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ID1812000200

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 18/120 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 120. Sitzung Berlin, Mittwoch, den 9. September 2015 Inhalt Tagesordnungspunkt 1 (Fortsetzung): a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes über die Feststellung des Bundes- haushaltsplans für das Haushaltsjahr 2016 (Haushaltsgesetz 2016) Drucksache 18/5500 . . . . . . . . . . . . . . . . . 11603 A b) Beratung der Unterrichtung durch die Bun- desregierung: Finanzplan des Bundes 2015 bis 2019 Drucksache 18/5501 . . . . . . . . . . . . . . . . . 11603 B Einzelplan 04 Bundeskanzlerin und Bundeskanzleramt Dr . Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 11603 B Dr . Angela Merkel, Bundeskanzlerin . . . . . . . 11609 A Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11614 C Thomas Oppermann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 11619 A Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 11622 A Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 11625 B Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 11625 D Bettina Hagedorn (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 11625 D Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 11627 C Martin Gerster (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11630 A Ewald Schurer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11631 C Monika Grütters, Staatsministerin BK . . . . . . 11632 D Sigrid Hupach (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 11634 A Burkhard Blienert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 11635 A Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 11636 D Rüdiger Kruse (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 11637 D Ulle Schauws (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 11639 B Dr . Eva Högl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11640 A Einzelplan 05 Auswärtiges Amt Dr . Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister AA 11642 B Michael Leutert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 11645 C Dr . Franz Josef Jung (CDU/CSU) . . . . . . . . . 11646 C Stefan Liebich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 11647 B Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 11647 D Dr . Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11649 C Niels Annen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11651 A Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . 11652 B Jürgen Hardt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 11653 C Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 11655 C Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015II Dr . Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11655 D Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11656 C Detlef Seif (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 11657 C Alois Karl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 11659 A Einzelplan 14 Bundesministerium der Verteidigung Dr . Ursula von der Leyen, Bundesministerin BMVg . . . . . . . . . . . . . . 11661 A Michael Leutert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 11663 D Karin Evers-Meyer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 11665 A Dr . Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11666 B Henning Otte (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 11667 D Dr . Alexander S . Neu (DIE LINKE) . . . . . . . 11669 C Rainer Arnold (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11671 B Doris Wagner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11672 D Ingo Gädechens (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 11674 A Lars Klingbeil (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11675 B Bartholomäus Kalb (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 11676 B Dr . Fritz Felgentreu (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 11677 C Einzelplan 23 Bundesministerium für wirtschaftliche Zu- sammenarbeit und Entwicklung Dr . Gerd Müller, Bundesminister BMZ . . . . . 11678 D Michael Leutert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 11681 B Sonja Steffen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11682 C Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11683 D Dagmar G . Wöhrl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 11685 A Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 11686 D Dr. Bärbel Kofler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 11688 B Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11689 D Jürgen Klimke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 11691 B Gabriela Heinrich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 11693 A Volkmar Klein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 11694 C Stefan Rebmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 11696 A Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11697 D Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . . 11699 A (A) (C) (B) (D) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11603 120. Sitzung Berlin, Mittwoch, den 9. September 2015 Beginn 9 .00 Uhr
  • folderAnlagen
    Stefan Rebmann (A) (C) (B) (D) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015 11699 Anlage zum Stenografischen Bericht Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Amtsberg, Luise BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 09 .09 .2015 Beck (Bremen), Marieluise BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 09 .09 .2015 Becker, Dirk SPD 09 .09 .2015 Brand, Michael CDU/CSU 09 .09 .2015 Brandl, Dr . Reinhard CDU/CSU 09 .09 .2015 De Ridder, Dr . Daniela SPD 09 .09 .2015 Dröge, Katharina BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 09 .09 .2015 Ebner, Harald BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 09 .09 .2015 Groth, Annette DIE LINKE 09 .09 .2015 Hartmann (Wackern- heim), Michael SPD 09 .09 .2015 Hirte, Dr . Heribert CDU/CSU 09 .09 .2015 Irlstorfer, Erich CDU/CSU 09 .09 .2015 Kiziltepe, Cansel SPD 09 .09 .2015 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Klein-Schmeink, Maria BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 09 .09 .2015 Kolbe, Daniela SPD 09 .09 .2015 Lenkert, Ralph DIE LINKE 09 .09 .2015 Mihalic, Irene BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 09 .09 .2015 Mortler, Marlene CDU/CSU 09 .09 .2015 Obermeier, Julia CDU/CSU 09 .09 .2015 Pfeiffer, Sibylle CDU/CSU 09 .09 .2015 Renner, Martina DIE LINKE 09 .09 .2015 Röspel, René SPD 09 .09 .2015 Sarrazin, Manuel BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 09 .09 .2015 Schwarzelühr-Sutter, Rita SPD 09 .09 .2015 Tressel, Markus BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 09 .09 .2015 Satz: Satzweiss.com, Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de http://www.satzweiss.com http://www.printsystem.de http://www.betrifft-gesetze.de 120. Sitzung Inhaltsverzeichnis TOP 1 Einbringung Haushaltsgesetz 2016 – Finanzplan des Bundes 2015 bis 2019 Epl 04 Bundeskanzlerin und Bundeskanzleramt Epl 05 Auswärtiges Amt Epl 14 Verteidigung Epl 23 wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Anlage
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Gregor Gysi


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (DIE LINKE.)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (DIE LINKE.)


    Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und

    Herren! Zunächst muss ich Ihnen natürlich eine falsche
    Hoffnung nehmen: Es ist nicht meine letzte Rede als
    Fraktionsvorsitzender im Bundestag . Sie müssen mich
    schon noch einmal ertragen .


    (Zurufe von der CDU/CSU und der SPD: Oh! – Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


    Das wollte ich Ihnen nur vorher schon sagen, damit Sie
    nicht falsch strahlen .


    (Volker Kauder [CDU/CSU]: Herr Gysi, Eitelkeit kennt keine Grenzen!)


    Aber kommen wir einmal zu der Frage, wie die Welt
    heute aussieht . Ich glaube, die Situation ist sehr ernst . Wir
    stehen vor gewaltigen Problemen . Kriege und kriegsähn-
    liche Auseinandersetzungen finden in Syrien, im Jemen,
    im Irak, in der Türkei, in der Ukraine und in anderen Län-
    dern statt . Kriege töten, vernichten und zerstören, und die
    Menschen fliehen, um nicht getötet, nicht vernichtet zu
    werden .

    Wie sehen die Staaten aus, in denen auch der Westen
    Krieg geführt hat? Afghanistan – eine einzige Katastro-
    phe: Armut, undemokratische Verhältnisse, terroristische
    Selbstmordanschläge und zunehmend Flüchtlinge . Alle
    anderen Fraktionen waren für den Krieg in Afghanistan,
    nur die Linke war dagegen und hat vor den Folgen ge-
    warnt .


    (Christine Lambrecht [SPD]: Das ist momentan das Wichtigste, was zu klären ist!)


    Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen: Wir
    hatten recht .


    (Beifall bei der LINKEN – Thomas Oppermann [SPD]: Mit Ihnen wäre das alles nicht passiert!)


    Glücklicherweise hat sich Deutschland nicht unmit-
    telbar an den Kriegen gegen den Irak und gegen Libyen
    beteiligt, aber die USA, Großbritannien, Frankreich und
    andere Länder . Hussein war schlimm und ist weg . Aber
    ist die Situation jetzt besser? Gaddafi war schlimm und
    ist weg . Aber ist die Situation jetzt besser? Krieg muss
    überwunden werden, wenn man ernsthaft will, dass Men-
    schen diesbezüglich nicht gezwungen werden, zu fliehen.


    (Beifall bei der LINKEN)


    Deutschland ist aber der drittgrößte Waffenexporteur
    der Welt und verdient an jedem Krieg . Waffen werden
    auch an Diktaturen wie Saudi-Arabien und Katar ver-
    kauft . Saudi-Arabien führt einen Krieg gegen Jemen,






    (A) (C)



    (B) (D)


    bezieht dennoch Waffen aus Deutschland . Diese unheil-
    volle Politik muss überwunden werden . Verhindern Sie
    doch wenigstens Waffenverkäufe an Diktaturen und in
    Krisengebiete .


    (Beifall bei der LINKEN)


    Das ist doch nur ein Minimum . Wenigstens die Sozialde-
    mokratische Partei Deutschlands müsste darauf bestehen .

    Wir erleben darüber hinaus eine Entstaatlichung von
    Staaten . Wir haben zunehmend Länder, in denen Re-
    gierung, Polizei, Justiz, Bildung und Gesundheitswesen
    nicht funktionieren . Oft ist es die Folge der vom Westen
    geführten Kriege . Wenn es keine funktionierenden Re-
    gierungen gibt, gibt es auch keine Verhandlungspartner,
    die etwas durchsetzen können . Die Bürgerinnen und
    Bürger können so nicht geschützt werden . Entstaatlich-
    te Staaten sind Syrien, Libyen, Irak, Jemen, Somalia . In
    den ersten vier Ländern sind inzwischen 9 000 Schulen
    geschlossen worden. Lehrerinnen und Lehrer fliehen,
    und auch die Eltern mit ihren Kindern fliehen, weil die-
    se ohne Schulbildung in ihrem Leben chancenlos wären .
    Was tut die Bundesregierung dagegen? Ich bin gespannt
    auf Ihre Antwort, Frau Bundeskanzlerin . Und warum er-
    fahren wir eigentlich in den Medien so wenig über die
    mörderischen Auseinandersetzungen in diesen Ländern?
    Ich finde, dass Information wichtig ist.

    Ich wiederhole mich: Jährlich sterben auf der Erde
    etwa 70 Millionen Menschen. Die häufigste Todesursa-
    che ist der Hunger . Jährlich sterben etwa 18 Millionen
    Menschen auf der Erde an Hunger . Wir haben aber welt-
    weit eine Landwirtschaft, die die Menschheit zweimal
    ernähren könnte . Menschen, die Angst haben, zu verhun-
    gern, fliehen. Was tut die Bundesregierung dagegen, dass
    der Profit von Konzernen Vorrang vor dem Überleben
    von Menschen hat? Auch darauf, Frau Bundeskanzlerin,
    müssten Sie eine Antwort geben .

