren erwor-
ben haben, nicht vermitteln würden . – Was heißt denn
das? Europäische Lösungen für afrikanische Probleme!
Letztendlich wollen Sie die europäische, die westliche
Agrarstruktur nach Afrika exportieren .

Herr Müller, haben Sie denn nicht gemerkt, dass ge-
nau unser Agrarsystem ein verdammt krankes und kaput-
tes System ist?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Sie sollten als Allgäuer einmal mit den Milchbauern re-
den . Das hilft manchmal . Sie sollten vielleicht auch ein-
mal mit Ihrem Kollegen Christian Schmidt reden, der
der Forderung nach Exportoffensiven im Bereich Milch
nicht massiv entgegentritt .


(Dagmar G . Wöhrl [CDU/CSU]: So schnell wird das umgesetzt! Der Minister setzt sich neben den Staatssekretär Bleser!)


– Na ja, der Staatssekretär kann ihm ja ausrichten, dass er
einmal dem Versuch, Exportinitiativen im Bereich Milch
voranzutreiben, entgegentreten sollte . – Wohin sollen
denn diese Milchmengen exportiert werden? Nach Ka-
merun, nach Uganda, nach Ghana? Nein, diese Länder
haben selbst genug Milch, und Milch aus Deutschland
und Europa würde deren Entwicklungschancen weiter
schwächen .


(Zuruf des Abg . Charles M . Huber [CDU/ CSU])


In der Dokumentation, Herr Minister, offenbaren Sie
auch einen wesentlichen und meines Erachtens schäd-
lichen Ansatz Ihrer Politik: nicht nur, dass Sie mit dem
Übertragen des deutschen Systems nach Afrika in der
Entwicklungspolitik auf den Stand der 60er-Jahre zurück-
fallen, nein, Sie ergänzen diese Politik noch mit einem
Markterweiterungsprogramm für die deutsche Industrie .
In der Sendung sagten Sie dann auch ganz offen, dass
die deutsche Wirtschaft mit dem BMZ in die Entwick-
lungsländer geht und ihr Know-how einbringt . Glauben
Sie denn wirklich, dass BASF, Bayer, Syngenta und Co .
als Entwicklungsorganisationen fungieren können, die
ihr Profitinteresse beiseitelassen und das Gemeinwohl,
die Menschenrechte und die ökologische Nachhaltigkeit
ihren Zielen unterordnen? Herr Minister, so naiv sind Sie
nicht . Ich glaube, Sie sind gerade dabei, immer mehr Ent-

Uwe Kekeritz






(A) (C)



(B) (D)


wicklungsgelder in den Dienst der deutschen Industrie zu
stellen und diese so zu Subventionen umzuwandeln .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ CSU)


Sie fördern mit öffentlichen Mitteln immer noch die
German Food Partnership oder die New Alliance, die
nicht auf Ihr Geld angewiesen sind . Die Konzerne ha-
ben es aber mit Ihrer Unterstützung verdammt leicht, den
Weg in die Ministerien vor Ort zu finden, mit dem offizi-
ellen Logo und mit der Unterstützung der Regierung, der
Sie angehören .

Auch Ihr Beispiel Textil schätze ich ganz anders ein .
Wer uns glauben machen möchte, dass sich Produkti-
onsbedingungen in den Textilfabriken durch freiwillige
Absprachen dauerhaft verbessern lassen, der täuscht die
Öffentlichkeit . Anstatt politisch begründete, verbindliche
Rahmen zu setzen, versuchen Sie plötzlich, hauptsäch-
lich den Konsumenten in die Verantwortung zu nehmen .
Wer keine Strukturen ändern will, Herr Müller, darf sich
auch nicht darüber wundern, dass sich diese nicht ändern .
Sie müssen auch aufpassen, Herr Müller: Ihr Kollege
Gabriel überholt Sie jetzt locker . Sie merken gar nicht,
dass er auf jeder Veranstaltung, wenn die Möglichkeit
besteht, darauf hinweist, dass er inzwischen für verbind-
liche Standards eintritt .


(Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Und das ist auch gut so!)


– Ja, das ist gut so . Er hat Sie da inzwischen abgehängt .

Ich komme zum Schluss . Ich bin insbesondere nach
den schockierenden Szenen in Heidenau und anderswo
froh darüber, dass die deutsche Bevölkerung in ihrer gro-
ßen Mehrheit heute die Flüchtlinge willkommen heißt .
Aber ohne ein grundlegendes Umdenken des Nordens
in der globalen Außen- und Entwicklungspolitik, in der
globalen Finanz- und Klimapolitik und in der Agrarpo-
litik werden wir zukünftig nicht 80 Millionen, sondern
vielleicht 90 oder mehr Millionen Menschen haben . Es
ist deshalb unsere Verpflichtung, in Paris erfolgreich zu
sein . Es reicht nicht, 17 Ziele zu verabschieden, auch
wenn sie den päpstlichen Segen haben . Wir müssen die
Strukturen schaffen, damit sich diese Ziele verwirklichen
lassen .

Herzlichen Dank .


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1812011400

Vielen Dank, Kollege Kekeritz . – Nächster Redner in

der Debatte: Jürgen Klimke für die CDU/CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU)



Jürgen Klimke (CDU):
Rede ID: ID1812011500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Auch ich möchte es zu Be-
ginn noch einmal deutlich machen: Der Etat des Bun-
desentwicklungsministeriums steigt um 880 Millionen
Euro . Das ist ein Zuwachs um fast 14 Prozent . Dank der

herausragenden Unterstützung der Bundeskanzlerin –
das muss man auch sagen – und des intensiven persönli-
chen – lieber Kollege Kekeritz – und verlässlichen Ein-
satzes unseres Ministers


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


ist Deutschland jetzt mit voller Kraft auf dem richtigen
entwicklungspolitischen Weg . Ich muss auch sagen: Der
starke Aufwuchs der Verpflichtungsermächtigungen um
1,8 Milliarden Euro schafft einen kreativen Spielraum
und einen Arbeitsraum für zukünftige Aufgaben .

