Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Wir setzen die Haushaltsberatungen – Punkt I – fort:
a) Zweite Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das
Haushaltsjahr 2005
– Drucksachen 15/3660, 15/3844 –
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Haus-
haltsausschusses zu der Unterrich-
tung durch die Bundesregierung
Finanzplan des Bundes 2004 bis 2008
– Drucksachen 15/3661, 15/3844, 15/4326 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dietrich Austermann
Walter Schöler
Anja Hajduk
Dr. Andreas Pinkwart
Rede
Ich rufe dazu Punkt I.13 auf:
Einzelplan 04
Bundeskanzler und Bundeskanzleramt
– Drucksachen 15/4304, 15/4323 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Franziska Eichstädt-Bohlig
Bernhard Kaster
Steffen Kampeter
Gerhard Rübenkönig
Bartholomäus Kalb
Petra-Evelyne Merkel
Alexander Bonde
Jürgen Koppelin
Es liegt ein Änderungsantrag der A
Dr. Gesine Lötzsch und Petra Pau vor. Über den Ände-
tzung
24. November 2004
.00 Uhr
rungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Druck-
sache 15/4340, der sich auch auf den Einzelplan 04 be-
zieht, ist bereits bei Einzelplan 08 abgestimmt worden.
Ich weise darauf hin, dass wir im Anschluss an die
Aussprache über den Einzelplan namentlich abstimmen
werden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache vier Stunden vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Michael Glos, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die Haushaltsdebatte gibt traditionell Gelegen-heit, eine Bestandsaufnahme zu machen. Die Bilanz vonRot-Grün ist verheerend. Deutschland hat die höchsteStaatsverschuldung und die geringste Investitionsquoteder letzten 50 Jahre. In Europa sind wir DeutschenWachstumsschlusslicht mit weiter fallender Tendenz.Auf Deutschland lastet ein ganz gewaltiger Schulden-textberg, der vor allen Dingen die Zukunft unserer Kinderbelastet: 1,4 Billionen Euro Gesamtschulden, 100 Mil-lionen Euro Zinsen jeden Tag. Die Hälfte des Bundes-haushalts wird durch die Bedienung der Schulden unddie Unterstützung der Rentenkassen aufgefressen. FürInvestitionen in die Zukunft steht immer weniger Geldzur Verfügung. Diese Entwicklung ist so dramatisch,dass in der vergangenen Woche sogar der Bundesrech-nungshof zum ersten Mal in seiner Geschichte weit überdie Kritik an Misswirtschaft oder Verschwendung inEinzelfällen hinausgegangen ist. Ich zitiere den Präsi-denten des Bundesrechnungshofs: „Die Schieflage ist soextrem, dass es einem den Atem verschlägt.“
ensichtlich auch noch verantwortungsvolleerr Bundeskanzler, die sich nicht nur umbgeordnetenEs gibt offGenossen, Hihre Karriere, sondern um Deutschland Sorgen machen.
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13008 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2004
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Michael Glos
Ich kann nur feststellen: Engels hat kein Vertrauen mehrzu den Marxisten, die heute regieren.
Der Haushalt ist Murks. Das Vertrauen ist verspielt. DasKapital ist vernichtet.
Deutschland sitzt in einer Schuldenfalle. Immer hö-here Schulden bringen immer höhere Zinsbelastungen,die wieder über zusätzliche Kreditaufnahmen finanziertwerden müssen. Herr Bundeskanzler, Sie haben in IhrerRegierungserklärung am 14. März 2003 gesagt:Die Bundesregierung hält an dem Ziel fest, bis2006 einen ausgeglichenen Bundeshaushalt zu er-reichen.Wer soll Ihnen nach dem Zahlenwerk, das inzwischenvorliegt, und den Abschlüssen, die immer wieder auf denTisch gelegt worden sind, noch glauben?