    Not, Elend, also Armut, nehmen weltweit ebenso zu,
    wie der Reichtum anwächst . Nur ganz wenige Zahlen:

    Seit 2008 hat sich die Zahl der Milliardäre auf der Erde
    verdoppelt . Die reichsten 80 Personen auf der Erde besit-
    zen genauso viel wie die ärmere Hälfte der Menschheit,
    das heißt wie 3,5 Milliarden Menschen . 80 Menschen
    besitzen genauso viel wie 3,5 Milliarden Menschen! Vor
    fünf Jahren waren es noch 388 Personen . Interessant ist:
    Aus 388 Personen werden nicht 400, 500 und dann 600,
    sondern daraus werden 80, weil der Reichtum sich ganz
    anders konzentriert . Eine Milliarde Menschen haben ein
    Einkommen von einem Dollar pro Tag . Armut, bittere
    Armut führt ebenso zur Flucht .

    Dagegen unternimmt die Bundesregierung nichts .
    Denn auf wesentlich höherem Niveau passiert in Euro-
    pa und Deutschland das Gleiche . Die OECD stellte jetzt
    fest, dass die Kluft zwischen Arm und Reich in Deutsch-
    land sich deutlich vergrößert hat, übrigens immer mit ei-
    ner SPD in der Regierung; ich kann es doch nicht ändern .


    (Unruhe bei der SPD)


    – Sie müssen es sich einfach anhören . – Die reichsten
    zehn Prozent der Bevölkerung verdienten Mitte der
    80er-Jahre fünfmal so viel wie die ärmsten zehn Prozent

    unserer Bevölkerung . Inzwischen verdienen sie sieben-
    mal so viel .

    Ein Prozent der Bevölkerung in Deutschland besitzt
    32 Prozent des gesamten Vermögens, und die finanziell
    schwächere Hälfte der Haushalte, also 50 Prozent unse-
    rer Haushalte, besitzt ein Prozent des Vermögens . 50 Pro-
    zent besitzen ein Prozent des Vermögens! Das Interes-
    sante ist: 1998 besaß diese Hälfte noch vier Prozent des
    Vermögens . Aus vier Prozent werden nicht fünf Prozent
    und dann sechs Prozent und sieben Prozent, sondern aus
    vier Prozent wird ein Prozent . Das ist eine Katastrophe .
    Damit machen Sie die Gesellschaft kaputt .


    (Beifall bei der LINKEN)


    Ein Staat, der selbst so ungerecht verteilt, kann sich auch
    nicht weltweit wirksam gegen Armut einsetzen und orga-
    nisiert mithin schon wieder Flüchtlinge .

    Nachgewiesen wird von der OECD übrigens auch,
    wie schädlich für die Binnenwirtschaft die Schwächung
    der Kaufkraft eines großen Teils unserer Bevölkerung ist .
    Der Generalsekretär der OECD sagte – ich zitiere wört-
    lich –:

    Der Kampf gegen Ungleichheit muss in das Zent-
    rum der politischen Debatte rücken .

    Die Linke wird genau das versuchen .


    (Beifall bei der LINKEN – Zuruf des Abg . Johannes Kahrs [SPD])


    Weltweit muss auch ein entschiedener Kampf gegen
    Rassismus geführt werden . Sinti und Roma sind zum
    Beispiel die in vielen europäischen Ländern erheblich
    benachteiligten Teile der Bevölkerung. Sie fliehen in
    der Hoffnung, endlich irgendwo hinzukommen, wo sie
    gleichberechtigt behandelt werden . Gerade in diesen viel
    diskutierten westlichen Balkanländern findet eine men-
    schenrechtsverletzende und menschenrechtsverachtende
    Politik gegenüber Sinti und Roma statt . Außerdem ist die
    Politik von Orban in Ungarn schlicht indiskutabel . Dage-
    gen muss ganz entschieden Stellung genommen werden .


    (Beifall bei der LINKEN)


    Wenn die Bundesregierung nicht ernsthaft beginnt, die
    Fluchtursachen wirksam zu bekämpfen, die Weltproble-
    me ernsthaft anzugehen, werden sie täglich verschärfter
    zu uns kommen, bis sie unbeherrschbar sind . Natürlich,
    Frau Bundeskanzlerin, können Sie das nicht allein . Das
    erwartet auch niemand . Aber was bereden Sie eigentlich
    auf den G-7-, G-8- oder G-20-Gipfeln? Warum drängen
    Sie nicht darauf, wirksam gegen Krieg, Hunger, Not,
    Elend, Armut und Rassismus vorzugehen? Das wäre
    doch wohl das Mindeste .


    (Beifall bei der LINKEN)


    Nun erwarten wir in diesem Jahr 800 000 Flüchtlin-
    ge in Deutschland, die eigentlich kein Problem, sondern
    eine Chance sind .


    (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


    Ich begrüße es ausdrücklich, Frau Bundeskanzlerin, dass
    Sie für die Flüchtlinge in Ungarn hier die Türen geöffnet
    haben . Aber ich sage: Auch die Zustände in Ungarn müs-

    Dr. Gregor Gysi






    (A) (C)



    (B) (D)


    sen ganz deutlich verbessert werden . Dazu komme ich
    noch . Also: Es ist eigentlich fantastisch, dass viele Tau-
    sende Menschen zu uns kommen, aber es ist noch fantas-
    tischer, wie viele Tausende Menschen, die ehrenamtlich
    aktiv sind, sie begrüßen und sie unterstützen . Ich glaube,
    das hätte es so vor zehn Jahren noch nicht gegeben . Das
    ist eine sehr gute Entwicklung .


    (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


    Aber man darf das auch nicht überziehen . Auch ehren-
    amtliche Helfer sind irgendwann müde, sind irgendwann
    abgespannt . Das heißt, der Bund muss eingreifen und vor
    allen Dingen die strukturellen Probleme lösen .

    Auf der anderen Seite haben wir einen rechtsextremen
    Mob, der rassistisch hetzt, hasst und Flüchtlingsunter-
    künfte in Brand setzt . Ich sage Ihnen: Dagegen müssen
    wir geschlossen auftreten, egal wie groß ansonsten unse-
    re Meinungsunterschiede sind .


    (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Aber es gibt auch Menschen, die Ängste damit verbin-
    den, die glauben, dass es ihnen besser ginge, wenn es we-
    niger Flüchtlinge gäbe . Ich habe sie gefragt, ob es ihnen
    besser ging, bevor die Flüchtlinge kamen . Das mussten
    sie verneinen . Es ist überhaupt kein logisches Argument,
    aber wir sind trotzdem verpflichtet, diese abstrakten
    Ängste abzubauen. Und wir sind verpflichtet, mehr so-
    ziale Gerechtigkeit herzustellen . Ich sage Ihnen: Wenn
    Verhältnisse so sozial ungerecht sind, dann nutzt das der
    Rechtsextremismus aus, um Leute für sich zu gewinnen
    mit schlichten rassistischen und anderen Losungen . Also
    kämpfen wir nicht nur aus materiellen Gründen, sondern
    auch aus wichtigen ideellen Gründen für deutlich mehr
    soziale Gerechtigkeit in Deutschland .


    (Beifall bei der LINKEN)


    Im Übrigen: Der ärmere Teil der Bevölkerung ist der
    Teil, der immer seltener zur Wahl geht . Das ist demo-
    kratiegefährdend . Wir müssen also auch mehr soziale
    Gerechtigkeit gestalten, damit diese Menschen wieder
    die Demokratie begrüßen und sich an Wahlen beteiligen .


    (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Die Flüchtlinge sind schon deshalb eine Chance, weil
    uns immer mehr Arbeitskräfte fehlen . Der Arbeitgeber-
    präsident begrüßt deshalb den Zustrom an Flüchtlingen .
    Jedes Jahr sterben bekanntlich mehr Deutsche als gebo-
    ren werden . Da es ja handwerklich nicht verlernt wor-
    den ist, müssen wir uns doch einmal Gedanken darüber
    machen, woran das liegt . Ich sage Ihnen: Das liegt dar-
    an, dass wir keine kinderfreundliche Gesellschaft sind .
    Es liegt daran, dass wir ein Bildungssystem aus dem
    19 . Jahrhundert haben, dass es keinen chancengleichen
    Zugang zu Bildung, Kunst und Kultur bei Kindern gibt .
    Von einem solchen Zugang kann nicht einmal im Ansatz
    die Rede sein .

    Die umfassende prekäre Beschäftigung dank Agenda
    2010 verhindert, dass die Menschen verantwortungs-

    bewusst Kinder in die Welt setzen können . Massenhaft
    kriegen junge Leute nur befristete Arbeitsverträge von
    einigen Monaten . Sie wissen nicht einmal, was aus ihnen
    wird, geschweige denn, was aus ihren Kindern werden
    soll . All das sind die Ursachen dafür .

    Aber selbst wenn wir – das muss ich so deutlich sa-
    gen – Flüchtlinge wirtschaftlich nicht brauchten, sind wir
    verpflichtet, sie anständig zu behandeln, sie anständig
    unterzubringen und sie zu integrieren .


    (Beifall bei der LINKEN)


    Deshalb ist es gut, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie im
    kommenden Jahr sechs Milliarden Euro im Bundeshaus-
    halt dafür einsetzen wollen . Das ist ein Schritt in die rich-
    tige Richtung . Aber das Geld genügt nicht, und vor allem
    ist das keine strukturelle Lösung . Deshalb sage ich Ihnen
    noch einmal: Wir müssten den Solidaritätszuschlag nicht
    abschaffen, sondern beibehalten und das Aufkommen da-
    raus gerecht unter den 16 Bundesländern verteilen, damit
    diese die Aufgaben bei der Unterbringung und bei der
    Integration der Flüchtlinge meistern können .