Der Herr Minister ist im Moment nicht da .


(Zurufe von der CDU/CSU)


– Doch, Entschuldigung . – Ich hoffe doch sehr, dass das
nicht ein persönliches Geschenk zum runden Geburtstag
ist, sondern dass der Haushaltsaufwuchs und damit die
deutliche Unterstützung der Entwicklungszusammenar-
beit in den nächsten Jahren wiederkehrende Maßnahmen
sein werden .

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Jahr 2015 ist –
oder wird noch – ein besonderes Jahr für die Entwick-
lungszusammenarbeit . Die Millenniumsentwicklungs-
ziele der Vereinten Nationen werden ihre Erneuerung,
ihre Überarbeitung und ihre Erweiterung erfahren und
durch neue Ziele für den Zeitraum bis 2030 fortgeschrie-
ben werden . Mit den neuen Entwicklungszielen wollen
wir nicht nur Armut und Krankheiten bekämpfen, son-
dern wir wollen vor allen Dingen Globalisierung sozial
und ökologisch nachhaltig gestalten . Dies ist ein Ziel,
mit dem sich Deutschland besonders solidarisiert und bei
dem es eine besondere Verpflichtung verspürt. Ich selbst
durfte mit einigen Kolleginnen und Kollegen des Unter-
ausschusses Vereinte Nationen in den letzten Tagen in
New York Gespräche zu diesem Thema führen . Ich glau-
be, dass wir mit den Sustainable Development Goals eine
gute Arbeitsplattform für unsere nationale Entwicklungs-
politik erhalten haben . Ich unterstreiche es noch einmal:
Der Aufwuchs im Haushalt bietet dafür jedenfalls eine
hervorragende Grundlage .

Hervorzuheben ist zum Beispiel, dass die Bundes-
kanzlerin persönlich am 24 . September hier von diesem
Pult aus in einer Regierungserklärung über die Verab-
schiedung der SDGs in der UN-Vollversammlung berich-
ten wird . Dies zeigt den Stellenwert und wird von uns
ausdrücklich begrüßt .

Meine Damen und Herren, wie bereits im Rahmen der
Debatte erwähnt, finden die Haushaltsberatungen in einer
Zeit statt, in der wir in Europa die Bedeutung nachhalti-
ger Entwicklungspolitik auch an der Zahl der Flüchtlinge
tagtäglich durch die mediale Berichterstattung und vor
allen Dingen durch unsere persönlichen Erfahrungen in
unseren Wahlkreisen vor Augen geführt bekommen . Wir
stehen vor einer nationalen und europäischen Heraus-
forderung, die seit der deutschen Einheit in dieser Form
nicht vorgekommen ist . Das ist uns inzwischen klar . Hier
liegt auch ein Teil der Erklärung, warum unsere Reakti-
on auf diese Situation in den letzten Monaten teilweise
zu langsam und zu bürokratisch war . Die Dimension der

Uwe Kekeritz






(A) (C)



(B) (D)


Flüchtlingskrise wird uns auch in der nächsten Zeit wei-
ter beschäftigen .

Eines ist klar: Mit den Mitteln der deutschen Entwick-
lungspolitik können wir nicht sämtliche Fluchtursachen
in der Welt beseitigen . Sie ist aber in diesem Kontext ein
ganz wichtiger Baustein, um die Dinge zu einem Besse-
ren zu wenden .

Bei den Mitteln für die von Minister Müller initiierte
Sonderinitiative „Fluchtursachen bekämpfen – Flücht-
linge reintegrieren“ ist im aktuellen Haushaltsplan ein
Zuwachs von rund 57 Prozent zu verzeichnen; sie stei-
gen auf 110 Millionen Euro im nächsten Jahr . Das sind
Mittel, die angesichts der gegenwärtigen Situation nicht
nur notwendig sind – das brauchen wir nicht zu unter-
streichen –, sondern wahrscheinlich sogar noch erhöht
werden müssen .


(Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Wie das Beispiel Syrien zeigt, haben aktuelle politische
Entwicklungen großen Einfluss auf die Haushaltsplanung.
Die Herausforderung besteht darin, angemessen zu reagie-
ren und es in der Planung angemessen umzusetzen . Die Not
der Menschen im Nahen Osten, aber auch in anderen Kon-
fliktregionen, in denen Menschen auf der Flucht sind – diese
müssen wir auch immer im Blick haben; Südostasien gehört
zum Beispiel dazu –, stellt die finanzielle Ausrichtung deut-
scher Entwicklungspolitik vor hohe Anforderungen . Hier
geht es nicht nur um die Konsequenzen der Flucht vor Ort;
vor allen Dingen gehört auch die Hilfe für Staaten wie Jor-
danien oder Libanon dazu – es ist angesprochen worden –,
die in der unmittelbaren Nachbarschaft der Staaten liegen,
aus denen die meisten Flüchtlinge kommen .

