Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz . Die Sitzung ist eröffnet . Gu-
ten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir setzen die Haushaltsberatungen – Tagesordnungs-
punkt 1 – fort:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das
Haushaltsjahr 2016
Drucksache 18/5500
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Finanzplan des Bundes 2015 bis 2019
Drucksache 18/5501
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
Für die heutige Aussprache haben wir gestern eine Re-
dezeit von insgesamt achteinhalb Stunden beschlossen .
Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich der Bun-
deskanzlerin und des Bundeskanzleramtes, Einzel-
plan 04.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke .
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen undHerren! Zunächst muss ich Ihnen natürlich eine falscheHoffnung nehmen: Es ist nicht meine letzte Rede alsFraktionsvorsitzender im Bundestag . Sie müssen michschon noch einmal ertragen .
Das wollte ich Ihnen nur vorher schon sagen, damit Sienicht falsch strahlen .
Aber kommen wir einmal zu der Frage, wie die Weltheute aussieht . Ich glaube, die Situation ist sehr ernst . Wirstehen vor gewaltigen Problemen . Kriege und kriegsähn-liche Auseinandersetzungen finden in Syrien, im Jemen,im Irak, in der Türkei, in der Ukraine und in anderen Län-dern statt . Kriege töten, vernichten und zerstören, und dieMenschen fliehen, um nicht getötet, nicht vernichtet zuwerden .Wie sehen die Staaten aus, in denen auch der WestenKrieg geführt hat? Afghanistan – eine einzige Katastro-phe: Armut, undemokratische Verhältnisse, terroristischeSelbstmordanschläge und zunehmend Flüchtlinge . Alleanderen Fraktionen waren für den Krieg in Afghanistan,nur die Linke war dagegen und hat vor den Folgen ge-warnt .
Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen: Wirhatten recht .
Glücklicherweise hat sich Deutschland nicht unmit-telbar an den Kriegen gegen den Irak und gegen Libyenbeteiligt, aber die USA, Großbritannien, Frankreich undandere Länder . Hussein war schlimm und ist weg . Aberist die Situation jetzt besser? Gaddafi war schlimm undist weg . Aber ist die Situation jetzt besser? Krieg mussüberwunden werden, wenn man ernsthaft will, dass Men-schen diesbezüglich nicht gezwungen werden, zu fliehen.
Deutschland ist aber der drittgrößte Waffenexporteurder Welt und verdient an jedem Krieg . Waffen werdenauch an Diktaturen wie Saudi-Arabien und Katar ver-kauft . Saudi-Arabien führt einen Krieg gegen Jemen,
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bezieht dennoch Waffen aus Deutschland . Diese unheil-volle Politik muss überwunden werden . Verhindern Siedoch wenigstens Waffenverkäufe an Diktaturen und inKrisengebiete .
Das ist doch nur ein Minimum . Wenigstens die Sozialde-mokratische Partei Deutschlands müsste darauf bestehen .Wir erleben darüber hinaus eine Entstaatlichung vonStaaten . Wir haben zunehmend Länder, in denen Re-gierung, Polizei, Justiz, Bildung und Gesundheitswesennicht funktionieren . Oft ist es die Folge der vom Westengeführten Kriege . Wenn es keine funktionierenden Re-gierungen gibt, gibt es auch keine Verhandlungspartner,die etwas durchsetzen können . Die Bürgerinnen undBürger können so nicht geschützt werden . Entstaatlich-te Staaten sind Syrien, Libyen, Irak, Jemen, Somalia . Inden ersten vier Ländern sind inzwischen 9 000 Schulengeschlossen worden. Lehrerinnen und Lehrer fliehen,und auch die Eltern mit ihren Kindern fliehen, weil die-se ohne Schulbildung in ihrem Leben chancenlos wären .Was tut die Bundesregierung dagegen? Ich bin gespanntauf Ihre Antwort, Frau Bundeskanzlerin . Und warum er-fahren wir eigentlich in den Medien so wenig über diemörderischen Auseinandersetzungen in diesen Ländern?Ich finde, dass Information wichtig ist.Ich wiederhole mich: Jährlich sterben auf der Erdeetwa 70 Millionen Menschen. Die häufigste Todesursa-che ist der Hunger . Jährlich sterben etwa 18 MillionenMenschen auf der Erde an Hunger . Wir haben aber welt-weit eine Landwirtschaft, die die Menschheit zweimalernähren könnte . Menschen, die Angst haben, zu verhun-gern, fliehen. Was tut die Bundesregierung dagegen, dassder Profit von Konzernen Vorrang vor dem Überlebenvon Menschen hat? Auch darauf, Frau Bundeskanzlerin,müssten Sie eine Antwort geben .Not, Elend, also Armut, nehmen weltweit ebenso zu,wie der Reichtum anwächst . Nur ganz wenige Zahlen:Seit 2008 hat sich die Zahl der Milliardäre auf der Erdeverdoppelt . Die reichsten 80 Personen auf der Erde besit-zen genauso viel wie die ärmere Hälfte der Menschheit,das heißt wie 3,5 Milliarden Menschen . 80 Menschenbesitzen genauso viel wie 3,5 Milliarden Menschen! Vorfünf Jahren waren es noch 388 Personen . Interessant ist:Aus 388 Personen werden nicht 400, 500 und dann 600,sondern daraus werden 80, weil der Reichtum sich ganzanders konzentriert . Eine Milliarde Menschen haben einEinkommen von einem Dollar pro Tag . Armut, bittereArmut führt ebenso zur Flucht .Dagegen unternimmt die Bundesregierung nichts .Denn auf wesentlich höherem Niveau passiert in Euro-pa und Deutschland das Gleiche . Die OECD stellte jetztfest, dass die Kluft zwischen Arm und Reich in Deutsch-land sich deutlich vergrößert hat, übrigens immer mit ei-ner SPD in der Regierung; ich kann es doch nicht ändern .
– Sie müssen es sich einfach anhören . – Die reichstenzehn Prozent der Bevölkerung verdienten Mitte der80er-Jahre fünfmal so viel wie die ärmsten zehn Prozentunserer Bevölkerung . Inzwischen verdienen sie sieben-mal so viel .Ein Prozent der Bevölkerung in Deutschland besitzt32 Prozent des gesamten Vermögens, und die finanziellschwächere Hälfte der Haushalte, also 50 Prozent unse-rer Haushalte, besitzt ein Prozent des Vermögens . 50 Pro-zent besitzen ein Prozent des Vermögens! Das Interes-sante ist: 1998 besaß diese Hälfte noch vier Prozent desVermögens . Aus vier Prozent werden nicht fünf Prozentund dann sechs Prozent und sieben Prozent, sondern ausvier Prozent wird ein Prozent . Das ist eine Katastrophe .Damit machen Sie die Gesellschaft kaputt .
Ein Staat, der selbst so ungerecht verteilt, kann sich auchnicht weltweit wirksam gegen Armut einsetzen und orga-nisiert mithin schon wieder Flüchtlinge .Nachgewiesen wird von der OECD übrigens auch,wie schädlich für die Binnenwirtschaft die Schwächungder Kaufkraft eines großen Teils unserer Bevölkerung ist .Der Generalsekretär der OECD sagte – ich zitiere wört-lich –:Der Kampf gegen Ungleichheit muss in das Zent-rum der politischen Debatte rücken .Die Linke wird genau das versuchen .
Weltweit muss auch ein entschiedener Kampf gegenRassismus geführt werden . Sinti und Roma sind zumBeispiel die in vielen europäischen Ländern erheblichbenachteiligten Teile der Bevölkerung. Sie fliehen inder Hoffnung, endlich irgendwo hinzukommen, wo siegleichberechtigt behandelt werden . Gerade in diesen vieldiskutierten westlichen Balkanländern findet eine men-schenrechtsverletzende und menschenrechtsverachtendePolitik gegenüber Sinti und Roma statt . Außerdem ist diePolitik von Orban in Ungarn schlicht indiskutabel . Dage-gen muss ganz entschieden Stellung genommen werden .
Wenn die Bundesregierung nicht ernsthaft beginnt, dieFluchtursachen wirksam zu bekämpfen, die Weltproble-me ernsthaft anzugehen, werden sie täglich verschärfterzu uns kommen, bis sie unbeherrschbar sind . Natürlich,Frau Bundeskanzlerin, können Sie das nicht allein . Daserwartet auch niemand . Aber was bereden Sie eigentlichauf den G-7-, G-8- oder G-20-Gipfeln? Warum drängenSie nicht darauf, wirksam gegen Krieg, Hunger, Not,Elend, Armut und Rassismus vorzugehen? Das wäredoch wohl das Mindeste .
Nun erwarten wir in diesem Jahr 800 000 Flüchtlin-ge in Deutschland, die eigentlich kein Problem, sonderneine Chance sind .
Ich begrüße es ausdrücklich, Frau Bundeskanzlerin, dassSie für die Flüchtlinge in Ungarn hier die Türen geöffnethaben . Aber ich sage: Auch die Zustände in Ungarn müs-Dr. Gregor Gysi
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sen ganz deutlich verbessert werden . Dazu komme ichnoch . Also: Es ist eigentlich fantastisch, dass viele Tau-sende Menschen zu uns kommen, aber es ist noch fantas-tischer, wie viele Tausende Menschen, die ehrenamtlichaktiv sind, sie begrüßen und sie unterstützen . Ich glaube,das hätte es so vor zehn Jahren noch nicht gegeben . Dasist eine sehr gute Entwicklung .
Aber man darf das auch nicht überziehen . Auch ehren-amtliche Helfer sind irgendwann müde, sind irgendwannabgespannt . Das heißt, der Bund muss eingreifen und vorallen Dingen die strukturellen Probleme lösen .Auf der anderen Seite haben wir einen rechtsextremenMob, der rassistisch hetzt, hasst und Flüchtlingsunter-künfte in Brand setzt . Ich sage Ihnen: Dagegen müssenwir geschlossen auftreten, egal wie groß ansonsten unse-re Meinungsunterschiede sind .
Aber es gibt auch Menschen, die Ängste damit verbin-den, die glauben, dass es ihnen besser ginge, wenn es we-niger Flüchtlinge gäbe . Ich habe sie gefragt, ob es ihnenbesser ging, bevor die Flüchtlinge kamen . Das musstensie verneinen . Es ist überhaupt kein logisches Argument,aber wir sind trotzdem verpflichtet, diese abstraktenÄngste abzubauen. Und wir sind verpflichtet, mehr so-ziale Gerechtigkeit herzustellen . Ich sage Ihnen: WennVerhältnisse so sozial ungerecht sind, dann nutzt das derRechtsextremismus aus, um Leute für sich zu gewinnenmit schlichten rassistischen und anderen Losungen . Alsokämpfen wir nicht nur aus materiellen Gründen, sondernauch aus wichtigen ideellen Gründen für deutlich mehrsoziale Gerechtigkeit in Deutschland .
Im Übrigen: Der ärmere Teil der Bevölkerung ist derTeil, der immer seltener zur Wahl geht . Das ist demo-kratiegefährdend . Wir müssen also auch mehr sozialeGerechtigkeit gestalten, damit diese Menschen wiederdie Demokratie begrüßen und sich an Wahlen beteiligen .
Die Flüchtlinge sind schon deshalb eine Chance, weiluns immer mehr Arbeitskräfte fehlen . Der Arbeitgeber-präsident begrüßt deshalb den Zustrom an Flüchtlingen .Jedes Jahr sterben bekanntlich mehr Deutsche als gebo-ren werden . Da es ja handwerklich nicht verlernt wor-den ist, müssen wir uns doch einmal Gedanken darübermachen, woran das liegt . Ich sage Ihnen: Das liegt dar-an, dass wir keine kinderfreundliche Gesellschaft sind .Es liegt daran, dass wir ein Bildungssystem aus dem19 . Jahrhundert haben, dass es keinen chancengleichenZugang zu Bildung, Kunst und Kultur bei Kindern gibt .Von einem solchen Zugang kann nicht einmal im Ansatzdie Rede sein .Die umfassende prekäre Beschäftigung dank Agenda2010 verhindert, dass die Menschen verantwortungs-bewusst Kinder in die Welt setzen können . Massenhaftkriegen junge Leute nur befristete Arbeitsverträge voneinigen Monaten . Sie wissen nicht einmal, was aus ihnenwird, geschweige denn, was aus ihren Kindern werdensoll . All das sind die Ursachen dafür .Aber selbst wenn wir – das muss ich so deutlich sa-gen – Flüchtlinge wirtschaftlich nicht brauchten, sind wirverpflichtet, sie anständig zu behandeln, sie anständigunterzubringen und sie zu integrieren .
Deshalb ist es gut, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie imkommenden Jahr sechs Milliarden Euro im Bundeshaus-halt dafür einsetzen wollen . Das ist ein Schritt in die rich-tige Richtung . Aber das Geld genügt nicht, und vor allemist das keine strukturelle Lösung . Deshalb sage ich Ihnennoch einmal: Wir müssten den Solidaritätszuschlag nichtabschaffen, sondern beibehalten und das Aufkommen da-raus gerecht unter den 16 Bundesländern verteilen, damitdiese die Aufgaben bei der Unterbringung und bei derIntegration der Flüchtlinge meistern können .
Das Asylverfahren ist übrigens Bundesrecht . Insofernmüssen die Kosten meines Erachtens auch vom Bundgetragen werden, aber nicht von den Ländern und Kom-munen .Es ist richtig, dass Sie mehr Deutschkurse anbieten .Ihre Überlegungen, Flüchtlinge schneller loszuwerden,gehen aber eindeutig in die falsche Richtung .
Sie erweitern die Zahl sicherer Herkunftsländer, umschneller abschieben zu können . So soll nun der Koso-vo ein sicheres Herkunftsland sein, wenn ich Sie richtigverstanden habe . Sie begründen uns doch immer die Not-wendigkeit der Bundeswehr im Kosovo damit, dass esdort so unsicher ist . Was stimmt denn nun? Braucht mandort die Bundeswehr, oder ist das ein sicheres Land? Siemüssen auch einmal Logik in Ihre Politik bringen .
Übrigens: Der Vorschlag, Bargeld für Flüchtlingeabzuschaffen und durch Gutscheine zu ersetzen, wider-spricht einer Entscheidung des Bundesverfassungsge-richts . Gehen Sie doch keinen grundgesetzwidrigen Weg .Er ist immer falsch .
Flüchtlinge sollen nach drei Monaten AufenthaltLeiharbeit verrichten dürfen . Sie wollen also einen neuenSektor für Niedriglohn eröffnen . Auch das ist indiskuta-bel. Darunter sind übrigens oft viele qualifizierte Kräfte.Mir wird immer gesagt, dass man nicht weiß, ob die Qua-lifikation stimmt. Mein Gott, wir haben doch immer eineProbezeit . Da weiß beispielsweise ein Arzt sofort, ob dieQualifikation stimmt oder nicht stimmt. Hier müssen wireinmal etwas lockerer, etwas unbürokratischer werdenund dafür sorgen, dass die Menschen so schnell wie mög-lich Beschäftigung finden.
Dr. Gregor Gysi
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Sechs osteuropäische Länder erklärten, niemals mitFlüchtlingsquoten einverstanden zu sein: Tschechien, dieSlowakei, Polen, Ungarn, Litauen und Lettland . Nun binich auch gegen Quoten, weil es sich nämlich um Men-schen handelt und nicht um Sachen; die kann man nichteinfach verteilen .
Aber eine gerechte Kostenverteilung innerhalb derEuropäischen Union halte ich für zwingend erforderlich .Wenn dann Länder, die kaum Flüchtlinge aufnehmen,nicht bereit sind, ihren Kostenanteil zu zahlen, müssenihnen die Zuschüsse von der EU entsprechend gekürztwerden . Da muss man jetzt einmal mehr Mumm zeigen,Frau Bundeskanzlerin .
Übrigens erklärt die polnische Regierung, dass Polenfür muslimisch gläubige Flüchtlinge ungeeignet sei . Nunist dieses Land bekanntlich schwer katholisch geprägt .Es kann doch nicht wahr sein, dass ich denen jetzt schonwieder die Bergpredigt von Jesus Christus erklären muss .
Wenn diese Mitglieder der polnischen Regierung zurBeichte gehen, müssen sie so viele Rosenkränze beten,dass sie gar nicht mehr aus der Kirche herauskommen .Ich kann nur sagen: Führen Sie mit denen mal eine schar-fe und deutliche Auseinandersetzung .
Ungarn . Orban schafft Schritt für Schritt die Demo-kratie ab und strebt eindeutig autoritäre Strukturen an .Das verkündet er sogar . Die USA haben bereits Sankti-onen ausgesprochen . Und was macht unsere Bundesre-gierung? Sie mault etwas vor sich hin . Das reicht nicht .Hier müssen wirklich Maßnahmen ergriffen werden,aber nicht nur von der Bundesregierung, sondern auchvon der EU .
Und noch etwas, das interessiert mich, Frau Dr .Merkel, Herr Kauder und Frau Hasselfeldt . Orbans Par-tei ist Mitglied der konservativen Fraktion im Europäi-schen Parlament . Das heißt, die Abgeordneten der CDUund der CSU sitzen gemeinsam in einer Fraktion mit denMitgliedern von Orbans Partei . Meinen Sie nicht, es isthöchste Zeit, diese Partei aus Ihrer europäischen Fraktionrauszuschmeißen, und zwar achtkantig?
Insgesamt sieht man die unzureichenden Strukturender EU . Nichts Wirksames geschieht gegen Orbans un-erträgliche Politik .Russland . Russland ist eine Weltmacht, und nicht, wieObama meinte, eine Regionalmacht . Russland ist eineVetomacht . Russland ist das militärisch stärkste Land inEuropa . Obama verlangte Wirtschaftssanktionen durchdie EU, auch durch die Bundesrepublik . Wie immer sindSie den Forderungen der US-Administration artig gefolgtund haben alles gemacht, was sie wollte . Wir haben da-durch deutliche Wirtschaftseinbußen . Ich kenne mittel-ständische Unternehmen, die an Russland geliefert habenund jetzt nicht wissen, wie sie die Insolvenz verhindernsollen .Nun lese ich, dass nach russischen Angaben der Handelzwischen den USA und Russland um sechs bis elf Pro-zent zugenommen hat . Ich meine, es wäre doch eine sa-genhafte Frechheit, von uns Sanktionen zu verlangen undselbst den Handel zu steigern . Deshalb sage ich Ihnen:Hören Sie endlich damit auf! Sie müssen eine eigenstän-dige Interessenpolitik machen . Es gibt keinen Frieden inEuropa ohne oder gegen Russland . Das müssen wir be-achten .
Noch etwas: Jetzt höre ich plötzlich, dass RusslandWaffen und Truppen um Syrien zusammenzieht . Dannlese ich, das sei alles mit den USA abgestimmt . Dannlese ich wiederum, dass die US-Regierung die russischeRegierung warnt . Jetzt frage ich mich: Ist die Warnungauch abgestimmt, indem man sagt: „Macht das mal, aberwir müssen so tun, als ob wir dagegen sind“? Ich hoffe,Frau Bundeskanzlerin, Sie können uns einmal aufklärenund sagen, wie es da wirklich aussieht . Es wird Zeit, dassunsere Bevölkerung diesbezüglich informiert wird .
Noch etwas: Ich verstehe sehr gut, dass man Assadnicht mag; das kann ich alles nachvollziehen . Er verletztMenschenrechte in vielfacher Hinsicht . Aber man wirdeinen Frieden ohne Assad doch wirklich nicht finden. Istdie Friedensfrage nicht wichtiger als die Frage, wen manaus Menschenrechtsgründen ablehnt oder nicht ablehnt?
Letztlich müssen wir begreifen und danach handeln:Frieden und Sicherheit brauchen wir überall auf der Erde .Deutschland darf nicht der drittgrößte Waffenexporteurder Welt sein .
Türkei . Es gab einen Friedensprozess zwischen derRegierung der Türkei und den Kurdinnen und Kurden .Dann hat sich die Regierung entschieden, gegen die PKKKrieg zu führen . Jetzt sagt Erdogan, es gibt für ihn nurnoch eine militärische Lösung . Er marschiert sogar inden Irak ein . Aber gerade die syrischen und irakischenKurdinnen und Kurden, wenn ich darauf einmal hinwei-sen darf, führen den einzig wirklich wirksamen Kampfam Boden gegen den „Islamischen Staat“ . Die werdenjetzt aber bekriegt, und zwar von einem NATO-Partner .Und was machen Sie dagegen? Nichts . Geben Sie docheinmal dieses Schweigen auf und suchen Sie die wirk-liche Auseinandersetzung mit Erdogan, weil das nichtmehr hinnehmbar ist!
Dr. Gregor Gysi
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Griechenland . Herr Schäuble, vielleicht haben Sie IhrZiel erreicht, und die linke Regierung ist gestürzt . Wirwarten das Ergebnis der Wahlen ab .
Aber eines hat die linke Regierung von Griechenlanderreicht: eine Diskussion in ganz Europa über den Euround über die EU-Strukturen, wie wir sie noch nie hatten .Jetzt stellt sich die Frage, ob die EU weiter in RichtungDemokratie- und Sozialabbau oder endlich umgekehrt inRichtung mehr Demokratie und mehr soziale Gerechtig-keit gestaltet wird . Wir brauchen die EU für den Friedenin Europa, aber eben auch für mehr Demokratie und so-ziale Gerechtigkeit .
Ich sage Ihnen, Herr Schäuble, Sie haben leider mitIhrer Politik erreicht – Sie natürlich auch, Frau Bundes-kanzlerin –, dass der Rechtspopulismus und der Rechts-extremismus, die zu den alten Nationalstaaten zurück-wollen, in den europäischen Ländern Erfolge zeigen .Schon das müsste Sie wachrütteln und die Politik gänz-lich ändern .
TTIP . Wir haben immer die mangelnde Transparenzbei dem sogenannten Freihandelsabkommen, das da zwi-schen den USA und der Europäischen Union verhandeltwird, kritisiert . Es hat sich ein kleines bisschen verbes-sert, aber nicht viel . Jetzt nenne ich Ihnen drei Probleme:Erstens . Wir kennen ein Vorsorgeprinzip, das in denUSA unbekannt ist . Die kennen ein Nachsorgeprinzip .Das heißt, wenn man in Deutschland ein neues Lebens-mittel auf den Markt bringen will, muss man beweisen,dass das nicht schädlich ist .
Dass wir da manchmal falsche Beweise kriegen, ist eineandere Frage . Man muss es aber beweisen . In den USAist es genau umgekehrt . Da kann man jedes Lebensmittelauf den Markt bringen . Wenn man dann aber Schadenanrichtet, wird man irgendwann zu ein paar MilliardenSchadenersatz verurteilt . Das ist eine völlig umgekehrteHerangehensweise .
Die mittelständischen Unternehmen sagen mir, sie liegendamit zwei bis drei Jahre zurück und haben dadurch ei-nen ganz großen Nachteil . Das sollte Sie doch eigentlichinteressieren .
Zweitens . Die Schiedsgerichte sind abenteuerlich . Siemüssen sich einmal Folgendes überlegen: Da kommt einkanadischer oder amerikanischer Konzern, klagt vor ei-nem Schiedsgericht und bekommt dann 200 MilliardenEuro Schadenersatz durch die Bundesregierung zugebil-ligt, und man kann nichts mehr machen . Es gibt kein wei-teres Gericht, weder ein deutsches noch ein europäisches .Die eigenen Unternehmen müssen bis zum EuropäischenGerichtshof oder bis zum Bundesverfassungsgericht ge-hen, um irgendetwas durchzusetzen . Das ist wiederumeine schwere Benachteiligung .
Ich weiß, dass die Wirtschaft für ein Freihandelsab-kommen ist . Wir sagen dazu Nein . Ich weiß auch, welcheKritik Sie daran üben, und die sollten Sie ernst nehmen .Drittens .
Das für uns entscheidende Kriterium ist das Verbot vonInvestitionshemmnissen . Ich bitte Sie: Wissen Sie, wasdas heißt? Das heißt Folgendes: Ein amerikanischer Kon-zern gründet zu irgendeinem Zeitpunkt, als es eine be-stimmte rechtliche Situation gab, seinen Sitz in Deutsch-land . Danach gibt es Neuwahlen in der BundesrepublikDeutschland, und – sagen wir einmal – es entsteht einevernünftige Regierung, also aus oder mit Linken; nur ein-mal angenommen .
– Ja, man darf doch träumen, das ist doch nicht ver-boten . – Passen Sie auf: Jetzt erlaubt diese Regierungsich, die Mitbestimmung in Unternehmen zu erweitern,vielleicht sogar ein kleines bisschen die Steuern für dieKonzerne zu erhöhen . Und dann sagen die: Das verstößtgegen das Verbot von Investitionshemmnissen . – WennSie das unterschreiben, dann sagen Sie, dass eine Poli-tik in einer bestimmten Richtung verboten ist und dassdie Verhältnisse nur noch reaktionärer werden dürfen .Da kann doch die Sozialdemokratische Partei Deutsch-lands in Anbetracht ihrer Geschichte eigentlich niemalszustimmen; aber Sie organisieren das Ganze noch .
Ich komme zur prekären Beschäftigung . Wir haben inDeutschland nach wie vor den größten Niedriglohnsektorin Europa . Wir hatten einmal – vor 20 Jahren – 26 Milli-onen Menschen in Vollzeitbeschäftigung, jetzt nur noch22 Millionen . Der Anteil der prekären Beschäftigung,das heißt erzwungenen Teilzeit, Befristung, Leiharbeitund geringfügigen Beschäftigung, ist um 70 Prozent ge-stiegen und beträgt jetzt 21 Prozent aller Beschäftigungs-verhältnisse . Ich sage Ihnen ganz klar: Leiharbeit ist fürmich eine moderne Form der Sklaverei und muss verbo-ten werden .
Aber wenn Sie schon Ausnahmen machen, dann müs-sen Sie wenigsten dafür sorgen, dass eine Leiharbeiterinoder ein Leiharbeiter ab der ersten Stunde der Beschäf-tigung Anspruch auf 110 Prozent des Lohnes hat, denein anderer Beschäftigter in dem Unternehmen für diegleiche Tätigkeit bezieht, damit diese Leiharbeit endlichDr. Gregor Gysi
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zur Ausnahme wird und nicht zu einem Nötigungsmittel,um der eigenen Belegschaft das Weihnachtsgeld, das Ur-laubsgeld und vieles andere zu entziehen .
Befristung darf es nur noch mit Sachgrund geben undnicht – wie heute – willkürlich .
Auch die erzwungene Teilzeit müssen wir loswerden .Wenn es Teilzeit schon gibt, dann muss sie freiwilligsein, aber mit dem Recht auf Rückkehr zur Vollbeschäf-tigung . Übrigens, die Frauen trifft es besonders hart .Die Vollzeitbeschäftigungsquote bei Frauen sank von55 Prozent auf 40 Prozent, und die Zahl der Teilzeitjobsfür Frauen nahm zu von 3,8 auf 6,3 Millionen . Ich sageIhnen: Armut ist immer weiblich . Deshalb war der Streikder Erzieherinnen und Erzieher und der Sozialarbeite-rinnen und Sozialarbeiter so wichtig, um wenigstens zuerreichen, dass diese klassischen Frauenberufe endlichnicht mehr so grottenschlecht bezahlt werden, wie dasgegenwärtig der Fall ist . Wir brauchen gleichen Lohn fürgleichwertige Arbeit .
Übrigens, Frau Nahles, wann setzen Sie Ihre – ausunserer Sicht völlig unzureichenden – Gesetze zur Be-grenzung von Leiharbeit und gegen den Missbrauch vonWerkverträgen endlich um? Das wird Zeit, das kann mandoch nicht bloß beschließen .
Also, ich sage Ihnen ganz klar: Wir werden einen ent-schiedenen Kampf gegen die prekäre Beschäftigung undden Niedriglohnsektor in Deutschland führen .Ich komme zum Schluss und sage Ihnen Folgendes:
– Ich will Ihnen zwischendurch auch mal eine kleineFreude machen . -
Wenn wir jetzt über die Halbzeit der Großen Koalitionreden, dann darf ich doch drei Dinge bewerten:Erstens . Immer wieder wird behauptet, dass Sie, FrauDr . Merkel, die CDU sozialdemokratisiert haben . Wel-ches Bild muss inzwischen eigentlich von der Sozialde-mokratie herrschen, wenn Ihre Politik als sozialdemokra-tisch gilt?
Aber ich frage mich, welche Projekte Sie eigentlich in dennächsten zwei Jahren anfangen wollen . Leider glaube ichnicht, dass Sie wirksam die Fluchtursachen bekämpfen,die Rüstungsexporte wesentlich und deutlich beschrän-ken, einen Kampf führen gegen den Niedriglohnsektor,gegen die prekäre Beschäftigung und gegen die Altersar-mut und endlich eintreten für Chancengleichheit, insbe-sondere für Kinder beim Zugang zu Bildung, Kunst undKultur . Dazu gehört übrigens auch ein deutlich billigereröffentlicher Nahverkehr . Aber was haben Sie stattdessenvor? Erzählen Sie es uns .Zweitens . Die CSU ist ein besonders trauriger Fall .
– Ja, Frau Hasselfeldt, ich muss es Ihnen sagen . Sie hat-ten aus Ihrer Sicht zwei tolle, aus meiner Sicht zwei ganzbesonders blöde Projekte . Das war einmal das Betreu-ungsgeld, mit dem Sie Eltern dafür bezahlten, dass siedas Lernen ihrer Kinder in Kindertagesstätten unterbin-den .
Wir haben Ihnen gesagt, dass es grundgesetzwidrig ist .Sie haben es uns nicht geglaubt . Inzwischen hat es dasBundesverfassungsgericht eindeutig festgestellt .
Und dann die Maut! Liebe CSU, ich habe Ihnen ge-sagt, mit Tricks kann man Europarecht nicht umgehen .Sie wollten es mir nicht glauben und mussten nun allesstoppen, nachdem in der EU ein Verfahren gegen unserLand eingeleitet wurde . Ich werde Sie nicht inhaltlichüberzeugen können .
Aber glauben Sie mir: Wenn Sie diesbezüglich nicht übersolche Mitglieder verfügen, müssen Sie sich wenigstensBeraterinnen und Berater suchen, die sich im Europa-recht und im Grundgesetz auskennen . Glauben Sie mirdas!
Drittens: die SPD . Die SPD sitzt, auch wenn sie esgelegentlich vergisst, ebenfalls in der Bundesregierung .Viel zu spüren ist das allerdings nicht .
Sie stehen vor einer spannenden Frage: Wollen Sie einAnhängsel der Union bleiben oder doch zu einem Ge-genüber werden?
Die Depressionen bei Ihnen gehen ja schon so weit, dassin Ihren Reihen, lieber Herr Gabriel, diskutiert wird, obman überhaupt noch eine eigene Kanzlerkandidatin odereinen eigenen Kanzlerkandidaten aufstellen sollte . MeinGott! Wann kehrt in die Sozialdemokratie endlich malDr. Gregor Gysi
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wieder Leidenschaft, Kampfgeist, und zwar für Friedenund soziale Gerechtigkeit, zurück?
Mein letzter Satz: Viel Hoffnung für die Bevölkerungentsteht durch die – übrigens wegen der großen Mehr-heit – demokratiegefährdende Große Koalition für dienächsten beiden Jahre nicht, aber wer weiß, was 2017passiert!
Das Wort erhält nun die Bundeskanzlerin .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren! Unsere Wirtschaftist stark, unser Arbeitsmarkt robust . In vielen Branchenwerden Fachkräfte sogar regelrecht gesucht . Das heißt,man kann sagen, Deutschland ist in diesen Monaten inguter Verfassung .
Ein entscheidender Grund – bei Weitem nicht der ein-zige –, warum Deutschland stark ist, liegt in der solidenFinanz- und Haushaltspolitik dieser Bundesregierung .
Wir sind den Weg der wachstumsorientierten Konsoli-dierung gegangen, und er hat sich bewährt . Das gibt unsden nötigen Rückhalt und macht uns voll handlungsfä-hig . Wir haben im vergangenen Jahr mit dem Haushaltfür 2015 einen historischen Wendepunkt erreicht: keineneuen Schulden . Und das gilt auch weiter für die mittel-fristige Finanzplanung .Das heißt, Deutschlands Finanzen stehen auf einemsoliden Fundament . Das ist wiederum einer der Gründedafür, dass sich auch die wirtschaftspolitische Halbzeit-bilanz der Bundesregierung mehr als sehen lassen kann .Die Wirtschaft wächst deutlich . Wir haben eine Rekord-beschäftigung . Die Zahl der Erwerbstätigen ist im Juliauf knapp 43 Millionen Personen gestiegen . Das waren160 000 mehr als im Vorjahr . Was ich besonders bemer-kenswert und wichtig finde: Der Anstieg geht auf mehrsozialversicherungspflichtige Beschäftigung zurück. Dasist ja genau unser Ziel .Die Arbeitslosigkeit ist so niedrig wie seit 1991 nichtmehr . Die bundesweite Arbeitslosenquote lag im Augustbei 6,4 Prozent und damit 0,3 Prozentpunkte unter demVorjahresniveau . Wir haben mit einer Quote von 7,7 Pro-zent – immer noch zu hoch, aber immerhin – die nied-rigste Erwerbslosigkeit unter den Jugendlichen in derEuropäischen Union .Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben mehr Geldin der Tasche . Seit Amtsantritt dieser Bundesregierungsind die Löhne in jedem Quartal stärker gestiegen als dieInflation. Die deutschen Exporte erreichen einen neuenHöchststand . Das alles geschieht in einem Umfeld, das jabei Weitem nicht nur als stabil bezeichnet werden kann .Die Weltwirtschaftslage ist nicht völlig ohne Risiken .Die Schwellenländer gehen durch eine schwierige Phase .Aber wir als Bundesregierung rechnen mit einem Wirt-schaftswachstum von 1,8 Prozent in diesem und auch imnächsten Jahr .Solide Finanzen – das zeigt sich in diesen Tagen –machen es möglich, dass wir auf plötzlich auftretendeneue Herausforderungen reagieren können, wie jetzt imHaushaltsplan für 2016 . Es sind sechs Milliarden EuroMehrausgaben vorgesehen, davon drei Milliarden Eurofür den Bund und drei Milliarden Euro für die Unterstüt-zung von Ländern und Kommunen .Nachhaltige Haushaltspolitik – das hat sich in den ver-gangenen Jahren gezeigt – eröffnet eben auch Spielräu-me, Möglichkeiten für zukunftsorientierte Investitionen .Wir haben wichtige Impulse gesetzt: in der Infrastruktur,bei Forschung und Entwicklung, in der Energie- und Kli-mapolitik und im digitalen Umbau von Wirtschaft undGesellschaft . Vor allem die Verkehrsinvestitionen sinddeutlich erhöht worden . Wir geben in dieser Legislatur-periode fünf Milliarden Euro zusätzlich für Verkehrsin-frastruktur aus . An einigen Stellen sind die Planungennoch gar nicht so weit fortgeschritten, dass das Geld auchausgegeben werden kann . Aber es gibt Bundesländer, dieReserven haben .
Hinzu kommen weitere 4,35 Milliarden Euro aus demInvestitionspaket 2016 bis 2018 .Wir haben 2009 die Breitbandstrategie der Bundesre-gierung gestartet, und sie zahlt sich aus: Fast 70 Prozentder Haushalte haben heute Bandbreiten von mindestens50 Megabit pro Sekunde – Anfang 2010 waren es nur39 Prozent –, und bis 2018 wird es eine flächendeckendeBreitbandversorgung geben, auch im ländlichen Raum .Meine Damen und Herren, wir haben nicht nur anBundesinvestitionen gedacht . Wir wissen, dass die Kom-munen die wichtigste Ebene für öffentliche Investitionensind . Die Kommunen haben auch Steuermehreinnahmen,aber die Finanzlage der Kommunen insgesamt ist unter-schiedlich . Deshalb unterstützen wir die Kommunen sosehr, wie das nie zuvor geschehen ist . Aber wir habennoch einen besonderen Schwerpunkt gesetzt: Der Bundwird gerade die finanzschwachen Kommunen mit einemSonderfonds für Zukunftsinvestitionen unterstützen . Fürdie Jahre 2015 bis 2018 sind dafür, zusätzlich zu dennormalen und für alle Kommunen geltenden finanziellenHilfen, 3,5 Milliarden Euro vorgesehen . Ich glaube, dasist ein absolut richtiger Akzent .
Dr. Gregor Gysi
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Eines der zentralen Vorhaben dieser Bundesregierungist und bleibt die Energiewende . Wir haben mit dem Ka-binettsbeschluss vom 1 . Juli dieses Jahres wichtige Wei-chen gestellt, damit die Energiewende erfolgreich umge-setzt werden kann . Wir haben den Strommarkt zu einemStrommarkt 2 .0 weiterentwickelt . Wir haben klare Ent-scheidungen getroffen und damit auch für Berechenbar-keit der Investitionen bezüglich des Netzausbaus gesorgt .Wir haben mehr finanzielle Mittel für den Klimaschutzbereitgestellt und die entsprechenden Weichen gestellt,um unsere Klimaziele zu erreichen . Und wir haben imZusammenhang mit dem Ausstieg aus der Kernener-gie noch einmal deutlich gemacht, dass die Sicherheitwährend der Restbetriebslaufzeit und beim Abbau vonKernkraftwerken unbedingt zu gewährleisten ist . Dasgilt auch für die Entsorgung radioaktiver Abfälle . DieBundesregierung geht dabei vom Grundsatz aus, dass dieKosten von den Verursachern zu tragen sind .
Unbeschadet aller uns in diesen Tagen beschäftigendenHerausforderungen dürfen wir nicht vergessen, dass wireinen qualitativen Wandel unseres Arbeitslebens, unseresgesellschaftlichen Lebens durchlaufen, und zwar durchdie Digitalisierung . Und die Bundesregierung antwortetdarauf . Wir wissen, dass das Wirtschaft und Gesellschaftgleichermaßen betrifft . Mit dem Regierungsprogramm„Digitale Agenda 2014–2017“ wird die Bundesregierungden digitalen Wandel aktiv mitgestalten . Wir werden aufder Kabinettsklausur am Dienstag der kommenden Wo-che die Digitalisierung als Schwerpunkt haben und überThemen wie Industrie 4 .0, automatisiertes Fahren, Cy-bersicherheit und E-Health sprechen wie über viele an-dere Themen .Nur wenn wir wirklich verstehen, was durch die Digita-lisierung passiert, wird es auf Dauer gelingen, hochpro-fitable Wertschöpfungsketten in Deutschland zu halten.Unser Plus in diesen Tagen ist, dass der Anteil der in-dustriellen Produktion in Deutschland im internationalenMaßstab nach wie vor vergleichsweise hoch ist . Aber inZukunft werden sich die Wertschöpfungsketten ändern .Die Frage der Datenverarbeitung wird eine wesentlicheRolle spielen . Wenn wir diesen Prozess der Wertschöp-fung aus Daten nicht zeitnah mitgestalten, wenn wir nichtdie richtigen Rahmenbedingungen dafür schaffen, dannlaufen wir Gefahr, mit unserer industriellen Produktionzu einer verlängerten Werkbank zu werden, und das mussverhindert werden . Ich glaube, das können wir schaffen .Auf der europäischen Ebene werden mit der Daten-schutzgrundverordnung, die jetzt beraten wird, wichtigeWeichen gestellt . Im Übrigen brauchen wir eine europä-ische Strategie für die Digitalisierung . Glücklicherweisegibt es auch diesbezüglich erste Fortschritte .Wir arbeiten genauso beharrlich daran, die europä-ische Staatsschuldenkrise zu überwinden . Wir habenin diesem Sommer ein umfassendes Programm auf denWeg gebracht, das Griechenland eine Chance bietet, inder klassischen Herangehensweise – Solidarität und Ei-genverantwortung – wieder zu Wirtschaftswachstum undmehr Beschäftigung zu kommen . Wenn wir auf den Eu-roraum insgesamt blicken, können wir sagen: Es gibt einewirtschaftliche Erholung, die Wirtschaftslage ist besserals noch vor einem Jahr, und insbesondere reformstarkeEuroländer wie Spanien und Irland wachsen überdurch-schnittlich . Spanien wächst jetzt so schnell, wie es vorder Krise gewachsen ist . Man kann hier nur sagen, dasssich der Reformweg gelohnt hat .
Ermutigend ist, dass die sogenannte Staatsschuldenquote2015 erstmals abnehmen wird, im Euroraum auf 94 Pro-zent des BIP, im gesamten EU-Raum auf 88 Prozent desBruttoinlandsprodukts . Wenn wir uns die Vorgaben desStabilitäts- und Wachstumspakts anschauen, müssen wirehrlich sagen: Auch Deutschland hat noch eine Wegstre-cke vor sich . Länder wie Polen, Schweden und Däne-mark haben wesentlich weniger Schulden im Verhältniszum Bruttoinlandsprodukt als wir . Also müssen auch wiruns weiter anstrengen .Ich halte es zur Schaffung von Wachstumsvoraus-setzungen für absolut wichtig, dass wir die Freihandel-sabkommen intensiv weiterverhandeln . Wir sehen dieChancen dieser Freihandelsabkommen mit den Verei-nigten Staaten von Amerika und Kanada . Ich will dar-auf hinweisen, dass wir Punkt für Punkt – das ist hiernicht der Rahmen dafür – all das, was darüber erzähltwird, entkräften . Es handelt sich um ein Freihandelsab-kommen zwischen zwei Wirtschaftsräumen der Welt mitden höchsten Standards, sowohl was Verbraucherschutzals auch was Umweltschutz anbelangt . Wenn diese Re-gionen es schaffen, ein faires gemeinsames Abkommenzu schließen, wird dies Wirkung haben auf alle anderenHandelsabkommen weltweit, die sich heute fast gar nichtum Verbraucherschutzstandards, um soziale Standardsoder um Umweltschutzstandards kümmern . Das könnteein Freihandelsabkommen der Zukunft sein, weil es dar-in nicht einfach nur um Zölle geht, sondern um sehr vielmehr . Damit können wir Maßstäbe setzen .
Auch wenn wir viel über Infrastrukturprojekte spre-chen, über die Energiewende, über die Digitalisierungund über die Bewältigung der europäischen Staatsschul-denkrise, so steht doch im Zentrum unserer Politik immerauch die Frage: Was bedeutet das für die Menschen? Dereinzelne Mensch in seiner Lebenssituation in unseremLand zählt für uns . Deshalb möchte ich heute ein Themaherausgreifen, bei dem die Große Koalition exemplarischgezeigt hat, dass sie sich gerade auch um die Sorgen undNöte der Menschen kümmert. Es geht um die Pflege al-ter oder kranker Menschen, die – das gilt für fast jedeFamilie – die Angehörigen vor gewaltige Herausforde-rungen stellt. Wir haben mit dem Pflegestärkungsgesetz,das zum 1 . Januar dieses Jahres in Kraft trat, einen erstenSchritt gemacht . Damals haben wir unter anderem deut-liche Verbesserungen im Bereich der ambulanten Pflegebeschlossen .Jetzt unternehmen wir einen zweiten Schritt, und dasist ein revolutionärer Schritt . Viele werden sich erinnern,Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
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wie lange wir über den neuen Pflegebegriff diskutiert ha-ben .
– Richtig . – Es war eine lange, ausführliche Diskussi-on – einen Teil der Verzögerungen nehme ich auf meineKappe –, weil uns wichtig war, dass wir sicherstellen,dass der neue Pflegebegriff körperliche, geistige und psy-chische Einschränkungen gleichermaßen berücksichtigt .Wir hatten ja schon einen ersten Schritt im Hinblick aufDemenzerkrankungen gemacht . Aber genauso wichtigwar mir und uns, dass niemand durch den neuen Pflege-begriff in eine Situation kommt, in der er sich schlechterstellt und nicht versteht, warum wir eine Pflegebedürf-tigkeit gegen eine andere ausspielen . Das haben wirsorgsam geprüft, und jetzt liegt ein Gesetzentwurf vor,der mit Sicherheit für alle, die der Pflege bedürfen, eineVerbesserung mit sich bringt . Wir haben dafür auch eineBeitragserhöhung von 0,2 Prozent beschlossen . Aber ichglaube, das ist gut investiertes Geld für Menschen in ei-ner schwierigen Lebenslage und ihre Familien . Deshalbhalte ich das für einen ganz wichtigen Schritt .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich stelle überhauptnicht in Abrede, dass noch viel zu tun ist in Deutschland .Aber wenn wir sehen, was um uns herum in der Weltpassiert, dann möchte ich heute hier auch einmal sagen:Es ist ein Privileg, und es ist ein Glück, in guten demo-kratischen Verhältnissen zu leben und über einen Haus-haltsentwurf wie diesen zu sprechen . Ich sage das auchmit Blick auf 25 Jahre deutsche Einheit, meine Damenund Herren .
Das ist wirklich nicht überall auf der Welt so . Denkenwir zum Beispiel nur an die Lage vor unserer eigenenHaustür, nämlich in der Ukraine, die uns unverändertSorgen macht . Die Achtung des Rechts ist unabdingbareVoraussetzung für ein friedliches und partnerschaftlichesZusammenleben . Durch die Annexion der Krim und denvon Russland unterstützten Separatismus in der Ostuk-raine hat Russland diese Ordnung fundamental verletzt .Wir haben uns in den letzten Monaten immer und im-mer wieder dafür eingesetzt, dass die Krise in der Uk-raine auf diplomatischem Weg gelöst werden kann . DasZiel dabei ist, dass die territoriale Integrität der Ukrainewiederhergestellt werden kann . Das Maßnahmenpaketvon Minsk wurde im Februar beschlossen . Es ist nachwie vor Richtschnur auf diesem Weg . Wir haben seit An-fang September nach vielen Rückschlägen einen immernoch fragilen, aber etwas verbesserten Waffenstillstand .Aber wir wissen, wir sind längst nicht am Ziel .Ich darf Ihnen sagen, dass die Bundesregierung, derBundesaußenminister und auch ich, gemeinsam immerund immer wieder – auch im Normandie-Format – zu-sammen mit dem französischen Außenminister und demfranzösischen Präsidenten darüber wachen werden undAnstrengungen unternehmen werden, um diesen Prozessvoranzubringen, der jetzt auch in eine entscheidendepolitische Phase gekommen ist, was Verfassungsände-rungen anbelangt, was die Frage von Lokalwahlen anbe-langt . Wir sind da längst nicht über den Berg . Aber wirwerden in unseren Bemühungen nicht nachlassen, weilwir nur diesen diplomatischen Weg sehen, meine Damenund Herren, und den zu gehen müssen wir immer undimmer wieder versuchen .
Ich möchte mich in diesem Zusammenhang auch beider OSZE bedanken . Die Beobachter der OSZE leistenhier eine herausragende Arbeit . Manch einer hatte dieOrganisation für Sicherheit und Zusammenarbeit schonein bisschen sozusagen in die Reihe der auslaufendenOrganisationen gestellt . Ich kann nur sagen: Wenn wirsie nicht hätten, wären wir in diesem Prozess mit derUkraine längst nicht an dem Punkt . Deshalb ist es auchgut, dass Deutschland im nächsten Jahr den Vorsitz über-nimmt . Wir arbeiten heute schon mit der Schweiz undSerbien in der Troika zusammen und werden das nächs-tes Jahr fortsetzen .
Meine Damen und Herren, trotz dieses tiefgreifendenKonflikts mit Russland gibt es in diesem Jahr in der inter-nationalen Politik auch manches, das positiv überraschtund das Mut macht, zum Beispiel die Einigung der E3+3,also unter Beteiligung Russlands und Chinas, mit demIran auf einen gemeinsamen umfassenden Aktionsplanim Zusammenhang mit dem Nuklearprogramm . DieserAktionsplan beruht nicht auf Vertrauen oder der Vermu-tung, wie der Iran in zehn oder 15 Jahren aussehen könn-te, sondern auf sehr detaillierter Kontrolle, um den WegIrans zu einer Nuklearwaffe zu stoppen .Ich möchte an dieser Stelle unserem AußenministerDr . Frank-Walter Steinmeier ganz herzlich danken . Erhat wirklich Stunden und Aberstunden und Tage in Genfverbracht . Danke für Ihr Mittun .
Positives sehen wir auch bei den Vereinten Nationen;denn die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen habensich in New York auf eine 2030-Agenda für eine nach-haltige Entwicklung verständigt . Übernächste Wochesollen die Texte von den Staats- und Regierungschefsoffiziell verabschiedet werden. Erstmals haben wir einenuniversell gültigen Aktionsplan mit 17 konkreten Zielen .Armutsreduzierung wird mit dem Ziel weltweiter nach-haltiger Entwicklung verbunden . Das ist ein Fortschritt .Ich glaube, gerade diese Verabschiedung der2030-Agenda gibt auch einen Impuls zu einer anderenwichtigen internationalen Tagung in diesem Jahr, näm-lich der Klimakonferenz in Paris . Hier arbeiten Deutsch-land und Frankreich sehr eng zusammen . Wir wollenalles tun, damit die französischen Gastgeber eine erfolg-reiche Konferenz durchführen können . Nach Kopenha-Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
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gen brauchen wir diesen Erfolg . Auf der Welt geschiehtvieles, was uns optimistisch stimmt .
Aber die wenigen internationalen Lichtblicke könnennun wirklich nicht darüber hinwegtäuschen, dass dasJahr 2015 für so viele Länder und vor allen Dingen fürso viele Menschen bislang ein furchtbares Jahr ist . Nurwenige Flugstunden von Europa entfernt gibt es Krieg,Terror, Tod und Verzweiflung. Nie nach dem ZweitenWeltkrieg hat es so viele Flüchtlinge weltweit gegebenwie im Augenblick . In Syrien hat der Krieg inzwischen250 000 Menschenleben gekostet . Innerhalb des Landessind über sieben Millionen Menschen auf der Flucht .Vier Millionen Syrer haben in den Nachbarländern, inJordanien, im Libanon, in der Türkei, Zuflucht gefunden.Die Terrororganisation „Islamischer Staat“ kontrol-liert weite Gebiete im Osten Syriens und im Nordwestendes Iraks . Deutschland hat hier Verantwortung übernom-men . Ich erinnere an unseren Beschluss, den Peschmergaim Norden des Iraks zu helfen . Das war ein völlig neuerSchritt in unserem Herangehen, weil wir nicht die Au-gen verschließen konnten vor der Verfolgung der Jesi-den, vor der Verfolgung anderer, auch vor der Verfolgungvon Muslimen . Wir haben uns entschlossen, zu helfen,und diese Hilfe wird auch anerkannt . 3 000 irakisch-kur-dische Sicherheitskräfte wurden ausgebildet . Sicherlichwerden wir in Zukunft auch weiter über Möglichkeitender Ausbildung sprechen .Der Kampf gegen den „Islamischen Staat“ ist eineder großen Herausforderungen . Es ist noch nicht sicher,dass er erfolgreich sein wird, aber wir müssen daran ar-beiten . Der Kampf gegen den „Islamischen Staat“ bringtuns auch immer wieder in Erinnerung, dass Kämpferdort aus unseren Ländern kommen, aus den LändernDeutschland, Großbritannien, Frankreich, aus europäi-schen Ländern . Das heißt, wir können nicht sagen: „Dasist da irgendwo ein Problem“, sondern es beschäftigtauch uns . Das ist ein Element davon, dass wir insgesamtnachdrücklich spüren, dass diese Konflikte in Syrien, imIrak nicht irgendwo stattfinden, sondern letztlich vor denToren Europas. Diese verheerenden Konflikte sind nichtetwas, das man nur im Fernsehen sieht, sondern ihre Fol-gen erreichen uns .Eine dieser Folgen ist, dass voraussichtlich bis zu800 000 Menschen einen Antrag auf Status als Bürger-kriegsflüchtling oder auf politisches Asyl stellen werden.Das wäre die höchste in Deutschland jemals registrier-te Zahl . So weit die Zahlen . Doch dahinter stehen jaSchicksale . Wir alle verfolgen, welche Tragödien sichabspielen, ob es Fotos von toten Kindern sind, die aufentsetzliche Art und Weise umgekommen sind, oder obes das entsetzliche Leid und der Tod der Menschen indem Lkw waren . Sie stehen exemplarisch für viele, vieleSchicksale .Deshalb sind wir in der Verantwortung . Diese Verant-wortung nehmen wir wahr . Sie fordert uns . Bund, Länderund Kommunen wollen das in guter Zusammenarbeitschaffen und arbeiten daran. Heute findet ein weiteresBund-Länder-Treffen statt . Wir haben bereits im Juni ge-sagt: Das ist eine nationale Aufgabe . Am 24 . Septemberwerden wir dann eine Sonder-MPK mit der Bundesregie-rung durchführen, auf der wir hoffentlich die notwendi-gen Beschlüsse fassen .Die Koalition hat im Koalitionsausschuss am Sonntaggemeinsame Positionen erarbeitet, wie wir die richtigeAntwort auf die augenblickliche Asyl- und Flüchtlingssi-tuation geben . Es ist klar: Wir werden nicht einfach wei-termachen können wie bisher, sondern wir werden Re-gelungen überdenken müssen, wir werden Regelungenzeitweise außer Kraft setzen müssen, wir müssen Abläu-fe verbessern, wir müssen Entscheidungen schneller fäl-len . Wir brauchen uns auch nicht gegenseitig die Schuldzuzuschieben, wer dies und jenes noch nicht gemachthat, sondern wir müssen jetzt einfach anpacken und allekonkreten Hindernisse aus dem Weg räumen, um denMenschen, die zu uns kommen, zu helfen und ein friedli-ches Zusammenleben in unserem Land zu gewährleisten .
So wie wir schnell auf die Finanz- und Wirtschaftskri-se reagiert haben, werden wir auch schnell – das ist mitden Fraktionen besprochen – auf die Herausforderungenin diesem Zusammenhang reagieren . Wir wollen nochim Oktober dieses Jahres das Paket beschließen, das dienotwendigen Rahmenbedingungen schafft . Ich will hiernicht die einzelnen Maßnahmen referieren; die kennenSie . Wichtig ist, dass wir in dieser Situation über ein paargrundsätzliche Gedanken sprechen .Erstens . Diejenigen, die als Asylsuchende zu unskommen oder als Kriegsflüchtlinge anerkannt werden,brauchen unsere Hilfe, damit sie sich schnell integrierenkönnen . Sie brauchen Hilfe, um schnell Deutsch zu ler-nen. Sie sollen schnell eine Arbeit finden. Viele von ihnenwerden Neubürger unseres Landes werden . Wir solltenaus den Erfahrungen der 60er-Jahre, als wir Gastarbeiterzu uns gerufen haben, lernen und von Anfang an der In-tegration allerhöchste Priorität einräumen .
Wenn wir es gut machen, dann birgt das mehr Chancenals Risiken .Zweitens . Diejenigen, die nicht vor politischer Verfol-gung oder Krieg flüchten, sondern aus wirtschaftlicherNot zu uns kommen, werden nicht in Deutschland blei-ben können .
So schwer ihr persönliches Leben auch sein mag, so ge-hört dies dennoch zur Wahrheit, und wir sprechen sieauch aus . Wir werden die Anerkennungs- und Regist-rierungsverfahren und auch die Rückführungen deutlichschneller und konsequenter durchführen müssen als bis-lang .Drittens . Ein Land, das viele, die neu zu uns kommen,willkommen heißt, das auch viele willkommen heißt,Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
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die aus ganz anderen Kulturkreisen kommen, muss auchdeutlich machen, welche Regeln bei uns gelten . Auch dasgehört zu einer offenen Gesellschaft . Wir dürfen nichtwegsehen, wenn sich Milieus verfestigen, die Integrationablehnen, oder wenn sich Parallelgesellschaften heraus-bilden . Hier darf es keine Toleranz geben; auch das müs-sen wir von Anfang an sagen .
Viertens . Wir werden nicht zulassen, dass unsereGrundwerte und unsere Menschlichkeit von Fremden-feinden verraten werden . Abstoßend und beschämendist es, wenn Flüchtlingsheime angegriffen werden, wennMenschen angepöbelt werden, wenn Menschen angegrif-fen werden und wenn dumpfe Hassbotschaften wo auchimmer verbreitet werden . Wir werden mit der ganzenHärte des Rechtsstaates dagegen vorgehen – auch im In-ternet, was der Justizminister jetzt ja tut .
Fünftens . Die Bewältigung der aktuellen Flüchtlings-krise gelingt nicht allein auf nationaler Ebene . Sie ist eineHerausforderung für die Europäische Union, für jedenMitgliedstaat in der Europäischen Union, und das nichtnur in praktischer Hinsicht, weil wir vielleicht sagen: Wirhaben sehr viele Flüchtlinge und andere wenige . – Nein!Wenn Europa in der Flüchtlingsfrage versagen würde,dann ginge ein entscheidender Gründungsimpuls einesgeeinten Europas verloren, nämlich die enge Verbindungmit den universellen Menschenrechten, die Europa vonAnfang an bestimmt hat und die auch weiter gelten muss .Dafür werden wir gemeinsam kämpfen, meine Damenund Herren .
Deshalb müssen wir in Europa zu tragfähigen undsolidarischen Lösungen kommen . Die Westbalkankonfe-renz in Wien vor wenigen Tagen war ein guter Beitrag .Tragödien, wie die erstickten Flüchtlinge, die in einemLkw in Österreich gefunden wurden, dürfen sich nichtwiederholen . Wir müssen die Situation auf dem Mittel-meer, aber auch die zwischen der Türkei und Griechen-land viel besser unter Kontrolle bekommen . Wir müsseneffektiv gegen Schlepperbanden vorgehen . Hierfür gibtes jetzt den Einstieg in die zweite Phase der entsprechen-den Operationen auf dem Mittelmeer .Die deutschen Schiffe haben sich an der Rettungvon Flüchtlingen beteiligt, und ich möchte den Solda-tinnen und Soldaten der Marine, die bereits mehr als7 200 Flüchtlinge aus Seenot gerettet haben, ausdrück-lich einen herzlichen Dank sagen .
Wir müssen viel enger mit den Transit- und Her-kunftsstaaten zusammenarbeiten . Auch sie müssen sicht-bar Verantwortung übernehmen . Wir werden im Novem-ber einen Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs mitden Vertretern der Afrikanischen Union auf Malta habenund darüber reden . Die Europäische Kommission wirddas vorbereiten . Daneben werden wir auch das Gesprächmit der Türkei intensivieren müssen . Denken wir nur ein-mal an die Route, die von der Türkei in Richtung Ungarnund dann nach Österreich und Deutschland führt .Ich habe gestern mit dem türkischen Ministerpräsi-denten telefoniert . Wir werden die Gespräche fortsetzen .Donald Tusk ist heute als Ratspräsident in der Türkei, umGespräche mit dem Präsidenten Erdogan und mit demMinisterpräsidenten zu führen . Hierbei wird es auf dereinen Seite darum gehen, zu sagen: „Ja, die Türkei hat inden letzten Jahren sehr viel Verantwortung übernommen,und vielleicht haben wir das auch für selbstverständ-lich genommen und einfach gedacht, das werde schonso weitergehen“, auf der anderen Seite müssen wir aberauch eine vernünftige Kooperation mit der Türkei in derFlüchtlingsfrage finden. Denn es kann nicht sein – dieTürkei und Griechenland sind NATO-Mitgliedstaaten –,dass Schlepper sozusagen das bestimmende Element ineiner Region sind, in der diese beiden Länder ihre Grenzehaben . Das muss verändert werden .
Wir brauchen innerhalb Europas natürlich Solida-rität . Zur Stunde hält Jean-Claude Juncker seine Redezur Lage der Union . Er wird Vorschläge für einen ers-ten Schritt der fairen Verteilung unterbreiten . Insgesamtbrauchen wir aber eine verbindliche Einigung über eineverbindliche Verteilung von Flüchtlingen nach fairenKriterien zwischen allen Mitgliedstaaten, also eine an-dere Verteilung als jetzt noch . Es wäre ja schon einwichtiger Schritt, wenn wir das erreichen würden, wasJean-Claude Juncker heute vorschlägt, zum Beispiel eineerste Diskussion auf dem Rat der Innen- und Justizminis-ter am nächsten Montag .Wir können nicht nur sagen: „Wir verteilen eine be-stimmte Zahl von Flüchtlingen“, sondern wir müssenauch überlegen, wie wir mit den Flüchtlingen, die bei unsankommen, umgehen . Man kann hier keine Höchstgren-ze setzen und sagen, dass man sich darüber hinaus nichtdarum kümmert,
sodass dies die Sache von zwei, drei oder vier Ländernist, sondern es muss hier eine europäische Verantwortunggeben . Nur so werden sich alle Mitgliedstaaten auch umdie Behebung von Fluchtursachen und internationalenKonflikten kümmern. Auch das ist eine Gemeinschafts-aufgabe .
Sechstens . Die geopolitische Situation, ob es der Bür-gerkrieg in Syrien ist, ob es der islamistische Terror imNordirak ist, ob es die politischen Systeme in Eritreaoder Somalia sind, wird sich nicht über Nacht ändern .Selten haben wir in diesem Haus gespürt, wie eng dieInnenpolitik, die Entwicklungspolitik und die Außen-politik zusammenhängen . In Europa wird oft gesagt, esgebe keinen Unterschied mehr, ob die europäische Po-litik ein wenig mehr Innen- oder mehr Außenpolitik ist .Die Globalisierung bringt uns in eine Situation, in der wirBundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
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plötzlich merken: Wenn wir – auch über die europäischenGrenzen hinaus – außen- und entwicklungspolitisch et-was nicht tun, dann kann das innenpolitisch gravierendeFolgen haben . Das – davon bin ich zutiefst überzeugt –wird die Realität des 21 . Jahrhunderts sein . Das ist derAnfang und nicht das Ende einer Entwicklung, und wirmüssen lernen, darauf zu reagieren . Daran arbeiten wir .
Siebtens . Wir erleben immer wieder, dass es in EuropaHerausforderungen gibt, bei denen es ganz besonders aufuns ankommt, auf Deutschland, auf Deutschlands Kraftund auf Deutschlands Stärke . Sehr oft haben wir dieseHerausforderungen zusammen mit Frankreich bewältigt .Auch jetzt haben wieder der französische Präsident undich, nach Vorarbeit der Innenminister, Vorschläge an dieKommission gemacht, wie wir die Flüchtlingssituationbesser meistern können . Aber wir erleben auch Situa-tionen wie jetzt am Wochenende, als wir zum Beispielgemeinsam mit Österreich eine Entscheidung gefällt ha-ben . Und wir haben diese Entscheidung aus humanitärenGründen gefällt .Wir wissen: Auch in der Euro-Krise haben wir nichtimmer alle zusammengestanden, sondern da standDeutschland manchmal ganz schön alleine da, so jeden-falls meine Erinnerung . Aber was wir immer wieder er-lebt haben – das sollte uns Mut machen –, ist, dass esgenau diese Bereitschaft und diese Kraft Deutschlandssein kann, die schließlich den Weg für eine europäischeLösung freimacht .
Nicht, wenn wir uns verweigern, wird es wahrscheinlich,dass wir eine europäische Lösung finden. Vielmehr wirdes dann, wenn wir mutig sind und manchmal vorange-hen, wahrscheinlicher, dass wir eine europäische Lösungfinden.
Das ist aller Anstrengungen wert .Liebe Kolleginnen und Kollegen, so groß die Her-ausforderung auch ist – diese Herausforderung ist langandauernd, und sie ist groß; ich mache mir da über-haupt keine Illusionen –, so sehr bin ich überzeugt, dassDeutschland sie bewältigen kann . Mehr noch: Ich binüberzeugt, dass wir es nicht nur können, sondern dasswir, wenn wir es gut machen, wenn wir es mutig ange-hen, wenn wir nicht verzagt sind, sondern Ideen suchen,wenn wir kreativ sind, letztlich nur gewinnen können .Das sollte uns leiten bei der Bewältigung dieser Heraus-forderung .Herzlichen Dank .
Das Wort erhält nun die Kollegin Katrin Göring-Eckardtfür die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und liebe Kolle-gen! Bevor ich auf die Flüchtlinge in unserem Land undin Europa und ihre Situation zu sprechen komme, willich gern auf zwei Dinge eingehen, Frau Bundeskanzle-rin, die Sie hier in Ihrem Rechenschaftsbericht erwähnthaben und die vielleicht wenigstens eines Faktenchecksbedürfen .Der erste Punkt . Sie haben gesagt, die Bundesregie-rung hätte einen Schwerpunkt auf Investitionen gelegt .Wir haben in der Tat einen gigantischen Investitionsstauin unserem Land . Schienen, Straßen, Brücken, Schulenund vieles andere liegen im Argen . Diese Last wird vorallen Dingen von den Kommunen und Ländern getragen .Frau Bundeskanzlerin, wenn Sie sich Ihren Haushalt an-schauen und wenn Sie sich die mittelfristige Finanzpla-nung anschauen, dann sehen Sie: Investitionsquote unter10 Prozent mit sinkender Tendenz bis 2019 . Sie solltenhier ehrlich sein, Frau Bundeskanzlerin .
Der zweite Punkt . Sie haben sich in einem Nebensatzregelrecht verraten, indem Sie gesagt haben, TTIP wärejetzt in diesem Haus nicht das Thema .
Den Eindruck haben wir auch . Die Unterlagen zu denVerhandlungen zum Freihandelsabkommen sind nämlichkeinem einzigen Bundestagsabgeordneten zugänglich .Aber 139 Personen können diese Unterlagen im Auftragder Bundesregierung in der amerikanischen Botschafteinsehen . Das verstehe ich nicht unter Parlamentarismus,und das verstehe ich nicht unter Transparenz . Dann müs-sen Sie sich nicht wundern, wenn die Leute dagegen aufdie Straße gehen .
Wir erleben in Deutschland derzeit ein echtes Septem-bermärchen: Am Münchner Hauptbahnhof, in Dortmund,in Saalfeld
Und auch in vielen anderen Orten stehen Menschen anden Bahnsteigen mit Essen und Trinken, mit Rat und Tat .Wir sind plötzlich Weltmeister der Hilfsbereitschaft undMenschenliebe . „Die Welt zu Gast bei Freunden“ – dasbekommt plötzlich eine ganz andere Bedeutung . Und ichkann zum ersten Mal sagen, dass ich uneingeschränktstolz auf mein Land bin, wären da nicht schon wiederUnterkünfte angezündet worden . Doch die Nazis sind inder Minderheit, und sie bleiben es auch .Was mich bewegt, ist der Ruck, der durch die Zivilge-sellschaft geht . Es gibt Menschen, die bei der Bereitstel-lung von Unterkünften anpacken und Flüchtlinge bei sichzu Hause aufnehmen – wie unser Kollege Martin Patzelt .Sie bringen ihnen Deutsch bei, vermitteln sie in Arbeitund binden sich sogar lebenslang mit Bürgschaften . Siezeigen, dass Deutschland ein starkes und funktionsfähi-Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
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ges Land ist . Davon, Frau Bundeskanzlerin, haben Siedie ganze Zeit geredet; aber eigentlich müssten dieseMenschen Sie auch beschämen . Denn ohne die tausend-fache Hilfe, die gerade landauf, landab geleistet wird,wären wir nicht in der Lage, die Flüchtlinge angemessenzu versorgen .
Sie bemühen sich hier, den Eindruck zu erwecken, alshätten Sie alles im Griff, als würde der Innenminister ei-nen guten Job machen, als hätten die Koalitionspartneran diesem Wochenende weitreichende Beschlüsse ge-fasst, als könnten Sie die Defizite im Umgang mit denFlüchtlingen sozusagen „wegmerkeln“ . Doch Sie ste-cken in einem echten Dilemma und in einer Politikkrise .Anders kann man es nicht bezeichnen .Frau Bundeskanzlerin, Sie waren vor Heidenau keineinziges Mal in einer Flüchtlingsunterkunft . Ich gebezu, ich konnte es gar nicht glauben, dass Sie bis dahineinen Bogen um die Schicksale derer gemacht haben,deren Verwandte im Mittelmeer ertrunken sind, derenGeschwister in Aleppo sitzen und am Telefon Schüssehören .Sie haben, als Sie in der Schweiz diskutierten, spät,sehr spät, aber dann die richtigen Worte gefunden – auchzum Islam in unserem Land und zum Christentum . Vie-le sehen das Filmchen jetzt im Internet . Sie haben letzteWoche Worte gefunden und am Wochenende auch deut-lich gemacht: Wir sind aufnahmebereit . Als ich Sie heutehier gehört habe, habe ich gedacht, dass Sie schon wie-der im Verwaltungsmodus sind . Jetzt müssen aber Tatenfolgen, deutsche Flexibilität, ja, aber noch viel wichtigerdeutsche Schnelligkeit . Es kann nicht sein, dass jetzt wie-der Wochen verstreichen, bis verhandelt wird .
Packen Sie bitte in die Konzepte für morgen nichtschon wieder die Rezepte von gestern: Sachleistungen inErstaufnahmeeinrichtungen . Ja, sollen denn demnächsttatsächlich Drogeriegutscheine, Fahrkarten oder Ziga-retten als Sachleistung ausgegeben werden? Haben dieHelfer denn wirklich nichts anderes zu tun, meine Damenund Herren?
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben gesagt: Wir stehenvor einem Problem von der Dimension der deutschenEinheit . Da gebe ich Ihnen auch recht . Deshalb dürfenwir aber die Fehler von damals nicht wiederholen . DerOsten besteht heute nicht nur aus blühenden Landschaf-ten, und es hat auch mehr als ein paar Pfennige gekostet .Genauso wenig lässt sich die Flüchtlingshilfe jetzt miteiner Einmalzahlung von 3 Milliarden Euro an die Län-der irgendwie begleichen . Das ist eine wirklich großeAufgabe .