    (Beifall bei der LINKEN)


    Das Asylverfahren ist übrigens Bundesrecht . Insofern
    müssen die Kosten meines Erachtens auch vom Bund
    getragen werden, aber nicht von den Ländern und Kom-
    munen .

    Es ist richtig, dass Sie mehr Deutschkurse anbieten .
    Ihre Überlegungen, Flüchtlinge schneller loszuwerden,
    gehen aber eindeutig in die falsche Richtung .


    (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


    Sie erweitern die Zahl sicherer Herkunftsländer, um
    schneller abschieben zu können . So soll nun der Koso-
    vo ein sicheres Herkunftsland sein, wenn ich Sie richtig
    verstanden habe . Sie begründen uns doch immer die Not-
    wendigkeit der Bundeswehr im Kosovo damit, dass es
    dort so unsicher ist . Was stimmt denn nun? Braucht man
    dort die Bundeswehr, oder ist das ein sicheres Land? Sie
    müssen auch einmal Logik in Ihre Politik bringen .


    (Beifall bei der LINKEN)


    Übrigens: Der Vorschlag, Bargeld für Flüchtlinge
    abzuschaffen und durch Gutscheine zu ersetzen, wider-
    spricht einer Entscheidung des Bundesverfassungsge-
    richts . Gehen Sie doch keinen grundgesetzwidrigen Weg .
    Er ist immer falsch .


    (Beifall bei der LINKEN)


    Flüchtlinge sollen nach drei Monaten Aufenthalt
    Leiharbeit verrichten dürfen . Sie wollen also einen neuen
    Sektor für Niedriglohn eröffnen . Auch das ist indiskuta-
    bel. Darunter sind übrigens oft viele qualifizierte Kräfte.
    Mir wird immer gesagt, dass man nicht weiß, ob die Qua-
    lifikation stimmt. Mein Gott, wir haben doch immer eine
    Probezeit . Da weiß beispielsweise ein Arzt sofort, ob die
    Qualifikation stimmt oder nicht stimmt. Hier müssen wir
    einmal etwas lockerer, etwas unbürokratischer werden
    und dafür sorgen, dass die Menschen so schnell wie mög-
    lich Beschäftigung finden.


    (Beifall bei der LINKEN)


    Dr. Gregor Gysi






    (A) (C)



    (B) (D)


    Sechs osteuropäische Länder erklärten, niemals mit
    Flüchtlingsquoten einverstanden zu sein: Tschechien, die
    Slowakei, Polen, Ungarn, Litauen und Lettland . Nun bin
    ich auch gegen Quoten, weil es sich nämlich um Men-
    schen handelt und nicht um Sachen; die kann man nicht
    einfach verteilen .


    (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


    Aber eine gerechte Kostenverteilung innerhalb der
    Europäischen Union halte ich für zwingend erforderlich .
    Wenn dann Länder, die kaum Flüchtlinge aufnehmen,
    nicht bereit sind, ihren Kostenanteil zu zahlen, müssen
    ihnen die Zuschüsse von der EU entsprechend gekürzt
    werden . Da muss man jetzt einmal mehr Mumm zeigen,
    Frau Bundeskanzlerin .


    (Beifall bei der LINKEN)


    Übrigens erklärt die polnische Regierung, dass Polen
    für muslimisch gläubige Flüchtlinge ungeeignet sei . Nun
    ist dieses Land bekanntlich schwer katholisch geprägt .
    Es kann doch nicht wahr sein, dass ich denen jetzt schon
    wieder die Bergpredigt von Jesus Christus erklären muss .


    (Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN – Zuruf von der SPD: Das ist aber peinlich!)


    Wenn diese Mitglieder der polnischen Regierung zur
    Beichte gehen, müssen sie so viele Rosenkränze beten,
    dass sie gar nicht mehr aus der Kirche herauskommen .
    Ich kann nur sagen: Führen Sie mit denen mal eine schar-
    fe und deutliche Auseinandersetzung .


    (Beifall bei der LINKEN)


    Ungarn . Orban schafft Schritt für Schritt die Demo-
    kratie ab und strebt eindeutig autoritäre Strukturen an .
    Das verkündet er sogar . Die USA haben bereits Sankti-
    onen ausgesprochen . Und was macht unsere Bundesre-
    gierung? Sie mault etwas vor sich hin . Das reicht nicht .
    Hier müssen wirklich Maßnahmen ergriffen werden,
    aber nicht nur von der Bundesregierung, sondern auch
    von der EU .


    (Beifall bei der LINKEN)


    Und noch etwas, das interessiert mich, Frau Dr .
    Merkel, Herr Kauder und Frau Hasselfeldt . Orbans Par-
    tei ist Mitglied der konservativen Fraktion im Europäi-
    schen Parlament . Das heißt, die Abgeordneten der CDU
    und der CSU sitzen gemeinsam in einer Fraktion mit den
    Mitgliedern von Orbans Partei . Meinen Sie nicht, es ist
    höchste Zeit, diese Partei aus Ihrer europäischen Fraktion
    rauszuschmeißen, und zwar achtkantig?


    (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Insgesamt sieht man die unzureichenden Strukturen
    der EU . Nichts Wirksames geschieht gegen Orbans un-
    erträgliche Politik .

    Russland . Russland ist eine Weltmacht, und nicht, wie
    Obama meinte, eine Regionalmacht . Russland ist eine
    Vetomacht . Russland ist das militärisch stärkste Land in
    Europa . Obama verlangte Wirtschaftssanktionen durch
    die EU, auch durch die Bundesrepublik . Wie immer sind
    Sie den Forderungen der US-Administration artig gefolgt

    und haben alles gemacht, was sie wollte . Wir haben da-
    durch deutliche Wirtschaftseinbußen . Ich kenne mittel-
    ständische Unternehmen, die an Russland geliefert haben
    und jetzt nicht wissen, wie sie die Insolvenz verhindern
    sollen .

    Nun lese ich, dass nach russischen Angaben der Handel
    zwischen den USA und Russland um sechs bis elf Pro-
    zent zugenommen hat . Ich meine, es wäre doch eine sa-
    genhafte Frechheit, von uns Sanktionen zu verlangen und
    selbst den Handel zu steigern . Deshalb sage ich Ihnen:
    Hören Sie endlich damit auf! Sie müssen eine eigenstän-
    dige Interessenpolitik machen . Es gibt keinen Frieden in
    Europa ohne oder gegen Russland . Das müssen wir be-
    achten .


    (Beifall bei der LINKEN)


    Noch etwas: Jetzt höre ich plötzlich, dass Russland
    Waffen und Truppen um Syrien zusammenzieht . Dann
    lese ich, das sei alles mit den USA abgestimmt . Dann
    lese ich wiederum, dass die US-Regierung die russische
    Regierung warnt . Jetzt frage ich mich: Ist die Warnung
    auch abgestimmt, indem man sagt: „Macht das mal, aber
    wir müssen so tun, als ob wir dagegen sind“? Ich hoffe,
    Frau Bundeskanzlerin, Sie können uns einmal aufklären
    und sagen, wie es da wirklich aussieht . Es wird Zeit, dass
    unsere Bevölkerung diesbezüglich informiert wird .


    (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


    Noch etwas: Ich verstehe sehr gut, dass man Assad
    nicht mag; das kann ich alles nachvollziehen . Er verletzt
    Menschenrechte in vielfacher Hinsicht . Aber man wird
    einen Frieden ohne Assad doch wirklich nicht finden. Ist
    die Friedensfrage nicht wichtiger als die Frage, wen man
    aus Menschenrechtsgründen ablehnt oder nicht ablehnt?


    (Volker Kauder [CDU/CSU]: Gilt das auch für andere? – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Sehr eigenartig!)


    Letztlich müssen wir begreifen und danach handeln:
    Frieden und Sicherheit brauchen wir überall auf der Erde .
    Deutschland darf nicht der drittgrößte Waffenexporteur
    der Welt sein .


    (Beifall bei der LINKEN – Johannes Kahrs [SPD]: Wenn Sie jetzt hier Assad verteidigen, dann wird es grenzwertig!)


    Türkei . Es gab einen Friedensprozess zwischen der
    Regierung der Türkei und den Kurdinnen und Kurden .
    Dann hat sich die Regierung entschieden, gegen die PKK
    Krieg zu führen . Jetzt sagt Erdogan, es gibt für ihn nur
    noch eine militärische Lösung . Er marschiert sogar in
    den Irak ein . Aber gerade die syrischen und irakischen
    Kurdinnen und Kurden, wenn ich darauf einmal hinwei-
    sen darf, führen den einzig wirklich wirksamen Kampf
    am Boden gegen den „Islamischen Staat“ . Die werden
    jetzt aber bekriegt, und zwar von einem NATO-Partner .
    Und was machen Sie dagegen? Nichts . Geben Sie doch
    einmal dieses Schweigen auf und suchen Sie die wirk-
    liche Auseinandersetzung mit Erdogan, weil das nicht
    mehr hinnehmbar ist!


    (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Dr. Gregor Gysi






    (A) (C)



    (B) (D)


    Griechenland . Herr Schäuble, vielleicht haben Sie Ihr
    Ziel erreicht, und die linke Regierung ist gestürzt . Wir
    warten das Ergebnis der Wahlen ab .


    (Ulli Nissen [SPD]: Das ist ja großzügig! – Volker Kauder [CDU/CSU]: Was ganz Neues!)


    Aber eines hat die linke Regierung von Griechenland
    erreicht: eine Diskussion in ganz Europa über den Euro
    und über die EU-Strukturen, wie wir sie noch nie hatten .
    Jetzt stellt sich die Frage, ob die EU weiter in Richtung
    Demokratie- und Sozialabbau oder endlich umgekehrt in
    Richtung mehr Demokratie und mehr soziale Gerechtig-
    keit gestaltet wird . Wir brauchen die EU für den Frieden
    in Europa, aber eben auch für mehr Demokratie und so-
    ziale Gerechtigkeit .