Das gesamtstaatliche Defizit ist in nur vier Jahrenum 200 Milliarden Euro gewachsen. Mit über17 000 Euro belasten die Schulden von Bund, Ländernund Kommunen jeden Bürger, ob alt oder jung.Allein im kommenden Jahr plant der Bund eine Brut-tokreditaufnahme von 218 Milliarden Euro, wovon al-lerdings 195 Milliarden Euro zur Tilgung fälliger Schul-den verwendet werden. Die sich aus dieser Rechnungergebende Neuverschuldung beträgt rund 22 MilliardenEuro. Das sind weniger als die 40 Milliarden Euro, dieals Zinsbelastung im Haushalt enthalten sind.Es müssen gigantische Summen am Kapitalmarkt ge-wälzt werden, um diese Belastung zu finanzieren. Solltees in absehbarer Zeit zu einer spürbaren Erhöhung desZinsniveaus kommen, wird sich der Bund bei einerdurchschnittlichen Laufzeit seiner Kredite von nur vierJahren – das ist vollkommen neu – einer nicht überseh-baren zusätzlichen Zinsbelastung aussetzen.Bei dem erwähnten gesamtstaatlichen Schuldenstandvon 1,4 Billionen Euro sind die Verbindlichkeiten dergesetzlichen Rentenversicherung und der Pensions-kassen nicht mitgerechnet. Sie betragen nach Berech-nungen von Professor Sinn 270 Prozent unseres Brutto-inlandsproduktes. Dieter Rampel, der Chef der Hypo-Vereinsbank, berechnete diese Renten- und Pensionsver-pflichtungen unlängst. Er hat gesagt: Betriebswirtschaft-lich sauber bilanziert, stünden aus diesen Schulden proKopf der Bevölkerung 65 000 Euro in den Büchern.Wenn ich zu diesen 65 000 Euro die vorhin erwähnten17 000 Euro hinzurechne, Herr Bundeskanzler, sind es82 000 Euro Schulden pro Bundesbürger, die wir jedemneugeborenen Kind in die Wiege legen.
– Herr Benneter, für meine Enkel bedeutet das eine Be-lastung von 246 000 Euro, für die sie überhaupt nichtskönnen.
Die werden mich fragen: Du warst damals im Bundes-tag, warum habt ihr das getan? Herr Bundeskanzler,auch Ihre beiden Kinder werden Sie fragen, wenn es soweit ist. Das ist für mich eine unverantwortliche Politik.
Ich kann nur sagen: Rot und Grün verschlechtern jedenTag die Zukunftschancen unserer Kinder und unsererEnkel.Ich zitiere weiter aus Ihrer Regierungserklärung, HerrBundeskanzler:Wir brauchen Zukunftsinvestitionen statt Zinszah-lungen.Das ist richtig. Das kann ich nur unterstreichen. Bloß:Worte allein reichen nicht. Heute muss der Bund – icherwähne es noch einmal – Tag um Tag 100 MillionenEuro Zinsen zahlen. Diese Gelder stehen für Bildungund für Forschung und Technologie nicht zur Verfügung.Darunter leiden wir schmerzlich.Die Investitionsquote im Haushalt 2005 ist mit9 Prozent geringer als je zuvor. So weit ist es mit der vielgepriesenen Nachhaltigkeit gekommen. Deutschland istauf einem Irrweg. Wir erleben eine Art Argentinisierungunseres Landes. Argentinien war früher ein reichesLand.
Heute trauen seine Eliten ihrem eigenen Land nicht mehrund haben mit dem eigenen Land wenig am Hut.Herr Bundeskanzler, in Ihrer Regierungszeit hat sichdie Kluft zwischen sehr reich und ganz arm ungeheuerausgeweitet. Der Mittelstand geht vor die Hunde.
Auch das ist Realität: Unter Rot-Grün ist Deutschlandein Stück zu einer Bananenrepublik geworden.
In neun Bundesministerien wird wegen Korruption er-mittelt. Im Verkehrsministerium geben sich die Staatsan-wälte die Klinke in die Hand. 100 Verdachtsfälle aufKorruption hat die Regierung in einer Aufstellung für
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2004 13009
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Michael Glosden Haushaltsausschuss selbst zugegeben. Das ist Tatsa-che unter Schröder und Fischer in unserem Land.