Es ist nicht einfach . Zu uns kommen Menschen, dieeinen Bürgerkrieg, Diktatur und Verfolgung erlebt haben,Menschen aus anderen Kulturen, mit einem viel strenge-ren Religionsverständnis, mit Vorstellungen zu Gleich-stellung und Homosexualität, die nicht die unsrigen sind .Heute geht es darum, winterfeste Quartiere zu organisie-ren, aber morgen schon darum, zu vermitteln, was unserGrundgesetz ausmacht . Ja, wir werden auch über unsereWerte, über unsere Identität diskutieren müssen . Und wirwerden klarmachen müssen: Unsere Gesetze gelten indiesem Land .
Integration, das geht nicht per Koalitionsbeschluss aneinem Wochenende . Deutschland funktioniert auch nichtnach dem Motto „Alte Bundesrepublik, neue Bundeslän-der und Flüchtlinge – und das war’s dann“ . Unser Landwird sich verändern, und es hat sich schon verändert .Heute haben bereits 30 Prozent der Kinder und Jugend-lichen einen Migrationshintergrund, und dabei habe ichdie „Ossis“ noch nicht mitgerechnet .Welche Aufmerksamkeit, welche Energie und welcheRessourcen lassen wir denen zukommen, die heute schonin unserer Gesellschaft chancenlos sind? Auch diese Fra-ge müssen Sie beantworten . An den Langzeitarbeitslosenin unserem Land droht der Zug der Koalitionsbeschlüssenämlich gänzlich vorbeizuziehen . Ich halte das für un-verantwortlich mit Blick auf den Zusammenhalt in derGesellschaft .
Frau Merkel und die Koalition, Sie haben ein So-fortprogramm vorgelegt . Aber das reicht nicht . BeiMigration und Integration geht es um eine gesamtge-sellschaftliche Aufgabe . Deswegen brauchen wir mehr:Wir brauchen einen nationalen Flüchtlingspakt . SetzenSie sich mit allen zusammen, die Verantwortung habenund übernehmen: mit den Ländern, den Kommunen, denGewerkschaften, den Wohlfahrtsverbänden, den Kirchenund den Arbeitgebern! Es muss jetzt um die Frage ge-hen, wie Deutschland in 20 Jahren aussieht und was un-sere Identität ausmacht, statt darum, zu verwalten und zu„merkeln“ .
Warum – diese Frage muss ich stellen, weil ich finde,aus der Vergangenheit zu lernen, kann auch einen Erfolgfür die Zukunft bedeuten – sind wir jetzt in diesem Kri-senmodus? Wegen der 800 000 Menschen, die diesesJahr zu uns kommen sollen, wie der Innenminister pro-gnostiziert? Vermutlich werden es mehr sein, wie Han-nelore Kraft zu Recht sagt . Ja, aber diese Menschen sindschon lange unterwegs . Nur ist das der Bundesregierungnicht aufgefallen .Ich greife willkürlich ein Jahr heraus: 2008 verzeich-nete Deutschland 28 000 Anträge auf Asyl . So viele kom-Katrin Göring-Eckardt
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men derzeit in drei Tagen zu uns . Für 2008 meldete derUNHCR 42 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht .Heute sind es 60 Millionen . Sie hätten es sehen können .Frau Bundeskanzlerin, die Flüchtlingspolitik ist inder Krise . Aber Sie haben den Grund dafür bisher nichtbenannt . Deswegen will ich das tun: Das deutscheSankt-Florians-Prinzip ist in sich zusammengebrochen .
Das Prinzip, Flüchtlinge sollten möglichst weit weg vonDeutschland bleiben, am besten in den Herkunftsländern,deren Nachbarländern oder jedenfalls in den Staaten derEU-Außengrenzen, ist wie ein Dominospiel zusammen-geklappt .Bevor Deutschland in die Krise kam, haben wir ande-re Staaten in dieselbe geschickt . Im Libanon ist heute je-der vierte Einwohner ein Flüchtling . In der Türkei lebenfast 2 Millionen Flüchtlinge . Als Sie mit Herrn Erdogangeredet haben, Frau Merkel, haben Sie, hoffe ich, auchetwas zum Umgang mit der Halkların Demokratik Partisi
und den Kurden gerade in diesem Land gesagt .
Bei uns wird ein Flüchtling auf 100 Einwohner kom-men . Wie lange konnte dieses Ungleichgewicht nochweitergehen? Dieser Dominostein kippte als erster . Imletzten Jahr kamen schon 170 000 Flüchtlinge nach Ita-lien und 43 500 nach Griechenland . Das war ein Anstiegum 280 Prozent . Jedem kritischen Beobachter war klar:Hier bahnte sich ein Kollaps an, und das europäischeund deutsche Asylsystem kann nicht mehr funktionieren .Hier kippte der nächste Dominostein .Ich will daran erinnern, was die Antworten des Innen-ministers waren: mehr Frontex, mehr scheinbar sichereHerkunftsstaaten und eine tödliche lange Zeit keine Un-terstützung der italienischen Marine bei Mare Nostrumund der Seenotrettung . Es mussten erst an einem Wo-chenende 1 000 Menschen ertrinken, bevor die Bun-desregierung bereit war, Schiffe und Bundesmarine zumobilisieren . Das war beschämend . Daran muss erinnertwerden, damit es nie wieder passiert, auch wenn die Bil-der von den ersten Seiten der Zeitungen verschwinden .
In dieser Zeit wurde übrigens auch nicht über gerechteVerteilung innerhalb Europas diskutiert . Ich will Sie nurdaran erinnern: 2013 konnte man sich nicht einigen, obman in Deutschland nun 5 000 oder 10 000 Flüchtlingeaus Syrien aufnimmt . Wer heute mit dem Finger auf an-dere Länder zeigt, darf sich zumindest daran erinnern .Hat sich eigentlich das Bundesinnenministerium je-mals gefragt, was passiert, wenn dieser Asylschutzschirmzusammenbricht, den Sie über Deutschland gespannt hat-ten? Wie haben Sie die Länder und Kommunen in derVorbereitung unterstützt? Welche Krisenpläne hatte dasBMI eigentlich ausgearbeitet? Die Antwort ist ein vielfa-ches Nichts . Stattdessen hat Deutschland gerade einmalso viele Entscheider für Asylverfahren wie die Nieder-lande: 500 . 250 000 Anträge liegen im Bundesamt fürMigration und Flüchtlinge . Hinter jedem dieser Anträgesteht ein Mensch, der nicht weiß, was die Zukunft für ihnbringt . Dieses Versagen von Verwaltung, diese Langsam-keit und dieses Sich-nicht-darum-Kümmern, dass Men-schen dort eingestellt oder dahin versetzt werden – dasmüssen Sie sich sagen lassen, Herr Innenminister –, hatdiese Krise, in der wir sind, und die Schwierigkeiten, indenen die Länder und Kommunen jetzt sind, verstärktherbeigeführt .
Wenn Sie jetzt nicht umkehren und nicht ganz schnelldafür sorgen, dass Hunderte zusätzliche Entscheiderbeim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zur Be-arbeitung der Anträge eingestellt werden, dann werdenwir in eine zunehmend schwierigere Situation kommen .Das wird dann auf dem Rücken der Flüchtlinge sowie derKommunen und Länder ausgetragen . Das geht so nicht .
Es geht um Flexibilität, wie die Bundeskanzlerin ge-sagt hat . Ja, ich bin dafür . Ich bin dafür, Standards abzu-senken, wenn es um den Bau von Quartieren geht . Dasist nun einmal so in dieser Situation, auch wenn uns dasnicht gefällt und das nicht von Dauer sein darf . Bund undLänder sollen nun 3 Milliarden Euro bekommen . Wofürsoll das eigentlich reichen? Mit welchen Flüchtlingszah-len rechnet man? Soll dieser Betrag für 150 000 Flücht-linge, für 300 000 Flüchtlinge, von denen wir zu Beginndieses Jahres ausgingen, oder für 800 000 bzw . 1 MillionFlüchtlinge, von denen andere ausgehen, reichen? Waswir jetzt brauchen, ist Verlässlichkeit . Die Kommunenmüssen wissen, welchen Betrag pro Flüchtling sie erhal-ten und dass sie diesen Betrag vom Bund auf jeden Fallbekommen, egal wie viele Flüchtlinge kommen; daraufkommt es jetzt an . Es darf kein Geschenk geben, nur weilalle wieder einmal laut schreien . Wichtig ist Verlässlich-keit . Diese kann man von der Bundesregierung erwarten .
Sie haben die Entwicklungen in Europa und die au-ßenpolitische Situation angesprochen . Aber es kann dochnicht sein, dass wir noch immer keine sicheren Wege nachEuropa haben . Es kann doch nicht sein, dass man nochimmer einem Schlepper 1 000 oder sogar 4 000 Euro zah-len muss, obwohl ein Flug von Bodrum nach Berlin nur77 Euro kostet . Schlepperbekämpfung betreibt man ambesten mit sicheren Wegen . Das macht man nicht, indemman nur so tut, als würde man Schlepper bekämpfen,aber letztendlich „Schiffe versenken“ spielt . Schlepperbekämpft man, indem man sichere Wege nach Europaschafft und diesem Unwesen endlich ein Ende setzt .
Ich will noch ein Wort zu den sogenannten Anreizenund zur CSU sagen, die von dieser fixen Idee nicht lassenwill . Ob nun Zäune errichtet werden, Gutscheine einge-setzt werden oder abgelehnte Asylbewerber schlechterbehandelt werden – ich glaube übrigens, dass dieser Vor-Katrin Göring-Eckardt
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schlag verfassungswidrig ist –, all das ist den Kriegs-und Armutsflüchtlingen keinen einzigen Gedanken wert.Wenn Horst Seehofer einmal mit den Flüchtlingen in denErstunterkünften gesprochen hätte, wüsste er das . Ange-sichts der Äußerungen der CSU am Wochenende habeich mich gefragt: Warum steht der bayerische Minis-terpräsident eigentlich nicht am Hauptbahnhof in Mün-chen? Gibt es momentan wichtigere Aufgaben als das?
Herr Steinmeier, im April letzten Jahres – ich habe dasextra nachgeschaut – haben wir Sie auf den Schwarzhan-del mit Visa in Beirut aufmerksam gemacht . Seither istdie dortige Visastelle etwas ausgebaut worden .
Aber die Wartezeit auf ein Visum beträgt in Beirut nochimmer ein halbes und in Ankara fast ein ganzes Jahr . Hiergeht es um Familienzusammenführung und Menschen,die unter fürchterlichen Bedingungen leben und zu unskommen dürfen . Sie müssen warten, weil die Adminis-tration nicht funktioniert . Ich akzeptiere das nicht underwarte von Ihnen, dass Sie dort Abhilfe schaffen .
Frau Bundeskanzlerin, in der Finanzkrise haben Siebemerkenswerte Ruhe und Schnelligkeit – darauf habenSie selbst hingewiesen – an den Tag gelegt . Aber dannkam erst einmal nichts, keine Bankenregulierung undkeine effiziente Aufsicht. Kurze Zeit später stolpert Eu-ropa in die Griechenland-Krise . Beispiel Atomausstieg:Unter dem Eindruck der Ereignisse in Fukushima korri-gierten Sie Ihren Fehler beim Atomausstieg . Aber seitherdümpelt die Energiewende vor sich hin . Ich kann nur hof-fen, dass es diesmal anders ist und dass Sie nun voraus-schauend und auf Dauer handeln .Ein starkes Land wie unseres kann die Aufnahme vonSchutzsuchenden stemmen . Wir können das Zusammen-leben organisieren und die Menschen mit ihren Befürch-tungen und Ängsten mitnehmen . Aber dafür braucht esmehr als technokratisches Administrieren, nämlich Em-pathie, Überzeugungskraft und eine entschlossene Hal-tung gegenüber fremdenfeindlichen Tendenzen, wie Sieselber gesagt haben . Ich hoffe sehr, dass das so bleibt .Dafür kann ich Ihnen auch die Mitarbeit der Grünen zu-sagen .Da gibt es ein paar Grundsätze: Jede und jeder hatdas Recht, überprüfen zu lassen, ob er oder sie Anspruchauf Asyl hat . Weil es dieses Grundrecht gibt, meine Da-men und Herren, kann es schon rechtslogisch gar keinenAsylmissbrauch geben . Deswegen: Hören Sie auf, solcheWorte zu benutzen .
Herr Kollege Straubinger, Ihnen kann ich nur sagen:Gehen Sie doch rüber . Gehen Sie einmal nach Damaskus,und schauen Sie sich an, wie es sich dort gerade lebt .
Treffen Sie doch einmal ein paar Flüchtlinge, statt vomSchreibtisch aus die Welt zu erklären . Jetzt zu sagen, mankönne auch nach Syrien abschieben, das finde ich der Si-tuation nicht angemessen. Ich finde, das ist den Flüchtlin-gen gegenüber eine Katastrophe . Sie schüren Unsicher-heit, und Sie schüren damit zugleich noch Ressentiments .Hören Sie damit sofort auf!
Das, was uns die Bürgerinnen und Bürger jetzt geradevormachen, können wir nutzen, etwa als Aufbruch . Ichmeine die Humanität, die Freundlichkeit und auch dieBereitschaft, etwas über die eigene Kraft hinaus zu tun .Wir können es aber auch nutzen, um klarzumachen: Dasgeht weiter . Ja, wir brauchen ein modernes Einwande-rungsgesetz, damit die Neubürger, von denen Sie gespro-chen haben, Frau Bundeskanzlerin, irgendwann zu Mit-bürgerinnen und Mitbürgern werden können . Ich fragemich, wie viel Unterstützung hat eigentlich Ihr General-sekretär dafür?Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, sogroß Ihr Fortschrittsvorsprung gefühlt auch sein mag,leider ist Ihnen recht spät aufgefallen, dass Sie wenigs-tens ein „Einwanderungsgesetz light“ wollen . LieberSigmar Gabriel, da müssen Sie sich vielleicht fragen:WwTSt? – Was würde Til Schweiger tun? Wir werdeneinen entsprechenden Entwurf hier noch einmal zur Ab-stimmung stellen, und dann können auch Sie für ein Ein-wanderungsgesetz stimmen .
Meine Damen und Herren, Flüchtlingspolitik, ja, dasist eine europäische Aufgabe . Wir sind das potentesteLand in Europa, und aus dieser Stärke folgt dann ebenauch Verantwortung . Die Verantwortung darf aber ebennicht heißen: „Was ist gut für Deutschland?“, sondernmuss heißen: Was ist gut für Europa? Das ist der qualita-tive Schritt, um den es geht . Wir können hier nicht überdie Lasten der Flüchtlingsaufnahme stöhnen und weiterjeden Elan bei der Bekämpfung der Fluchtursachen ver-missen lassen .Das gilt aber übrigens auch für die Bekämpfung derFluchtursachen auf dem europäischen Kontinent . WerGeld in Staaten mit korrupter Verwaltung gibt, muss kon-trollieren, wo und wie dieses Geld ankommt, und zwarerst recht, wenn es um die Verbesserung der Situation derSchwächsten, nämlich der Roma in einigen Balkanstaa-ten, geht .
Wer, wie Herr Juncker das getan hat, das Signal an denWestbalkan sendet, dass Europa nicht dorthin kommt,muss sich nicht wundern, dass sich die Menschen auf-Katrin Göring-Eckardt
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machen, um in dieses Europa zu kommen . Deswegen istder Arbeitsmarktzugang für diese Menschen so wichtig .Wir helfen an dieser Stelle ja gern mit Ideen . Haben Siesie aufgenommen? Ich hoffe, Sie setzen sie auch so um,dass es nicht nur bei Überschriften bleibt, die eine Beru-higungspille sein sollen .Herr Gysi, vielleicht können Sie das Ihrer Fraktionals Abschiedsgeschenk ins Stammbuch schreiben: WerEuropa immer nur schlechtredet, kann auf der anderenSeite nicht an die europäische Solidargemeinschaft ap-pellieren .
Es ist immer viel leichter, das Böse in den USA zu se-hen, als sich selber Gedanken über Fluchtursachen undüber eine gerechte Verteilung der Flüchtlinge in Europazu machen .
Meine Damen und Herren, vor eineinhalb Jahren be-gann die Debatte über mehr Verantwortung in der Welt .Zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung war dassehr schnell eine Debatte über den Einsatz militärischerMittel . Da passt es ja ganz prima, wenn der Wirtschafts-minister munter im Namen der WirtschaftsförderungRüstungsgüter in autokratische Staaten und in Krisen-regionen exportiert . Ich weiß, dass Sie das nervt, HerrGabriel . Ich werde es trotzdem immer wieder sagen . Ichwerde es auch laut sagen, weil Sie sich an dem messenlassen müssen, was Sie selber überall versprechen undwie einen heiligen Gral mit sich herumtragen .
Dazu gehört es auch, dass wir mit unseren Expor-tüberschüssen verhindern, dass schwächere Länder eige-ne rentable Wirtschaftsstrukturen aufbauen können; viel-mehr zerstören wir vielerorts die kleinbäuerliche lokaleLandwirtschaft und lassen durch unser „Geiz ist geil“im Fleischkonsum ganze Weltregionen über die Klingespringen .Vielleicht hoffen Sie ja, dass angesichts der gegenwär-tigen Situation und wegen der Aufnahme der Flüchtlingedie Klimakrise aus dem Blick gerät . Falsch! WährendBarack Obama trotz des beginnenden Wahlkampfes seinpolitisches Gewicht mit Blick auf die Klimaschutzab-kommen in die Waagschale wirft, verharrt die Bundesre-gierung im Mittelmaß .Es gibt viele Lichtblicke auf der Welt . – Das haben Sie,Frau Bundeskanzlerin, vorhin gesagt . Das stimmt – nurleider nicht bei uns . Auf dem internationalen Parkett re-den Sie von Klimaschutz, aber dann vergessen Sie aufdem Heimweg immer, dass Sie zu Hause auch liefernmüssen . Jetzt ist die Gefahr riesig, dass Paris auf die letz-te Minute ein unbefriedigendes Ergebnis erzielt, weil eseben nicht ordentlich vorbereitet ist .Sie reden von Dekarbonisierung der Wirtschaft, aberSie scheinen davon auszugehen, dass das irgendwievon allein passiert. Stattdessen finden sich auch in die-sem Haushaltsentwurf wieder und wieder Milliarden fürumweltschädliche Subventionen . Energiewende im Ver-kehrsbereich? Anstieg statt Reduzierung des Verbrauchs!Nur halb so viel Strom aus Erneuerbaren – nicht wie wir,wie Sie sich vorgenommen haben –, ja, hat das irgend-was mit Energiewende zu tun? Das ist das Gegenteil vonEnergiewende!
Wenn man das Klimaschutzprogramm der Bundes-regierung liest, dann muss man Aktionen schon mitder Lupe suchen . Prüfauftrag, Prüfauftrag, Gutscheinefür Sprit-Spar-Training bei Neuwagenkauf – eine wirk-lich sehr schöne Maßnahme . Wen soll das eigentlichbeeindrucken? Stattdessen subventionieren Sie weiterKohledreckschleudern, obwohl die ordentlichen Gas-kraftwerke dastehen . Das ist eine Subvention der Koh-leindustrie . Das hat nichts mit Versorgungssicherheitfür die Menschen und Stromkunden zu tun, sondern mitVersorgungssicherheit für die Kohleindustrie, meine Da-men und Herren . Nein, wir werden dieses Thema nichtvergessen
und werden Ihnen immer wieder sagen: Sie haben auchhier eine Verantwortung .
Ich bleibe dabei, trotzdem: Die Flüchtlingsfrage wirddie größte Aufgabe sein und bleiben . Ich habe mir denClip angeguckt, Frau Bundeskanzlerin . Sie haben inZürich, als Sie über den Islam sprachen, auch über dasChristentum geredet und beklagt, dass man in Deutsch-land zu wenig Kenntnisse darüber habe, was das Pfingst-fest bedeutet . Diese Chance kann ich mir jetzt nicht ent-gehen lassen .
– Dass Sie es wissen, ist mir klar .
Als der Heilige Geist erschien, begannen die hebrä-isch sprechenden Jünger, plötzlich fremde Sprachen zuverstehen . Ich schlage vor: Wir nehmen dieses Bild fürgenau das, was Deutschland als Vision gut gebrauchenkann . Wir verstehen einander: unterschiedliche Kultu-ren, Religionen, Herkunft, Geschichten . Damals war esder Geburtstag der Kirche . Ehrlich gesagt, wenn wir esschaffen könnten, das Ganze jetzt als Chance zu betrach-ten, dann wäre das vielleicht der Geburtstag eines neuenDeutschland –
wenn Sie es ernst meinen, wenn Sie es tun und wenn Siees nicht nur verwalten .Vielen Dank .
Katrin Göring-Eckardt
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Das Wort erhält nun der Kollege Thomas Oppermann
für die SPD-Fraktion .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKatrin Göring-Eckardt, ich fand nicht alles falsch, wasSie als Kritik gesagt haben, aber angesichts der Größeder Aufgabe, mit der wir es zu tun haben, fand ich IhreKritik insgesamt doch ein bisschen kleinteilig .
Vor allen Dingen habe ich vermisst, dass Sie wenigstensan einer Stelle sagen: Wir schaffen das . – Diese Aufgabeist so groß, dass auch die Opposition mithelfen muss .
Meine Damen und Herren, was wir in diesem Som-mer, was wir insbesondere am letzten Wochenende erlebthaben, das wird uns noch lange in Erinnerung bleiben .Nachdem Tausende von Flüchtlingen tagelang, zum Teilohne Trinkwasserversorgung, in Budapest auf öffentli-chen Plätzen und Bahnhöfen ausharren mussten, immerverzweifelter wurden, einige sich schon aufgemachthatten, um in Fußmärschen über die Autobahn nachDeutschland und Österreich zu kommen, hat die Bundes-regierung die Entscheidung getroffen, diese Flüchtlingeaufzunehmen. Ich finde, das war eine absolut richtige,das war die einzig mögliche Entscheidung, die getroffenwerden konnte .
20 000 Flüchtlinge an einem Wochenende! Ich finde,München hat diese Situation hervorragend gemeistert .Während in Budapest das Chaos und die Hilflosigkeitdominierten, gab es aus München Bilder der Hilfsbereit-schaft, der Solidarität und des gegenseitigen Respekts .Ich möchte mich bei allen Mitarbeitern des öffentlichenDienstes und bei allen Ehrenamtlichen, die das geleistethaben, ganz herzlich bedanken .
Dank dieser Helfer zeigt sich Deutschland in diesen Ta-gen der ganzen Welt von seiner besten Seite .
Als am Sonntagmorgen um 6 Uhr ein Zug aus Mün-chen mit 900 Flüchtlingen in Braunschweig ankam, hat-ten Stunden zuvor schon die Malteser, die Johanniter, dasRote Kreuz und die freiwillige Feuerwehr aus den Braun-schweiger Ortsteilen mitten in der Nacht dafür gesorgt,dass die Flüchtlinge aufgenommen werden können, dasssie versorgt werden können, bis sie weiterverteilt wer-den. Ich finde, das ist großartig.
In der Griechenland-Krise haben wir gelernt, wie un-erlässlich ein funktionierendes Staatswesen ist . In derFlüchtlingskrise sehen wir jetzt, wie unschätzbar wert-voll eine mitfühlende, aktive und gut organisierte Zivil-gesellschaft ist .
Diese Hilfsbereitschaft gehört zu den wertvollsten Tu-genden, zu den wertvollsten Ressourcen unserer Gesell-schaft . Sie macht unser Land stark, sie hält es zusam-men, und sie zeigt uns allen: Wir können es schaffen . Ichbin überzeugt: Auf Dauer kann diese Kraft weit über dieFlüchtlingsfrage hinaus unser Land positiv verändern .
Deutschland ist gewiss ein starkes Land . Daraus er-wächst eine besondere Verantwortung . Wir werden auchin Zukunft mehr Flüchtlinge aufnehmen als andere . Aberzu einer realistischen Bewertung unserer Kräfte gehörtauch, dass wir sagen: Allein mit Schweden und Öster-reich an unserer Seite können wir es nicht schaffen . GanzEuropa muss sich der Verantwortung für die Flüchtlingestellen . Das können nicht einzelne Länder schaffen .
Ich finde, der schwedische Premierminister StefanLöfven, der gestern bei der Kanzlerin war, hat recht,wenn er sagt: Die Flüchtlingskrise ist eigentlich in Euro-pa keine Flüchtlingskrise, sondern eine Verantwortungs-krise .
Jedem muss doch klar sein: Wenn sich die EuropäischeUnion nicht auf eine faire Verteilung der Flüchtlinge nachfesten Quoten einigen kann, dann steht eine der größtenErrungenschaften dieser Union infrage, nämlich die offe-nen Grenzen . Wir wollen die offenen Grenzen verteidi-gen . Aber dafür brauchen wir eine gemeinsame europäi-sche Flüchtlingspolitik, meine Damen und Herren .
Zehntausende Flüchtlinge auf der Balkan-Route, über-füllte griechische Inseln – all das zeigt: Die alte Ordnungfunktioniert nicht mehr, und zwar nicht erst, seitdemDeutschland die Anwendung von Dublin III auf syrischeFlüchtlinge ausgesetzt hat . Es ist doch schon länger klar,dass die Ankunftsländer wie Italien, Griechenland oderjetzt auch Ungarn damit überfordert sind, die große Zahlder Flüchtlinge allein zu bewältigen . Darüber – das mussman ehrlicherweise sagen – haben wir selber lange genughinweggesehen .
Ein erster richtiger Schritt ist es jetzt, dass die EU Auf-nahmezentren zur Registrierung der Flüchtlinge in denAnkunftsländern zusammen mit dem UNHCR aufbaut .Aber im Grunde genommen brauchen wir einheitliche
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Asylregeln in ganz Europa; denn nur wenn Flüchtlin-ge innerhalb Europas gleichbehandelt werden, wird derVerschiebebahnhof für Flüchtlinge in Europa enden . Ichfinde, dieser Verschiebebahnhof muss aufhören, meineDamen und Herren .
Ich glaube auch, dass Deutschland mit seinem mu-tigen Vorgehen viele in Europa wachgerüttelt hat . Vie-le Menschen schauen auf Deutschland und fragen sich:Warum sind unsere Regierungen nicht dabei? Immerhinwill jetzt auch David Cameron Flüchtlinge aufnehmen:20 000 Syrer in vier Jahren, so viel wie am vergangenenWochenende in München angekommen sind. Ich finde,das darf nicht das letzte Wort von David Cameron sein .
Mit aller Entschlossenheit müssen wir jetzt auch dieFluchtursachen bekämpfen; denn Menschen auf derFlucht in Europa Asyl zu gewähren, ist immer nur diezweitbeste Lösung . Die bessere Lösung ist, dafür zu sor-gen, dass sie gar nicht erst fliehen müssen.Dabei brauchen vor allem die Anrainerstaaten derHerkunftsländer dringend Hilfe . In Jordanien, im Liba-non, in der Türkei verlassen jeden Tag Tausende Men-schen die Flüchtlingslager, weil dort katastrophale Ver-hältnisse herrschen . Das UN-Flüchtlingswerk brauchtin diesem Jahr 4,5 Milliarden Euro, um die Menschenin den Lagern um Syrien herum angemessen zu versor-gen . Aber im Augenblick stehen nur 1,7 Milliarden Eurozur Verfügung . Wenn der UN-Flüchtlingskommissar ausFinanznot die Lebensmittelrationen kürzen muss, danndürfen wir uns nicht wundern, wenn immer mehr Flücht-linge aus diesen Lagern weiterziehen nach Europa .
Diese Lücke muss die internationale Staatengemein-schaft schließen . Ich bin froh, dass die Koalition dafür400 Millionen Euro bereitstellen will . Aber das wirdnicht reichen . Deshalb bitten wir den Entwicklungshil-feminister, zu prüfen, welche Umschichtungen in sei-nem Etat möglich sind . Dieser wächst in diesem Jahrum 880 Millionen Euro . Aber für die Sonderinitiative„Fluchtursachen bekämpfen“ sind bisher nur 40 Millio-nen Euro zusätzlich vorgesehen. Ich finde, wir müssen inder Entwicklungspolitik einen deutlich stärkeren Akzentauf die Fluchtursachen setzen .
Meine Damen und Herren, mit ihrer großartigen Hilfs-bereitschaft sind die Menschen in Deutschland in denvergangenen Wochen und Monaten bei der Flüchtlings-aufnahme quasi in Vorleistung gegangen . Jetzt müssenauch die notwendigen staatlichen Entscheidungen getrof-fen werden . Wir müssen zeigen, dass der Staat die Lageim Griff hat und fähig ist, die Aufnahme der Flüchtlingeso zu gestalten, dass der soziale Zusammenhalt unsererGesellschaft nicht verloren geht .Deshalb hat die Koalition am vergangenen Wochen-ende ein kräftiges Paket beschlossen . Wir werden dieUnterbringung der Flüchtlinge verbessern und die Asyl-verfahren beschleunigen . Unser Ziel ist es, dass nur nochFlüchtlinge mit Bleibeperspektive auf die Kommunenverteilt werden, damit sich diese von Anfang an voll undganz auf die Integration konzentrieren können .Wir werden neue Erstaufnahmeplätze finanzieren unddas Abweichen von Baustandards erlauben, um jetztschnell handeln zu können . Am wichtigsten ist natürlich,dass wir die Länder und Kommunen mit 3 MilliardenEuro unterstützen . Denn wir dürfen die Sorgen der Men-schen, die hier leben, nicht vergessen . Die Kommunenmüssen trotz der Aufnahme von Flüchtlingen handlungs-fähig bleiben . Das ist der entscheidende Faktor für densozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft .
Wir haben am Sonntag auch entschieden, dass unserBildungssystem und der Arbeitsmarkt für die Flüchtlin-ge schnell geöffnet werden müssen . Das ist von großerBedeutung . Wir dürfen die Fehler nicht wiederholen –darauf hat die Bundeskanzlerin auch hingewiesen –, diewir bei den Gastarbeitern gemacht haben . Bei ihnen ha-ben wir auf schnelle Integration verzichtet in dem Glau-ben, sie würden uns bald wieder verlassen . Das war einschwerer, ein folgenreicher Irrtum .Auch die meisten Flüchtlinge aus Kriegsgebieten wer-den auf Dauer bei uns bleiben . Das dürfen wir nicht nurals Belastung sehen . Das müssen wir auch begreifen alseine große Chance für eine alternde Gesellschaft, jungeFachkräfte zu gewinnen .
Wenn wir es dieses Mal besser machen, dann könnennicht nur die Flüchtlinge von Deutschland, dann kannauch Deutschland von den Flüchtlingen profitieren.
Deshalb müssen wir jetzt unsere volle Konzentrationrichten auf Kita, Schule, Spracherwerb, Ausbildung, Be-schäftigung . Bei den Flüchtlingen, die ohne Ausbildungzu uns kommen, ist es genauso wie bei denen, die bei unsleben und keine Ausbildung haben . Ich bin davon über-zeugt, dass sich jeder Euro, den wir heute in Ausbildungund Qualifizierung stecken, in Zukunft um ein Vielfachesauszahlen wird . Die Frage, wie lebenswert Deutschlandin 10 oder in 20 Jahren sein wird, hängt davon ab, wie wirheute mit den Flüchtlingen umgehen, wie wir sie aufneh-men und wie wir sie integrieren .
Zur Wahrheit dieses Sommers gehört aber auch, dassnicht nur Kriegsflüchtlinge und politisch Verfolgte zuuns kommen, sondern auch viele Menschen, insbeson-dere aus dem Balkan, die Arbeit und ein besseres Lebensuchen . Dafür habe ich ganz viel Verständnis . Aber dieseLeute haben keine Chance, bei uns Asyl zu bekommen .Deshalb, finde ich, ist es auch ein Gebot der Fairness,ihnen das ganz klar zu sagen, damit sie nicht weiterhinimmer wieder ihre gesamten Ersparnisse den SchleusernThomas Oppermann
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anvertrauen . Deswegen ist es auch richtig, dass wir überdie Anträge aus diesen Ländern in einem vereinfachtenVerfahren entscheiden .Bei der Frage der sicheren Herkunftsländer gehtes nicht darum, die Flüchtlinge in gute und schlechteFlüchtlinge einzuteilen, sondern es geht um unterschied-liche Grade der Schutzbedürftigkeit . Weil wir nicht alleaufnehmen können, müssen wir uns auf die besondersSchutzbedürftigen konzentrieren .
Die richtige Antwort ist deshalb ein Einwanderungsge-setz,
ein Einwanderungsgesetz, mit dem wir die Nachfragenach gut ausgebildeten Arbeitnehmern steuern können .Ich bin froh, dass wir uns immerhin darauf verständigthaben, in begrenzter Zahl Arbeitsvisa für qualifizierteArbeitnehmer aus dem Westbalkan zu vergeben, die inDeutschland einen tarifgebundenen Arbeits- oder Ausbil-dungsplatz haben . Auch wenn es in der Koalition nochkeine Einigung über ein Einwanderungsgesetz gibt – dasist ein erster Schritt in die richtige Richtung .
Sosehr uns die Hilfsbereitschaft in unserem Land inden letzten Wochen beeindruckt hat, so besorgt machtuns die rechte Hetze, die sich derzeit in den Kommunenund in den sozialen Medien ausbreitet . Das ist unerträg-lich, und dagegen müssen wir mit aller rechtsstaatlichgebotenen Härte vorgehen. Ich finde gut, dass HeikoMaas, unser Justizminister, jetzt auch die Hetzparolen imInternet zum Thema gemacht hat . Facebook und Twittermüssen stärker prüfen, was gelöscht werden muss .
Das Internet darf nicht zu einem Ort des Hasses und derHetze gegen Ausländer werden .
Die Chancen, rechtsextreme Gewalttäter in Deutsch-land politisch zu isolieren, sind heute größer als vor20 Jahren . Die ganz überwiegende Mehrheit der Deut-schen empfindet eine tiefe Abscheu gegen Menschen,die Brandsätze in Flüchtlingswohnheime werfen . Vieledieser Gewaltakte werden von der NPD organisiert odergefördert . Das sollte sorgfältig dokumentiert werden, da-mit bei den anstehenden Verhandlungen vor dem Bun-desverfassungsgericht keine falschen Vorstellungen überden gewalttätigen Charakter dieser Partei existieren .
Aber es genügt natürlich nicht, nur die NPD zu ver-bieten . Jeder einzelne von uns muss sich den Rechts-extremen entgegenstellen, so wie es der Bürgermeistervon Heidenau gemacht hat, als der rechte Mob durch dieStraßen seiner Stadt zog und Polizei und Asylbewerberbedrohte . Das ist ein vorbildliches Verhalten . Solche mu-tigen Menschen wurden in Sachsen viel zu lange allein-gelassen . Ich hoffe, das ändert sich jetzt .
Auch wenn die gesamte öffentliche Aufmerksamkeitim Augenblick der Flüchtlingsfrage gilt, dürfen wir da-rüber die anderen politischen Fragen nicht vergessen .Deutschland ist ein Land mit stabilem Wachstum . Wirhaben die niedrigste Arbeitslosenquote und den höchstenStand der Beschäftigung seit der deutschen Einheit; wirhaben wachsende Steuereinnahmen . Aber die Börsentur-bulenzen in China zeigen, wie schnell die internationalekonjunkturelle Lage sich ändern und wie schnell damitauch die deutsche Exportwirtschaft unter Druck geratenkann . Deshalb ist es gut, dass wir in dieser Koalition mitdem Mindestlohn, mit den hohen Tarifabschlüssen
und mit Investitionen eine starke Binnenwirtschaft alszweites wirtschaftliches Standbein geschaffen haben .Der Export bleibt natürlich für unser Land eminent wich-tig; aber wir haben jetzt durch wachsende Kaufkraft einestarke Binnenwirtschaft, und das hilft uns sehr .Mit unserem Haushaltsentwurf für 2016 zeigen wir, dassdiese Koalition die Infrastruktur unseres Landes weiterim Auge hat . Wir investieren in Verkehrswege, in schnel-le Netze, in unsere Kommunen, in die Sicherheit, und ichhoffe, dass sich die Bundesregierung bei ihrer Klausurin Meseberg auch darauf verständigen kann, dass wirdie Finanzierung von jungen, wachsenden Unternehmenverbessern . Berlin ist inzwischen bei Unternehmensgrün-dungen dynamischer als London . Aber mit der Gründungist es nicht getan . Die Unternehmen brauchen auch Kapi-tal, um sich zu größeren mittelständischen Unternehmenentwickeln zu können . Das Wachstum neuer Ideen istvon entscheidender Bedeutung für unsere Wettbewerbs-fähigkeit, und deshalb müssen wir dringend etwas tun,um diese Start-ups auch in späteren Phasen gut mit Ka-pital auszustatten .
Der Haushaltsentwurf 2016 ist der dritte ausgegliche-ne Haushalt in Folge . Wir sind zuversichtlich, dass dasauch am Ende des Jahres so bleibt . Das zeigt, wie richtiges war, in guten Jahren für einen ausgeglichenen Haus-halt zu sorgen . Damit sind wir heute in der Lage, zusätz-liche Herausforderungen wie die Ankunft der Flüchtlingeohne neue Schulden zu bewältigen . Das schafft Spielräu-me, die wir nutzen können . Wirtschaftliche Stärke schafftKraft für Solidarität. Ich finde, diesen Weg sollten wirweitergehen . Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten .
Volker Kauder ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion .
Thomas Oppermann
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Die Haushaltsplanberatungen für den Haushalt 2016 ste-hen ganz im Zeichen der vielleicht größten Herausforde-rungen, die wir im Nachkriegsdeutschland zu bewältigenhaben. Der Bundesfinanzminister hat gestern darauf hin-gewiesen, dass dies nun die Priorität der nächsten Zeitist, der wir uns zuwenden müssen . In der Vergangenheitwurde er manchmal kritisiert: Er sehe nur die schwarzeNull, er sehe nur Haushaltskonsolidierung . Aber heute,auch in dieser Debatte, nehme ich wahr, dass alle frohsind, dass wir in dieser Koalition die Voraussetzungendafür geschaffen haben, jetzt nicht kleinkariert über dasnotwendige Geld reden zu müssen, sondern das Geld zuhaben, das notwendig ist, und zwar als Ergebnis einerhervorragenden Haushalts- und auch Wirtschaftspolitik .
Gestern habe ich die eine oder andere Stimme gehört,die sagte, das sei das Ergebnis einer gut laufenden Wirt-schaft . Dazu muss ich sagen: Ja, wir haben eine stabileKonjunktur, und die Wirtschaft ist stark . Aber: Wenn wireinen Blick in die Welt werfen, dann sehen wir: Wenndie Rahmenbedingungen nicht stimmen, dann kann dieWirtschaft auch keine richtigen Ergebnisse produzieren .Wenn daher der Satz fällt, ein Teil des Ergebnisses, daswir haben, sei bedingt durch eine florierende Wirtschaft,dann möchte ich, dass wir auch in Zukunft und geradejetzt, da die Herausforderungen groß sind und wo esnicht nur eine gesamtpolitische, sondern eine gesamt-gesellschaftliche Aufgabe gibt, zu der die Wirtschaft ge-hört, alles dafür tun, dass diese Wirtschaft entsprechendeRahmenbedingungen hat und dass sie weiter so erfolg-reich arbeiten kann .
Das heißt, dass es nun ernst wird mit dem von uns auf denWeg gebrachten Bürokratieabbau . Da sollten wir jetzt dieChance nutzen, die diese Herausforderung bietet, undüberlegen, ob alles, was wir in der Vergangenheit an Bü-rokratie aufgebaut haben, tatsächlich notwendig ist . Beiden jetzt anstehenden Gesetzesvorhaben – es sind ja eini-ge bereits angekündigt: aus dem Arbeitsministerium, ausanderen Ministerien – werde ich schon noch mal daraufhinweisen: Wir haben den Grundsatz mit dem schönen,neuen deutschen Wort „One in, one out“ beschlossen .Wenn ein neues Gesetz mehr Bürokratie bringt, muss siean anderer Stelle abgebaut werden . Da bin ich mal sehrgespannt, liebe Kolleginnen und Kollegen in der GroßenKoalition, ob wir dazu die Kraft haben . Wir müssen siehaben, damit der Satz auch in Zukunft stimmt: Jawohl, esist ein Gesamtergebnis – gute Haushaltspolitik und einefunktionierende Wirtschaft –, das uns zum Erfolg bringtund uns jetzt die Aufgaben lösen lässt, die wir haben .
Also: Rahmenbedingungen für die Wirtschaft zu schaf-fen, bleibt ein zentrales Thema .Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich habe schonin meiner letzten Rede darauf hingewiesen: Das, wasGriechenland anbelangt, ist schon eine Aufgabe, aberdas, was bei der Flüchtlingsthematik auf uns zukommt,könnte eine noch wesentlich größere Herausforderungwerden . – Dies trifft jetzt ja auch zu . Aber wir könnenes schaffen . Ja, ich bin sicher, dass wir dies in der Gro-ßen Koalition zusammen mit den Bundesländern und derOpposition – ich finde, bei den ganz großen Fragen solltesich auch eine Opposition nicht verweigern, wenn es umeine gesamtpolitische, gesamtgesellschaftliche Aufgabegeht – schaffen können .Ich finde, es müssen ein paar zentrale Botschaften ge-sagt werden:Erstens . Die Flüchtlinge, die zu uns kommen, einenAsylgrund haben und damit über eine längere Zeit in un-serem Land bleiben werden, müssen nicht nur menschen-würdig in der Erstaufnahmeeinrichtung untergebrachtwerden, sondern es muss auch alles getan werden, damitsie sehr schnell den Weg mitten in unsere Gesellschaftund auf den Arbeitsmarkt schaffen . Das ist die große He-rausforderung .
Die zweite Botschaft . Thomas Oppermann hat es auchklar gesagt: Man kann ja aus persönlichen Gründen ver-stehen, wenn der eine oder andere sagt: Ich suche mir einLand, in dem ich mit meiner Familie größere Chancenhabe als in meiner Heimat . – Ich weiß, wovon ich rede:Vor über 100 Jahren sind die Menschen aus der Schwäbi-schen Alb nach Amerika ausgewandert, weil die Schollesie nicht mehr ernährt hat . Aber es ist auch klar, dass wirsagen müssen: Diejenigen, die keinen Asylgrund habenund trotzdem kommen, müssen so schnell als möglichwieder in ihre Heimat zurückkehren . – Diese Botschaftmuss klar sein, und da darf man auch keine Kompromis-se machen . Um diejenigen, die einen Grund haben, zubleiben, kümmern wir uns mit ganzer Kraft, und die an-deren können eben nicht in diesem Land bleiben . –
Das ist eine weitere Botschaft .Drittens . Europa steht mit dieser Aufgabe vor einernoch größeren Herausforderung als wir in Deutschland .Denn da geht es nicht nur darum, ob Europa jetzt eineAufgabe lösen kann, sondern es geht ganz konkret da-rum, ob wir alle den Eindruck gewinnen, dass Europanicht nur stark ist, wenn es um kleine Fragen geht, son-dern dass Europa auch gerade dann stark ist, wenn es umgroße Herausforderungen geht .
Ich kann nicht erkennen, dass sich bisher in Europa etwassignifikant geändert hat. Jede kleinkarierte Frage, ob nunetwas in einem Nationalstaat in Ordnung ist oder nicht,wird von den Kommissaren verfolgt und vor Gericht ge-bracht. Ich finde aber, dass es jetzt nicht um die Fragegeht, ob da ein bisschen mehr oder weniger an Bürokra-tie oder an Konsequenzen zu fordern ist, sondern darum,dass wir uns alle miteinander sagen: Dieses Europa istnicht nur die größte Friedenssicherung, sondern dieses
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Europa ist auch in der Lage, größte Herausforderungenzu bewältigen, für die der eine oder andere Nationalstaatvielleicht tatsächlich zu klein ist .
Und darum sage ich, dass es bei Europa um die Fragegeht, ob die Menschen den Eindruck gewinnen: Wenn eswirklich ernst und schwierig wird, dann ist dieses Europatatsächlich da .Viertens . Wir alle erkennen in diesen Tagen, dass au-ßenpolitische Konflikte und außenpolitische Fragen, diewir als weit weg betrachtet haben, für die wir uns nichtzuständig fühlten, auf einmal ganz nah an uns heranrü-cken und wir uns deshalb mehr um diese Fragen küm-mern müssen . – Um diese vier Botschaften geht es in dernächsten Zeit .Lassen Sie mich auf die erste Botschaft zurückkom-men: für die da zu sein, die ein Bleiberecht haben undüber längere Zeit in Deutschland bleiben werden . Hiergeht es darum, dass wir die notwendigen Aufgaben ge-meinsam lösen, und zwar jeder die Aufgabe, die er hat .Wir haben uns in der Großen Koalition zunächst einmaldarauf verständigt, darüber zu sprechen: Was muss getanwerden? Wer muss es tun? Welche Instrumente brauchenwir? Erst dann reden wir über das Geld . Ich muss schonsagen: Vor diesem Hintergrund kann ich manche Ein-lassung aus dem einen oder anderen Bundesland nichtnachvollziehen . Wir wollen uns doch auf dem Flücht-lingsgipfel von Bund und Ländern darüber verständigen,welche Aufgaben von wem erledigt werden müssen .Aber bevor darüber überhaupt eine Einigung erzielt ist,kommen schon einige und sagen: Die 3 Milliarden Euroreichen nicht aus . – Ja, woher wollen die das denn wis-sen? Wir müssen uns doch erst darüber verständigen, wasgemeinsam zu tun ist . Im Übrigen: Nicht nur der Bundhat Steuermehreinnahmen, auch die Länder und Kom-munen . Wenn es heißt: „Wir alle müssen uns konzentrie-ren“, dann gilt das nicht nur für den Bund, sondern auchfür Länder und Kommunen .
Ich bin mir sicher, dass wir darüber in den nächsten Ta-gen eine Verständigung erzielen werden .Frau Göring-Eckardt, Sie haben darauf hingewiesen,dass alles viel schneller gehen müsse .
Da kann ich nur sagen: Ihre Partei ist in den vergangenenJahren nicht gerade als diejenige Partei aufgefallen, diealles viel schneller gemacht hat . Sie haben davon gespro-chen, dass wir einen Investitionsstau haben .
Das stimmt; das wissen wir . Deswegen wollen wir mehrGeld für Investitionen ausgeben, die notwendig sind, umunseren Wirtschaftsstandort voranzubringen . Aber ichkann mich noch sehr gut erinnern, dass Investitionen vonIhrer Partei geradezu aufgehalten worden sind . Alle Plät-ze für die Schnecke, und der Rest bleibt auf der Strecke –so hieß es doch immer, wenn wir über den Straßenbaugesprochen haben .
Deswegen bin ich froh, dass Sie jetzt von diesem Pultaus anmahnen, dass Investitionen schneller vorangetrie-ben werden müssen . Richtig! Ich hoffe, dass Sie bei denPlanungen für den Straßenbau und den Leitungsbau fürschnelles Internet mit mir an der Spitze stehen,
und zwar nicht, um die Proteste zu unterstützen, sonderndie Investitionen . Herzlichen Dank für diese Bereitschaft .
Herr Kollege Kauder, die Kollegin Hänsel brennt dar-
auf, Ihnen eine Frage zu stellen .
Nein .
Nein . – Gut . Dann haben wir das geklärt .
Ich möchte darauf hinweisen, dass wir, um die anste-henden Aufgaben zu bewältigen, nicht nur Bürokratieabbauen, sondern auch Standards senken müssen . Als ichvor 35 Jahren im Landratsamt tätig war, stand ich vor ei-ner großen Aufgabe, als Hunderttausende von Menschenzu uns gekommen sind . Auch damals mussten konkreteAufgaben gelöst werden . Wir haben nicht danach ge-fragt, ob jemand hundertprozentig qualifiziert ist, etwadurch ein pädagogisches Studium, um Kinder zu betreu-en oder Sprachkurse durchzuführen . Gestern Abend habeich gehört, wir müssten schnellstens 20 000, 30 000 Leh-rer ausbilden . Ich kann nur sagen: So lange, bis dieseLehrer ausgebildet sind, können die Menschen, die jetztHilfe brauchen, nicht warten . Menschen, die bisher qua-lifizierten Sprachunterricht an einer Volkshochschulegegeben haben, können doch auch Deutschunterricht inIntegrationskursen geben . Sie müssen kein akademischesStudium absolviert haben .
Ich bitte darum, dass wir die Standards auch in diesemBereich reduzieren; denn wir brauchen jetzt eine großeKraftanstrengung .Volker Kauder
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Herr Kollege Oppermann, ja, wenn es um die Stär-kung der Wirtschaft geht, muss auch die Frage „Wo be-komme ich qualifizierte Arbeitskräfte her?“ beantwortetwerden . Jetzt muss ich aber einmal Folgendes sagen:Ich kann nicht verstehen, wenn jetzt, da in diesem Jahr800 000 Menschen erwartet werden – im letzten Jahrsind 400 000 gekommen –, so getan wird, als seien unterdiesen 800 000 Menschen keine 10 000, 20 000, 30 000oder 40 000 Menschen, die in den Arbeitsmarkt integriertwerden können . Bevor wir uns lange Diskussionen undKraftanstrengungen leisten, um auf der Welt Arbeitskräf-te zu suchen, ist es zuvörderst unsere Pflicht und Aufga-be, uns darum zu kümmern, dass von den jungen Men-schen, die jetzt in unser Land gekommen sind, so vielewie möglich in Arbeit kommen und qualifiziert werden.Das ist die Aufgabe der Stunde . Darüber sind wir uns ei-nig .
Sicher sind wir uns auch darüber einig, dass noch eineandere Aufgabe angepackt werden muss, die ich seit Jah-ren anmahne und bei der es im Ergebnis nicht zu Ver-besserungen gekommen ist – und dafür ist, um es sehrvorsichtig zu formulieren, nicht der Bund zuständig . Ichfinde, dass wir es nicht hinnehmen können, dass Jahr fürJahr etwa 70 000 junge Menschen aus unseren Schulenohne Abschluss in die Gesellschaft entlassen werden .
Jeder weiß: Wer bei uns keinen qualifizierten Abschlusshat, hat bei uns kaum eine Chance . Das können Sie inThüringen ja jetzt besser machen .
Deswegen kann ich nur sagen: Bevor wir über Einwan-derung reden, sollten wir über diese 70 000 und über dieTausende, die jetzt in unser Land gekommen sind, reden .Sie brauchen eine Chance, um auf eigenen Füßen stehenzu können .
Wenn wir darüber reden, wer einen Beitrag leistenkann, bin ich immer einigermaßen erstaunt darüber, dassdie reichen arabischen Länder bisher nur einen geringenBeitrag leisten .
In einem Filmbericht gestern Abend sagten Muslime inÄgypten: Gott sei Dank gibt es das christliche Deutsch-land; denn von unseren Glaubensbrüdern in der arabi-schen Welt werden wir nicht aufgenommen . – Dazu mussich sagen: Da müssen sich die islamischen Staaten ein-mal etwas überlegen . Das ist kein gutes Bild in der Welt .Wenn ihre Glaubensbrüder sagen: „Außer dem christ-lichen Europa hilft uns niemand in dieser Welt“, dannmuss in der arabischen Welt einmal darüber nachgedachtwerden, ob das der richtige Weg ist .
Ich nehme die Meldung nicht besonders ernst; trotzdemmöchte ich darauf hinweisen, damit nicht etwas Falschesauf den Weg gebracht wird: Ein Hilfsangebot aus der ara-bischen Welt, das da lautet: „Wir bauen in Deutschland200 Moscheen“, können wir als Hilfe nicht akzeptieren .
Wir brauchen schon ein bisschen mehr als so etwas .Eine Ausnahme muss man allerdings machen: Jor-danien leistet einen großartigen Beitrag . Wir hatten inder letzten Woche den jordanischen Außenminister beiuns zu Gast . Er hat gesagt, was Jordanien trägt . DiesesLand mit 6 Millionen Einwohnern hat dauerhaft bereits2,5 Millionen Palästinenser im Land und nimmt jetztnoch 1,5 bis 2 Millionen Flüchtlinge, vor allem aus Syri-en, auf . Das ist ein großartiges Beispiel dafür, dass auchein kleines Land – zwei Drittel des Landes sind Wüste –in der Lage ist, Flüchtlinge aufzunehmen .
Jetzt komme ich zu einem wichtigen Punkt . Als ISIS letz-tes Jahr im August die große Stadt Mosul gestürmt undeingenommen hat, als die Menschen zu Hunderttausen-den geflohen sind, als sie vertrieben wurden, vor allemChristen und Jesiden – sie sind nach Kurdistan, insbe-sondere nach Erbil und Dohuk, gegangen –, war ich indieser Region . Ich habe Tausende von Menschen in derkatholischen Kirche und noch viel mehr in den Regionenvor Dohuk gesehen . Diese Menschen – Sie saßen dortin Zelten bei Hitze – haben gesagt, dass sie ganz genauwissen, dass sie in absehbarer Zeit nicht in ihre Heimatzurückkönnen . Sie haben gesagt, sie wünschten sich sosehr, dass sie eines Tages wieder in ihre Heimat können .Da war nicht pauschal die Rede von „Wir hauen alle ab“,sondern eher: Vielleicht können wir in unsere Dörferzurück . – Viele Fragen wurden diskutiert, auch Flugver-botszonen . Aber sie haben auch gesagt – ich habe es hierim Deutschen Bundestag gesagt; das war ein schwerfälli-ger Gang –: Wenn wir in unseren Flüchtlingslagern keinePerspektive für ein einigermaßen angemessenes Lebensehen, dann machen wir uns auf den Weg .Ich war in Jordanien in dem großen Flüchtlingslager,in dem schon einige andere Kolleginnen und Kollegenwaren . Dort sind 80 000 bis 100 000 Menschen, vieleaus dem Süden Syriens, einfache Bauern, die sagen: Wirkönnen mit unserer Qualifikation in Europa gar nicht vielanfangen . Wir möchten wieder zurück . Wir warten hierjetzt einmal . – Aber wenn die erkennen, dass die Versor-gung von Tag zu Tag schlechter wird, dann werden sienicht dort bleiben . Deswegen kann ich nur sagen: Flücht-lingspolitik, die wir in unserem Land betreiben, kannsich nicht darin erschöpfen, denen zu helfen, die da sind .Vielmehr müssen wir alle, die Weltgemeinschaft und Eu-ropa, stärker als bisher dafür sorgen, dass die Menschen,die zu Millionen in den Lagern sitzen, eine Perspektivehaben und sich nicht auch noch auf den Weg machen,liebe Kolleginnen und Kollegen . Auch dafür muss Geldzur Verfügung gestellt werden .
Volker Kauder
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In wenigen Tagen, Frau Bundeskanzlerin, tagt die Voll-versammlung der UNO in New York . Vielleicht wäre esauch einmal ein Thema, sich damit zu beschäftigen, dassdie Weltgemeinschaft hier Unterstützung leistet .Meine sehr verehrten Damen und Herren, natürlichmüssen wir uns auch darum kümmern – deswegen wirdAußenpolitik so wichtig –, dass die Bedingungen in ein-zelnen Staaten besser werden. Ich finde, wir dürfen nichtmehr schweigen, wenn in Ländern, denen wir Entwick-lungshilfe geben, die Bedingungen so miserabel sind,dass die Menschen das Land verlassen . Da müssen wirsagen: Jede Regierung, jeder Staatschef eines Landes,aus dem die Menschen weggehen, weil sie keine Pers-pektive haben, muss sich dafür schämen, dass das Landin einem solchen Zustand ist . Das muss einmal gesagtwerden .
Deswegen glaube ich schon, dass wir jetzt nicht nur inDeutschland, sondern in der ganzen Welt vor einer gro-ßen Herausforderung stehen . Ich bin sicher, dass wir siemeistern werden .Zur Zeit der letzten Großen Koalition haben in einerPhase wie heute viele gefragt: Was macht ihr eigentlichnoch in den nächsten zwei Jahren? Jetzt ist Halbzeit, undihr habt den Koalitionsvertrag abgearbeitet . – Als wennsich eine Regierungskoalition ausschließlich darauf ver-ständigt, einen Koalitionsvertrag abzuarbeiten! Währendder letzten Großen Koalition kam die Finanz- und Wirt-schaftskrise, und wir mussten handeln und haben, ohnedass es im Koalitionsvertrag stand, gemacht, was richtigwar und Deutschland wieder auf den Weg gebracht hat .Jetzt haben wir wieder eine Aufgabe, die wir uns nichtgesucht haben, aber annehmen . Ich habe so manchen Ko-alitionsausschuss erlebt, nicht nur in der letzten GroßenKoalition, sondern auch in der letzten kleinen Koalition,auch schon in dieser Großen Koalition, und ich muss sa-gen: Selten waren wir uns so einig wie am vergangenenWochenende, was gemacht werden muss . Wenn dies inZukunft so weitergeht, Thomas, dann bin ich ganz sicher,dass wir sagen können: Wir schaffen es .
Vielen Dank . – Die Kollegin Hänsel hat jetzt das Wort
zu einer Kurzintervention .
Danke schön, Frau Präsidentin . – Herr Kauder, ich
wollte doch noch einmal bei Ihnen nachfragen, weil Sie
im Rahmen der Flüchtlingsdebatte gerade als vierte Er-
kenntnis die Tatsache genannt haben, dass viele außen-
politische Konflikte, mit denen wir nichts zu tun haben,
ganz plötzlich für uns hier ein Problem werden . Auch die
Kanzlerin hat ja gesagt, dass die Flüchtlinge jetzt eine
innenpolitische Herausforderung sind .
Das wundert mich jetzt aber etwas, da gerade Sie aus
einem Wahlkreis kommen, in dem eine der größten Rüs-
tungsschmieden Deutschlands angesiedelt ist, nämlich
Heckler & Koch .
Sie werden ja als Patron von Heckler & Koch genannt,
und die CDU in Ihrem Wahlkreis hat Tausende von Euro
Spendengelder dieser Firma erhalten . Auch die gesamte
Bodenseeregion strotzt nur so vor Rüstungsfirmen; der
Wohlstand dort baut vor allem auf Rüstungsproduktion
und Exporten auf . Wie kommen Sie dann eigentlich zu
einer solchen Aussage?
Ich möchte nachfragen, ob es eigentlich bei der CDU
einen Erkenntnisfortschritt gibt, dass wir so nicht wei-
termachen können. Es gibt fast keinen Konflikt auf der
Welt, bei dem nicht deutsche Waffen im Spiel sind .
Auch Heckler & Koch, die Kleinwaffen produzieren, tra-
gen weltweit dazu bei, dass Hunderttausende Menschen
getötet werden . Die tödlichsten Waffen der Welt sind die
Kleinwaffen . Ich hätte von Ihnen gerne einmal eine Ant-
wort darauf, ob Sie so weitermachen wollen wie bisher .
Nun noch zu Ihren Glaubensbrüdern . Sie haben er-
wähnt, dass die Nachbarregionen keine Flüchtlinge
aufnehmen wollen . Ich nenne hier vor allem Ihre Waf-
fenbrüder in Saudi-Arabien . Saudi-Arabien ist ein Land,
das so gut wie überhaupt keine Flüchtlinge aufnimmt, im
Gegensatz zu den anderen arabischen Ländern . Ich hätte
von Ihnen gerne einen Kommentar dazu .
[CDU/CSU]: Verhaltener Beifall!)
Vielen Dank . – Nächste Rednerin ist die Kollegin
Bettina Hagedorn, SPD-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lieber Herr Kauder, ich bin Ihnen ganz besonders dank-bar dafür, dass Sie am Ende Ihrer Rede noch einmal sehrnachdrücklich und deutlich darauf hingewiesen haben,dass es vor allen Dingen auch darum geht, mit noch mehrNachdruck Fluchtursachen zu bekämpfen . Dem will ichVolker Kauder
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mich – bestimmt mit dem ganzen Haus – anschließen .Aber weil Frau Göring-Eckardt vorhin auch davon ge-sprochen hat, wie stolz sie und wir alle auf die Menschenin Deutschland sind für das, was sie aktuell an Solidaritätleisten – das treibt einem als Politiker manchmal fast dieSchamröte ins Gesicht –, muss ich, um bei der Wahrheitzu bleiben, sagen: Das ist natürlich bei der Bekämpfungder Fluchtursachen nicht anders . Denn wir haben es beidem Thema „Bekämpfung der Fluchtursachen“ ja nichtmit Neuigkeiten zu tun . Wir haben seit Jahren kein Er-kenntnisdefizit, sondern ein Handlungsdefizit,
und zwar in Europa, weltweit und auch in Deutschland .Unser Fraktionsvorsitzender, Thomas Oppermann, hatdarauf aufmerksam gemacht, dass der elementare Mitte-laufwuchs im Entwicklungshilfeministerium – ich nen-ne es jetzt einmal so verkürzt – im Jahr 2016 bisher nurzu einem Bruchteil zur Bekämpfung der Fluchtursacheneingesetzt werden soll . Da muss man sagen: Hier müssenwir unser Handeln verändern und dürfen nicht nur darü-ber reden .
Ich will einen kurzen Blick 35 Jahre zurück wer-fen . Damals hat Willy Brandt als Vorsitzender derNord-Süd-Kommission einen berühmten Bericht vorge-legt . Er hat mit seiner Kommission – leider – sehr ge-nau prognostiziert, wie reich die Nordhalbkugel werdenwird, wie arm die Südhalbkugel werden wird, was das anweiteren Konflikten, an Massenelend, an Hunger, an Notund damit natürlich auch an Flüchtlingsströmen mit sichbringen wird . All das ist heute längst eingetroffen . EinErkenntnisdefizit gab es also nicht, auch nicht im Deut-schen Bundestag .Für alle, die damals noch nicht dabei waren, sage ich:Ich bin im April 2007 mit Kolleginnen und Kollegen desHaushaltsausschusses, und zwar aus allen Fraktionen,in Spanien und Marokko gewesen . Der Titel der Reiselautete: „Flüchtlingsproblematik aus Afrika im Mittel-meerraum“ . Das war das Thema, mit dem wir uns damalsbeschäftigt haben . Ich möchte jetzt aus einem Papier zi-tieren, das wir 2007 vom deutschen Botschafter vorge-legt bekommen haben . Darin heißt es:Die Kanarischen Inseln sehen sich vor allem in denletzten fünf Jahren– also wohlgemerkt: seit 2002 –mit einem zuvor nie erlebten Ausmaß an illegalerEinwanderung auf dem Seeweg vom Nachbarkon-tinent Afrika konfrontiert . Einen Höhepunkt er-reichten die Einwanderungsströme im Jahr 2006 .Fast 32 000 Menschen haben in kaum seetauglichenBooten und den damit verbundenen Tragödien aufhoher See mit schätzungsweise 9 500 Toten den Ar-chipel erreicht .Das war 2007 . Wenn man diesen Bericht liest, dann er-schüttert einen schon, dass all das, was dort steht und wasauch wir erfahren haben, so viel mit dem zu tun hat, waswir heute immer noch erleben .Herr Juncker stellte gerade einen Aktionsplan fürFlüchtlinge auf europäischer Ebene vor . Er hat vorhingesagt: Flüchtlinge lassen sich nicht durch Grenzen undZäune aufhalten . – Das stimmt . Es ist trotzdem so, dassdie Europäische Union damals, 2006, angesichts der Zahlvon fast 10 000 Toten auf der Flucht nach Europa vorallen Dingen eines gemacht hat: Sie hat Frontex aufge-baut . Mit den Konsequenzen haben wir uns beschäftigt .Der Aufbau von Frontex hat vor allen Dingen dazu ge-führt, dass die Fluchtwege weiter geworden sind, dasssie gefährlicher geworden sind, dass es noch mehr Totegegeben hat . Die Zahl derer, die sich in ihren Ländernvoller Verzweiflung in Boote gesetzt und sich auf einegefährliche Reise begeben haben, wurde dadurch nichteinmal ansatzweise gesenkt . Vor diesem Hintergrund –wir wissen das alles ja nicht erst seit vorgestern – ist esunglaublich wichtig, dass dem, was hier in vielen Redenbenannt worden ist, nämlich Bekämpfung der Fluchtur-sachen, endlich Taten folgen .
Ich will mit Blick auf die erwähnte Reise noch daranerinnern: Wir waren auch in Flüchtlingslagern – einigeKollegen, die damals mit dabei waren, gehören demDeutschen Bundestag noch an -; wir waren übrigens dieersten Abgeordneten aus einem europäischen Land, dieüberhaupt dort waren . Wir waren auch in Melilla, einerEnklave in Nordafrika, wie viele von Ihnen wissen . Werkann sich eigentlich noch an die Bilder von damals erin-nern? Es war 2005, als 2 000 Menschen über die 12 Ki-lometer lange Grenze in Melilla, die schon damals durcheinen Zaun gesichert war, geklettert sind; wir haben dieBilder in den Nachrichten gesehen . Es hat dabei vieleTodesopfer gegeben . Was war die Reaktion 2006? DerZaun wurde auf 6 Meter erhöht . Geändert hat sich da-durch nichts .
Ich möchte jetzt auf das eigentliche Thema zu spre-chen kommen . Dieser Einstieg war allerdings, denke ich,wichtig, weil es natürlich auch darum geht, was wir hierin Deutschland machen . Unser Handeln muss in eineinternationale und vor allen Dingen in eine europäischeVerantwortung eingebettet werden . Wie glaubwürdig wirim Hinblick auf die Idee Europa in Zukunft weltweit da-stehen werden, wird sich daran messen lassen müssen,wie wir als Europäer mit dieser Herausforderung fertig-werden .Es war im Jahr 2000, nach einem Brandanschlag aufdie Düsseldorfer Synagoge, als Gerhard Schröder das Zi-tat geprägt hat:Wir brauchen einen Aufstand der Anständigen,wegschauen ist nicht mehr erlaubt .Es war Sigmar Gabriel, der 2015 bei der SPD-Veranstal-tung „Verantwortungsvolle Flüchtlingspolitik – Jetzt!“daraus folgenden Ausspruch gemacht hat:Bettina Hagedorn
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Den Aufstand der Anständigen zu fordern, nützt nurdann was, wenn der Anstand der Zuständigen sicht-bar wird .Darum geht es jetzt in meiner Rede .Es ist schon viel darüber gesprochen worden, was wirin Deutschland tun wollen und was wir mit diesem Haus-halt nach den Haushaltsberatungen bewältigen werden .Ob die 6 Milliarden Euro, die in der letzten Woche ver-einbart worden sind, letzten Endes ausreichen werden,kann heute noch niemand sagen . Ich danke aber allen, diesich am Sonntagabend getroffen haben, weil von diesemTreffen das starke Signal ausgegangen ist, dass all dieMenschen, die sich in Deutschland für die Flüchtlingeeinsetzen, ob hauptamtlich oder ehrenamtlich, nicht al-leingelassen werden und dass wir alles in unserer MachtStehende tun werden – darin sind wir uns einig –, um unsdiesen Aufgaben zu stellen. Am 24. September findet derFlüchtlingsgipfel statt . Danach werden wir wissen – Siehaben darauf hingewiesen –, ob das Geld reicht .Fakt ist – ich finde, das muss man noch einmal sa-gen –, dass erst diese Große Koalition ein neues Asyl-bewerberleistungsgesetz eingeführt hat . Bis dahin warenausschließlich die Länder und Kommunen in den erstenvier Jahren für die Leistungen nach dem Asylbewerber-leistungsgesetz zuständig . Den Bund hat das in dieserZeit kein Geld gekostet . Das ist noch nicht lange her . Erst2012 hat das Bundesverfassungsgericht geurteilt, dassdiese Situation – die Asylbewerber haben damals nur60 Prozent der SGB-II-Leistungen erhalten – nicht ver-fassungskonform ist . Wir haben daraufhin in der GroßenKoalition eine neue Regelung mit den Ländern gefunden .Es wurde vor allen Dingen geregelt, dass die Asylbewer-ber viel früher einen Anspruch auf Sprachkurse und denZugang zum Arbeitsmarkt haben . Das kostet den Bundselbstverständlich eine Menge Geld . Angesichts dieserFlüchtlingsströme stehen wir natürlich vor der Heraus-forderung, dieses Geld auch bereitzustellen .
Dabei wird es darauf ankommen, dass die Flüchtlinge,die heute in Erstaufnahmeeinrichtungen sind, registriert,erstversorgt und medizinisch betreut werden . Ein großerTeil von ihnen wird vor dem Hintergrund dieses neuenAsylbewerberleistungsgesetzes schon bald vor unserenJobcentern und der Bundesagentur für Arbeit stehen .Ja, Herr Kauder, wir wollen, dass diese Menschenschnellstmöglich in Deutschland arbeiten können . Wirwissen aber, dass vom Mathematikprofessor bis zumAnalphabeten die ganze Bandbreite der Gesellschafthierherkommt . Deswegen werden sie sehr individuelleAngebote brauchen, um letzten Endes arbeiten zu kön-nen, was sie auch ganz ausdrücklich wollen . Das wirddie Mitarbeiter in den Jobcentern jedoch vor ganz neueHerausforderungen stellen . Wir müssen hier zum einenpersonell tätig werden . Vor allen Dingen aber müssenwir qualitätsvolle Bildungsangebote sicherstellen, die dieVoraussetzung für Integration und Arbeit sind . An die-ser Stelle wird sich zeigen, ob wir wirklich erfolgreichsind . Ich denke, die Haushaltsberatungen werden sehrstark von diesem Faktor getragen werden . Ich bin mireigentlich ziemlich sicher, dass es alle Kolleginnen undKollegen im Haushaltsausschuss als ihre Hauptaufgabeansehen, dies zu ermöglichen, und dann werden wir dieseHerausforderung auch gemeinsam bewältigen .Ich danke Ihnen allen herzlich für Ihre Aufmerksam-keit .