    (Beifall bei der LINKEN)


    Ich sage Ihnen, Herr Schäuble, Sie haben leider mit
    Ihrer Politik erreicht – Sie natürlich auch, Frau Bundes-
    kanzlerin –, dass der Rechtspopulismus und der Rechts-
    extremismus, die zu den alten Nationalstaaten zurück-
    wollen, in den europäischen Ländern Erfolge zeigen .
    Schon das müsste Sie wachrütteln und die Politik gänz-
    lich ändern .


    (Beifall bei der LINKEN)


    TTIP . Wir haben immer die mangelnde Transparenz
    bei dem sogenannten Freihandelsabkommen, das da zwi-
    schen den USA und der Europäischen Union verhandelt
    wird, kritisiert . Es hat sich ein kleines bisschen verbes-
    sert, aber nicht viel . Jetzt nenne ich Ihnen drei Probleme:

    Erstens . Wir kennen ein Vorsorgeprinzip, das in den
    USA unbekannt ist . Die kennen ein Nachsorgeprinzip .
    Das heißt, wenn man in Deutschland ein neues Lebens-
    mittel auf den Markt bringen will, muss man beweisen,
    dass das nicht schädlich ist .


    (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Quatsch!)


    Dass wir da manchmal falsche Beweise kriegen, ist eine
    andere Frage . Man muss es aber beweisen . In den USA
    ist es genau umgekehrt . Da kann man jedes Lebensmittel
    auf den Markt bringen . Wenn man dann aber Schaden
    anrichtet, wird man irgendwann zu ein paar Milliarden
    Schadenersatz verurteilt . Das ist eine völlig umgekehrte
    Herangehensweise .


    (Thomas Oppermann [SPD]: Das stimmt nicht mit der Wahrheit überein!)


    Die mittelständischen Unternehmen sagen mir, sie liegen
    damit zwei bis drei Jahre zurück und haben dadurch ei-
    nen ganz großen Nachteil . Das sollte Sie doch eigentlich
    interessieren .


    (Johannes Kahrs [SPD]: Ich weiß nicht, was Sie uns hier erzählen wollen!)


    Zweitens . Die Schiedsgerichte sind abenteuerlich . Sie
    müssen sich einmal Folgendes überlegen: Da kommt ein
    kanadischer oder amerikanischer Konzern, klagt vor ei-
    nem Schiedsgericht und bekommt dann 200 Milliarden
    Euro Schadenersatz durch die Bundesregierung zugebil-

    ligt, und man kann nichts mehr machen . Es gibt kein wei-
    teres Gericht, weder ein deutsches noch ein europäisches .
    Die eigenen Unternehmen müssen bis zum Europäischen
    Gerichtshof oder bis zum Bundesverfassungsgericht ge-
    hen, um irgendetwas durchzusetzen . Das ist wiederum
    eine schwere Benachteiligung .


    (Volker Kauder [CDU/CSU]: Wahnsinn!)


    Ich weiß, dass die Wirtschaft für ein Freihandelsab-
    kommen ist . Wir sagen dazu Nein . Ich weiß auch, welche
    Kritik Sie daran üben, und die sollten Sie ernst nehmen .

    Drittens .


    (Ulli Nissen [SPD]: Jetzt mal was Neues!)


    Das für uns entscheidende Kriterium ist das Verbot von
    Investitionshemmnissen . Ich bitte Sie: Wissen Sie, was
    das heißt? Das heißt Folgendes: Ein amerikanischer Kon-
    zern gründet zu irgendeinem Zeitpunkt, als es eine be-
    stimmte rechtliche Situation gab, seinen Sitz in Deutsch-
    land . Danach gibt es Neuwahlen in der Bundesrepublik
    Deutschland, und – sagen wir einmal – es entsteht eine
    vernünftige Regierung, also aus oder mit Linken; nur ein-
    mal angenommen .


    (Dr . Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn Sie selber wollen würden! Aber Sie wollen es selber nicht! – Zuruf von der CDU/CSU: Träumer!)


    – Ja, man darf doch träumen, das ist doch nicht ver-
    boten . – Passen Sie auf: Jetzt erlaubt diese Regierung
    sich, die Mitbestimmung in Unternehmen zu erweitern,
    vielleicht sogar ein kleines bisschen die Steuern für die
    Konzerne zu erhöhen . Und dann sagen die: Das verstößt
    gegen das Verbot von Investitionshemmnissen . – Wenn
    Sie das unterschreiben, dann sagen Sie, dass eine Poli-
    tik in einer bestimmten Richtung verboten ist und dass
    die Verhältnisse nur noch reaktionärer werden dürfen .
    Da kann doch die Sozialdemokratische Partei Deutsch-
    lands in Anbetracht ihrer Geschichte eigentlich niemals
    zustimmen; aber Sie organisieren das Ganze noch .


    (Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei der SPD)


    Ich komme zur prekären Beschäftigung . Wir haben in
    Deutschland nach wie vor den größten Niedriglohnsektor
    in Europa . Wir hatten einmal – vor 20 Jahren – 26 Milli-
    onen Menschen in Vollzeitbeschäftigung, jetzt nur noch
    22 Millionen . Der Anteil der prekären Beschäftigung,
    das heißt erzwungenen Teilzeit, Befristung, Leiharbeit
    und geringfügigen Beschäftigung, ist um 70 Prozent ge-
    stiegen und beträgt jetzt 21 Prozent aller Beschäftigungs-
    verhältnisse . Ich sage Ihnen ganz klar: Leiharbeit ist für
    mich eine moderne Form der Sklaverei und muss verbo-
    ten werden .


    (Beifall bei der LINKEN)


    Aber wenn Sie schon Ausnahmen machen, dann müs-
    sen Sie wenigsten dafür sorgen, dass eine Leiharbeiterin
    oder ein Leiharbeiter ab der ersten Stunde der Beschäf-
    tigung Anspruch auf 110 Prozent des Lohnes hat, den
    ein anderer Beschäftigter in dem Unternehmen für die
    gleiche Tätigkeit bezieht, damit diese Leiharbeit endlich

    Dr. Gregor Gysi






    (A) (C)



    (B) (D)


    zur Ausnahme wird und nicht zu einem Nötigungsmittel,
    um der eigenen Belegschaft das Weihnachtsgeld, das Ur-
    laubsgeld und vieles andere zu entziehen .


    (Beifall bei der LINKEN)


    Befristung darf es nur noch mit Sachgrund geben und
    nicht – wie heute – willkürlich .


    (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


    Auch die erzwungene Teilzeit müssen wir loswerden .
    Wenn es Teilzeit schon gibt, dann muss sie freiwillig
    sein, aber mit dem Recht auf Rückkehr zur Vollbeschäf-
    tigung . Übrigens, die Frauen trifft es besonders hart .
    Die Vollzeitbeschäftigungsquote bei Frauen sank von
    55 Prozent auf 40 Prozent, und die Zahl der Teilzeitjobs
    für Frauen nahm zu von 3,8 auf 6,3 Millionen . Ich sage
    Ihnen: Armut ist immer weiblich . Deshalb war der Streik
    der Erzieherinnen und Erzieher und der Sozialarbeite-
    rinnen und Sozialarbeiter so wichtig, um wenigstens zu
    erreichen, dass diese klassischen Frauenberufe endlich
    nicht mehr so grottenschlecht bezahlt werden, wie das
    gegenwärtig der Fall ist . Wir brauchen gleichen Lohn für
    gleichwertige Arbeit .


    (Beifall bei der LINKEN)


    Übrigens, Frau Nahles, wann setzen Sie Ihre – aus
    unserer Sicht völlig unzureichenden – Gesetze zur Be-
    grenzung von Leiharbeit und gegen den Missbrauch von
    Werkverträgen endlich um? Das wird Zeit, das kann man
    doch nicht bloß beschließen .


    (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das ist die Rede vom letzten Mal!)


    Also, ich sage Ihnen ganz klar: Wir werden einen ent-
    schiedenen Kampf gegen die prekäre Beschäftigung und
    den Niedriglohnsektor in Deutschland führen .

    Ich komme zum Schluss und sage Ihnen Folgendes:


    (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)


    – Ich will Ihnen zwischendurch auch mal eine kleine
    Freude machen . -


    (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Super!)


    Wenn wir jetzt über die Halbzeit der Großen Koalition
    reden, dann darf ich doch drei Dinge bewerten:

    Erstens . Immer wieder wird behauptet, dass Sie, Frau
    Dr . Merkel, die CDU sozialdemokratisiert haben . Wel-
    ches Bild muss inzwischen eigentlich von der Sozialde-
    mokratie herrschen, wenn Ihre Politik als sozialdemokra-
    tisch gilt?


    (Beifall bei der LINKEN)


    Aber ich frage mich, welche Projekte Sie eigentlich in den
    nächsten zwei Jahren anfangen wollen . Leider glaube ich
    nicht, dass Sie wirksam die Fluchtursachen bekämpfen,
    die Rüstungsexporte wesentlich und deutlich beschrän-
    ken, einen Kampf führen gegen den Niedriglohnsektor,
    gegen die prekäre Beschäftigung und gegen die Altersar-
    mut und endlich eintreten für Chancengleichheit, insbe-
    sondere für Kinder beim Zugang zu Bildung, Kunst und
    Kultur . Dazu gehört übrigens auch ein deutlich billigerer

    öffentlicher Nahverkehr . Aber was haben Sie stattdessen
    vor? Erzählen Sie es uns .

    Zweitens . Die CSU ist ein besonders trauriger Fall .


    (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg . Dr . Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das sagt der Richtige! – Widerspruch der Abg . Gerda Hasselfeldt [CDU/CSU])


    – Ja, Frau Hasselfeldt, ich muss es Ihnen sagen . Sie hat-
    ten aus Ihrer Sicht zwei tolle, aus meiner Sicht zwei ganz
    besonders blöde Projekte . Das war einmal das Betreu-
    ungsgeld, mit dem Sie Eltern dafür bezahlten, dass sie
    das Lernen ihrer Kinder in Kindertagesstätten unterbin-
    den .