Es stellt sich die Frage: Wie kann Entwicklungspoli-
tik unsere Flüchtlingspolitik unterstützen? Eine wichtige
Aufgabe ist die Hilfe vor Ort . Wir müssen auf Partner-
schaft setzen und nicht auf eine Geber-Nehmer-Situation
zwischen den Ländern . Die Schaffung einer wirtschaftli-
chen Grundlage in den Entwicklungsländern ist ein wich-
tiges Instrument der Flüchtlingspolitik . Wer gute Arbeit in
seiner Heimat hat und eben auch für seine Familie sorgen
kann, der muss sich nicht auf eine gefährliche und teure
Flucht begeben, deren Folgen, was die Zukunft betrifft,
eigentlich nicht absehbar sind . Wir müssen Perspektiven
vor Ort aufzeigen . Nur in einem friedlichen Umfeld ha-
ben Menschen eine Chance, ihre Zukunft zu gestalten .
Deshalb ist das Engagement des Zivilen Friedensdienstes
auch in diesem Zusammenhang sehr wichtig .


(Beifall der Abg . Sonja Steffen [SPD])


Die Mittel für den Zivilen Friedensdienst in Höhe von
42 Millionen Euro im kommenden Jahr sind sehr gut ein-
gesetzt .


(Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Das ist zu wenig, Herr Kollege!)


– Na ja, gut, aber immerhin sind sie schon vernünftig ein-
gesetzt .

Wir müssen Investitionen in Bildung tätigen .


(Zuruf des Abg . Stefan Rebmann [SPD])


– Ja, meinetwegen noch intensiver als im Moment, aber
da wird schon sehr viel investiert . – Das duale System ist
ein Exportschlager aus Deutschland . In Kooperation mit
Entwicklungsländern sorgen wir dafür, dass Menschen
vor Ort eine berufsnahe Ausbildung bekommen .

Die Einbindung der Privatwirtschaft, lieber Kollege
Kekeritz, ist unabdingbar . Das Beispiel der CSR zeigt,
dass es möglich ist, zu sozial fairen Bedingungen zu pro-
duzieren und eine Win-win-Situation für alle Beteiligten
zu erreichen: für die Entwicklungsländer, für die Men-
schen vor Ort, aber auch zum Beispiel für den deutschen
Einkäufer, der etwas kauft, was „social made“ ist .


(Beifall des Abg . Bernhard Kaster [CDU/ CSU])


Das Textilbündnis, Herr Minister, ist ein Beispiel
dafür, wie soziale Verantwortung für den Verbraucher
sichtbar wird. Die beteiligten Unternehmen verpflichten
sich, durch die Gewährleistung von Sozial- und Umwelt-
standards an den Produktionsstandorten Verantwortung
zu übernehmen . Das ist ein Beispiel für ein Engagement
von Unternehmen aus der Privatwirtschaft, lieber Kolle-
ge Kekeritz . Damit senden wir ein deutliches Zeichen an
den Steuerzahler: Das Geld ist im Entwicklungsbereich
gut angelegt .

Auch die Zusammenarbeit mit anderen Ressorts muss
gestärkt werden, etwa mit dem Innenbereich . Meine Da-
men und Herren, wir müssen eine rigorose Verfolgung
und Bestrafung von Schleppern forcieren . Auch das ge-
hört dazu . Ich sage es deutlich: Schlepper sind keine Gut-
menschen, Schlepper sind teilweise Mörder .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ein weiterer Punkt, den ich noch kurz ansprechen
möchte: Antikorruptionsmaßnahmen in den Entwick-
lungsländern fördern . Wir können es nicht akzeptieren,
wenn korrupte Machenschaften in diesen Ländern nicht
eliminiert werden . Ohne funktionierende EZ-Partner-
schaften und gutes Regieren wird es nicht möglich sein,
langfristig mit den Entwicklungsländern vernünftig zu-
sammenzuarbeiten . Korruptionsbekämpfung ist ein ganz
wichtiger Punkt .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Letzte Bemerkung – dann komme ich auch zum
Schluss –: Wir sind auf einem guten Weg . Das Auswärti-
ge Amt verzeichnet einen Mittelzuwachs von 26 Prozent .
Das Umweltministerium erhält sehr viel mehr Mittel für
den internationalen Klimaschutz . Das alles müssen wir
zusammenfassen, dann haben wir einen super Mehr-
wert im Entwicklungsbereich . Ich hoffe, dass das in den
nächsten Jahren so weitergeht . Wir jedenfalls werden uns
dafür einsetzen .

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1812011600

Vielen Dank, Herr Kollege Klimke . – Sie überziehen

alle gnadenlos, aber Sie sehen mich heute gnädig . Das
hat wahrscheinlich mit dem Thema zu tun .

Jürgen Klimke






(A) (C)



(B) (D)


Gabriela Heinrich ist die nächste Rednerin in dieser
Debatte .


(Beifall bei der SPD)


Das war jetzt aber keine Aufforderung, auch zu überzie-
hen .


(Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Doch! Doch!)



Gabriela Heinrich (SPD):
Rede ID: ID1812011700

Frau Präsidentin, lassen Sie sich überraschen . – Herr

Minister! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen und
Kolleginnen! Im Moment – wir haben es schon gehört –
ist es relativ einfach, die Menschen in unserem Land
davon zu überzeugen, dass die Entwicklungspolitik ein
wichtiges Thema ist und dass Entwicklungspolitik Geld
kostet, vielleicht noch sehr viel mehr kosten muss und
wird .

Die Menschen sehen im Fernsehen die furchtbaren
Bilder von Flüchtlingen, die verzweifelt versuchen, Sta-
cheldraht und Mauern zu überwinden, die sich schreiend
auf Bahngleise legen und unter unwürdigsten Bedingun-
gen im Freien kampieren, um auf ihre Chance zu warten,
die Chance auf Europa .