Vielen Dank . – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht
jetzt die Kollegin Gerda Hasselfeldt .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Es ist in dieser Haushaltsdebatte unbestritten zum Aus-druck gekommen: Die zentrale Herausforderung unsererZeit ist die Bewältigung der Flüchtlingsströme .Wir erleben in diesen Wochen und Monaten, speziellin den letzten Tagen, ein großartiges Engagement vielerMenschen . Wir haben es am Wochenende gerade in Mün-chen erlebt . Innerhalb von drei Tagen kamen 25 000 Men-schen . Wir haben den Einsatz vieler ehrenamtlich Täti-ger, Frauen und Männer, erlebt, die spontan oder auch imRahmen ihrer Organisationen geholfen haben . Wir habenaber auch eine hervorragende Organisation erlebt . DieZusammenarbeit von Beamten verschiedener Behörden,die Zusammenarbeit mit den Transportunternehmen, mitder Bahn, hat reibungslos funktioniert . Wir erleben underlebten ein großartiges Engagement . Wir erleben einsehr hohes Maß an Humanität und Solidarität . Dafür, lie-be Kolleginnen und Kollegen, möchte ich ganz herzlichdanken .
Wir in Bayern brauchen keinen Nachhilfeunterricht inSachen Umgang mit Fremden . Noch vor wenigen Jah-ren hatten wir eine Einwohnerzahl von 11 Millionen,heute liegt sie bei fast 13 Millionen . Die Hälfte diesesZuwachses ist auf Menschen zurückzuführen, die aus an-deren Teilen Deutschlands zu uns kamen und kommen .Die andere Hälfte sind Menschen aus anderen Ländern .Die Integration funktioniert . Das ist eine großartige Leis-tung, eine Leistung der Menschen in Bayern, aber auchder Migranten, eine Leistung in den Kinderbetreuungs-einrichtungen, in den Schulen und eine großartige Leis-tung auch in den Behörden . Das lassen wir uns auch nichtkaputtreden .
Das, was wir zu bewältigen haben, ist eine großeAufgabe, eine Aufgabe aller politischer Ebenen, der desBundes, der Länder und der Kommunen . Wir spüren alle,dass viele derjenigen, die hier aktiv mitarbeiten, hauptbe-ruflich oder ehrenamtlich, an die Grenze ihrer physischenund ihrer psychischen Leistungsfähigkeit gelangen . Wirspüren auch, dass wir insgesamt an personelle, an or-Bettina Hagedorn
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ganisatorische und auch an finanzielle Grenzen kom-men . Deshalb müssen wir diese Problematik sehr ernstdiskutieren, auch differenziert diskutieren . Aber sie zuverkürzen und in den Mittelpunkt womöglich noch diefinanzielle Situation zu stellen, das, meine Damen undHerren, wird der Bedeutung der Aufgabe mit Sicherheitnicht gerecht. Ich finde, es ist viel zu kurz gesprungen,wenn man den Fokus nur auf die finanzielle Situationzwischen Bund, Ländern und Kommunen legt . Deshalbist es auch zu kurz gesprungen, jetzt nur die 3 MilliardenEuro vonseiten des Bundes für die Kommunen und dieLänder zu sehen .Es ist vorhin schon mehrfach angesprochen worden:Nicht nur der Bund hat zusätzliche Steuereinnahmen,sondern auch die Länder und Kommunen; auch daraufwill ich hinweisen .Zum Zweiten will ich auf Folgendes hinweisen: Zu-nächst müssen wir uns fragen: Was ist an strukturellenMaßnahmen notwendig? Wie können wir die Menschen,die hier bleiben, die also nicht mehr zurück in ihre Hei-mat können, weil dort Krieg herrscht, am schnellsten undam besten integrieren? Wie schaffen wir es aber auch,dass diejenigen, die keine Bleibeperspektive haben, inihre Heimatländer zurückgeführt werden? Das ist diezentrale Aufgabe . Dann können wir uns auch über diefinanzielle Situation unterhalten. Wir vonseiten des Bun-des haben in den vergangenen Jahren mehrfach unter Be-weis gestellt, dass wir die Kommunen in ihrer Aufgaben-wahrnehmung unterstützen . Darauf können sie sich auchkünftig verlassen .
Meine Damen und Herren, etwa 40 Prozent – dasschwankt noch ein bisschen –, auf jeden Fall ein großerTeil derjenigen, die zu uns kommen, stammt aus den Bal-kanländern . Wir in der CSU-Landesgruppe haben nichtnur angesichts der großen Zahl der Menschen, die in denletzten Wochen und Monaten zu uns gekommen sind, aufein Problem aufmerksam gemacht, sondern schon im Ja-nuar dieses Jahres auf einen Punkt hingewiesen . Wir ha-ben damals gesagt, dass wir differenzieren müssen zwi-schen denen, die wirklich schutzbedürftig sind, die ausBürgerkriegsgebieten kommen und die persönlich ver-folgt sind, und den anderen, die aus ganz anderen Grün-den zu uns kommen: weil es ihnen bei uns wirtschaftlichbesser geht, weil sie hier sozial besser ausgestattet sindund vieles andere mehr .Wir können das nicht in einen Topf werfen . Wir kön-nen die Flüchtlinge aus Bürgerkriegsgebieten nicht inden gleichen Topf werfen wie diejenigen, die aus Wohl-standsgründen zu uns kommen, meine Damen und Her-ren . Wegen dieser Meinung sind wir im Januar diesesJahres, wie Sie wissen, hart gescholten worden . Heuteist diese Grundüberzeugung – Gott sei Dank – Meinungaller 16 Ministerpräsidenten, und es ist weitgehend Kon-sens in der Gesellschaft, dass diese Trennung auch vorge-nommen werden muss .
Wir müssen bei den Bürgerkriegsflüchtlingen – beidenen, die tatsächlich verfolgt sind – dafür sorgen, dasssie – mit Sprachkursen und am Arbeitsmarkt – schnell indiese Gesellschaft integriert werden . Das ist unbestritten,und da geschieht auch vieles . Wir müssen aber, um diessinnvoll und effizient zu gestalten, auch dafür sorgen,dass wir schnellere Asylverfahren bekommen . Das isteine ganz große Notwendigkeit .
Dazu sind zusätzliche Stellen beim Bundesamt fürMigration und Flüchtlinge notwendig . Dazu ist auch dieHilfe anderer Behörden notwendig . Ich bin sehr dank-bar, dass es zwischen dem Bundesfinanzminister und derBundesarbeitsministerin Gespräche gegeben hat, Teileder Mitarbeiter des Zolls für diese Aufgabe, für dieseneuen Herausforderungen, die wir zu bewältigen haben,zur Verfügung zu stellen und dafür auch so manche ande-ren bürokratischen Kontrollen – zum Beispiel beim Min-destlohn – ein bisschen hintanzustellen . Das ist genau derrichtige Ansatz .
Zusätzlich müssen wir natürlich dafür sorgen, dassdie Menschen schon in den Erstaufnahmeeinrichtungen,wo immer es möglich ist, ihre Verfahren abgeschlossenbekommen, damit dann auch die Konsequenz daraus ge-zogen wird, nämlich sie in ihre Heimatländer zurückzu-führen . Das, meine Damen und Herren, muss mit auf derTagesordnung stehen, sonst bewältigen wir diese großeZahl von Flüchtlingen nicht .
Ein Zweites gehört – neben den schnelleren Verfah-ren, es hängt aber auch ein bisschen damit zusammen –dazu . Wir brauchen eine Ausweitung der sogenanntensicheren Herkunftsstaaten . Das ist übrigens auch dieMeinung von so manchen Kommunalpolitikern aus denReihen der Grünen wie beispielsweise des Oberbürger-meisters von Tübingen . All diejenigen, die sich ernsthaftmit den Dingen beschäftigen und Erfahrungen aus derPraxis einbringen, geben uns darin recht, übrigens auchder Präsident des Bundesamtes für Migration und Flücht-linge . Die Erfahrungen der letzten Monate haben auchgezeigt, dass dies erstens dazu führt, dass das richtigeSignal in diese Länder gesendet und ihnen aufgezeigtwird: Wir nehmen euch nicht die Arbeitskräfte weg, dieihr selbst zum Aufbau eures Landes braucht . – Zweitensist das aber auch eine Grundlage für schnellere Verfah-ren, obwohl jeder Einzelne auch dabei sein persönlichesAsylverfahren erhält .Wir brauchen ein Drittes, um den Zustrom zu begren-zen, und das ist, Fehlanreize zu verhindern . Wir wissenalle, dass gerade aus den Balkanstaaten viele zu uns kom-men, die mit den Sozialleistungen, die sie bei uns bekom-men, besser leben, als wenn sie in ihren Heimatländernarbeiten würden . Das ist Fakt . Alle Experten, alle, dieetwas von der Sache verstehen, sagen uns: Das hat eineSogwirkung . Deshalb, meine Damen und Herren, müs-sen wir, wenn wir uns auf den Schutz derjenigen und dieHilfe für diejenigen konzentrieren wollen, die tatsächlichGerda Hasselfeldt
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verfolgt sind und unsere Hilfe brauchen – ich denke, dasmüssen wir –, auch dafür sorgen, dass wir keine zusätz-lichen Anreize für die Menschen geben, die nur aus wirt-schaftlichen Gründen zu uns wollen . Dazu gehört auch,die Fehlanreize zu reduzieren und zu minimieren, wennwir sie schon nicht ganz abschaffen können .
Frau Göring-Eckardt hat vorhin davon gesprochen,Deutschland würde eine Art Sankt-Florians-Prinzip be-treiben . Das kann ich überhaupt nicht nachvollziehen .Wenn mehr als 40 Prozent der Flüchtlinge, die in dieEuropäische Union kommen, von Deutschland aufge-nommen werden und noch mehr nach Deutschland kom-men, dann weiß ich nicht, was das mit dem Sankt-Flori-ans-Prinzip zu tun hat . Im Gegenteil: Wir brauchen einegerechte, eine faire Verteilung in Europa . Das sind wirübrigens auch den Menschen schuldig . Wir können nichtalle Probleme der Welt nur auf deutschem Boden lösen .
Deshalb begrüße ich es sehr, dass auf europäischerEbene jetzt eine verstärkte Aktivität in der Flüchtlings-politik erkennbar ist . Wir sind damit noch nicht dort, wowir eigentlich hinmüssen, aber wir sind ein Stück wei-ter, als wir es noch vor einigen Monaten waren . Ich geheso weit, zu sagen: Dieses Thema, der Umgang mit derFlüchtlingsproblematik, ist auch ein Stück Bewährungs-probe für ganz Europa . Hier zeigt sich, in welchem Aus-maß wir eine echte Wertegemeinschaft sind und wie esmit der Solidarität und im Übrigen auch mit dem Einhal-ten der Regeln in Europa aussieht . Auch darauf müssenwir – genauso, wie wir es beim Euro gesagt haben – be-sonders achten .
Ich will all das unterstreichen, was zur Bekämpfungder Fluchtursachen gesagt wurde . Auch das gehört in die-sen Kanon . Ich glaube, es ist uns gerade in dieser Zeit be-sonders bewusst geworden, dass Innenpolitik, Entwick-lungshilfepolitik und Außenpolitik zusammengehörenund nicht getrennt werden können, dass außenpolitischeund entwicklungshilfepolitische Fragen Auswirkungenauf unsere innenpolitische Situation und Debatte haben .Deshalb darf dies in diesem Zusammenhang nicht außenvor gelassen werden .Ich danke sehr herzlich der Bundeskanzlerin, demBundesaußenminister, dem Bundesinnenminister undauch dem Bundesentwicklungshilfeminister für die Akti-vitäten und die vielen Gespräche auf europäischer Ebenein diesem Bereich, bei denen es darum geht, dicke Bret-ter zu bohren, um die Gesamtverantwortung der freienWelt zum Ausdruck zu bringen .
Meine Damen und Herren, ich will das Ganze nebenden fachlichen Fragen auch in einen politischen Zusam-menhang stellen . Es ist eine Gesamtverantwortung vonBund, Ländern und Gemeinden, die wir haben . Ich den-ke aber auch, es ist eine Gesamtverantwortung, der sichalle demokratischen Parteien stellen müssen . Ich bin altgenug, um mich nicht nur als Beobachterin an den An-fang der 90er-Jahre zu erinnern, sondern als jemand, diedamals schon dabei war . Aus dieser Erfahrung herauskann ich nur sagen: Wir werden rechtsradikale Tenden-zen und Bestrebungen im Land nicht dadurch bekämp-fen, dass wir Dinge verschweigen und die Lebensrealitätder Bevölkerung in den Städten und Gemeinden nichtwahrnehmen, genauso wenig, wie wir sie durch dumpfeParolen bekämpfen werden . Vielmehr werden wir sie nurdann bekämpfen können, wenn wir die Aufgabe lösen,den Problemen ins Auge sehen und die Herausforderungannehmen . Dazu gehört aber auch, dass wir die Men-schen mitnehmen, dass wir ihre Sorgen und Ängste ernstnehmen und dass wir mit der nötigen Differenziertheitdiskutieren, handeln und entscheiden .
Wir sind für diese große Aufgabe und Herausforde-rung meines Erachtens gut gewappnet . Die Bundeskanz-lerin hat heute deutlich gemacht, dem Land geht es gut .Es gibt mehr als 43 Millionen sozialversicherungspflich-tige Beschäftigte, so viele wie noch nie . Die Konjunkturläuft gut . Die Prognosen sind gut . Die Steuereinnahmennicht nur des Bundes, sondern auch der Länder und Kom-munen sind gestiegen . Wir haben Handlungsspielräumenicht zuletzt aufgrund der soliden Politik der letzten Jah-re . Das zahlt sich heute aus . In den Jahren 2008 und 2009wären wir nicht in der Lage gewesen, die Herausforde-rungen, die sich uns heute stellen, zu meistern . Heutesind wir dazu in der Lage, weil wir solide gewirtschaf-tet und solide Politik gemacht haben . Wir haben heuteHandlungsspielräume nicht nur in finanzieller Hinsicht,sondern auch von der Stimmung in der Bevölkerung her .
Ich sage das nicht, um uns in Zufriedenheit, schon garnicht Selbstzufriedenheit zu wiegen . Vielmehr sage ichdas in großer Dankbarkeit gegenüber allen Beteiligten inunserer Gesellschaft, den Arbeitnehmern, den Tarifpar-teien und den Unternehmern, aber auch gegenüber denje-nigen, die politische Verantwortung getragen haben undweiterhin tragen .Der vorliegende Haushalt setzt meines Erachtensdie völlig richtigen Prioritäten . Erstens . Wir nehmendie große Herausforderung, die die Bewältigung derFlüchtlingsströme darstellt, an . Zweitens . Es bleibt beider soliden Haushaltspolitik und der weiteren Entlastungder Kommunen . Drittens . Der Schwerpunkt bleiben dieInvestitionen in die Zukunft . Wir verstärken das bei derVerkehrsinfrastruktur und der Breitbandinfrastruktur, umnur zwei Bereiche zu nennen . Dazu gehören aber auchBildung und Forschung. Viertens. Das Ganze findet in ei-nem völlig stabilen sozialen Umfeld statt . Wir vergessennicht die Kranken und Schwächeren in unserer Gesell-schaft. Die Bundeskanzlerin hat bereits auf die Pflege-versicherung und die entsprechenden Stärkungsgesetzehingewiesen .Ich möchte ergänzend auf das hinweisen, was wir fürdie Familien getan haben . Zum Betreuungsgeld kann ichGerda Hasselfeldt
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nur sagen: Die bayerischen Familien können sich daraufverlassen, dass sie auch künftig das Betreuungsgeld be-kommen .
Das Bundesverfassungsgericht hat nicht, wie Herr Gysibehauptet hat, das Betreuungsgeld gekippt, sondern nurdie Zuständigkeit moniert; ein bisschen Wahrheit mussschon sein, Herr Gysi .
Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist genau derrichtige Politikansatz, den wir in diesen schwierigen Ta-gen brauchen .
Vielen Dank . – Als Nächster hat der Kollege Martin
Gerster, SPD-Fraktion, das Wort .
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Die Haushaltsdebatte im Deutschen Bundestag ist traditi-onell die Zeit und der Ort für zum Teil harte Auseinander-setzungen sowie kontroverse Bewertungen von Einnah-me- und Ausgabepositionen und der damit verbundenenSchwerpunktsetzung auf politischer Ebene . Manche nut-zen diese Debatte auch zur Generalabrechnung . Aber indiesem Jahr ist es etwas anders, wie ich finde; denn wirführen in Anbetracht der vielen Millionen Flüchtlinge inder Welt und der prognostizierten 800 000 Flüchtlinge,die in Deutschland Schutz sowie eine neue Bleibe- undLebensperspektive suchen, die Haushaltsdebatte unterganz anderen Vorzeichen . Jedenfalls sind wir gut bera-ten, das so zu tun . Vor diesem Hintergrund steht es unsgut an, den Menschen und die Menschlichkeit, aber auchden Umgang miteinander in den Vordergrund zu rücken .Wir sollten deutlich machen, dass wir auf der Seite der-jenigen stehen, die Schutz sowie eine neue Bleibe- undLebensperspektive suchen .Ich will an dieser Stelle einfach sagen, dass ich nach-drücklich beeindruckt bin, fasziniert bin und dankbarbin – ich glaube, das geht vielen Kolleginnen und Kol-legen so – von dieser Hilfsbereitschaft in unserem Land .Es ist unglaublich, wie viele ehrenamtliche Helferinnenund Helfer unterwegs sind, die sich auch spontan in Ini-tiativen zusammenschließen . Ich verweise auf unsere Or-ganisationen wie das THW, die Feuerwehren, das RoteKreuz, die Johanniter, die Malteser, die zur Stelle sind,auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im öffentlichenDienst des Bundes, der Länder und auf kommunalerEbene . Überall leisten Menschen mehr, als sie eigentlichmüssten . Ich denke, es steht uns gut an, hier einmal Dan-ke schön zu sagen . Wenn ich das sage, denke ich insbe-sondere an die fleißigen Leute der Bundespolizei und desBundesamtes für Migration und Flüchtlinge sowie auchan die Ehrenamtlichen in den Kirchen, in den Sportver-einen und anderswo . Ihre Arbeit anzuerkennen, auch dasist ein Signal, das von der Haushaltsdebatte heute ausge-hen sollte .
Ich meine auch, dass wir schauen müssen, ob wir nichteinen zusätzlichen Schwerpunkt beim Thema sozialerWohnungsbau setzen; denn die Leute müssen ja auchirgendwo wohnen, die Leute sollen ja auch irgendwo ar-beiten . Deswegen bin ich in der Tat der Meinung: Wirmüssen im Bereich Arbeit und Soziales noch einmal auf-stocken, wir müssen mit der Bundesagentur für Arbeit insGerda Hasselfeldt
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Gespräch kommen, wir müssen schauen, was wir für dieKinderbetreuung, Stichwort „Kitaausbau“, tun . Natürlichsind auch Schule und Ausbildung ein Riesenthema . Ichbin auch der Meinung, dass wir uns bei den Beratungenim Haushaltsausschuss noch einmal genau anschauensollten, ob wir nicht noch mehr tun können, ob wir nichtnoch entschiedener vorgehen können gegen die Schleu-serbanden, gegen diese Schlepperorganisationen und obwir das Bundeskriminalamt an dieser Stelle nicht etwasbesser ausstatten .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, viele haben diesesThema in ihren Reden hier zuvor schon angesprochen:die Entwicklungszusammenarbeit . Ich lege hier schonWert darauf, dass das Wort „Entwicklungszusammenar-beit“ genannt wird und dass wir nicht weiter von „Ent-wicklungshilfe“ reden . Ich glaube, das macht einen gro-ßen Unterschied .Ich möchte aus heutiger Sicht schon etwas dazu sagen,wie dieser Politikbereich in den Jahren der christlich-li-beralen Koalition, also der schwarz-gelben Koalition ausCDU, CSU und FDP, behandelt wurde . Da war ein Mi-nister Niebel, von dem auch Sie bei der Union sich habenverleiten lassen, Entwicklungszusammenarbeit vor allemunter der Priorität zu definieren: Gute Entwicklungszu-sammenarbeit ist dann gegeben, wenn sie der deutschenWirtschaft nutzt . – Ich glaube, spätestens jetzt wäre derZeitpunkt gekommen, um sich davon abzuwenden und zusagen: Gute Entwicklungszusammenarbeit ist vor allemdann gegeben, wenn sie Menschen Lebensperspektivenin ihrer Heimat gibt und somit Fluchtursachen minimiertwerden können . – Wenn deutsche Unternehmen mit ihrerInnovation, mit ihrer Technologie dazu beitragen kön-nen, dann ist es schön und gut, aber das darf nicht dieallererste Priorität sein, so wie dies in der Vergangenheitdefiniert wurde.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube auch,dass wir noch einmal genau darauf schauen müssen, obwir genug tun, um diesem „Pack“ richtig etwas entge-genzusetzen. Sigmar Gabriel, finde ich, hat es bei sei-nem Besuch in Heidenau exakt richtig benannt: Das istein Pack . – Es ist gut, dass wir in der Großen Koalitionschon in den vergangenen Haushaltsjahren im Etat vonManuela Schwesig die Mittel für das Programm „Demo-kratie leben!“ deutlich aufgestockt haben . Ich habe denEindruck: Das, was wir da getan haben, ist noch nichtgenug . Deswegen müssen wir da noch einmal heran . Ichglaube, das ist auch eine Geschichte, die wir in den Haus-haltsberatungen noch einmal besprechen müssen .
Ich bin der Meinung: Wir dürfen im Kampf gegenRechtsextremismus und im Werben für Demokratie, fürToleranz, für Rechtsstaatlichkeit und Menschenwürdeniemals nachlassen . Niemals!Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Als Nächster hat der Kollege Ewald
Schurer, SPD-Fraktion, das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnenund Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Der Generaldebatte, die jetzt zu Ende geht, liegt derEntwurf des Bundeshaushalts für 2016 zugrunde . Wereinen Haushalt richtig zu interpretieren weiß, der kannsich das vorstellen: Es ist eine Art politisches Lesebucheiner Bundesregierung . – Dieser Haushalt setzt Priori-täten in vielen wichtigen gesellschaftlichen Bereichen:Förderung von Kitas, Familienpolitik, Bildung, For-schung, Außenpolitik, Gesundheit, Pflege, Infrastrukturund jetzt aufgrund einer aktuellen gesellschaftlichenHerausforderung ganz neu: Flucht, Asyl und Integrationvon Menschen, die zu uns kommen und dann nach derAnerkennung eine Chance haben sollen, über Arbeit, So-ziales sozusagen voll in diese Gesellschaft aufgenommenzu werden und Teil dieser Gesellschaft zu werden . Es isteine große Herausforderung . Den Zahlen – der Kollegehat es bereits gesagt – stehen dann immer auch Schicksa-le und menschliche Entwicklungen in dieser Gesellschaftgegenüber .Deutschland – das ist auch von Herrn Kauder her-ausgearbeitet worden – macht das aus einer Position derökonomischen Stärke heraus . Es ist schon etwas Au-ßergewöhnliches, dass wir nicht nur bei der Wertschöp-fung, bei der Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts,im Bereich Arbeitsmarkt – mehr Arbeitskräfte denn je,geringere Arbeitslosigkeit denn je –, sondern auch in an-deren Bereichen der Gesellschaft eine sehr positive Ent-wicklung haben . Aus dieser ökonomischen Stärke – diekorrespondiert mit den Zahlen des Bundeshaushalts –erwächst eine besondere Verantwortung Deutschlands –nicht Deutschlands allein –, die Integration der Men-schen positiv zu befördern .Überhaupt ist es so im Haushalt, meine lieben Kolle-ginnen und Kollegen: Das Wollen ist die entscheidendeFrage . Will ich, dass die Menschen, die zu uns kommenund die Anerkennung bekommen, wirklich voll und ganzin diese Gesellschaft integriert werden? Ich denke, beiallen Akzentunterschieden hier im Parlament war heuteder Common Sense: Wir wollen, dass die Menschen vollund ganz integriert werden .Nur, an dieser Stelle mache ich mir schon Sorgen überden europäischen Prozess . Ich weiß, dass die Kanzlerin,das Kabinett, die Minister, dass alle alles tun, um hierauch in Europa den zerbrochenen Konsens wiederher-zustellen . Wir haben – das darf man in der Debatte imDeutschen Bundestag sagen – derzeit für Europa eine be-drohliche Situation . Es sind nicht die Menschen, die vonMartin Gerster
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Budapest über München zu uns kommen, sondern es istder fehlende Konsens . Mir tut es im Herzen und im Glau-ben weh, dass die Staatschefs aus Polen, der Slowakei,aus Tschechien und Ungarn, die sich am letzten Freitagin Prag getroffen haben, im Brustton der Überzeugungsagen, sie wollen sich an dieser Integrationsarbeit nichtbeteiligen . Das ist vor dem geschichtlichen Hintergrundder 25 Jahre währenden Verantwortung des damaligenWesteuropas für die ehemaligen Staaten im kommunis-tischen Verbund eine ganz schwache Leistung, eine Be-drohung für die Europäische Union .
Deswegen möchte ich unterstreichen, dass wir inDeutschland die Verantwortung haben und in der Lagesind, diese Integrationsarbeit mit der ökonomischen Stär-ke, dem nötigen Willen und dem nötigen Geist zu leisten .Aber es wird nicht gehen – wie schon gesagt –, wennnur Österreich und Schweden dies offensiv tun und an-dere große Länder sagen: „Ich nehme 4 mal 5 000 in dernächsten Dekade“, und glauben, sie könnten sich damitaus dem Gesamtwerk der Europäischen Union verab-schieden . Das macht mir große Sorge . So stark wir öko-nomisch in Deutschland sind – das hat Carsten Schneidererwähnt –, so schwierig ist die makroökonomische Si-tuation in vielen anderen Ländern . Wir haben Handels-bilanzüberschüsse, die sehr stark sind . Das liegt aberauch daran, dass unsere europäischen Partner zum Teilleider ökonomisch schwach sind oder nicht so stark sind .Deswegen müssen wir über alle Herausforderungen hin-weg versuchen – Griechenland, Ukraine kann man leidernicht vergessen; es ist die größte Stellschraube bezüglichder Bedrohung –, die anderen Länder einzubeziehen . Ichdenke hier auch an den Juncker-Plan mit den 300 Milli-arden Euro . Das darf nicht nur diskutiert werden, sonderndas muss im Europäischen Parlament mit den National-staaten umgesetzt werden .Griechenland wird nach der 86-Milliarden-Euro-Ret-tung, womit man fiskalisch überhaupt erst die Grundla-ge für Wachstum geschaffen hat, Wachstumsprogrammebrauchen . Es wird sich in Griechenland nichts tun, wennnicht die Menschen vor Ort, die innovativ sind, mit Geldin neue Existenzen investieren . Das Ganze gilt auch fürdie anderen europäischen Länder . Wir brauchen – dasmuss man in der Generaldebatte noch einmal unterstrei-chen – europäische Partnerländer, die sich ökonomischwieder erholen, die ökonomisch stärker werden und dievon Wirtschaftswachstum getragen mit uns auf einer Au-genhöhe als politische und ökonomische Partner in einerwiedererstarkten EU sind . Die Europäische Union hat esnämlich nötig .Ich freue mich über jede Erfolgsmeldung aus Spanien,aus Portugal, aus Irland oder anderen Ländern, dass nachder gigantischen Wirtschaftskrise diese Länder langsam,aber sicher wieder in eine eigene Tragfähigkeit kommenund in der Lage sind, das Konzert der 28 europäischenLänder positiv mitzugestalten . Davon leben wir . Daraufmuss man bei einer Haushaltsdebatte des Bundestageshinweisen . Nur aus der Interaktion aller europäischenLänder mit einer ökonomischen Führung Deutschlands –das darf man hier sagen, ohne sich schämen zu müssen –,aber auch mit einem starken Partner Frankreich könnenwir dieses Haus künftig gestalten .Zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen: DieFelder sind genannt worden . Der Bundeshaushalt leistetunwahrscheinlich viel . Das ist in der Generaldebatte nochnicht das Thema . Das kommt dann bei den Lesungen zuden verschiedenen Einzelplänen . Wir haben eine Erwei-terung des Volumens von 302 auf 312 Milliarden Euround in der mittel- bis langfristigen Projektion steigt es bis2019 auf 333 Milliarden Euro . Das zeigt, dass der Bundin den Sozialleistungsgesetzen, auch im investiven Ver-halten, in vielen Bereichen enorm viel Geld in die Handnimmt, um die Politikfelder gemeinsam mit den Länder-haushalten und den 12 500 Gemeinden in Deutschlandnach vorne zu gestalten . Der Bund ist der wichtigste Ak-teur . Aber genauso wichtig sind die Länder und natürlichauch die Kommunen .Wir haben bei der Stärkung der Investitionen nochNachholbedarf; das ist bereits gesagt worden . Gerade dieFlucht-, Asyl- und Integrationsfragen, Frau Präsidentin,können nur gelöst werden, indem wir in DeutschlandMilliarden von privatem Kapital mit öffentlicher Unter-stützung für sozialen Wohnungsbau verwenden, der sichan den Bedürfnissen der Menschen orientiert, egal ob dieMenschen hier schon lange leben oder jetzt kommen .Hier werden wir im investiven Bereich auch in dieserKoalition in den nächsten Jahren noch mehr tun müssenals bisher .Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . – Für die Bundesregierung spricht jetzt
die Staatsministerin Professor Monika Grütters .
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!1,28 Milliarden Euro sieht der Haushaltsentwurf derBundesregierung im Jahr 2016 für Kulturausgaben vor .Das sind 56 Millionen Euro mehr als im Regierungsent-wurf des Vorjahres . Ein starkes kulturpolitisches Signal .Dennoch will ich eine andere Zahl, die uns alle be-wegt, in den Mittelpunkt meiner Haushaltsrede stellen .800 000 Menschen suchen in diesem Jahr Zuflucht inDeutschland, 800 000 Menschen, die ihre Heimat zu-rückgelassen haben und mit nichts anderem als ihrerHoffnung auf Frieden und Freiheit, auf ein besseresLeben bei uns ankommen . Das ist die größte politischeHerausforderung in diesen Monaten und vielleicht auchJahren . Das ist vor allen Dingen auch eine kulturpoliti-sche Herausforderung, zunächst einmal, weil kulturelleTeilhabe eine grundlegende Voraussetzung dafür ist, dassZuwanderer in der Fremde ihre neue Umgebung verste-hen und dass auch sie hier verstanden werden, weil kul-turelle Teilhabe eben auch gesellschaftliche Teilhabe ist,aber auch, weil die diffuse Angst vor den Fremden, wieEwald Schurer
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wir sie mancherorts erleben, das große Bedürfnis nachSelbstvergewisserung unserer eigenen kulturellen Iden-tität einmal mehr deutlich offenbart, vor allem aber, weilkulturelle Vielfalt sowie die großartige Welle der Hilfs-bereitschaft, die wir aktuell erleben, ganz maßgeblich zudem Bild eines weltoffenen Deutschlands beiträgt, daswir all denen entgegenhalten müssen, die uns mit ihrerFremdenfeindlichkeit beschämen .
Kultur ist Brückenbauerin und Türöffnerin, aber auchSpiegel unseres Selbstverständnisses . 1,28 MilliardenEuro für 2016 sind gut angelegtes Geld, um die Kulturgenau in dieser Rolle zu bestärken . Liebe Kolleginnenund Kollegen, deshalb bitte ich Sie herzlich um Ihre Zu-stimmung zum Regierungsentwurf .Dieser sieht unter anderem mehr Unterstützung für dievon meinem Haus geförderten Kultureinrichtungen vor,insbesondere 38 Millionen Euro für zusätzliche Perso-nalausgaben zum Ausgleich von Tariferhöhungen .Der größte Einzelbetrag – 12 Millionen Euro mehr alsim Vorjahr – kommt der Deutschen Welle – lieber HerrDörmann, dafür haben wir gemeinsam viel getan – zu-gute . Sie ist als Botschafterin unseres demokratischenRechtsstaats gerade in Krisenregionen und autoritär re-gierten Staaten für viele Menschen die maßgebliche, fürviele aber auch die einzige Verbindung in die freie Welt .
Vom Plus bei den Personalmitteln profitieren abernicht nur die großen Einrichtungen . Vielmehr ist es erst-mals gelungen, 2016 auch kleine und mittlere Häuser, diewir nur dauerhaft über Projekte finanzieren, besserzustel-len . Dafür bin ich besonders dankbar, vor allen Dingenauch dem Finanzminister Schäuble, der dazu einen be-rührenden Brief geschrieben hat .Vielen ist gar nicht bewusst, wie viel unsere Kultur-einrichtungen landauf, landab – das heißt gerade auchjenseits der großen Metropolen – zum Umgang mit kul-tureller Vielfalt vor Ort beitragen .Wichtig ist es mir aber auch, den Mut zum Experi-ment zu fördern, den, wie es Habermas einmal gesagthat, avantgardistischen Spürsinn für Relevanzen, mit derKunst und Kultur notwendige gesellschaftliche Verände-rungsprozesse anzustoßen .Deshalb werde ich künftig, analog zum guten Beispielin der Kino- und Musikbranche, auch einen Theaterpreis –die Theater sind wirklich die direkteste Verbindung vorOrt mit den Bürgern – und einen Buchhandlungspreisverleihen . Damit ermutigen wir die Überzeugungstäterin den Branchen, die leidenschaftlichen Theatermacher,Literaturliebhaber unter den Buchhändlern, die auch jen-seits des Mainstreams, aber flächendeckend zu einemvielfältigen kulturellen Angebot beitragen . In diesemZusammenhang will ich außerdem die kulturelle Film-förderung stärken .
Ob Poesie, ob Malerei, ob Film, Musik, Theater oderTanz, Kunst kann gemeinsame Sprache sein, wo unter-schiedliche Begriffe sonst Missverständnisse verursa-chen . Kunst kann gemeinsame Erfahrungen bescheren,wo unterschiedliche Herkunft oft ab- oder ausgrenzt .Kunst kann uns helfen, zu verstehen, was uns ausmacht,wer wir sind, als Individuen, als Deutsche, aber auch undinsbesondere als Europäer .Kunst kann uns aber auch nötigen, einmal die Perspektivezu wechseln und die Welt aus anderen Augen zu sehen .Dazu wird künftig auch das Humboldt-Forum beitra-gen . Vor kurzem, im Juni, haben wir zwei Jahre nach derGrundsteinlegung Richtfest gefeiert . Das Humboldt-Fo-rum fördert neuartige Kunst- und Kulturerfahrung – dashaben wir uns vorgenommen – und verfügt über Wis-sen – das ist der Kernbestand – über unterschiedliche,aber gleichberechtigte Weltkulturen . Aktueller hätte mandieses größte Projekt der Kultur in der Bundesrepubliknicht planen können .Dieses Projekt wird unsere kulturelle Identität ganzmaßgeblich prägen und natürlich auch zeigen, dassDeutschland sich als Partner in der Welt versteht . Dennallein, dass wir im Herzen der deutschen Hauptstadt nichtuns selbst in den Kulturmittelpunkt stellen, sondern dassdie Welt in Berlin ein Zuhause findet, dass Deutschlandsich also statt in reiner Selbstbezüglichkeit mit einemBlick nach außen empfiehlt, sagt, denke ich, viel überdas Selbstverständnis der Kulturnation Deutschland amBeginn des 21 . Jahrhunderts aus .
Mit Neil MacGregor konnte ich einen der weltweit re-nommiertesten Museumsexperten nach Berlin holen . Ichfinde, dass das so ein bisschen etwas wie die schönstenVorschusslorbeeren sind, die wir uns alle für das Hum-boldt-Forum wünschen konnten . Um die Bespielungvorzubereiten, möchte ich im kommenden Jahr 3,5 Mil-lionen Euro für die Gründungsintendanz zur Verfügungstellen .Diese Beispiele illustrieren, wie wir die Mittel imHaushalt – auch meines Hauses – im Sinne eines weltof-fenen Deutschlands einsetzen . Kultur und Medien habenallein schon wegen ihrer herausgehobenen Rolle im öf-fentlichen Diskurs auch und ganz maßgeblich eine echteVerantwortung dafür, wie kulturelle Vielfalt in Deutsch-land wahrgenommen wird: als fremd oder als vertraut,als einladend oder als trennend, als bedrohlich oder alsbereichernd .Heimat ist da, wo ich verstehe und wo ichverstanden werde .Das hat einmal der große Philosoph Karl Jaspers gesagt .Ich bin überzeugt, dass Kultur und Medien mit ihremBeitrag zum Verstehen und Verstanden-Werden denen,die gerade zu Hunderttausenden neu in unser Land kom-men, dabei helfen können, zeitweise oder dauerhaft inDeutschland Fuß zu fassen, und denen, die diese gewal-tige Entwicklung mit Sorge betrachten, vielleicht helfenkönnen, sie als Chance zur Bereicherung unseres Mitein-anders anzunehmen .Staatsministerin Monika Grütters
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In diesem Sinne: Vielen Dank .
Vielen Dank . – Nächste Rednerin ist die Kollegin
Sigrid Hupach, Fraktion Die Linke,
der ich an dieser Stelle noch einmal zu ihrem heuti-
gen Geburtstag gratulieren möchte . Herzlichen Glück-
wunsch!
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verfolgt man in denletzten Wochen und Monaten die Nachrichten – daswurde heute vielfach angesprochen –, erfährt man täg-lich von neuem, unvorstellbarem Leid . Man erfährt, dassMenschen genötigt sind, ihre Heimat zu verlassen undsich unter größten Gefahren allein, mit Kindern oder so-gar als Minderjährige auf die Flucht zu begeben .Welche Relevanz hat die heutige Debatte um den Kul-turhaushalt angesichts solcher Dramen? Ich meine, einesehr, sehr große . Gerade angesichts ganz existenziellerProbleme muss man sich mit Kultur beschäftigen . Manmuss Künstlerinnen, Künstlern und Kulturschaffendenalle Möglichkeiten geben, diese gesellschaftlichen Wand-lungsprozesse – herausfordernd, wie sie auch sind – kon-struktiv und kritisch zu begleiten .
Wir Linke fordern daher nicht nur die Verdoppelung derMittel für das Bundesprogramm „Demokratie leben!“und die Schaffung dauerhafter Strukturen im Kampf ge-gen Rechtsextremismus, sondern wir wollen, dass derBund auch entscheidend mehr Geld für Soziokultur undkulturelle Bildung einstellt .
Kulturelle Bildung – davon bin ich fest überzeugt –belebt die Auseinandersetzung mit dem eigenen kulturel-len Hintergrund und mit kultureller Vielfalt . Sie befähigtdazu, die gesellschaftlichen Entwicklungen zu reflektie-ren und selbstbestimmt mitzugestalten . Somit ist sie ebenauch Voraussetzung für eine gelingende Demokratie, erstrecht in einem Europa, dessen solidarische und humanis-tische Idee gegenwärtig von nicht wenigen infrage ge-stellt wird .Auch aus diesem Grund möchte ich Ihnen, FrauStaatsministerin Grütters, danken, dass es Ihnen erneutgelungen ist, einen Aufwuchs im Kulturhaushalt zu er-reichen .
Ich danke Ihnen auch, dass Sie hervorgehoben haben,wie wichtig und notwendig kulturelle Teilhabe auch fürdie Menschen, die zu uns kommen, ist .Aber sie ist auch nur möglich, wenn die Infrastrukturund die Voraussetzungen dafür geschaffen werden .Besonders positiv bewerten wir Linken zudem, dassder größte Teil der 56 Millionen Euro in den Personal-bereich fließt und dass nun auch bei den überwiegendprojektfinanzierten Einrichtungen eine Anpassung an dasTarifrecht möglich ist . Das war mehr als überfällig . Hierstimmt also die Richtung . Zu tun bleibt dennoch genug .Ich erinnere dabei an die ungeklärte und prekäre Situa-tion der vielen freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeiteran den Goethe-Instituten. Gerade für Freiberufler und fürkurzfristig beschäftigte Menschen im Kultur- und Krea-tivbereich brauchen wir dringend weitere Verbesserun-gen .
Drittens begrüßen wir die Herauslösung der Kul-turförderfonds aus der Kulturstiftung des Bundes und dieNeueinrichtung des Fonds für zeitgenössische Musik . Obdie Finanzierung ausreicht, wird sich zeigen müssen .Nach dem Lob nun aber auch etwas Kritik: Kriti-sche Töne sind auf jeden Fall angebracht, wenn es umdie notwendigen Mittel für so dringliche Aufgaben wiedie Digitalisierung und Sicherung des kulturellen Erbes,des schriftlichen Kulturguts und des Filmerbes geht . Wirbleiben hier konsequent und fühlen uns durch die Ex-pertenanhörung im Kulturausschuss bestärkt . Es brauchteine nationale Digitalisierungsstrategie und die entspre-chenden Mittel dazu . 30 Millionen Euro sehen wir hierals nötig an . Die eingestellten 1,3 Millionen Euro sinddieser Aufgabe ebenso wenig angemessen wie die 1 Mil-lion Euro, die im Haushalt für die Sicherung des Film-erbes eingestellt ist . 10 Millionen Euro pro Jahr nenntdas Gutachten im Auftrag der Filmförderanstalt unterder Annahme, dass die digitalisierten Originale im An-schluss einfach entsorgt werden könnten . Was ist das füreine absurde Idee? Sicherung des Filmerbes heißt beides,die Digitalisierung und die Archivierung der Originale .
Selbst die 10 Millionen Euro können daher nur ein An-fang sein, aber sie wären enorm wichtig .Auch bei der Filmförderung besteht dringend Hand-lungsbedarf . Der Deutsche Filmförderfonds hat seine50 Millionen Euro für dieses Jahr bereits jetzt aufge-braucht . Das ist ein deutliches Zeichen für die Unter-finanzierung dieser wichtigen Kultur-, Regional- undWirtschaftsförderung .Weiterhin ist zu fragen: Wo sind die in den letzten Mo-naten zum Teil mit großer Geste angekündigten Mittelfür die zukunftsweisende Kulturpolitik in den ländlichenRäumen, für den Erhalt der Welterbestätten, die Einrich-tung eines UNESCO-Kompetenzzentrums, die Auswei-tung des Kulturerhaltprogramms oder für die kulturelleBildung?Wir Linke sind fest davon überzeugt, dass wir vomGrundsatz her eine andere Kulturfinanzierung brauchen:Staatsministerin Monika Grütters
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eine ohne Kooperationsverbot, eine als Gemeinschafts-aufgabe und eine mit solide finanzierten Kommunen.
Ich hoffe sehr, dass wir in den Haushaltsverhandlun-gen zu entscheidenden Korrekturen kommen werden .Die schockierenden Bilder von hasserfüllten Demonstra-tionen und erst recht von brennenden Asylbewerber- undFlüchtlingsunterkünften machen mehr denn je deutlich:Ja, Kultur kostet, aber Unkultur kostet noch viel mehr .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als Nächstes hat Burkhard Blienert,
SPD-Fraktion, das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die aktuelleSituation gebietet auch meinerseits die folgende Anmer-kung, die mir persönlich wichtig ist: Deutschland ist invielerlei Hinsicht ein reiches und starkes Land, und wirkönnen, sollten und müssen uns die größtmögliche Hu-manität erlauben . Mir geht es dabei im Wesentlichen umden kulturellen Reichtum in unserem Land, ein kulturel-les Erbe, geprägt von einer reichen Sprache, vielfältigerLiteratur, Musik und Kunst . Es ist im Übrigen ein kultu-relles Erbe, das uns in doppelter Hinsicht zur Humanitätverpflichtet. Es ist ein kulturelles Erbe, das sich durchHeterogenität und Verschiedenheit überhaupt erst entwi-ckelt hat und entwickelt . Wir wollen es erhalten, demo-kratisieren und vielen Menschen zugänglich machen .Die Menschen, die nun zu uns kommen, bringen etwasBereicherndes mit, nämlich ihre vielfältigen kulturellenTraditionen und Identitäten . Dies müssen wir als das se-hen, was es ist: eine fruchtbare Bereicherung für unsereGesellschaft und unsere Kultur .
Ich begrüße daher ausdrücklich die Initiativen aus demkulturellen Bereich unterschiedlicher Art und Weise wiezum Beispiel die des deutschen Buchhandels zur Unter-stützung der kulturellen Angebote insbesondere für Asyl-suchende und Flüchtlinge, die unter der Schirmherrschaftvon Navid Kermani steht . Es ist Navid Kermani, der unsim letzten Jahr am 23 . Mai in seiner Rede zum 65 . Jah-restag des Grundgesetzes so eindrücklich zu einer Kulturder Anerkennung und des Respekts ermahnt hat .Das war schon sehr beeindruckend . Er hat uns nochmal ins Stammbuch geschrieben, was unsere Aufgabe ist .Die Kulturförderung des Bundes trägt neben der Kul-turförderung der Kommunen und Länder wesentlichdazu bei, die kulturelle Vielfalt zu fördern . Ich möchtehier einige Aspekte herausstellen . Neben der Erfüllungder institutionellen und repräsentativen Kulturaufgabendes Bundes ist es wichtig, die Rahmenbedingungen fürkreative Arbeit zu verbessern . Es ist unsere Aufgabe,zu verhindern, dass Kulturschaffende durch das sozialeNetz fallen .Der Entwurf für den Haushalt 2016 der BKM bieteteine gute Grundlage . Für die SPD-Bundestagsfraktionwill ich ausdrücklich positiv hervorheben, dass es er-neut gelungen ist, den Etatansatz für Kultur im Regie-rungsentwurf zu steigern, nämlich um knapp 4,5 Pro-zent . Darin enthalten sind auch die Aufwüchse bei denPersonalmitteln, für die wir uns in den Beratungen zumHaushalt 2015 erfolgreich eingesetzt haben . Dass diesezusätzlichen Mittel für alle durch den Bund gefördertenKultureinrichtungen sowie die Deutsche Welle, die langeüberfällig waren, nun fortgeschrieben werden, begrüßenwir sehr .
Auf diese Weise können die Einrichtungen die Tarifstei-gerungen auffangen, ohne dass Einsparungen bei Perso-nal, Programm oder Inhalt vorgenommen werden müs-sen . Andererseits wurden einige der Aufwüchse aus demparlamentarischen Verfahren zum Haushalt 2015 bedau-erlicherweise nicht fortgeschrieben . Wir werden uns inden jetzt anstehenden Beratungen gemeinsam anschauenmüssen, was dort zu tun ist .
Auch diejenigen Kulturschaffenden, die von den Ta-rifsteigerungen nicht profitieren, müssen wir im Blick ha-ben, allen voran die freiberuflich tätigen Kulturschaffen-den, deren Zahl in den letzten Jahren stetig angestiegenist. Freiberufliche Leistungen im Kulturbereich unterlie-gen keinen gesetzlichen Vorgaben . Einige Berufsverbän-de haben Honorarempfehlungen oder Handreichungenzur Berechnung freiberuflicher Arbeit erstellt. DieserWeg muss konsequent weitergegangen werden . Hierträgt auch die öffentliche Hand eine Verantwortung,wenn es darum geht, dass in der Kulturförderung faireVergütungen und Honorare gezahlt werden .
Wir müssen eine Zweiklassengesellschaft von denen, diein den vom Bund geförderten Einrichtungen von Tarif-steigerungen profitieren, und denen, die auf der Basisvon Projektförderung künstlerischer und kreativer Arbeitnachgehen, vermeiden .Von existenzsichernder Wichtigkeit für viele freibe-rufliche Kulturschaffende ist nach wie vor die Künstler-sozialversicherung . Wir haben einen weiteren Anstiegdes Abgabesatzes verhindert, für eine gerechtere Lasten-verteilung gesorgt und die Künstlersozialversicherungauf sichere Beine gestellt .Die Arbeitsverhältnisse von Kulturschaffenden sindbesonderen Umständen unterworfen . Das gilt insbeson-dere für den Erwerb des Anspruches auf ALG I . Da dieaktuell gültige Regelung für kurz befristet BeschäftigteEnde 2015 ausläuft, müssen wir noch in diesem Jahr eineEntscheidung treffen . Davon sind viele Kulturschaffendebetroffen . Wir brauchen eine Anschlussregelung, die dieSigrid Hupach
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Besonderheiten in der Kultur- und Kreativwirtschaft be-rücksichtigt .Liebe Kolleginnen und Kollegen, Grundlage kreativerErwerbsarbeit sind geistige Schöpfungen . Deshalb müs-sen wir eine angemessene Vergütung für die Nutzungkreativer Leistungen sicherstellen und geistiges Eigen-tum vor Rechtsverletzungen im digitalen Raum schützen .Dazu brauchen wir ein faires und zeitgemäßes Urheber-recht, das die Interessen von Urhebern, Verwertern, Nut-zern und Konsumenten ausgleicht .Im Mittelpunkt müssen jedoch weiterhin der Urheberund sein kreatives Schaffen stehen; denn sie schaffen denInhalt, den Content . Mit der bevorstehenden Reform desUrhebervertragsrechts wollen wir die strukturell schwä-chere Position des Urhebers im Verhältnis zum Verwerterverbessern . Die Erfahrungen seit der letzten Anpassungdes Urheberrechtsgesetzes 2002 haben gezeigt, dass diesauch wirklich nötig ist .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch in der Filmpo-litik hatten wir uns für die laufende Wahlperiode einigesvorgenommen . Wir haben die Digitalisierung unserer Ki-nolandschaft mit dem erfolgreichen Digitalisierungspro-gramm abgeschlossen .Wir haben die zeitliche Befristung des Deutschen Film-förderfonds aufgehoben und damit die Förderung derFilmwirtschaft auf Dauer gestellt . Sicherlich: Als Kultur-politiker hätte ich mir gewünscht, dass wir das auf demalten Niveau hätten fortsetzen können . Umso mehr freueich mich über die Initiative von Bundeswirtschaftsminis-ter Sigmar Gabriel, die Förderung der Filmwirtschaft mitMitteln aus seinem Etat zu ergänzen . Ich begrüße das;denn nur so können wir unsere kulturpolitische Zielset-zung in der Filmpolitik erreichen .Unser Ziel ist die Sicherung einer breiten Vielfaltbeim Filmschaffen in Deutschland . Dafür ist neben Wirt-schaftsförderung weit mehr erforderlich . Wir müssenauch verstärkt etwas dafür tun, dass in Deutschland mehrFilme entstehen können, bei denen die künstlerischeQualität nicht zu kurz kommt . Deshalb sollten wir unsergesamtes Fördersystem von Bund und Ländern in denBlick nehmen, um hier nach Möglichkeiten zu suchen,mit denen wir den künstlerischen Output im deutschenFilmschaffen nachhaltig stärken können . Die anstehendeNovelle zum Filmförderungsgesetz bietet hierzugenügend Ansatzpunkte und Möglichkeiten, das auchumzusetzen .Wenn wir die Vielfalt des deutschen Films sichernwollen, dann müssen wir uns auch um unser großes undgroßartiges Filmerbe kümmern; denn vieles droht in derVersenkung zu verschwinden oder gar unwiederbringlichverloren zu gehen . Mit der Digitalisierung der alten Fil-me können wir altes, vom Verfall bedrohtes Filmmaterialretten, wir können beschädigte Kopien restaurieren, undvor allem können wir unser Filmerbe auf völlig neuenDistributionswegen verfügbar machen .Obgleich wir im parlamentarischen Verfahren für2015 1 Million Euro für das Filmerbe bereitgestellt ha-ben, enthält der vorliegende Haushaltsentwurf für 2016für das Filmerbe keine entsprechenden Mittel . Aber dasist angesichts der aktuellen Situation auch schnell erklärt .Bevor sich nun der Bund verpflichtet, müssen wir die an-deren mit an Bord nehmen, die auch Verantwortung tra-gen . Das sind vor allem die Länder und die Filmbranche .Die dazu notwendigen Gespräche werden bereits geführt .Ich bin zuversichtlich, dass wir im kommenden Jahr einentsprechendes Programm auf den Weg bringen werden,um auch hier dafür zu sorgen, dass unser reiches kulturel-les Filmerbe erhalten und zugänglich bleibt .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe meineRede mit einem Appell . Wenn wir die kulturelle Vielfaltunserer Gesellschaft als Chance nutzen wollen, müssenwir die kulturelle Bildung fördern . Kulturelle Bildungbietet ein großes Potenzial, um mit den Menschen, die inunser Land kommen, ins Gespräch zu kommen, um unsfür ihre und sie für unsere Kultur zu öffnen . Viele Kul-tureinrichtungen widmen sich bereits jetzt mit großemEngagement der kulturellen Bildungsarbeit mit Flücht-lingen, allen voran mit Kindern und Jugendlichen . Diesist der richtige Weg, den wir in Zukunft noch viel konse-quenter und energischer gehen müssen .Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit .
Vielen Dank . Das war wirklich eine Punktlandung . –
Das Wort hat jetzt Anja Hajduk, Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Ich möchte über das Projekt „Museum der Mo-derne“ sprechen, wofür wir im vergangenen Haushalt200 Millionen Euro bereitgestellt haben; das kommtnicht jährlich vorkommt .Frau Grütters, wir sind uns zumindest in einem Punkteinig: Dieses Museumsprojekt mit der Aussicht ganzwunderbare Kunstobjekte zu präsentieren, hat eine ganzgroße kulturelle Bedeutung für unsere Hauptstadt . Des-wegen möchte ich es in den Mittelpunkt meiner Redestellen .Wir Grüne – das will ich hier auch betonen – sind Un-terstützer dieses Projektes und wollen es auch bleiben .
Aber – und das gehört zur Ehrlichkeit dazu –: Vergan-gene Woche ist der Ideenwettbewerb von Ihnen in derÖffentlichkeit präsentiert worden, und er beginnt jetzt .Frau Grütters, wie war das öffentliche Echo auf dieses ei-gentlich so gewinnende Projekt? Das öffentliche Echo inden Medien, ob Süddeutsche Zeitung, ob Die Zeit, ob dieBerliner Zeitung oder andere, war – wenn man es freund-lich ausdrückt – bescheiden . Wenn man die Artikel mitInteresse liest, muss man feststellen: Das Echo war vonBurkhard Blienert
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viel Unverständnis für Sie geprägt, Frau Grütters, wie Siedas Projekt jetzt auf die Spur gesetzt haben .
Ich zitiere Die Zeit vom 27 . August 2015, Herrn Rau-terberg:Eigentlich geht es in einem ersten Schritt . . . darum,Ideen zu sammeln . Die Architekten sollen ihre Fan-tasie spielen lassen, sollen zeigen, was überhauptmöglich wäre, wenn denn alle, der Bund und dasLand Berlin, das Kulturforum endlich ernst nähmen .Und weiter zu Ihnen, Frau Grütters, schreibt er:Sie wagt nicht die Offenheit, die es braucht . Sie lässtden Architekten nicht die Freiheit, die für eine sol-che Aufgabe nötig ist . Gegen alle Ratschläge, gegendie Proteste der wichtigsten Architektenverbändeund die Einwände vieler kluger Einzelstimmen . . .hat sie sich festgelegt: Das neue Museum kann nuran einem Ort entstehen, an der Potsdamer Straße .Ich muss es Ihnen deutlich sagen, Frau Grütters: Ichfinde, Sie haben ein falsches Rollenverständnis. Sie sinddie Kulturstaatsministerin . Es ist lobenswert, wenn Sieso ein Projekt nach vorne bringen; aber Sie sollten Ar-chitekten und Städteplaner so mitwirken lassen, dass diestädtebaulich beste Entwicklung an diesem weltweit be-deutenden Standort möglich ist .
Dass Sie sagen: „Ich entscheide“, halte ich für falsch,für eine politische Hybris . Das wird auch von vielen an-deren so gesehen .
Ich finde es dreist, wenn Sie das auch noch damitrechtfertigen, dass der Bund Mittel für den Museumsbauzugesagt habe, nicht aber für städtebauliche Visionen .Dies ist ein Ort, an dem der Städtebau mitgedacht wer-den muss . Die Situation im Haushaltsausschuss dazu warschon absurd . An dieser Stelle muss ich die Kollegen derRegierungsfraktionen einmal in Schutz nehmen . Sie ha-ben tapfer darum gekämpft, dass offenbleibt, an welchenStandort wir gehen .
Das ist aber von oben durchgezogen worden . DerHaushaltsausschuss hat die städtebauliche und kulturelleDiskussion offenhalten wollen; aber die Kulturstaatsmi-nisterin sagt: Bums, das mache ich so .
Man muss sich einmal fragen: Welche Rolle spielteigentlich Berlin dabei? Dazu muss ich sagen – FrauGrütters ist die wirkliche Berlin-Expertin -: Berlin hatdie Planungshoheit und hält sich seltsamerweise zurück .Als Vollstrecker des Bundeswillens hält sich der Senatin Berlin zurück . Ich bin mir nicht sicher, ob das ange-sichts des langen Planungsverfahrens, das vor uns liegt,am Ende gutgehen wird . Senatsbaudirektorin Lüscherhat nun anscheinend, wenn der Bericht aus der BerlinerZeitung von Herrn Bernau richtig ist, letzte Woche ge-sagt, man müsse nun – Zitat – „volles Risiko gehen – undvielleicht dann feststellen, dass man hier nicht bauenkann“ . Man muss wissen, dass an dem Standort, von demFrau Grütters sagt, dass es der einzig richtige ist, eineStarkstromleitung verläuft, sodass die wichtige, absolutnotwendige Verbindung zur Neuen Nationalgalerie zu-mindest in den nächsten 15 Jahren gar nicht möglich ist .Eine aus europäischer Sicht wichtige Starkstromleitungwird nämlich deswegen nicht verlegt . Wenn das, wasFrau Lüscher sagt, ernst zu nehmen ist, dann verantwor-ten Sie, Frau Grütters, wenn dieses Museumsprojekt einesehr lange Zeitspanne für die Verwirklichung braucht,etwas, was Sie immer verhindern wollten .Im Namen meiner Fraktion möchte ich einen letztenPunkt ansprechen . Ich sage Ihnen schon heute ganz klar:Wir werden nicht akzeptieren, dass es eine investoren-getriebene Architektur gibt, weil Sie das als PPP bauenwollen .
Ich finde es mehr als bemerkenswert, ich finde esunfair und unangemessen, dass Sie das Bundesamt fürBauwesen und Raumordnung ständig schlechtreden undbehaupten, das Bundesamt könne das nicht unter Einhal-tung des Kostenrahmens bauen .
Ich wünsche mir, dass Frau Hendricks sich das nichtbieten lässt . So einseitig kann man nicht vorgehen .Deswegen rufe ich Sie auf, Frau Grütters: Passen Sieauf, dass Sie nicht die Unterstützer verlieren . So ein Pro-jekt braucht eine faire öffentliche Beteiligung und faireMitsprachemöglichkeiten für Experten . In diesem Sinnehaben Sie umzusteuern .Schönen Dank .
Vielen Dank . – Jetzt hat Rüdiger Kruse, CDU/
CSU-Fraktion, das Wort .
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Zurzeit strömen Hunderttausende Menschennach Europa, und wir sind irgendwie überrascht . Ange-sichts der europäischen Geschichte ist es verständlich,dass wir überrascht sind; denn über Jahrhunderte habenwir selbst Migranten produziert durch Krieg, Vertreibungund Verfolgung . Jetzt ist offenbar ein Bild von Europaentstanden, das so attraktiv ist, dass nun Menschen ausanderen Regionen aus den gleichen Gründen, aus denenMenschen aus Europa geflohen sind, nach Europa flie-hen .Anja Hajduk
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Dass wir so überrascht sind, hat auch etwas damit zutun, dass wir kein geschlossenes Selbstbild von Euro-pa haben, ein Problem, das wir Deutschen gut kennen .Wenn man kein eigenes Selbstbild hat, dann wundertman sich erst recht über das Fremdbild, auch wenn manes als Kompliment annehmen darf, wenn Menschensagen: Dort wollen wir hin . Es wäre also sinnvoll, einSelbstbild zu finden, es zu definieren.Das haben wir auch in der Finanzkrise gesehen . Es istnicht möglich, Europa nur mit Zahlen zu bauen . Das hältnicht zusammen . Das würde nicht funktionieren . WennEuropa eine Holding wäre, dann hätte man viele Ländernach drei Monaten auf Verkauf gestellt . Das entsprächeaber nicht der europäischen Idee .Was ist jetzt die Chance? Die Chance ist in etwa so, alswenn Sie Besuch haben oder jemand neu in Ihre Firmakommt, der Ihre Stadt nicht kennt . Dann haben Sie dieChance, Ihre Stadt selber kennenzulernen, indem Sie sieihm zeigen . Wenn jemand kommt und Ihre Kultur nichtkennt, Sie aber die Erwartung haben, dass er sich in dieseKultur integriert, dann sollten Sie zumindest wissen, wel-che Kultur Sie denn meinen . Das, glaube ich, ist unserAuftrag .Die Staatsministerin hat gesagt, dass wir Projekte undInitiativen stärken müssen, die sich mit der kulturellenEinbindung von Migranten beschäftigen . Das ist sehrwichtig . Aber das wäre zu wenig; denn dann hätten wir,wenn es richtig gut läuft, bloß 1 Million Menschen mehr,die die deutsche oder europäische Kultur kennen . Dasheißt, an die – geschätzt – 50 Millionen in Deutschlandkennen sie immer noch nicht; denn wir haben das Prob-lem, dass Kultur derzeit eine Angelegenheit ist, die ver-erbt wird . Sind Ihre Eltern ins Theater gegangen, ist dieChance sehr hoch, dass Sie das irgendwann auch einmalmussten . Das mussten Sie dann so oft, bis Sie Gefallendaran gefunden haben . Das ist so ähnlich wie beim erstenBier: Hat irgendjemandem sein erstes Bier geschmeckt?Nein, natürlich nicht . Das erste Bier schmeckt nicht . Sietrinken es aus Gruppengefühl .Jetzt will ich nicht weiter über diese legale Drogereden . Ich will aber sagen: Sie müssen irgendwie dieChance bekommen, diesen ersten Schluck von Kulturzu nehmen . Diese Chance müssen nicht nur die Migran-ten bekommen . Da ist es sehr naheliegend . Da ist aucheine große Neugier da . Das ist der große Vorteil . Aberwir müssen natürlich auch etwas dafür tun, dass die brei-te restliche Bevölkerung, die wir seit der Gründung derBundesrepublik immer noch nicht mitgenommen ha-ben, nun mitkommt . Das nennt man Demokratisierungder Kultur . Das muss unser Antrieb sein, weil wir sonstjedes Mal, wenn wir einen Haushalt beraten – und seider Anteil des Kulturhaushalts am Bundes- oder Lan-deshaushalt auch so verschwindend gering, dass es sichüberhaupt nicht lohnt, über Kultur zu reden –, bei derAuflistung von unnötigen, überflüssigen und Luxuspro-jekten die Kultur weit vorne haben und die meisten Leuteder Ansicht sind, würde man bei der Kultur sparen, hätteman schon den halben Haushalt saniert . Das also wollenwir nicht .Wir brauchen ein Mehr an Kultur, und wir brauchenbessere Zugänge dazu . Es reicht nicht, dass wir neueMuseen bauen und alte erhalten und zudem durch Tari-fangleichung dafür sorgen, dass die Leute, die morgensdas Licht an- und abends wieder ausschalten, anständigbezahlt werden . Das kriegen wir hin . Was wir zurzeitnicht hinkriegen, sind Ausstellungen von Weltrang, dierichtig spannend sind . Wir kriegen es nicht hin, dasswirklich breite Bevölkerungsteile in Ausstellungen ge-hen und dann heftig darüber diskutieren . Wir brauchenSkandalausstellungen .
Wir brauchen Ausstellungen, die uns betreffen, über diewir auch in der Politik reden und mit denen wir uns aus-einandersetzen . Wir haben ganz gute Ansätze gewählt,wo wir Dinge verstärken . Wir machen ja inzwischenauch mehr . Wir machen sogar offene Projekte; ich denkeda an das Haus der Kulturen der Welt . Aber wir brau-chen deutlich mehr, und deswegen ist ein Aufwuchs von4 oder 5 Prozent noch zu wenig .Es geht auch überhaupt nicht, dass da, wo wir alsBund für einen Aufwuchs sorgen, Länder und Kommu-nen zurückfahren .
Man muss bei all den Debatten, die wir führen, auch ein-mal daran erinnern, dass nicht nur der Bundeshaushaltmit Steuermehreinnahmen gesegnet ist; vielmehr ist esso – Sie kennen die Verteilung -: Wenn wir mehr kriegen,kriegen auch die Länder und Kommunen mehr . Zudemhat der Bund sehr viele Entlastungsschritte in diese Rich-tung unternommen . Deshalb muss man in den Verhand-lungen mit den Ländern und Kommunen auch einmalsagen: Dafür, verdammt noch mal, verlangen wir, dassihr euren Kulturetat nicht kürzt, sondern ihn aufstockt!Herfried Münkler, der sich mit Deutschland als Machtin der Mitte beschäftigt hat, hat in seinem Buch ein Kapi-tel der kulturellen Macht gewidmet, die er dann als „SoftPower“ bezeichnet . Er sagt, dass diese kulturelle Machtwahrscheinlich die kostengünstigste Möglichkeit ist, Po-pulismus entgegenzuwirken . Das gilt auch für das, wasja ebenfalls gefordert worden ist: den Kampf gegen Ex-tremismus . Extremismus entspringt aus Unkenntnis undaus Angst, Angst vor dem Fremden zum Beispiel . Einschöner und erfolgreicher deutscher Film, ein kulturellwertvoller deutscher Film war Angst essen Seele auf . DieAngst vor dem Fremden kann man durch die Neugier aufdas Fremde überwinden . Das wiederum weckt Kultur .Daher macht es sehr viel Sinn, wenn wir uns in diesemBereich stärker engagieren .Wir müssen natürlich eines wissen – auch das sagtMünkler -: Politiker machen keine Filme; sie könnenes auch nicht . Wenn sie ganz besonders waren, sind sievielleicht einmal ein Motiv für einen Film oder für einBuch . Wir sind Handwerker . Wir müssen die Rahmenbe-dingungen schaffen, damit andere das machen . Wir müs-sen sie jetzt auch so schaffen, dass das auf europäischerEbene möglich ist . Wir müssen dafür sorgen, dass es inder Finanzkrise nicht zu Kürzungen im Bereich der Kul-Rüdiger Kruse
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tur kommt – bei anderen Ländern kann ich das viel mehrverstehen, wenn sie sehr viel kürzen müssen -; denn dannwären das unattraktive Ruinen . Das heißt, wir braucheneine europäische Initiative .Wir sollten den Ansatz finden, eine europäischeRenaissance einzuleiten . Das Wesen der Renaissance be-steht aus zwei Dingen: aus der Rückbesinnung, also ausder Beschäftigung mit dem, was vorher war – nicht ineinem konservativen Sinne, sondern in einem, dass man,wenn man es kennt und sich damit auseinandersetzt,Neues entwickeln kann –, und aus einer starken Verbrei-terung des kulturellen Austausches . Eigentlich war dasdamals unvorstellbar .Wir können ja einmal versuchen, den Künstler ElGreco zuzuordnen . Er wurde in Griechenland geboren .Angefangen hat er auf Kreta, dann ist er nach Venediggegangen und dann nach Rom . Später war er in Tole-do bestimmender Meister des spanischen Manierismus .Ich weiß jetzt nicht, ob das nun ein griechischer, spani-scher oder italienischer Künstler ist . Von der Geburt herist es eindeutig . Seine Kunst ist international . Was diedamals an gegenseitiger Beeinflussung geschafft haben,können wir heute doch viel leichter . Wir sollten die Aus-tauschmöglichkeiten nutzen und stärken und im Sinneeiner europäischen Kulturpolitik dahin gehend wirken,dass wir unsere Maßstäbe auch nach außen senden .Man muss auch den Menschen, die hierherwollen, sa-gen, dass sie alles an Kreativität mitbringen dürfen, aberdie gesamte Engstirnigkeit bitte zu Hause lassen undüberwinden . Es gibt nicht die Einladung, dass diejenigen,die von Ignoranten vertrieben worden sind, ihre eigenenIgnoranzen hier ausleben . Zur Vermeidung dessen brau-chen diese Menschen ein positives politisches und kul-turelles Bild von Europa, und wir müssen uns um diesesBild bemühen . Dafür ist es notwendig, dass wir nicht nurunseren eigenen Etat deutlich stärken, sondern als Deut-sche maßgeblich auf eine europäische Kulturinitiativehinwirken; denn das ist eine der günstigsten Möglichkei-ten, etwas für Freiheit und Recht in dieser Welt zu tun .Danke schön .
Vielen Dank . – Das Wort hat jetzt Ulle Schauws,
BÜNDNIS 90/Die Grünen .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste! Kulturpolitischwar in letzter Zeit viel von großen Plänen und Namenzu hören, leider weniger von handwerklich guten Kon-zepten oder nachhaltigen Strukturlösungen . Aber es kannund darf bei dem Auftrag, den die Bundeskulturpolitikhat, nicht nur um schnelle Erfolge und leere Ankündi-gungen gehen .Ein erstes Paradebeispiel ist die ausstehende Novellie-rung des Kulturgutschutzgesetzes . Hier war im Sommerdie Aufregung groß . Die Feuilletons waren voll davon .Da stellt man sich die Frage: Warum war das so? Weil un-sinnige Neuregelungen bei Künstlern und Sammlern Pa-nikreaktionen ausgelöst haben . Es ging um private Leih-gaben in öffentlichen Museen, es ging um die Rechte aufZutritt zu privaten Sammlungen . Diese Regelungen, FrauStaatsministerin, befanden sich in einem Referentenent-wurf Ihres Hauses . Jetzt müssen Sie unter Hochdrucknachbessern . Da sage ich Ihnen: Das war nicht nur hand-werklich ganz schlecht, sondern das hätte Ihnen so auchnicht passieren dürfen .