    (Sabine Weiss Quatsch!)


    Wir haben Ihnen gesagt, dass es grundgesetzwidrig ist .
    Sie haben es uns nicht geglaubt . Inzwischen hat es das
    Bundesverfassungsgericht eindeutig festgestellt .


    (Max Straubinger [CDU/CSU]: Das stimmt ja nicht! Das müssten Sie ja als Jurist wissen, Herr Dr . Gysi!)


    Und dann die Maut! Liebe CSU, ich habe Ihnen ge-
    sagt, mit Tricks kann man Europarecht nicht umgehen .
    Sie wollten es mir nicht glauben und mussten nun alles
    stoppen, nachdem in der EU ein Verfahren gegen unser
    Land eingeleitet wurde . Ich werde Sie nicht inhaltlich
    überzeugen können .


    (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Traut bloß den Eltern nicht!)


    Aber glauben Sie mir: Wenn Sie diesbezüglich nicht über
    solche Mitglieder verfügen, müssen Sie sich wenigstens
    Beraterinnen und Berater suchen, die sich im Europa-
    recht und im Grundgesetz auskennen . Glauben Sie mir
    das!


    (Beifall bei der LINKEN – Ulrike Gottschalck [SPD]: Aber nicht in Leiharbeit!)


    Drittens: die SPD . Die SPD sitzt, auch wenn sie es
    gelegentlich vergisst, ebenfalls in der Bundesregierung .
    Viel zu spüren ist das allerdings nicht .


    (Ulli Nissen [SPD]: Das sehen Sie völlig falsch!)


    Sie stehen vor einer spannenden Frage: Wollen Sie ein
    Anhängsel der Union bleiben oder doch zu einem Ge-
    genüber werden?


    (Ulli Nissen [SPD]: Wer hat denn die Mietpreisbremse gemacht?)


    Die Depressionen bei Ihnen gehen ja schon so weit, dass
    in Ihren Reihen, lieber Herr Gabriel, diskutiert wird, ob
    man überhaupt noch eine eigene Kanzlerkandidatin oder
    einen eigenen Kanzlerkandidaten aufstellen sollte . Mein
    Gott! Wann kehrt in die Sozialdemokratie endlich mal

    Dr. Gregor Gysi






    (A) (C)



    (B) (D)


    wieder Leidenschaft, Kampfgeist, und zwar für Frieden
    und soziale Gerechtigkeit, zurück?


    (Beifall bei der LINKEN – Ulli Nissen [SPD]: Was meinen Sie, was wir für Leidenschaft haben in unserer Politik! – Zuruf von der CDU/ CSU, an die SPD gewandt: Der macht sich echt Sorgen um euch!)


    Mein letzter Satz: Viel Hoffnung für die Bevölkerung
    entsteht durch die – übrigens wegen der großen Mehr-
    heit – demokratiegefährdende Große Koalition für die
    nächsten beiden Jahre nicht, aber wer weiß, was 2017
    passiert!


    (Beifall bei der LINKEN – Johannes Kahrs [SPD]: Solange Ihr Verein so politikunfähig ist, wird das mal nichts!)




Rede von Dr. Norbert Lammert
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

Das Wort erhält nun die Bundeskanzlerin .


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Angela Merkel


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)


    Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

    Kollegen! Meine Damen und Herren! Unsere Wirtschaft
    ist stark, unser Arbeitsmarkt robust . In vielen Branchen
    werden Fachkräfte sogar regelrecht gesucht . Das heißt,
    man kann sagen, Deutschland ist in diesen Monaten in
    guter Verfassung .


    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


    Ein entscheidender Grund – bei Weitem nicht der ein-
    zige –, warum Deutschland stark ist, liegt in der soliden
    Finanz- und Haushaltspolitik dieser Bundesregierung .


    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


    Wir sind den Weg der wachstumsorientierten Konsoli-
    dierung gegangen, und er hat sich bewährt . Das gibt uns
    den nötigen Rückhalt und macht uns voll handlungsfä-
    hig . Wir haben im vergangenen Jahr mit dem Haushalt
    für 2015 einen historischen Wendepunkt erreicht: keine
    neuen Schulden . Und das gilt auch weiter für die mittel-
    fristige Finanzplanung .

    Das heißt, Deutschlands Finanzen stehen auf einem
    soliden Fundament . Das ist wiederum einer der Gründe
    dafür, dass sich auch die wirtschaftspolitische Halbzeit-
    bilanz der Bundesregierung mehr als sehen lassen kann .
    Die Wirtschaft wächst deutlich . Wir haben eine Rekord-
    beschäftigung . Die Zahl der Erwerbstätigen ist im Juli
    auf knapp 43 Millionen Personen gestiegen . Das waren
    160 000 mehr als im Vorjahr . Was ich besonders bemer-
    kenswert und wichtig finde: Der Anstieg geht auf mehr
    sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zurück. Das
    ist ja genau unser Ziel .

    Die Arbeitslosigkeit ist so niedrig wie seit 1991 nicht
    mehr . Die bundesweite Arbeitslosenquote lag im August
    bei 6,4 Prozent und damit 0,3 Prozentpunkte unter dem
    Vorjahresniveau . Wir haben mit einer Quote von 7,7 Pro-

    zent – immer noch zu hoch, aber immerhin – die nied-
    rigste Erwerbslosigkeit unter den Jugendlichen in der
    Europäischen Union .

    Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben mehr Geld
    in der Tasche . Seit Amtsantritt dieser Bundesregierung
    sind die Löhne in jedem Quartal stärker gestiegen als die
    Inflation. Die deutschen Exporte erreichen einen neuen
    Höchststand . Das alles geschieht in einem Umfeld, das ja
    bei Weitem nicht nur als stabil bezeichnet werden kann .
    Die Weltwirtschaftslage ist nicht völlig ohne Risiken .
    Die Schwellenländer gehen durch eine schwierige Phase .
    Aber wir als Bundesregierung rechnen mit einem Wirt-
    schaftswachstum von 1,8 Prozent in diesem und auch im
    nächsten Jahr .

    Solide Finanzen – das zeigt sich in diesen Tagen –
    machen es möglich, dass wir auf plötzlich auftretende
    neue Herausforderungen reagieren können, wie jetzt im
    Haushaltsplan für 2016 . Es sind sechs Milliarden Euro
    Mehrausgaben vorgesehen, davon drei Milliarden Euro
    für den Bund und drei Milliarden Euro für die Unterstüt-
    zung von Ländern und Kommunen .

    Nachhaltige Haushaltspolitik – das hat sich in den ver-
    gangenen Jahren gezeigt – eröffnet eben auch Spielräu-
    me, Möglichkeiten für zukunftsorientierte Investitionen .
    Wir haben wichtige Impulse gesetzt: in der Infrastruktur,
    bei Forschung und Entwicklung, in der Energie- und Kli-
    mapolitik und im digitalen Umbau von Wirtschaft und
    Gesellschaft . Vor allem die Verkehrsinvestitionen sind
    deutlich erhöht worden . Wir geben in dieser Legislatur-
    periode fünf Milliarden Euro zusätzlich für Verkehrsin-
    frastruktur aus . An einigen Stellen sind die Planungen
    noch gar nicht so weit fortgeschritten, dass das Geld auch
    ausgegeben werden kann . Aber es gibt Bundesländer, die
    Reserven haben .


    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


    Hinzu kommen weitere 4,35 Milliarden Euro aus dem
    Investitionspaket 2016 bis 2018 .

    Wir haben 2009 die Breitbandstrategie der Bundesre-
    gierung gestartet, und sie zahlt sich aus: Fast 70 Prozent
    der Haushalte haben heute Bandbreiten von mindestens
    50 Megabit pro Sekunde – Anfang 2010 waren es nur
    39 Prozent –, und bis 2018 wird es eine flächendeckende
    Breitbandversorgung geben, auch im ländlichen Raum .

    Meine Damen und Herren, wir haben nicht nur an
    Bundesinvestitionen gedacht . Wir wissen, dass die Kom-
    munen die wichtigste Ebene für öffentliche Investitionen
    sind . Die Kommunen haben auch Steuermehreinnahmen,
    aber die Finanzlage der Kommunen insgesamt ist unter-
    schiedlich . Deshalb unterstützen wir die Kommunen so
    sehr, wie das nie zuvor geschehen ist . Aber wir haben
    noch einen besonderen Schwerpunkt gesetzt: Der Bund
    wird gerade die finanzschwachen Kommunen mit einem
    Sonderfonds für Zukunftsinvestitionen unterstützen . Für
    die Jahre 2015 bis 2018 sind dafür, zusätzlich zu den
    normalen und für alle Kommunen geltenden finanziellen
    Hilfen, 3,5 Milliarden Euro vorgesehen . Ich glaube, das
    ist ein absolut richtiger Akzent .


    (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


    Dr. Gregor Gysi






    (A) (C)



    (B) (D)


    Eines der zentralen Vorhaben dieser Bundesregierung
    ist und bleibt die Energiewende . Wir haben mit dem Ka-
    binettsbeschluss vom 1 . Juli dieses Jahres wichtige Wei-
    chen gestellt, damit die Energiewende erfolgreich umge-
    setzt werden kann . Wir haben den Strommarkt zu einem
    Strommarkt 2 .0 weiterentwickelt . Wir haben klare Ent-
    scheidungen getroffen und damit auch für Berechenbar-
    keit der Investitionen bezüglich des Netzausbaus gesorgt .
    Wir haben mehr finanzielle Mittel für den Klimaschutz
    bereitgestellt und die entsprechenden Weichen gestellt,
    um unsere Klimaziele zu erreichen . Und wir haben im
    Zusammenhang mit dem Ausstieg aus der Kernener-
    gie noch einmal deutlich gemacht, dass die Sicherheit
    während der Restbetriebslaufzeit und beim Abbau von
    Kernkraftwerken unbedingt zu gewährleisten ist . Das
    gilt auch für die Entsorgung radioaktiver Abfälle . Die
    Bundesregierung geht dabei vom Grundsatz aus, dass die
    Kosten von den Verursachern zu tragen sind .