Das alles kommt jetzt plötzlich auch in der deutschen
Öffentlichkeit an, nicht nur hier im Parlament . Es taucht
verstärkt die Frage auf, warum wir nicht genug in den
Herkunfts- und Aufnahmeländern investieren, aus denen
die Menschen zu uns kommen, warum wir nicht mehr
versuchen, die Fluchtursachen zu bekämpfen – irgend-
wie, aber auf jeden Fall mit deutlich mehr Engagement .
Deshalb – das wurde heute ganz oft angesprochen – ist
es natürlich ein gutes Zeichen, dass im Haushaltsentwurf
beim Etat des Ministeriums für wirtschaftliche Zusam-
menarbeit und Entwicklung ein deutliches Plus zu ver-
zeichnen ist, auch, aber nicht nur, für die Sonderinitiative
„Fluchtursachen bekämpfen, Flüchtlinge reintegrieren“ .

Wir haben uns seit langem für die Stärkung des Ent-
wicklungsetats eingesetzt, und der Aufwuchs ist sicher
ein richtiges Signal . Aber – und das kann man auch heu-
te wieder erkennen – die meisten Entwicklungspolitiker
haben Fusseln am Mund, wenn sie immer wieder darauf
hinweisen, dass sich Deutschland international verpflich-
tet hat, 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für
die Entwicklungszusammenarbeit einzusetzen . Wir sind
von diesem Ziel weit entfernt . Wir müssen das ändern
und konsequent nachbessern .

Die Gelder der Industrienationen für Entwicklungszu-
sammenarbeit sind eine gute Investition in die Zukunft
von Millionen von Menschen .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Herr Klimke, ich kann Ihre Einschätzung nicht teilen,
dass der gute Aufwuchs, den wir jetzt haben, reichen
wird, um uns den SDGs so zu nähern, wie wir dies alle
miteinander gerne möchten .

Wir sehen jetzt, dass alle, die es irgendwie schaffen
können, vor der Situation in ihren Herkunftsländern flie-
hen, aber sie werden nicht alle nach Europa kommen

können . Entwicklungszusammenarbeit – auch das wurde
schon gesagt – ist kein Allheilmittel, um Fluchtursachen
zu beseitigen . Ich könnte auch gar nicht alle Fluchtursa-
chen ordentlich benennen, an denen wir arbeiten müss-
ten .

Die Menschen fliehen vor Bürgerkriegen, Gewalt
und Unterdrückung. Sie fliehen aufgrund fehlender Per-
spektiven, häufig hervorgerufen durch Korruption und
organisierte Kriminalität, und sie fliehen eben nicht nur
aus Afrika, sondern auch aus Europa, wie das Beispiel
Albanien zeigt. Die Menschen fliehen auch verstärkt aus
den Flüchtlingslagern in den Aufnahmeländern, vor al-
lem dann, wenn die internationale Gemeinschaft Kriegs-
flüchtlinge nicht versorgen kann, es dort keine Sicher-
heit gibt und die Kinder niemals eine Schule besuchen
können . Deswegen ist es wichtig, dass wir nicht nur die
Herkunftsstaaten, sondern auch die Aufnahmeländer un-
terstützen . Das heißt konkret, dass wir die Infrastruktur
von Flüchtlingslagern und Flüchtlingsstätten stärken
müssen, wie wir das vor kurzem, Peter Stein, in unserem
Antrag „Entwicklungspolitische Chancen der Urbanisie-
rung nutzen“ gefordert haben . Der Haushaltsaufwuchs ist
dafür eine große Chance .

Wir werden in der Entwicklungszusammenarbeit
Schwerpunkte setzen müssen . Das ist nicht so einfach,
weil es so viele Baustellen gibt und so viele Länder, die
Unterstützung brauchen . Schauen wir nach Nordafrika,
vor die Haustür Europas . Libyen ist ein Land, das im
Chaos versunken ist, mit unabsehbaren Folgen für die
Nachbarländer . Die Menschen in dieser Region brauchen
dringend Stabilitätsanker in diesem Chaos .

Tunesien gibt Hoffnung, gilt als Leuchtturm für De-
mokratie und Stabilität, ist aber massiv vom Terrorismus
bedroht . Die entwicklungspolitische Unterstützung muss
auch helfen, den Terror einzudämmen, um die Stabilität
zu fördern,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Bärbel Kofler [SPD])


zum einen, indem wir mehr wirtschaftliche, soziale und
gesellschaftliche Perspektiven für die Menschen schaf-
fen, zum anderen, indem wir die Demokratisierung wei-
terhin begleiten und unterstützen .

Das Gleiche gilt für Marokko, das nicht so sehr im Fo-
kus steht . Auch dieses Land ist stabil, braucht aber Unter-
stützung, um die Jugendarbeitslosigkeit in den Griff zu
kriegen, braucht Unterstützung bei der regionalen Ent-
wicklung und bei den Demokratisierungsprozessen . Die
jetzt geplante Verdoppelung der Mittel für die Sonderi-
nitiative „Stabilisierung und Entwicklung in Nordafrika
und Nahost“ kann durchaus ein wichtiger Beitrag dazu
sein .

Wir müssen wegkommen von der Sicht, dass Ent-
wicklungspolitik vor allen Dingen Geld kostet . Wir ha-
ben es in einigen Beiträgen gehört . Das ist immer nur die
halbe Wahrheit . Natürlich kostet das Geld, aber die Frage
ist doch – die müssen wir uns alle mit Blick auf unseren
Gesamthaushalt stellen –: Was kostet es uns, wenn wir
uns nicht den Ursachen von Flucht stellen, wenn wir Ent-
wicklungsländer nicht dabei unterstützen, auf erneuerba-

Vizepräsidentin Claudia Roth






(A) (C)



(B) (D)


re Energien zu setzen oder den Verlust der Biodiversität
zu stoppen? Und was kostet es uns, wenn wir nicht dabei
helfen, in anderen Ländern demokratische Strukturen,
Verwaltungen und einen Rechtsstaat aufzubauen, vor
allen Dingen, wenn sie diese Hilfe von uns einfordern?
Diese Fragen müssen diejenigen im Hinterkopf haben,
die das Erreichen der ODA-Quote immer noch für nach-
rangig halten .