Einmal ganz abgesehen von Ihrer miserablen Kommu-nikation . Es bei einem so hart umkämpften Gesetz zuversäumen, das Warum und das Wie von Regelungenverständlich zu erklären, war ein eklatanter Fehler . Siehaben unnötig Öl ins Feuer der Händlerlobby gegossen .Hier hätte ich mir von einer Staatsministerin – das mussich ganz ehrlich sagen – mehr Weitblick und einen pro-fessionelleren Umgang erwartet .
Mit massivem Widerstand durch die Händlerlobbywar zu rechnen; das haben Sie gewusst . Das hat bereitsdie Umsetzung des Kulturgüterrückgabegesetzes 2007gezeigt . Die wichtigen Fragen, zum Beispiel unter wel-chen Voraussetzungen Kulturgut zukünftig als nationalwertvoll eingetragen wird, lassen Sie weiter offen . Hierbestätigt sich Ihre Vorgehensweise: Großes ankündigen,nicht entsprechend inhaltlich nachliefern .Noch ein Thema der Kategorie „Schöner Plan – feh-lendes Konzept“ steht auf der kulturpolitischen Agenda:das Humboldtforum; Sie haben es eben wieder erwähnt .Auch hier hören wir von der Bundesregierung vor allemeuphorisierte Superlative . Mit dem Gründungsintendan-ten Neil MacGregor steht uns herausragende Kompetenzzur Verfügung; ganz ohne Frage . Das ist gut, aber dasreicht ja nicht aus .
Bis heute haben Sie konzeptionell immer noch nichtsSubstanzielles geliefert . Offen bleibt neben dem Inhaltaußerdem die zukünftige Finanzierung .Auch bei TTIP sind wir Zeuginnen und Zeugen einerKulturpolitik, die Großes verkündet und erst dann schaut,wohin die Reise geht . Sie behaupteten, Frau Staatsmi-nisterin, die Kultur könne von den Verhandlungen durcheine Generalklausel ausgenommen werden . Haben Siekonkret etwas dazu gemacht? Wir haben seitdem nichtsmehr von Ihnen dazu gehört .Das Gutachten unserer Fraktion zu den möglichenAuswirkungen von TTIP auf den Kulturbereich hat ge-zeigt: Die Verhandlungsstrategie der USA lässt eine sol-che Ausnahme überhaupt nicht zu . Ich sage Ihnen: So be-deutende Verhandlungen können Sie nicht laufen lassennach dem Motto „Wird schon gut gehen“ . Das reicht uns,das reicht auch den Kulturleuten nicht aus .
Rüdiger Kruse
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Was wir von einer Kulturstaatsministerin erwarten –und zu Recht erwarten können –, sind eine nachhaltigeKulturpolitik und eine Vision für morgen . Meine Damenund Herren von der Bundesregierung, ich frage Sie: Wofinden wir die im Koalitionsvertrag angekündigte kon-zeptorientierte Kulturförderung, wo die Analysen undStatistiken einer verstärkten Kulturpolitikforschungund die angekündigten Maßnahmen zu Inklusion, Ge-schlechtergerechtigkeit und interkultureller Öffnung vonKulturbetrieben? Gerade jetzt, da uns alle das Thema„Flucht vieler Menschen“ beschäftigt, da es uns alle an-geht – viele von Ihnen haben es heute erwähnt –, ist auchdie Kulturpolitik der Regierung gefordert, ihren Beitragzu leisten . Ich hoffe, dass wir Ihre Konzepte dazu baldbekommen werden . Ich sage noch einmal: Große Plä-ne brauchen gute und nachhaltige Konzepte . Das ist imBKM eine große Leerstelle . Darum, Frau Grütters: Ma-chen Sie Ihre Hausaufgaben! Sie haben nur noch zweiJahre Zeit .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die
Kollegin Dr . Eva Högl .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Zum Ende unserer Debatte – wir haben jetztfast vier Stunden diskutiert – und zum Ende unserer kul-turpolitischen Debatte möchte ich Sie alle ganz herzlicheinladen, einen übergeordneten Blick auf die Rolle derKultur zu werfen, gerade auf die Bedeutung der Kultur-politik im Zusammenhang mit der außenpolitischen Situ-ation, mit der Situation von Flüchtlingen .Ich möchte darauf hinweisen, dass Kultur in zweiRichtungen wirkt und beide Richtungen gleichermaßenwichtig sind:Kultur hat ganz starke Signalwirkung nach außen; ichhalte es für sehr wichtig, dass wir das auch in dieser De-batte betonen . Investitionen in Kulturgüter und kulturelleProjekte entfalten ihre Ausstrahlungskraft weit über dieGrenzen Deutschlands hinaus . Durch seine Kultur prä-sentiert sich Deutschland, und zwar weltoffen, und heißtMenschen willkommen . Der Umgang einer Nation mitihren Kulturschätzen zeichnet sie auch aus .Ich möchte heute ein Beispiel nicht unerwähnt lassen,das uns alle erschüttert hat, als wir es vernommen ha-ben – der Umgang mit Kultur in dieser Region erschüt-tert uns ja seit Wochen und Monaten -: die Zerstörung derantiken Grabstätten in der syrischen Oasenstadt Palmyra .Das ist ein tragischer Verlust einmaligen und nie wieder-herzustellenden Kulturguts . Palmyra war ein Treffpunktder Kulturen . Palmyra steht für multikulturelles Mitei-nander, griechisch-römische Architektur, orientalischverziert . Die Stadt wurde 1980 zum UNESCO-Weltkul-turerbe erhoben . Durch die gezielte Zerstörung durch dieTerrormiliz „Islamischer Staat“ ging dieser Kulturschatzfür immer verloren . Diese Tragik kann man, glaube ich,nicht genügend betonen . Es ist wichtig, dass wir bei derDiskussion über die Lage in der Welt immer auch dieKultur im Blick haben; denn sie sagt etwas über die Lagein der Welt aus .Darüber hinaus wirkt Kultur nach innen, und darü-ber reden wir in unserer Debatte heute ja auch sehr viel .Kultur ist ein Ausdruck unserer Werte . Sie schafft Zu-sammenhalt und Identifikation. Kultur fördert das ge-sellschaftliche Miteinander, und sie schafft auch für dieMenschen, die zu uns kommen – das ist heute schon er-wähnt worden –, Teilhabe, Entfaltungs- und Ausdrucks-möglichkeiten und nicht zuletzt für uns alle Freude anSchönem und Wunderbarem .Aus diesem Grunde ist es richtig und wichtig, dasswir weiterhin intensiv in Kultur und kulturelle Projekteinvestieren . Ich sage das ganz besonders vor dem Hinter-grund, dass es in diesen Tagen bei den Haushaltsberatun-gen darum geht, unsere gemeinsamen Anstrengungen indie Versorgung und Betreuung der Flüchtlinge zu inves-tieren . Das geht aber nicht gegeneinander, sondern daserfordert eine gemeinsame Kraftanstrengung von Bund,Ländern und Kommunen . Hier brauchen wir auch Inves-titionen in Kultur, und deswegen freue ich mich über dieSteigerung des Kulturetats .
Ich möchte auch noch einmal deutlich sagen, dass wirParlamentarierinnen und Parlamentarier es sind, die trotzeiner guten Vorlage – natürlich von Frau Grütters – im-mer noch eine Schippe drauflegen. Ich verspreche mirdas selbstverständlich auch von den weiteren Haushalts-beratungen . In der Vergangenheit sind das Denkmal-schutz-Sonderprogramm und die Aufstockung der Mittelfür die Deutsche Welle im parlamentarischen Verfahrenerreicht worden . Dies waren gute Signale für die Ausstat-tung von Kultur und Medien .
Vier Themen möchte ich kurz ansprechen, liebe Kol-leginnen und Kollegen:Erstens . Ich beginne – wie könnte es anders sein – mitder Hauptstadtkulturförderung . Als Berlinerin mit demWahlkreis Berlin-Mitte liegen mir diese Projekte natür-lich sehr am Herzen . Sie liegen aber auch dem ganzenHaus am Herzen, und deswegen hoffe ich natürlich, dasswir die Hauptstadtkultur auch weiterhin gut fördern;denn Berlin repräsentiert die Kultur Deutschlands undexemplarisch auch die kulturelle Vielfalt in unseremLand . Hier gibt es kein Gegeneinander der Fläche undder Hauptstadt, aber das bedarf einer gesonderten Finan-zierung und eines besonderen Augenmerks . Deswegenhoffe ich, dass wir bei der Finanzierung der Hauptstadt-kultur auch weiterhin gemeinsam gute Wege gehen undBerlin entsprechend ausstatten, sodass es diese Aufgabeübernehmen kann .Ich möchte daran erinnern, dass es in Berlin vieleLeuchtturmeinrichtungen gibt, die wir mit BundesmittelnUlle Schauws
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11641
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unterstützen: die Berlinale, den Martin-Gropius-Bau, dieAkademie der Künste oder auch das Haus der Kulturender Welt . Das kennen und schätzen wir alle . Sie alle ha-ben eine große Bedeutung .Ich möchte hervorheben, dass zum Beispiel der Mar-tin-Gropius-Bau aus der Projektmittelförderung heraus-und in die institutionelle Förderung hineingekommenist . Ich denke, das ist ein guter Weg, den wir auch weiterbeschreiten sollten .Zweitens . Keine Rede zur Kultur ohne die Erwähnungdes Humboldt-Forums! Der Bau des Humboldt-Forumsist auf einem guten Weg . Jetzt kommt es auf die inhaltli-che Ausgestaltung an . Ich möchte aber noch einmal ganzdeutlich machen, dass die Baustelle des Humboldt-Fo-rums in Berlin – darauf sind wir alle sehr stolz – unsereVorzeigebaustelle ist . Das ist ja nicht bei allen Baustellender Fall, aber das Humboldt-Forum ist unter guter Regieauf einem guten Weg; es ist im Kosten- und Zeitplan . Wiralle freuen uns schon auf die Eröffnung .Jetzt geht es natürlich darum, das Humboldt-Foruminhaltlich gut auszugestalten . Das Humboldt-Forum liegtim Herzen von Berlin und – Frau Grütters hat es ebenschon gesagt – soll die Kulturen der Welt anziehen undsie im Herzen von Berlin vertreten und widerspiegeln .Darüber werden wir miteinander sprechen und das gutausgestalten .Ich freue mich ganz besonders, dass wir bei der letz-ten Sitzung des Stiftungsrates des Humboldt-Forumsentschieden haben, dass ein Vertreter des AuswärtigenAmts Mitglied des Stiftungsrates wird, weil es natürlichein wichtiges Signal ist, dass wir das Auswärtige Amt anBord haben und auch die Auswärtige Kulturpolitik ein-beziehen können .
Drittens . Ebenfalls im Herzen von Berlin wird dasMuseum der Moderne geplant . Frau Hajduk hat ja ihregesamte Redezeit auf das Museum der Moderne ver-wandt und einiges kritisch angemerkt . Auch ich möchteein paar Worte dazu sagen und an der einen oder anderenStelle einen anderen Akzent setzen .Zunächst einmal ein herzliches Dankeschön an alle imHaushaltsausschuss, die das Museum der Moderne durchdie Bereitstellung der Mittel in Höhe von 200 MillionenEuro möglich machen . Es wird eine wichtige Ergänzungder Neuen Nationalgalerie werden, und wir werden dieChance bekommen, im Herzen von Berlin die Sammlun-gen Pietzsch, Marx und das Archiv Marzona zu zeigen .Das ist eine wirkliche Bereicherung für die gesamte Kul-turlandschaft und natürlich auch für die Berliner Kultur .Ich bin sehr optimistisch, liebe Kolleginnen und Kol-legen, dass wir dieses Ziel mit einem Ideenwettbewerbgut erreichen; denn es ist ein offener Ideenwettbewerb .Von diesem Ideenwettbewerb verspreche ich mir natür-lich genauso wie Sie, Frau Hajduk,
dass er eine Ausstrahlungskraft auf das gesamte Areal hatund auch die Möglichkeit beinhaltet, das Kulturforumstädtebaulich zu verbessern und aufzuwerten;
denn das ist dringend erforderlich . Wenn wir aber dasganze Areal städtebaulich aufwerten wollen, wie unsdas wahrscheinlich gemeinsam vorschwebt, müssen wirnoch deutlich mehr Geld in die Hand nehmen .
Dafür reichen die 200 Millionen Euro für den Museums-bau nicht aus . Ich lade herzlich ein, dass wir uns überdiesen Ideenwettbewerb für den Bau hinaus gemeinsamGedanken machen,
wie wir das Kulturforum aufwerten können .Für die SPD-Fraktion jedenfalls sage ich, dass wir denStandort des Museums der Moderne an der PotsdamerStraße richtig finden.
Das ist der geeignete Standort . Dahin gehört das Muse-um . Aber ich bin natürlich auch dafür, dass in dem Ide-enwettbewerb darüber gesprochen wird, wie man denStandort im Einzelnen ausgestaltet . Ich hoffe sehr, dasswir dann auch im Kosten- und Zeitplan bleiben, sodasswir uns auf eine wunderbare Museumseinweihung imJahr 2021 freuen können .
Eine Bemerkung zu der Frage, wie das Museum ge-baut wird und welche Form der Projektsteuerung wirwählen . Ich will auch für die SPD-Fraktion ganz offensagen, dass wir ein großes Fragezeichen hinter die inten-sive Überlegung machen, das Projekt in öffentlich-priva-ter Partnerschaft zu realisieren .
Ich möchte mich ganz deutlich dafür aussprechen, dasswir ernsthaft und konzentriert überlegen und am Ende –das wäre mir die liebste Variante – dazu kommen, dasProjekt in öffentlicher Verwaltung durchzuführen .Ich denke, das wäre für dieses Museum das Richti-ge . Dass wir das können, zeigt das Humboldt-Forum;ich habe es eben schon erwähnt . Es ist ein exzellentesBeispiel dafür, dass wir in der Verantwortung der öffent-lichen Verwaltung schöne Gebäude errichten können
und dabei im Kosten- und Zeitplan bleiben . Deswegenbitte ich darum, diese Überlegungen ernsthaft zu prüfen .Dr. Eva Högl
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 201511642
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Ich wäre sehr froh, wenn wir dazu kämen, den Bau inder Verantwortung der öffentlichen Hand durchzuführen .
Meine vierte und letzte Bemerkung bezieht sich aufdie Novellierung des Kulturgutschutzgesetzes . Diese No-vellierung ist dringend erforderlich, weil wir nämlich imnationalen und internationalen Rahmen – ich habe zu Be-ginn meiner Rede im Zusammenhang mit Palmyra voninternationaler Kultur gesprochen – einen Beitrag für denverantwortungsvollen Umgang mit Kulturgütern leistenmüssen . Es geht sowohl um die Ausfuhr als auch um dieEinfuhr von Kultur . Wir brauchen dringend neue Rege-lungen . Deswegen ist ein neues Kulturgutschutzgesetzganz wichtig, um im internationalen Kontext bessere undrichtige Regelungen zu bekommen .Dass im Vorfeld Kritik geäußert wurde, hat uns si-cherlich alle, vor allem hinsichtlich der Deutlichkeit,überrascht . Es war von „Bedrohung des deutschenKunstmarktes“ und „Enteignung“ die Rede . Ich bin derAuffassung, dass ein Teil dieser Kritik deutlich überzo-gen war . Man kann sie aber aus dem jeweiligen Interesseheraus verstehen .Ich kann zusagen, dass wir dieses Gesetzesvorhabensehr sorgfältig prüfen und uns die Details anschauen .Aber ich sage es noch einmal: Wir brauchen bessere Re-gelungen für die Einfuhr; das scheint mir ziemlich unum-stritten zu sein . Hinsichtlich der Kritik an den Ausfuhr-regelungen – Stichwort „Enteignung“ – werden wir unsganz genau ansehen, welche Regelungen wir brauchen .Aber darüber, dass wir auch da Regelungen brauchen,um nationales Kulturgut zu schützen, sind wir im Haussicherlich einer Meinung .Herzlichen Dank . Ich freue mich auf die weiteren Be-ratungen .
Vielen Dank . – Weitere Wortmeldungen zu diesemEinzelplan liegen nicht vor . Wir schließen deshalb dieBeratungen zu diesem Einzelplan damit ab .Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Auswär-tigen Amtes, Einzelplan 05.Bevor wir damit starten, warten wir noch ein bisschen,bis alle Kolleginnen und Kollegen, die an dieser Debatteteilnehmen wollen, ihren Platz eingenommen haben . –Das Wort erteile ich als erstem Redner dem Bundesmi-nister Dr . Frank-Walter Steinmeier .
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister desAuswärtigen:Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieWelt ist aus den Fugen, habe ich vor ungefähr einem Jahrhier von diesem Pult aus gesagt . Ich befürchte, davonist nichts zurückzunehmen . Wir bereiten jetzt mit demHaushaltsentwurf das nächste Jahr vor, das, so befürchteich, ein Jahr sein wird, das ähnlich mit Krisen und Kon-flikten gefüllt sein wird. Sie werden nicht viel wenigerwerden .Damit wir, obwohl wir uns berechtigte Sorgen ma-chen, nicht verzweifeln und daran glauben und daran ar-beiten, dass eine Veränderung möglich ist, will ich mit ei-nem positiven Bild einsteigen – einem Bild, das gerade indieser Krisenzeit Hoffnung macht . Für viele von uns wares, wenn ich das sagen darf, ein fast unerwartetes Bildvon riesiger Anteilnahme und großer Solidarität . Es gibteine Riesenanzahl von Deutschen, die in diesen Tagenhinausgehen und mithelfen, Menschen aus den Krisenre-gionen bei uns Zuflucht zu geben. Es ist eine große Hilfs-bereitschaft vorhanden . Darüber können wir uns freuen .Dafür will ich am Anfang allen – ob Freiwilligen oderdenjenigen, die es von Berufs wegen tun – ganz herzlichDank sagen .
Diese Mitmenschlichkeit ist genau die Basis – davon binich überzeugt –, die wir brauchen, damit wir mit dieserriesigen Herausforderung fertigwerden .Ich habe letzte Woche in Brüssel gesagt: Man hat im-mer den Eindruck, dass die Probleme, an denen man ar-beitet, die größten sind, die man zu bewältigen hat . Wirhaben das bei Griechenland gedacht . Die Herausforde-rung Migration wird für uns und für ganz Europa nochviel größer sein .Damit die Hilfe aber funktioniert, brauchen wir die-se Basis von Mitmenschlichkeit, die ich eben gezeich-net habe . Uns in der Politik muss aber auch klar sein:Diese Bereitschaft und diese Mitmenschlichkeit brau-chen einen Rahmen . Wenn die Fragen jetzt noch nichtgestellt werden, so werden sie irgendwann – auch vondenjenigen, die jetzt helfen – gestellt werden: Wie vielkann Deutschland leisten? Was muss am Ende gesche-hen, damit wir diese Herausforderung auf lange Sichtbewältigen werden?Ich will versuchen, in meiner Rede drei Antworten zugeben bzw . zu beschreiben, welche drei Dinge jetzt zutun sind .Erstens . In einer Haushaltsdebatte geht es natürlichauch um Geld, selbst wenn wir nicht immer nur darüberreden . Ich bin froh, dass die Bundesregierung am Wo-chenende ein Maßnahmenpaket für Bund, Länder undKommunen verabredet hat . Für das Auswärtige Amt ge-hört zu diesem Paket, dass wir eben – insbesondere inden Herkunfts- und Transitländern – neue Anstrengun-gen unternehmen und dank der Unterstützung auch un-ternehmen können .Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Migrationswel-len beginnen ja nicht am Ostbahnhof in Budapest undauch nicht am Strand von Kos – den Eindruck könnteman gewinnen, wenn man abends Fernsehen schaut –,sondern dort, wo die Konflikte toben, wo schon Nach-barländer nicht mehr in der Lage sind, die menschlichenNotlagen in den Griff zu bekommen, und wo Schlep-perbanden – auch das gehört zur Wahrheit – ihr großesGeschäft wittern . Dort setzen wir mit den Möglichkeitendes Auswärtigen Amtes an . Wir werden dank der Ver-Dr. Eva Högl
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abredungen im Koalitionsausschuss in diesen Regionenhelfen können und mehr Stabilität in den Herkunfts- undTransitländern – ich nenne die riesigen Flüchtlingslagerin Jordanien, im Libanon und in der Türkei – schaffen .Den Binnenvertriebenen, ob in Syrien oder im Irak, müs-sen wir helfen, damit sie in ihren Heimatregionen lang-sam wieder eine Perspektive entwickeln können .Deshalb kann ich an dieser Stelle erst einmal nur mei-nen Dank dafür aussprechen, dass wir schon so weit ge-kommen sind . Das wird uns helfen, die Migrationswellebesser zu bewältigen . Es wird vor allen Dingen den Men-schen in den Regionen helfen, meine Damen und Herrn .
Für uns heißt das vor allen Dingen, direkte humanitäreHilfe zu leisten . Das ist aber nur der kleinere Teil . Dazugehört vor allen Dingen auch die Ertüchtigung der inter-nationalen Hilfsorganisationen, insbesondere der Verein-ten Nationen, deren Hilferufe in den letzten Wochen undMonaten auch die Regierungschefs erreicht haben, ohnedass der notwendige Erfolg wirklich eingetreten ist .Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist ein Skandal,dass der UNHCR in diesen Tagen der größten Flücht-lingsbewegung so unterfinanziert ist, dass die Essensra-tionen in den Flüchtlingslagern im Irak und im Libanonhalbiert werden müssen . Das können wir so nicht ertra-gen und erst recht nicht erdulden .
Für die Migration, über die heute Morgen schon vielegesprochen haben, heißt das: Wenn es bei dieser Unterfi-nanzierung bleibt, hat das nicht nur Folgen für die Men-schen, die in den Lagern leben, sondern dann treibt dasauch eine neue Dynamik in der Migrationsbewegung an .Deshalb gibt es einen doppelten Grund, dass wir unsbeteiligen – und nicht nur wir . Wir müssen eine bessereFinanzierung des UNHCR sicherstellen . Denn nur dann,wenn wir dies tun, werden wir auch andere glaubwürdigauffordern können, sich mit eigenen Mitteln und den ei-genen Möglichkeiten an der Hilfe zu beteiligen .Ich werde jedenfalls – das mag im Rahmen unsererzu Ende gehenden G-7-Präsidentschaft noch möglichsein – während der Generalversammlungswoche zu einerkurzen Sitzung nicht nur mit den G-7-Staaten, sondernauch mit den arabischen Nachbarn einladen, um zu sa-gen: Wenn uns das Schicksal dieser Menschen wirklichgemeinsam am Herzen liegt, dann sorgt wenigstens da-für, dass der UNHCR das notwendige Geld bekommt,um ihnen die tägliche Essensration zu geben! Das istnotwendig .
Zweitens . Wir können, glaube ich, das Problem nichtnach dem Muster „Jeder für sich allein“ bewältigen – daskann auch der größte und wirtschaftlich stärkste Staat inEuropa nicht –, sondern wir werden den Verfolgten nurdann Schutz gewähren können, wenn dies eine gesam-teuropäische Aufgabe ist . Deshalb würde ich zunächsteinmal allen diejenigen, die darüber zu reden haben, vor-schlagen, im Zusammenhang mit Flüchtlingen, die vorVerfolgung oder aus einem Bürgerkrieg fliehen, nichtvon einem Problem und insbesondere nicht von einemdeutschen Problem zu reden . Denn dies ist nicht eindeutsches Problem, sondern es ist zunächst einmal einehumanitäre Pflicht. Es ist zudem nicht nur eine deutschePflicht, sondern es eine europäische Verantwortung.Ich glaube, hier wird sich beweisen – wir streiten nichtumsonst so hartnäckig darüber wie in der vergangenenWoche beim europäischen Außenministertreffen in Brüs-sel –, ob Europa in Fragen, in denen es nicht nur um Geldgeht, in der Lage ist, nicht nur von gemeinsamen Wertenzu reden, sondern den Schutz vor Verfolgung auch alsgemeinsamen europäischen Wert anzuerkennen und da-nach zu handeln . Hier muss sich Europa beweisen undzeigen, dass in dieser Situation nicht nur Zusammenhalt,sondern auch Handlungsfähigkeit gewährleistet ist . Wirarbeiten daran, und dies ist unter Beweis zu stellen, liebeKolleginnen und Kollegen .
Ich darf noch eines zu Europa sagen – Frau Bundes-kanzlerin, ich glaube, das ist Ihnen auch nicht anders ge-gangen -: Im Sommer gab es Situationen, da waren wiralle nicht sehr amused, dass wir auf der einen Seite Bil-der von Flüchtlingen in Griechenland sahen, die keinenSchluck Wasser hatten, und auf der anderen Seite euro-päische Unterstützung – jedenfalls zu diesem Zeitpunkt-nicht sichtbar geworden ist . Deshalb haben wir vondeutscher Seite aus sehr frühzeitig in den Sommermo-naten Vorschläge unterbreitet, weil zu ahnen war, dassdanach gefragt würde, wie europäische Antworten aufdiese Herausforderung aussehen .Ich glaube, wir dürfen von unserer Seite, vonseiten derdeutschen Regierung, durchaus sagen, dass die Vorschlä-ge, die wir dazu öffentlich gemacht haben, inzwischen indas europäische Handeln eingeflossen sind. Wer die Redevon Kommissionspräsident Juncker verfolgt hat, hat ge-merkt, dass vieles von dem, was von hier ausgegangenund in das gemeinsame deutsch-italienisch-französischePapier vom vergangenen Wochenende eingeflossen ist,sich in Junckers Rede vor dem Europäischen Parlamentwiederfindet, auch die Passagen über eine fairere und ge-rechtere Verteilung von Flüchtlingen .Lassen Sie es mich noch einmal sagen: Es kann nichtsein, dass weniger als eine Handvoll Länder in Europadas gesamte Flüchtlingsproblem bewältigen, sondernhier müssen sich alle beteiligen . Hier müssen Europäerzusammenstehen .Selbst wenn wir im Augenblick noch weit entferntvon der Akzeptanz einer Quote sind, so zeigen die De-batten, die am vergangenen Wochenende geführt wur-den, und die sichtbaren öffentlichen Reaktionen, die wiraus Großbritannien vernehmen – es gibt auch ein wenigBewegung in Polen und Frankreich –, dass man einfachnicht aufgeben darf, dass sich auch in diesem Punkt Be-harrlichkeit lohnt . Selbst wenn wir nicht zu einer QuoteBundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier
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und damit zu einer vollkommen gerechten Verteilungkommen, glaube ich, dass wir uns auf eine gerechtereVerteilung beim Flüchtlingsproblem hinbewegen, als dasin der jüngeren Vergangenheit der Fall war . Die gerechteVerteilung bleibt ein dickes Brett . Aber ich versprechefür die Bundesregierung: Wir werden es weiter bohren .
Drittens . Es geht um die Lösung der Krisen . Das istvielleicht das Zentrale; denn die Flüchtlingsströme, überdie wir zu Beginn geredet haben, werden kein Ende neh-men, wenn wir das Übel nicht an der Wurzel packen undwenn es nicht endlich mehr Sicherheit und Stabilität inden Regionen gibt, aus denen Menschen flüchten. Dasbetrifft den ganzen Krisenbogen, beginnend in Afgha-nistan bis hin nach Libyen . Die Lage ist schwierig undverfahren – das ist keine Frage –, gerade in Syrien – vielevon Ihnen haben das angesprochen –, wo der Bürgerkriegim fünften Jahr ist, was bislang zu 12 Millionen Flücht-lingen und Vertriebenen sowie mehr als 250 000 Totengeführt hat . Genauso schwierig ist die Lage in Libyen,wo die staatliche Funktionsfähigkeit völlig zerstört ist .An weiteren Beispielen fehlt es leider nicht .Die Lage ist schwierig . Trotzdem weigere ich michgleichzeitig, anzunehmen, dass alle außenpolitischenBemühungen aussichtslos oder vergeblich sind. Ich fin-de – Frau Merkel, Sie haben das heute Morgen angespro-chen –, gerade das Beispiel Iran zeigt, dass man selbstüber zehn Jahre nicht die Geduld und vor allen Dingennicht die Beharrlichkeit verlieren darf . Man braucht einFenster der Geschichte, in dem nicht neue Vorschlägeplötzlich die Wende bringen, sondern in dem veränderteInteressenkonstellationen in Zusammenhang mit schonauf dem Tisch liegenden Vorschlägen ein Abkommenwie das mit dem Iran ermöglichen . Dieses Abkommenschließt nicht nur den Griff des Iran nach der Atombom-be dauerhaft und nachprüfbar aus . Vielmehr weise ichdarauf hin, dass dieses Abkommen, wenn es gut geht,eine völlig neue Perspektive in die Gesamtarchitekturdes Mittleren Ostens und in die Verhältnisse der dortigenStaaten zueinander bringen kann .Als wir in Wien die Unterschrift unter das Abkommensetzen konnten, habe ich gesagt: Mit dieser Unterschriftendet nicht die Verantwortung der E3+3 bzw . der Fünf-plus-eins-Staaten . Das Wiener Abkommen ist nicht dasEnde unserer Diplomatie, sondern im Grunde genommenerst der Anfang .Ich bitte, in diesem Sinne meine erste Reise in denIran, die gerade vorbereitet wird, zu verstehen . Auf die-ser Reise geht es nicht darum, irgendetwas abzufeiern .Sie dient vielmehr der Prüfung, ob der Iran bereit ist,eine neue verantwortliche Rolle in dieser friedlosen Re-gion des Mittleren Ostens tatsächlich anzunehmen undVerantwortung zu übernehmen . Entscheidend ist: Esmuss sich zeigen, ob das Modell, das geholfen hat, denIran-Konflikt zu lösen, tauglich ist, einen der nächstengrößeren Konfliktherde anzugehen.Ohne allzu optimistisch zu sein, bin ich, ehrlich ge-sagt, der Meinung, dass die letzten Entwicklungen inLibyen die kleine Hoffnung begründen, dass wir docheinen Schritt weitergekommen sind . Wir in Deutschlanddürfen ein bisschen stolz darauf sein, dass wir Gehhilfeauf dem letzten Wegstück leisten konnten, indem wir dieverfeindeten Konfliktparteien aus Libyen – Sie dürfennicht vergessen, dass diese noch nie an einem Tisch ge-sessen hatten – nach Berlin eingeladen und anderthalbTage mit ihnen gesprochen und verhandelt haben .Ich glaube, wir sind gerade hier in Berlin natürlichdank der unermüdlichen Arbeit des EU-Sonderbeauf-tragten Bernardino León ein entscheidendes Stück wei-tergekommen. Wir haben den Konfliktparteien hier inBerlin immer wieder gesagt: Nur wenn ihr mithelft – amAnfang muss eine Regierung der nationalen Einheit ste-hen –, diesen zerstörten Staat mit erodierenden admi-nistrativen Strukturen, mit gegeneinander kämpfendenMilizen – manche sprechen von Hunderten – wieder auf-zubauen, dann haben auch wir, Deutsche und Europäer,einen Ansatzpunkt, diesen Aufbauprozess tatsächlich zuunterstützen und funktionierende Staatlichkeit langsamwieder aufzubauen .Ich glaube, dass wir ein Stück vorangekommen sind .Ich würde mich wirklich freuen, wenn wir es innerhalbder nächsten vier Wochen zustande brächten, trotz dieservöllig zerfahrenen, völlig verworrenen Lage, in der täglichviele sterben und über die nur wenig berichtet wird, we-nigstens den Rumpf dieser Regierung der nationalen Ein-heit aufzustellen . Ich spreche über Libyen, und ich müssteeigentlich viel mehr zu Syrien sagen, zu einem Land, beidem wir ja nicht nur aus politischen, sondern mit Blick aufdie Zahlen, die ich vorher genannt habe, auch aus morali-schen Gründen verpflichtet sind und in der Verantwortungstehen, dem Morden dort ein Ende zu setzen .Bei Syrien ist die Lage eigentlich nicht anders als beiLibyen . Eigentlich schafft das Abkommen mit dem Iranhier auch eine Chance . Wenn sich der Iran aus der Rollezurückziehen würde, Konfliktparteien finanziell und mitWaffen zu unterstützen, und andere es gleichtäten, danneröffnete sich zum ersten Mal eine Chance, auch in Syri-en weiterzukommen .Der Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen Staf-fan de Mistura, mit dem ich heute Morgen telefonierthabe, hat in Genf und an anderen Stellen 42 Gesprächemit unterschiedlichen Parteien geführt, um zu sondieren,wo der kleinste gemeinsame Nenner liegt, von dem ausman die Plattform zimmert, auf der der gemeinsame WegRichtung Entschärfung des Konfliktes und dann nachund nach hin zu politischen Lösungen möglich ist . Wirsind nicht weit; aber wir waren noch nie so weit wie imAugenblick . Deshalb sehe ich, ganz ehrlich gesagt, miteiniger Bestürzung die Nachrichten der letzten Tage: dassGroßbritannien, dass Frankreich sich stärker militärischengagieren werden und dass vor allen Dingen Russland,so sagen jedenfalls die Pressemeldungen, im Augenblickdabei ist, mehr Militärmaterial nach Syrien zu schaffenals in der Vergangenheit, mit welchem Zweck auch im-mer .Ich habe gestern mit dem amerikanischen Außenmi-nister gesprochen; ich werde heute mit dem russischenAußenminister sprechen . Es kann nicht sein, dass indieser Situation, in der wir vielleicht zum ersten Mal ei-nen Ansatzpunkt haben, mit dem Syrien-Konflikt andersBundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier
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umzugehen, wichtige Partner, die wir brauchen, auf diemilitärische Karte setzen und Verhandlungslösungen, diezum ersten Mal möglich sind, zerstören .
Dieser Syrien-Konflikt ist wirklich eine Geschichte derausgelassenen Chancen, die ich jetzt nicht referieren will .Aber ich sage noch einmal: Aus politischen und morali-schen Gründen dürfen wir diese Chance nicht auslassen .Letzter Punkt: Ukraine-Krise . Auch hier könnte ichsagen: Das Minsker Abkommen, über das wir Stundenund Tage verhandelt haben, ist auch nicht das Ende vonDiplomatie, sondern der Anfang von etwas Neuem, derAnfang von Verantwortung . Wenn der Waffenstillstandoffensichtlich gebrochen wird – vorletzte Woche gab esentsprechende Bilder in den Medien –, wenn es zu unseraller Bedauern wieder zu Toten und Verletzten kommt,dann kann ich verstehen, wenn angesichts der damit ver-bundenen Bilder viele sagen und schreiben: Minsk istzu Ende . Noch einmal: Ich kann das verstehen . Aber ichkann es nicht wiederholen; denn meine Aufgabe ist nicht,einen Konflikt zu beschreiben, sondern meine Aufgabebesteht darin, einen Zustand, der außer Kontrolle gerät,möglichst wieder unter Kontrolle zu bringen .Wir haben deshalb sozusagen nicht eingestimmt inden Versuch, Minsk als gescheitert zu erklären, sondernwir haben schlicht und einfach mit den Beteiligten inten-siv gesprochen, sie gemahnt und gedrängt, Einfluss zunehmen und die Gewaltsamkeit wieder zurückzuführen .Ich habe mit den Außenministern gesprochen, Frau Bun-deskanzlerin mit ihren Kollegen .Jetzt mag man sagen: Was sind das schon für Instru-mente? Aber immerhin: Seit dem 1 . September habenwir einen Waffenstillstand, der weitgehend respektiertwird . Deshalb sage ich: Das Scheitern ist leicht erklärt .Nur, ich rate aus eigener Erfahrung dazu, Instrumentenicht für gescheitert zu erklären, solange man keine an-deren in der Hand hat . Deshalb sage ich für die Bundes-regierung: Wir werden auf diesem Weg weiterarbeiten .
Ich darf Ihnen ganz herzlich danken, meine Damenund Herren, und bitte Sie mit Blick auf ein Jahr, das voruns liegt und nicht einfacher werden wird, um Zustim-mung zu unserem Haushalt .Ganz herzlichen Dank .
Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt der Kollege
Michael Leutert .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrter Herr Minister, der Haushaltsvorschlag, denSie vorgelegt haben, ist leider nicht ausreichend . Er istkeine angemessene Antwort auf die vor uns liegendenProbleme . Damit meine ich im Übrigen nicht bloß diefinanzielle Ausstattung des Auswärtigen Amts, sondernich meine auch die inhaltliche Dimension . Es fehlen ein-fach die Konzepte hinter den Zahlen .Wir haben – Sie haben das alles angesprochen – nochimmer die Ukraine-Krise . Wir haben Krieg in Syrien .Wir haben Krieg im Irak, in Libyen . In Afghanistan herr-schen katastrophale Zustände . Die vielen destabilisiertenStaaten in Afrika sind zu nennen . Diese Krisenherde sindder Grund für die enorme Flüchtlingsbewegung, die wirderzeit erleben .Aber Antworten darauf, wie wir mit diesen Krisenumgehen wollen, kann man in diesem Haushalt nichtfinden. Was sind die Konzepte des Auswärtigen Amts zudiesen Krisen? Mit welchen Instrumenten wollen wir dieNot der Flüchtlinge lindern? Welche Idee hat die Bun-desregierung zur Beendigung des Bürgerkriegs in Syrienund des Terrors im Irak? Wie geht es eigentlich weitermit Afghanistan?Herr Minister, ich weiß, Sie sind unermüdlich und mitvollem Einsatz an den meisten Brennpunkten der Welt .Aber Sie sind immer nur als Feuerwehr im Einsatz . Wennwir hier 4,3 Milliarden Euro beschließen sollen, dannmüssen wir schon wissen, mit welchen Konzepten Siedie Krisen lösen oder wenigstens eindämmen wollen .Vor einem Jahr haben wir hier den Haushalt 2015beraten . Wir alle haben damals betont, dass die vielenKonflikte in der Welt, mit denen wir konfrontiert sind,nicht irgendwo weit weg sind, sondern dass sie direktvor unserer Haustür stattfinden, nicht weit entfernt vonden Stränden, an denen auch deutsche Touristen so gernUrlaub machen . Niemand wäre damals auf die Idee ge-kommen, dass sich die Lage so dramatisch zuspitzt, wiewir es heute erleben . Heute haben sich die Menschen ausdiesen Krisengebieten zu Tausenden als Flüchtlinge aufden Weg gemacht und sind jetzt bei uns, auch in unseremAlltag, angekommen .Liebe Kolleginnen und Kollegen, spätestens seit letz-ter Woche Mittwoch hat das unendliche Leid dieser Men-schen auch einen Namen und ein Gesicht . Es ist AylanKurdi . Der kleine dreijährige kurdische Junge aus Koba-ne lag an einem der Strände, wo normalerweise Touris-ten sind – ertrunken, gemeinsam ertrunken mit seinemfünfjährigen Bruder und seiner Mutter . Das Bild, welchesvon diesem kleinen leblosen Körper um die Welt ging, istso unfassbar grausam, dass es einen nicht einfach kalt-lassen kann. Ich finde, wir sollten alles dafür tun, dasssolche Bilder nicht mehr entstehen können .
Aus diesem Grund müssen wir jetzt anfangen, grund-legend umzudenken . Wir müssen jetzt anfangen, andereSchwerpunkte zu setzen, und wir müssen jetzt auch an-Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier
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fangen, unmenschlichen Worten und Taten entgegenzu-treten .Ich weiß, wir stehen in Europa vor schwierigen Auf-gaben und dürfen kein Öl ins Feuer gießen . Aber wennich, das Bild von dem Jungen vor Augen, aus UngarnSätze höre wie „Das sind keine Flüchtlinge; das ist eineInvasion“, dann macht mich das wütend . Wenn ich höre,dass Orban überlegt, die Armee gegen Flüchtlinge einzu-setzen, dann macht mich das nicht nur wütend, sondernauch ratlos . Was will er denn tun? Auf Flüchtlingsfamili-en schießen lassen?Liebe Kolleginnen und Kollegen, das sind Worte undGedanken, die im Europa des 21 . Jahrhunderts nichtsverloren haben .
Herr Außenminister, ich bitte Sie dringend, das so deut-lich gegenüber der ungarischen Regierung zu formulie-ren und dem im Zweifelsfall auch Taten folgen zu lassen .Wenn der sozialdemokratische Ministerpräsident derSlowakei meint, sein Land hätte die humanitäre Kata-strophe nicht zu verantworten, weil sein Land in denStaaten keinen Krieg geführt hätte, weshalb es keineVerantwortung für die Flüchtlinge übernehmen müsste,dann ist das unterirdisch . Ich bitte Sie, ihn freundschaft-lich daran zu erinnern, dass die Slowakei sehr wohl mitSoldaten an der Koalition der Willigen beteiligt gewe-sen ist, als in den Irak einmarschiert wurde . Und wennTschechiens Präsident sagt, man hätte die Flüchtlingenicht eingeladen, dann ist das an Zynismus nicht mehrzu überbieten . Liebe Kolleginnen und Kollegen, das istgeistige Brandstiftung, die den europäischen Gedankennachhaltig beschädigt . Dem müssen Sie, Herr Minister,und wir alle mit aller Kraft entgegentreten .
Europa muss eine solidarische Gemeinschaft sein .Das ist klar . Aber Solidarität ist keine Einbahnstraße .Wenn wir uns in der Europäischen Union untereinandernoch nicht einmal über solch simple Dinge wie beispiels-weise die Flüchtlingsfrage einigen können: Wie wollenwir dann eine Abstimmung mit Russland zu noch vielschwierigeren Fragen bewerkstelligen? Auch zur Lösungdes Syrien-Konfliktes – Sie haben es angesprochen –werden wir Russland brauchen . Putin unterstützt, so diePressemeldungen, derzeit in aller Ruhe militärisch dasAssad-Regime, also den Hauptverantwortlichen für dieseKatastrophe . Nur weil vor vier Jahren Jugendliche Paro-len gegen sein Regime an Hauswände gesprüht haben,hat Assad sein Land in Not und Elend gebombt . Jetzt sindvon 21 Millionen Syrer 12 Millionen auf der Flucht .Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist nur ein klei-ner Ausschnitt der Realität, dem sich unsere Außenpoli-tik heute stellen muss . Sie haben es selbst angesprochen,Herr Minister, und dafür bin ich Ihnen sehr dankbar: DasFlüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, UNHCR,ist derzeit an seiner Belastungsgrenze angelangt . Wirmüssen das UNHCR als zentralen Akteur stärken und mitden notwendigen Mitteln ausstatten .Aber nicht nur das: Ich würde mich sehr freuen, wennsich Deutschland endlich auch mit einer verbindlichenQuote dauerhaft am Resettlement-Programm des UNHCRbeteiligen würde . In diesem Programm werden besondersschutzbedürftige Flüchtlinge, zum Beispiel Familien mitKindern, die auch in ihrem Fluchtland keine Perspektivemehr haben, in dem jeweiligen Programmland aufgenom-men . Wir könnten uns jährlich mit 7,2 Prozent – das ist dieProzentzahl, mit der wir uns normalerweise an UN-Frie-denseinsätzen finanziell beteiligen – am Resettlement-Pro-gramm beteiligen und Plätze zur Verfügung stellen . Der-zeit verfügt UNHCR nur über 80 000 Plätze . Der Bedarfliegt allerdings bei 800 000 Plätzen . So, liebe Kollegin-nen und Kollegen, lieber Herr Minister, könnte Deutsch-land international mit gutem Beispiel vorangehen, und sokönnten wir auch mehr Verantwortung auf internationalerEbene übernehmen .
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Dr . Franz
Josef Jung .
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, es istzutreffend, dass die Situation der Flüchtlinge nicht nureine humanitäre Antwort, nicht nur eine innenpolitischeAntwort von Bund, Ländern und Gemeinden erforderlichmacht, sondern dass sie auch eine Herausforderung fürdie Außenpolitik darstellt . Der Außenminister hat auf einpaar Akzente hingewiesen . Ich möchte das noch einmalunterstreichen, auch und gerade im Hinblick auf die eu-ropäische Situation .Meine Damen und Herren, es ist meine felsenfesteÜberzeugung, dass Europa auch in Zukunft seinen Bei-trag zur friedlichen Entwicklung nur leisten kann, wennwir auch in schwierigen Zeiten zusammenstehen undkeine einseitige Lastenverteilung vorgenommen wird .Europa hat zusammengestanden bei der Bewältigung derFinanzkrise und im Hinblick auf die Ostukraine, als esum Sanktionen ging. Ich finde, Europa muss auch jetztzusammenstehen, wenn es darum geht, die Bewältigungder Flüchtlingssituation in Deutschland zu meistern .
Meine Damen und Herren, aber auch bei der Bewäl-tigung der Fluchtursachen ist eine weitere europäischeKomponente gefordert .Zu Recht – die Bundeskanzlerin hat heute Morgen demAußenminister dafür gedankt – ist auf die Initiative E3+3und insbesondere auf das deutsche Engagement hingewie-sen worden, als es darum ging, dazu beizutragen, dass esim Iran nicht zu einer atomaren Bewaffnung kommt .Meine Damen und Herren, wir sollten eine solche Initi-ative auch mit Blick auf Syrien vorantreiben . Wir braucheneine Perspektive, dass dieser Krieg in Syrien endlich been-det wird und dass es wieder zu einer friedlichen Entwick-Michael Leutert
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lung kommt . Es gibt Signale; sie gehen nicht nur vom Si-cherheitsrat aus, sondern auch von Russland und vom Iran .Ich kann nur unterstreichen, dass wir alle Bemühungendarauf ausrichten müssen, dass es in Syrien möglichst baldzu einer Beendigung der kriegerischen Auseinandersetzungund zu einer friedlichen Entwicklung kommt . Dies ist einentscheidender Beitrag, Fluchtursachen zu verhindern .
Meine Damen und Herren, ich denke, es ist notwendigund richtig, dass wir selbst aktiv sind . Wir müssen aber auchden UN-Beauftragten Bernardino León unterstützen, wennes um Libyen geht . Wenn es darum geht, Fluchtursachen zubeseitigen, ist es meines Erachtens entscheidend, für eineEntwicklung in Libyen hin zur Stabilität zu sorgen .Libyen ist als Failing State zurzeit eine der Hauptur-sachen für die Schleuserkriminalität im Mittelmeerraum .Deshalb ist es sinnvoll und notwendig, alle Anstrengungenzu unternehmen, um diese kriminellen Aktivitäten, diesenbrutalen Menschenhandel, der von libyscher Seite ausgeht,zu unterbinden und gegebenenfalls mit neuen Maßnahmenwie EUNAVFOR MED aktiv zu werden . Ich glaube, wirsind es den Menschen schuldig, alles zu unternehmen, einederartige kriminelle verbrecherische Schleuseraktivität imMittelmeer zukünftig zu verhindern .
Wenn wir über Fluchtursachen sprechen, müssen wirnatürlich auch einen vernetzten Ansatz im Blick haben .Dazu gehört natürlich auch eine entwicklungspolitischeKomponente im Hinblick auf die Rückführung vonFlüchtlingen, wenn sich beispielsweise Staaten weigern,die Menschen wieder aufzunehmen .
Herr Kollege Dr . Jung, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Liebich?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte sehr .
Herr Jung, vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen .
Sie haben vorhin über die Mission gesprochen, die die
Europäische Union verabredet hat, um gegen die soge-
nannten Schlepper militärisch vorzugehen . Stimmen Sie
mir nicht zu, dass das, solange es keine legalen Wege für
die Flüchtenden nach Europa gibt, ein Kampf ist, der nie
gewonnen werden kann? Solange die Grenzen geschlos-
sen sind, wird es immer wieder Menschen geben, die
versuchen, auf anderen Wegen hierherzukommen . Das
heißt, der Einsatz von Soldaten dagegen ist nicht nur äu-
ßerst riskant, sondern auch im Ergebnis zwecklos .
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich halte es für richtig und notwendig, dass unsere
Bundeswehr Menschen im Mittelmeer rettet, damit das
Mittelmeer nicht zum Friedhof wird .
– Ich komme auf Ihre Frage noch zu sprechen .
Für umso wichtiger erachte ich es allerdings, dass ge-
gen diese verbrecherischen Schleuser wirkungsvoll vor-
gegangen wird . Was dort betrieben wird, ist Menschen-
handel mit Inkaufnahme von Todesfolge . Die Menschen
in solche Nussschalen zu setzen und letztlich auch dem
Risiko des Todes auszusetzen, halte ich für unverant-
wortlich .
Dagegen wirkungsvoll vorzugehen, gegebenenfalls
auch mit militärischer Unterstützung, halte ich im In-
teresse der Humanität und im Interesse der betroffenen
Menschen für sinnvoll und notwendig .
Herr Kollege Dr . Jung, auch die Kollegin Hänsel würde
gerne eine Zwischenfrage stellen .
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Eine lasse ich noch zu .
Herr Dr . Jung, vielen Dank, dass Sie auch meine Frage
zulassen . Ich möchte noch einmal nachhaken . Sie spra-
chen davon, Schlepperbanden würden unter Inkaufnah-
me des Todes ihr Geld machen . Wie bewerten Sie dann
eigentlich Rüstungsexporte? Ich habe das heute Morgen
schon thematisiert . Wie bewerten Sie deutsche Rüstungs-
exporte in die Krisengebiete dieser Welt, wo auch unter
Inkaufnahme des Todes Geschäfte gemacht werden? Ist
das weniger verbrecherisch?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin, ich habe eben zum Thema Libyen, zurFrage des Failing State und zur Frage der Bekämpfungder verbrecherischen Schleuserkriminalität gesprochen .Das hat mit dem Thema Rüstungsexporte nun wahrlichgar nichts zu tun . Wir sollten uns darauf konzentrieren,gegen diese verbrecherischen Aktivitäten aktiv vorzuge-hen, die teilweise mehr Geld einbringen als der Drogen-handel und die Menschenleben vernichten . Die Schleu-ser nehmen dabei in Kauf, dass die Menschen in diesenNussschalen im Mittelmeer dem Tod ausgesetzt sind .Deshalb halte ich die Mission EUNAVFOR Med, diejetzt geplant ist, für sinnvoll und notwendig .
Da 40 Prozent der Flüchtlinge aus dem Westbalkankommen, müssen wir weiterhin dafür sorgen, dass sichdie Lage in dieser Region stabilisiert . Wir müssen außer-dem für eine wirtschaftliche und auch für eine europä-ische Perspektive sorgen . Auch das hat etwas mit demThema „Beseitigung von Fluchtursachen“ zu tun .Lassen Sie mich einen letzten Punkt ansprechen . Ichdenke, auch der Kampf gegen den ISIS-Terror hat etwasmit dieser Frage zu tun . Wenn die Menschen, die vorDr. Franz Josef Jung
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dem ISIS-Terror fliehen, keine Perspektive mehr habenund keine Möglichkeit mehr sehen, aus den Flüchtlings-lagern in ihre Heimat zurückzukehren, dann werden siesich auch weiterhin für die Flucht nach Europa entschei-den . Deshalb ist es notwendig und sinnvoll, dass wir denKampf gegen den ISIS-Terror entsprechend unterstützen .Die einzelnen Maßnahmen, die aus der Luft erfolgen,mögen okay sein . Ich bin aber der felsenfesten Überzeu-gung, dass es am wirkungsvollsten ist, vom Boden ausgegen die ISIS-Terroristen vorzugehen . Es ist deshalbsinnvoll, dass wir die Peschmerga unterstützen und Aus-bildungsmaßnahmen im Irak ergreifen . Auf diese Weiseleisten wir einen Beitrag dazu, dass die Terroristen zu-rückgedrängt werden und die Menschen wieder die Per-spektive haben, in Zukunft in ihre Heimat zurückkehrenzu können .
Die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die derISIS-Terror verursacht, erfordern, wie ich finde, unsereSchutzverantwortung . Gerade letzte Woche hat unserFraktionsvorstand ein Gespräch mit dem jordanischenAußenminister geführt – darauf wurde heute schon hin-gewiesen –, der deutlich gemacht hat, dass die Muslimeselbst den Kampf gegen die ISIS-Terroristen führen müs-sen . Ich glaube aber, es ist auch notwendig und sinnvoll,dass wir sie in diesem Kampf unterstützen und sie aus-rüsten . Die Bundeswehr hat zudem Einheiten von Jesi-den, die stark unter dem brutalen ISIS-Terror gelitten ha-ben, entsprechend ausgebildet . So besteht nun erstmalsdie Möglichkeit, dass sich die Jesiden dem Terror wir-kungsvoll entgegenstellen können . Somit haben sie auchselbst wieder die Perspektive, friedlich in dieser Regionleben zu können .Lassen Sie mich noch eines sagen: Ein Soldat derBundeswehr, der als Ausbilder im Nordirak eingesetztist, hat es so formuliert – ich zitiere -: Das hier ist dasSinnvollste, das ich in sieben Auslandseinsätzen bishergetan habe . – Das zeigt, wie sinnvoll und notwendig esist, die Unterstützung von unserer Seite zu leisten, umdem ISIS-Terror wirkungsvoll entgegenzutreten . Ichmöchte allen Soldatinnen und Soldaten herzlich danken,die einen Beitrag zur Ausbildung im Irak, zu einem wir-kungsvollen Entgegentreten gegen den ISIS-Terror undsomit zur Beseitigung von Fluchtursachen leisten .
Wenn ich von der Außenpolitik spreche, dann darf ichnatürlich nicht die Situation der Ostukraine auslassen;der Außenminister hat sie gerade eben angesprochen .Ich halte es für gut und wichtig, dass in einem Schulter-schluss mit Frankreich das Minsk-II-Abkommen erreichtworden ist . Auch wenn es im Februar beschlossen wur-de und der erste Schritt die Waffenruhe war, müssen wirleider feststellen, dass diese eben nicht über die gesamteZeit eingehalten wurde . Aber seit dem 1 . September gibtes wieder einen Waffenstillstand, und ich kann nur hof-fen und wünschen, dass auch die weiteren Schritte erfol-gen: dass die schweren Waffen abgezogen werden, dassdie Reformmaßnahmen umgesetzt werden und dass dieOSZE die Möglichkeiten zur Kontrolle erhält . Ich glau-be, es ist notwendig und richtig, dass Russland endlichmit der Destabilisierung der Ostukraine aufhört .
Ich denke, dass es auch im Interesse Russlands wäre, zueiner anderen Politik zurückzukehren, damit wir poten-ziell wieder zu einer friedlichen Entwicklung in der Uk-raine insgesamt kommen .Das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine ver-pflichtet uns auch im Interesse einer Annäherung an Eu-ropa, den Reformprozess zu unterstützen . Die beschlosse-ne Verfassungsreform und die damit im Zusammenhangnotwendige Dezentralisierung sind eine Stärkung derDemokratie in der Ukraine und zeigen den richtigenWeg . Deshalb kann man überhaupt kein Verständnis fürgewaltsame Proteste gegen diese Verfassungsreform ha-ben, bei denen drei Polizisten zu Tode gekommen sind .Wir müssen deutlich machen, dass wir diesen extremis-tischen Kräften mit Nachdruck entgegentreten . Sie scha-den der Ukraine, sie spielen den Destabilisierungsaktivi-täten Russlands in die Hände, und sie sind kein Beitragzu einer positiven Entwicklung in der Ukraine, ganz imGegenteil . Deshalb muss diesen Kräften mit Nachdruckentgegengetreten werden .
Ich sage auch: Wir haben im Hinblick auf das Assozi-ierungsabkommen deutlich gemacht, dass sich dies nichtgegen Russland richtet und dass wir durchaus weiterhinein Interesse an normalen Beziehungen zu Russland ha-ben . In der Frage der internationalen Sicherheit habendas Iran-Abkommen und das Beispiel Syrien dies deut-lich gemacht . Es wäre durchaus sinnvoll, insgesamt zueiner partnerschaftlichen Situation zu kommen .Damals in der Zeit, als wir noch gemeinsam die Au-ßen- und Verteidigungspolitik zu vertreten hatten, warenwir innerhalb der NATO auf dem Weg, die Frage derpartnerschaftlichen Zusammenarbeit innerhalb Europasvoranzubringen . Leider Gottes haben sich die Dinge völ-lig zerschlagen, aber ich bin der felsenfesten Überzeu-gung, dass es auch im Interesse Russlands wäre, wiederzu partnerschaftlichen Beziehungen mit Europa zurück-zukehren . Dies wäre nicht nur im Hinblick auf die wirt-schaftliche Situation, sondern auch im Hinblick auf dieGesamtsituation in Russland zwingend notwendig undsinnvoll . Deshalb kann ich nur hoffen und wünschen,dass Russland im eigenen Interesse in Zukunft einen an-deren Weg einschlägt; denn die Beziehungen zu Europasind ein Beitrag zu einer positiven Entwicklung in Russ-land .
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich nur nochschlagwortartig sagen: Wir haben in diesem Jahr 60 Jah-re NATO gefeiert . Das unterstreicht unsere transatlanti-schen Beziehungen . Die transatlantischen Beziehungensind weiterhin der Grundpfeiler unserer Außenpolitik .Wir dürfen nie vergessen, dass die Sicherheitsgarantiender NATO, aber auch die Sicherheitsgarantien der Ver-einigten Staaten von Amerika letztlich die Vorausset-Dr. Franz Josef Jung
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zungen dafür geschaffen haben, dass wir in diesem Jahr25 Jahre deutsche Einheit in Frieden und Freiheit feiernkönnen . Daher sollten wir die transatlantischen Bezie-hungen weiterhin positiv entwickeln .
Meine Damen und Herren, bei aller Unterschiedlich-keit der Positionen im Einzelnen denke ich, dass die ge-meinsamen Werte von Freiheit, Demokratie und Rechts-staatlichkeit uns gemeinsam tragen . Dies sollte sich auchin Zukunft in den Beziehungen widerspiegeln .Meine Damen und Herren, wir feiern in diesem Jahr70 Jahre Vereinte Nationen . Der Außenminister hat eini-ges zu den Aktivitäten gesagt . Ich will hier sagen: Mit derAllgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948wurde für die Weltgemeinschaft ein verbindliches Wer-tefundament geschaffen . Der damalige GeneralsekretärHammarskjöld hat einmal formuliert:Die Vereinten Nationen wurden nicht gegründet, umuns in den Himmel zu bringen, sondern um uns vorder Hölle zu retten .Wenn man an die aktuelle Situation denkt, kann man dassehr deutlich nachvollziehen und verstehen .Seit zehn Jahren gibt es eine Schutzverantwortungder Vereinten Nationen, die sogenannte Responsibilityto Protect . Deshalb ist es richtig, dass es Friedenssolda-ten gibt, die ein durchschlagsfähiges Instrument gewor-den sind . Ich glaube aber, dass wir als BundesrepublikDeutschland die Friedenstruppen der Vereinten Nationennoch stärker unterstützen müssen . Wir belegen zurzeitPlatz 59 von 126 truppenstellenden Nationen, das ist un-serem Land nicht angemessen .
Hier sollten wir einen weiteren Beitrag leisten, um dieFriedenstruppen der Vereinten Nationen zu unterstützen .Meine Damen und Herren, im Rahmen dieser Schutz-verantwortung ist es auch notwendig, zu einer schnel-leren Reaktionsfähigkeit zu kommen . Deshalb wäre essinnvoll, wenn die ständigen Mitglieder des VN-Sicher-heitsrates bei Abstimmungen über Maßnahmen zur Be-kämpfung von Völkermord und Verbrechen gegen dieMenschlichkeit auf ihr Vetorecht verzichteten . Denn wirhaben zu oft erlebt, dass es Blockadesituationen gab unddann nicht entsprechend wirkungsvoll geholfen werdenkonnte .
Deshalb wäre ein solcher Verzicht auch ein Schritt zu ei-ner besseren Umsetzung der Menschenrechte .Ein letzter Punkt, meine Damen und Herren . Seit50 Jahren unterhalten wir diplomatische Beziehungen zuIsrael . Für uns ist das Existenzrecht Israels ein Ausdruckunserer Staatsräson . Hier wäre es klug und sinnvoll,wenn wir in dem Format, das sich bewährt hat, nämlichE3+3, gemeinsam versuchten, eine Sicherheitsarchitek-tur für den Nahen Osten zu entwickeln, bei der das Exis-tenzrecht des Staates Israel im Vordergrund steht .All das sind Punkte, die letztlich unsere Außenpolitikprägen . Man darf aber nicht verkennen, dass es die Bür-gerinnen und Bürger zurzeit als besonders wichtig undnotwendig ansehen, einen Beitrag zur Beseitigung derFluchtursachen zu leisten . Deshalb sollten wir alle Akti-vitäten, gerade im Bereich der Außenpolitik, auf diesenBereich konzentrieren . Es ist eine große Herausforde-rung; aber ich glaube, wenn wir zusammenstehen, kön-nen wir diese Herausforderung gemeinsam bewältigen .Herzlichen Dank .
Nächster Redner ist der Kollege Dr . Frithjof Schmidt,BÜNDNIS 90/Die Grünen .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Uns erschüttern die Nachrichten und die Bil-der zur Situation der Flüchtlinge auf dem Weg zu uns, aufdem Mittelmeer, auf dem Balkan und auch anderswo . EinSatz, den die Außenpolitiker immer wieder parteiüber-greifend gesagt haben, bestätigt sich jetzt viel dramati-scher, als die meisten gedacht haben: Wir können unddürfen die Kriege und Krisen der Welt und insbesonderein unseren Nachbarregionen nicht ausblenden; denn siewerden über kurz oder lang buchstäblich nach Europakommen .
Genau das passiert jetzt .Die postkoloniale Ordnung löst sich in großen Teilendes Nahen Ostens, des nördlichen Afrikas und der Sa-helzone auf . Die Europäische Union und, ich glaube,wir alle haben darauf noch keine nachhaltige politischeAntwort gefunden . Sicher ist aber, dass es dafür keineschnellen Lösungen gibt und wir uns gemeinsam auf dieSuche nach solchen Lösungen machen müssen . Das isteine große Aufgabe, und das müssen wir den Menschenin unserem Land auch so sagen .
Diese Herausforderungen werden uns noch lange be-schäftigen, und wir suchen noch nach Lösungen .Umso wichtiger ist jetzt schnelle Hilfe für die flüchten-den Menschen, die auf dem Weg zu uns sind bzw . hierankommen . Herr Außenminister, deshalb unterstützenwir nachdrücklich die Erhöhung des Etats für humanitäreHilfe . Wir glauben, dass hier auf lange Sicht noch vielmehr Mittel benötigt werden, als Sie bisher eingeplanthaben . Ich will Sie daran erinnern, dass Sie diesen Etatvor einem Jahr um 40 Prozent kürzen wollten . Setzen Sieden Etat dieses Mal realistischer an . Deswegen schlagenwir Ihnen vor, hierfür weitere Mittel einzustellen . Es istDr. Franz Josef Jung
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ja jetzt von weiteren 400 Millionen Euro für Flüchtlingedie Rede .
Sie werden sie brauchen . Unsere Unterstützung dafürhätten Sie jedenfalls .Es gibt in diesem Zusammenhang etwas, das Sieschnell ändern müssen . Es geht um die Möglichkeit, ei-nen Antrag auf ein Visum zu stellen, um durch Familien-zusammenführung nach Deutschland zu kommen .
Flüchtlinge, die alle Papiere zusammenhaben, müssenbei unseren Konsulaten und Botschaften auf einen Ter-min für die Antragstellung teilweise zwischen sechs undneun Monaten warten . Es geht hier um Tausende Men-schen, die stranden . Ich glaube, Kolleginnen und Kolle-gen aus allen Fraktionen kennen solche Härtefälle undempfinden sie als skandalös.Nun haben Sie im Nachtragshaushalt 2015 und imvorliegenden Entwurf für 2016 insgesamt 50 neue Stel-len beantragt . Das reicht doch in dieser Lage nicht! Ichfrage Sie: Warum erst jetzt, und warum so wenig? Dasmüssen Sie zur Chefsache machen und beschleunigen .
Es ist wirklich höchste Zeit dafür .Liebe Kolleginnen und Kollegen, alle sprechen jetztdarüber, dass es darum gehen muss, Fluchtursachen zubeseitigen . Dazu müssen in der Außenpolitik die Kon-fliktprävention und die Entwicklungspolitik Hand inHand gehen . Das muss der Außenminister zu seiner Sa-che machen .Gestatten Sie mir hierzu zwei Bemerkungen . Es istgut, wenn es in diesem Haushalt deutlich mehr Mittelfür die Entwicklungspolitik gibt . Aber es fehlt jede kon-krete Überlegung, wie das 0,7-Prozent-Ziel bei der Ent-wicklungsfinanzierung durch Deutschland mittelfristigerreicht werden soll . Es gibt keinen Aufholplan zur Ein-haltung unserer internationalen Verpflichtungen im Rah-men der UNO . Da geht es auch um die Beseitigung vonFluchtursachen . Da tauchen Sie als Außenminister weg .
Außerdem möchte ich die Politik in Bezug auf dieWaffenexporte ansprechen . Das hat für die Krisenpräven-tion große Bedeutung . Da werden weiter schwere Fehlergemacht . Nehmen wir das Beispiel Saudi-Arabien – dasist von zentraler Bedeutung für den Nahen Osten -: Wirliefern Waffen, wir bilden immer noch die Polizei derdiktatorischen Monarchen aus, und es gibt von der Bun-desregierung keine klare Kritik an den Flächenbombar-dements im Jemen durch Saudi-Arabien .
Im Jemen sind inzwischen weit über 1 Million Menschenauf der Flucht . Diese deutsche Politik, Herr Außenminis-ter, darf so nicht fortgesetzt werden .Natürlich können wir die aktuellen Probleme nicht al-lein lösen, aber wir sollten in diesen Fragen eine klareHaltung und eine klare Linie haben . Die vermisse ich beider Bundesregierung und bei Ihnen, Herr Außenminister .Noch ein Wort zur Seenotrettung im Mittelmeer . Eswar ein schwerer Fehler, dass die erfolgreiche italieni-sche Mission Mare Nostrum nicht von der EuropäischenUnion übernommen und fortgeführt wurde; denn sie hatvielen Menschen das Leben gerettet . Wir haben damalsüber eine zweistellige Millionensumme geredet .
Es ist gut, dass die Schiffe von EUNAVFOR Med sichjetzt vor allem an der Seenotrettung beteiligen . Wir begrü-ßen ausdrücklich, dass die Bundeswehr mit zwei Schif-fen dabei ist . Wir würden auch ein stärkeres Engagementbei der Seenotrettung unterstützen . Aber ich halte dieAnnahme für falsch, dass eine Militäraktion in den Ge-wässern vor Libyen oder an Land in diesem Zusammen-hang etwas Positives bewirken kann . Frau Mogherinibetreibt das ja energisch, und die Bundesregierung solltedem eine klare Absage erteilen . Das Flüchtlingsdrama imMittelmeer lässt sich nicht militärisch lösen .
Angesichts der dramatischen Lage an den europäi-schen Außengrenzen treten viele andere Themen in denHintergrund . Ich möchte aber noch ein wichtiges Poli-tikfeld ansprechen . Was die Gespräche über das Transat-lantische Handels- und Investitionsabkommen betrifft:Da geht es natürlich auch um eine zentrale Frage unsererBeziehungen zu den USA . Das fällt auch in Ihr Ressort,Herr Steinmeier; auch wenn Sie häufig den Anscheinerwecken, als hätten Sie mit dem Thema eigentlich garnichts zu schaffen .Da wird unter der Überschrift „Regulatorische Koope-ration“ über eine Art Handelsverträglichkeitsprüfung fürjede ordnungspolitische Maßnahme in der EU und denUSA verhandelt . Das kann die systematische Unterord-nung von Standards unter Handelsinteressen bedeuten .Die vorgesehenen außergerichtlichen Schiedsgerichts-verfahren mit wechselseitigen Schadenersatzklagen ge-gen neue Gesetze würden in der Bevölkerung in Europaund in den USA eine zerrüttende politische Wirkung fürdie transatlantischen Beziehungen haben . Sie sollten da-rüber einmal mit amerikanischen Gewerkschaftlern undGewerkschaftlerinnen reden .
Es ist auch eine außenpolitische Aufgabe, das zu verhin-dern .Ich danke für die Aufmerksamkeit .
Dr. Frithjof Schmidt
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Der Kollege Niels Annen spricht jetzt für die SPD .