Sie sind ja nicht einmal mehr bereit, unsere Verfas-sung zu beachten, obwohl Ihnen Ihr Amtseid das vor-schreibt. Der Nachtragshaushalt 2004 und auch derHaushalt 2005 verstoßen klar gegen das Grundgesetz,weil die Summe der Investitionen geringer ist als dieNeukreditaufnahme. Wir werden dies – der KollegeMerz hat es gestern hier angekündigt – vor dem Bundes-verfassungsgericht überprüfen lassen.Ich sage noch einmal: Die Bundesregierung verspieltunser aller Zukunft. Schulden anzuhäufen ist zutiefst un-moralisch gegenüber künftigen Generationen.
An die Adresse der Grünen, die Nachhaltigkeit zum Zielerkoren haben, kann ich nur sagen: Nachhaltigkeit er-zeugt man nicht dadurch, dass man ein paar Schafe imVorgarten hält und vielleicht noch Wolle spinnt, um da-raus Socken selbst zu stricken
– so ging es bei den Grünen doch los; auf ihren Parteita-gen war doch ständig das Geklapper von Stricknadeln zuhören –,
sondern Nachhaltigkeit besteht darin, dass man künftigeGenerationen nicht so stark belastet.
Wir wissen, dass auf Deutschland ein gewaltigerWettbewerbsdruck lastet. Die Ursachen sind die EU-Ost-erweiterung, der europäische Binnenmarkt und die Glo-balisierung. Deutschland fällt im globalen Wettbewerbimmer weiter zurück, statt die Herausforderungen anzu-nehmen.Im industriellen Kern unserer Wirtschaft gehen jedenTag Hunderte von Arbeitsplätzen verloren. Die durchden sich vollziehenden Wandel bedingten Arbeitsplatz-verluste seit 1991 sind dramatisch. So sind im Textilge-werbe 180 000, im Baugewerbe mehr als 1,1 Millionen,in der Metall erzeugenden Industrie 230 000 und in derMaschinenbaubranche fast 700 000 Arbeitsplätze verlo-ren gegangen. Insolvenzen, Massenentlassungen undAbwanderung in Niedriglohnländer – egal wann man dieZeitungen aufschlägt, man liest ständig neue Hiobsbot-schaften. Ich nenne Ihnen die Stichworte Opel, VW undKarstadt. Das sind aktuell nur die bekanntesten Fälle.Aber, Herr Bundeskanzler, Sie beantworten die damitverbundenen Fragen nicht, wenn Sie sich in Unterneh-merbeschimpfungen flüchten und nur vom Versagen desManagements reden.Schon jetzt werden Arbeitsplätze auch nach Bulga-rien und Rumänien verlagert, weil die Aufnahme jaquasi vor der Tür steht. Das gilt ebenfalls für die Türkei:Sobald klar ist, dass der Beitritt dieses Landes unum-kehrbar ist, wird es eine gewaltige Verlagerung von Ar-beitsplätzen aus Deutschland in die Türkei geben; dennes gibt einen Wettlauf der Industrie um die billigsten Ar-beitsplätze. Wenn ich manche Wirtschaftsführer redenhöre – auch das macht mir Angst –, dann habe ich denEindruck, dass sie erst zufrieden sind, wenn die Lohnne-benkosten und die Löhne bei null sind. Das wollen wirganz bestimmt nicht; das will niemand von uns.