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und Heike Hänsel [DIE LINKE])


Die Koalition hat vor ein paar Wochen im Parlament –
wir haben das gemeinsam gemacht – einen Antrag zur
Urbanisierung verabschiedet – ich habe schon darauf hin-
gewiesen –, auch weil das schnelle Anwachsen der Städ-
te und eine völlig ungeplante Urbanisierung unheimlich
viel Konfliktpotenzial bergen. Wenn, wie erwartet, im
Jahr 2050 3 Milliarden Menschen unter katastrophalen
Lebensbedingungen in einem Slum leben, dann werden
wir versagt haben . Das müssen wir uns heute deutlich
bewusst machen .


(Beifall der Abg. Dr. Bärbel Kofler [SPD] sowie der Abg . Heike Hänsel [DIE LINKE])


Es gehört deswegen zur Prävention, dass wir betroffene
Länder und Städte stärker bei der Stadtplanung unter-
stützen . Wir reden immer alle von der ländlichen Ent-
wicklung . Ja, dieses Thema ist wichtig, aber es gibt auch
andere wichtige Themen, Möglichkeiten, wie man wahn-
sinnig viele Menschen in diesen riesigen Molochen von
Städten auf einmal erreichen kann, wie man ihre Lebens-
situation verbessern kann . Das gilt auch für die Dezent-
ralisierung, den Aufbau kommunaler Selbstverwaltung,
die Energie- und Wasserversorgung und die Infrastruk-
tur – bis hin zu Urbanisierungspartnerschaften. Ich fin-
de es sehr begrüßenswert, dass wir im Haushaltsentwurf
eine Erhöhung der Mittel für die kommunale Zusammen-
arbeit und die Städtepartnerschaften vorgesehen haben .
Die Mittel sollen mehr als verdoppelt werden .

Genauso begrüßenswert finde ich das vorgesehe-
ne eigenständige Ziel mit Stadtbezug bei den globalen
Nachhaltigkeitszielen . Das müssen wir um eine New-Ur-
ban-Agenda ergänzen, die auf der Habitat-III-Konferenz
im kommenden Jahr beschlossen und umgesetzt werden
muss . Fluchtursachen und der Umgang der Städte mit
Flüchtlingen werden dabei eine wichtige Rolle spielen
müssen .

Entwicklungspolitik darf nicht nur auf Krisen reagie-
ren . Der Anspruch ist und bleibt, Krisen zu vermeiden
und die Lebensumstände von Menschen deutlich zu
verbessern . Wir müssen diese Aufgabe mit den Investi-
tionen, die ich erwähnt habe, angehen, um diese Krisen
zu vermeiden . Sie dürfen gar nicht erst entstehen . In den
letzten Wochen ist deutlich geworden, dass es dazu keine
Alternative gibt .

Vielen Dank .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1812011800

Danke, Frau Heinrich . – Nächster Redner: Volkmar

Klein für die CDU/CSU-Fraktion .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Volkmar Klein (CDU):
Rede ID: ID1812011900

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
gen! Jetzt, gegen Ende der Debatte, wird klar, dass wir
die Herausforderungen annehmen, dass Deutschland zu
seiner weltweit gewachsenen Bedeutung und Verantwor-
tung steht . Genau das hat der Minister eben bereits sehr
eindrucksvoll für uns alle unterstrichen .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es bleiben zwei klare Botschaften: Erstens . Wir küm-
mern uns um die Flüchtlinge in Lagern im Nahen Osten .
Das ist auch wichtig . Wir müssen helfen, dass die Le-
bensbedingungen dort besser werden – im Übrigen nicht
nur als Nothilfe über das Auswärtige Amt, sondern so,
dass, realistisch betrachtet, diese Menschen dort auch
einen längeren Zeitraum bleiben können . Dafür braucht
man entsprechende Investitionen . Dafür braucht man
entsprechende Infrastruktur, bis hin zu Bildung . Wenn
uns das nicht gelingt, dann werden sich die Menschen
von dort auf den Weg machen .

Die zweite Botschaft lautet: Chancen in den Heimat-
ländern für die Menschen schaffen . Das ist ein Anlie-
gen unserer Politik insgesamt und etwas, was in diesem
Haushaltsentwurf bereits ziemlich deutlich wird . Wir
müssen Chancen für die Menschen in ihrer Heimat schaf-
fen – auf dem Balkan und in Afrika . Zumindest müssen
die Menschen das Gefühl haben, dass sie in ihrer Heimat
langfristig ihren Lebensunterhalt verdienen und ein gutes
Leben führen können .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wenn wir nun dieses in dem vorgelegten Haushaltsent-
wurf mit einem Plus von 880 Millionen Euro – das ist
im Vergleich zum laufenden Haushaltsjahr eine Steige-
rung um 13,5 Prozent – unterstreichen, dann ist das gut .
Gut ist das allerdings vor allem dadurch, dass wir diese
deutliche Steigerung ohne Aufnahme von neuen Schul-
den hinbekommen . Das wiederum ist ein gutes Signal für
diese Menschen, für die Länder, die unserer Hilfe bedür-
fen; denn das macht klar: Auf der Basis dieser Solidität,
dieser Stabilität wird sich unsere Wirtschaft auch künftig
erfolgreich entwickeln . Dieser Erfolg wird uns auch in
Zukunft in die Lage versetzen, unsere internationale Ver-
antwortung wahrzunehmen .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wie genau dieser erhebliche Zuwachs um 880 Millio-
nen Euro im nächsten Jahr ausgegeben werden soll, das
werden wir in den nächsten neun Wochen diskutieren .
Die sogenannten vertraulichen Erläuterungen liegen ja
noch nicht vor . Insofern ist das, was wir bisher haben,
noch nicht ganz befriedigend, aber die richtige Diskus-

Gabriela Heinrich






(A) (C)



(B) (D)


sionsgrundlage, um Einzelheiten in den nächsten neun
Wochen zu klären .