    (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


    Unbeschadet aller uns in diesen Tagen beschäftigenden
    Herausforderungen dürfen wir nicht vergessen, dass wir
    einen qualitativen Wandel unseres Arbeitslebens, unseres
    gesellschaftlichen Lebens durchlaufen, und zwar durch
    die Digitalisierung . Und die Bundesregierung antwortet
    darauf . Wir wissen, dass das Wirtschaft und Gesellschaft
    gleichermaßen betrifft . Mit dem Regierungsprogramm
    „Digitale Agenda 2014–2017“ wird die Bundesregierung
    den digitalen Wandel aktiv mitgestalten . Wir werden auf
    der Kabinettsklausur am Dienstag der kommenden Wo-
    che die Digitalisierung als Schwerpunkt haben und über
    Themen wie Industrie 4 .0, automatisiertes Fahren, Cy-
    bersicherheit und E-Health sprechen wie über viele an-
    dere Themen .

    Nur wenn wir wirklich verstehen, was durch die Digita-
    lisierung passiert, wird es auf Dauer gelingen, hochpro-
    fitable Wertschöpfungsketten in Deutschland zu halten.
    Unser Plus in diesen Tagen ist, dass der Anteil der in-
    dustriellen Produktion in Deutschland im internationalen
    Maßstab nach wie vor vergleichsweise hoch ist . Aber in
    Zukunft werden sich die Wertschöpfungsketten ändern .
    Die Frage der Datenverarbeitung wird eine wesentliche
    Rolle spielen . Wenn wir diesen Prozess der Wertschöp-
    fung aus Daten nicht zeitnah mitgestalten, wenn wir nicht
    die richtigen Rahmenbedingungen dafür schaffen, dann
    laufen wir Gefahr, mit unserer industriellen Produktion
    zu einer verlängerten Werkbank zu werden, und das muss
    verhindert werden . Ich glaube, das können wir schaffen .
    Auf der europäischen Ebene werden mit der Daten-
    schutzgrundverordnung, die jetzt beraten wird, wichtige
    Weichen gestellt . Im Übrigen brauchen wir eine europä-
    ische Strategie für die Digitalisierung . Glücklicherweise
    gibt es auch diesbezüglich erste Fortschritte .

    Wir arbeiten genauso beharrlich daran, die europä-
    ische Staatsschuldenkrise zu überwinden . Wir haben
    in diesem Sommer ein umfassendes Programm auf den
    Weg gebracht, das Griechenland eine Chance bietet, in
    der klassischen Herangehensweise – Solidarität und Ei-
    genverantwortung – wieder zu Wirtschaftswachstum und
    mehr Beschäftigung zu kommen . Wenn wir auf den Eu-
    roraum insgesamt blicken, können wir sagen: Es gibt eine
    wirtschaftliche Erholung, die Wirtschaftslage ist besser

    als noch vor einem Jahr, und insbesondere reformstarke
    Euroländer wie Spanien und Irland wachsen überdurch-
    schnittlich . Spanien wächst jetzt so schnell, wie es vor
    der Krise gewachsen ist . Man kann hier nur sagen, dass
    sich der Reformweg gelohnt hat .


    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


    Ermutigend ist, dass die sogenannte Staatsschuldenquote
    2015 erstmals abnehmen wird, im Euroraum auf 94 Pro-
    zent des BIP, im gesamten EU-Raum auf 88 Prozent des
    Bruttoinlandsprodukts . Wenn wir uns die Vorgaben des
    Stabilitäts- und Wachstumspakts anschauen, müssen wir
    ehrlich sagen: Auch Deutschland hat noch eine Wegstre-
    cke vor sich . Länder wie Polen, Schweden und Däne-
    mark haben wesentlich weniger Schulden im Verhältnis
    zum Bruttoinlandsprodukt als wir . Also müssen auch wir
    uns weiter anstrengen .

    Ich halte es zur Schaffung von Wachstumsvoraus-
    setzungen für absolut wichtig, dass wir die Freihandel-
    sabkommen intensiv weiterverhandeln . Wir sehen die
    Chancen dieser Freihandelsabkommen mit den Verei-
    nigten Staaten von Amerika und Kanada . Ich will dar-
    auf hinweisen, dass wir Punkt für Punkt – das ist hier
    nicht der Rahmen dafür – all das, was darüber erzählt
    wird, entkräften . Es handelt sich um ein Freihandelsab-
    kommen zwischen zwei Wirtschaftsräumen der Welt mit
    den höchsten Standards, sowohl was Verbraucherschutz
    als auch was Umweltschutz anbelangt . Wenn diese Re-
    gionen es schaffen, ein faires gemeinsames Abkommen
    zu schließen, wird dies Wirkung haben auf alle anderen
    Handelsabkommen weltweit, die sich heute fast gar nicht
    um Verbraucherschutzstandards, um soziale Standards
    oder um Umweltschutzstandards kümmern . Das könnte
    ein Freihandelsabkommen der Zukunft sein, weil es dar-
    in nicht einfach nur um Zölle geht, sondern um sehr viel
    mehr . Damit können wir Maßstäbe setzen .


    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


    Auch wenn wir viel über Infrastrukturprojekte spre-
    chen, über die Energiewende, über die Digitalisierung
    und über die Bewältigung der europäischen Staatsschul-
    denkrise, so steht doch im Zentrum unserer Politik immer
    auch die Frage: Was bedeutet das für die Menschen? Der
    einzelne Mensch in seiner Lebenssituation in unserem
    Land zählt für uns . Deshalb möchte ich heute ein Thema
    herausgreifen, bei dem die Große Koalition exemplarisch
    gezeigt hat, dass sie sich gerade auch um die Sorgen und
    Nöte der Menschen kümmert. Es geht um die Pflege al-
    ter oder kranker Menschen, die – das gilt für fast jede
    Familie – die Angehörigen vor gewaltige Herausforde-
    rungen stellt. Wir haben mit dem Pflegestärkungsgesetz,
    das zum 1 . Januar dieses Jahres in Kraft trat, einen ersten
    Schritt gemacht . Damals haben wir unter anderem deut-
    liche Verbesserungen im Bereich der ambulanten Pflege
    beschlossen .

    Jetzt unternehmen wir einen zweiten Schritt, und das
    ist ein revolutionärer Schritt . Viele werden sich erinnern,

    Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel






    (A) (C)



    (B) (D)


    wie lange wir über den neuen Pflegebegriff diskutiert ha-
    ben .


    (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zehn Jahre!)


    – Richtig . – Es war eine lange, ausführliche Diskussi-
    on – einen Teil der Verzögerungen nehme ich auf meine
    Kappe –, weil uns wichtig war, dass wir sicherstellen,
    dass der neue Pflegebegriff körperliche, geistige und psy-
    chische Einschränkungen gleichermaßen berücksichtigt .

    Wir hatten ja schon einen ersten Schritt im Hinblick auf
    Demenzerkrankungen gemacht . Aber genauso wichtig
    war mir und uns, dass niemand durch den neuen Pflege-
    begriff in eine Situation kommt, in der er sich schlechter
    stellt und nicht versteht, warum wir eine Pflegebedürf-
    tigkeit gegen eine andere ausspielen . Das haben wir
    sorgsam geprüft, und jetzt liegt ein Gesetzentwurf vor,
    der mit Sicherheit für alle, die der Pflege bedürfen, eine
    Verbesserung mit sich bringt . Wir haben dafür auch eine
    Beitragserhöhung von 0,2 Prozent beschlossen . Aber ich
    glaube, das ist gut investiertes Geld für Menschen in ei-
    ner schwierigen Lebenslage und ihre Familien . Deshalb
    halte ich das für einen ganz wichtigen Schritt .


    (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


    Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich stelle überhaupt
    nicht in Abrede, dass noch viel zu tun ist in Deutschland .
    Aber wenn wir sehen, was um uns herum in der Welt
    passiert, dann möchte ich heute hier auch einmal sagen:
    Es ist ein Privileg, und es ist ein Glück, in guten demo-
    kratischen Verhältnissen zu leben und über einen Haus-
    haltsentwurf wie diesen zu sprechen . Ich sage das auch
    mit Blick auf 25 Jahre deutsche Einheit, meine Damen
    und Herren .


    (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


    Das ist wirklich nicht überall auf der Welt so . Denken
    wir zum Beispiel nur an die Lage vor unserer eigenen
    Haustür, nämlich in der Ukraine, die uns unverändert
    Sorgen macht . Die Achtung des Rechts ist unabdingbare
    Voraussetzung für ein friedliches und partnerschaftliches
    Zusammenleben . Durch die Annexion der Krim und den
    von Russland unterstützten Separatismus in der Ostuk-
    raine hat Russland diese Ordnung fundamental verletzt .

    Wir haben uns in den letzten Monaten immer und im-
    mer wieder dafür eingesetzt, dass die Krise in der Uk-
    raine auf diplomatischem Weg gelöst werden kann . Das
    Ziel dabei ist, dass die territoriale Integrität der Ukraine
    wiederhergestellt werden kann . Das Maßnahmenpaket
    von Minsk wurde im Februar beschlossen . Es ist nach
    wie vor Richtschnur auf diesem Weg . Wir haben seit An-
    fang September nach vielen Rückschlägen einen immer
    noch fragilen, aber etwas verbesserten Waffenstillstand .
    Aber wir wissen, wir sind längst nicht am Ziel .