Am Horizont sind aber sehr große Gefahren zu erken-nen. Nach einer Studie der TU München werden in dennächsten zehn Jahren 150 000 Arbeitsplätze jährlich inallererster Linie nach Osteuropa verlagert. Wir brauchendeswegen Reformen und eine Rückbesinnung auf öko-nomische Grundwahrheiten. Viele haben geglaubt, dassder Weg, mit immer weniger Arbeit immer reicher zuwerden, für die Deutschen quasi geschichtlich vorpro-grammiert ist und dass die westlichen Industrieländer– wie von Zauberhand geleitet – den Weg in die Spaßge-sellschaft und in ein Freizeitparadies gehen. Vergessenwurde dabei: Niemand kann die Gesetze der Ökonomieaußer Kraft setzen. Das heißt, Wohlstand und soziale Si-cherung gibt es nur als Ergebnis von Arbeit und Leis-tung. Das Wohlstandsniveau hängt vom Können desEinzelnen und natürlich auch von der Leistungsfähigkeitder Gesamtwirtschaft sowie von der vorhandenen Infra-struktur ab. In diesen Bereichen ist in Deutschland nochfast alles in Ordnung. Aber PISA lässt grüßen und zeigt,dass wir auch hier abfallen.Wir alle bekennen uns zum Sozialstaat und möchtenihn erhalten. Aber wir müssen ihn natürlich mit den ge-samtwirtschaftlichen Möglichkeiten in Einklang brin-gen. Ich kann nur sagen: Sozial ist alles, was Arbeits-plätze schafft bzw. erhält. Mit kurzen Arbeitszeiten sindwir nicht wettbewerbsfähig. Ich möchte nicht alle statis-tischen Daten auflisten, die verdeutlichen, wie lange inden einzelnen Ländern gearbeitet wird. Nur so viel: Inden USA arbeitet man – bezogen auf die tarifliche Ar-beitszeit – im Durchschnitt circa 400 Stunden mehr alsin Deutschland. Deutschland kann nicht mit immer we-niger Arbeit immer wohlhabender werden. Die 35-Stun-den-Woche war ein gewaltiger Irrweg. Es waren DGBund SPD, die diese Entwicklung vollkommen kritiklosvorangetrieben haben.
Herr Trittin, Sie sowie Ihre Freundinnen und Freundesind wesentlich daran schuld, dass sich unser Land in diefalsche Richtung entwickelt hat.
Früher hieß es bei Ihnen in den kurzen Pausen währenddes Strickens, der Strom komme aus der Steckdose. Siehaben sich inzwischen ein ganzes Stück durchgesetzt.Sie sind dabei, die sichersten Kernkraftwerke der Weltabzuschalten.
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13010 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2004
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Michael GlosSie vertreiben die energieintensiven Industrien. Dafürerfindet man immer neue Öko- und Windradsteuern. Mitdem so genannten EEG und Ähnlichem sind im GrundeSteuern für Spinnereien verbunden, die Ihrer Ideologieentsprechen, die aber an der wirtschaftlichen Wirklich-keit der Welt ein ganzes Stück vorbeigehen.
– Frau Göring-Eckardt, inzwischen braucht man keineWissenschaftler, keine Soziologen mehr, um zu sehen,dass der Weg der 68er ein Irrweg war. Selbst die Schla-gersänger amüsieren sich heute darüber. Es gab einen,der hat das Lied „Barfuß im Regen“ gesungen. DiesesLied trifft jetzt eigentlich auf Rot-Grün zu. Der Sängerdieses Liedes hieß Michael Holm. Er kommt jetzt wie-der. Er sagt über die 68er:Ökonomisch war 1968 ein Desaster, weil vergessenwurde, was die Basis dieses Landes war: dass wirDeutsche schneller, fleißiger und kreativer waren,dass wir uns viel mehr plagten als die anderen.Heute gilt das alles nicht mehr, der Speck der gutenJahre ist aufgebraucht.
Das ist das wirtschaftliche Erbe.Wie sieht das geistige Erbe der 68er aus? Traditio-nelle Werte wurden verachtet. Oskar Lafontaine – es gibtihn noch immer – diskriminierte Disziplin, Fleiß undLeistungsbereitschaft als Tugenden, mit denen man auchein KZ führen kann.
– Herr Schmidt, das war die Diskriminierung von Arbeitund Leistung. Ich sage das, auch wenn Sie es heute nichtmehr hören können, weil Sie von diesen saudummenSprüchen, die es gegeben hat, inzwischen eingeholt wor-den sind.