Im Moment ist es vielleicht sogar noch ein bisschen
zu wenig . Die Kollegin Sonja Steffen hat eben gesagt:
Verteilen nach dem Gießkannenprinzip reicht nicht . Die
Begründung, die ich im Haushaltsentwurf beispielswei-
se bei Titeln wie „Technische Zusammenarbeit“ oder
„Finanzielle Zusammenarbeit“ oder auch bei den Kir-
chen und vielen anderen für Steigerungen sehe, nämlich
„mehr wegen ODA-Aufwuchs“, ist natürlich ein biss-
chen zu wenig . Das heißt ja quasi, das Geld muss raus;
wir stecken das jetzt einfach mal da rein . – Das ist keine
Begründung, sondern das muss die Folge für die Aufga-
ben sein, die wir aus diesen Titeln finanzieren wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Dabei ist es tatsächlich so, dass einige in Deutschland
weiterhin das schiere Ausgeben von Geld bereits für das
Erreichen des Erfolgs halten . Aber wir wissen inzwi-
schen, dass das nicht der Fall ist .


(Beifall bei der CDU/CSU – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Für die Linke nicht!)


Wir müssen mit den noch ausstehenden vertraulichen
Erläuterungen konkretisieren, was genau Chancen bringt
und was genau Fluchtursachen bekämpft .

Heute Morgen hat Thomas Oppermann eine weitere
Konzentration auf genau dieses Anliegen vorgeschla-
gen, nämlich eine Umschichtung hin zu diesem Titel
für die Sonderinitiative „Fluchtursachen bekämpfen,
Flüchtlinge reintegrieren“ . In der Tat wächst dieser Ti-
tel nur relativ gering auf, nämlich von 70 Millionen auf
110 Millionen Euro . Andererseits – das ist ja auch aus
der bisherigen Diskussion hervorgegangen – ist ja ei-
gentlich der gesamte Haushaltsplan des Ministeriums für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung der
Versuch, Fluchtursachen zu bekämpfen und Chancen zu
geben .


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Stefan Rebmann [SPD]: Richtig! – Dr . Bärbel Kofler [SPD]: Endlich hat er es verstanden!)


Genau das wird gebraucht . Dafür reichen einfach nur
Gesundheitsprogramme und Bildung, so wichtig dies
auch ist, nicht aus . Dadurch allein bekommt nämlich in
Afrika noch niemand einen Job, hat noch niemand eine
Perspektive zur Erarbeitung seines eigenen Lebensunter-
halts in der Zukunft . Dafür müssen wir noch mehr tun .
Es gibt auch an den Universitäten Afrikas IT-Absolven-
ten . Wir müssen darüber nachdenken, wie wir Gründer-
zentren und Businessparks für diese Absolventen schaf-
fen können . Das müssen wir uns auch für Handwerker
überlegen . Es reicht nicht, auch wenn es gut gemeint ist,
im Rahmen traditioneller Entwicklungszusammenarbeit
Handwerker auszubilden . Ein Handwerker – das wissen
wir; das ist auch in Deutschland so – muss nicht nur sein
Handwerk beherrschen, sondern er muss auch Unterneh-
mer sein, wenn er Jobs schaffen will . Wir müssen in der
Tat noch mehr deutsche Firmen dafür begeistern, in Afri-
ka Betriebe zu eröffnen .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Denn am Ende bleibt: Wer keine Perspektive auf einen
Job hat, der wird, auch wenn er noch so gut ausgebildet
ist und noch so gut gesundheitlich versorgt ist, in seinem
Land nicht bleiben können, weil er keine Arbeitsgele-
genheit hat und seinen Lebensunterhalt nicht erarbeiten
kann . Deswegen brauchen wir eine stärkere Kooperation
auch mit der Wirtschaft in diesen Ländern .


(Beifall bei der CDU/CSU)


Hilfe ist ausgesprochen wichtig . Deswegen die Mit-
telsteigerung, und deswegen sind wir so begeistert dabei,
unsere Hilfe anzubieten und gemeinschaftlich einzubrin-
gen . Wir wissen aber auch, dass in den meisten Ländern
Afrikas die Hauptgründe dafür, dass die Menschen keine
Chancen und keine Perspektiven haben, Misswirtschaft
und – ich sage es einmal ganz diplomatisch – optimierba-
re Effizienz von Regierungshandeln sind. Dazu gehören
natürlich auch – die Kollegin Hajduk hat es eben gesagt –
effiziente Steuersysteme. Auch viele andere Dinge gehö-
ren dazu . Möglicherweise kann auch eine intensivierte
Zusammenarbeit mit den Kommunen in Deutschland
helfen, Erfahrungen weiterzugeben . Das alles ist wichtig .

Vielleicht sollten wir in der Entwicklungszusammen-
arbeit ein bisschen von unseren Erfahrungen im Eu-
ro-Raum lernen . Denn auch in einigen der Programm-
länder waren Defizite bei der Regierungsführung das
Problem . Dort hat die Troika entscheidend dazu beige-
tragen, Verwaltungskompetenz zu stärken und vor allen
Dingen Bremsklötze für eine erfolgreichere Entwicklung
wegzuräumen . Genau das braucht Afrika . Troikas für Af-
rika – das wäre der richtige Spruch .


(Beifall bei der CDU/CSU – Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darüber müssen wir diskutieren, ob das so ist! – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Um Gottes willen!)