    Ich darf Ihnen sagen, dass die Bundesregierung, der
    Bundesaußenminister und auch ich, gemeinsam immer
    und immer wieder – auch im Normandie-Format – zu-
    sammen mit dem französischen Außenminister und dem
    französischen Präsidenten darüber wachen werden und
    Anstrengungen unternehmen werden, um diesen Prozess
    voranzubringen, der jetzt auch in eine entscheidende

    politische Phase gekommen ist, was Verfassungsände-
    rungen anbelangt, was die Frage von Lokalwahlen anbe-
    langt . Wir sind da längst nicht über den Berg . Aber wir
    werden in unseren Bemühungen nicht nachlassen, weil
    wir nur diesen diplomatischen Weg sehen, meine Damen
    und Herren, und den zu gehen müssen wir immer und
    immer wieder versuchen .


    (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Ich möchte mich in diesem Zusammenhang auch bei
    der OSZE bedanken . Die Beobachter der OSZE leisten
    hier eine herausragende Arbeit . Manch einer hatte die
    Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit schon
    ein bisschen sozusagen in die Reihe der auslaufenden
    Organisationen gestellt . Ich kann nur sagen: Wenn wir
    sie nicht hätten, wären wir in diesem Prozess mit der
    Ukraine längst nicht an dem Punkt . Deshalb ist es auch
    gut, dass Deutschland im nächsten Jahr den Vorsitz über-
    nimmt . Wir arbeiten heute schon mit der Schweiz und
    Serbien in der Troika zusammen und werden das nächs-
    tes Jahr fortsetzen .


    (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


    Meine Damen und Herren, trotz dieses tiefgreifenden
    Konflikts mit Russland gibt es in diesem Jahr in der inter-
    nationalen Politik auch manches, das positiv überrascht
    und das Mut macht, zum Beispiel die Einigung der E3+3,
    also unter Beteiligung Russlands und Chinas, mit dem
    Iran auf einen gemeinsamen umfassenden Aktionsplan
    im Zusammenhang mit dem Nuklearprogramm . Dieser
    Aktionsplan beruht nicht auf Vertrauen oder der Vermu-
    tung, wie der Iran in zehn oder 15 Jahren aussehen könn-
    te, sondern auf sehr detaillierter Kontrolle, um den Weg
    Irans zu einer Nuklearwaffe zu stoppen .

    Ich möchte an dieser Stelle unserem Außenminister
    Dr . Frank-Walter Steinmeier ganz herzlich danken . Er
    hat wirklich Stunden und Aberstunden und Tage in Genf
    verbracht . Danke für Ihr Mittun .


    (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


    Positives sehen wir auch bei den Vereinten Nationen;
    denn die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen haben
    sich in New York auf eine 2030-Agenda für eine nach-
    haltige Entwicklung verständigt . Übernächste Woche
    sollen die Texte von den Staats- und Regierungschefs
    offiziell verabschiedet werden. Erstmals haben wir einen
    universell gültigen Aktionsplan mit 17 konkreten Zielen .
    Armutsreduzierung wird mit dem Ziel weltweiter nach-
    haltiger Entwicklung verbunden . Das ist ein Fortschritt .

    Ich glaube, gerade diese Verabschiedung der
    2030-Agenda gibt auch einen Impuls zu einer anderen
    wichtigen internationalen Tagung in diesem Jahr, näm-
    lich der Klimakonferenz in Paris . Hier arbeiten Deutsch-
    land und Frankreich sehr eng zusammen . Wir wollen
    alles tun, damit die französischen Gastgeber eine erfolg-
    reiche Konferenz durchführen können . Nach Kopenha-

    Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel






    (A) (C)



    (B) (D)


    gen brauchen wir diesen Erfolg . Auf der Welt geschieht
    vieles, was uns optimistisch stimmt .


    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


    Aber die wenigen internationalen Lichtblicke können
    nun wirklich nicht darüber hinwegtäuschen, dass das
    Jahr 2015 für so viele Länder und vor allen Dingen für
    so viele Menschen bislang ein furchtbares Jahr ist . Nur
    wenige Flugstunden von Europa entfernt gibt es Krieg,
    Terror, Tod und Verzweiflung. Nie nach dem Zweiten
    Weltkrieg hat es so viele Flüchtlinge weltweit gegeben
    wie im Augenblick . In Syrien hat der Krieg inzwischen
    250 000 Menschenleben gekostet . Innerhalb des Landes
    sind über sieben Millionen Menschen auf der Flucht .
    Vier Millionen Syrer haben in den Nachbarländern, in
    Jordanien, im Libanon, in der Türkei, Zuflucht gefunden.

    Die Terrororganisation „Islamischer Staat“ kontrol-
    liert weite Gebiete im Osten Syriens und im Nordwesten
    des Iraks . Deutschland hat hier Verantwortung übernom-
    men . Ich erinnere an unseren Beschluss, den Peschmerga
    im Norden des Iraks zu helfen . Das war ein völlig neuer
    Schritt in unserem Herangehen, weil wir nicht die Au-
    gen verschließen konnten vor der Verfolgung der Jesi-
    den, vor der Verfolgung anderer, auch vor der Verfolgung
    von Muslimen . Wir haben uns entschlossen, zu helfen,
    und diese Hilfe wird auch anerkannt . 3 000 irakisch-kur-
    dische Sicherheitskräfte wurden ausgebildet . Sicherlich
    werden wir in Zukunft auch weiter über Möglichkeiten
    der Ausbildung sprechen .

    Der Kampf gegen den „Islamischen Staat“ ist eine
    der großen Herausforderungen . Es ist noch nicht sicher,
    dass er erfolgreich sein wird, aber wir müssen daran ar-
    beiten . Der Kampf gegen den „Islamischen Staat“ bringt
    uns auch immer wieder in Erinnerung, dass Kämpfer
    dort aus unseren Ländern kommen, aus den Ländern
    Deutschland, Großbritannien, Frankreich, aus europäi-
    schen Ländern . Das heißt, wir können nicht sagen: „Das
    ist da irgendwo ein Problem“, sondern es beschäftigt
    auch uns . Das ist ein Element davon, dass wir insgesamt
    nachdrücklich spüren, dass diese Konflikte in Syrien, im
    Irak nicht irgendwo stattfinden, sondern letztlich vor den
    Toren Europas. Diese verheerenden Konflikte sind nicht
    etwas, das man nur im Fernsehen sieht, sondern ihre Fol-
    gen erreichen uns .

    Eine dieser Folgen ist, dass voraussichtlich bis zu
    800 000 Menschen einen Antrag auf Status als Bürger-
    kriegsflüchtling oder auf politisches Asyl stellen werden.
    Das wäre die höchste in Deutschland jemals registrier-
    te Zahl . So weit die Zahlen . Doch dahinter stehen ja
    Schicksale . Wir alle verfolgen, welche Tragödien sich
    abspielen, ob es Fotos von toten Kindern sind, die auf
    entsetzliche Art und Weise umgekommen sind, oder ob
    es das entsetzliche Leid und der Tod der Menschen in
    dem Lkw waren . Sie stehen exemplarisch für viele, viele
    Schicksale .

    Deshalb sind wir in der Verantwortung . Diese Verant-
    wortung nehmen wir wahr . Sie fordert uns . Bund, Länder
    und Kommunen wollen das in guter Zusammenarbeit
    schaffen und arbeiten daran. Heute findet ein weiteres
    Bund-Länder-Treffen statt . Wir haben bereits im Juni ge-

    sagt: Das ist eine nationale Aufgabe . Am 24 . September
    werden wir dann eine Sonder-MPK mit der Bundesregie-
    rung durchführen, auf der wir hoffentlich die notwendi-
    gen Beschlüsse fassen .

    Die Koalition hat im Koalitionsausschuss am Sonntag
    gemeinsame Positionen erarbeitet, wie wir die richtige
    Antwort auf die augenblickliche Asyl- und Flüchtlingssi-
    tuation geben . Es ist klar: Wir werden nicht einfach wei-
    termachen können wie bisher, sondern wir werden Re-
    gelungen überdenken müssen, wir werden Regelungen
    zeitweise außer Kraft setzen müssen, wir müssen Abläu-
    fe verbessern, wir müssen Entscheidungen schneller fäl-
    len . Wir brauchen uns auch nicht gegenseitig die Schuld
    zuzuschieben, wer dies und jenes noch nicht gemacht
    hat, sondern wir müssen jetzt einfach anpacken und alle
    konkreten Hindernisse aus dem Weg räumen, um den
    Menschen, die zu uns kommen, zu helfen und ein friedli-
    ches Zusammenleben in unserem Land zu gewährleisten .


    (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    So wie wir schnell auf die Finanz- und Wirtschaftskri-
    se reagiert haben, werden wir auch schnell – das ist mit
    den Fraktionen besprochen – auf die Herausforderungen
    in diesem Zusammenhang reagieren . Wir wollen noch
    im Oktober dieses Jahres das Paket beschließen, das die
    notwendigen Rahmenbedingungen schafft . Ich will hier
    nicht die einzelnen Maßnahmen referieren; die kennen
    Sie . Wichtig ist, dass wir in dieser Situation über ein paar
    grundsätzliche Gedanken sprechen .

    Erstens . Diejenigen, die als Asylsuchende zu uns
    kommen oder als Kriegsflüchtlinge anerkannt werden,
    brauchen unsere Hilfe, damit sie sich schnell integrieren
    können . Sie brauchen Hilfe, um schnell Deutsch zu ler-
    nen. Sie sollen schnell eine Arbeit finden. Viele von ihnen
    werden Neubürger unseres Landes werden . Wir sollten
    aus den Erfahrungen der 60er-Jahre, als wir Gastarbeiter
    zu uns gerufen haben, lernen und von Anfang an der In-
    tegration allerhöchste Priorität einräumen .


    (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Wenn wir es gut machen, dann birgt das mehr Chancen
    als Risiken .

    Zweitens . Diejenigen, die nicht vor politischer Verfol-
    gung oder Krieg flüchten, sondern aus wirtschaftlicher
    Not zu uns kommen, werden nicht in Deutschland blei-
    ben können .


    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


    So schwer ihr persönliches Leben auch sein mag, so ge-
    hört dies dennoch zur Wahrheit, und wir sprechen sie
    auch aus . Wir werden die Anerkennungs- und Regist-
    rierungsverfahren und auch die Rückführungen deutlich
    schneller und konsequenter durchführen müssen als bis-
    lang .