Vielen Dank, Herr Präsident! -Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Lieber Herr Schmidt, Sie haben,wie ich denke, zu Recht, die Bekämpfung von Fluchtur-sachen angesprochen . Sie haben dabei den Außenminis-ter angesprochen . Ich kann nur sagen: Die Bekämpfungder Fluchtursachen ist das Ziel der Bundesregierung .Ich finde, in der Rede von Frank-Walter Steinmeier istsehr deutlich geworden, wie mühsam, wie mühevoll,wie energieintensiv diese Arbeit ist und dass man einenlangen Atem braucht . Aber dass die Bekämpfung derFluchtursachen das zentrale Ziel der Regierungspolitikist, steht, glaube ich, außer Zweifel .Wenden wir uns einmal in Richtung Syrien . Schau-en wir uns an, wie sich die Lage dort darstellt . Natürlichgibt es in Syrien Regionen, die in den letzten Monatenund Jahren im Wesentlichen nicht vom Krieg betroffenwaren, in denen heute aber gekämpft wird . Das löst neueFluchtbewegungen aus und hat Auswirkungen, und zwarinnerhalb Syriens, aber auch – das erleben wir täglichin unseren Wahlkreisen – auf die Situation in unseremLand .Ich bin sehr dankbar dafür, dass in dieser Debattedeutlich geworden ist, dass es Entwicklungen gibt, diewir nicht unmittelbar beeinflussen können. Dafür brau-chen wir – Stichwort Bekämpfung der Fluchtursachen –den langen Atem, und den haben wir in dieser GroßenKoalition .Es gibt aber auch Elemente, die wir direkt beeinflus-sen können . Deswegen bin ich froh darüber, dass wir indiesem Hause darüber reden – denn das ist in der Tat einSkandal –, dass die Weltgemeinschaft es nicht schafft,diese wenigen Milliarden zusammenzukratzen, dereres bedarf, um die Operationen des Welternährungspro-gramms, des UNHCR und des Palästinensischen Flücht-lingshilfswerks der Vereinten Nationen auszufinanzieren.
Ich bin in den letzten zwei Jahren mehrfach in diesenFlüchtlingslagern gewesen . Die Menschen haben sichnach zwei, drei Jahren Krieg damit abgefunden, dass sienicht in wenigen Monaten in ihr Land zurückgehen kön-nen . Diese Hoffnung gab es ja . Auch viele von uns habengedacht, dass Assad relativ schnell stürzen würde undman das Land dann wieder betreten könnte, um sich eineExistenz aufzubauen . Wenn man mit diesen Familien ge-sprochen hat, merkte man, dass sie sich im wahrsten Sin-ne des Wortes eingerichtet haben – mit der Hilfe der in-ternationalen Gemeinschaft, auch mithilfe des deutschenSteuerzahlers . Heute bekommen sie kein Geld mehr . Anwen sollen sie sich eigentlich wenden? Das ist etwas,was wir mit beeinflussen können. Das spiegelt sich auchin diesem Etat wider. Ich finde, das ist die eigentlicheBotschaft: Ja, Deutschland übernimmt Verantwortung .Finanziell beteiligen wir uns stärker, als wir das eigent-lich müssten, weil das notwendig ist . Deswegen erwartetdieses Haus – ich denke, das können wir gemeinsam sofesthalten –, dass sich die anderen europäischen Staatenund weitere Länder an dieser Aufgabe, die bewältigt wer-den kann, beteiligen. Auch ich finde, dass sich die rei-chen Golfstaaten einmal die Frage stellen sollten, ob siediese wenigen Milliarden Euro nicht aufbringen können,um die Arbeit der Vereinten Nationen auszufinanzieren.
Als Reaktion auf das Flüchtlingsdrama haben wir inden letzten Tagen Deklarationen zur Kenntnis genom-men, auch von engen Verbündeten von uns, die angekün-digt haben, sich stärker bzw . erstmals an Luftschlägengegen ISIS zu beteiligen . Grundsätzlich bin ich der Mei-nung, dass ein größeres Engagement im Rahmen der An-ti-IS-Koalition etwas ist, was man begrüßen muss . Wirwerden diesen Konflikt nicht mit diplomatischen Mittelnallein lösen können . Allein mit Luftangriffen werden wirdiesen Konflikt aber auch nicht beseitigen können. Ichbin ein bisschen in Sorge, dass der Eindruck entsteht: Wirschicken ein paar mehr Flugzeuge, werfen Bomben übervon ISIS kontrolliertem Gebiet ab und leisten damit einenBeitrag zur Bekämpfung der Fluchtsituation . Das kannsich sehr schnell als Irrtum herausstellen, auch weil einGroßteil der Menschen, die zu uns nach Europa kommenoder in eines der Nachbarländer fliehen, nicht unbedingtnur vor ISIS fliehen, sondern auch vor den Fassbomben,die Assad jeden Tag einsetzt, vor den Chemiewaffen, dieer einsetzt, vor der Brutalität seiner Sicherheitskräfte .
Deswegen brauchen wir am Ende eine politischeEntwicklung, die doch nur dazu führen kann, dass alleAkteure in Syrien selber, aber auch diejenigen, die dortdirekt und indirekt Einfluss nehmen, die RegionalmächteSaudi-Arabien und der Iran, aber auch unser Verbünde-ter, die Türkei, die dort bestenfalls eine ambivalente Rol-le spielt, Russland und die Vereinigten Staaten und auchwir hier in der Europäischen Union dafür sorgen, dasskeine dieser Kriegsparteien mehr der Illusion erliegt,den Konflikt militärisch gewinnen zu können. Solangeirgendjemand das noch glaubt, wird dieser Krieg nichtenden .Deswegen bin ich dem Außenminister sehr dankbar,dass er so energisch und engagiert die Vereinten Natio-nen und den Sonderbeauftragten de Mistura dort unter-stützt; denn das ist am Ende die einzige Möglichkeit, diewir haben . Ich glaube, dafür brauchen wir nicht nur dieUnterstützung dieses Hauses, sondern der gesamten Eu-ropäischen Union und der Weltgemeinschaft .
Lassen Sie mich am Ende meiner Redezeit noch etwaszur Ukraine sagen . Auch bei uns, in der Öffentlichkeitund unserer Mediengesellschaft, ist alles sehr kurzlebig .
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Man hat manchmal den Eindruck, es gibt nur noch einThema . Vor wenigen Monaten gab es nur das Thema„Beziehungen zu Russland und zur Ukraine“ . Deswegenwill ich die Gelegenheit nutzen, ohne hier Euphorie ver-breiten zu wollen, noch einmal darauf hinzuweisen, dassim Gegensatz zu dem, was uns viele aufgeschrieben undgesagt haben, das Minsker Abkommen weiterhin eineGrundlage dafür bildet, mit den Konfliktparteien einenProzess zu bestreiten, und dass die Diplomatie Erfolgevorzuweisen hat – nicht die Lösung des Problems, aberErfolge vorzuweisen hat: Der Waffenstillstand, der ver-handelt worden ist, wird weitgehend eingehalten . Es istunsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass das so weitergeht .Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass auch die Unter-stützung für die Kräfte in der Ukraine vernehmlich arti-kuliert wird, die sich ja – Kollege Jung hat darauf hinge-wiesen – nicht nur einer erbitterten Opposition, sondernsogar terroristischer Mittel erwehren müssen . Wir müs-sen die ukrainische Politik und die Gesellschaft auf die-sem Weg unterstützen . Die Entscheidungen in der Radasind ein ganz wichtiger Schritt in diese Richtung . Auchda, glaube ich, gibt es eine breite Unterstützung in die-sem Hause .In diesem Sinne bedanke ich mich für die Aufmerk-samkeit und freue mich auf die weiteren Beratungen .Vielen Dank .
Der Kollege Wolfgang Gehrcke spricht jetzt für die
Fraktion Die Linke .
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ichdenke, dass man nüchtern und traurig aussprechen muss,dass wir heute wieder in Kriegszeiten und nicht in Frie-denszeiten leben . Wir leben in Zeiten des Krieges . KurzeZeit schien es so, als ob man den Krieg endgültig vonunserer Erde verbannen könnte, zumindest von unseremKontinent . Kurze Zeit schien es auch so, als könnte manAtomwaffen wirklich abschaffen . Eine Welt ohne Atom-waffen! Es war leider nicht so . Das Gegenteil ist der Fall .Ich spreche es nüchtern aus: Aus meiner Sicht ist heutedas Überleben der Gattung Mensch und unseres Planeteninfrage gestellt . Um nichts weniger geht es bei der Frage,ob man aus diesen katastrophalen Entwicklungen einenAusweg finden kann.
Mir sind dieser Tage immer wieder einige Zeilen vonBertolt Brecht durch den Kopf gegangen . Ich will sie Ih-nen nicht ersparen . Brecht schreibt in seinem Gedicht Andie Nachgeborenen:Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten! . . . Was sind das für Zeiten, wo Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen istWeil es ein Schweigen über so viele Untaten ein-schließt!Mahnt uns das? Mahnt uns das nicht, Schweigen überUntaten? Reden wir doch einmal darüber, dass weltweit60 Millionen Menschen auf der Flucht sind . 60 Milli-onen weltweit! Reden wir darüber, dass jeden Tag aufder Erde 57 000 Menschen verhungern . Die Erde wärereich genug, um alle ernähren zu können . Reden wirdarüber, dass durch schlechte Wasserversorgung, auchdurch Privatisierungen, jedes Jahr 100 000 Menschensterben . Fluchtursachen muss man bekämpfen und nichtdie Flüchtenden .
Wir haben es zu tun mit einem Krieg der Reichengegen die Armen dieser Welt . Auch das muss man aus-sprechen, wenn man über alternative Außenpolitik nach-denkt .
Die Kriegstoten, die Flüchtenden, die Verhungerndensind Opfer einer kannibalischen Weltordnung . Es ist dieUnordnung der Macht des Profits, des Kapitalismus. EinBruch mit der Macht des Kapitalismus, mit der Machttransnationaler Konzerne ist nötig, wenn die Menschheitüberleben soll .
Das erfordert auch weltweite Eingriffe in die Eigen-tumsverhältnisse, in die Verfügungsgewalt über Eigen-tum, und das erfordert auch eine Unterbindung weltwei-ter Finanzspekulationen . Das sagt selbst der Papst . Dasist ja keine linke Erfindung.
Wahrlich, wir leben in finsteren Zeiten, in Kriegszei-ten, auch in Europa . Europa steckt in seiner schwers-ten Krise seit Ende des Systemkonflikts. Seitdem wardas Verhältnis EU-Deutschland-Russland noch nie soschlecht wie heute . Für die Verschärfung der euroatlanti-schen Großkonflikte, des ukrainischen Konfliktes inklu-sive der gegenseitigen Drohungen der USA und Russ-lands mit Atomwaffen trägt auch die deutsche Politik mitVerantwortung . Sanktionen, Dialogverbote und primitiveantirussische Propaganda sind keine Argumente, sondernzerstören die Grundlagen von Zusammenarbeit . Auchdas muss hier ausgesprochen werden .
Ich möchte an dieser Stelle mit wirklicher Trauer da-rauf aufmerksam machen: In seinem letzten Dokumenthat Egon Bahr mit dem Willy-Brandt-Kreis der SPD anuns alle appelliert, sich auf eine gemeinsame europäischeFriedensordnung zurückzubesinnen . Ich denke, dass manvon der Bundesregierung fordern muss: Macht uns dieRussen nicht zu Feinden . NATO-Manöver und damitauch deutsche Soldaten an der Westgrenze Russlands,das ist eine unvorstellbar kaputte Politik . In diesem Jahrhaben bereits 16 solcher Manöver stattgefunden .Deutschland muss überhaupt aus dem ganzen Kriegs-getöse aussteigen, denke ich . Hören Sie einmal in dieFriedensbewegung hinein . Sie waren ja früher einmalNiels Annen
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sehr eng mit der Friedensbewegung verbunden; lang istes her . Die Losung „Deutsche Waffen, deutsches Geldmorden mit in aller Welt“ finde ich begründet und be-weisbar .
Es sollte für uns eine Schande sein, wenn man zu solcheiner Feststellung kommt .Syrien, Afghanistan, Irak, Libyen, Jemen, in Euro-pa der Krieg in Jugoslawien und jetzt in der Ukraine –in diesen Kriegen haben 350 000 Menschen ihr Lebenverloren . An vielen dieser Kriege war Deutschland di-rekt oder indirekt beteiligt . Ich möchte wissen, was dieBundesregierung in der Auseinandersetzung mit dem NATO-Partner Türkei macht, dem sie ja die Patriot-Ra-keten vor die Tür gestellt hat, um zu verhindern, dass esin der Türkei zu einem Bürgerkrieg kommt . Das ist dochein Problem, über das auch in der NATO debattiert wer-den muss und mit dem man sich auseinandersetzen muss .Herr Außenminister, Herr Steinmeier, Sie haben ein-mal formuliert, dass Deutschland die Weltpolitik nichtvon der Außenlinie betrachten soll . Meine Überlegungist: Besser an der Außenlinie der Weltpolitik stehen blei-ben, als ein Teil der Kriege dieser Welt zu werden . Dasist eine andere Politik, und darüber muss man streiten .
Ich sage sehr offen, weil immer wieder darüber speku-liert wird: Die Außenpolitik der Linken geht nicht mit derAußenpolitik der SPD und dieser Regierung zusammen .Dazwischen liegen Welten . Ich bin stolz darauf, dassWelten dazwischen liegen .
– Ich sage es euch und der Öffentlichkeit, weil ich voneuch erwarte, dass ihr endlich eure Außenpolitik verän-dert und zu einer Außenpolitik, wie Egon Bahr sie be-trieben hat, wie andere sie betrieben haben, zurückkehrt .
Das wäre vernünftig . Besinnt euch auf Willy Brandt, undlernt endlich wieder von einer solchen Außenpolitik .
Ich komme zum Schluss . In diesem sehr schönen Ge-dicht von Bertolt Brecht gibt es einen Rat an uns alle, denich bitte zu beherzigen . Brecht schreibt:Ich wäre gerne auch weise .In den alten Büchern steht, was weise ist:Sich aus dem Streit der Welt halten . . .So weit Brecht . Die deutschen Außenpolitik sollte weisesein, sich aus dem militärischen Streit der Welt heraus-halten, nicht aufrüsten und nicht Soldaten in alle Weltschicken, sondern still und beharrlich für den Friedenarbeiten . Das wäre eine Grundlage der Zusammenarbeit,die ich mit ganzem Herzen bejahen würde .Danke .
Der Kollege Jürgen Hardt spricht jetzt für die CDU/
CSU .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Lassen Sie mich zu Beginn meiner Rede alsneuer außenpolitischer Sprecher meiner Fraktion sagen,dass ich gerne, auch im Namen der Außenpolitiker derUnion, die Tradition meiner Vorgänger fortführe und denkonstruktiven Dialog innerhalb der Koalition, mit derRegierung, aber natürlich auch mit der Opposition su-che . Es ist ein echtes Asset der deutschen Außenpolitik,dass wir in ganz vielen Fragen bzw . in den großen Fra-gen einen weit über die Parteigrenzen hinausgehendenKonsens haben . Damit können wir für unser Land, fürunsere Bürgerinnen und Bürger, aber eben auch in derWeltgemeinschaft mehr erreichen, als wenn wir uns ausideologischen Gründen streiten . In diesem Sinne, glaubeich, sollten wir die Arbeit hier in diesem Hause fortset-zen . Dass wir den Weltkommunismus in unsere Überle-gungen zur Lösung der Konflikte auf dieser Erde mögli-cherweise nicht einbeziehen, Herr Gehrcke, werden Siemir nachsehen .
Der Beitrag des Weltkommunismus zum Weltfrieden istvergleichsweise gering, wenn man ihn allein daran misst,was die Bundesregierung zu leisten in der Lage ist .
Wir sprechen in diesen Tagen viel über die Sympto-me der Erschütterungen der Welt in Form von Flücht-lingen, die bei uns anlanden, zu uns kommen und Hilfesuchen . Wir reden auch über die großartigen Leistungen,die dabei erbracht werden: von Beamten, von Angestell-ten, von zivilen Hilfskräften, aber auch von ganz vielenEhrenamtlichen . Sache der Außenpolitik ist es, sich denUrsachen zuzuwenden . Was die Ursachen der Fluchtangeht, sind der IS-Terror, die religiös verbrämte Bewe-gung IS und alle, die ihr in Zentralafrika, im Norden Af-rikas und in anderen Ländern der Welt nacheifern, natür-lich ein entscheidender Punkt . Ich möchte zum deutschenBeitrag im Kampf gegen den IS nur sagen: Wir leistenmit unserer Ausrüstungs- und Ausbildungsunterstützungfür die kurdischen Peschmerga im Norden Iraks einenhervorragenden Beitrag . Er wird allgemein anerkannt . Esist auch keine kleine Sache, mit Soldaten dort vor Ort zusein und diese Hilfe zu leisten .Wolfgang Gehrcke
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Dem einen oder anderen, der darauf hinweist, dass an-dere Staaten Luftschläge gegen IS-Stellungen, von denenBedrohungen für den Irak ausgehen, durchführen, sageich: Deutschland fährt gut mit der Maßnahme, die wirdort ergreifen, nämlich mit der Ausbildungs- und Aus-rüstungsunterstützung . Für den Fall, dass die Regierungzu dem Ergebnis kommt, vielleicht mehr tun zu müssen,wird sich der Bundestag sicherlich offen zeigen, darüberzu reden . Aber ich denke, dass es bei der Unterstützungder kurdischen Peschmerga bleiben sollte und dies unsergroßer und zentraler Beitrag ist .Weitere Fluchtursachen, die mittel- und langfristiganzupacken sind, sind Dürre, Hunger und Armut in derWelt, ausgelöst durch schlechte Regierungen, aber auchausgelöst durch Klimaveränderungen .Es gibt ein großes Projekt, Herr Außenminister, dasin diesem Jahr nicht nur, aber auch ein außenpoliti-sches Thema ist: Wir müssen uns bemühen, den Pari-ser UN-Klimagipfel zu einem Erfolg zu führen . Denndann sind wir in der Lage, einen Beitrag zu leisten, dieFluchtursachen, insbesondere was Afrika angeht, mittel-und langfristig zurückzudrängen . Ich kann Sie nur un-terstützen und ermutigen, alles zu tun, um hier zu einemErfolg zu kommen . Die Situation sieht ja besser aus, alses der eine oder andere vielleicht noch vor einem Jahrerwartet hat .Auch wenn wir den Bürgerinnen und Bürgern ein Ge-fühl dafür geben wollen, dass wir mit der außenpoliti-schen Aufgabe der Bekämpfung der Fluchtursachen ver-antwortungsvoll umgehen, werden wir ihnen natürlichnicht für jedes Problem eine Lösung servieren können .Aber wir können ihnen sagen, nach welchen Prinzipi-en wir unsere Außenpolitik ausrichten . Ich glaube, daserste Prinzip, das man nennen muss, lautet: Deutschlandhält sich an Recht und Gesetz im Rahmen der Völker-gemeinschaft und im Rahmen der Charta der VereintenNationen . Das schließt allerdings auch ein, dass wir ander Weiterentwicklung der Völkerrechtsordnung und derVereinten Nationen aktiv mitwirken . Deutschland ist be-reit, in einem zu reformierenden UN-Sicherheitsrat Ver-antwortung zu übernehmen .Ein Kollege hat es schon angesprochen: Wir würdenuns wünschen, dass es zumindest gelingt, auf der Basiseiner freiwilligen Erklärung von den Vetomächten desUN-Sicherheitsrates die Zusage zu bekommen, dass sieihr Veto dann nicht einlegen, wenn es um Völkermordund Vertreibung geht, sodass wir die Dinge, die wir inBezug auf Syrien erlebt haben – hier sind wir letztlichvier Jahre lang nicht zu einem Konsens gekommen, waswir in der Völkergemeinschaft tun können –, für die Zu-kunft ausschließen .Wenn es um Recht und Gesetz geht, geht es auch umMenschenrechte . Ich möchte an dieser Stelle ausdrück-lich loben, dass sich, wenn es zum Beispiel um verfolg-te Christen geht, insbesondere der Fraktionsvorsitzendeder CDU/CSU, aber auch viele andere Kollegen für dieDurchsetzung der Menschenrechte überall auf der Welteinsetzen . Jeder von uns hatte in seiner politischen Arbeitschon mit diesem Thema zu tun . Für viele war es eineMotivation, in die Politik einzutreten, sich für die Einhal-tung der Menschenrechte überall auf der Welt einzuset-zen . Deswegen, glaube ich, sollten wir das auch deutlichmachen .
Das zweite Prinzip . Wir suchen in Deutschland immerden integrierten Ansatz . Wir scheuen nicht davor zurück,gegebenenfalls auch zu robusten Mandaten zu greifen –daran ist der Bundestag ja maßgeblich beteiligt –, aberwir sehen auch, dass für eine nachhaltige Lösung derProbleme das Zusammenspiel von zivilen, militärischen,diplomatischen und sozialen Initiativen unverzichtbar istund dass man einen langen Atem braucht .Mit Blick auf Afghanistan – darüber werden wir inden nächsten Monaten ja sicherlich auch diskutieren –haben wir mit der Mission Resolute Support einen am-bitionierten Plan, aber ich glaube schon, dass wir unsmöglicherweise von dem starren Zeitplan lösen und be-reit sein sollten, über den bisher vorgegebenen Zeitplanhinaus in Afghanistan engagiert zu bleiben – auch außer-halb Kabuls –, weil es eben im Sinne der Nachhaltig-keit nicht gut wäre, wenn wir dort vorzeitig die Flinte insKorn werfen würden . Wir sollten mit unseren Partnern inder Welt ganz konkret darüber reden, was nach ResoluteSupport kommt und wie ein modifiziertes Mandat mög-licherweise aussieht .Klar ist aber auch, dass wir das gemeinsam machen .Wir sind in Afghanistan gemeinsam engagiert . „Gemein-sam rein, gemeinsam raus“ war immer unser Grundsatz .Das Dritte ist – darauf habe ich im Zusammenhang mitAfghanistan eben schon hingewiesen –, dass Deutsch-land keine außenpolitischen Alleingänge macht, sonderndass wir uns immer in partnerschaftlichen Organisatio-nen engagieren .Wir haben Formate gefunden, in denen Deutschlandmassiv und erfolgreich wirkt . Das E3+3-Format ist einBeispiel dafür . Ich möchte alle Kolleginnen und Kollegenermutigen, auch mit den Kollegen aus Israel darüber zureden, dass wir Deutschen der Meinung sind, dass das einedeutliche Erhöhung der Sicherheit Israels bedeutet, wasfür uns Deutsche Staatsräson ist . In den Gesprächen, diewir mit den israelischen Kolleginnen und Kollegen führen,sollten wir immer wieder versuchen, sie davon zu über-zeugen, dass von diesem Abkommen keine Bedrohung fürIsrael ausgeht . Das ist mir ein wichtiges Anliegen .Wir haben zwei Partner, mit denen wir seit Jahrzehn-ten und für Jahrzehnte eng verbunden sind:Das ist zum einen die Europäische Union, die sichgegenwärtig auf den Weg der Erarbeitung einer außen-und sicherheitspolitischen Strategie begibt . Von vielenSeiten wird davon nicht viel erwartet . Ich sage: Gerademit Blick auf die Flüchtlinge und die Fluchtursachenhaben wir die Chance, auf dem EU-Gipfel im nächstenJahr diesbezüglich einen mächtigen Akzent zu sehen unddiejenigen positiv zu überraschen, die sich von der Euro-päischen Union in diesem Punkt nicht so viel erwarten .Zum anderen haben wir eine Verbindung zu den Ver-einigten Staaten von Amerika, die transatlantische Part-Jürgen Hardt
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nerschaft . Sie bewährt sich in ganz vielen Feldern . Einesmöchte ich nennen, nämlich den Ukraine-Konflikt. Esgibt einen ganz engen Schulterschluss Nordamerikas mitdem, was die Europäer für richtig halten . Sie unterstützendas, was wir dort tun, und wir sind gemeinsam der Mei-nung, dass es eine diplomatische Lösung geben muss unddass das völkerrechtswidrige Handeln Russlands durchSanktionen beantwortet werden muss .Es ist aber mehr als eine Sicherheitspartnerschaft . Esist eine Wertepartnerschaft und natürlich auch eine Wirt-schaftspartnerschaft . Deswegen kommt dem Handelsab-kommen TTIP eine große Bedeutung zu .Ich glaube, der Kollege Schmidt hat es eben angespro-chen: Wenn Gewerkschaften, deren Mitglieder in expor-tintensivsten Industrieunternehmen arbeiten – zum Bei-spiel die IG Metall –, undifferenziert gegen ein solchesHandelsabkommen sprechen, dann ist das ein Grad anIrrationalität, den ich nicht nachvollziehen kann . Es wirdso getan, als seien Verabredungen getroffen worden . Esgibt aber überhaupt noch keine Vereinbarung . Im Übri-gen müssen der Deutsche Bundestag und das Europäi-sche Parlament zustimmen . Ich kann die Gewerkschaftennur dringend auffordern, im Interesse ihrer Mitglieder dieChancen dieses Abkommens zu begreifen und sich ebennicht auf die Seite derer zu schlagen, die aus dumpfemAntiamerikanismus gegen dieses TTIP-Abkommen sind .
Ich glaube, dass wir mit diesem Abkommen die großeChance haben, strategisch weiterzukommen . Wenn wirunsere Maßstäbe in Bezug auf den fairen Welthandeldurchsetzen, dann ist das besser, als wenn wir uns vonder Entwicklung in der Welt treiben lassen .
Herr Kollege Hardt, gestatten Sie zum Ende Ihrer Re-
dezeit noch eine Zwischenfrage des Kollegen Trittin?
Ja .
Herr Kollege Hardt, da Sie Kritiker aus den Gewerk-
schaften, die zum Beispiel die intransparenten Schieds-
verfahren und die regulatorische Kooperation beanstan-
den, mit dem Begriff des „dumpfen Antiamerikanismus“
belegt haben,
würden Sie diesen Begriff dann auch auf jene Gewerk-
schafter in den USA anwenden, die dieses Abkommen
aus exakt den gleichen Gründen, nämlich aus der Be-
fürchtung heraus, dass im Zusammenhang mit diesem
Abkommen die Demokratie vermindert und Arbeitneh-
merrechte abgebaut werden könnten, ablehnen? Sind die-
se amerikanischen Gewerkschaften auch von „dumpfem
Antiamerikanismus“ geprägt?
Herr Trittin, Antiamerikanismus bei amerikanischen
Arbeitnehmern habe ich bei meinen Besuchen in Ame-
rika nicht beobachten können . Ich möchte aber dennoch
sagen: Es geht darum, dass wir uns bei diesem Abkom-
men an die konkreten Fakten halten, dass wir vor dem
Hintergrund, dass wir ein solches Abkommen wollen, für
uns, für Europa und für Nordamerika das beste Ergebnis
erlangen . Dabei hilft es überhaupt nicht, Behauptungen
aufzustellen, die nicht belegt und unwahr sind; Stichwort
„Intransparenz von Schiedsverfahren“ .
Ich kenne das Schiedsverfahren, wie es bei CETA vor-
gesehen ist . In diesem Abkommen ist bei diesem Verfah-
ren Transparenz explizit vorgesehen . Sie kennen den Be-
schluss des Europaparlaments, der als Leitplanke für die
Verhandlungen der EU-Kommission dienen soll . Auch in
diesem Beschluss ist bei diesem Verfahren Transparenz
vorgesehen . Ich bitte diejenigen, die TTIP infrage stellen,
anzuerkennen, dass es über bestimmte Dinge, die als ge-
geben in den Raum gestellt werden, längst Klarheit gibt
und dass es kein intransparentes Schiedsverfahren geben
wird . Dass im Übrigen die regulatorische Kooperation
die Rechtsetzungsmöglichkeiten der Parlamente der teil-
nehmenden Staaten nicht außer Kraft setzt, können Sie
im Text zum CETA-Abkommen, bisher nur in der engli-
schen Fassung, nachlesen .
Vielen Dank, Herr Kollege Hardt . Damit ist Ihre Re-
dezeit beendet .
Nächster Redner ist der Kollege Dr . Tobias Lindner
für BÜNDNIS 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ihnen, Herr Kolle-ge Hardt, auch von unserer Seite aus alles Gute in Ihremneuen Amt und viel Glück dabei . Wenn Sie die Koopera-tion der grünen Fraktion bei der Kontrolle der Bundesre-gierung suchen, dann sind wir dazu gerne bereit .Ich weiß nicht, ob Sie Zugang zu diesem ominösenDatenraum in der US-Botschaft haben .
– Sie sind angemeldet! Sehen Sie: Vielleicht können wirins Geschäft darüber kommen, was das Thema Transpa-renz bei gewissen Dokumenten betrifft, und dann eineehrliche Debatte über das Freihandelsabkommen TTIPführen .
Lassen Sie mich aber, da wir in einer Haushaltsdebat-te sind, etwas zum Etatentwurf des Auswärtigen Amtessagen . Ja, Herr Minister, es ist richtig, Ihre Ausgabensteigen erneut um 15 Prozent . Das ist nicht nichts, wennman sieht, dass von diesen 670 Millionen Euro, um dieJürgen Hardt
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der Etat steigt, 500 Millionen Euro an die Vereinten Na-tionen gehen . Das ist zwar richtig und notwendig, liebeKolleginnen und Kollegen . Aber da wir in dieser Debattebeispielsweise auch über das UNHCR gesprochen haben,wird es, denke ich, eine Aufgabe für die Haushaltsbera-tungen sein, zu schauen, ob an dieser Stelle mehr Mittelnotwendig sind; denn das Geld wäre hier gut angelegt .
Das, worüber wir uns gestern in der allgemeinen Fi-nanzdebatte einig waren, dass dieser Bundeshaushalt wiekaum ein anderer Haushalt zuvor im Beratungsverfahrenmassive Veränderungen erfahren wird, gilt natürlich erstrecht für den Haushalt des Auswärtigen Amtes . Ja, fürdie humanitäre Hilfe erhöhen Sie die Mittel signifikant.Aber gerade in der Außenpolitik sollten Verlässlichkeit,Verbindlichkeit und Angemessenheit wichtige Maßstäbesein . Sie, Herr Steinmeier, haben vorhin, als der KollegeSchmidt dies erwähnte, noch den Kopf geschüttelt .Ich habe mir aber die Zahlen gerade bestätigen lassen: ImHaushaltsentwurf für dieses Jahr, also für 2015, solltendie Mittel für humanitäre Hilfe erst um 38 Prozent abge-senkt werden . Zum Glück ist es in den Haushaltsberatun-gen gelungen, die Mittel doch wieder aufzustocken . Jetztwächst dieser Titel wieder . Nun wird es erneut auf dasParlament ankommen, diese Mittel in einem auskömm-lichen Bereich weiter aufzustocken, weil wir realisie-ren, dass sich der Bedarf an humanitärer Hilfe seit 2012weltweit verdoppelt hat . Deswegen, liebe Kolleginnenund Kollegen, sagen wir Grüne: Hier muss ein weitererSchwerpunkt gesetzt werden . Hier braucht es mehr Geld,als im Etat vorgesehen ist .
Ein zweiter Punkt, bei dem Verlässlichkeit und Ver-bindlichkeit wichtig sind, betrifft den Bereich der Kri-senprävention . Ja, die Gelder bleiben bei 95 MillionenEuro . Ich denke, auch hier sollten wir – zumal beim Koa-litionsgipfel vom Sonntagabend zum Ausdruck gebrachtwurde, dass hier ein Schwerpunkt gesetzt werden soll –schauen, ob mehr gemacht werden kann . Denn es gehtnicht nur um Geld, liebe Kolleginnen und Kollegen, esgeht um die Strukturen, die dahinter stehen, um die Men-schen, die mit diesem Geld dann auch Dinge verrichtensollen . Da besteht Aufholpotenzial .Ich will Ihnen ein Beispiel geben . Bisher bewilligenwir Gelder in diesem Bereich an NGOs bzw . an Dritte,welche die Projekte ausführen, nur im Jahresrhythmus .Das führt dazu, dass im Herbst bzw . im November teil-weise Ortskräfte entlassen werden müssen und dass dieOrganisationen ihre Aktivitäten drosseln bzw . herunter-fahren müssen, bis ein neuer Bundeshaushalt beschlos-sen wurde . Dann geht wieder alles von vorne los undmuss hochgefahren werden . Dagegen schaffen wir es imBMZ bereits, solche Bewilligungen für zwei oder auchmehr Jahre auszusprechen . Ich denke, liebe Kollegin-nen und Kollegen, an solchen Dingen sollte eine bessereKrisenprävention Deutschlands nicht scheitern . Daraufsollten wir bei den Haushaltsberatungen auch ein Augen-merk richten .
Ich komme zum letzten Punkt . Sie haben sich beimKoalitionsgipfel – das habe ich zumindest den Papierenentnehmen können – darauf geeinigt, die Mittel für Kri-senprävention um 400 Millionen Euro zu erhöhen . Nochist nicht klar, in welche Bereiche genau diese Gelderfließen werden. Ich habe immer die Auskunft erhalten:Das ist eine politische Vereinbarung, die wir umsetzenmüssen .Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns dieseArbeit verrichten und schauen, wo Bedarfe gestiegen sind .Lassen Sie uns schauen, wo sich mehr VerantwortungDeutschlands in der Welt auch im Haushalt niederschlagenmuss . Lassen Sie uns vor allen Dingen die Diskussion füh-ren, wie dieses Geld – von den Strukturen bzw . Projektenher – am sinnvollsten ausgegeben werden kann . Wir Grü-ne werden dazu in den kommenden Wochen unsere Vor-schläge machen . Wir freuen uns auf Ihre Unterstützung .Vielen Dank .
Nächster Redner ist der Kollege Frank Schwabe für
die SPD .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Auch wenn ich nur ganz wenig Redezeit habe, will ichzumindest ein Land erwähnen, zu dem sonst kaum je-mand schaut, das in Deutschland in den letzten Tagenaber ein bisschen mehr Aufmerksamkeit bekommen hat .Das ist aber eines der Beispiele, wo nicht alles gut ist,aber wo es Hoffnung gibt, nämlich Guatemala . Ich bin –wie andere in diesem Hause auch – relativ häufig in Gu-atemala unterwegs . Ich hätte nie gedacht, dass wir dortwieder eine lebendige Zivilgesellschaft erleben können .Es gab dort jetzt Präsidentschaftswahlen . Aus ihnen wirdwahrscheinlich ein Präsident hervorgehen, mit dem manauch nicht so richtig viel anfangen kann . Das ist es abernicht, was ich meine . In Guatemala gibt es eine lebendi-ge Zivilgesellschaft . Es gibt dort engagierte junge Men-schen bzw . Studenten, die friedlich auf die Straße gehen .Das macht auch Hoffnung für dieses Land in Zentrala-merika .Das Spannende, was wir vielleicht aus der schwieri-gen Debatte der letzten Tage und Wochen dauerhaft mit-nehmen können, ist das, was die Kanzlerin heute und wasauch Frank-Walter Steinmeier gesagt hat: Wir müssen be-greifen, dass das, was wir außenpolitisch bzw . entwick-lungspolitisch machen, etwas mit dem zu tun hat, wasinnenpolitisch in Deutschland sowie in anderen TeilenEuropas und der Welt passiert . Auch wenn das hier keineentwicklungspolitische Debatte ist, wird klar, dass das,was wir da tun, viel mehr darstellt als Almosen, sonderndas ist eine Entwicklungsfinanzierung im wohlverstan-denen eigenen Interesse . Und so müssen wir das, glaubeich, auch in den nächsten Jahren miteinander diskutieren .
Dr. Tobias Lindner
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Das, was wir gerade erleben und was – wie ich finde,leichtfertig – als Völkerwanderung beschrieben wird, istkeine Völkerwanderung . Ich weiß nicht, was noch alleskommen mag . Für das aber, was wir gerade erleben, dieFlucht von Menschen, gibt es zwei Gründe . Der eineGrund ist die hoffnungslose Situation in Südosteuropa .Hier kann es nur über die Europäische Union gelingen,den Menschen dort eine Perspektive zu geben . Der an-dere Grund ist das, was wir gerade in Syrien als Bürger-krieg erleben, von dem über 20 Millionen Menschen be-troffen sind und wo viele dieser Menschen im Land undaußerhalb des Landes auf der Flucht sind .Folgender Satz – er fiel schon heute Morgen – mussauch gesagt werden: Wie man, wie Herr Straubinger,auf die Schnapsidee kommen kann, syrische Flüchtlingenach Syrien zurückführen zu wollen, ist mir völlig schlei-erhaft . Obwohl es dort natürlich Gebiete gibt, die befrie-det sind, ist es auch logistisch vollkommen unmöglich,Menschen dorthin zurückzuführen . Ich glaube, solcheDebatten sollten wir nicht führen .
Dem Problem Syrien kann man sich nur stellen, wennes erstens politische Initiativen gibt, von denen der Au-ßenminister gesprochen hat, und wir zweitens wenigs-tens dafür sorgen, dass die humanitäre Lage für dieFlüchtlinge einigermaßen erträglich ist . Wir reden überzurzeit 60 Millionen Flüchtlinge weltweit; davon sind12 Millionen Syrer . Ich bitte, auch die anderen 48 Milli-onen Flüchtlinge nicht zu vergessen .Niels Annen hat es schon gesagt, und ich kann dasnur bestätigen . Ich war vor zwei Wochen im Libanon .Dort sitzen einem Menschen gegenüber, denen die Nah-rungsmittelration zum dritten Mal gekürzt worden ist:auf 13,50 Dollar pro Kopf und pro Monat . Wenn Sieden Menschen gegenübersitzen, die Ihnen in die Augenschauen und Sie fragen, was sie tun sollen, dann könnenSie es mit Händen greifen, dass sie nicht nach Syrien zu-rückkehren können und dass sie, wenn sie meinen, nichtmehr dort bleiben zu können, nur eine Chance haben,nämlich sich in Richtung Europa aufzumachen . Deswe-gen ist es auch in wohlverstandenem eigenem Interesse,für eine vernünftige Finanzierung der humanitären Hilfedort zu sorgen .In diesem Zusammenhang muss ich sagen, FrithjofSchmidt: Die humanitäre Hilfe ist aufgestockt worden .Sie ist in den letzten Jahren zum Glück deutlich aufge-stockt worden, weil das auch dringend notwendig ist . Wirhaben jetzt einen Aufwuchs von 400 Millionen Euro, vondenen der größte Teil für die humanitäre Hilfe vorgese-hen ist . Das war dringend notwendig .Frank-Walter Steinmeier hat es schon gesagt: Wir soll-ten das von deutscher Seite ein bisschen als Hebel nut-zen, um andere, auch arabische Staaten, zu motivieren,Ähnliches zu tun . Dann hat, glaube ich, das Flüchtlings-paket, wie ich es mal nenne, einen guten Anteil daran,wie wir Flüchtlinge dazu bewegen können, in ihrer Her-kunftsregion zu bleiben .
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Detlef Seif .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Prog-nose von bis zu 800 000 Flüchtlingen, die in diesem Jahrnach Deutschland kommen und Asyl beantragen könnten,beruht ganz wesentlich auch auf der bereits diskutiertenSituation in Syrien . Die Hoffnung vieler Syrer auf einschnelles Ende des Bürgerkrieges ist in den letzten Mo-naten endgültig zerstört worden . Die kriegerischen Aus-einandersetzungen zwischen der Assad-Regierung, Oppo-sitionellen, der al-Nusra-Front, der Hisbollah-Miliz, ISISund anderen – eine völlig undurchsichtige Situation – dau-ern unvermindert an . Die terroristische ISIS-Organisationverbreitet sich in der Region quasi wie ein bösartiges Ge-schwür: in Syrien, Irak und jetzt auch regional in Libyen .Rund 6 Millionen Syrer sind innerhalb ihres Landesauf der Flucht, über 4 Millionen außerhalb . Sie sind inden Nachbarländern Türkei, Jordanien, Libanon, Irakund Ägypten untergekommen .Es ist schon angesprochen worden: Der UN-Flücht-lingskommissar, António Guterres, hat letzte Woche ge-genüber der Washington Post gesagt: Diese Situation, diesich zurzeit abzeichnet, ist eine Tragödie, wie wir sie indiesem Ausmaß in den letzten Jahren nicht erlebt haben .Weiter sagte er: Was die Unterversorgung der Flüchtlin-ge angeht, war in den letzten vier Jahren bereits nur dieHälfte dessen verfügbar, was man eigentlich benötigthätte, um die Menschen vor Ort menschenwürdig zu ver-sorgen .Wir sollten aber an dieser Stelle sagen: Wenn alleMitgliedsländer der Vereinten Nationen einen ähnlichenBeitrag leisten würden wie die Bundesrepublik Deutsch-land, dann wäre das Problem behoben . Ich spreche nichtdagegen, dass wir hier noch draufsatteln können, aber ichspreche dafür, dass wir das Problem international ange-hen und auch alle anderen an ihre Verpflichtungen erin-nern sollten .
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Frank Schwabe
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durch massive internationale Unterstützung zu stabili-sieren . Diesen beiden Staaten müssen wir dankbar sein,dass sie Flüchtlinge in einem Umfang aufgenommenhaben, der einem Viertel ihrer Bevölkerung entspricht .Übertragen auf Deutschland bedeutet das – das ist unvor-stellbar -: Wir müssten 20 Millionen syrische Flüchtlingeaufnehmen, wenn wir im selben Maße Hilfe leisten woll-ten . Ganz wichtig ist zudem, dass humanitäre Korridoreund sichere Aufenthaltsorte für die Flüchtlinge in Syrienund im Irak sowie für den Roten Halbmond und das RoteKreuz geschaffen werden .Zählt man die Hohe Vertreterin für Außen- und Si-cherheitspolitik mit, dann stellt man fest, dass zurzeitfünf EU-Kommissare für die Flüchtlingspolitik zustän-dig sind. Das führt natürlich dazu, dass wir zerfledderteZuständigkeiten haben und dass die Arbeit vor Ort nichtso effektiv ist, wie sie sein sollte . Bundesminister GerdMüller hat vorgeschlagen, einen EU-Sonderbeauftragtenzu berufen, der die Handlungsfähigkeit und die Sicht-barkeit der Europäischen Union beim Umgang mit derFlüchtlingskrise erhöhen soll . Meine Meinung ist, dasswir diesen Vorschlag mit allem Nachdruck aufgreifen undden Minister dabei unterstützen sollten, die EU-Kommis-sion aufzufordern, unverzüglich einen EU-Sonderbeauf-tragten für Flüchtlingspolitik zu berufen .Es ist richtig – darüber haben wir bereits gespro-chen –, dass auch der Einzelplan 05 einen Aufwuchs von400 Millionen Euro nicht nur für humanitäre Hilfe, son-dern auch für Krisenprävention aufweist . Wir können da-rüber streiten, ob das ausreichend ist . Wir werden sicher-lich die Entwicklung beobachten müssen, um zu wissen,ob wir eventuell in einem Nachtragshaushalt nachbes-sern müssen . Aber an dieser Stelle muss man einräumen:Es ist ein deutlicher Aufwuchs vorhanden .Die regionalen Fluchtursachen im Mittleren Ostenkann man nur wirksam bekämpfen, wenn der IS-Ter-rorismus ausgelöscht wird . Wir sprechen natürlich voneiner politischen Lösung . Aber mit dem IS-Terrorismuswerden wir keine politische Lösung hinbekommen . Umunser Ziel zu erreichen, ist es ganz wichtig, dass in Sy-rien, dem Irak und Libyen stabile politische Verhältnis-se herrschen, dass die Menschenrechte vor Ort beachtetwerden und dass dem Bürgerkrieg ein Ende bereitet wird .Aber bevor wir das machen können – ob mit oder ohneBombardierung –, ist entscheidend, dass alle Beteilig-ten – außer natürlich ISIS – an der Erreichung des Zielsmitwirken .Eine Einigkeit im Sicherheitsrat wird durch Russlandund China blockiert . Auch wenn die bisherigen Friedens-bemühungen nicht sehr erfolgreich waren, dürfen wirkeine Gelegenheit auslassen, hier jeden Impuls zu setzen,der möglich ist .
Staffan de Mistura, der EU-Sonderbeauftragte für Sy-rien, ist unermüdlich dabei – der Kollege Jung hat dasschon erwähnt –, Gespräche zu führen und für eineBefriedung zu sorgen . Aber zurzeit scheint das Formatnicht gegeben zu sein, das geeignet ist, hier tatsächlicheine Befriedung herbeizuführen . Gemeinsam mit unse-rem Kollegen Roderich Kiesewetter, dem Vorsitzendendes CDU-Bundesfachausschusses „Außenpolitik“, binich der Meinung, dass Deutschland und die EuropäischeUnion eine von der Region mitverantwortlich getrage-ne Konferenz initiieren sollten, die, beruhend auf denErfahrungen des KSZE-Prozesses, einen auf Nah- undMittelost zugeschnittenen Ansatz entwickelt . Die Stärkedes KSZE-Prozesses lag gerade in der Führung vielerGespräche in unterschiedlichen Formaten, um so Ver-trauen aufzubauen . Die Ergebnisse sowie der Verhand-lungs- und Erfolgsdruck waren dabei zweitrangig . WirDeutsche und die anderen Europäer sollten unbedingteine Initiative in diese Richtung auf den Weg bringen .
Das Asylrecht und das Recht von Flüchtlingen und Men-schen, die im Bürgerkrieg bedroht sind, stehen nicht zurDisposition; ich glaube, darin sind wir uns alle in diesemHaus einig . Die Frage ist nur: Wie kann man zukünftigsicherstellen, dass die Menschen den Schutz, den siesuchen, in Europa finden? Das ist auch eine Frage derKapazitäten . Deshalb müssen wir darauf achten, dassdiejenigen, die Anträge missbräuchlich stellen, schnellst-möglich einen rechtsmittelfähigen Bescheid in der Handhaben und wissen, dass sie wieder zurückgeführt werden .Das ist gerade im Interesse der Flüchtlinge und der Men-schen, die bedroht sind, wichtig .Auf europäischer Ebene ist ein wichtiger Schritt, einegemeinsame Liste sicherer Herkunftsländer umzusetzen .Auch die Hotspots sind ein guter Ansatz . Sie müsstendann aber in der Zuständigkeit des betroffenen Landesliegen . Gerade Personen mit offensichtlich unbegrün-deten Anträgen müssen wissen, dass es sich nicht lohnt,einzureisen, da man zügig und unverzüglich zurückge-führt wird .Die ausschließliche Zuständigkeit eines Landes führtdazu, dass der Anreiz genommen wird, in andere Mit-gliedstaaten überzusiedeln . Sie werden jetzt sagen: Na ja,diese Zuständigkeit haben wir ja schon . Dublin III nenntman das Ganze . – Aber, meine Damen und Herren, Dub-lin III ist eine Schönwettervorschrift gewesen . Sie passtebei geringen Flüchtlingszahlen . Eins zu eins umgesetztwürde diese Vorschrift für Deutschland bedeuten – HerrPräsident, ich bemühe mich, gleich zum Schluss zukommen –, dass wir 3 000 Flüchtlinge im Jahr hätten,während Griechenland 300 000 Asylanträge bearbeitenmüsste . Das hat zu Verwerfungen geführt .Wir können jetzt darüber streiten, eine Solidaritätsde-batte führen und ein Vertragsverletzungsverfahren ein-leiten, wie Juncker es will . Viel wichtiger wird es abersein, ein neues System auf den Weg zu bringen, das auchvon den Ländern, die zurzeit sehr intensiv belastet sind,geschultert werden kann – personell, materiell und auchfinanziell. Das muss auf den Tisch gelegt werden. Allemöglichen Streitigkeiten, Solidaritätsfragen usw . bringenuns nicht weiter . Wir können anderen vorwerfen, euro-päisch oder uneuropäisch zu sein, wir werden aber dieFrage, die jetzt ansteht, so nicht lösen können .Vielen Dank .
Detlef Seif
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Vielen Dank, Herr Kollege Seif . – Ich bewundere Ihre
Gabe, im Rücken den Blick der Sitzungsleitung zu er-
spüren .
Abschließender Redner in der Debatte zu diesem
Tagesordnungspunkt ist der Kollege Alois Karl für die
CDU/CSU .
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegendes Deutschen Bundestages! Wir haben jetzt viele inte-ressante Reden gehört über die deutsche Außenpolitik,über ihre Inhalte, über ihre Ziele, über ihre Absichten .Ich möchte meine Rede mit verschiedenen Danksa-gungen beginnen, zunächst einmal an Sie, lieber HerrKollege Lindner von den Grünen . Sie werden überraschtsein, dass man sich bei Ihnen bedankt; aber ich sagetrotzdem: Sie haben als Einziger Inhalte des Haushaltesdes Auswärtigen Amtes angesprochen . Sie haben Zahlenangesprochen, und darum geht es ja; darüber werden wiruns in den nächsten Monaten unterhalten .Lieber Herr Außenminister Steinmeier, jetzt füge ichmeinen Dank an Sie an . Es wird vielleicht auch Sie über-raschen, dass ein CSUler sich bei Ihnen bedankt . Aber esist in der Großen Koalition in der Tat nichts Ungewöhnli-ches, dass wir, die Partner, uns gut gefunden haben .
Dies ist eine politische Konstellation, die uns in Bayerndurchaus versagt ist . So wie es dort nicht nötig ist, überGroße Koalitionen nachzudenken,
so ist es hier angebracht, für die gute Zusammenarbeitmit Ihnen persönlich, mit Staatsminister Roth, mit derKollegin Professor Böhmer und anderen zu danken . Siealle haben uns bis dato gute Informationen geliefert . Da-rauf werden wir in den nächsten Monaten in der Tat auf-bauen, und wir werden zu guten Ergebnissen kommen .Meine sehr geehrten Damen und Herren, mit unseremHaushalt, dem Haushalt des Auswärtigen Amtes, bewe-gen wir uns in der Tat auf einem spannenden Terrain .Wir befinden uns sozusagen im Schnittpunkt zwischenHaushaltspolitik und Außenpolitik, also den Main Pointsunserer politischen Gestaltung .Wir wissen, dass all dies, das, was heute schon vor-getragen worden ist, und das, was noch hinzukommt,auch finanziert werden muss. Es ist davon gesprochenworden, dass wir ein Aufwachsen unseres Haushaltesvon 3,7 Milliarden Euro in diesem Jahr auf 4,4 Milliar-den Euro im nächsten Jahr sehen . Wenn dann noch dieZuschläge dazukommen, über die am Sonntag verhandeltworden ist, dann wird das noch mehr werden .Allerdings, meine Damen und Herren, ist es keinGrund zu großer Freude, wenn unsere Haushaltspositio-nen anwachsen, insbesondere bei der humanitären Hilfe;denn wir wissen: Wenn die Ansätze für die humanitäreHilfe steigen, dann korrespondiert das damit, dass Not,Elend und Leid in anderen Ecken der Welt herrschen . Wirreden im Zusammenhang mit unseren Haushaltsansätzendarüber und versuchen, das einzudämmen .Das Anwachsen des Haushalts zeigt auch eine gewisseVerantwortung für andere in der Welt . Wenn irgendwoheute Konfliktherde sind, räumlich oft weit weg von uns,wird uns das alsbald einholen . „Heraushalten ist auchkeine Alternative“, hat die Bundeskanzlerin an diesemPlatz einmal gesagt, und recht hat sie .So ist unser Thema, sehr geehrter Herr Außenminister,die verantwortungsvolle Außenpolitik . Es gilt, Außenpo-litik in Verantwortung zu betreiben für Deutschland, fürEuropa, zusammen mit den europäischen Ländern undden USA .Außenpolitik werden wir nicht isoliert sehen kön-nen; denn sehr bald holen uns außenpolitische Konflikteauch in der Innenpolitik ein . Die Wanderungsbewegun-gen sind von fast allen Rednern angesprochen worden .60 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht, ha-ben wir gehört . Seien wir ehrlich: Nur ein kleinerer Teilkommt nach Europa; Europa hat nur einen kleineren Teildieser weltweit so beachtenswerten und beängstigendenEntwicklung zu schultern . Es ist richtig, was Sie, HerrAußenminister, gesagt haben und was du, lieber FranzJosef Jung, gesagt hat: dass es in der Tat eine europäischeAufgabe ist, dieses Problem anzugehen und dieses Prob-lem zu schultern .Viktor Orban hat gewiss nicht recht, wenn er sagt, dassei ein deutsches Problem . Wir machen unseren Job, inden letzten Wochen und in den letzten Tagen in außer-ordentlichem Engagement und mit außerordentlicherHingabe . Wir erfüllen unsere Aufgabe . Aber ich meineschon, dass wir uns hier auch ehrlich machen müssen,dass wir hier nicht jedes Jahr 800 000 oder 1 MillionFlüchtlinge, Bürgerkriegsflüchtlinge vertragen können,dass das in der Tat eine europäische Aufgabe ist .Sie hatten recht, Herr Bundesaußenminister, als Siebei der Konferenz der deutschen Botschafter vor weni-gen Tagen gesagt haben, dass die Staaten des Balkans –Albanien, Kosovo, Montenegro – zu den sicheren Her-kunftsstaaten gehören müssen . Wenn die auf der einenSeite den Antrag stellen, in die Europäische Union auf-genommen zu werden, aber auf der anderen Seite Verfol-gerstaaten sein sollen, dann passt das nicht zusammen .Das müssen wir hier auch klar und deutlich sagen .
Wenn 99 Prozent der Flüchtlinge von dort keine Aner-kennung erhalten – weniger als 1 Prozent ist die Aner-kennungsquote –, dann ist das in der Tat massenhafterMissbrauch, von dem vorhin schon gesprochen wordenist .Auch das, was vorhin zu den Hilfsmaßnahmen in an-deren Ländern zur Bekämpfung der Fluchtursachen ge-
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sagt worden ist, ist von niemandem zu bezweifeln . Heutefrüh hat im Morgenmagazin des deutschen Fernsehensein Herr Kleinschmidt gesprochen, der Leiter einer gro-ßen Flüchtlingsauffangstation in Jordanien gewesen ist .Er sagte: Mit 3 Milliarden Euro – das ist der Beitrag, denwir seit Sonntag aus dem Bundeshaushalt leisten wollen;3 weitere Milliarden gibt es für die Bundesländer – könn-ten wir die Menschen in Syrien wieder so weit ernähren,dass sie nicht auf die Idee kommen, wegzugehen und dengefährlichen Weg nach Europa einzuschlagen .Ein Punkt, meine Damen und Herren, ist meines Er-achtens etwas zu kurz gekommen . Wir haben in denvergangenen Jahren manche Länder als Failed States,als gescheiterte Staaten, bezeichnet . Ich habe mit demBundesaußenminister und auch mit dem Minister GerdMüller darüber gesprochen . Zum Beispiel Eritrea wirdvon uns seit Jahren nicht beachtet . Eine große Flücht-lingswelle kommt aus Eritrea nach Deutschland . Na-türlich herrschen da keine Verhältnisse wie bei uns . De-mokratie, Rechtsstaatlichkeit, freie Meinungsäußerung,freie Presse, das alles ist nicht gegeben . Aber wenn wirdenen mit unserem Geld auf die Sprünge helfen würden,glaube ich, hätten wir vieles erreicht .Meine Damen und Herren, um die Flüchtlingsfrage abzu-schließen: Manchmal meine ich, wir sind in Europa auchetwas geschichtsvergessen . Wir sind geschichtsverges-sen, weil wir uns nicht mehr darauf besinnen, dass sichEuropa aus den Idealen der Aufklärung und der Französi-schen Revolution – Humanität, Achtung der Menschen-rechte – entwickelt hat . In der Französischen Revolutionist neben der „liberté“, der Freiheit, und der „égalité“, derGleichheit, auch die „fraternité“, die Brüderlichkeit, be-schworen worden . „Brüderlichkeit“ sagt man heute nichtmehr, man sagt: Solidarität . Zu dieser Solidarität gehörtauch ein gemeinschaftliches Zusammenstehen .In der Tat: Es ist eine europäische Aufgabe . Versagthat nicht Europa mit seinen Institutionen . Im Gegenteil:Der oft gescholtene Jean-Claude Juncker hat manchesPositive gesagt, zuletzt heute Vormittag . Versagt habenoft die europäischen Länder, die sich weigern, Flücht-linge anteilig aufzunehmen . Es ist für mich ein Skandal,dass von den 28 EU-Ländern 22 keinen Finger rührenwollen, um dieses Problem, das ein europäisches Prob-lem ist, zu lösen, sondern dass das sechs Länder alleineschultern sollen, ganz wesentlich Deutschland .
Meine sehr geehrten Damen und Herren, man müsstevieles Weitere über die Außenpolitik sagen . Die OSZEfeiert ihren 40 . Geburtstag . Über die OSZE ist auch dasMinsker Abkommen, an dem Frau Merkel beteiligt war,verhandelt worden . Wir sind sehr dankbar, dass damit zu-mindest ein erster guter Schritt gemacht worden ist . Eshandelt sich dabei um einen labilen Frieden; er ist nichtstabil . Das wissen wir .Wir freuen uns, dass wir für das nächste Jahr denVorsitz in der OSZE übernehmen sollen . Das kostet uns20 Millionen Euro . Man könnte sagen: Gut, das Geldkönnte man auch für etwas anderes ausgeben . – Aber esist in der Tat wichtig, dass wir dieses ehrenvolle Angebotnicht ausschlagen . Darin sehen wir eine Wertschätzungunserer Politik .Meine Damen und Herren, zufällig werden im nächs-ten Haushalt 20 Millionen Euro auch wieder frei . DieserBetrag war als unser Beitrag für unsere G-8-Präsident-schaft in den Haushalt eingestellt. Ich finde es richtig,dass sich die Staats- und Regierungschefs auf SchlossElmau in Oberbayern getroffen haben und in der Öf-fentlichkeit und nicht hinter verschlossenen Türen tagenkonnten .Ich sage auch in diesem Zusammenhang ein Wort desDankes, nämlich an unsere Polizeieinheiten aus ganzDeutschland, die unter der Polizeiführung Bayerns die-sen Gipfel so wundervoll friedlich über die Bühne habengehen lassen . Auch das trägt zu einem hellen und positi-ven Deutschlandbild bei . Es ist nicht eine Fensterschei-be zu Bruch gegangen . Wenn ich mir dagegen anschaue,wie wenige Wochen vorher die Europäische Zentralbankin Frankfurt eingeweiht worden ist: Dort haben bürger-kriegsähnliche Zustände geherrscht .
In Bayern war es so, lieber Herr Lindner, dass man die-sen Gipfel mit einem Kaffeekränzchen hätte verwechselnkönnen . Dort müssen Sie mal hinfahren und nicht nurnach Jordanien, in den Libanon oder sonst wo hin .
Es ist bemerkenswert, dass unsere Polizeieinheiten dasso hervorragend geschafft haben .Meine Damen und Herren, wir pflegen unsere Bezie-hungen zum Ausland . Wir sind gute Nachbarn in Europa .Wir wirken an der Gestaltung des friedlichen Zusam-menlebens mit . Wir treiben eine gestaltende Außenpoli-tik . Ich danke all denen herzlich, die daran mitgewirkthaben, und freue mich auf die nächsten Monate, wo wirin intensiven Verhandlungen den Haushalt aufstellenwerden, damit wir auch im nächsten Jahr unseren Beitragfür Frieden und Freiheit in Europa und darüber hinausleisten können .Vielen herzlichen Dank .
Danke . – Weitere Wortmeldungen zu diesem Einzel-plan liegen nicht vor . Deshalb verlassen wir den Ge-schäftsbereich des Auswärtigen Amtes .Wir widmen uns jetzt dem Geschäftsbereich desBundesministeriums der Verteidigung, Einzelplan 14.Ich bitte die Kollegen, die an diesem Teil der Ausspra-che teilnehmen wollen, ihre Plätze einzunehmen . Dieje-nigen Kolleginnen und Kollegen, die diesem wichtigenTeil der Aussprache nicht folgen wollen, bitte ich, denPlenarsaal zu verlassen .Alois Karl
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Das Wort hat zu Beginn die BundesministerinDr . Ursula von der Leyen, der ich hiermit das Wort er-teile .
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin derVerteidigung:Vielen Dank . – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! DasFlüchtlingsthema dominiert zu Recht diese Haushaltsde-batte . Mitten im Herzen Europas erleben wir unmittel-bar, wie rings um das Mittelmeer Tausende Menschen ihrLeben riskieren, um aus den Krisenregionen zu flüchten.Hier im Land erleben wir eine überwältigende Hilfsbe-reitschaft, mit der diese Menschen aufgenommen wer-den .Auch die Bundeswehr möchte ihren Beitrag dazuleisten . Wir haben allein in den letzten Wochen über14 000 Unterkunftsplätze in 41 Liegenschaften geschaf-fen . Allein in den letzten vier Tagen, als die Flücht-lingszahlen noch einmal deutlich angestiegen sind, sind4 000 Unterkunftsplätze aus dem Boden gestampft wor-den: in Hessen, in Sachsen, in Thüringen, in Bremen, inNiedersachsen und in Nordrhein-Westfalen . Und jedenTag kommen neue Anfragen .Ich bin besonders dankbar für das freiwillige Engage-ment unserer Männer und Frauen in der Bundeswehr .Unendlich viele helfen . Es haben sich allein 350 Ange-hörige der Bundeswehr gemeldet, um im Bundesamt fürMigration und Flüchtlinge Amtshilfe zu leisten . Ganzviele helfen unter dem Stichwort „Helfende Hände“, seies am Dortmunder Bahnhof oder in Thüringen, von wokurzfristig Hilfsanfragen kommen . Viele unterstützen beider allgemeinen Versorgung und Betreuung, aber auchbeim Transport . Busse und Busfahrer werden von derBundeswehr gestellt . Geholfen wird beim Aufbau derUnterkünfte . Es werden Zäune errichtet und Zufahrtswe-ge geschaffen . Wir helfen mit Zelten, mit Betten, mit Kü-chengeräten und mit mobilen Röntgengeräten . Sanitätersind dabei, und zehn Ärzteteams sind aufgestellt worden .Meine Damen und Herren, ich glaube, ich spreche imNamen des Hohen Hauses, wenn ich sage: Für diesesverlässliche, schnelle und unkomplizierte Anpacken dan-ken wir von Herzen unseren Soldatinnen und Soldatensowie den zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern .
Die Bundeswehr ist natürlich maßgeblich auch au-ßerhalb unseres Landes engagiert, in Missionen, die mitgroßer Mehrheit hier im Hohen Hause legitimiert wor-den sind . Das gilt für Resolute Support in Afghanistan,wo wir mit großer Behutsamkeit und lageabhängig diezeitliche Dauer besonnen betrachten müssen . Das gilt fürKFOR auf dem Balkan . Das gilt natürlich aber auch fürdie Regionen, die oft Ursprungsländer für die derzeitigenFlüchtlingsbewegungen sind . Ich nenne zum Beispielunsere Ausbildungsmission im Nordirak . Frank-WalterSteinmeier hat zu Recht von der Beharrlichkeit gespro-chen, die wir an den Tag legen müssen .Mir ist voll und ganz klar, dass man mit Militär nichtFluchtursachen bekämpfen kann . Aber wir haben nichtvergessen, wie letztes Jahr, genau um diese Zeit, der„Islamische Staat“ den Norden des Iraks quasi zu über-rennen drohte und die Jesiden ins Sindschargebirge ge-trieben hat . Damals war es richtig und heute ist es nachwie vor sinnvoll, beherzt einzugreifen, die Peschmergaauszurüsten und auszubilden, damit sie Raum schaffenkönnen, um die Flüchtlinge zu schützen, aber vor allemum ihr Staatsgebilde aufrechtzuerhalten . Insofern istauch dieser Einsatz sinnvoll und mit großem Bedachtweiterzuführen .
Das Gleiche gilt für EUTM Mali, wo im Juli geradeein deutscher General die Missionsführung übernommenhat . Und es gilt natürlich auch für EUNAVFOR Med, un-seren Einsatz im Mittelmeer .Sie alle wissen, dass wir seit Mai zwei Schiffe im Mit-telmeer im Einsatz haben . Im Augenblick sind das die„Schleswig-Holstein“ und die „Werra“, die bisher über7 200 Menschen aus dem Mittelmeer gerettet und ihnensomit das Leben gerettet haben .Meine Damen und Herren, ich bin voller Hochachtungvor der deutschen Marine, die bei diesem Einsatz, der ihrweiß Gott nicht ins ursprüngliche Lastenheft geschriebenwar, über sich hinauswächst . Was die Marine dort leistet,ist außergewöhnlich .
Ja, wir sind in der ersten Phase der Seenotrettung, undes wird einen Übergang in die zweite Phase geben . Wirwerden im September gemeinsam ein Mandat dazu er-arbeiten . Ich sage ganz deutlich: Die Seenotrettung gehtweiter und hat oberste Priorität .Ich möchte aber mit Blick auf die zweite Phase einenPunkt aus der Debatte von heute Morgen ansprechen . DieFraktionsvorsitzende der Grünen hat im Zusammenhangmit der Schlepperbekämpfung gesagt, wir sollten nicht„Schiffe versenken“ spielen . Meine Damen und Herren,ich finde, das Thema in solch einer Tonart zu diskutieren,ist vollkommen unangemessen . Das ist kein Spiel; das istbitterer Ernst .
Wir werden das ausführlich diskutieren . Mir ist aberwichtig, dass Sie sich wie auch ich in den letzten Wo-chen und Monaten informieren über die Art dieser Mis-sion, über die Erkenntnisse, die wir inzwischen gewon-nen haben, über die Netze organisierter Kriminalität derSchlepper und Schleuser, die dort ihr Unwesen treiben .Es ist natürlich nicht die Lösung, damit sind natürlichnicht die Fluchtursachen beseitigt, aber es ist ein gewich-tiges Mittel, da die Schlepper und Schleuser im Systemorganisierter Kriminalität brutalst vorgehen und Milliar-Alois Karl
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den verdienen . Das können wir nicht einfach geschehenlassen . Dagegen müssen wir vorgehen .
Meine Damen und Herren, ohne das Engagement derBundeswehr könnte Deutschland auf viele politischeZusagen weltweit keine Taten folgen lassen . Ich möch-te hier noch einmal betonen, dass Diplomatie und wirt-schaftliche Zusammenarbeit immer Vorrang haben . Ichbin der festen Überzeugung: Diplomatie hört nie auf, nie .Aber wenn wir einmal gerufen werden – und alle hierim Raume wissen, dass es entsprechende Momente imletzten Jahr gab –, wenn wir einmal gefordert sind, dannsetzt sich die Bundeswehr auch gleichermaßen beherztund besonnen ein .Wir nehmen zusätzlich zu den mandatierten Einsätzennatürlich auch viele Verpflichtungen wahr, die nicht man-datiert sind, sei es die schnelle Speerspitze der NATO, seies die OSZE-Beobachtermission in der Ukraine, seien esDaueraufgaben wie die Luftraumüberwachung im Balti-kum . Allein dadurch sind insgesamt 13 500 Soldatinnenund Soldaten gebunden, und es wird nicht ruhiger . BerndUlrich hat es in der Zeit sehr plastisch ausgedrückt, in-dem er schrieb, die Krise sei heute das Normale, und vonder Gleichzeitigkeit der Krisen, ihrer Geschwindigkeitund der Haltlosigkeit sprach . Das stimmt . Die Felder, aufdenen wir für Frieden und Freiheit kämpfen, werden un-endlich viel komplexer, die Vorwarnzeiten immer kürzer .Und neben vielen Instrumenten, die eben auch in dieserausgezeichneten Debatte vor der Beratung unseres Haus-haltes diskutiert worden sind, brauchen wir dazu auchStreitkräfte, die modern aufgestellt, vielseitig einsetzbarund vor allem solide finanziert sind.