Keine Sorge, es geht nicht um eine Aufnahme in den
Euro-Raum, das ganz bestimmt nicht, aber sehr wohl um
eine klare Konditionalität, um die Ansage: Wir geben
Hilfe, aber wir erwarten eine bessere Regierungsführung .
Dies müssen wir wahrscheinlich ein bisschen robuster
angehen, als wir bisher bereit gewesen sind .


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Je besser wir das schaffen, desto mehr können wir mit
unseren Mitteln erreichen . Im Übrigen müssen wir uns
dafür ja auch gegenüber unseren Steuerzahlern verant-
worten .

Wenn wir das schaffen, kann unser jetzt vorliegen-
der Haushaltsentwurf eine wirklich hervorragende Aus-
gangslage für die weitere Diskussion in den nächsten
neun Wochen sein . Damit können wir dann genau das er-
reichen, was Minister Gerd Müller in seiner hervorragen-
den Art überall kommuniziert . Wir können das erreichen,
wenn wir es gemeinsam wollen .

Wir schaffen es auf diesem Wege, Chancen und Per-
spektiven für die Menschen zu schaffen, nicht nur auf
dem Balkan, nicht nur im Mittleren Osten, sondern auch

Volkmar Klein






(A) (C)



(B) (D)


in Afrika . Um das zu erreichen, sollten wir weniger Streit
anzetteln und gemeinsam in diese Richtung arbeiten .

Herzlichen Dank .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Noch weniger?)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1812012000

Vielen Dank, Kollege Klein . – Jetzt kommt die Krö-

nung dieser Debatte, als letzter Redner Stefan Rebmann .


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich hatte noch 30 Sekunden, aber ich gebe ihm die
Redezeit, die eigentlich vorgesehen war .


Stefan Rebmann (SPD):
Rede ID: ID1812012100

Herzlichen Dank . – Liebe Präsidentin! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Auch ich freue mich natürlich über einen ordent-
lichen Aufwuchs in unserem Entwicklungsetat . Dieser
Aufwuchs ist einer ganzen Reihe von Kolleginnen und
Kollegen zu verdanken, die in der Vergangenheit vehe-
ment dafür eingetreten sind . Die einen oder anderen ha-
ben ihr Anliegen auch durch ihr Abstimmungsverhalten
dokumentiert, was nicht immer zu Beifallsstürmen bei
den Haushältern und bei den eigenen Fraktionsspitzen
geführt hat .

Ich finde, die Richtung in diesem Etat stimmt. Es ist
aber auch klar: Unser Versprechen, 0,7 Prozent unseres
Bruttoinlandsprodukts für Entwicklung zur Verfügung
zu stellen, werden wir, anders als Schweden und Groß-
britannien, nicht erreichen . Heute Morgen hat die Bun-
deskanzlerin hier an dieser Stelle schon richtigerweise
betont, wie eng die Verzahnung zwischen Innen-, Außen-
und Entwicklungspolitik ist . Sie hat auch darauf hinge-
wiesen, welche Auswirkungen es hat, wenn wir in der
Entwicklungspolitik etwas nicht tun .

Wir Entwicklungspolitiker wissen nur zu gut, wozu
Perspektivlosigkeit, Landraub, kein ausreichender Zu-
gang zu Nahrung, kein Zugang zu sauberem Wasser, kei-
ne ordentlichen Chancen auf Bildung, kein Zugang zu ei-
nem Gesundheitssystem und dergleichen führen können .
Das alles löst Wanderungsbewegungen aus, und das alles
begünstigt auch Konflikte, was wiederum dazu führt, dass
sich Menschen schlichtweg in Sicherheit bringen wollen
und flüchten. All das und vieles mehr – Konfliktminerali-
en, Lieferketten, keine ordentlichen Arbeitsbedingungen,
Kinderarbeit, Zwangsarbeit und dergleichen, keine fairen
Handelsverträge – sind auch Fluchtursachen . Und wir
diskutieren hier darüber, dass wir uns auf die Fluchtursa-
chen konzentrieren sollten .


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)


Es ist richtig gesagt worden: Der Gesamtetat, die
gesamte Entwicklungspolitik ist in den Fokus zu neh-
men. Deshalb, finde ich, muss der Entwicklungspolitik
ein ganz anderer Stellenwert beigemessen werden . Das

drückt sich auch in einem Haushalt aus, liebe Kollegin-
nen und Kollegen .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir können in der Entwicklungspolitik, glaube ich,
vieles erreichen und vieles auf den Weg bringen . Wir
können aber nicht alle Probleme lösen . Ich habe es an
anderer Stelle schon einmal gesagt: Ich bin der Meinung,
jeden Euro, den wir in zielgerichtete Entwicklungspoli-
tik investieren, bekommen wir zeitverzögert doppelt und
dreifach zurück . Ich glaube, angesichts der Herausforde-
rungen, vor denen wir stehen, ist dieser Etat ein Schritt in
die richtige Richtung . Aber er ist nicht ausreichend . Wir
müssen ihn verstetigen . Wir müssen diesen Etat in den
nächsten Jahren deutlich nach oben heben . Dafür werbe
ich, nicht nur bei euch, liebe Kolleginnen und Kollegen,
sondern ganz besonders auch bei unseren Haushälterin-
nen und Haushältern .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ich war im vergangenen Jahr mit der Kollegin Wöhrl
in Jordanien und im Libanon . Wir haben dort mehrere
Flüchtlingscamps besucht . Ich kann mich noch sehr gut an
die Berichte der Flüchtlinge und an die aus Plastikplanen
und Säcken zusammengebauten Zelte erinnern . Unmittel-
bar neben ihnen trieben Abwässer und Fäkalien von meh-
reren Tausend Flüchtlingen vorbei; ich habe den Geruch
noch sehr präsent in der Nase . Ich kann mich auch noch
sehr gut an die junge Medizinstudentin aus meinem Wahl-
kreis Mannheim mit enormem Engagement erinnern, die
in einem Zelt eine junge Frau behandelt hat . Vor dem Zelt
gab es eine Schlange, die gar nicht abreißen wollte .