    Drittens . Ein Land, das viele, die neu zu uns kommen,
    willkommen heißt, das auch viele willkommen heißt,

    Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel






    (A) (C)



    (B) (D)


    die aus ganz anderen Kulturkreisen kommen, muss auch
    deutlich machen, welche Regeln bei uns gelten . Auch das
    gehört zu einer offenen Gesellschaft . Wir dürfen nicht
    wegsehen, wenn sich Milieus verfestigen, die Integration
    ablehnen, oder wenn sich Parallelgesellschaften heraus-
    bilden . Hier darf es keine Toleranz geben; auch das müs-
    sen wir von Anfang an sagen .


    (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


    Viertens . Wir werden nicht zulassen, dass unsere
    Grundwerte und unsere Menschlichkeit von Fremden-
    feinden verraten werden . Abstoßend und beschämend
    ist es, wenn Flüchtlingsheime angegriffen werden, wenn
    Menschen angepöbelt werden, wenn Menschen angegrif-
    fen werden und wenn dumpfe Hassbotschaften wo auch
    immer verbreitet werden . Wir werden mit der ganzen
    Härte des Rechtsstaates dagegen vorgehen – auch im In-
    ternet, was der Justizminister jetzt ja tut .


    (Beifall im ganzen Hause)


    Fünftens . Die Bewältigung der aktuellen Flüchtlings-
    krise gelingt nicht allein auf nationaler Ebene . Sie ist eine
    Herausforderung für die Europäische Union, für jeden
    Mitgliedstaat in der Europäischen Union, und das nicht
    nur in praktischer Hinsicht, weil wir vielleicht sagen: Wir
    haben sehr viele Flüchtlinge und andere wenige . – Nein!
    Wenn Europa in der Flüchtlingsfrage versagen würde,
    dann ginge ein entscheidender Gründungsimpuls eines
    geeinten Europas verloren, nämlich die enge Verbindung
    mit den universellen Menschenrechten, die Europa von
    Anfang an bestimmt hat und die auch weiter gelten muss .
    Dafür werden wir gemeinsam kämpfen, meine Damen
    und Herren .


    (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


    Deshalb müssen wir in Europa zu tragfähigen und
    solidarischen Lösungen kommen . Die Westbalkankonfe-
    renz in Wien vor wenigen Tagen war ein guter Beitrag .

    Tragödien, wie die erstickten Flüchtlinge, die in einem
    Lkw in Österreich gefunden wurden, dürfen sich nicht
    wiederholen . Wir müssen die Situation auf dem Mittel-
    meer, aber auch die zwischen der Türkei und Griechen-
    land viel besser unter Kontrolle bekommen . Wir müssen
    effektiv gegen Schlepperbanden vorgehen . Hierfür gibt
    es jetzt den Einstieg in die zweite Phase der entsprechen-
    den Operationen auf dem Mittelmeer .

    Die deutschen Schiffe haben sich an der Rettung
    von Flüchtlingen beteiligt, und ich möchte den Solda-
    tinnen und Soldaten der Marine, die bereits mehr als
    7 200 Flüchtlinge aus Seenot gerettet haben, ausdrück-
    lich einen herzlichen Dank sagen .


    (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


    Wir müssen viel enger mit den Transit- und Her-
    kunftsstaaten zusammenarbeiten . Auch sie müssen sicht-
    bar Verantwortung übernehmen . Wir werden im Novem-
    ber einen Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs mit
    den Vertretern der Afrikanischen Union auf Malta haben
    und darüber reden . Die Europäische Kommission wird
    das vorbereiten . Daneben werden wir auch das Gespräch

    mit der Türkei intensivieren müssen . Denken wir nur ein-
    mal an die Route, die von der Türkei in Richtung Ungarn
    und dann nach Österreich und Deutschland führt .

    Ich habe gestern mit dem türkischen Ministerpräsi-
    denten telefoniert . Wir werden die Gespräche fortsetzen .
    Donald Tusk ist heute als Ratspräsident in der Türkei, um
    Gespräche mit dem Präsidenten Erdogan und mit dem
    Ministerpräsidenten zu führen . Hierbei wird es auf der
    einen Seite darum gehen, zu sagen: „Ja, die Türkei hat in
    den letzten Jahren sehr viel Verantwortung übernommen,
    und vielleicht haben wir das auch für selbstverständ-
    lich genommen und einfach gedacht, das werde schon
    so weitergehen“, auf der anderen Seite müssen wir aber
    auch eine vernünftige Kooperation mit der Türkei in der
    Flüchtlingsfrage finden. Denn es kann nicht sein – die
    Türkei und Griechenland sind NATO-Mitgliedstaaten –,
    dass Schlepper sozusagen das bestimmende Element in
    einer Region sind, in der diese beiden Länder ihre Grenze
    haben . Das muss verändert werden .


    (Zuruf der Abg . Heike Hänsel [DIE LINKE])


    Wir brauchen innerhalb Europas natürlich Solida-
    rität . Zur Stunde hält Jean-Claude Juncker seine Rede
    zur Lage der Union . Er wird Vorschläge für einen ers-
    ten Schritt der fairen Verteilung unterbreiten . Insgesamt
    brauchen wir aber eine verbindliche Einigung über eine
    verbindliche Verteilung von Flüchtlingen nach fairen
    Kriterien zwischen allen Mitgliedstaaten, also eine an-
    dere Verteilung als jetzt noch . Es wäre ja schon ein
    wichtiger Schritt, wenn wir das erreichen würden, was
    Jean-Claude Juncker heute vorschlägt, zum Beispiel eine
    erste Diskussion auf dem Rat der Innen- und Justizminis-
    ter am nächsten Montag .

    Wir können nicht nur sagen: „Wir verteilen eine be-
    stimmte Zahl von Flüchtlingen“, sondern wir müssen
    auch überlegen, wie wir mit den Flüchtlingen, die bei uns
    ankommen, umgehen . Man kann hier keine Höchstgren-
    ze setzen und sagen, dass man sich darüber hinaus nicht
    darum kümmert,


    (Dr . Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Sehr richtig!)


    sodass dies die Sache von zwei, drei oder vier Ländern
    ist, sondern es muss hier eine europäische Verantwortung
    geben . Nur so werden sich alle Mitgliedstaaten auch um
    die Behebung von Fluchtursachen und internationalen
    Konflikten kümmern. Auch das ist eine Gemeinschafts-
    aufgabe .


    (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Sechstens . Die geopolitische Situation, ob es der Bür-
    gerkrieg in Syrien ist, ob es der islamistische Terror im
    Nordirak ist, ob es die politischen Systeme in Eritrea
    oder Somalia sind, wird sich nicht über Nacht ändern .
    Selten haben wir in diesem Haus gespürt, wie eng die
    Innenpolitik, die Entwicklungspolitik und die Außen-
    politik zusammenhängen . In Europa wird oft gesagt, es
    gebe keinen Unterschied mehr, ob die europäische Po-
    litik ein wenig mehr Innen- oder mehr Außenpolitik ist .
    Die Globalisierung bringt uns in eine Situation, in der wir

    Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel






    (A) (C)



    (B) (D)


    plötzlich merken: Wenn wir – auch über die europäischen
    Grenzen hinaus – außen- und entwicklungspolitisch et-
    was nicht tun, dann kann das innenpolitisch gravierende
    Folgen haben . Das – davon bin ich zutiefst überzeugt –
    wird die Realität des 21 . Jahrhunderts sein . Das ist der
    Anfang und nicht das Ende einer Entwicklung, und wir
    müssen lernen, darauf zu reagieren . Daran arbeiten wir .


    (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Siebtens . Wir erleben immer wieder, dass es in Europa
    Herausforderungen gibt, bei denen es ganz besonders auf
    uns ankommt, auf Deutschland, auf Deutschlands Kraft
    und auf Deutschlands Stärke . Sehr oft haben wir diese
    Herausforderungen zusammen mit Frankreich bewältigt .
    Auch jetzt haben wieder der französische Präsident und
    ich, nach Vorarbeit der Innenminister, Vorschläge an die
    Kommission gemacht, wie wir die Flüchtlingssituation
    besser meistern können . Aber wir erleben auch Situa-
    tionen wie jetzt am Wochenende, als wir zum Beispiel
    gemeinsam mit Österreich eine Entscheidung gefällt ha-
    ben . Und wir haben diese Entscheidung aus humanitären
    Gründen gefällt .

    Wir wissen: Auch in der Euro-Krise haben wir nicht
    immer alle zusammengestanden, sondern da stand
    Deutschland manchmal ganz schön alleine da, so jeden-
    falls meine Erinnerung . Aber was wir immer wieder er-
    lebt haben – das sollte uns Mut machen –, ist, dass es
    genau diese Bereitschaft und diese Kraft Deutschlands
    sein kann, die schließlich den Weg für eine europäische
    Lösung freimacht .


    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


    Nicht, wenn wir uns verweigern, wird es wahrscheinlich,
    dass wir eine europäische Lösung finden. Vielmehr wird
    es dann, wenn wir mutig sind und manchmal vorange-
    hen, wahrscheinlicher, dass wir eine europäische Lösung
    finden.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


    Das ist aller Anstrengungen wert .

    Liebe Kolleginnen und Kollegen, so groß die Her-
    ausforderung auch ist – diese Herausforderung ist lang
    andauernd, und sie ist groß; ich mache mir da über-
    haupt keine Illusionen –, so sehr bin ich überzeugt, dass
    Deutschland sie bewältigen kann . Mehr noch: Ich bin
    überzeugt, dass wir es nicht nur können, sondern dass
    wir, wenn wir es gut machen, wenn wir es mutig ange-
    hen, wenn wir nicht verzagt sind, sondern Ideen suchen,
    wenn wir kreativ sind, letztlich nur gewinnen können .
    Das sollte uns leiten bei der Bewältigung dieser Heraus-
    forderung .

    Herzlichen Dank .


    (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)