Wir haben in diesem Hohen Hause sehr wohl die bei-den Pfeiler besprochen, auf denen unsere Arbeit ruht:einerseits für das Personal die Agenda Attraktivität undandererseits im Bereich Rüstung die Agenda Rüstung .Wir haben jetzt über die Hälfte der 30 untergesetzli-chen Maßnahmen mit der Agenda Attraktivität ganz oderteilweise umgesetzt . Man spürt, dass sich etwas verän-dert . Die Bewerberquote ist spürbar gestiegen . Schon imletzten Jahr haben sich 59 000 Menschen um militärischeDienstposten beworben . Allein in der ersten Jahreshälfte2015 waren es bereits über 36 000 Bewerbungen . Mei-ne Damen und Herren, gerade in einer Zeit, in der es inDeutschland so viele offene Stellen, so viele Angebotezur Ausbildung gibt wie nie zuvor, bestärkt uns das, dasswir hier auf dem richtigen Weg sind .Die Agenda Attraktivität wirkt inzwischen im Alltagder Truppe . Die ersten Satellitentelefone sind im Einsatz .Seit dem 1 . Juli können die Soldatinnen und Soldaten derersten seegehenden Einheiten damit grundsätzlich kos-tenlos telefonieren .Seit dem 22 . Mai ist auch, wie wir alle wissen, dasArtikelgesetz in Kraft . Ich möchte mich an dieser Stellebei Ihnen für Ihre Unterstützung gerade auch bei diesemArtikelgesetz von ganzem Herzen bedanken .Die Modernisierung der Bundeswehr geht aber in vie-len Feldern weiter . Gerade wenn wir spüren, wie sich dassicherheitspolitische Umfeld und damit natürlich auchunser Auftrag ändert, gerade in solchen Zeiten dürfen wiruns nicht nur auf die neuen Herausforderungen konzen-trieren – das ist die Hauptaufgabe –, sondern müssen wirauch immer eine kritische Nabelschau anstellen, damitwir sehen, ob wir auch gut genug aufgestellt sind .Das sage ich natürlich ganz bewusst . Wir haben näm-lich im letzten Jahr einen ersten groben Blick auf dasPersonalstrukturmodell bzw . den sogenannten Personal-körper der Bundeswehr – 250 000 in der Zielstruktur –geworfen . Sie wissen, dass wir die Schichtung zwischenBerufs- und Zeitsoldaten mit einem Plus von 5 000 Be-rufssoldaten bereits in einem ersten Schritt angepassthaben . Es gab auch ein Plus von 1 000 zivilen Beschäf-tigten . Dennoch müssen wir jetzt im Detail gucken, obder Personalkörper richtig dimensioniert und richtiggeschichtet ist, ob also die Fachkräfte und die Gruppenin der Anzahl und ihrer Aufstellung so sind, wie wir sieangesichts unserer Aufgaben brauchen . Wir müssen beimfreiwilligen Wehrdienst unbedingt genauer hinschauen,nämlich beim Verhältnis zwischen fixen Dienstpostenund flexiblen Dienstposten. Da die Nachfrage sehr vielgrößer ist, werden wir die Zahl der fixen Dienstpostenerweitern; aber wir müssen uns auch verstärkt mit derQualität der freiwillig Wehrdienst Leistenden beschäf-tigen . Wir müssen schauen, ob diese hochmotiviertenMenschen, die freiwillig kommen, ihre Aufgaben sinn-voll erfüllen können, ob sie bei uns tatsächlich das fin-den, was sie suchen . Das ist die vor uns liegende Aufgabeder nächsten Wochen und Monate .Im Verteidigungsministerium werden wir mit Blickauf die nachgeordneten Behörden prüfen, wie die Aufga-ben verteilt sind, ob Strukturen, Aufgaben, Personalzu-ordnung und -bedarf zueinanderpassen . Ich sage das sehrbewusst, weil wir in den letzten Monaten gemeinsamerlebt haben, dass sich uns viele Fragen gestellt haben:Warum sind Prozesse so langsam? Warum dauert es solange, bis wir eine konsistente Information oder Entschei-dung hinbekommen? Das hat auch damit etwas zu tun,dass nach der Neuaufstellung, die in ihrer Grundstrukturrichtig ist, jetzt der Blick auf die Prozesse schärfer wird:Wie arbeiten die einzelnen Ebenen zusammen? Wie istdie Abstimmung? Wer hat welche Rolle? Wir sehen hiereiniges, das überarbeitet werden muss . Das heißt, wirwerden eine Organisationsanalyse durchführen, und wirwerden dieser einen Aufgabenkritik anschließen .Wenn auf Dauer unser oberstes Ziel ist, einsatzbereit,stark und den Aufgaben gewachsen zu sein, dann müssenwir unseren Personalkörper so aufstellen, dass die Men-schen diese Aufgaben auch bewältigen können . Das istdas Ziel dieser neuen Aufgabe, die vor uns liegt .Eine zweite entscheidende Voraussetzung für die ebenskizzierten Themen ist eine professionelle Ausrüstung .Wir haben die Agenda Rüstung gemeinsam viel disku-tiert . Hier ist noch eine lange Strecke zu gehen, aber dieersten Schritte sind gemacht . Wir entscheiden . In der ers-ten Hälfte der Legislaturperiode haben wir 18 sogenann-te 25-Millionen-Euro-Vorlagen auf den Weg gebracht .Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
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Dahinter stehen Rüstungsprojekte mit einem Haushalts-volumen von rund 5,2 Milliarden Euro .Das und vieles mehr steckt in den für 2016 vorgese-henen 34,4 Milliarden Euro für den Einzelplan 14 . Erwächst damit gegenüber dem Regierungsentwurf 2015um rund 750 Millionen Euro . Damit gelingt es uns, diejahrelange Abwärtsspirale zu stoppen und eine Trend-wende einzuleiten . Das ist auch notwendig; denn wirhaben einen enormen Nachholbedarf . Das wissen alle,die sich tiefer mit diesen Themen beschäftigt haben . Esgilt jetzt, diesen aufzuholen, insbesondere im Zusam-menhang mit dem Thema Materialerhalt . Die Mittel da-für steigen um 3,3 Prozent, zum Beispiel im Bereich derLuftfahrzeuge .Wir wissen, wie mühsam diese Aufgabe ist; aber sieist unerlässlich und schlichtweg eine Verpflichtung ge-genüber unseren Soldatinnen und Soldaten, aber auchunseren NATO-Verbündeten dahin gehend, dass sie sichauf uns verlassen können .
Damit dieser Rahmen aus Personal, Rüstung und denlangfristigen Aufgaben und groß angelegten Projekten,den ich eben skizziert habe, nachhaltig solide finanziertist, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein:Erstens müssen wir die aktuelle Linie von mindestens1,17 Prozent in Relation zum BIP halten . Dass wir daserreicht haben, ist ein Erfolg . Gott sei Dank haben wireine starke Wirtschaft; diese führt zu einem starken BIP .Das heißt: Wenn wir die Linie halten wollen, müssen wiruns noch mehr anstrengen . Das wissen wir .Zweitens müssen wir aber sicherstellen, dass wir mittel-fristig 20 Prozent dieser Mittel in unsere materielle Aus-stattung investieren können . Da sind wir beileibe nochnicht . Das ist unverzichtbar; denn sonst haben wir nichtdie Möglichkeit, die Ausrüstung der Bundeswehr, die sieim Alltag in den Einsätzen braucht, zu regenerieren . Esgeht also um das Basisgeschäft, darum, dass sie für dieEinsätze angemessen ausgerüstet ist . Ich spreche zumBeispiel von geschützten Fahrzeugen oder Funkgeräten .Wir brauchen aber auch die Mittelsicherheit, um lang-fristig geplante Rüstungsvorhaben finanzieren zu kön-nen, mit denen wir Fähigkeitslücken schließen wollen;ich nenne das Stichwort „Aufklärung“ . Zudem brauchenwir die Planbarkeit der Mittel, damit wir die Bundes-wehr so aufstellen können, dass sie eine an den Aufga-ben orientierte, strukturgerechte und bedarfsgerechteAusstattung hat . Was verbirgt sich hinter diesem Satz?Dahinter verbirgt sich, dass wir gemeinsam beschlossenhaben, das sogenannte dynamische Verfügbarkeitsma-nagement – alle hier im Raum wissen, was das ist – garnicht erst einzuführen, weil es eine Verwaltung des Man-gels ist . Das heißt aber, dass wir uns fragen müssen: Wassind die Aufgaben? Was ist der Bedarf? Wie können wirdie teilweise hohlen Strukturen, die sich gebildet haben,auffüllen? Wir müssen also den Blick nach vorne richtenund für eine nachhaltige Finanzierung sorgen, damit wirdas angelegte Konstrukt tatsächlich mit Leben erfüllenkönnen .Schlussendlich noch zwei Themen . Wir werdenStrukturen innerhalb des Bundesamts für Ausrüstung,Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr
verändern, weil wir erkannt haben, dass die
Großprojekte und die kleinen Projekte über einen Kammgeschoren werden, was die Projektorganisation angeht .Ob es der Stiefel ist oder der Eurofighter oder IT-Füh-rungssysteme – one size fits all. Wir werden die dreigroßen neuen Projekte – MKS 180, TLVS/MEADS unddie Euro-Drohne – innerhalb des BAAINBw mit einereigenen Struktur und eigenem Personal einkapseln, da-mit Juristen, Techniker, Wirtschafter konsequent dieserStruktur zugeordnet arbeiten können . Heute haben wiroft den Fall, dass die Aufgaben versäult sind und ein Ju-rist zum Beispiel einmal 10 Prozent seiner Arbeitszeit fürden A400M aufwendet, um dann am nächsten Projekt zuarbeiten . Bei den großen Projekten brauchen wir in sichgeschlossene Teams, die dann konzentriert an der großenAufgabe arbeiten . Wir werden dort einen starken Projekt-leiter, vergleichbar mit dem Generalsrang, aufsetzen, derdann direkt im BAAINBw mit der Rüstungsstaatsekretä-rin die Dinge weiterentwickeln kann .
Frau Ministerin, Sie haben Ihre Redezeit schon deut-
lich überschritten .
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin der
Verteidigung:
Ja, Sie haben recht . – Dann sage ich einen letzten Satz:
Das eine war, wie wir es machen, das andere ist, mit wem
wir es machen . Vielleicht spare ich mir das für die nächs-
te Rede auf, die ich in diesem Hohen Hause halte .
Wunderbar .
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin der
Verteidigung:
Ich bitte Sie um Zustimmung zum vorliegenden Ent-
wurf .
Vielen Dank .
Als nächster Redner hat Michael Leutert von der Lin-
ken das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehrgeehrte Frau Ministerin! In der Türkei können wir derzeitbeobachten, wie falsche politische Entscheidungen zu im-mer komplexeren Problemen werden und geradezu in einemDesaster enden können . Ich möchte einmal daran erinnern:Seit 2011 herrscht in Syrien Bürgerkrieg . Die Türkei unter-stützte von Anfang an die syrische Opposition gegen Assad .Dadurch kam es auch an der türkisch-syrischen Grenzen zumilitärischen Zwischenfällen . Aus diesem Grund starteteBundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
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im Januar 2013 eine NATO-Operation, und es wurden deut-sche Soldaten zum Schutz des Bündnispartners in die Re-gion geschickt . Im Grenzgebiet zwischen Irak, Syrien undder Türkei leben die Kurden . Die Schwäche Assads führtedazu, dass die Kurden in Syrien gestärkt wurden – sehr zumMissfallen der Türkei . Seit 2014 kämpft nun die Terroror-ganisation IS nicht nur gegen Assad, sondern auch gegendie Kurden . Deshalb unterstützte die Türkei nun auch denIS . Da der Westen aber wiederum den IS bekämpft, liefertedie Bundeswehr Waffen an die Kurden, damit diese sich ge-gen den IS verteidigen können . Und nun, im Sommer diesesJahres, eskalierte der Konflikt zwischen den Kurden und derTürkei . Erdogan bekämpft die Kurden nun militärisch imeigenen Land und in den Nachbarländern Syrien und Irak .Gestern ist die türkische Armee erstmals auf irakisches Ter-ritorium vorgerückt .Unterm Strich heißt das: Die Armee des NATO-Mit-glieds Türkei kämpft gegen die Kurden, die Kurdenwehren sich, mit deutschen Waffen ausgestattet, und mit-tendrin sind unsere Bundeswehrsoldaten . Somit sind wirTeil eines Konfliktes, dazu noch auf unterschiedlichenSeiten, und dieser Konflikt ist die Ursache dafür, dass12 Millionen Menschen auf der Flucht sind .Ein Teil dieser Flüchtlinge versucht, mit Schlepperboo-ten über das Mittelmeer nach Europa zu kommen . Dortist wiederum die Bundeswehr im Einsatz, um die Men-schen vor dem Ertrinken zu retten . Das ist doch ein ab-surder Zustand .
Ich möchte an dieser Stelle ganz klar sagen: Ja, ich fin-de es richtig, dass wir den Soldatinnen und Soldaten, dieim Mittelmeer in Not geratenen Menschen unter hohempersönlichen Einsatz helfen, danken . Ich will deutlichunterstreichen: Es geht um jedes Menschenleben, das ge-rettet werden kann .
Sehr geehrte Frau Ministerin, ich weiß, dass Sie für alldiese Dinge nicht alleine verantwortlich sind – all dashat der Bundestag beschlossen -; aber ich frage Sie, obSie diese Situation nicht auch etwas absurd finden. Wennman sich jetzt noch überlegt, dass der Bundeswehreinsatzin der Türkei bis zum Abzug 60 Millionen Euro gekostethat und die Waffenlieferungen noch einmal 70 MillionenEuro – das macht zusammen 130 Millionen Euro -: Glau-ben Sie rückblickend nicht auch, dass es sinnvoller gewe-sen wäre, dieses Geld nur für die Rettung von Flüchtlin-gen im Mittelmeer einzusetzen?
In der Türkei kann man jetzt nur noch Schadensbegren-zung üben, und das heißt ganz klar: Erstens . Es muss einensofortigen Abzug der Bundeswehrsoldaten aus der Türkeigeben, nicht erst nächstes Jahr, wenn der Einsatz zu Endeist; zu Weihnachten müssen alle gesund und munter zuHause sein . Zweitens . Setzen Sie sich mit dafür ein, dasPKK-Verbot aufzuheben! Damit würde man gegenüberder Türkei ein deutliches Zeichen setzen, dass wir eindeu-tig an der Seite derjenigen stehen, die den IS bekämpfen .
Schauen wir auf einen anderen Krisenherd: Afghanis-tan . 2002 ist die Bundeswehr nach Afghanistan gegan-gen . Die Begründungen für den Einsatz gegenüber derdeutschen Öffentlichkeit waren sehr vielfältig . Es gingum den Kampf gegen den Terror . Es ging darum, Frau-en- und Menschenrechte zu etablieren . Es ging darum,die Freiheit am Hindukusch zu verteidigen . Es ging dar-um, Stabilität zu schaffen usw . usf . Seit Ende 2014 ist derKampfeinsatz beendet . Die Kosten nur des Kampfeinsat-zes belaufen sich auf ungefähr 6 Milliarden Euro . Ihr Mi-nisterium gibt jedes Jahr zusätzlich 80 Millionen Euro fürden Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte aus . DasAuswärtige Amt gibt noch einmal jedes Jahr 180 Mil-lionen Euro zur Stabilisierung und das BMZ 245 Mil-lionen Euro für den Wiederaufbau . Das heißt also: Eswird über eine halbe Milliarde Euro allein für den Auf-bau der Gesellschaft in Afghanistan ausgegeben . Undwas ist das Ergebnis? Das Ergebnis ist: Terror ist dortAlltag, Frauenrechte werden nicht eingehalten, Presse-und Meinungsfreiheit existieren nicht, Folter wird weiterangewandt, und die Scharia ist gültige Rechtsgrundlage .Auch hier bleibt uns im Nachgang nur die Möglichkeit,Schadensbegrenzung für die Zukunft zu üben und dierichtigen Lehren daraus zu ziehen . Man kann eine Ge-sellschaft nicht von außen und erst recht nicht mit militä-rischen Mitteln nach unserem Vorbild umformen .
Und gleich für die Zukunft – Sie hatten es angespro-chen, weil es diskutiert wird -: Man kann Europa nichtabriegeln, weder mit Stacheldraht noch mit Mauern –und im Übrigen auch nicht mit einem Kampfeinsatz ge-gen Schlepper . Diese Probleme sind nicht mit militäri-schen Mitteln zu lösen . So viel sollten wir mittlerweilegelernt haben .
Angesichts der Erfahrungen und angesichts der gro-ßen Herausforderungen, vor denen wir derzeit stehen –die enormen Flüchtlingsbewegungen, Krieg in Syrien,Terror im Irak, Instabilität in Afghanistan –, sollten wirnoch einmal darüber nachdenken, ob die Prioritäten hierrichtig gesetzt werden . Wäre es jetzt nicht vielleichtsinnvoller und wichtiger, in diesen Regionen erst ein-mal für Stabilität zu sorgen und dafür die Mittel in dieHand zu nehmen? Stattdessen soll der Verteidigungsetatum 1,4 Milliarden Euro erhöht werden . Das, liebe Kol-leginnen und Kollegen, ist der falsche Weg . Die Linkewill die Prioritäten anders setzen, und wir werden in denkommenden Verhandlungen entsprechende Vorschlägeunterbreiten .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Karin Evers-Meyer von der SPD-Fraktion das Wort .
Michael Leutert
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Ministerin von derLeyen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will zu Be-ginn der anstehenden Haushaltsberatungen über den Ver-teidigungsetat zwei Dinge klarstellen: Erstens . Eine gro-ße Mehrheit der Kollegen hier im Parlament sieht sehrwohl die Notwendigkeit und ist auch bereit, die Bundes-wehr und unsere Soldaten wieder vernünftig auszustat-ten . Es gibt die Bereitschaft, Geld in die Hand zu nehmenund zu investieren; denn für jeden ist offensichtlich, dasseinige Sparentscheidungen der letzten Jahre schlichtwegfalsch waren .Ich möchte hier ein letztes Mal das dynamische Ver-fügbarkeitsmanagement nennen, bevor wir es – hoffent-lich – endgültig zu Grabe tragen . Da müssen Soldatendoch tatsächlich die ihnen verbliebene Ausrüstung querdurch die Republik fahren, damit alle Kameraden we-nigstens einmal im Jahr mit dem Gerät üben können, mitdem sie später, im Ernstfall, arbeiten sollen . Vielleichtkönnen wir irgendwann einmal darüber lachen; aber daswar ernst gemeint . Das Schlimme ist: So etwas lässt sichnicht über Nacht heilen . Die Liste, wo investiert werdenmuss, ist lang . Die Kollegen aus der Fach-AG könnendas detaillierter und besser sagen als ich .Ich komme deswegen direkt zur zweiten Sache . Esgibt Probleme auf dieser Welt, die sich mit mehr Geldnicht lösen lassen . Das ist die Art von Problemen, bei de-nen mehr Geld das Leiden nur verlängert oder etwas ver-tuscht, bei denen durch mehr Geld eigentlich gar nichtsbesser wird . So offensichtlich der Bedarf der Bundeswehran Investitionen in Personal, Material und Infrastrukturist und so nachvollziehbar der Ruf nach mehr Geld ist,so offensichtlich ist auch, dass ein großer Teil der Prob-leme hausgemacht ist . Hunderte Millionen Euro, die inden letzten Jahren nicht ausgegeben wurden, sind der Be-weis. Ich stehe hier nicht mit dem erhobenen Zeigefingerund behaupte hämisch, dass die Bundeswehr dieses Geldwohl nicht braucht; aber ich sage all denjenigen, die auchdieser Tage nach Milliarden für die Bundeswehr rufen:Bevor wir hier über deutlich mehr Geld vom Steuerzah-ler sprechen, muss das Haus organisatorisch, prozessualund konzeptionell in Ordnung gebracht werden . Es musswieder Vertrauen in das BMVg und seinen Umgang mitden Finanzen geben . Das ist Voraussetzung . Dann kannman, wie ich finde, guten Gewissens wieder über mehrInvestitionen sprechen .Liebe Frau von der Leyen, wenn ich mir vor diesemHintergrund den Haushaltsentwurf und die Finanzpla-nung des BMVg anschaue, habe ich den Eindruck, dassSie diese Einschätzung teilen . Daher habe ich gewisseTeile Ihrer Rede mit Freude vernommen . Warum denkeich das? Zum einen glaube ich, Ihre Forderungen wärensonst sicherlich höher ausgefallen, und zum anderen sindSie mit Ihrem Team seit einiger Zeit glaubhaft in den Tie-fen der Ebene unterwegs und packen die notwendigenProzesse an . Auch heute haben Sie in Ihrer Rede, wie ge-sagt, deutlich gemacht, dass Sie die Probleme, etwa beigroßen Beschaffungsprojekten, realistisch sehen und Lö-sungen für diese Probleme wollen . Als Haushälter habenSie uns dabei an Ihrer Seite . Wir wollen Sie dabei, wo esgeht, unterstützen . Das sage ich nicht nur als gute Koa-litionärin, sondern auch, weil ich durchaus bereit bin, andie Ernsthaftigkeit Ihres Tuns zu glauben .Einen Wunsch hätte ich in diesem Zusammenhangaber: Teilen Sie diese Einschätzung mit Ihren Leuten;denn nach wie vor höre ich mir an, dass das Problem dernicht abgeflossenen Haushaltsmitteln eigentlich Folgeder Jährlichkeit des Haushalts sei und dass die Haushäl-ter doch endlich einmal mehr Flexibilität zeigen sollten .Das, sehr verehrte Kollegen, weise ich hier ausdrücklichzurück . Ich bin die Letzte, die etwas gegen mehr Flexi-bilität in der Verwaltung hätte; aber dass die A400M na-türlich völlig überraschend nicht ausgeliefert werden undman in Sachen Regress mehr oder weniger in die leerePanzerröhre guckt, liegt nicht an der mangelnden Flexi-bilität des Haushalts . Die Gründe dafür kennen wir alle:langatmige Beschaffungsentscheidungen, Goldrandfan-tasien, mangelndes Risikomanagement und schlechtesVertragsmanagement .Das Problem ist auch nicht, dass Rüstungsbeschaf-fungen etwas Einzigartiges und Komplexes sind . Daswürde ich nur gelten lassen, wenn sich die Probleme aufdieses Feld beschränken ließen . Das lassen sie sich abernicht . Bei der Infrastruktur ist es doch genau dasselbe .Sie alle waren dankenswerterweise bei mir im Wahlkreisund haben sich beispielsweise die Feuerwehr des Jagd-geschwaders in Wittmund angeschaut . Sie waren alleschockiert, wie es dort aussieht . Man denkt nämlich, mansteht irgendwo in Moldawien und nicht an der deutschenNordseeküste . Trotzdem tut sich dort seit Jahren nichts .Und dann sitze ich in meinem Büro im Paul-Löbe-Haus,schaue in den Haushalt und sehe: Oh, das Ministeriumgibt Gelder für Infrastrukturmaßnahmen an den Finanz-minister zurück. – Ich finde, die Sanierung einer Kaser-ne ist kein Hexenwerk . Das Bauhandwerk ist eines derältesten Handwerke . Es gilt als weitgehend erprobt undverlässlich .Das Problem liegt, denke ich, auch hier in der Verwal-tung, also beim BMVg . Sie kennen die Ursachen; auchmir wurde das mehrfach erklärt . Ich kenne das Hin- undHergeschiebe zwischen BMVg, BImA, Landesbehörden,staatlichem Baumanagement usw . Nur, gelöst ist das Pro-blem nicht . Die Soldaten vor Ort verstehen das nicht undich auch nicht . Sie sind nun in der Verantwortung, es zulösen .
Wenn Sie also versprechen, das in Ordnung zu bringen,dann verspreche ich Ihnen ein offenes Ohr in Sachen Fle-xibilisierung und Übertragbarkeit von Haushaltsmitteln .
Das ist aus meiner Sicht die richtige Reihenfolge, unddann ziehen wir auch an einem Strang .Damit das Thema Militärausgaben auch mittel- undlangfristig glaubhaft diskutiert werden kann, braucht esaus meiner Sicht neben der Ordnung im eigenen Hausauch eine Perspektive, die über die Schreibtischkantehin ausreicht . In Bezug auf den Militäretat und in Bezugauf die Verteidigungsfähigkeit Westeuropas kann diesePerspektive nur europäisch sein . Das haben Sie auch oftgesagt . Aber in den Hauptstädten Europas kommt das
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nicht so richtig an, und um die müssen wir werben . Allein Europa müssen erkennen, dass die kostenintensivenmilitärischen Parallelstrukturen innerhalb der EU nichtmehr zeitgemäß sind . Sie sind zu teuer, und sie gefähr-den langfristig die Verteidigungsfähigkeit Europas . Wirkennen in Europa – das sage ich nur noch einmal, umsich das in Erinnerung zu rufen – trotz aller politischenWillensbekundungen zig nationale Programme für Pan-zerfahrzeuge . Es gibt sechs verschiedene Programme fürU-Boote, fünf für Kampfflugzeuge und weitere fünf fürBoden-Luft-Raketen . Wir haben in Europa 28 nationaleArmeen mit ungefähr 1,5 Millionen Soldaten . Das Bud-get beträgt rund 200 Milliarden Euro . Das ist immerhinmehr als ein Drittel des US-amerikanischen Verteidi-gungsetats . Aber es gibt ja wohl niemanden, der behaup-ten würde, dass unsere Leistungsfähigkeit ebenfalls ei-nem Drittel der Schlagkraft der USA entspricht .Ich sage nicht: Lasst uns heute oder morgen nach Eu-ropa gehen, dann wird alles einfacher, besser und billiger .Aber ich sage: Die Weichen dafür zu stellen, dass wirirgendwann so etwas wie eine europäische Armee, eineneuropäischen Ausrüstungsstandard und eine gemeinsameeuropäische Rüstungsindustrie haben, zumindest in Tei-len, ist nur möglich, wenn man überall, wo es nur geht,gemeinsame Projekte mit unseren Nachbarn auf die Bei-ne stellt .
Mit den Polen, den Dänen und den Nachbarn im Bal-tikum klappt das . Aber es muss ein Ansporn sein, auchPartner wie Frankreich oder Großbritannien für gemein-same Ideen zu gewinnen . Wenn das gelingt, dann habenSie nicht nur die Haushälter hier im Deutschen Bundes-tag auf Ihrer Seite . Dann – da bin ich sicher – werden wirsogar in der deutschen Bevölkerung eine Mehrheit füreine Erhöhung des Etats gewinnen können .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Dr . Tobias
Lindner von der Fraktion BÜNDNIS 90/Die Grünen das
Wort .
Vielen Dank, Frau Präsidentin! – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!Kapseln statt Versäulen, das war hier Ihre große Ankün-digung, Frau Ministerin . Während sich vielleicht vielehier im Hohen Hause oder zu Hause, die dieser Debattelauschen, nicht recht vorstellen können, was sich dahinterverbirgt, will ich Ihnen, Frau Ministerin, etwas aus mei-ner Sammlung spontaner Reaktionen auf überraschendeAnkündigungen der Verteidigungsministerin zeigen . Ichhabe Ihnen etwas mitgebracht, nämlich das Protokoll ei-ner unserer ersten Begegnungen in Ihrem Amt, nämlichdes Berichterstattergesprächs mit den Haushältern imFrühjahr 2014 . Auf meine Frage, wie Sie mit den Vor-schlägen der Weise-Kommission umgehen wollen, sag-ten Sie – so das Protokoll; ich zitiere -:Sie stellt klar, dass es keine Rüstungsagentur gebenwerde .Sie haben dann geantwortet, dass es darum gehen muss,die Prozesse im eigenen Haus zu verbessern, und – someine Erinnerung – gesagt: Ich muss eher schauen, dassmeine Rüstungsabteilung wie eine Agentur arbeitet .Ich nehme wahr, dass Sie anscheinend an einigen Stel-len umgedacht haben; Sie haben es „Kapseln statt Ver-säulen“ genannt und sich auf das BAAINBw bezogen .Aber ich bin einmal gespannt, wie Sie es abkapseln, undvor allem bin ich gespannt darauf, mit welchem Personal .Jetzt tun sich natürlich für die weiteren Haushaltsbera-tungen schon Fragen auf: Schaffen Sie nicht eine neueParallelstruktur? Was sind die Vorteile? Wie sieht es mitdem lieben Geld und mit den Verantwortlichkeiten undvor allem mit der parlamentarischen Kontrolle aus?Deswegen werden wir als Opposition Sie bei Lern-prozessen gerne und konstruktiv begleiten, aber in denHaushaltsberatungen vor allem kritisch auf diese Struk-tur schauen, sie erst einmal nicht vom Tisch wischen,aber nachfragen und uns dann ein Urteil darüber bilden .
Der zweite Punkt ist: Das löst natürlich nicht die enor-men Probleme, die es im Rüstungsbereich gibt . Es gibtdrei neue Projekte, die sich gerade im Anlauf befindenund für die die Rechnung vermutlich erst zu einer Zeit, zuder Sie nicht mehr in diesem Amt sein werden, endgültigvorliegen wird; ich denke hier an Dinge wie TLVS . Es istein Leichtes, sie in einer Agentur oder in einer Kapselungzu bündeln, aber das darf nicht darüber hinwegtäuschen,dass wir nach wie vor – die Kollegin Evers-Meyer hates angesprochen – enorme Managementprobleme imRüstungsbereich haben: Dinge kommen gar nicht, zuspät, mit Minderleistungen und vor allem zu teuer für dieSteuerzahlerinnen und Steuerzahler .Ich kann Sie nur auffordern, Frau von der Leyen:Bleiben Sie hart, wenn Sie mit der Industrie reden . – Ichdenke da an Luftfahrtunternehmen, wo sich zahlreicheoffene Fragen auftun . Deutschland wird in diesem Jahrvielleicht einen oder auch gar keinen A400M mehr erhal-ten; von fünf war einmal die Rede . Mir und, ich denke,auch den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern fehlt jedesVerständnis dafür, wenn wir an dieser Stelle lasch mit derIndustrie umgehen . – Das ist im Interesse aller .
Sie haben viel über Personal gesprochen, Frau Minis-terin, über Personalgewinnung, über Personalverwen-dung und über Attraktivität . Wenn wir eine Haushaltsde-batte führen, dann dürfen wir eines nicht aus den Augenlassen: Die Personalausgaben waren in den vergange-nen Jahren in Ihrem Haushalt immer strukturell unter-finanziert. Wenn man sich die Istzahlen, quasi die Ab-rechnung, die Ihr Haus vorlegt, anschaut, dann erkenntman, dass in den letzten beiden Jahren Gelder aus demKarin Evers-Meyer
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Rüstungsbereich, die nicht abgeflossen sind, verwendetwurden – ich will auch sagen: verwendet werden muss-ten –, um Personalausgaben zu decken . Als Grüner fügeich hinzu: Als politisches Konzept ist das durchaus gutso . Aber ich fordere Sie im Sinne von Haushaltsklarheitund Haushaltswahrheit auf: Dann geben Sie Träume, wie20 Prozent des Haushalts in die Modernisierung der Aus-rüstung zu investieren, auf – ich weiß nicht, wie Sie dasim Investbereich darstellen wollen –, und sorgen Sie imVorhinein und nicht erst im Nachhinein, wenn sich Lü-cken auftun, dafür, dass die Personalausgaben auskömm-lich und angemessen finanziert sind!Der nächste Punkt ist – das ist in dieser Debatte schonangesprochen worden -: Kümmern Sie sich darum, dasses angemessene und ordentliche Unterkünfte gibt . DasGeld dafür steht bereit. Es ist vielfach zurückgeflossen.Das ist nicht im Interesse der Menschen, die in Unter-künften wohnen müssen .Ein letzter Punkt: das liebe Geld . Sie erhalten in die-sem Jahr – Sie sind darauf eingegangen – 1,2 MilliardenEuro mehr . Sie rühmen sich dessen . Sie sprechen voneiner Trendwende im Haushalt . Die Kollegen der Uni-on beklatschen es . Dabei täuschen Sie darüber hinweg,dass einmal eine Bundeswehrreform unter Herrn zu Gut-tenberg und Herrn de Maizière mit dem erklärten Ziel,8,3 Milliarden Euro einzusparen, angefangen wurde .Immer wieder und wieder in den Vorjahren, wenn ichgefragt habe, ob diese Einspareffekte erreicht werden,h
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja, ja, die ganzen Einspareffekte
werden erreicht . – Heute ist kein Wort mehr von diesen
Einspareffekten . Mit anderen Worten: Dieses große Ziel
der Bundeswehrreform, dass nämlich auch das Verteidi-
gungsministerium seinen Beitrag zur Schuldenbremse
leistet, ist krachend verfehlt worden .
Sie geben sich noch einem anderen Trugschluss hin .
Da kann ich Sie nur auffordern: Hören Sie mit dem gan-
zen Gerede vom 2-Prozent-Ziel auf! Sie haben eben ge-
sagt: „Wir erreichen mit diesen Ausgaben 1,17 Prozent
des BIP“, und Sie erwarten, dass wir das in den kommen-
den Jahren konstant halten . Wenn Sie sich Ihre eigene
mittelfristige Finanzplanung anschauen, Frau Ministe-
rin, dann werden Sie sehen, dass das gar nicht erreicht
werden kann . Ich nehme nicht an, dass Sie Ihre eigene
mittelfristige Finanzplanung hier in diesem Haus infrage
stellen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sage in aller
Deutlichkeit: Angesichts der Herausforderungen, vor
denen wir in Deutschland und in Europa stehen, ange-
sichts der Flüchtlingskrise und der Tatsache, dass wir
uns alle gestern einig waren, dass da mehr Geld fließen
muss, sollten wir solche komischen Kriterien wie ein
Ziel, soundso viel Prozent des BIP zu erreichen, bitte ad
acta legen . Nein, es macht keinen Sinn, hier mehr Geld
reinzupumpen .
Ein letzter Punkt . Sie haben viel über Veränderung ge-
sprochen . Sie haben über Personal gesprochen, Sie haben
über den Rüstungsbereich gesprochen, Sie haben über
Aufgaben gesprochen . Sie drehen an der einen Schraube
etwas, und Sie drehen an der anderen Schraube etwas .
Gleichzeitig machen Sie einen Weißbuchprozess . Unse-
re Fraktion, Frau Brugger und ich haben Ihnen in einer
Kleinen Anfrage zahlreiche Fragen gestellt und wenige
bis gar keine Antworten – teilweise auch eher erheitern-
de, wenn das Thema nicht so ernst wäre – bekommen .
Man kann den Eindruck haben, Sie und Ihr Haus wissen
im Moment selbst gar nicht – Sie haben ja auch heute
nichts dazu gesagt –, wohin dieser Weißbuchprozess füh-
ren soll .
Was machen Sie stattdessen? Bevor das Ergebnis vor-
liegt, gehen Sie her und verändern Strukturen, treffen
Entscheidungen . Wir Grüne sagen: Das muss anders sein .
Wir müssen zuerst darüber reden: Welche Aufgaben hat
die Bundeswehr, welche hat sie nicht? Wo macht mehr
Diplomatie Sinn? Dann müssen wir die Frage beantwor-
ten: Welche Struktur und welchen Umfang braucht es
dafür? Am Ende müssen wir einen Strich unter die Rech-
nung machen, wie viel Geld das kostet oder kosten kann .
In diesem Sinne werden wir in die Haushaltsberatungen
gehen und unsere Vorschläge dazu machen .
Ich danke Ihnen .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Henning Otte
von der Fraktion der CDU/CSU das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Deutschland ist in guter Verfassung, so sagte es unsereFrau Bundeskanzlerin heute hier an diesem Rednerpult .Die guten wirtschafts- und finanzpolitischen Zahlen be-weisen dies . Die Welt um uns herum scheint aber aus denFugen geraten zu sein; so sagte es sinngemäß unser Au-ßenminister Frank-Walter Steinmeier . Die Flüchtlings-bilder in Deutschland beweisen dies . Die Krisenherdedieser Welt befinden sich am Rande des NATO-Gebie-tes: im Nahen Osten, auf dem Balkan, in Afghanistan,im Norden Afrikas – alles im unmittelbaren Umfeld Eu-ropas . Dies sind Folgen oft jahrelanger Krisen, die sichin der Verzweiflung der Menschen ausdrücken. Terror,Krieg, Durst, Hunger lassen die Menschen in eine ver-meintlich bessere Welt aufbrechen .Die Sicherheitspolitik muss heute vernetzt gesehenwerden . Justiz-, Innen-, Entwicklungs-, Außen- und ebenauch Verteidigungspolitik greifen immer mehr verzahntineinander . Dieser vernetzte Ansatz ist nicht nur nationalzu sehen, sondern er muss auch stärker europäisch ge-sehen werden . Dies muss mehr gelebt werden, und diesmüssen wir politisch in der Zukunft stärker umsetzen .Der Verteidigungshaushalt umfasst für das Jahr 201634,4 Milliarden Euro . Der mittelfristige Finanzplan siehtdabei eine Anhebung vor . Meine Damen und Herren, die-se Anhebung ist notwendig . Sie ist richtig angesichts dernotwendigen und durchgeführten Modernisierung unse-Dr. Tobias Lindner
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rer Streitkräfte und der Zunahme der vielfältigen Aufga-ben, die Sie alle kennen, auch angesichts der aktuellensicherheitspolitischen Lage .
Die Bundeswehr leistet wesentliche Beiträge zur Kri-senprävention, zur Kriseneindämmung und zur Krisen-bewältigung: im Kosovo, in Afghanistan, am Horn vonAfrika, in Somalia, in Mali, im Mittelmeer, im Nordirak,und zwar Ausbildungshilfe, Sanitätsdienst, Kampfeinsät-ze, Minenräumung, taktische Schulungen, Flüchtlings-rettung aus Seenot – Frau Ministerin hat das dargestellt –,um nur einige Aufgaben zu nennen . Dazu gehört als al-lererste Aufgabe immer noch die Landesverteidigung imRahmen der Bündnisverteidigung der NATO .Meine Damen und Herren, bei jeder großen nationalenHerausforderung kommt der Ruf nach der Bundeswehr:Bitte um Unterstützung! Die Bundeswehr kommt demimmer nach . Das ist auch ein Indiz für das Vertrauen derBevölkerung in unsere Bundeswehr und ein Beweis fürdie professionelle Arbeit unserer Soldatinnen und Solda-ten . Darauf können die Soldaten und ihre Angehörigenzu Recht stolz sein .
Auch und gerade jetzt stellt die Bundeswehr auchLiegenschaften und Manpower zur Unterstützung undzur Bewältigung der Herausforderungen infolge der vie-len Flüchtlinge hier in Deutschland . Als verteidigungs-politischer Sprecher der Unionsfraktion sage ich dieseUnterstützung auch weiterhin zu . Die Flüchtlinge undAsylbewerber in Deutschland müssen mit der gebotenenMenschenwürde angenommen werden . Aber wir müssenzwischen den Schutzbedürftigen und den nicht Schutzbe-dürftigen differenzieren . Den Schutzbedürftigen, die ausVerzweiflung vor Krieg und Terror fliehen, werden wirhelfen .Ich danke an dieser Stelle auch allen Hilfsorganisa-tionen und der Bundeswehr, die zum Beispiel auch inmeinem Wahlkreis in Celle einen tatkräftigen Beitrag zurUnterbringung von Flüchtlingen geleistet und ihnen einDach über dem Kopf geschaffen haben . Herzlichen Dankdafür .
Ich sage aber auch: Den nicht Schutzbedürftigen, dienur zur Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Lage zu unskommen, müssen wir auch durch das Vorzeigen unserereindeutigen Rechtslage sagen, dass sie in ihr eigenesLand zurückkehren müssen, notfalls auch unter Durch-setzung des Rechts . Das wird nicht immer einfach sein,ist aber unverzichtbar, auch und insbesondere zur Auf-rechterhaltung der Akzeptanz der wirklich Schutzbedürf-tigen, denen wir helfen .Meine Damen und Herren, wir müssen einen klarenBlick für die Ursachenbekämpfung behalten, geradeweil die Auswirkungen der weltweiten Krisen in unse-ren Städten und Dörfern sichtbar angekommen sind . Wirmüssen es schaffen, vor Ort Sicherheit und Stabilität alsBasis für ein gesichertes Leben mit Perspektiven zu ge-währleisten . Hier will, muss und wird Deutschland auchweiterhin einen Beitrag leisten, gerade auch im eigenenInteresse unseres Landes .Voraussetzung dafür ist eine finanzielle Absicherungder Aufgaben und eine personell und strukturell hinrei-chende Ausstattung, immer nach dem Grundsatz: DerStaat muss auf jede sicherheitspolitische Frage auch eineAntwort haben . – Die Bedrohungsszenarien sind dabeivielfältig: die konventionelle Bedrohung durch militäri-sche Landnahme wie durch Russland in der Ukraine, derVormarsch des IS-Terrors im Nahen Osten, Terrorstruk-turen in Nigeria, zerfallende Staaten wie Libyen und Je-men und eine zunehmende Cybergefahr durch Eingriffein und Angriffe auf digitale Versorgungs- und militäri-sche Sicherheitsstrukturen .Deutschland tut alles, um die innere und äußere Si-cherheit unseres Landes zu gewährleisten . Eine absoluteSicherheit kann es bei diesen asymmetrischen Gefahren-strukturen nicht geben . Die Investitionen in die äußereund auch in die innere Sicherheit sind aber gut investier-tes Geld; denn ohne Sicherheit gibt es keine Freiheit, unddie Freiheit gehört zu unserem Land .
Meine Damen und Herren, was gehört zu den notwen-digen wesentlichen Maßnahmen? Zuallererst gut mo-tivierte, gut ausgebildete, professionell arbeitende undloyale Mitarbeiter . Die Bundeswehr hat als größtes Un-ternehmen solche Mitarbeiter: die Soldatinnen und Sol-daten und die zivilen Mitarbeiter . Mit dem Einsatzversor-gungs-Verbesserungsgesetz, dem Reformbegleitgesetzund dem Bundeswehr-Attraktivitätssteigerungsgesetzhaben wir als Union viel dazu beigetragen, dass sich dieArbeitsbedingungen verbessert haben .Sehr geschätzte Frau Kollegin Evers-Meyer, wir allemüssen stetig eine Überprüfung durchführen . Deswegenwar es auch gut, dass die vielen Privatisierungen des Mi-nisters Scharping jetzt zurückgenommen worden sindund wir jetzt den Blick nach vorne richten und sagen:Erstens . Die sicherheitspolitische Entwicklung miteiner Zunahme vielfältiger Aufgaben der Bundeswehrerfordert auch eine stetige Überprüfung, zum Beispielder personellen Obergrenze, damit die Bundeswehr auchin Zukunft ein Garant für die Sicherheit in Deutschlandbleibt .Zweitens . Die sicherheitspolitische Entwicklungerfordert auch eine Beibehaltung des breiten Fähig-keitsspektrums unserer Armee . Das Unvorhergesehenekommt immer unvorhergesehener, und darauf müssenwir eine Antwort haben – gerne im europäischen Ver-bund dort, wo es funktioniert . Als Bottom-up-Prozess .Dabei müssen wir aber eben auch immer die Sicherheitunseres Landes fest im Auge haben .Drittens . Die sicherheitspolitische Entwicklung for-dert eine konsequente Modernisierung unserer Ausrüs-tung: eine neue Generation von Gewehren und neuenTransport- und Kampfhubschraubern, ein Luftvertei-digungssystem, ein Mehrzweckkampfschiff, ein neuerHenning Otte
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Schützenpanzer, ein zu entwickelnder Kampfpanzer . Dasalles ist eine große Aufgabe, die wir tatkräftig anpacken .Viertens . Unsere Soldatinnen und Soldaten haben ei-nen Anspruch auf das modernste Gerät, wenn sie für dieSicherheit einer der führenden Industrienationen bereitsind, Leib und Leben einzusetzen . Weil diese Ausrüs-tung nicht herbeigezaubert werden kann, brauchen wireine leistungsstarke wehrtechnische Industrie, die genausolche komplexen, innovativen Systeme entwickeln undproduzieren kann .
Hierbei sind sogenannte Schlüsseltechnologien, wie Sen-sorik, Schutz, Kommunikation und gepanzerte Fahrzeu-ge, von Bedeutung, um nicht abhängig zu werden undum die Souveränität unseres Landes zu gewährleisten .Abwanderungstendenzen deutscher wehrtechnischerUnternehmen ins benachbarte Frankreich sollten wir ausverteidigungspolitischer Sicht mit Skepsis betrachten .Unter Berücksichtigung der eben genannten vierPunkte gilt es fünftens, dass wir mit einer gesteuertenRüstungsunterstützung gerade auch den Ländern helfenkönnen, bei denen wir meinen, dass sie die Stabilität unddie Sicherheit ihres Landes gewährleisten können, umPerspektiven für Wirtschaft, Gesellschaft und Bildung zuentwickeln .
Ein voranmarschierender IS-Terrorismus – Sie sagen es,Frau Keul – muss mit allen Mitteln gestoppt werden .
Wir werden nicht alle Flüchtlinge dieser Welt aufneh-men können . Wir wollen unsere Soldaten nicht in alleKrisenländer dieser Welt schicken. Dennoch profitiertgerade Deutschland von offenen Wegen und einer offe-nen Gesellschaftsstruktur . Deswegen ist es hier unsereAufgabe, mit einem vielfältigen Angebot unseren Beitragzu leisten .Wenn du die Herausforderungen und das Problem vorOrt nicht löst, dann kommt das Problem zu dir . Bei unssind es die Flüchtlinge, die ein sichtbares Zeichen dafürsind, dass die Menschen vor Ort keine Perspektive mehrsehen . Es kommt eben darauf an, das zu tun, worauf esankommt .Herr Leutert, als die Dörfer im Nordirak von IS-Ter-roristen angegriffen worden sind – das wissen Sie ganzgenau –, gab es nur ein Mittel, dagegenzuhalten . Jetzt zubehaupten, wir hätten die PKK mit Waffen ausgestattet,ist entweder bewusst falsch dargestellt oder es ist einfachkaltschnäuzig, nach dem Motto: Man hätte mit ansehenmüssen, wie die Kurden im Nordirak getötet worden wä-ren . – Die Kurden haben sich dagegen gewehrt . Ich haltees für richtig, auch aus christlichen Gründen zu sagen:Wir helfen den Menschen, damit sie ihre Familien undihre eigene Heimat beschützen können .
Worauf es ankommt, das soll das neue Weißbuchals Richtschnur der deutschen Verteidigungspolitik ab-bilden . Ich bin unserer Bundesverteidigungsministerindankbar dafür, dass sie diesen Prozess angeschoben hat .Offenheit, Transparenz, der Mut zu notwendigen Ent-scheidungen, das erwarten die Bürgerinnen und Bürgerzu Recht von uns .Um in Einigkeit und Recht und Freiheit leben zu kön-nen – ich schließe mit dieser Feststellung -: Es gibt keineFreiheit ohne Sicherheit . Nur mit Sicherheit können wirin Freiheit leben . Dafür tragen wir als Deutscher Bundes-tag Verantwortung . Deswegen sollten wir diesem Haus-haltsentwurf für 2016 zustimmen .Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Als nächster Redner spricht Dr . Neu
von der Fraktion Die Linke .
Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte FrauPräsidentin! Lassen Sie mich drei Anmerkungen zumHaushaltsplan für die Bundeswehr machen .Erste Bemerkung . Die Mittel in diesem Haushaltsplanbetragen realiter 36,6 Milliarden Euro, nicht 34 Milliar-den Euro, nimmt man die Haushaltsposten aus den ande-ren Einzelplänen mit dazu . Das heißt letztendlich, dassDeutschland mit dem Volumen des Einzelplans 14 plusdenen der anderen Haushaltstitel über den viertgrößtenNATO-Haushaltsplan verfügt .Es kommt noch besser . Weltweit belegt der Haushaltder Bundeswehr den achten Platz . Das heißt, der Militär-haushalt der Bundeswehr ist der achtgrößte in der Welt .
Damit gehört Deutschland weltweit zu den führendenMilitärkräften, soweit es die Militärausgaben betrifft .
Sehr geehrte Steuerzahlerinnen und Steuerzahler obenauf den Tribünen, Sie zahlen im Jahr 2016 450 Euro proNase in diesem Land für die Bundeswehr .
Während in diesem Lande Rentnerinnen und RentnerPfandflaschen einsammeln müssen, um zu überleben,während für die Sanierung von Schultoiletten kein Geldda ist, zahlen Sie 450 Euro für die Bundeswehr .
Henning Otte
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Zweite Anmerkung . Die globalen Militärausgabenbetrugen 2014 1,78 Billionen US-Dollar, das heißt1 780 Milliarden US-Dollar . Davon haben allein dieNATO-Staaten 942 Milliarden US-Dollar aufgewendet .Das heißt, von den weltweiten Militärausgaben haben dieNATO-Staaten 60 Prozent ausgegeben .Das neue und beliebte Feindbild der Bundesregierung,Russland nämlich, hat im Jahr 2014 84,5 MilliardenUS-Dollar für sein Militär ausgegeben .
Das heißt, 9 Prozent dessen, was Russland ausgegebenhat – -
Umgekehrt: Die NATO hat elfmal so viel wie Russlandfür den Militärhaushalt ausgegeben .Wir können gerne weiter vergleichen . Nehmen wirChina . China hat im Jahr 2014 216 Milliarden US-Dollarfür das Militär ausgegeben . Das sind 23 Prozent dessen,was die NATO ausgegeben hat . Oder umgekehrt: DieNATO hat viereinhalbmal so viel für ihr Militär ausge-geben wie China .
– Dazu komme ich gleich . – China und Russland kom-men damit auf 32 Prozent dessen, was für die NATO-Mi-litärhaushalte ausgegeben wurde . Mit anderen Worten:Die NATO hat das Dreifache dessen für Militär ausgege-ben, was China und Russland gemeinsam für ihr Militärausgegeben haben .
Daraus kann man schließen, dass die NATO den beidenLändern China und Russland in militärischen Fragenweit überlegen ist, zumal die militärischen Fähigkeitender Bundeswehr und der US-Streitkräfte denen der russi-schen und chinesischen überlegen sind .Dennoch wird hier in diesem Land – und in anderenNATO-Ländern – so getan, als seien China und Russ-land eine militärische Bedrohung für den Westen, nur umlangfristig die 2-Prozent-Marke in Bezug auf das Brut-tosozialprodukt zu erreichen . Das hieße, in den nächstenJahren werden wir irgendwann einmal bei 57 MilliardenEuro für die Bundeswehr liegen .Die Bundesregierung und ihr Hauptverbündeter, dieUSA, bauen auf diese Weise einen Bedrohungspopanzgegenüber Russland und China auf, der auf Ihre Kostengeht, sehr geehrte Steuerzahlerinnen und Steuerzahler .
Die Linke hingegen fordert: Stoppen Sie das Durchfüt-tern der Rüstungsindustrie als einzigem Nutznießer derangeblichen Bedrohungsszenarien!
Investieren Sie die Steuergelder in zivile Infrastruktur an-statt in militärische Sandkastenspiele! Die Bundesregie-rung macht seit Jahren genau das Gegenteil, aber nicht nurauf Kosten der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, son-dern auch auf Kosten der inneren Sicherheit . Das vasal-lentreue Mitmachen bei US-Kriegen und Regime-Cha nge-Politik stellt eine wachsende Gefahr auch für die innereSicherheit dar, da Deutschland als Mitaggressor wahrge-nommen wird . Die Hochrüstung und die Nibelungentreuegegenüber den USA schaffen entgegen Ihrer Behauptungnicht mehr, sondern weniger Sicherheit für Deutschland .
Dritte Anmerkung. Die flüchtenden Menschen aus Af-rika und Nahost, die nach Europa kommen, symbolisie-ren geradezu die zerstörerische Einmischungspolitik unddie Kriege des Westens unter US-Führung . Ich möchteIhnen ein Beispiel geben, wie verlogen diese Politik ist .Zwischen 1991 und 1998 starben laut UNICEF im Irak500 000 Kinder unter fünf Jahren aufgrund der UN-Sank-tionen, deren Aufhebung von den USA blockiert wurde .Zählt man die über fünfjährigen Kinder und die Erwach-senen hinzu, sind es weit über 1 Million Menschen, dieim Irak aufgrund der Sanktionen ums Leben kamen .Wie menschenverachtend diese Politik war, hat diedamalige UN-Botschafterin und spätere Außenministerinder USA, Madeleine Albright, zum Besten gegeben . Ineinem Interview mit dem US-Sender CBS sagte sie aufdie Frage des Journalisten – ich zitiere -: „Wie wir hören,Frau Albright, starben im Irak eine halbe Million Kinder .Ist es den Preis wert?“ Frau Albright antwortete: „Ja, wirglauben, es ist den Preis wert .“ Das sollte uns zu denkengeben, sehr geehrte Damen und Herren .
Das sind die Verbündeten unserer Bundesregierung . Dassind die Werte, die wir mit den USA teilen . Das ist eineSchande!
Aber danach ging es – dagegen wirken die halbe Mil-lion fast wie „Peanuts“ – erst richtig los: Es gab Krieggegen Serbien, den Irak, Afghanistan und Libyen, und esgibt den derzeit verdeckten Krieg in Syrien . Den Tod vonMillionen Menschen als Kriegsopfer, Kriegsfolgeopferund Sanktionsopfer durch NATO-Kriege und Kriege derUSA im Rahmen der Koalition der Willigen kann manaber nicht verleugnen und auch nicht mehr verstecken .Auch die Flüchtlinge kommen mittlerweile zu uns .Die Linke fordert hingegen: Stoppen Sie die Hoch-rüstung Deutschlands! Das heißt, wir brauchen keineKampfdrohnen, wir brauchen keine neuen Panzer, auchkeine Fregatten und Transportflugzeuge.
Dr. Alexander S. Neu
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Widmen Sie das Geld um in zivile Projekte für Menschenund Umwelt in diesem Land! Stoppen Sie die Teilnahmean der Einmischungspolitik und der Regime-Change-Po-litik gegenüber anderen Staaten! Das bedeutet einfachnur, das internationale Recht, wie es die UN-Charta dar-stellt, zu respektieren – nicht mehr und nicht weniger .
Verhindern Sie den Missbrauch deutschen Staatsgebie-tes für die US-Kriegsführung! Stichwort Ramstein unddie Drohnentötung, die über Ramstein läuft . Sagen Sie:Nein, wir wollen das von deutschem Gebiet aus nichtmehr akzeptieren . Betreiben Sie aktiv Friedenspolitikfür Europa unter Einschluss – nicht unter Ausschluss –Russlands! Das heißt, tragen Sie dazu bei, dass es einenökonomischen und sicherheitskollektiven Raum von Lis-sabon bis Wladiwostok gibt!Das sind, sehr geehrte Damen und Herren, die Para-meter einer vernünftigen Außen- und Sicherheitspolitik .Das ist im Übrigen wesentlich kostengünstiger als das,was Sie uns vorschlagen .Danke .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Rainer Arnold
von der SPD-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! WirVerteidigungspolitiker sind es ja in unserem politischenAlltag gewöhnt, dass – das passiert fast jeden Tag – neueProbleme auf unseren Tisch hageln . Dabei handelt essich um wichtige und weniger große Probleme . Einesaber merken wir auch: Es relativiert sich alles, was wirdiskutieren, angesichts der gigantischen humanitärenKatastrophe in vielen Ländern Afrikas, an den RändernEuropas und, ja, auch mitten bei uns in Europa .Überall leistet die Bundeswehr ihre Beiträge – daswurde heute auch schon ausgeführt -: In internationalenFriedens- und Stabilisierungsmissionen, aber auch beider Unterbringung der Flüchtlinge hier in unserem Landarbeiten Soldaten neben den zivilen Helfern und den Hel-fern aus den Rettungsdiensten . Das heißt, unsere Solda-ten sind gute Staatsbürger in Uniform, und sie verdienenDank und Respekt wie alle Helfer .
Spätestens angesichts dieser Katastrophe, die wir er-leben, müssten eigentlich alle in der deutschen Gesell-schaft mit Ausnahme der Linken – das haben wir wie-der gemerkt; das gebe ich auf – verstehen, was mit derForderung gemeint war: Deutschland muss mehr überdie deutsche Verantwortung und die deutsche Rolle inder Welt sprechen . Es gibt zum Glück in Deutschlandeinen Konsens über unsere diplomatische, präventiveund finanzielle Verantwortung angesichts der Lage derschutzsuchenden Menschen . Aber welche Rolle spieltdas Militär in diesem Zusammenhang? Dies ist letztlichnicht geklärt, auch wenn wir immer wieder in Einzelfäl-len bei der Erteilung von Mandaten die Frage konkretbeantworten .Es fehlt das grundsätzliche Verständnis, dass Streit-kräfte selbstverständlich nicht die Probleme der Weltlösen können . Aber sie müssen Teil des vernetzten An-satzes in der Welt sein . Denn die brutalen Mörderbandenund unmenschlichen Diktatoren sind nicht mit Worten zustoppen, sondern man muss sich denen leider auch mitWaffen entgegenstellen .
Weil das so ist, werden wir uns alle in der Politik undGesellschaft darauf einstellen müssen, dass in den nächs-ten Jahren die Außen- und Sicherheitspolitik stärker imFokus unserer Arbeit liegen wird, auch wenn dies nichtallen gefällt . Es wird so sein .Wir müssen uns auch darauf einstellen, dass wir eineDebatte brauchen: Müssen die Staatengemeinschaft undwir als Teil dieser Gemeinschaft bei erkennbaren Krisennicht früher entschlossener handeln und eingreifen, stattso lange zu warten, bis das unermessliche menschlicheLeid in der Tagesschau abends wirklich von niemandemmehr übersehen werden kann?Vor diesem Hintergrund diskutieren wir unseren Bun-deshaushalt . Der Verteidigungsetat wächst leicht an . Dasist gut, und es geht nach den Irrtümern der vergangenenJahre in die richtige Richtung .Aber wenn wir das ernst meinen – wir meinen es alleernst –, dass die Fluchtursachen langfristig nur in denKrisenregionen bekämpft werden können, dann müssenwir uns auch dazu bekennen, dass alle Etats in unseremHaushalt, die sich um die internationale Verantwortungkümmern – humanitäre Hilfe, Polizeiausbildung, wirt-schaftliche Zusammenarbeit, aber auch der Etat für Ver-teidigung –, in den nächsten Jahren deutlicher anwach-sen müssen, um dieser Verantwortung gerecht zu werden .Dies alles gehört zusammen . Es geht nicht nur um denVerteidigungsetat .
Sehr geehrte Damen und Herren, diese Koalition,Abgeordnete und die Verteidigungsministerin haben inden vergangenen zwei Jahren viel angestoßen und aufden Weg gebracht, auch vergangene Fehler korrigiertund Gutes und Notwendiges für die Soldaten eingeleitet,insbesondere beim Attraktivitätsprogramm . Wir müssenjetzt allerdings aufpassen, dass wir die zivilen Beschäf-tigten nicht vergessen .
Der Wettbewerb um die klugen Köpfe gilt auch, wennes gilt, gute Beamte und Administratoren und insbeson-dere gute technisch Qualifizierte zu finden. Deshalb istdas noch eine offene Baustelle . Sie haben unsere Unter-Dr. Alexander S. Neu
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stützung, wenn wir mehr für die Interessen und Belangeder Zivilbeschäftigten tun .Sie sind dabei – das ist ein wichtiger Schritt –, dieAnzahl der vorhandenen Großgeräte zu korrigieren . Siehaben den Begriff des sogenannten dynamischen Verfüg-barkeitsmanagements selbst verwendet, Frau Ministerin .Ich glaube, wir alle verstehen ihn nur noch eher ironisch;denn er kaschiert eigentlich nur den tatsächlichen Man-gel .Um das klar zu sagen: Angesichts der internationalenAufgaben, die die Bundeswehr hat, und angesichts derTatsache, dass sich die NATO notgedrungen wieder stär-ker auf ihre Kernaufgaben der Bündnisverteidigung be-sinnt, darf die Bundeswehr keine Strukturen haben, diehohl und letztendlich nur auf dem Papier vorhanden sind .Die Menge an Großgerät wieder auf 100 Prozent aufzu-füllen, ist keine Aufrüstung . Vielmehr haben wir am Endedie Strukturen, die wir tatsächlich brauchen . Wir habendann nichts Neues oder Zusätzliches, sondern nur dasNotwendige für die Soldaten und die deutsche Sicherheitverfügbar . Nur so werden wir die Glaubwürdigkeit desNATO-Bündnisses bei der Verteidigungsfähigkeit erhal-ten und dafür sorgen, dass unsere osteuropäischen Part-ner mit ihren Sorgen wissen, dass sie sich auf Deutsch-land und die NATO tatsächlich verlassen können .Frau Ministerin, es wäre gut, wenn im Zuge dieserHaushaltsberatungen ein Plan vorgelegt wird, aus demhervorgeht, wann in den nächsten Jahren welches Gerätin welcher Stückzahl beschafft und wie viel es kostenwird . Darüber müssen wir zügig reden, damit es nichtbei der Ankündigung bleibt . Sie haben – das ist wichtig –effizientere Strukturen bei der Rüstungsbeschaffung ein-geführt . Es gibt nun ein Rüstungsboard, das die Proble-me nicht unter dem Tisch hält, sondern sie auf den Tischlegt; das war ein ganz wichtiger Schritt . Die kommendengroßen Projekte wie MEADS, die Drohnenentwicklungund ein Mehrzweckkampfschiff werden hoffentlich nachneuen, besseren und effizienteren Verfahren durchgeführtund zum Erfolg führen .Nicht alles, was verändert werden muss, lässt sich aberin Gesetze und Verordnungen pressen . Vielmehr geht esauch um die Mentalität . Dabei spielt die Fehlerkultur, diein einem Haus herrscht, eine zentrale Rolle . Auch hierwurden Veränderungen eingeleitet . Das zeigt sich exem-plarisch beim G36 . Anstatt wie viele Jahre zuvor Kritikzu unterdrücken und die Menschen, die Kritik äußern, zumobben – das alles hat es im Einzelfall gegeben –, habenSie jetzt die Probleme angenommen und offen benannt .Zusammen mit dem Verteidigungsausschuss haben wirnun begonnen, das alles aufzuarbeiten . Wir sind gespanntauf die Ergebnisse der Arbeitsgruppen im Oktober . Wirwerden diese sorgfältig betrachten und darüber diskutie-ren .Wir müssen allerdings aufpassen, dass beim G36kein falscher Eindruck entsteht . Wenn ein Gewehr nach25 Jahren ausgemustert wird, dann geschieht das, nichtweil es Schrott ist, sondern weil seine Lebensdauer nur20 Jahre beträgt . Die Frage, die beantwortet werdenmusste, lautete: Kaufen wir in den nächsten 30 Jahrenneue G36 nach, oder entschließen wir uns angesichtseiner veränderten sicherheitspolitischen und technolo-gischen Welt für ein neues Produkt? Die Entscheidung,die nun getroffen wurde, ist richtig . Ich wünsche mir al-lerdings eine Partnerfirma, die das alte, schlichte Prinzipvon Kaufleuten und Selbstständigen befolgt: Der Kun-de ist König . – Ich habe nicht den Eindruck, dass diesangekommen ist . Das macht es uns in diesem Bereichbesonders schwer .Zum Abschluss . Wie Sie bereits sagten, ist schon vie-les auf den Weg gebracht worden . Wir wissen aber, dassder Weg im Bereich der Verteidigungspolitik kein end-gültiges Ziel hat . Auf diesem Weg werden in den nächs-ten Monaten und Jahren noch viele Stolpersteine liegen .Uns ist auch klar, dass Verteidigungspolitik nicht nur alsReaktion auf Krisen zu verstehen ist; auch das muss ge-leistet werden . Aber Verteidigungspolitik ist mehr . Siewird nur gut sein, wenn sie auf einer langen ZeitschieneVorsorge für eine Welt trifft, deren Risiken in 20 oder30 Jahren unbekannt sind . Aber wir wissen eines: Umdann gut aufgestellt zu sein, müssen in dieser Legislatur-periode die notwendigen und richtigen Entscheidungengetroffen werden . Sie haben unsere Unterstützung aufdiesem Weg .Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Doris Wagner
von der Fraktion BÜNDNIS 90/Die Grünen das Wort .
Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Werte Kolleginnenund Kollegen! Eigentlich hat diese Woche ganz erfreu-lich mit einer guten Nachricht angefangen: Die Bundes-regierung will künftig jedes Jahr 400 Millionen Euromehr für die Bewältigung und Prävention von Krisenausgeben . 400 Millionen Euro mehr, das bedeutet eineVerfünffachung des bisherigen Haushaltsansatzes für diezivile Krisenprävention . Das ist richtig, und das ist gut .
Doch die schlechte Nachricht ist: Dieses Geld ist garnicht in dem Haushaltsentwurf veranschlagt, den wirheute debattieren . Die Entscheidung, die Mittel für diezivile Krisenprävention kräftig aufzustocken, fiel kurz-fristig in einer Sitzung des Koalitionsausschusses amWochenende . Damit ist diese Entscheidung eben nichtAusdruck grundsätzlicher politischer Einsichten odereiner langfristigen Strategie; vielmehr offenbart dieBundesregierung damit vor allem eines: Erst wenn dieFolgen des Krieges unser Land erreichen, erst wenn inDeutschland Flüchtlingsheime brennen, erst dann ist die-se Regierung bereit, Geld für Frieden in die Hand zu neh-men und auszugeben . Mit einer konzeptionellen und stra-tegisch durchdachten zeitgemäßen sicherheitspolitischenFinanzplanung hat das in meinen Augen nichts zu tun .
Rainer Arnold
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Frieden und Sicherheit sind vor allem mit einer vor-ausschauenden, vorrangig zivilen und umfassenden Au-ßen- und Sicherheitspolitik zu erreichen . Dazu müssenwir die verschiedenen Instrumente der Verteidigungs-,Entwicklungs- und Handelspolitik eng verzahnen; da binich ganz bei Ihnen, Herr Otte .
Doch diese mittlerweile selbstverständliche Erkennt-nis spiegelt sich in unserem Haushaltsentwurf 2016 lei-der überhaupt nicht wider .
Statt einen konsequent umfassenden Ansatz zu verfol-gen, orientiert sich die Bundesregierung in ihrer Bud-getplanung an einem völlig veralteten Verständnis vonSicherheitspolitik . Ich würde gerne zwei Beispiele dafüranfügen:Erstens . Sicherheitspolitik à la Schwarz-Rot bedeutetvor allem Frieden schaffen mit noch mehr Waffen . Keinanderer Posten des Verteidigungshaushaltes wächst 2016so stark wie die militärischen Beschaffungen . 550 Milli-onen Euro mehr will die Ministerin 2016 in Waffen in-vestieren .
550 Millionen Euro sind deutlich mehr als die eingangserwähnten 400 Millionen Euro für zivile Krisenpräven-tion .Zweitens . Außerdem ist die Bundesregierung nichtbereit, ihre Zusage für die Stärkung der Entwicklungspo-litik einzulösen . 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkom-mens haben Sie versprochen; aber tatsächlich stagnierendie deutschen ODA-Mittel schon seit Jahren bei lediglich0,4 Prozent .Ich frage Sie: Tragen wir wirklich zur Stabilisierungunserer südlichen und östlichen Nachbarschaft bei, in-dem wir uns vor allem neue Waffen zulegen? Ich denke,das ist nicht der Fall .
Viel besser wäre unser Geld doch investiert in Bildung,in Infrastruktur, in Maßnahmen zur Reform des Sicher-heitssektors in unseren Nachbarregionen . Das ist moder-ne Sicherheitspolitik .Ein in meinen Augen völlig veraltetes Verständnis vonSicherheit zeigt die Bundesregierung auch bei der soge-nannten Ertüchtigung von Partnerstaaten . Für diese Er-tüchtigung sind im Einzelplan 60 erstmals 100 MillionenEuro vorgesehen . Ganz ausdrücklich soll damit auch dieLieferung letaler Waffen an staatliche Sicherheitsstruk-turen der Partnerländer finanziert werden. Damit läuftdie Bundesregierung endgültig Gefahr, dass sie mit ihrerSicherheitspolitik nicht den Frieden, sondern, im Gegen-teil, eher den Krieg befördert . Das möchte ich Ihnen mitdrei Gründen darlegen:Erstens . Viele Menschen außerhalb Europas erlebenstaatliche Strukturen wie Armee und Polizei gerade nichtals Garant für ihre Sicherheit . Im Gegenteil: Soldatenund Polizisten dienen vielerorts vor allem dazu, unbe-queme Oppositionelle zu bekämpfen .Zweitens . Was wir als Sicherheit bezeichnen, wird invielen europäischen Staaten gar nicht von Armee und Po-lizei gewährleistet, sondern von zivilgesellschaftlichenAkteuren, von Menschen, die alle Bewohner einer Ort-schaft kennen und die deshalb Vertrauen, Ansehen undAutorität genießen .Drittens . Es gibt besonders in schwachen Staaten kei-nerlei Gewähr dafür, dass die Waffen, die wir ihnen lie-fern, nicht in dunklen Kanälen verschwinden .Die sogenannte Ertüchtigung von Partnerstaaten setztalso bei den falschen Akteuren an . Sie ist ein gefährlichesSpiel mit dem Feuer . Wer Waffen liefert, schafft Gewaltund neue Fluchtursachen, statt sie zu beseitigen. Das fin-de ich absurd .
Wenn wir Sicherheit und Frieden wirklich voranbrin-gen wollen, müssen wir aufhören, unser Geld vor allemfür neue Waffen auszugeben, und wir müssen damit an-fangen, unsere Unterstützung sehr viel stärker als bisherauf gesellschaftliche Akteure auszurichten . Deshalb for-dere ich Sie auf, meine Damen und Herren auf der Regie-rungsbank: Nutzen Sie den Ressortkreis Zivile Krisen-prävention, um die deutsche Sicherheitspolitik auf eineumfassende, moderne Grundlage zu stellen . InvestierenSie in Friedensforschung; denn nur wer die Ursachenfür die Konflikte kennt, kann sie auch beseitigen. Stel-len Sie diese 100 Millionen Euro, die zur Ertüchtigungvorgesehen sind, dem Ressortkreis Zivile Krisenpräven-tion zur Verfügung; dann könnten auch das BMZ und dasBMI dort Mittel beantragen, die der Stärkung der zivilenStrukturen und Akteure dienen können . Bitte, drehen Siedoch jeden Euro zweimal um, den Sie für neue Waffenausgeben wollen . Das wird sich für uns alle auszahlen .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als nächster Redner spricht Ingo
Gädechens von der CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin, liebe Frau Bulmahn, Sie haben mir
das letzte Mal erlaubt, dass ich hier Besuchergruppen be-
grüße . Der Zufall will das immer so: Ich freue mich, dass
die Spitze der Kreisjugendfeuerwehr Ostholstein hier ist,
und ich freue mich, dass die neunten Klassen der Insel-
schule Fehmarn – Fehmarn ist meine Heimatinsel – mei-
ner Rede hier live folgen dürfen .