Vor wenigen Wochen war ich mit ein paar Kollegen in
Uganda . Wir haben uns dort vor Ort Forschungsprojekte
zu Aids, Tuberkulose und Malaria angeschaut . Auch dort
waren wir in sogenannten Testgemeinden . Wir haben ge-
sehen, wie die Lebensbedingungen der Menschen sind .
Ich erzähle das nicht nur, um darauf hinzuweisen, wie her-
vorragend die Arbeit der zig Tausenden ehrenamtlichen
Helferinnen und Helfer ist, wie hervorragend die NGOs
ihre Helfer einsetzen und sich engagieren – ihnen sind wir
zu Dank verpflichtet –, sondern ich sage das auch, weil
ich der Meinung bin, dass wir viel mehr tun müssen . Wir
müssen solche Projekte und Forschungseinrichtungen viel
mehr unterstützen, als wir es bisher tun . Auch dies – diese
Bedingungen – führt nämlich dazu, dass sich Menschen
auf den Weg begeben und eine bessere Zukunft suchen .

Ich sage noch einmal: Ich glaube, wir haben mit die-
sem Etat noch nicht das erreicht, was wir eigentlich dar-
stellen müssten .

In der letzten Haushaltsdebatte habe ich auf unsere
Fehler und Versäumnisse bei der Ebolaepidemie hinge-
wiesen . Heute wissen wir: Über 11 300 Menschen sind
gestorben . Und wir wissen: Wir hätten es verhindern
können . Seit 2005 war ein Wirkstoff bekannt, der aber
nie getestet wurde . Warum? Weil das Geld dafür fehlte .

Dieses Problem haben wir nicht nur bei Ebola, son-
dern auch bei Malaria, Tuberkulose und anderen armut-
sassoziierten Krankheiten . Auch Polio – das haben wir

Volkmar Klein






(A) (C)



(B) (D)


heute auch schon gehört – beginnt wieder auszubrechen,
weil die Schluckimpfungen ausbleiben .

Um es deutlich zu sagen: Das Geld, das wir hier in-
vestieren, rettet Menschenleben, und das Geld, das wir
nicht investieren, nimmt Menschenleben. Ich finde, des-
sen müssen wir uns bewusst sein .

Ich muss schon sagen: Ich war etwas verwundert und
verärgert, dass die Mittel für den Globalen Fonds zur
Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria nicht
erhöht wurden . Es ist nicht nur so, dass die Mittel im
letzten Haushalt zunächst von 245 Millionen Euro auf
200 Millionen Euro gekürzt werden sollten . Vielmehr
sind auch die 220 Millionen Euro, auf die man sich auf-
grund eines Kompromisses geeinigt hat, letzten Endes
auf 210 Millionen Euro zusammengestrichen worden .
Gleichzeitig ist im Etat plötzlich ein Posten für irgend-
eine Wirtschaftssache aufgetaucht, die mit keinem der
Entwicklungspolitiker verabredet war .


(Dr. Bärbel Kofler [SPD]: So ist es!)


Ich appelliere wirklich an die Haushaltspolitiker, beim
Globalen Fonds und bei Gesundheit noch einmal genau
hinzuschauen – auch mit dem Blick auf die Fluchtursa-
chen –, damit wir hier noch einmal entsprechend nachle-
gen können .


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das können wir auch, und wir können auch ganz genau
beweisen – die Zahlen belegen das –, wie gut der Glo-
bale Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und
Malaria arbeitet . Deshalb bitte ich, darüber noch einmal
nachzudenken .

Frau Präsidentin, ich komme gelegentlich zum Ende .


(Heiterkeit – Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Den Satz merke ich mir!)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1812012200

Nein, „gelegentlich“ wirklich nicht . Bitte komme zum

Ende .


Stefan Rebmann (SPD):
Rede ID: ID1812012300

Ja . – Es wird nicht ausreichen, nur die Krankheiten

zu bekämpfen . Wir brauchen auch gute Arbeit, einen Zu-
gang zum Bildungssystem und dergleichen .

Wir in Deutschland und in Europa machen den Wasser-
hahn auf und bekommen sauberes Wasser . Wir haben Strom,
eine Heizung und Medizin, wann immer wir dies brauchen .
Wir haben einen vollen Bauch, wie man an mir ganz gut
sehen kann . Es ist die absolute Ausnahme, wie wir leben .
73 Prozent der Menschheit haben diese Privilegien nicht .

Seien wir dankbar, dass wir so privilegiert leben dür-
fen . Wundern wir uns nicht, dass die anderen 73 Prozent
der Menschheit auch so leben wollen und sich auf den
Weg zu uns machen . Tun wir alles dafür, dass die Men-
schen in ihren Ländern, ihrer Heimat, eine Zukunft und
die Chance haben, auch so zu leben .

Herzlichen Dank . – Und herzlichen Dank, Frau Präsi-
dentin, für Ihre Geduld .


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1812012400

Vielen Dank, lieber Kollege Stefan Rebmann . – Wei-

tere Wortmeldungen zu diesem Einzelplan liegen nicht
vor .

Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tagesord-
nung angekommen .

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf morgen, Donnerstag, den 10 . September 2015,
9 Uhr, ein .

Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend, der sich für
Sie alle gut entwickelt .

Damit ist die Sitzung geschlossen .