Aha, gut organisiert .Doris Wagner
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Hervorragend, Frau Präsidentin .Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr ver-ehrten Damen und Herren! Der Verteidigungsetat – dasmachten die Wortbeiträge schon deutlich – ist ein beson-derer; denn wir entscheiden nicht nur darüber, wie vieluns unsere Sicherheit wert ist, sondern es geht bei derWertigkeit auch um Wertschätzung gegenüber unserenSoldatinnen und Soldaten, die im Einsatz im schlimms-ten Fall ihr Leben riskieren . Dies unterscheidet unserenEtat von anderen Etats des Haushalts .Der Verteidigungsetat ist vor dem Hintergrund der Viel-zahl an Krisen, die genannt wurden, und der wachsendenterroristischen Bedrohung gerade in diesen Tagen allesandere als trivial . Es geht um grundlegende Weichenstel-lungen, mit denen Deutschland den sicherheitspolitischenAnforderungen und seinen Bündnisverpflichtungen ge-recht werden will, ja gerecht werden muss . Diese Anforde-rungen und Verpflichtungen sind im Vergleich zum letztenEtat vor einem Jahr erkennbar größer geworden .Nach wie vor sehen wir uns konfrontiert mit dem Kon-flikt in der Ukraine, und wir sehen einen barbarischenTerror des „Islamischen Staats“ im Irak und in Syrien,geprägt von unbeschreiblicher Grausamkeit . Wir erlebeneine gefährliche Zuspitzung der Weltlage, von deren Fol-gen wir nicht unberührt bleiben . Wir erleben, wie aktuellAbertausende Menschen auf der Flucht vor Krieg undGewalt Zuflucht in Europa und ganz besonders bei unsin Deutschland suchen . Angesichts dieser dramatischenBilder bewegt es mich zutiefst, wie unser Land – auchdas wurde schon mehrfach deutlich – zusammenstehtund Flüchtlinge freundlich empfängt . Dies hat uns imAusland viel Respekt eingebracht und zeugt vom Mutder Deutschen, sich mit Engagement dieser Flüchtlings-krise, diesen Flüchtlingsströmen zu stellen .Meine Damen und Herren, Deutschland sendet mitseiner Politik eine klare Botschaft aus: Wir dürfen undwerden die Ausweitung der humanitären Katastrophenicht zulassen . – Ich sage aber auch: Wir brauchen einstarkes Bekenntnis in Europa, dass alle Länder Verant-wortung für Menschen übernehmen, die vor Verfolgungund Krieg fliehen.In Anbetracht des Ausmaßes der Flüchtlingsströmeund des Leids der Menschen müssen wir eingestehen:Krisen und Konflikte, die manch einer weit weg glaubte,sind auf einmal ganz nah bei uns . Wir spüren seit Mona-ten: Kein Staat, kein Bündnispartner kann und darf sichwegducken . Ein freundliches Desinteresse hilft nichtweiter .
Die Folgen der Brandherde in Syrien, im Irak, im Jemen,in Afghanistan und wo auch immer sind über kurz oderlang auch bei uns zu spüren .Deshalb – angesichts der zunehmenden Krisen – undaus vielen anderen Gründen ist die Erhöhung der Vertei-digungsausgaben notwendig und wichtig .
Die Erhöhung um rund 1,4 Milliarden Euro ist ein wich-tiger Schritt und weist in die richtige Richtung . Sie be-weist, dass Deutschland seiner sicherheitspolitischenVerantwortung gerecht wird . Von einer Friedensdividen-de, so wie wir sie in vergangenen Debatten eingeforderthaben, kann keine Rede mehr sein . Nur der Teil auf derlinken Seite des Hauses redet immer wieder und gern vonder Abschaffung der Bundeswehr .Nein, meine Damen und Herren, innere und äußereSicherheit gibt es nicht umsonst. Die finanzielle Aus-stattung, der Mittelansatz im Einzelplan 14, hat darüberhinaus eine hohe Symbolkraft, auch für die mit uns be-freundeten Nationen, gerade in Osteuropa .Die Bundeswehr hat sich in den vergangenen sechs Jahr-zehnten stark gewandelt . Von einer reinen Verteidigungs-armee ist sie zu einer Armee im Einsatz geworden . Ichwürde sogar so weit gehen und sagen: Die Bundeswehrist im 60 . Jahr ihres Bestehens zu einer Armee im Daue-reinsatz geworden .
Man gewinnt den Eindruck: Überall dort, wo esbrennt, wo deutsche Hilfe gebraucht wird, wo Deutschehelfen können und sollen, wird zuallererst die Bundes-wehr hingeschickt . Wir sehen es ganz aktuell an derRettung von Flüchtlingen aus dem Mittelmehr durch dieEinheiten der Deutschen Marine oder an der Flüchtlings-hilfe in Deutschland, welche Zelte und Unterkünfte zurVerfügung stellt . Die hohe Motivation, mit der sich dieSoldatinnen und Soldaten diesen immer neuen Heraus-forderungen stellen, ist bewundernswert und verdientmeinen besonderen Dank und unsere Anerkennung .Bei meinen Truppenbesuchen in der sitzungsfreienZeit spürte ich einmal mehr, wie die Bundeswehr festerBestandteil unserer Gesellschaft ist . Dabei geht es nichtnur um das, was in der regulären Dienstzeit geleistetwird, sondern es geht auch darum, wie sich Männer undFrauen der Bundeswehr – egal ob als aktive Soldaten,Zivilisten oder Reservisten – weit über das normale Maßin dieser Gesellschaft engagieren . Vielleicht spielt dasinnere Pflichtgefühl eine Rolle. Trotzdem ist es für michbeispielgebend, wie in den Landeskommandos nach zu-sätzlichen Unterkünften gesucht wurde und unbürokrati-sche Hilfe geleistet wird, zum Beispiel im MaterialdepotWester-Ohrstedt . Jeder kennt es . Wer ist dort noch nichtgewesen? In Wester-Ohrstedt wurden sämtliche zur Ver-fügung stehenden Zelte in Windeseile zusammengestellt,und dabei hat keiner der Soldaten oder der 120 zivilenMitarbeiter auf die Uhr geschaut, sondern es war Hilfs-bereitschaft . In meinem Wahlkreis in Schleswig-Holsteinwurden auf dem Truppenübungsplatz Putlos – die Bun-desministerin hat andere Länder genannt – sehr schnell900 Aufnahmeplätze bereitgestellt . Das alles ist wahrlichnicht selbstverständlich, und vielleicht sollten wir dievielen positiven Beispiele einmal sammeln, um sie in ei-ner besonderen Weise zu würdigen .Meine Damen und Herren, die Vielzahl der nationa-len und internationalen Einsätze erfordert nicht nur einausgesprochen hohes Engagement der Kameradinnenund Kameraden sowie der zivilen Mitarbeiter . Die unun-terbrochene Einsatzbelastung fordert ihren Tribut beim
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Material . Der Verschleiß ist höher, der Lebenszyklusder Systeme wird kürzer, gleichzeitig steigt der Bedarfan Einsatzmaterial . Eine Erhöhung der Ausgaben fürInstandsetzung, Wartung und Betrieb ergibt sich darauszwangsläufig. Denn die Einsatzbereitschaft der Bundes-wehr darf nicht durch Materialengpässe gefährdet wer-den . Man muss sich immer vor Augen führen: Die Bun-deswehr ist nur zu dem imstande, wozu wir sie befähigenund wie wir sie finanziell ausstatten. Nur ein solidesFundament für unsere Streitkräfte sichert Deutschlandssicherheitspolitische Handlungsfähigkeit .Ich bin deshalb sehr froh, dass es unserer Verteidi-gungsministerin gemeinsam mit dem Bundesfinanzmi-nister gelungen ist, trotz Schuldenbremse eine Erhöhungder Verteidigungsausgaben umzusetzen . Damit wird eindeutliches Signal gesetzt . Die Bundeswehr hat einen ho-hen Modernisierungsbedarf . Daher ist es besonders zubegrüßen, dass auch das Investitionsvolumen in der Bun-deswehr deutlich erhöht wird . Ja, es ist richtig: Bei dergewünschten Quote von 20 Prozent an Investitionsaus-gaben sind wir noch lange nicht angekommen, aber eineTrendumkehr ist sichtbar und ausdrücklich zu begrüßen .Angesichts der Vielzahl neuer Bedrohungen und Her-ausforderungen ist es richtig, die Ausgaben im Verteidi-gungshaushalt zu erhöhen . Wir haben hier einen soliden,ausgewogenen und durchdachten Haushalt vorgelegtbekommen . Die Bundesregierung handelt entschlossen,und ich danke an dieser Stelle der Bundesministerin, dieihren Worten stets auch Taten folgen lässt .Herzlichen Dank .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Lars Klingbeil
von der SPD-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Ministerin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächst einmalein Thema ansprechen, das in dieser Debatte bisher nochkeine große Rolle gespielt hat, dem aber in der Verteidi-gungspolitik, so denke ich, ein größerer Stellenwert ein-geräumt werden sollte, nämlich der Cyberpolitik .Ich glaube, hier stehen wir vor Herausforderungen,sodass wir in einer politischen Debatte Leitlinien festle-gen müssen, sodass wir schauen müssen, wie wir agierenwollen . Wir alle sollten uns gemeinsam bewusst machen,dass dieses Thema in den nächsten Jahren massiv an Be-deutung gewinnen wird .In dieser Haushaltsdebatte müssen wir auch darüberreden, wie wir im Haushalt zu Verbesserungen kommenkönnen . Sehr geehrte Frau Ministerin, wenn man sichden Einzelplan 14 anschaut, dann stellt man fest, dass daskein Thema ist, das in großer Breite und so angemessen,wie es sein sollte, im Verteidigungshaushalt auftaucht .Wir sollten dringend über gemeinsame Schritte reden .Wir alle wissen und haben es anhand vieler Beispie-le in den vergangenen Monaten gesehen, wie verletzlicheine moderne Industriegesellschaft ist . Es geht um Fra-gen von Elektrizität . Es geht um Mobilität und Kommu-nikation . Das haben wir im Deutschen Bundestag selbstschmerzhaft erfahren müssen . Der Cyberraum wird zueinem neuen Operationsraum, auch wenn es um Kriegs-führung, wenn es um Angriffe geht . Wir brauchen einegesellschaftliche Debatte darüber und ein Bewusstseindafür, wie wir gemeinsam vorgehen wollen .Das ist sicherlich nicht an vorderster Front Aufgabedes Verteidigungsministeriums . Es fallen uns ganz vieleandere Ressorts ein, die dabei auch eine große Verant-wortung haben . Wir müssen aber auch in der Sicherheits-politik über die Frage der Cybersicherheit und über dieFrage der Bedrohung im Cyberraum reden .Frau Ministerin, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie imWeißbuchprozess darauf einen Schwerpunkt legen . Hier-zu findet in der nächsten Woche eine große Veranstaltungstatt . Es wird darum gehen, gemeinsam zu analysieren,worin Bedrohungen liegen und welche Einsatzszenarieninfrage kommen .Sie haben die strategischen Leitlinien vorgelegt . Ichstimme diesen nicht in jedem Punkt zu . Es war aber einguter Aufschlag, dass die Debatte durch das Ministeri-um eröffnet worden ist . Ich glaube, dass wir noch konse-quenter und noch schneller handeln und den Cyberraumals Ebene der Außen- und Sicherheitspolitik erschließenmüssen . Das darf kein Modethema sein . Ich bin mir si-cher: Sicherheits- und Außenpolitik werden dadurchdauerhaft und nachhaltig verändert . Dabei haben wir inDeutschland großen Nachholbedarf .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will fünf Feldernennen, über die eine Debatte in den kommenden Wo-chen meines Erachtens sehr wichtig ist:Das betrifft erstens den Schutz unserer kritischen Inf-rastruktur, den Schutz der Kommunikation . Dabei geht esdarum, Angriffe im Inland abzuwehren . Es geht aber auchum den Schutz unserer Soldatinnen und Soldaten, wennsich diese im Auslandseinsatz befinden. Für diese musseine vertrauliche Kommunikation gewährleistet sein . Da-für brauchen wir die neuesten technischen Geräte, und wirmüssen schauen, wie die Ausrüstung aussehen kann .Der zweite Punkt betrifft die Aufklärung . Dabei gehtes darum, dass wir eigenständig Lagebilder erstellenkönnen müssen . Ich will das hier auch deutlich sagen: Ichhabe manchmal kein gutes Gefühl, wenn ich feststelle,dass wir auf Informationen anderer Länder zurückgreifenmüssen . Da bestehen Abhängigkeiten . Wenn man sicheinmal anschaut, wie mit Informationen vielleicht auchfalsche Informationen ins Spiel kommen, dann kommtman zu dem Ergebnis, dass es gut ist, eigene Aufklä-rungskapazitäten zu haben . Wir müssen schauen, wie dasGanze im Haushalt hinterlegt werden kann .
Ingo Gädechens
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Der dritte Punkt, über den wir reden müssen – ichglaube, das wird die schwierigste Debatte hier im Haus –,betrifft die Frage, wie es neben den abwehrenden mitden Offensivkräften aussieht . Was wollen wir da? Wiesieht es da im Cyberraum aus? Ich habe an vielen De-batten dazu teilnehmen können . Ich glaube, dass wir inDeutschland noch keine festgelegte Position dazu haben .Wir müssen aber dringend darüber reden, ob wir offen-sive Fähigkeiten haben wollen und wie diese aussehenkönnen, welche Maßnahmen es gibt und welche Akteureaktiv werden können .Der vierte Punkt bezieht sich auf die Strukturen . Wennman sich die Bundeswehr anschaut, dann stellt man fest,dass es rudimentäre Strukturen im Cyberbereich gibt .Diese sind aber alle zersplittert . Wir müssen schauen,wie wir Strukturen bündeln können . Eine große Aufgabewird es sein, ausreichend Personal vorzuhalten, das überdas notwendige Know-how verfügt, im IT-Bereich unter-wegs zu sein .Frau Ministerin, ich bin mir sicher: Wenn man einmalin Ihrem Haus bzw . bei der Bundeswehr nachschauenwürde, dann würde ein großer Bedarf an zusätzlichemPersonal deutlich werden . Insofern müssen wir gemein-sam darüber reden, wie wir Personal gewinnen können .Der letzte und fünfte Punkt, den ich ansprechen will,gehört auch dazu . Dieser steht sogar im Koalitionsver-trag . Darin steht, dass wir uns das Völkerrecht anschauenmüssen . Wir müssen schauen, wie der Cyberraum hiervorgesehen ist, ob es zu einer Weiterentwicklung kom-men muss . Wir müssen auch über so etwas wie eine ge-meinsame Abrüstungspolitik im Cyberraum reden . Dasist eine große gemeinsame Verantwortung, die wir in in-ternationalen Gremien tragen . Auch das gehört zu dieserDiskussion .Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin der Mei-nung, dass diese Debatte hier im Haus dauerhaft dieAußen- und Sicherheitspolitik verändern wird . Auch imHaushalt des Verteidigungsministeriums ist dieses The-ma noch nicht ausreichend repräsentiert . Ich glaube, wirmüssen in einer gemeinsamen Kraftanstrengung zu Ver-änderungen kommen . Insofern wünsche ich mir, dass wirin der nächsten Woche die Konferenz, aber insgesamtauch die Haushaltsberatungen nutzen, um zu schauen, inwelchen Bereichen wir vielleicht Nachholbedarf haben .Herzlichen Dank fürs Zuhören .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Bartholomäus
Kalb von der CDU/CSU-Fraktion das Wort .
Werte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Der Verteidigungsetat steigt stärker, als zunächstvorgesehen, nämlich auf 34,4 Milliarden Euro . Wir ge-hen praktisch über die ursprünglichen Ansätze der mit-telfristigen Finanzplanung hinaus . Das ist richtig, dasist gut, das ist notwendig, weil, wie wir sehen, unsereBundeswehr vor ganz neuen großen Herausforderungensteht und wir diesem Umstand auch im VerteidigungsetatRechnung tragen müssen .Herrn Kollegen Neu würde ich gern erklären, wieder Anteil von 1,17 Prozent am BIP zustande kommt;er ist aber nicht mehr da . Ich kann mir jedenfalls nichtvorstellen, dass er etwa kritisieren wollte, dass in dieseProzentzahl auch noch die humanitäre Hilfe eingerechnetwird, die aus dem Topf des Auswärtigen Amtes finanziertwird – um nur ein Beispiel zu nennen .Den Kollegen Dr . Lindner kann ich beruhigen . Ichweiß, dass es in den Kreisen der Fachpolitiker durch-aus die Annahme gibt, dass man den NATO-Standardin Höhe von 2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes er-reichen sollte . Ich kann mir aber nicht vorstellen, dassdie Lücke zwischen 1,17 Prozent und 2 Prozent noch zuZeiten meiner politischen Tätigkeit geschlossen werdenwird .Wir müssen mit dem Geld, das wir zur Verfügunghaben, sehr gut umgehen, es sehr effizient einsetzen.So müssen wir die Bündnisfähigkeit gewährleisten . Wirhaben einen hohen Modernisierungsbedarf . Wir müssenauch die Leistungsfähigkeit wie den Wirkungsgrad unddie Effizienz unserer Waffensysteme verbessern; das hatetwas damit zu tun, dass wir mit weniger Personal dieVerteidigungsleistung und Schutzwirkung erzielen müs-sen, die wir brauchen . Wir brauchen eine Kompatibili-tät der Systeme innerhalb unserer Streitkräfte, aber vorallen Dingen auch mit unseren Bündnispartnern . Auchdies sind besondere Herausforderungen, damit wir Ko-operationsfähigkeit beibehalten bzw . da, wo notwendig,wiederherstellen können .Wir wissen zugleich, dass es im Verteidigungsetat gro-ße Blöcke gibt, in denen ein Großteil der Mittel gebun-den ist . Wenn ich an die Personalausgaben in Höhe von11,4 Milliarden Euro und an die Versorgungsausgaben,für die ja 5,7 Milliarden Euro veranschlagt sind, denke,dann relativiert sich manches schon .Ich bin vor diesem Hintergrund sehr froh, dass wirtrotzdem bei den verteidigungsinvestiven Ausgaben nocheine Steigerung hinbekommen haben . So können wirdem Umstand Rechnung tragen, dass bestimmte Systemedemnächst – leider mit Verzögerung – zulaufen . Wenn siezulaufen, müssen sie auch bezahlt werden . Wir stehen javor der Beschaffung großer und teurer Systeme . Vor derSommerpause haben wir – Frau Ministerin, Sie haben esvorhin angesprochen – eine Vielzahl von Entscheidungengetroffen . Wir haben – Sie haben es schon gesagt – 18 so-genannte 25-Millionen-Vorlagen behandelt, die natürlichfinanzielle Auswirkungen im nächsten, übernächsten undweiteren Folgejahren zeitigen werden . Wir haben aucheinige grundsätzliche weittragende Entscheidungen ge-troffen, etwa dass wir mit Frankreich bei Aufklärungs-systemen zusammenarbeiten wollen, oder auch hinsicht-lich Flugabwehr und taktischer Luftverteidigung – umeinige Beispiele hier zu nennen .Auf der anderen Seite haben wir die Entwicklung,dass sich die Bedrohungsszenarien und damit unsere An-Lars Klingbeil
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forderungsszenarien ständig ändern . Auch darauf müssenwir eine Antwort geben, etwa im Bereich der Ausbildungund im Bereich der Ausrüstung . Hier stellt sich für dieFührung des Ministeriums und die Führung des Militärsstets eine neue Aufgabe .Die Neuausrichtung der Bundeswehr ist noch nichtabgeschlossen . Wir haben im Frühjahr das Gesetz zur At-traktivitätssteigerung verabschiedet, das wir alle ja ins-gesamt sehr begrüßt und unterstützt haben . Das heißt na-türlich, dass das, was im Gesetz beschlossen wurde, auchim Haushalt entsprechend umgesetzt werden muss, undes wird im Haushalt auch entsprechend umgesetzt . Ichweiß, dass der Kollege Gädechens als engagierter Vertei-digungspolitiker der Frau Bundesministerin noch weiteregute Vorschläge zukommen lässt . Das hat auch etwas da-mit zu tun, dass wir jetzt in einer anderen Situation sind .Wir haben die Wehrpflicht ausgesetzt. Wir müssen dasPersonal auf dem freien Markt gewinnen . Ich freue mich,dass – Sie haben es bestätigt, Frau Bundesministerin,und ich konnte das auch im Rahmen meiner Sommerrei-se zu einigen Standorten feststellen – die Nachwuchsge-winnung erstaunlich gut läuft . Darüber können wir unsfreuen; denn die Bundeswehr braucht gute Leute . Dasgelingt, wenn das Angebot und die Nachfrage gut sind .Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bundes-wehr ist zurzeit an vielen Brennpunkten im Einsatz; dasist schon gesagt worden . Sie gibt Sicherheit, sie leistetSchutz und Hilfe,
und sie rettet Leben, wie wir es gerade im Mittelmeer er-leben . Die Bundesministerin hat zu Recht darauf hinge-wiesen: Dort konnten 7 200 Menschen gerettet werden .
Ich denke, das ist eine ganz beachtliche Leistung .Es ist keine Floskel, wenn fast jeder Redner von unsdas hier zum Ausdruck bringt, sondern es ist uns ein Her-zensanliegen, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern,den Soldatinnen und Soldaten, aber auch den zivilen Mit-arbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundeswehr immerwieder für ihre Arbeit und für ihren Einsatz vor allemin den besonderen Situationen herzlich zu danken . Wirhaben allen Grund, dankbar zu sein .
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wirstehen vor wichtigen Veränderungen . Wir müssen unseremilitärischen Fähigkeiten neu ausrichten . Vorhin war bei-spielsweise die Rede von den Schlüsseltechnologien, diefür uns sehr wichtig sind . Viele Rüstungsunternehmenarbeiten jetzt im europäischen Verbund . Sie sind gar kei-ne nationalen Unternehmen mehr oder werden es nichtmehr sein, sondern sie werden europäische Unternehmensein . Wir haben in Deutschland aber neben den Schlüs-seltechnologien in diesen Bereichen auch eine Vielzahlvon Kernfähigkeiten, unter anderem durch unsere Inge-nieure und unsere Facharbeiter . Diese sollten wir nichtverlieren; denn wir brauchen sie dringend, wenn wir un-sere Bundeswehr und unsere befreundeten Armeen auchin der Zukunft mit hochwertigem Material und hochwer-tigen Einsatzmitteln ausstatten wollen .Deswegen begrüße ich es sehr, dass die Bundesre-gierung vor kurzem ein Strategiepapier vorgelegt hat .Offiziell heißt das Strategiepapier „Stärkung der Vertei-digungsindustrie in Deutschland“ . Ich denke, es ist einwichtiges Papier und eine wichtige Grundlage für weite-re Entscheidungen, die zu treffen sein werden .Ich habe vorhin schon den Kollegen Gädechens an-gesprochen . Er hat der Bundesministerin dafür gedankt,dass sie den Worten ständig Taten folgen lasse . Auchwir Haushälter werden den Worten Taten folgen lassen:durch eine intensive und sachgerechte Beratung des Ver-teidigungsetats .
Vielen Dank . – Als letzter Redner in dieser Runde hat
Dr . Felgentreu von der SPD-Fraktion das Wort .
Danke sehr . – Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Im Verteidigungsetat 2016 wird sich deutlichniederschlagen, dass wir mehr für die Attraktivität derBundeswehr als moderne Freiwilligenarmee tun und auchin Zukunft tun wollen . Allein für das mit dem wohlklin-genden Etikett „Agenda Attraktivität“ versehene Maß-nahmenpaket sind im Entwurf knapp 35 Millionen Eurovorgesehen . Dieses Geld soll für eine bessere Führungs-und Organisationskultur ausgegeben werden, für dieVereinbarkeit von Familie und Dienst – sehr wichtig –,für planbare Arbeits- und Freizeit, für den Gesundheits-schutz am Arbeitsplatz und für moderne Unterkünfte .Hinzu kommen die direkten finanziellen Auswirkungendes Artikelgesetzes, das wir im Frühjahr beschlossen ha-ben . Darauf ist schon mehrfach hingewiesen worden . DieSPD-Fraktion begrüßt diese Entwicklung ausdrücklich .
Nur eine attraktive Bundeswehr wird als Freiwilligenar-mee in einem Umfeld bestehen können, in dem Unter-nehmen und öffentlicher Dienst in scharfer Konkurrenzum tüchtige Arbeitskräfte werben . Dieses Geld ist des-wegen gut angelegt, in die Sicherheit und in die Bündnis-fähigkeit unseres Landes .Die Attraktivität des Dienstes, liebe Kolleginnen undKollegen, hat allerdings eine Dimension, die über die inder Agenda zusammengefassten Maßnahmen hinausgeht .Den meines Erachtens wichtigsten Beitrag dazu diskutie-ren wir, wenn es um die Ausrüstung geht . Mit „Ausrüs-tung“ meine ich eben nicht nur die hochwertigen, großenWaffensysteme . Natürlich, die Vollausstattung vom Pan-zer bis zur Luftabwehrrakete ist zu Recht ein wichtigesZiel; Kollege Arnold hat gerade das Wesentliche dazu ge-Bartholomäus Kalb
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sagt . Aber Ausrüstung – nicht wahr, Herr Gädechens? –fängt nun einmal bei den Socken an .
Für die Zufriedenheit in der Truppe sind die Sockenmanchmal sogar wichtiger .
Denn daran, ob die Bundeswehr es schafft, den Soldatin-nen und Soldaten die Dinge in ordentlicher Anzahl undQualität zur Verfügung zu stellen, die sie für den tägli-chen Dienst brauchen, ermessen sie vom Gefühl her, wel-che Wertschätzung ihnen der Dienstherr entgegenbringt .
Es kann nicht angehen, dass sich bei jedem Standort-besuch die Vertrauensleute bei mir darüber beklagen, dassKleidungsstücke, Nachtsichtgeräte oder Schutzwesten nichtin ausreichender Menge zur Verfügung stehen . Es kann auchnicht so bleiben, dass ein Hauptgesprächsthema unter Sol-datinnen und Soldaten gerade die Ausrüstungsgegenständesind, die sie sich aus eigener Tasche selbst beschaffen, weilder Dienstherr damit nicht zu Potte kommt . Wir werdendeshalb in der parlamentarischen Beratung noch einmalsehr genau hinsehen, wie viel Geld und welche organisa-torischen Verbesserungen vorgesehen sind, damit die not-wendige Normalausstattung bei den Leuten auch ankommt .Zweiter Punkt, der mir unter der Überschrift „Attrak-tivität“ sehr wichtig ist . Meine Gespräche mit Soldatin-nen und Soldaten mit Kindern – darunter übrigens vieleAlleinerziehende – ergeben ein ganz klares Bild: DieKinderbetreuung während der Dienstzeit ist für sehr vie-le Soldatenfamilien ein Riesenproblem und damit auchein Riesenanliegen . Als Familienvater weiß ich genau,wie wichtig eine zuverlässige Kita ist . Ich bin mir ganzsicher: Viele Soldatinnen und Soldaten werden auch un-bequeme Dienstzeiten gerne in Kauf nehmen, wenn siewissen, dass ihre Kinder gleichzeitig in guten Händensind . Deshalb liegen die Standorte richtig, an denen esStandortkitas gibt . Niemand versteht die Bedürfnisse vonSoldatenfamilien besser als Erzieherinnen und Erzieher,deren Arbeitsplatz in der Kaserne liegt . Der Auf- undAusbau von Standortkitas ist deshalb der richtige Weg .Die SPD-Fraktion wird ihr Augenmerk darauf richten,welche Mittel der Haushaltsentwurf ganz konkret für dieVerbesserung der Betreuungssituation vorsieht .Wir wollen einen Entwicklungsplan für die Kinderbe-treuung in Soldatenfamilien, der in absehbarer Zeit zu ei-ner bedarfsgerechten Versorgung mit Betreuungsplätzenin unmittelbarer Nähe zum Arbeitsplatz führt . Zumindestan allen größeren Standorten halte ich die Standortkitafür das beste Konzept . Wer sich selbst davon überzeugenmöchte, dem empfehle ich, die Julius-Leber-Kaserne hierin Berlin aufzusuchen und sich mal anzugucken, wie dasda umgesetzt wird .Meine Damen und Herren, die Zeit läuft mir davon .Wir haben viele Themen besprochen . Ich habe noch einesauf der Liste, aber das streiche ich jetzt, um Ihre Geduldnicht überzustrapazieren .
Wir besprechen ein anderes Mal, wie es mit dem Tren-nungsgeld und der Umzugskostenbeihilfe für Rückkeh-rer aus dem Ausland ist .Im Übrigen freue ich mich auf unsere Beratungen zumHaushalt 2016 und danke Ihnen allen für Ihre Aufmerk-samkeit auch noch für den letzten Redner in dieser Re-derunde .Danke schön .
Vielen Dank, auch für die Rücksichtnahme . – WeitereWortmeldungen zu diesem Einzelplan liegen mir nichtvor .Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bun-desministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeitund Entwicklung, Einzelplan 23.Können die Kolleginnen und Kollegen bitte zügig ihrePlätze einnehmen? Dann können wir mit den Beratungenbeginnen . –Als erster Redner in dieser Debatte hat der Bundesminis-ter für wirtschaftliche Zusammenarbeit und EntwicklungDr . Müller das Wort .
Dr. Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftlicheZusammenarbeit und Entwicklung:Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Jetzt ist die Stunde der Zusammenarbeit, um Kriege undKrisen zu verhindern und zu bewältigen . Das AuswärtigeAmt, das Verteidigungsministerium, die Verteidigungs-ministerin und ich als Entwicklungsminister arbeitengemeinsam erfolgreich an einem vernetzten Ansatz . Ent-wicklungspolitik ist Friedenspolitik .
Bis zur Linken wird dieser Satz akzeptiert .
Wir haben eben zu Recht den Dienst der Soldaten derBundeswehr gewürdigt . Zehntausende zivile Expertin-nen und Experten sind in 80 Ländern der Welt, speziellin Krisen- und Kriegsgebieten, im Einsatz . Dafür möchteich allen meinen Dank und meine Anerkennung ausspre-chen .
Die Entwicklungspolitik rückt vom Rand ins Zentrumdes politischen Geschehens – auch wenn mein Sitz irgend-wann einmal hinten an die Regierungsbank geklebt wurde .
Dr. Fritz Felgentreu
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Der Entwicklungsminister ist durch die Aufgaben, vordenen wir stehen, mitten drin . Wir brauchen eine Verstär-kung der Entwicklungspolitik zur Lösung der Probleme .Die dramatischen Flüchtlingsströme, die uns fordern underschüttern, haben nämlich Ursachen und Gründe . Ich un-terstütze alles, was diskutiert und auf den Weg gebrachtwird, von der Kommune bis zum Bund; aber nur innen-politisch zu reagieren, löst die Probleme in den Herkunfts-ländern nicht . Deshalb müssen wir weiter gehen und dieUrsachen der Probleme in den Herkunftsländern angehen .
Wir, aber auch die anderen Staaten Europas und die Welt-gemeinschaft sind gefordert, unserer Verantwortung fürEntwicklung, Stabilität und Sicherheit stärker als bishernachzukommen .Ich komme gerade vom Afrika-Forum, das wir zu-sammen mit der OECD ausrichten . Ich habe mich mitdem Friedensnobelpreisträger Kofi Annan ausführlichdarüber unterhalten, wie wir in Syrien, im Irak und inden afrikanischen Ländern die Ursachen dieser Fluchtbe-wegungen bekämpfen können . Als Entwicklungsministermöchte ich klar sagen: Das geht nur lokal, national undinternational . Das heißt, wir brauchen jetzt dringender alsje zuvor einen neuen Vorstoß der internationalen Staaten-gemeinschaft . Wir brauchen einen Vorstoß der UN, umden Krieg und das Morden in Syrien zu stoppen; auchdarüber habe ich mit Kofi Annan gesprochen.
Das sollten wir mit den Kolleginnen und Kollegen desAuswärtigen Ausschusses und des Verteidigungsaus-schusses besprechen .Wir brauchen wieder Strukturen und staatliche Insti-tutionen in Libyen . Das Format der Iran-Verhandlungenkönnte die Basis für einen neuen diplomatischen Verhand-lungsansatz sein . Millionen von Menschen, Familien inSyrien, im Irak und in den umliegenden Ländern, befindensich in einer dramatischen Situation: 12 Millionen Men-schen sind auf der Flucht, 500 000 sind in Deutschlandangekommen, 800 000 Flüchtlinge sind prognostiziert .Denn die Menschen sind Hunger, Tod, Elend, dem drohen-den Winter und unzureichender Versorgung ausgesetzt . Esfehlt an allem . Das kann so nicht bleiben .
Es kann und darf doch nicht sein, dass das Welternäh-rungsprogramm die Nahrungsmittelversorgung für Ba-bys im Libanon und im Nordirak jetzt kürzen muss . Dasmuss man sich einmal vorstellen: 100 000 Babys sind indiesen Ländern in den letzten zwei Jahren auf Zeltplanengeboren worden, und weil wir, die Weltgemeinschaft,nicht genügend Geld zur Verfügung stellen, muss dieNahrungsmittelversorgung auf 1 000 und weniger Kalo-rien pro Tag reduziert werden .
Das ist nicht die Lösung der Probleme . Da müssen dieMenschen doch zu uns kommen!
Europa mangelt es an Entschlusskraft . Ich habe schonvor einem Jahr ein Not- und Sofortprogramm mit einemVolumen von 10 Milliarden Euro und einen Sonderbe-auftragten der Europäischen Union für Flüchtlingsfragengefordert, der die Maßnahmen der EU koordiniert, aberauch für Europa als zivile Friedensmacht in diesen Län-dern Flagge zeigt .Jetzt können Tausende Menschenleben gerettet wer-den und Hunderttausende von der Flucht abgehaltenwerden . Wir dürfen uns nichts vormachen: Die Bildervon der Ankunft der Flüchtlinge in Deutschland – das istgroßartig, herzlichen Dank; das ist praktizierte Huma-nität! – werden in den Flüchtlingscamps millionenfachangeschaut . Sie sind ein Signal: Wenn sie uns hier, imNordirak, in Dohuk, in Mossul, in den verschiedenenStädten und Gebieten in der Türkei, alleinlassen, dannmüssen wir nach Deutschland, nach Europa aufbrechen,um unser Leben zu retten .Deshalb brauchen diese Aufnahmeländer verstärktunsere Hilfe . Ich habe dies schon vor zwei Jahren ge-sagt . Zwischenzeitlich haben wir, das BMZ, mit unserenOrganisationen – beispielsweise Welthungerhilfe undUNICEF, um zwei zu nennen – in nahezu 200 Hilfspro-jekten 1 Milliarde Euro eingesetzt . Wir haben zum Bei-spiel, um konkret zu werden, im Libanon Schulen für80 000 Kinder gebaut . Ich kenne die Situation in deut-schen Schulen, wo bei 25 Kindern in einer Klasse inZukunft 5 syrische Flüchtlingskinder mit unterrichtetwerden müssen . Im Libanon sitzen aber neben 25 liba-nesischen Kindern 25 syrische – halbe-halbe . In Jor-danien gibt es Städte mit 60 000 Einheimischen und60 000 Flüchtlingen .Wir sind aufgerufen, dort in Stabilität und in die Zu-kunft dieser Menschen zu investieren . Dank des Haus-haltsaufwuchses – dafür vielen herzlichen Dank – wer-den wir unsere Maßnahmen gezielt verdoppeln . NebenInvestitionen in die Infrastruktur werden wir mit einerAusbildungsinitiative einen neuen Schwerpunkt setzen .Zunächst sollen fünf neue Berufsbildungszentren entste-hen .Wir werden im BMZ auch Haushaltsumschichtungenvornehmen . Darüber werden wir mit den Fachpolitike-rinnen und Fachpolitikern diskutieren; das haben wir imÜbrigen auch im letzten Jahr gemacht . Das habe ich auchBrüssel vorgeschlagen: Nehmt die Siebenjahrespläneund konzentriert 5 oder 10 Prozent der Haushaltsmittelauf die aktuellen Herausforderungen . So ergäben sich 10oder 15 Milliarden Euro in Brüssel .Wir werden die erwähnte Umschichtung vornehmen,ohne unsere klassischen Aufgaben zu vernachlässigen .Mit den von der Koalition am Wochenende beschlos-senen 400 Millionen Euro werden wir einen weiterenSchritt unternehmen können, aber die Probleme werdenwir damit nicht lösen . Der Vorschlag ist, eine weitereKonzentration im BMZ vorzunehmen . Dabei können wirunsere klassischen Aufgaben aber nicht komplett ver-Bundesminister Dr. Gerd Müller
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nachlässigen . Wir konzentrieren unsere Mittel . Deshalbkönnen wir 1 Milliarde Euro für die Menschen in denKrisengebieten bereitstellen, für Unterkünfte, für Kinder,für Schulen, für Krankenhäuser und – das ist mir beson-ders wichtig – für Traumaarbeit . Ich kündige nicht nuran – ich stehe hier in Berlin, nicht in Brüssel –, sondernwir setzen auch um . Wir haben Traumazentren aufge-baut . Sie arbeiten bereits . Die Frauen und Mädchen, aberauch die jungen Soldatinnen und Soldaten müssen eineUnterstützung und eine Behandlung erhalten .Mit 1 Milliarde Euro in den Krisengebieten könnenwir mehr bewegen als mit 10 Milliarden Euro hier . Ichwill nicht beides gegeneinander ausspielen . Die Hilfehier ist notwendig; aber mit 1 000 Euro kann das Über-leben einer Flüchtlingsfamilie im jordanisch-syrischenGrenzgebiet ein Jahr lang gesichert werden, während da-für hier der 10-, 15- oder 20-fache Ansatz erforderlich ist .Die Menschen aus den Krisengebieten – auch das möch-te ich sagen – wollen eigentlich nicht hierherkommen .Sie müssen mit ihren Familien hierherkommen, aus Notund Elend heraus, um zu überleben . Sie würden, wenn esdenn möglich wäre, viel lieber vor Ort bleiben .Ich begrüße die Analyse und die Vorschläge von Kom-missionspräsident Juncker bezüglich eines Sonderpake-tes von 1 Milliarde Euro . Es hat Monate gedauert, unddas Geld fließt noch nicht in die Projekte. Jetzt wurden1,8 Milliarden Euro, vielleicht auch 1,85 Milliarden Eurofür Afrika angekündigt . Das ist ein richtiger Schritt .Das ist aber absolut keine ausreichende Antwort . Wirbrauchen ein Gesamtkonzept . Wir brauchen kurz-, mit-tel- und langfristige Maßnahmen, eine bessere Koordi-nierung, einen EU-Koordinator, und wir brauchen einenEU/UN-Vorschlag für den EU-Afrika-Gipfel . Natürlichmüssen wir auch die afrikanischen Staaten in die Ver-pflichtung nehmen. Ausbildung, Ausbildung, Ausbil-dung heißt die Devise für Afrika . Dies muss und wird derSchwerpunkt in den nächsten Jahren sein . Afrikas Jugendbraucht eine Perspektive, eine Lebensperspektive .Der afrikanische Kontinent – ich komme gerade tiefbeeindruckt von den Gesprächen beim Afrika-Forum zu-rück – wird sich bis 2050 bevölkerungsmäßig verdop-peln . Es werden 2 Milliarden Babys geboren, 2 Milliar-den Babys in den nächsten 30 bis 40 Jahren! Diese Kinderbrauchen später Arbeit, sie brauchen eine Zukunft, eineLebensperspektive . Ansonsten machen sie sich später aufüber das Mittelmeer nach Deutschland, nach Europa .Die Dynamik des afrikanischen Kontinents ist aucheine große Chance . Europa muss – dies ist auch ein kon-zeptioneller Vorschlag – dabei insbesondere den Blickauf die nordafrikanischen Staaten richten . Wir Europäersind nur einen Steinwurf über das Mittelmeer entfernt .Viele waren in Spanien und Gibraltar . Nur wenige Kilo-meter davon entfernt ist Marokko . Auch Kos und anderegriechische Inseln sind letztlich nur wenige Kilometervon Afrika entfernt . Wir brauchen einen neuen Vorstoß,den Mittelmeerraum als unseren politischen und wirt-schaftlichen Partner zu begreifen .
Wir brauchen eine neue EU-Afrika-Mittelmeerpartner-schaft . Diese Länder brauchen den Zugang zu europä-ischen Märkten . Sie brauchen deutsche, europäischeInvestoren . Dazu benötigen wir auch neue Instrumenteim steuerlichen Bereich, im Abschreibungsbereich, umInvestments oder Joint Ventures zu fördern . Diese Anrei-ze müssen wir entwickeln .Ich werde deshalb noch in diesem Jahr ein Zentrumfür Wirtschaft und Entwicklung im Haus der Wirtschafteröffnen, um wirtschaftliche Partnerschaften zu fördern .500 000 deutsche Unternehmen sind in der Welt enga-giert, davon nur 1 000 in Afrika . Das müssen wir ändern .Wir wollen mittelständische Betriebe, Kommunen, Kam-mern, Verbände insbesondere an die nordafrikanischenMärkte heranführen .
Das Entwicklungsjahr 2015 ist auch ein Gipfeljahr .Der G-7-Gipfel in Elmau war eine entwicklungspoliti-sche Zeitenwende mit einem Bekenntnis zu fairen Wert-schöpfungsketten . Liebe Claudia Roth, wir zwei hättenuns das ein Jahr vorher überhaupt nicht vorstellen kön-nen . Aber es kam, und diese Wende hat unsere Kanzlerinherbeigeführt . Elmau war ihr Erfolg, der Erfolg von Bun-deskanzlerin Angela Merkel . Wir haben ein Bekenntniszu fairen Wertschöpfungsketten . Wie wurde ich am An-fang kritisiert oder belächelt wegen unseres Textilbünd-nisses! Das ist eine Blaupause für den fairen Handel inder Welt – weg vom freien zum fairen Handel .
Es gibt die Perspektive eines carbonfreien Jahrhun-derts – carbonfreies Jahrhundert! – und die Vision einerWelt ohne Hunger . Diese Vision werden wir zur Realitätmachen. Ferner gibt es die Verpflichtung zur Stärkungder Rechte der Frauen .Nun stehen wir vor den Gipfeln in New York und in Pa-ris . Deutschland hat auch mit Blick auf den Klimagipfelin Paris mit seiner Nachhaltigkeitsagenda und mit derAnkündigung der Verdoppelung der Klimamittel vorge-legt . Warum sage ich das? Weil wir, das Entwicklungsmi-nisterium, das operative Klimaministerium sind . Wir set-zen die Klimaverpflichtungen der Bundesregierung um.Wenn vom Fraktionsvorsitzenden der SPD und vielenanderen gesagt wird, der Müller könne doch jetzt alles indie Bekämpfung von Fluchtursachen investieren, mussich sagen, dass das natürlich nicht geht . Wir müssen un-seren klassischen Aufgaben gerecht werden sowie mittel-und langfristige Ansätze weiterentwickeln . Dazu gehörtnatürlich auch die Umsetzung der Klimaverpflichtungen,die sich in unserem Haushalt abbilden .
Wir setzen dies um . Beispielsweise habe ich vor14 Tagen eine Vereinbarung in der Größenordnung von500 Millionen Euro zum Tropenwaldschutz in Brasiliengeschlossen . In 14 Tagen unterzeichne ich ein Abkom-men zum Ausbau der erneuerbaren Energien in Indien .Wir investieren in Waldschutz, in Aufforstung . Der Kli-Bundesminister Dr. Gerd Müller
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maschutz ist für mich neben der Ernährungssicherung dieÜberlebensfrage der Menschheit .Eine Welt ohne Hunger schaffen, Klima, Schöpfungund Umwelt bewahren, in Gesundheit und Ausbildunginvestieren – all dies schafft Zukunft für die Menschenin unseren Partnerländern . Wer Zukunft, Arbeit und Le-bensperspektive für sich sieht, der begibt sich nicht in dieHände von Schleppern . Das muss ich sagen, wenn ichdie jungen Leute hier oben auf der Tribüne sehe . Das istdie Botschaft .
Deshalb ist jeder in Entwicklungspolitik investier-te Euro eine Investition in Zukunft und Frieden . DerBMZ-Haushalt steigt um 14 Prozent, um nahezu 1 Milli-arde Euro . Dafür bin ich sehr dankbar . Das ist der höchsteAufwuchs der vergangenen Jahre oder Jahrzehnte .
Herzlichen Dank allen Kolleginnen und Kollegen!Notwendig aber ist, den Herausforderungen jetzt miteinem globalen Gesamtkonzept, national, europäisch, in-ternational, und einem Paradigmenwechsel zu begegnen,einem Konzept für einen fairen Welthandel, für eine neueRessourcenpartnerschaft und für eine Vervielfachungprivater Investitionen . Investitionen in Entwicklung si-chern Überleben, Frieden und Zukunft für unsere Kinderund den Planeten .Vielen Dank .
Vielen Dank . – Als nächster Redner hat Michael
Leutert von der Fraktion Die Linke das Wort .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrter Herr Minister! Ich könnte heute eigentlichexakt die gleiche Rede halten, die ich hier vor einem Jahrgehalten habe, als wir über den Haushalt 2015 beratenhaben . Seitdem hat sich nämlich nichts Fundamentalesgeändert . Wir stehen vor den gleichen Herausforderun-gen. Es sind die gleichen Konflikte, die gleichen Pro-bleme und damit auch identische Aufgaben für uns, nurmit einem einzigen Unterschied: Alles ist noch viel grö-ßer geworden . Schaut man sich jetzt die Dimension dergewaltigen Probleme an, dann weiß man auch: Dies istdurch ein Land allein nicht zu bewältigen und erst rechtnicht durch ein Ministerium allein .Wir haben Syrien heute mehrmals angesprochen:21 Millionen Einwohner, davon 12 Millionen Flüchtlin-ge. 4 Millionen davon befinden sich in den umliegendenLändern, in Jordanien, in der Türkei, im Libanon . DasNachbarland Irak ist instabil und wird ebenfalls von Ter-ror und Krieg beherrscht . Die Terrororganisation „Islami-scher Staat“ hält weiterhin große Landstriche in Syrienund im Irak unter seiner Kontrolle .Nun ist Erdogan so dumm, dass er ganz offen die Kon-frontation mit den Kurden im eigenen Land, aber auchin den Nachbarländern Syrien und Irak sucht und mili-tärisch gegen sie vorgeht . Dadurch besteht natürlich dieGefahr, dass der Flächenbrand, der ohnehin schon vor-handen ist, noch größer wird . Wir haben dazu allerdingsauch noch Waffen geliefert . Nach neuesten Informatio-nen ist Russland ganz klar an der Seite von Assad militä-risch engagiert .Wir sind also in dieser Region weiter als je zuvor da-von entfernt, Frieden zu haben . Krieg ist FluchtursacheNummer eins . Deshalb ist die Befriedung dieser RegionGrundvoraussetzung, um die sogenannte Flüchtlings-krise lösen zu können . Die Befriedung dieser Region istGrundvoraussetzung, damit sich wieder wirtschaftlicheEntwicklung entfalten kann . Die Befriedung dieser Re-gion ist auch Grundvoraussetzung dafür, dass wir wiedermit der eigentlichen Entwicklungszusammenarbeit be-ginnen können, also mit dem Kerngeschäft Ihres Minis-teriums . Wie gesagt, leider sind wir davon sehr weit ent-fernt . Wir müssen jetzt die Not der Flüchtlinge lindern,damit ihr Leben zumindest einigermaßen erträglich wird .Das können wir nicht nur tun, sondern das müssen wirtun. Das ist unsere humanitäre Pflicht.Herr Minister, ich weiß: Sie sind mit Herz und Ver-stand bei der Sache, und Sie sind auch überzeugend . Aberich verstehe nicht, warum wir angesichts der immensenHerausforderungen nicht endlich die notwendigen Mittelin die Hand nehmen, um effektiv und umfassend helfenzu können . Wann, liebe Kolleginnen und Kollegen, wennnicht jetzt wollen wir unserer internationalen Verpflich-tung nachkommen und 0,7 Prozent des BIP für die Ent-wicklungszusammenarbeit zur Verfügung stellen?
Der Winter steht vor der Tür, und die meisten Flücht-linge leben immer noch in Zelten . Selbst bei uns in Eu-ropa ist nicht überall vorgesorgt; ich erinnere nur an dieBilder, die uns aus Ungarn, Serbien oder Mazedonien er-reichen . Ich möchte einfach nicht – es gibt schon genugBilder von diesem Elend –, dass wir auch noch Bildervon erfrorenen Flüchtlingskindern sehen müssen . Ichhabe letztes Jahr darauf hingewiesen – ich tue es heutegern noch einmal –: Im Auswärtigen Amt stehen mittler-weile über 0,5 Milliarden Euro für die humanitäre Hilfezur Verfügung, in Ihrem Ministerium für die Folgehilfeallerdings nur 220 Millionen Euro . Dort muss nachge-bessert werden . Das passt so nicht zusammen .Eine Ihrer Sonderinitiativen heißt „Fluchtursachen be-kämpfen – Flüchtlinge reintegrieren“ . Dafür haben Sie110 Millionen Euro vorgesehen, aber global . Allein inAfghanistan gibt Deutschland jedes Jahr über 500 Mil-lionen Euro für den Wiederaufbau aus . Auch dort sinddie Ergebnisse eher ernüchternd . Das zeigt doch, dass dieMittel hinten und vorn nicht ausreichen werden .Klar ist natürlich, dass unsere finanziellen Möglich-keiten immer beschränkt sein werden . Deshalb müssenwir uns auf Schwerpunkte verständigen . Das wurde ver-schiedenartig versucht, etwa durch regionale Schwer-Bundesminister Dr. Gerd Müller
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punkte mit dem Konzept der Ankerländer oder derSchwerpunktländer . Sie haben es mit einer thematischenKonzentration in Form der Sonderinitiativen versucht .Ich glaube, man sollte beides miteinander kombinieren,damit man zu Synergieeffekten kommt, und man solltezuspitzen .Eine thematische Kernaufgabe – Sie haben sie ange-sprochen – ist derzeit natürlich die Flüchtlingshilfe . Indiesem Zusammenhang bilden Syrien und die an Syrienangrenzenden Länder den regionalen Schwerpunkt . Ichfinde, man sollte Prioritäten setzen, zuspitzen und sich inallererster Linie um die Familien mit Kindern kümmern .Wenn wir es nicht schaffen, den Kindern – trotz widrigs-ter Umstände – Bildung mit auf den Weg zu geben undihnen so wenigstens einen Hauch von Perspektive zuverschaffen, dann wird die nächste verlorene Generationheranwachsen .Ich meine nicht, Herr Minister – das hatten Sie ange-sprochen –, dass man die anderen Dinge nicht tun sollte .Wenn man in einem Flüchtlingslager hilft, muss zuerstdie Schule gebaut werden . Wenn die Schule gebaut ist,dann kann man auch die Straße bauen .
Sie selbst haben erwähnt, dass es in den syrischenFlüchtlingslagern mittlerweile circa 100 000 Neugebo-rene gibt . Liebe Kolleginnen und Kollegen, um dieseKinder müssen wir kämpfen; ich glaube, es lohnt sich .Ansonsten haben sie keine Chance, und wir stehen in derZukunft vor noch größeren Problemen .Wir Linken werden uns mit Vorschlägen, die in dieseRichtung weisen, in die Beratungen einbringen . Ich freuemich auf die Diskussion, die wir in den nächsten Wochendarüber führen werden .Vielen Dank .
Vielen Dank, Kollege Leutert . – Ich wünsche Ihnen,
liebe Kolleginnen und Kollegen, von meiner Seite aus
einen schönen, guten Nachmittag .
Wenn ich schon einmal das Mikro habe, wünsche ich
dem Minister im Namen der Entwicklungspolitiker und
-politikerinnen und der Haushälter, die für diesen Be-
reich zuständig sind, alles Gute zu seinem kugelrunden
Geburtstag .
Wir wünschen Ihnen viel Kraft, die Sie angesichts des-
sen, was in der Welt los ist, sicher gebrauchen können .
Ich begrüße den ehemaligen Vorsitzenden des Aus-
schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung, Thilo Hoppe, auf der Tribüne . Herzlich will-
kommen, lieber Thilo!
Jetzt kommen wir wieder zur Tagesordnung . Die
nächste Rednerin ist für die SPD Sonja Steffen .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Mi-nister, auch von den Haushaltspolitikern alles Gute zumrunden Geburtstag!Meine Damen und Herren! Liebe Gäste! Wenn mandie schwierigen Haushaltsdebatten der letzten Tage ver-folgt hat, stellt man fest: Es gibt einen Grund zur Freude .Es ist der folgende: Während die Entwicklungszusam-menarbeit in den letzten Jahren aus meiner Sicht docheher ein Schattendasein führte, ist sie in diesen Debattenzu einem überragend wichtigen Thema geworden . Dashat mich sehr gefreut . Es freut mich auch, dass wir heuteendlich einmal zu halbwegs prominenter Zeit über diesenEinzelplan reden .
Bei uns im Bundestag, aber auch innerhalb der gesam-ten Bevölkerung ist inzwischen deutlich geworden, dassdie Entwicklungszusammenarbeit in der Zukunft mitüber das Schicksal der gesamten Menschheit entscheidenwird . Es gibt eine aktuelle Studie von Emnid – sie ist ganzneu –, die besagt, dass sich 81 Prozent der Deutschen –das sind vier von fünf Deutschen – für die ODA-Quoteaussprechen . 81 Prozent der Deutschen wollen mehr fürdie Bekämpfung der Armut und für Forschung und Ent-wicklung in Bezug auf sogenannte Armutskrankheitenausgeben, und, Herr Minister, rund jeder Zweite würdeFairtrade-Produkte kaufen, und zwar nicht nur Schokola-de und Kaffee, sondern auch Textilien .Für das kommende Haushaltsjahr haben wir in unse-rem Einzelplan – das ist schon gesagt worden – 880 Mil-lionen Euro mehr als dieses Jahr . Das ist tatsächlich einebeispiellose Entwicklung . In den letzten zehn Jahren istunser Einzelplan um fast 100 Prozent gewachsen . 2005waren es circa 3,8 Milliarden Euro, jetzt sind wir bei7,4 Milliarden Euro . Der große Sprung ist sehr erfreulich .Auf der anderen Seite müssen wir aber auch sehen, dasssich beispielsweise die Zahl der Flüchtlinge in diesemZeitraum um 20 Millionen Menschen erhöht hat .Wir müssen uns auch der Frage stellen, ob die Ent-wicklungszusammenarbeit in der Vergangenheit mög-licherweise versagt hat . Diese Frage kann jedoch nichtmit einem klaren Ja oder Nein beantwortet werden . Esgibt beispielsweise eine erfreuliche Zahl: Die Zahl derärmsten Menschen – das sind diejenigen, die weniger als1,25 Dollar täglich zur Verfügung haben – hat sich welt-weit in den letzten 15 Jahren halbiert . An dieser Stellekönnen wir also sagen: Wir haben das Millenniumsziel,das wir uns gesetzt hatten, erreicht .Wir müssen daneben auch bedenken, dass es Fluchtund Migration schon immer gab – aus unterschiedlichenGründen . Die Menschen wurden vertrieben, oder sie ha-ben sich selbst auf den Weg gemacht .Michael Leutert
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Ich habe mich heute Morgen sehr gefreut, als Kom-missionspräsident Juncker in seiner Grundsatzrede fol-genden Satz gesagt hat, den ich für sehr wichtig halte:Wir alle sind Flüchtlinge . – Das galt bis 1989 übrigensauch für viele Osteuropäer . Es gab viele Flüchtlinge ausOsteuropa, und manchmal muss man glauben, dass dieosteuropäischen Länder derzeit von einer gewissen Am-nesie befallen sind, was sehr traurig ist .Konflikte sind also die Hauptursache für Flucht undVertreibung . Nur ein Bruchteil der Menschen macht sichaus rein ökonomischen Interessen auf den Weg .55 Prozent der Flüchtlinge – das wurde schon gesagt –kommen aus fünf Kriegs- oder Krisenstaaten . Dazu ge-hören Afghanistan, Somalia, der Irak, Syrien und derSudan . Wir müssen uns fragen: Wo kann die Entwick-lungszusammenarbeit ansetzen, um Fluchtursachen wir-kungsvoll entgegenzutreten? Müssen wir vielleicht ande-re Prioritäten setzen?Wichtig ist, dass wir den Aufwuchs der Mittel, den wirjetzt zur Verfügung haben, diese 880 Millionen Euro, tat-sächlich wirkungsvoll einsetzen . Es darf nicht sein, dasswir nach dem Gießkannenprinzip vorgehen und jedenTitel – oder auch jeden zweiten – mit etwas mehr Geldausstatten . Das geht so nicht . Wir brauchen einen kon-zentrierten Ansatz und einen Fokus .
Auch ich bin der Meinung, dass wir diesen Fokus imkommenden Haushaltsjahr auf die Fluchtursachen rich-ten müssen .Herr Minister, Sie haben ganz recht: Wir dürfen darü-ber unsere anderen Aufgaben natürlich nicht vergessen .Wir haben in dieser besonderen Situation jetzt aber dieMöglichkeit für besondere Maßnahmen .Mein Kollege Kahrs hat gestern schon den Vorschlaggemacht, 560 Millionen Euro der 880 Millionen Euro –um diesen Betrag wurde die ursprüngliche Finanzpla-nung erhöht – für die Bekämpfung der Fluchtursacheneinzusetzen . Ich kann mich ihm nur anschließen .
Die Frage, die wir uns natürlich auch noch stellenmüssen, ist: Wo können diese Mittel dann eingesetzt wer-den? Ich mache dazu einmal drei Vorschläge:Der erste Vorschlag betrifft präventive Aufgaben . Wirmüssen die politische Beratung vor Ort stärken und dafürsorgen, dass Bürgerkriege, Terrorismus und Korruptionschon an Ort und Stelle bekämpft werden . Dafür habenwir hier wirklich sehr gute Institutionen: unsere politi-schen Stiftungen, die Kirchen, die privaten Träger undden Zivilen Friedensdienst . Wir müssen aber auch Insti-tutionen wie die Deutsche Welle stärker unterstützen,weil sie vor Ort sehr wichtige Arbeit leisten können .
Ein zweites Handlungsfeld – das ist auch schon vomMinister angesprochen worden –: Wir müssen gezieltin Gesundheit, Bildung und Landwirtschaft investieren .Das Thema Gesundheit ist mir an dieser Stelle besonderswichtig . Es geht um ganz wichtige Fonds wie GFATMund GAVI . Ich freue mich, dass GAVI in dem Haushalt2016 mehr Geld erhält . Ich meine, wir müssen auch beiGFATM noch einmal nachdenken, ob wir hier nicht nochetwas drauflegen wollen.
Es geht darum, die Erforschung von Armutskrankhei-ten zu unterstützen . Es kann nicht sein, dass wir dem-nächst wieder von einer Krankheit wie Ebola überraschtwerden und noch nicht einmal Impfstoffe zur Verfügunghaben, um vorbeugend tätig zu werden .Es ist ganz wichtig, dass wir die gesundheitliche Ver-sorgung in den Flüchtlingscamps vor Ort und in den An-rainerstaaten besser unterstützen . Ich weiß nicht, ob esbekannt ist: Die Krankheit Kinderlähmung, die wir mit-hilfe unserer Impfallianzen schon fast ausgerottet hatten,ist wieder ausgebrochen . In der Ukraine sind zwei neueFälle von Kinderlähmung aufgetreten . Das liegt an denwidrigen Umständen in den Flüchtlingslagern . Da müs-sen wir unbedingt ran .
Zum Thema Bildung, Herr Minister, will ich nur nochFolgendes sagen: Es reicht nicht, nur Schulen zu bauen .Es ist zwar toll, wenn wir das machen . Aber es kann nichtsein, dass 90 Kinder in einer Klasse von einem Lehrerunterrichtet werden . Diese Klasse ist am Anfang voll undim Nullkommanichts wieder leer . Wir müssen auch dieLehrerausbildung fördern . Deshalb freue ich mich auchsehr, dass Sie vorhin die Ausbildungszentren angespro-chen haben .Nun bin ich, wie ich sehe, schon fast am Ende meinerRedezeit angelangt .Mein dritter und letzter Punkt . Entwicklungsländer,die Flüchtlinge in ihrer Region aufnehmen, müssen wirunbedingt stärker unterstützen .Ich meine, wir haben in den kommenden Wochennoch viel zu tun . Lassen Sie uns einen besonderen Fo-kus auf die Mittel legen, die uns zusätzlich zur Verfügungstehen . Ich freue mich auf die Beratungen .Vielen Dank .
Vielen Dank, Kollegin Steffen . – Nächste Rednerin:
Anja Hajduk für Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ja, es ist richtig: Dieser Haushaltsplan im Be-reich Entwicklungszusammenarbeit steigt um einen er-heblichen Anteil – es ist ein zweistelliger Prozentsatz –,nämlich von 6,5 Milliarden Euro auf 7,4 Milliarden Euro .Herr Minister, das ist erst einmal eine frohe Botschaft .
Sonja Steffen
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Aber man muss auch ganz nüchtern sagen: Das ist ab-solut notwendig . Ihr Etat hat einen Anteil von 2,2 Prozentam Gesamthaushalt . Ich nehme einmal – ganz zufällig –einen anderen Etat zum Vergleich: Der Etat für Verteidi-gung hat einen Anteil von 11 Prozent am Gesamthaus-halt . Wir leben in einem Zeitalter, in dem internationalniemand infrage stellt, dass das eine Epoche ist, in derwir das Ausmaß von globaler Flucht erleben – mit 60, 70oder 80 Millionen Menschen auf der Flucht . Diese Zahlsteigt in Zukunft vielleicht sogar noch an . Vor diesemHintergrund ist es schlicht eine moralische Pflicht undauch vernünftig, in den eigenen Haushalten völlig neueAkzentsetzungen vorzunehmen .
Da ist ein Anteil von 2,2 Prozent am Gesamtetat dochnicht genug .Deswegen sage ich Ihnen, Herr Minister: Die Erhö-hung des Etats für das Jahr 2016 ist begrüßenswert; aberumso bedauerlicher ist es, dass die Langfristentwicklungstagniert . Das passt nicht zusammen . Sie haben mir jagerade applaudiert aus den Koalitionsreihen, dass daswohl richtig ist . Aber man muss sagen, dass es nicht inOrdnung war, Herr Minister, als Sie im Mai dieses Jahresmit den EU-Kollegen eine Vereinbarung getroffen haben,die Erreichung des 0,7-Prozent-Ziels erst für 2030 anzu-streben . Sie verantworten eine Finanzplanung, in der IhrEtat, also Geld für die Entwicklungszusammenarbeit, miteinem Anteil von 0,4 Prozent am Bruttoinlandsproduktstagniert . Das passt nicht zusammen . Das ist nicht genug,und da muss die Regierung nachbessern .
Vor dem Gipfel in New York war dieses fehlende Signaleine Enttäuschung für die internationale Gemeinschaft .Da reicht der Hinweis auf den Gipfel in Elmau nicht aus .Es wird noch zwei Gipfel geben . Ich kann nicht erkennen,dass Deutschland seine Verantwortung so wahrnimmt,dass international das Gefühl aufkommt: Mensch, dieziehen uns wirklich nach vorne . – Nein, das Gegenteil istder Fall: Enttäuschung .
Ich will nicht sagen, dass international nicht auch an-erkannt wird, was Deutschland leistet; wir brauchen abereine andere Langfristplanung . Wir werden von grünerSeite mit Blick auf eine wirklich integrierte Betrachtung,was den Einsatz von ODA-Mitteln für klassische Ent-wicklungszusammenarbeit und für den internationalenKlimaschutz angeht, entsprechende Vorschläge währenddieser Haushaltsverhandlungen vorlegen .Ich möchte noch einen anderen Punkt ansprechen, beidem ich glaube, dass wir wirklich auf einem falschen Wegsind. Sie, Herr Minister, sollten darauf Einfluss nehmen.Darüber müssen Sie sich im Kabinett vielleicht richtigstreiten . Es geht darum, dass wir in einem Punkt, der inAddis Abeba als Ziel angestrebt wurde, einen wirklichgroßen Schritt weiterkommen, nämlich bei der Bekämp-fung der Steuervermeidung in Entwicklungsländern . Wirkönnen nicht immer nur über ODA-Mittel reden . Wirmüssen auch ernst nehmen, dass den Entwicklungslän-dern jährlich bis zu 1 Billion US-Dollar an finanziellenRessourcen durch illegale Kapitalabflüsse und auchdurch legale Steuervermeidung internationaler Konzerneverloren gehen . Allein auf Afrika bezogen, sind das 50bis 60 Milliarden US-Dollar .Sie haben gerade über das Thema Fluchtursachengesprochen . Wenn die reichen Länder des Westens kei-ne internationale Steuerpolitik ermöglichen, die dieseteilweise auch legalen Steuergestaltungsmöglichkeitenverhindert, dann fehlt uns ein ganz wesentlicher Faktorbei der Fluchtursachenbekämpfung . Und da müssen wirheran .
Sie haben im Juli dieses Jahres eigentlich das Gegen-teil getan . Einerseits hat die Bundesregierung eine Initi-ative – die Addis Tax Initiative – ins Leben gerufen, wasrichtig ist . Diese konzentriert sich darauf, die Steuerbasisder Entwicklungs- und Schwellenländer in Augenscheinzu nehmen . Gleichzeitig haben Sie aber leider von die-sem Ziel abgelenkt, indem Sie nicht zugelassen haben,dass die internationale Gemeinschaft an die ursprüngli-che Forderung nach einer Gesamtbesteuerung der akti-ven Konzerne herangegangen ist .Insofern kann ich nur sagen: Wir sind enttäuscht, dasssich Deutschland in Addis Abeba dagegengestellt hat, dieVereinten Nationen bei der Diskussion um Reformen derinternationalen Steuerpolitik mit einzubinden . Das musskorrigiert werden; denn das untergräbt unsere Glaubwür-digkeit, wenn es um die Frage geht, ob wir an dieses The-ma wirklich herangehen wollen .
Herr Minister, wir sind bei Ihnen, wenn die Mittel inIhrem Etat – das wird auch aus der SPD heraus vorge-schlagen – stärker auf Fluchtursachen konzentriert wer-den . Wir müssen aber aufpassen, dass es keine Kanni-balisierung zulasten der besonders gering entwickeltenLänder gibt . Deren Anteil an der Hilfe – da sind wir uns,glaube ich, eigentlich auch einig – muss gesteigert wer-den . Insofern muss ich Sie bitten, an der Stelle auch vor-sichtig vorzugehen . Es kann außerdem nicht sein, dassdie im Rahmen des Welternährungsprogramms gewährteUnterstützung der syrischen Flüchtlinge im Libanon undin Jordanien im Juni 2015 wegen knapper Finanzen ein-gestellt werden musste .
Ich komme zu meinem allerletzten Punkt, wo wir, HerrMinister, Ihnen nicht folgen . Sie haben meiner Heimat-stadt Hamburg einen Besuch abgestattet und dort einenVorschlag zu Rüstungsexporten gemacht . Sie haben dannaber auch noch gesagt, dass Rüstungsausgaben an eineForderung nach einer Friedensdividende gekoppelt wer-den sollen . Dazu muss ich Ihnen klar sagen: Wir werdenAnja Hajduk
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Ihnen da nicht folgen . Wir wollen keine Friedensdividen-de bei Rüstungsausgaben, mit der man dann diesen auchnoch Freibriefe erteilt . Nehmen Sie bitte davon Abstand,und schalten Sie in den von mir gerade vorgetragenenPunkten um . Dann kämen wir einen erheblichen Schrittvoran .Schönen Dank .
Vielen Dank, Kollegin Hajduk . – Nächste Rednerin ist
Dagmar Wöhrl für die CDU/CSU-Fraktion .
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Wir wissen, die Haushaltsdebatte, die diese Wocheläuft, ist hauptsächlich von einem Thema beherrscht . Unsallen sind die schrecklichen Bilder von im Mittelmeerertrunkenen Menschen vor Augen – inzwischen sind esüber 2 600 –, von Menschen, die in Europa in Lastwagenerstickt sind, Flüchtlinge, die mit ihren Familien versu-chen, an der ungarischen Grenze Stacheldrahtzäune zuüberwinden .Ein Drittel davon sind Kinder und Jugendliche .Es sind Bilder, die uns allen nicht mehr aus dem Kopfgehen . Vielen von uns standen die Tränen in den Augen,als wir das Bild von Aylan gesehen haben . Aber es sindauch Bilder, die uns zum Handeln zwingen und die unssagen: Wir müssen umdenken . Wir müssen in diesemZusammenhang wieder verstärkt das Heft in die Handnehmen .Wir haben gehört, dass über 60 Millionen Menschenauf der Flucht sind, darunter 38 Millionen Binnenflücht-linge . 86 Prozent der Menschen, die aus ihrem Heimat-land fliehen, leben in Entwicklungsländern. Das heißt,jeder 122 . Mensch auf der Welt ist auf der Flucht . Hiersind auch wir gefordert, und zwar in vielfältiger Art undWeise . Gefordert, dass wir verhindern müssen, dass esin den Ländern, in die die Flüchtlinge vor allem flie-hen – wie Jordanien oder den Libanon, wo inzwischen25 Prozent der Bevölkerung Flüchtlinge sind –, zu einerDestabilisierung kommt .Ich bin froh, dass wir auch schon in der Vergangenheitmit 170 verschiedenen Projekten im Rahmen der Syri-en-Krise aktiv gewesen sind . Ich möchte nicht wissen,wo wir heute stünden, wenn wir nicht in der Vergangen-heit schon so aktiv unsere Entwicklungszusammenarbeitgestaltet hätten .
Deswegen auch vielen herzlichen Dank an die vielen, dieauch in der Vergangenheit mit aktiv gewesen sind! Ichbin froh, dass wir jetzt durch das Aufstocken des Etatsdie Möglichkeit haben, in diesem Bereich noch stärkeraktiv zu werden .Wir leben in einer Zeit zunehmender Gewalt . Krisenund Konflikte spitzen sich immer mehr zu. Es gibt im-mer mehr Vertreibung durch Terrorismus und ethnischeProbleme, und vor allem auch immer mehr bittere Ar-mut und Hunger, die die Menschen fliehen lassen. DasFlüchtlingsthema hat also eine neue Dimension erreicht .Ich bin froh, dass wir die drei Sonderinitiativen haben,die von unserem Minister auf den Weg gebracht wordensind, nämlich „EineWelt ohne Hunger“, „Fluchtursachenbekämpfen – Flüchtlinge reintegrieren“ und „Stabilisie-rung und Entwicklung in Nordafrika und Nahost“, die esschon vorher gab, und dass wir die Mittel von 200 Milli-onen Euro auf 400 Millionen Euro verdoppeln konnten .Vielen Dank auch an die Haushälter über die Fraktions-grenzen hinweg! Aber wir wissen, es wirkt immer alleswie ein Tropfen auf den heißen Stein . Wir würden uns indiesem Rahmen natürlich mehr wünschen .Fluchtursachen bekämpfen: Das ist zurzeit in al-ler Munde . Aber was sind Fluchtursachen? Ich habe esschon angesprochen: Wie würden wir dastehen, wennwir in diesem Zusammenhang bisher nicht aktiv gewe-sen wären?Für uns ist es wichtig, dass wir im Rahmen unsererEntwicklungszusammenarbeit es schaffen, Lebenspers-pektiven in den Entwicklungsländern bzw . in den krisen-geschüttelten Ländern zu verbessern . Das sind Länder,die eine sehr junge Bevölkerung haben . In Afrika lebenjetzt 1,2 Milliarden Menschen . 2100 soll Afrika 4,4 Mil-liarden Einwohner haben . Das ist fast das Vierfache . Über50 Prozent sind junge Leute, die eine Perspektive brau-chen . Das sind junge Leute, die in ihrer Heimat bleibenwollen . Es ist schließlich nicht so, dass sie ihre Heimatgerne verlassen . Sie möchten zu Hause bei ihrer Familiebleiben: bei ihrer Schwester, bei ihrem Bruder oder beiihren Kindern . Wir müssen ihnen eine Chance geben . Siebrauchen unsere Unterstützung, damit sie in ihrem Hei-matland und in ihrem Heimatort etwas bewegen können .Sonst werden sich viele von ihnen in Bewegung setzen .Ich hoffe, dass wir auf dem Gipfeltreffen in Maltaim Herbst geschlossen mit einer Stimme sprechen . DieEuropäische Union ist eine Macht, aber nur dann, wennsie auch zukünftig mit einer Stimme spricht . Die Staatenmüssen umdenken . Sie müssen mehr gemeinsam agierenund auch einmal gegenüber den Regierenden in den af-rikanischen Ländern mit der Faust auf den Tisch hauen,nach dem Motto „So geht es nicht weiter“ . Sie müssenwissen, dass sie in die Pflicht genommen werden, siemüssen wissen, dass sie selbst den Exodus der Einwoh-ner ihrer Länder verhindern müssen und dass sie aktiversein müssen als bisher .
Nichtsdestoweniger ist es für uns wichtig, auch wei-terhin für die Ernährungssicherung zu sorgen, was wirauch schon in der Vergangenheit gemacht haben: durchländliche Entwicklung und Aufklärung der Frauen, damitsie ihre Kinder ernähren können, und durch viele andereMaßnahmen mehr .Bildung und Beschäftigungsförderung sind genausowichtige Themen wie die Rückkehr von Flüchtlingen .Anja Hajduk
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Gesundheitszentren, die vernichtet wurden, müssen wie-der aufgebaut werden . Des Weiteren steht die Förderungvon Rechtsstaatlichkeit und Demokratie im Vordergrund .In diesem Zusammenhang möchte ich mich besondersbei unseren politischen Stiftungen bedanken, die hierhervorragende Arbeit leisten . Ich bin daher froh, dass esmöglich war, den Etatansatz in diesem Bereich zu erhö-hen .
Wichtig ist für uns, in Zukunft mithilfe präventiverAnsätze noch mehr dafür zu sorgen, dass Konflikte erstgar nicht zustande kommen; das ist unsere primäre Auf-gabe . Wir dürfen nicht erst dann aktiv werden, wenn dasKind schon in den Brunnen gefallen ist . Vielmehr müs-sen wir zukünftig noch mehr Präventionsmaßnahmen er-greifen . Dass wir uns um die Ausbildung von Richternund kommunalen Verwaltungsbeamten kümmern . Dasswir funktionierende Justizsysteme in den betreffendenLändern aufbauen, damit die Menschen Gerechtigkeiteinfordern können und so nicht mehr zur Flucht gezwun-gen sind . In den betreffenden Ländern müssen freie undpluralistische Medienlandschaften entstehen, damit kor-rupte politische Führungen kontrolliert werden können .Wir müssen Maßnahmen zu Versöhnungsprozessen er-greifen, um Konflikte zwischen verfeindeten Gruppenund Ethnien zu beseitigen .Ich möchte noch ein Wort zum Westbalkan sagen . Wirwissen alle, dass es für die Flucht der Migranten vomWestbalkan andere Ursachen gibt als für die Flucht derMenschen aus Syrien oder Eritrea, wo eine Militärdikta-tur herrscht, oder aus Nigeria, wo Boko Haram sein Un-wesen treibt . Aber wir müssen dafür sorgen, dass auchdie Menschen vom Westbalkan eine wirtschaftliche undsoziale Entwicklung erfahren und eine Zukunft haben,und zwar unter klaren Bedingungen . Wenn man einmalgesehen hat, unter welchen Bedingungen die Roma aufdem Westbalkan leben, dann weiß man, dass das keinLeben ist . Das ist menschenunwürdig . Man glaubt, imschlimmsten Entwicklungsland in Afrika zu sein . DieRoma haben keinen Zugang zu Arbeit und Gesundheits-systemen, teilweise keinen Zugang zu Schulen . Ange-sichts dessen frage ich mich, was aus der EU-Konven-tion geworden und wohin das Geld geflossen ist, das diebetreffenden Länder für die Roma bekommen haben . Ichglaube, in diesem Zusammenhang müssen wir den Fin-ger noch viel stärker auf die Wunde legen .
Ich bin dem Minister dankbar, dass er mit der GIZdas DIMAK im Kosovo geöffnet hat . Das ist eine sehrgute Einrichtung, zu der die Menschen vor Ort hingehenund von der sie sich Hilfe und Beratung erbeten können .Für die Verbesserung ihrer beruflichen Chancen in ihremLand . Dort werden ihnen aber auch legale Möglichkei-ten der Arbeitsvermittlung nach Deutschland aufgezeigt .Ich würde mich freuen, wenn wir auch in Albanien undanderen Ländern des Westbalkans nach Abschluss der Pi-lotphase dieses Projekt installieren könnten .Europa sollte – ich sage absichtlich: sollte – beimFlüchtlingsthema eine Rolle spielen . Als die Euro-Kriseakut wurde, wurde ein Gipfel nach dem anderen – fast imTagesrhythmus – einberufen . Aber wo sind den jetzt dieGipfel und Zusammenkünfte im Tagesrhythmus, wennes um Flüchtlinge geht? Europa muss beweisen, dass esin der Lage ist, nicht nur von Werten zu reden, sondernauch den Schutz von Flüchtlingen als gemeinsamen Wertanzuerkennen .
Europa hat den Friedensnobelpreis bekommen . Es mussjetzt aber beweisen, dass es diesen Friedensnobelpreistatsächlich verdient hat . Europa muss hier langsam in diePuschen kommen .
Ich bedanke mich ganz herzlich bei unserem Minister,der das Ministerium sehr gut aufgestellt hat . Er ist au-thentisch und ein Vordenker, der erkannt hat, dass seinHaus das Zukunftsministerium ist und noch mehr imFokus der öffentlichen Wahrnehmung stehen wird . Wir,die wir im exklusiven Wohlstand leben, sitzen in einemBoot und haben gemeinsam Verantwortung . Ich möch-te in diesem Zusammenhang auch das Auswärtige Amteinbeziehen, das sich in vielen Bereichen in die richtigeRichtung neu aufgestellt hat . Vielleicht schaffen wir es,die Kräfte noch mehr zu bündeln und insbesondere beider Verzahnung von humanitärer Hilfe und Übergangs-hilfe noch besser zusammenzuarbeiten . Ich glaube, daswäre in diesem Zusammenhang sehr gut .Wir alle sind gefragt, ob es die Industrieländer sind, obes die Schwellenländer sind . Aber vor allem müssen hierdie Entwicklungsländer selbst aktiv werden . Wir habenunterschiedliche Verantwortlichkeiten entlang der jewei-ligen Leistungsfähigkeit . Das ist ganz klar; das wissenwir alle . Entweder sind wir bereit, unseren Wohlstandmit anderen zu teilen, oder wir teilen mit anderen derenSchicksal .In diesem Sinne: Vielen Dank für die Aufmerksam-keit .
Vielen Dank, Dagmar Wöhrl . – Nächste Rednerin:
Heike Hänsel für die Linke .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Entwicklungspolitik ist ja jetzt plötzlich in allerMunde . In jedem Beitrag heute kam irgendwie das The-ma Entwicklungspolitik vor . Auch die Kanzlerin hat anprominenter Stelle im Zusammenhang mit den Fluchtur-sachen die Entwicklungszusammenarbeit genannt . Mankann sich also schon fast nicht mehr retten, wenn mannicht wahrnehmen möchte, dass der Fokus auf die Ent-wicklungszusammenarbeit gerichtet wird .Dagmar G. Wöhrl
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Ich möchte gleich dazusagen und auch warnen: DieEntwicklungszusammenarbeit ist zwar ein wichtigesElement, aber sie kann nicht der Reparaturdienst für eineabsolut verfehlte Politik sein .
Wenn zum Beispiel einem afrikanischen Kleinbauern inÄthiopien das Land genommen wird, wenn er vertriebenwird, weil ein europäischer Konzern dort Palmöl an-bauen will, dann nützt es ihm nichts, wenn er von derdeutschen Entwicklungszusammenarbeit einen Traktorbekommt . Deshalb müssen wir an die Ursachen dieserverfehlten Politik herangehen,
und wir dürfen nicht annehmen, wir könnten durch Pro-jekte diese Strukturen grundsätzlich ändern .Ich möchte auf das verweisen, was ich auf dem Trans-parent einer Flüchtlingsinitiative gelesen habe . DieseInitiative hat im August vor dem Sitz von Rüstungskon-zernen in Baden-Württemberg, genauer: am Bodensee,demonstriert . Auf diesem Transparent stand: „Wer Inst-rumente der Gewalt produziert oder die Wirtschaft einesLandes ausbeutet, erntet Flüchtlinge.“ Ich finde, man hates damit auf den Punkt gebracht .
Deshalb kann es bei den Rüstungsexporten in alle Weltkein Weiter-so geben; ich habe heute mehrfach zu die-sem Thema nachgefragt . Es kann kein Weiter-so bei derBeteiligung an Militärinterventionen der NATO geben .Wenn wir uns Länder wie Irak, Afghanistan, Libyen an-schauen, dann stellen wir fest: Das sind zerschlageneLänder . Auch eine Friedenslösung in Syrien wird leiderschon sehr lange vor allem von den USA verhindert, weilsie keine Beteiligung des Irans an solch einer Initiativewollten .
Vielleicht tut sich für eine Friedenslösung ein neues Zeit-fenster auf . Wir müssen schauen, was passiert .Es kann auch bei der Rohstoffausbeutung kein Wei-ter-so geben . Wie viele Länder auf dem afrikanischenKontinent haben Rohstoffkonflikte und führen Rohstoff-kriege! Kongo, Mali, Zentralafrikanische Republik – esgibt so viele Rohstoffkriege . Wenn wir darauf nicht wirk-lich Antworten geben und nicht unsere Politik ändern,dann bleibt es bei schönen Worten hier, und es ändert sichnichts an der Bekämpfung von Fluchtursachen .Das betrifft auch die Nahrungsmittelspekulation . Eskann doch nicht wahr sein, dass sich nach wie vor zumBeispiel die Deutsche Bank eine goldene Nase an densteigenden Nahrungsmittelpreisen verdient, die in ande-ren Ländern zu Hunger und Elend führen .
Nahrungsmittelspekulation muss verboten werden; sie istverbrecherisch . Das müssen wir so auch benennen .Die Weltbank, Herr Minister Müller, wird dafür ver-antwortlich gemacht, dass sie mit ihrer Politik in denletzten Jahren zur Vertreibung von insgesamt 3,4 Millio-nen Menschen beigetragen hat . Ein Vertreter der Bundes-regierung sitzt im Executive Board der Weltbank . Dortmuss er doch darauf reagieren . Wir haben dazu von Ihnenbis heute nichts gehört, was Sie da eigentlich anders ma-chen wollen . Das betrifft auch die Freihandelsabkommenund die Freihandelspolitik . Ich habe von Ihnen gehört –das fand ich sehr gut; anscheinend haben Sie unserenReden oft zugehört –: Fairer Handel statt Freihandel . –Bravo, sage ich nur .
Wo ist denn dann, bitte schön, Ihr Protest gegen TTIP,CETA, TiSA, gegen sämtliche Freihandelsabkommenmit Afrika und Lateinamerika? Diese Abkommen bewir-ken doch das genaue Gegenteil .Wir müssen unser Wirtschaftssystem und auch die Fi-nanzstruktur, die wir nach wie vor stützen, grundsätzlichinfrage stellen . Das wurde vorhin auch von der Kolleginvon den Grünen bereits angesprochen . Ich möchte dazunoch eine Zahl nennen . Es wird weltweit doppelt so vielGeld aus dem Süden Richtung Norden abgezogen, wiean Entwicklungsgeldern aus dem Norden in den Südenfließt. Das heißt, auf 1 Dollar in der Entwicklungszu-sammenarbeit kommen 2 Dollar an legalen und illegalenGeldströmen, die wieder in den Norden zurückfließen.Wenn wir an diesen Strukturen nicht grundsätzlich etwasändern, dann brauchen wir nicht vom Bekämpfen vonFluchtursachen zu sprechen .
Hier haben Sie, Herr Müller, leider die völlig falscheEntscheidung getroffen . Dass Sie sich der Initiativeder Länder des Südens, die internationale Steuerpolitikendlich bei den UN anzusiedeln, verweigert haben, das,muss ich sagen, spricht wirklich nicht für Sie als Ent-wicklungsminister .
Was gibt es jetzt an konkreten Vorstellungen der Bundes-regierung? Ich habe dazu nicht viel gehört . Ich habe heutenur einen ganz abstrusen Vorschlag gelesen . Er kommt vonIhren Kollegen der CDU/CSU-Fraktion, von der Frau Weissund dem Herrn Strobl . Diese fordern, dass Entwicklungs-ländern, die keine Flüchtlinge zurücknehmen, die Entwick-lungsgelder gestrichen werden sollen . Da frage ich michdoch, Herr Müller: Unterstützen Sie tatsächlich einen derartabstrusen Vorschlag, eine solche Forderung, die Ursacheund Wirkung vertauscht und die die ganze Verantwortungjetzt den Ländern des Südens zuschiebt?Wer ist denn verantwortlich zum Beispiel für Kli-maflüchtlinge, für den Klimawandel? Wer ist denn ver-antwortlich für alle diese Vertreibungen, die in den Län-dern des Südens stattfinden? Da können Sie doch nichtallen Ernstes jetzt auch noch anfangen, eine Politik derErpressung gegenüber den Ländern des Südens anzudro-hen . Es ist wirklich, muss ich sagen, unanständig, wasSie hier vorschlagen .
Heike Hänsel
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Sie schlagen auch noch vor, Flüchtlinge militärisch zubekämpfen, bzw .
die Boote der Flüchtlinge sollen militärisch bekämpftwerden .
Mir hat bis heute niemand die Frage beantwortet, wie ereigentlich Fischerboote, Flüchtlingsboote und Schlep-perboote unterscheiden will .
[CDU/CSU]: Du überziehst!)
Da gibt es überhaupt keinen Vorschlag von der Bundes-regierung, weil Sie Ihre Politik nach wie vor darauf aus-richten, Flüchtlinge im Grunde von diesem reichen Landabzuhalten,
und diese Politik werden wir nicht mitmachen .
Vielen Dank, Heike Hänsel . – Nächste Rednerin in der
Debatte: Dr. Bärbel Kofler für die SPD.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Es ist mehrfach angesprochen worden: Wir diskutiereneinen Entwicklungshaushalt mit einem durchaus erfreu-lichen Aufwuchs; das möchte ich am Anfang anmerken .Ich freue mich über 880 Millionen Euro mehr . Ich möch-te aber deutlich unterstreichen: Das darf kein haushal-terisches Strohfeuer bleiben . Wir brauchen Kontinuitätim Aufwuchs der Haushaltsmittel für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung .
Warum brauchen wir sie? Schauen wir uns an: Wassteht in unserer eigenen mittelfristigen Finanzplanung,noch von der Vorgängerregierung aufgestellt? Abgesenk-te Mittel, und daran bemisst sich der Aufwuchs, über denwir reden . Was steht in den Ergebnissen der Konferen-zen der G 7 und der Konferenz von Addis Abeba? Ha-ben wir darin wirklich Verpflichtungen für die nächstenJahre definiert, wie wir Entwicklungszusammenarbeit fi-nanzieren wollen, oder sind darin noch sehr viele schöneAbsichtserklärungen enthalten? Ich glaube, es ist leiderLetzteres der Fall .Warum brauchen wir das? Wir haben es heute mehr-fach diskutiert . Es ist über das Thema Flucht diskutiertworden . Wir müssen uns fragen: Stellt dieser Haushalt,so wie er aufgestellt ist, ein Abbild dessen dar, was wirauf die Herausforderungen der Zeit antworten müssen,ja oder nein?Wir haben über Fluchtursachen diskutiert . Es ist zu Rechtangesprochen worden: Da gibt es zwei Dinge, die wir tunmüssten . Das eine ist die akute Hilfe für die Menschen,die unter ganz erbärmlichen Umständen in Flüchtlingsla-gern leben, nicht erst seit gestern, sondern über Jahre hin-weg, und die dort zum Teil ohne Bildung, ohne Sanitär-anlagen, ohne Gesundheitsvorsorge leben . Es sind ganzkatastrophale Zustände . Die Situation ist nicht erst seitgestern so . Das wissen wir schon länger . Hier brauchenwir akut Mittel und finanzielle Unterstützung.
Wir brauchen aber auch, wenn wir über die viel zitier-ten Fluchtursachen reden, Mittel – das ist angesprochenworden, das macht die Entwicklungszusammenarbeit –,um Kriege gar nicht erst entstehen zu lassen, um Bürger-kriege zu verhindern, um den Ausbruch von Kriegen zuverhindern und um den Zerfall von Staaten, die in sehrschwierigen Situationen sind – gerade in Subsahara-Afri-ka –, zu verhindern, damit die Menschen dort überhaupteine Lebensperspektive haben, Zugang zu Nahrung ha-ben, vielleicht einen Arbeitsplatz finden, um sich selbsternähren zu können, und ein Mindestmaß an Sicherheitgarantiert ist, damit sie ihr Leben auch gestalten können .Wenn Staaten diese Basis nicht haben – finanziell undinstitutionell –, dann ist die Flucht vorprogrammiert . Bil-den wir das wirklich mit diesem Haushalt ab? Ich bin derAnsicht, wir tun es leider nicht .
An diesem Rednerpult werden wir in 14 Tagen eineRegierungserklärung zum Thema „Nachhaltige Entwick-lungsziele“, das im September in New York eine Rollespielen wird, hören . Es sind gute Ziele, die dort verein-bart werden sollen . Es sind wichtige Ziele . Die extremeArmut, die dazu führt, dass sich Menschen nicht mehrernähren können, soll bis zum Jahr 2030 auf diesem Pla-neten ausgerottet werden . Aber bilden wir nur diese eineForderung dieses Zielkataloges mit diesem Haushalt ab?Ich glaube, nein .
Ähnlich ist es bei den Fragen bezüglich des Klima-wandels . Im Dezember werden wir eine Konferenz in Pa-ris haben . Auch diese Herausforderungen werden haus-halterisch nicht abgebildet .
Heike Hänsel
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Noch einmal: Ich freue mich, dass es seit mehrerenJahren der erste substanzielle Aufwuchs ist . Aber er darfnicht einmalig sein . Es muss uns allen klar sein, und zwarin allen Ressorts, dass dieser Aufwuchs in den nächstenJahren und Jahrzehnten verstetigt werden muss .
Das gilt für das viel zitierte 0,7-Prozent-Ziel, das wirendlich einmal erreichen wollen und sollen; denn wirwerden es mit diesem Haushalt nicht erreichen . Es isteine Frage der klassischen Entwicklungsfinanzierung. Esgilt aber auch – das ist von der Vorrednerin angespro-chen worden – für die Frage: Wie bekommen wir welt-weit die Staatsfinanzen überhaupt in Ordnung, sodassEntwicklungsländer eine Basis haben, in ihren Ländernselbst Einnahmen zu erzielen? Hier geht es um nationa-le Gesetzgebung . Wir wissen: Im September/ Oktoberlegt die OECD, die Organisation für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung, Pläne vor, wie wir dasThema Steuererosion verhindern können . Hier geht esdarum, dass Konzerne Steuer- und Gewinnverlagerun-gen vornehmen und dadurch weltweit Milliardenbeträ-ge im dreistelligen Bereich erzielen und somit den Ent-wicklungsländern die Finanzbasis entziehen; übrigensnicht nur denen, auch uns . Wenn wir hier nicht begin-nen, gemeinsam mit anderen Politikern – hier brauchenwir die Finanzpolitiker – eine wirklich konsistente ent-wicklungsfördernde und armutsbekämpfende Politik zumachen – auch in anderen Feldern des politischen Agie-rens –, dann werden wir scheitern . Wir brauchen dieseZusammenarbeit . Wir brauchen dazu bei uns eine natio-nale Gesetzgebung und müssen vor Ort anfangen .
Ähnliches gilt für das Thema „Wirtschafts- und Han-delspolitik“ . Es ist mehrfach angesprochen worden . Ichsage es in jeder Rede: Wir brauchen verbindliche Stan-dards mit verbindlichen guten Arbeitsbedingungen,ILO-Kernarbeitsnormen, Gesundheitssysteme, sozialeAbsicherung . Wir brauchen Transparenz bezüglich derRohstoffentnahmen von internationalen Konzernen, undzwar mit verbindlichen Regeln, damit vor Ort die Basisfür Wertschöpfung und wirtschaftliches Handeln ge-schaffen wird .
Das heißt, wir brauchen eine Zusammenarbeit mit derFinanzpolitik, mit der Wirtschaftspolitik, mit der Ge-sundheitspolitik . Unsere Zeit ist sehr schnelllebig . Voreinem Jahr standen wir hier, haben über Ebola debattiertund die Frage diskutiert, wie notwendig es ist, Gesund-heitssysteme weltweit aufzubauen . Genau das müssenwir jetzt tun, und zwar mit allen Fonds und mit allen Ak-teuren, die es dafür gibt . Ich würde mir wünschen, unserHaushalt würde den entsprechenden Aufwuchs abbilden,und zwar auch in unserer Zukunftsplanung . Das tut erleider nicht .
Ich möchte an einem Beispiel deutlich machen, dasswir mehr tun können, um Entwicklungszusammenarbeitzur Konfliktprävention und zum Vorbeugen von Krisen,Kriegen und Fluchtursachen zu nutzen . Es ist nur einkleines Beispiel, das keine Milliarden kostet, aber illus-triert, um was es gehen muss . Vor einem halben Jahr ha-ben wir mit Institutionen und engagierten Menschen desZivilen Friedensdienstes aus dem Libanon gesprochen .Der Zivile Friedensdienst betreut fünf Kommunen,in denen Flüchtlinge und Alteingesessene zusammenge-bracht werden, um Konflikte aufzuarbeiten, die erheb-lich sind . Das kann man sich ja vorstellen . Das ist heutemehrfach angesprochen worden . Man kann sich durch-aus vorstellen, dass es in einem Land wie dem Libanon,in dem jeder vierte Einwohner ein Flüchtling ist, schwie-rige Situationen gibt . Dabei geht es um den Zugang zuWasser, um die Energieversorgung, um den Schulbesuch,um Konkurrenz am Arbeitsmarkt usw . Es geht darum,vor Ort mit den Beteiligten, mit den Kommunen zu klä-ren, wie man diese Konflikte friedlich lösen und damitBürgerkriegssituationen vorbeugen kann .Es gibt das Ansinnen von lokalen Partnern im Liba-non, die Zahl der Kommunen von 5 auf 20 auszuwei-ten . Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir das ma-chen müssen . Das ist eines der Beispiele dafür, wie wirKonfliktbewältigung und Konfliktprävention betreibenkönnen . Insofern muss es bei Organisationen wie demZivilen Friedensdienst einen deutlichen Mittelaufwuchsgegenüber dem geben, was zurzeit im Haushaltsentwurfsteht .
Ich nehme das Angebot sehr ernst, noch einmal überdie Ausgestaltung des Haushalts in diesem Bereich zu re-den . Wenn der Bereich Bildung ernstgenommen werdensoll, müssen wir auch im Bereich der globalen Partner-schaft für Bildung mehr tun . 7 Millionen Euro aus deut-scher Hand für diesen Bereich sind beschämend . Wenn esuns ernst damit ist, die Situation der Menschen in Afrikadurch mehr Bildung zu verbessern und dafür zu sorgen,dass sie vor Ort etwas tun und selbst aktiv werden kön-nen, dann müssen wir uns an all diesen internationalenAktivitäten anders beteiligen . Das wünsche ich mir sehr .Wir müssen schnell handeln . Das ist völlig unumstrit-ten . Wir dürfen darüber hinaus aber nicht vergessen, wel-ches die grundlegenden Aufgaben der Zusammenarbeitsind . Entwicklungspolitik muss in allen Ressorts gedachtwerden . Sonst werden wir unsere Aufgaben leider nichterfüllen können .Danke .
Vielen Dank, Bärbel Kofler. – Nächster Redner in der
Debatte: Uwe Kekeritz für Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Selbst der Papst wird an der bisher größten UN-Ver-Dr. Bärbel Kofler
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sammlung von über 190 Nationen teilnehmen, die am28 . September in New York 17 Nachhaltigkeitsziele ver-abschieden wird . Die damit verbundene Erwartungshal-tung ist zu Recht sehr groß . Sie muss vor allen Dingenauch erfüllt werden; denn es gibt viel zu viele globaleund durchaus auch gefährliche Fehlentwicklungen .Die Einkommensverteilungen in den Ländern habensich sehr stark verschlechtert . Die Ernährungs- und Ar-mutssituation ist trotz zweifelhafter Statistiken von Welt-bank und FAO kaum besser geworden . Die Biodiversitätschrumpft bedrohlich . Die Klimaveränderung und derZerfall von Staaten werden immer gefahrvoller . Demo-kratische Strukturen werden zurückgedrängt . AutoritäreSysteme werden stärker .Genauso entwickeln sich potenzielle Fluchtursachen .Deshalb müssen die Ziele umgesetzt werden . Deshalbmuss die Klimakonferenz in Paris ein Erfolg werden .Die wichtigste Botschaft, die sich aus dem SDG-Pro-zess ergibt, ist für mich, dass alle Länder Entwicklungs-länder sind, also auch Deutschland .
Deutschland hat gemeinsam mit anderen Industrie-staaten globale Entwicklungen vorangetrieben, die demPrinzip der Nachhaltigkeit und der globalen Fairness ek-latant widersprechen . Dafür tragen wir Verantwortung .Deshalb müssen wir Konsequenzen daraus ziehen .Wir müssen zum Beispiel dafür sorgen, dass das in-ternationale Finanzsystem, die globale Agrarwirtschaft,die Klimapolitik und die Handelsstrukturen verändertwerden . Zentral ist, dass die Strukturen verändert wer-den müssen. Wir müssen Wege dazu finden und gehen.Deshalb können wir durchaus sagen: Wir sind ein Ent-wicklungsland .
Die 17 gar nicht so neuen Ziele haben genau diesegroße Schwäche . Sie stehen letztlich isoliert da und sindnicht in strukturelle Veränderungen eingebunden . Dasmüssen wir ändern .Erfolg in der Entwicklungspolitik setzt Verlässlich-keit voraus . Bei diesem Begriff weiß natürlich MinisterMüller sofort, dass er angesprochen ist . Ich freue mich jaauch, dass die Mittel steigen, aber auch die Zahl der Pro-blemfelder ist, wie Sie selbst vorhin gesagt haben, enormgestiegen; die Probleme sind größer geworden, und essind neue hinzugekommen. Bärbel Kofler hat eine sehrgute Zusammenfassung geliefert . Die Mittel – das sagenSie selbst auch – reichen nicht . Es müssen mehr werden,vor allen Dingen in der näheren Zukunft . Sie tragen dasaber so vor, Herr Minister Müller, dass ich fast schon einschlechtes Gewissen bekomme . Wem machen Sie eigent-lich den Vorwurf, dass die Mittel nicht reichen? Ich hatteimmer den Eindruck, dass Sie an der Regierung sind unddass Sie dafür die Verantwortung tragen .
– Ja, bitte, das ist doch die Regierung . Das müssen dieschon intern klären .Ihre Verlässlichkeit war gerade das Thema; aber auchIhre Entwicklungspolitik, Herr Minister Müller, wird ausmeiner Sicht immer fragwürdiger . In ihrem Afrika-Kon-zept von 2014 sagten Sie noch ganz klar: Wir müssen fürafrikanische Probleme afrikanische Lösungen suchen . –Heute postulieren Sie leider das Gegenteil . Vorgesternhaben Sie in der WDR-Dokumentation Hungrig nachProfit das Geschäft mit dem Hunger folgendermaßen er-klärt: Es ist doch zynisch, wenn wir in Afrika den Bauernunser Wissen und Können, das wir in 100 Jahren erwor-ben haben, nicht vermitteln würden . – Was heißt denndas? Europäische Lösungen für afrikanische Probleme!Letztendlich wollen Sie die europäische, die westlicheAgrarstruktur nach Afrika exportieren .Herr Müller, haben Sie denn nicht gemerkt, dass ge-nau unser Agrarsystem ein verdammt krankes und kaput-tes System ist?
Sie sollten als Allgäuer einmal mit den Milchbauern re-den . Das hilft manchmal . Sie sollten vielleicht auch ein-mal mit Ihrem Kollegen Christian Schmidt reden, derder Forderung nach Exportoffensiven im Bereich Milchnicht massiv entgegentritt .
– Na ja, der Staatssekretär kann ihm ja ausrichten, dass ereinmal dem Versuch, Exportinitiativen im Bereich Milchvoranzutreiben, entgegentreten sollte . – Wohin sollendenn diese Milchmengen exportiert werden? Nach Ka-merun, nach Uganda, nach Ghana? Nein, diese Länderhaben selbst genug Milch, und Milch aus Deutschlandund Europa würde deren Entwicklungschancen weiterschwächen .
In der Dokumentation, Herr Minister, offenbaren Sieauch einen wesentlichen und meines Erachtens schäd-lichen Ansatz Ihrer Politik: nicht nur, dass Sie mit demÜbertragen des deutschen Systems nach Afrika in derEntwicklungspolitik auf den Stand der 60er-Jahre zurück-fallen, nein, Sie ergänzen diese Politik noch mit einemMarkterweiterungsprogramm für die deutsche Industrie .In der Sendung sagten Sie dann auch ganz offen, dassdie deutsche Wirtschaft mit dem BMZ in die Entwick-lungsländer geht und ihr Know-how einbringt . GlaubenSie denn wirklich, dass BASF, Bayer, Syngenta und Co .als Entwicklungsorganisationen fungieren können, dieihr Profitinteresse beiseitelassen und das Gemeinwohl,die Menschenrechte und die ökologische Nachhaltigkeitihren Zielen unterordnen? Herr Minister, so naiv sind Sienicht . Ich glaube, Sie sind gerade dabei, immer mehr Ent-Uwe Kekeritz
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wicklungsgelder in den Dienst der deutschen Industrie zustellen und diese so zu Subventionen umzuwandeln .
Sie fördern mit öffentlichen Mitteln immer noch dieGerman Food Partnership oder die New Alliance, dienicht auf Ihr Geld angewiesen sind . Die Konzerne ha-ben es aber mit Ihrer Unterstützung verdammt leicht, denWeg in die Ministerien vor Ort zu finden, mit dem offizi-ellen Logo und mit der Unterstützung der Regierung, derSie angehören .Auch Ihr Beispiel Textil schätze ich ganz anders ein .Wer uns glauben machen möchte, dass sich Produkti-onsbedingungen in den Textilfabriken durch freiwilligeAbsprachen dauerhaft verbessern lassen, der täuscht dieÖffentlichkeit . Anstatt politisch begründete, verbindlicheRahmen zu setzen, versuchen Sie plötzlich, hauptsäch-lich den Konsumenten in die Verantwortung zu nehmen .Wer keine Strukturen ändern will, Herr Müller, darf sichauch nicht darüber wundern, dass sich diese nicht ändern .Sie müssen auch aufpassen, Herr Müller: Ihr KollegeGabriel überholt Sie jetzt locker . Sie merken gar nicht,dass er auf jeder Veranstaltung, wenn die Möglichkeitbesteht, darauf hinweist, dass er inzwischen für verbind-liche Standards eintritt .
– Ja, das ist gut so . Er hat Sie da inzwischen abgehängt .Ich komme zum Schluss . Ich bin insbesondere nachden schockierenden Szenen in Heidenau und anderswofroh darüber, dass die deutsche Bevölkerung in ihrer gro-ßen Mehrheit heute die Flüchtlinge willkommen heißt .Aber ohne ein grundlegendes Umdenken des Nordensin der globalen Außen- und Entwicklungspolitik, in derglobalen Finanz- und Klimapolitik und in der Agrarpo-litik werden wir zukünftig nicht 80 Millionen, sondernvielleicht 90 oder mehr Millionen Menschen haben . Esist deshalb unsere Verpflichtung, in Paris erfolgreich zusein . Es reicht nicht, 17 Ziele zu verabschieden, auchwenn sie den päpstlichen Segen haben . Wir müssen dieStrukturen schaffen, damit sich diese Ziele verwirklichenlassen .Herzlichen Dank .
Vielen Dank, Kollege Kekeritz . – Nächster Redner in
der Debatte: Jürgen Klimke für die CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Auch ich möchte es zu Be-ginn noch einmal deutlich machen: Der Etat des Bun-desentwicklungsministeriums steigt um 880 MillionenEuro . Das ist ein Zuwachs um fast 14 Prozent . Dank derherausragenden Unterstützung der Bundeskanzlerin –das muss man auch sagen – und des intensiven persönli-chen – lieber Kollege Kekeritz – und verlässlichen Ein-satzes unseres Ministers
ist Deutschland jetzt mit voller Kraft auf dem richtigenentwicklungspolitischen Weg . Ich muss auch sagen: Derstarke Aufwuchs der Verpflichtungsermächtigungen um1,8 Milliarden Euro schafft einen kreativen Spielraumund einen Arbeitsraum für zukünftige Aufgaben .Der Herr Minister ist im Moment nicht da .
– Doch, Entschuldigung . – Ich hoffe doch sehr, dass dasnicht ein persönliches Geschenk zum runden Geburtstagist, sondern dass der Haushaltsaufwuchs und damit diedeutliche Unterstützung der Entwicklungszusammenar-beit in den nächsten Jahren wiederkehrende Maßnahmensein werden .Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Jahr 2015 ist –oder wird noch – ein besonderes Jahr für die Entwick-lungszusammenarbeit . Die Millenniumsentwicklungs-ziele der Vereinten Nationen werden ihre Erneuerung,ihre Überarbeitung und ihre Erweiterung erfahren unddurch neue Ziele für den Zeitraum bis 2030 fortgeschrie-ben werden . Mit den neuen Entwicklungszielen wollenwir nicht nur Armut und Krankheiten bekämpfen, son-dern wir wollen vor allen Dingen Globalisierung sozialund ökologisch nachhaltig gestalten . Dies ist ein Ziel,mit dem sich Deutschland besonders solidarisiert und beidem es eine besondere Verpflichtung verspürt. Ich selbstdurfte mit einigen Kolleginnen und Kollegen des Unter-ausschusses Vereinte Nationen in den letzten Tagen inNew York Gespräche zu diesem Thema führen . Ich glau-be, dass wir mit den Sustainable Development Goals einegute Arbeitsplattform für unsere nationale Entwicklungs-politik erhalten haben . Ich unterstreiche es noch einmal:Der Aufwuchs im Haushalt bietet dafür jedenfalls einehervorragende Grundlage .Hervorzuheben ist zum Beispiel, dass die Bundes-kanzlerin persönlich am 24 . September hier von diesemPult aus in einer Regierungserklärung über die Verab-schiedung der SDGs in der UN-Vollversammlung berich-ten wird . Dies zeigt den Stellenwert und wird von unsausdrücklich begrüßt .Meine Damen und Herren, wie bereits im Rahmen derDebatte erwähnt, finden die Haushaltsberatungen in einerZeit statt, in der wir in Europa die Bedeutung nachhalti-ger Entwicklungspolitik auch an der Zahl der Flüchtlingetagtäglich durch die mediale Berichterstattung und vorallen Dingen durch unsere persönlichen Erfahrungen inunseren Wahlkreisen vor Augen geführt bekommen . Wirstehen vor einer nationalen und europäischen Heraus-forderung, die seit der deutschen Einheit in dieser Formnicht vorgekommen ist . Das ist uns inzwischen klar . Hierliegt auch ein Teil der Erklärung, warum unsere Reakti-on auf diese Situation in den letzten Monaten teilweisezu langsam und zu bürokratisch war . Die Dimension derUwe Kekeritz
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Flüchtlingskrise wird uns auch in der nächsten Zeit wei-ter beschäftigen .Eines ist klar: Mit den Mitteln der deutschen Entwick-lungspolitik können wir nicht sämtliche Fluchtursachenin der Welt beseitigen . Sie ist aber in diesem Kontext einganz wichtiger Baustein, um die Dinge zu einem Besse-ren zu wenden .Bei den Mitteln für die von Minister Müller initiierteSonderinitiative „Fluchtursachen bekämpfen – Flücht-linge reintegrieren“ ist im aktuellen Haushaltsplan einZuwachs von rund 57 Prozent zu verzeichnen; sie stei-gen auf 110 Millionen Euro im nächsten Jahr . Das sindMittel, die angesichts der gegenwärtigen Situation nichtnur notwendig sind – das brauchen wir nicht zu unter-streichen –, sondern wahrscheinlich sogar noch erhöhtwerden müssen .
Wie das Beispiel Syrien zeigt, haben aktuelle politischeEntwicklungen großen Einfluss auf die Haushaltsplanung.Die Herausforderung besteht darin, angemessen zu reagie-ren und es in der Planung angemessen umzusetzen . Die Notder Menschen im Nahen Osten, aber auch in anderen Kon-fliktregionen, in denen Menschen auf der Flucht sind – diesemüssen wir auch immer im Blick haben; Südostasien gehörtzum Beispiel dazu –, stellt die finanzielle Ausrichtung deut-scher Entwicklungspolitik vor hohe Anforderungen . Hiergeht es nicht nur um die Konsequenzen der Flucht vor Ort;vor allen Dingen gehört auch die Hilfe für Staaten wie Jor-danien oder Libanon dazu – es ist angesprochen worden –,die in der unmittelbaren Nachbarschaft der Staaten liegen,aus denen die meisten Flüchtlinge kommen .Es stellt sich die Frage: Wie kann Entwicklungspoli-tik unsere Flüchtlingspolitik unterstützen? Eine wichtigeAufgabe ist die Hilfe vor Ort . Wir müssen auf Partner-schaft setzen und nicht auf eine Geber-Nehmer-Situationzwischen den Ländern . Die Schaffung einer wirtschaftli-chen Grundlage in den Entwicklungsländern ist ein wich-tiges Instrument der Flüchtlingspolitik . Wer gute Arbeit inseiner Heimat hat und eben auch für seine Familie sorgenkann, der muss sich nicht auf eine gefährliche und teureFlucht begeben, deren Folgen, was die Zukunft betrifft,eigentlich nicht absehbar sind . Wir müssen Perspektivenvor Ort aufzeigen . Nur in einem friedlichen Umfeld ha-ben Menschen eine Chance, ihre Zukunft zu gestalten .Deshalb ist das Engagement des Zivilen Friedensdienstesauch in diesem Zusammenhang sehr wichtig .
Die Mittel für den Zivilen Friedensdienst in Höhe von42 Millionen Euro im kommenden Jahr sind sehr gut ein-gesetzt .
– Na ja, gut, aber immerhin sind sie schon vernünftig ein-gesetzt .Wir müssen Investitionen in Bildung tätigen .
– Ja, meinetwegen noch intensiver als im Moment, aberda wird schon sehr viel investiert . – Das duale System istein Exportschlager aus Deutschland . In Kooperation mitEntwicklungsländern sorgen wir dafür, dass Menschenvor Ort eine berufsnahe Ausbildung bekommen .Die Einbindung der Privatwirtschaft, lieber KollegeKekeritz, ist unabdingbar . Das Beispiel der CSR zeigt,dass es möglich ist, zu sozial fairen Bedingungen zu pro-duzieren und eine Win-win-Situation für alle Beteiligtenzu erreichen: für die Entwicklungsländer, für die Men-schen vor Ort, aber auch zum Beispiel für den deutschenEinkäufer, der etwas kauft, was „social made“ ist .
Das Textilbündnis, Herr Minister, ist ein Beispieldafür, wie soziale Verantwortung für den Verbrauchersichtbar wird. Die beteiligten Unternehmen verpflichtensich, durch die Gewährleistung von Sozial- und Umwelt-standards an den Produktionsstandorten Verantwortungzu übernehmen . Das ist ein Beispiel für ein Engagementvon Unternehmen aus der Privatwirtschaft, lieber Kolle-ge Kekeritz . Damit senden wir ein deutliches Zeichen anden Steuerzahler: Das Geld ist im Entwicklungsbereichgut angelegt .Auch die Zusammenarbeit mit anderen Ressorts mussgestärkt werden, etwa mit dem Innenbereich . Meine Da-men und Herren, wir müssen eine rigorose Verfolgungund Bestrafung von Schleppern forcieren . Auch das ge-hört dazu . Ich sage es deutlich: Schlepper sind keine Gut-menschen, Schlepper sind teilweise Mörder .
Ein weiterer Punkt, den ich noch kurz ansprechenmöchte: Antikorruptionsmaßnahmen in den Entwick-lungsländern fördern . Wir können es nicht akzeptieren,wenn korrupte Machenschaften in diesen Ländern nichteliminiert werden . Ohne funktionierende EZ-Partner-schaften und gutes Regieren wird es nicht möglich sein,langfristig mit den Entwicklungsländern vernünftig zu-sammenzuarbeiten . Korruptionsbekämpfung ist ein ganzwichtiger Punkt .
Letzte Bemerkung – dann komme ich auch zumSchluss –: Wir sind auf einem guten Weg . Das Auswärti-ge Amt verzeichnet einen Mittelzuwachs von 26 Prozent .Das Umweltministerium erhält sehr viel mehr Mittel fürden internationalen Klimaschutz . Das alles müssen wirzusammenfassen, dann haben wir einen super Mehr-wert im Entwicklungsbereich . Ich hoffe, dass das in dennächsten Jahren so weitergeht . Wir jedenfalls werden unsdafür einsetzen .Herzlichen Dank .
Vielen Dank, Herr Kollege Klimke . – Sie überziehenalle gnadenlos, aber Sie sehen mich heute gnädig . Dashat wahrscheinlich mit dem Thema zu tun .Jürgen Klimke
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Gabriela Heinrich ist die nächste Rednerin in dieserDebatte .
Das war jetzt aber keine Aufforderung, auch zu überzie-hen .
Frau Präsidentin, lassen Sie sich überraschen . – HerrMinister! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen undKolleginnen! Im Moment – wir haben es schon gehört –ist es relativ einfach, die Menschen in unserem Landdavon zu überzeugen, dass die Entwicklungspolitik einwichtiges Thema ist und dass Entwicklungspolitik Geldkostet, vielleicht noch sehr viel mehr kosten muss undwird .Die Menschen sehen im Fernsehen die furchtbarenBilder von Flüchtlingen, die verzweifelt versuchen, Sta-cheldraht und Mauern zu überwinden, die sich schreiendauf Bahngleise legen und unter unwürdigsten Bedingun-gen im Freien kampieren, um auf ihre Chance zu warten,die Chance auf Europa .Das alles kommt jetzt plötzlich auch in der deutschenÖffentlichkeit an, nicht nur hier im Parlament . Es tauchtverstärkt die Frage auf, warum wir nicht genug in denHerkunfts- und Aufnahmeländern investieren, aus denendie Menschen zu uns kommen, warum wir nicht mehrversuchen, die Fluchtursachen zu bekämpfen – irgend-wie, aber auf jeden Fall mit deutlich mehr Engagement .Deshalb – das wurde heute ganz oft angesprochen – istes natürlich ein gutes Zeichen, dass im Haushaltsentwurfbeim Etat des Ministeriums für wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung ein deutliches Plus zu ver-zeichnen ist, auch, aber nicht nur, für die Sonderinitiative„Fluchtursachen bekämpfen, Flüchtlinge reintegrieren“ .Wir haben uns seit langem für die Stärkung des Ent-wicklungsetats eingesetzt, und der Aufwuchs ist sicherein richtiges Signal . Aber – und das kann man auch heu-te wieder erkennen – die meisten Entwicklungspolitikerhaben Fusseln am Mund, wenn sie immer wieder daraufhinweisen, dass sich Deutschland international verpflich-tet hat, 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens fürdie Entwicklungszusammenarbeit einzusetzen . Wir sindvon diesem Ziel weit entfernt . Wir müssen das ändernund konsequent nachbessern .Die Gelder der Industrienationen für Entwicklungszu-sammenarbeit sind eine gute Investition in die Zukunftvon Millionen von Menschen .
Herr Klimke, ich kann Ihre Einschätzung nicht teilen,dass der gute Aufwuchs, den wir jetzt haben, reichenwird, um uns den SDGs so zu nähern, wie wir dies allemiteinander gerne möchten .Wir sehen jetzt, dass alle, die es irgendwie schaffenkönnen, vor der Situation in ihren Herkunftsländern flie-hen, aber sie werden nicht alle nach Europa kommenkönnen . Entwicklungszusammenarbeit – auch das wurdeschon gesagt – ist kein Allheilmittel, um Fluchtursachenzu beseitigen . Ich könnte auch gar nicht alle Fluchtursa-chen ordentlich benennen, an denen wir arbeiten müss-ten .Die Menschen fliehen vor Bürgerkriegen, Gewaltund Unterdrückung. Sie fliehen aufgrund fehlender Per-spektiven, häufig hervorgerufen durch Korruption undorganisierte Kriminalität, und sie fliehen eben nicht nuraus Afrika, sondern auch aus Europa, wie das BeispielAlbanien zeigt. Die Menschen fliehen auch verstärkt ausden Flüchtlingslagern in den Aufnahmeländern, vor al-lem dann, wenn die internationale Gemeinschaft Kriegs-flüchtlinge nicht versorgen kann, es dort keine Sicher-heit gibt und die Kinder niemals eine Schule besuchenkönnen . Deswegen ist es wichtig, dass wir nicht nur dieHerkunftsstaaten, sondern auch die Aufnahmeländer un-terstützen . Das heißt konkret, dass wir die Infrastrukturvon Flüchtlingslagern und Flüchtlingsstätten stärkenmüssen, wie wir das vor kurzem, Peter Stein, in unseremAntrag „Entwicklungspolitische Chancen der Urbanisie-rung nutzen“ gefordert haben . Der Haushaltsaufwuchs istdafür eine große Chance .Wir werden in der EntwicklungszusammenarbeitSchwerpunkte setzen müssen . Das ist nicht so einfach,weil es so viele Baustellen gibt und so viele Länder, dieUnterstützung brauchen . Schauen wir nach Nordafrika,vor die Haustür Europas . Libyen ist ein Land, das imChaos versunken ist, mit unabsehbaren Folgen für dieNachbarländer . Die Menschen in dieser Region brauchendringend Stabilitätsanker in diesem Chaos .Tunesien gibt Hoffnung, gilt als Leuchtturm für De-mokratie und Stabilität, ist aber massiv vom Terrorismusbedroht . Die entwicklungspolitische Unterstützung mussauch helfen, den Terror einzudämmen, um die Stabilitätzu fördern,
zum einen, indem wir mehr wirtschaftliche, soziale undgesellschaftliche Perspektiven für die Menschen schaf-fen, zum anderen, indem wir die Demokratisierung wei-terhin begleiten und unterstützen .Das Gleiche gilt für Marokko, das nicht so sehr im Fo-kus steht . Auch dieses Land ist stabil, braucht aber Unter-stützung, um die Jugendarbeitslosigkeit in den Griff zukriegen, braucht Unterstützung bei der regionalen Ent-wicklung und bei den Demokratisierungsprozessen . Diejetzt geplante Verdoppelung der Mittel für die Sonderi-nitiative „Stabilisierung und Entwicklung in Nordafrikaund Nahost“ kann durchaus ein wichtiger Beitrag dazusein .Wir müssen wegkommen von der Sicht, dass Ent-wicklungspolitik vor allen Dingen Geld kostet . Wir ha-ben es in einigen Beiträgen gehört . Das ist immer nur diehalbe Wahrheit . Natürlich kostet das Geld, aber die Frageist doch – die müssen wir uns alle mit Blick auf unserenGesamthaushalt stellen –: Was kostet es uns, wenn wiruns nicht den Ursachen von Flucht stellen, wenn wir Ent-wicklungsländer nicht dabei unterstützen, auf erneuerba-Vizepräsidentin Claudia Roth
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re Energien zu setzen oder den Verlust der Biodiversitätzu stoppen? Und was kostet es uns, wenn wir nicht dabeihelfen, in anderen Ländern demokratische Strukturen,Verwaltungen und einen Rechtsstaat aufzubauen, vorallen Dingen, wenn sie diese Hilfe von uns einfordern?Diese Fragen müssen diejenigen im Hinterkopf haben,die das Erreichen der ODA-Quote immer noch für nach-rangig halten .
Die Koalition hat vor ein paar Wochen im Parlament –wir haben das gemeinsam gemacht – einen Antrag zurUrbanisierung verabschiedet – ich habe schon darauf hin-gewiesen –, auch weil das schnelle Anwachsen der Städ-te und eine völlig ungeplante Urbanisierung unheimlichviel Konfliktpotenzial bergen. Wenn, wie erwartet, imJahr 2050 3 Milliarden Menschen unter katastrophalenLebensbedingungen in einem Slum leben, dann werdenwir versagt haben . Das müssen wir uns heute deutlichbewusst machen .
Es gehört deswegen zur Prävention, dass wir betroffeneLänder und Städte stärker bei der Stadtplanung unter-stützen . Wir reden immer alle von der ländlichen Ent-wicklung . Ja, dieses Thema ist wichtig, aber es gibt auchandere wichtige Themen, Möglichkeiten, wie man wahn-sinnig viele Menschen in diesen riesigen Molochen vonStädten auf einmal erreichen kann, wie man ihre Lebens-situation verbessern kann . Das gilt auch für die Dezent-ralisierung, den Aufbau kommunaler Selbstverwaltung,die Energie- und Wasserversorgung und die Infrastruk-tur – bis hin zu Urbanisierungspartnerschaften. Ich fin-de es sehr begrüßenswert, dass wir im Haushaltsentwurfeine Erhöhung der Mittel für die kommunale Zusammen-arbeit und die Städtepartnerschaften vorgesehen haben .Die Mittel sollen mehr als verdoppelt werden .Genauso begrüßenswert finde ich das vorgesehe-ne eigenständige Ziel mit Stadtbezug bei den globalenNachhaltigkeitszielen . Das müssen wir um eine New-Ur-ban-Agenda ergänzen, die auf der Habitat-III-Konferenzim kommenden Jahr beschlossen und umgesetzt werdenmuss . Fluchtursachen und der Umgang der Städte mitFlüchtlingen werden dabei eine wichtige Rolle spielenmüssen .Entwicklungspolitik darf nicht nur auf Krisen reagie-ren . Der Anspruch ist und bleibt, Krisen zu vermeidenund die Lebensumstände von Menschen deutlich zuverbessern . Wir müssen diese Aufgabe mit den Investi-tionen, die ich erwähnt habe, angehen, um diese Krisenzu vermeiden . Sie dürfen gar nicht erst entstehen . In denletzten Wochen ist deutlich geworden, dass es dazu keineAlternative gibt .Vielen Dank .
Danke, Frau Heinrich . – Nächster Redner: Volkmar
Klein für die CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Jetzt, gegen Ende der Debatte, wird klar, dass wirdie Herausforderungen annehmen, dass Deutschland zuseiner weltweit gewachsenen Bedeutung und Verantwor-tung steht . Genau das hat der Minister eben bereits sehreindrucksvoll für uns alle unterstrichen .
Es bleiben zwei klare Botschaften: Erstens . Wir küm-mern uns um die Flüchtlinge in Lagern im Nahen Osten .Das ist auch wichtig . Wir müssen helfen, dass die Le-bensbedingungen dort besser werden – im Übrigen nichtnur als Nothilfe über das Auswärtige Amt, sondern so,dass, realistisch betrachtet, diese Menschen dort aucheinen längeren Zeitraum bleiben können . Dafür brauchtman entsprechende Investitionen . Dafür braucht manentsprechende Infrastruktur, bis hin zu Bildung . Wennuns das nicht gelingt, dann werden sich die Menschenvon dort auf den Weg machen .Die zweite Botschaft lautet: Chancen in den Heimat-ländern für die Menschen schaffen . Das ist ein Anlie-gen unserer Politik insgesamt und etwas, was in diesemHaushaltsentwurf bereits ziemlich deutlich wird . Wirmüssen Chancen für die Menschen in ihrer Heimat schaf-fen – auf dem Balkan und in Afrika . Zumindest müssendie Menschen das Gefühl haben, dass sie in ihrer Heimatlangfristig ihren Lebensunterhalt verdienen und ein gutesLeben führen können .
Wenn wir nun dieses in dem vorgelegten Haushaltsent-wurf mit einem Plus von 880 Millionen Euro – das istim Vergleich zum laufenden Haushaltsjahr eine Steige-rung um 13,5 Prozent – unterstreichen, dann ist das gut .Gut ist das allerdings vor allem dadurch, dass wir diesedeutliche Steigerung ohne Aufnahme von neuen Schul-den hinbekommen . Das wiederum ist ein gutes Signal fürdiese Menschen, für die Länder, die unserer Hilfe bedür-fen; denn das macht klar: Auf der Basis dieser Solidität,dieser Stabilität wird sich unsere Wirtschaft auch künftigerfolgreich entwickeln . Dieser Erfolg wird uns auch inZukunft in die Lage versetzen, unsere internationale Ver-antwortung wahrzunehmen .
Wie genau dieser erhebliche Zuwachs um 880 Millio-nen Euro im nächsten Jahr ausgegeben werden soll, daswerden wir in den nächsten neun Wochen diskutieren .Die sogenannten vertraulichen Erläuterungen liegen janoch nicht vor . Insofern ist das, was wir bisher haben,noch nicht ganz befriedigend, aber die richtige Diskus-Gabriela Heinrich
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sionsgrundlage, um Einzelheiten in den nächsten neunWochen zu klären .Im Moment ist es vielleicht sogar noch ein bisschenzu wenig . Die Kollegin Sonja Steffen hat eben gesagt:Verteilen nach dem Gießkannenprinzip reicht nicht . DieBegründung, die ich im Haushaltsentwurf beispielswei-se bei Titeln wie „Technische Zusammenarbeit“ oder„Finanzielle Zusammenarbeit“ oder auch bei den Kir-chen und vielen anderen für Steigerungen sehe, nämlich„mehr wegen ODA-Aufwuchs“, ist natürlich ein biss-chen zu wenig . Das heißt ja quasi, das Geld muss raus;wir stecken das jetzt einfach mal da rein . – Das ist keineBegründung, sondern das muss die Folge für die Aufga-ben sein, die wir aus diesen Titeln finanzieren wollen.
Dabei ist es tatsächlich so, dass einige in Deutschlandweiterhin das schiere Ausgeben von Geld bereits für dasErreichen des Erfolgs halten . Aber wir wissen inzwi-schen, dass das nicht der Fall ist .
Wir müssen mit den noch ausstehenden vertraulichenErläuterungen konkretisieren, was genau Chancen bringtund was genau Fluchtursachen bekämpft .Heute Morgen hat Thomas Oppermann eine weitereKonzentration auf genau dieses Anliegen vorgeschla-gen, nämlich eine Umschichtung hin zu diesem Titelfür die Sonderinitiative „Fluchtursachen bekämpfen,Flüchtlinge reintegrieren“ . In der Tat wächst dieser Ti-tel nur relativ gering auf, nämlich von 70 Millionen auf110 Millionen Euro . Andererseits – das ist ja auch ausder bisherigen Diskussion hervorgegangen – ist ja ei-gentlich der gesamte Haushaltsplan des Ministeriums fürwirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung derVersuch, Fluchtursachen zu bekämpfen und Chancen zugeben .
Genau das wird gebraucht . Dafür reichen einfach nurGesundheitsprogramme und Bildung, so wichtig diesauch ist, nicht aus . Dadurch allein bekommt nämlich inAfrika noch niemand einen Job, hat noch niemand einePerspektive zur Erarbeitung seines eigenen Lebensunter-halts in der Zukunft . Dafür müssen wir noch mehr tun .Es gibt auch an den Universitäten Afrikas IT-Absolven-ten . Wir müssen darüber nachdenken, wie wir Gründer-zentren und Businessparks für diese Absolventen schaf-fen können . Das müssen wir uns auch für Handwerkerüberlegen . Es reicht nicht, auch wenn es gut gemeint ist,im Rahmen traditioneller EntwicklungszusammenarbeitHandwerker auszubilden . Ein Handwerker – das wissenwir; das ist auch in Deutschland so – muss nicht nur seinHandwerk beherrschen, sondern er muss auch Unterneh-mer sein, wenn er Jobs schaffen will . Wir müssen in derTat noch mehr deutsche Firmen dafür begeistern, in Afri-ka Betriebe zu eröffnen .
Denn am Ende bleibt: Wer keine Perspektive auf einenJob hat, der wird, auch wenn er noch so gut ausgebildetist und noch so gut gesundheitlich versorgt ist, in seinemLand nicht bleiben können, weil er keine Arbeitsgele-genheit hat und seinen Lebensunterhalt nicht erarbeitenkann . Deswegen brauchen wir eine stärkere Kooperationauch mit der Wirtschaft in diesen Ländern .
Hilfe ist ausgesprochen wichtig . Deswegen die Mit-telsteigerung, und deswegen sind wir so begeistert dabei,unsere Hilfe anzubieten und gemeinschaftlich einzubrin-gen . Wir wissen aber auch, dass in den meisten LändernAfrikas die Hauptgründe dafür, dass die Menschen keineChancen und keine Perspektiven haben, Misswirtschaftund – ich sage es einmal ganz diplomatisch – optimierba-re Effizienz von Regierungshandeln sind. Dazu gehörennatürlich auch – die Kollegin Hajduk hat es eben gesagt –effiziente Steuersysteme. Auch viele andere Dinge gehö-ren dazu . Möglicherweise kann auch eine intensivierteZusammenarbeit mit den Kommunen in Deutschlandhelfen, Erfahrungen weiterzugeben . Das alles ist wichtig .Vielleicht sollten wir in der Entwicklungszusammen-arbeit ein bisschen von unseren Erfahrungen im Eu-ro-Raum lernen . Denn auch in einigen der Programm-länder waren Defizite bei der Regierungsführung dasProblem . Dort hat die Troika entscheidend dazu beige-tragen, Verwaltungskompetenz zu stärken und vor allenDingen Bremsklötze für eine erfolgreichere Entwicklungwegzuräumen . Genau das braucht Afrika . Troikas für Af-rika – das wäre der richtige Spruch .
Keine Sorge, es geht nicht um eine Aufnahme in denEuro-Raum, das ganz bestimmt nicht, aber sehr wohl umeine klare Konditionalität, um die Ansage: Wir gebenHilfe, aber wir erwarten eine bessere Regierungsführung .Dies müssen wir wahrscheinlich ein bisschen robusterangehen, als wir bisher bereit gewesen sind .
Je besser wir das schaffen, desto mehr können wir mitunseren Mitteln erreichen . Im Übrigen müssen wir unsdafür ja auch gegenüber unseren Steuerzahlern verant-worten .Wenn wir das schaffen, kann unser jetzt vorliegen-der Haushaltsentwurf eine wirklich hervorragende Aus-gangslage für die weitere Diskussion in den nächstenneun Wochen sein . Damit können wir dann genau das er-reichen, was Minister Gerd Müller in seiner hervorragen-den Art überall kommuniziert . Wir können das erreichen,wenn wir es gemeinsam wollen .Wir schaffen es auf diesem Wege, Chancen und Per-spektiven für die Menschen zu schaffen, nicht nur aufdem Balkan, nicht nur im Mittleren Osten, sondern auchVolkmar Klein
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in Afrika . Um das zu erreichen, sollten wir weniger Streitanzetteln und gemeinsam in diese Richtung arbeiten .Herzlichen Dank .
Vielen Dank, Kollege Klein . – Jetzt kommt die Krö-
nung dieser Debatte, als letzter Redner Stefan Rebmann .
Ich hatte noch 30 Sekunden, aber ich gebe ihm die
Redezeit, die eigentlich vorgesehen war .
Herzlichen Dank . – Liebe Präsidentin! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Auch ich freue mich natürlich über einen ordent-lichen Aufwuchs in unserem Entwicklungsetat . DieserAufwuchs ist einer ganzen Reihe von Kolleginnen undKollegen zu verdanken, die in der Vergangenheit vehe-ment dafür eingetreten sind . Die einen oder anderen ha-ben ihr Anliegen auch durch ihr Abstimmungsverhaltendokumentiert, was nicht immer zu Beifallsstürmen beiden Haushältern und bei den eigenen Fraktionsspitzengeführt hat .Ich finde, die Richtung in diesem Etat stimmt. Es istaber auch klar: Unser Versprechen, 0,7 Prozent unseresBruttoinlandsprodukts für Entwicklung zur Verfügungzu stellen, werden wir, anders als Schweden und Groß-britannien, nicht erreichen . Heute Morgen hat die Bun-deskanzlerin hier an dieser Stelle schon richtigerweisebetont, wie eng die Verzahnung zwischen Innen-, Außen-und Entwicklungspolitik ist . Sie hat auch darauf hinge-wiesen, welche Auswirkungen es hat, wenn wir in derEntwicklungspolitik etwas nicht tun .Wir Entwicklungspolitiker wissen nur zu gut, wozuPerspektivlosigkeit, Landraub, kein ausreichender Zu-gang zu Nahrung, kein Zugang zu sauberem Wasser, kei-ne ordentlichen Chancen auf Bildung, kein Zugang zu ei-nem Gesundheitssystem und dergleichen führen können .Das alles löst Wanderungsbewegungen aus, und das allesbegünstigt auch Konflikte, was wiederum dazu führt, dasssich Menschen schlichtweg in Sicherheit bringen wollenund flüchten. All das und vieles mehr – Konfliktminerali-en, Lieferketten, keine ordentlichen Arbeitsbedingungen,Kinderarbeit, Zwangsarbeit und dergleichen, keine fairenHandelsverträge – sind auch Fluchtursachen . Und wirdiskutieren hier darüber, dass wir uns auf die Fluchtursa-chen konzentrieren sollten .
Es ist richtig gesagt worden: Der Gesamtetat, diegesamte Entwicklungspolitik ist in den Fokus zu neh-men. Deshalb, finde ich, muss der Entwicklungspolitikein ganz anderer Stellenwert beigemessen werden . Dasdrückt sich auch in einem Haushalt aus, liebe Kollegin-nen und Kollegen .
Wir können in der Entwicklungspolitik, glaube ich,vieles erreichen und vieles auf den Weg bringen . Wirkönnen aber nicht alle Probleme lösen . Ich habe es ananderer Stelle schon einmal gesagt: Ich bin der Meinung,jeden Euro, den wir in zielgerichtete Entwicklungspoli-tik investieren, bekommen wir zeitverzögert doppelt unddreifach zurück . Ich glaube, angesichts der Herausforde-rungen, vor denen wir stehen, ist dieser Etat ein Schritt indie richtige Richtung . Aber er ist nicht ausreichend . Wirmüssen ihn verstetigen . Wir müssen diesen Etat in dennächsten Jahren deutlich nach oben heben . Dafür werbeich, nicht nur bei euch, liebe Kolleginnen und Kollegen,sondern ganz besonders auch bei unseren Haushälterin-nen und Haushältern .
Ich war im vergangenen Jahr mit der Kollegin Wöhrlin Jordanien und im Libanon . Wir haben dort mehrereFlüchtlingscamps besucht . Ich kann mich noch sehr gut andie Berichte der Flüchtlinge und an die aus Plastikplanenund Säcken zusammengebauten Zelte erinnern . Unmittel-bar neben ihnen trieben Abwässer und Fäkalien von meh-reren Tausend Flüchtlingen vorbei; ich habe den Geruchnoch sehr präsent in der Nase . Ich kann mich auch nochsehr gut an die junge Medizinstudentin aus meinem Wahl-kreis Mannheim mit enormem Engagement erinnern, diein einem Zelt eine junge Frau behandelt hat . Vor dem Zeltgab es eine Schlange, die gar nicht abreißen wollte .Vor wenigen Wochen war ich mit ein paar Kollegen inUganda . Wir haben uns dort vor Ort Forschungsprojektezu Aids, Tuberkulose und Malaria angeschaut . Auch dortwaren wir in sogenannten Testgemeinden . Wir haben ge-sehen, wie die Lebensbedingungen der Menschen sind .Ich erzähle das nicht nur, um darauf hinzuweisen, wie her-vorragend die Arbeit der zig Tausenden ehrenamtlichenHelferinnen und Helfer ist, wie hervorragend die NGOsihre Helfer einsetzen und sich engagieren – ihnen sind wirzu Dank verpflichtet –, sondern ich sage das auch, weilich der Meinung bin, dass wir viel mehr tun müssen . Wirmüssen solche Projekte und Forschungseinrichtungen vielmehr unterstützen, als wir es bisher tun . Auch dies – dieseBedingungen – führt nämlich dazu, dass sich Menschenauf den Weg begeben und eine bessere Zukunft suchen .Ich sage noch einmal: Ich glaube, wir haben mit die-sem Etat noch nicht das erreicht, was wir eigentlich dar-stellen müssten .In der letzten Haushaltsdebatte habe ich auf unsereFehler und Versäumnisse bei der Ebolaepidemie hinge-wiesen . Heute wissen wir: Über 11 300 Menschen sindgestorben . Und wir wissen: Wir hätten es verhindernkönnen . Seit 2005 war ein Wirkstoff bekannt, der abernie getestet wurde . Warum? Weil das Geld dafür fehlte .Dieses Problem haben wir nicht nur bei Ebola, son-dern auch bei Malaria, Tuberkulose und anderen armut-sassoziierten Krankheiten . Auch Polio – das haben wirVolkmar Klein
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heute auch schon gehört – beginnt wieder auszubrechen,weil die Schluckimpfungen ausbleiben .Um es deutlich zu sagen: Das Geld, das wir hier in-vestieren, rettet Menschenleben, und das Geld, das wirnicht investieren, nimmt Menschenleben. Ich finde, des-sen müssen wir uns bewusst sein .Ich muss schon sagen: Ich war etwas verwundert undverärgert, dass die Mittel für den Globalen Fonds zurBekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria nichterhöht wurden . Es ist nicht nur so, dass die Mittel imletzten Haushalt zunächst von 245 Millionen Euro auf200 Millionen Euro gekürzt werden sollten . Vielmehrsind auch die 220 Millionen Euro, auf die man sich auf-grund eines Kompromisses geeinigt hat, letzten Endesauf 210 Millionen Euro zusammengestrichen worden .Gleichzeitig ist im Etat plötzlich ein Posten für irgend-eine Wirtschaftssache aufgetaucht, die mit keinem derEntwicklungspolitiker verabredet war .
Ich appelliere wirklich an die Haushaltspolitiker, beimGlobalen Fonds und bei Gesundheit noch einmal genauhinzuschauen – auch mit dem Blick auf die Fluchtursa-chen –, damit wir hier noch einmal entsprechend nachle-gen können .
Das können wir auch, und wir können auch ganz genaubeweisen – die Zahlen belegen das –, wie gut der Glo-bale Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose undMalaria arbeitet . Deshalb bitte ich, darüber noch einmalnachzudenken .Frau Präsidentin, ich komme gelegentlich zum Ende .
Nein, „gelegentlich“ wirklich nicht . Bitte komme zum
Ende .
Ja . – Es wird nicht ausreichen, nur die Krankheiten
zu bekämpfen . Wir brauchen auch gute Arbeit, einen Zu-
gang zum Bildungssystem und dergleichen .
Wir in Deutschland und in Europa machen den Wasser-
hahn auf und bekommen sauberes Wasser . Wir haben Strom,
eine Heizung und Medizin, wann immer wir dies brauchen .
Wir haben einen vollen Bauch, wie man an mir ganz gut
sehen kann . Es ist die absolute Ausnahme, wie wir leben .
73 Prozent der Menschheit haben diese Privilegien nicht .
Seien wir dankbar, dass wir so privilegiert leben dür-
fen . Wundern wir uns nicht, dass die anderen 73 Prozent
der Menschheit auch so leben wollen und sich auf den
Weg zu uns machen . Tun wir alles dafür, dass die Men-
schen in ihren Ländern, ihrer Heimat, eine Zukunft und
die Chance haben, auch so zu leben .
Herzlichen Dank . – Und herzlichen Dank, Frau Präsi-
dentin, für Ihre Geduld .
Vielen Dank, lieber Kollege Stefan Rebmann . – Wei-
tere Wortmeldungen zu diesem Einzelplan liegen nicht
vor .
Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tagesord-
nung angekommen .
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf morgen, Donnerstag, den 10 . September 2015,
9 Uhr, ein .
Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend, der sich für
Sie alle gut entwickelt .
Damit ist die Sitzung geschlossen .