Sie haben dem nicht widersprochen. Ihr alle habt vor„Lafo“ gekuscht.Ich meine, das Gegenteil ist richtig: TraditionelleWerte, nationale Identität, Zusammenarbeit und Bin-dung machen ein Volk stabiler, selbstbewusster und da-mit leistungsfähiger.
– Man hört Zwischenrufe bei der Übertragung leidernicht. Herr Poß, deswegen will ich das wiederholen: Siehaben von „Verlogenheit“ gesprochen.
Das fällt auf Sie zurück. Wenn Sie sagen, dass die Werte,die die Deutschen groß gemacht haben, Verlogenheitund Ähnliches sind,
dann ist das eine Schande.
Trotz Ihres Geschreis, Herr Poß, kann ich nur sagen:Die Menschen spüren im rauen Wind der Globalisierungund der Bedrohung durch Terror sowie religiösen Fana-tismus, dass wir in Deutschland wieder Orientierung, einWertefundament brauchen; sonst funktioniert es auch imÖkonomischen nicht.Unser Volk ist, wie ich meine, eine Schicksalsgemein-schaft. Es war sein Schicksal, dass es sich politisch ein-mal eine Zeit lang falsch entschieden hat. Aber dieseSchicksalsgemeinschaft entsteht natürlich aus einer ge-meinsamen Geschichte – selbstverständlich im Schlech-ten wie im Guten –, aus einer gemeinsamen Sprache, auseiner gemeinsamen Kultur, aus einer gemeinsamen Tra-dition und auch aus unserer gemeinsamen christlichenReligion, die zumindest die Basis unseres Landes gelegthat. Wir, die CDU/CSU, bekennen uns zu diesernationalen Identität und zu einem selbstverständlichenPatriotismus, das heißt zur Liebe zu unserem Land.Ohne Liebe zu unserem Land können wir auch seineProbleme nicht lösen.
Eine Regierung ohne Vaterlandsliebe – sie stolpernnicht zuletzt deswegen von Problem zu Problem, weilIhnen diese Liebe fehlt – ist nicht in der Lage, die Pro-bleme dieses Landes zu lösen.
Herr Müntefering, ich habe irgendwo gesagt, dassdiejenigen, die Deutschland heute führen, mit Deutsch-land nichts am Hut haben. Sie haben sich daraufhin be-troffen gefühlt. Ich habe überhaupt nicht nur an Sie ge-dacht; Sie führen Deutschland nicht allein. Das hat sichan viele so genannte Intellektuelle, Journalisten, Kom-mentatoren, aber natürlich auch ein Stück an Rot-Grüngerichtet. Sie haben dann Frau Merkel aufgefordert, sichfür diese – ich zitiere Sie – Unverschämtheit, die auf diedeutsche Sozialdemokratie gezielt sei, zu entschuldigen.
Ich habe es aber überhaupt nicht auf die deutsche Sozial-demokratie bezogen.
Jetzt muss ich mich auch einfach einmal bedanken;das gehört, finde ich, dazu. Zwei Wochen später habenSie den Beweis dafür geliefert, dass sich die deutscheSozialdemokratie zu Recht hat angesprochen fühlen
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2004 13011
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Michael Glosmüssen, als Sie nämlich den 3. Oktober, unseren Natio-nalfeiertag, abschaffen wollten.
Das zeigt, dass Ihr Protest – vielleicht haben Sie es da-mals schon gewusst – blanke Heuchelei gewesen ist,Herr Müntefering.
– Auf Ihr Geschrei, gnädige Frau, habe ich schon gewar-tet. Es war kalkulierbar, dass das kommt. Deswegenhabe ich die Geschichte extra noch einmal mitgebracht.Es ging um Folgendes: Da gab es kluge und wenigerkluge Ratgeber. Einer der weniger klugen war Geißler.Er hat gesagt, man solle in Bayern Feiertage abschaffen.Aber da sind wir in Bayern ganz allergisch, weil das un-sere Sache ist.
Wir sind trotz unserer Feiertage und unserer Traditionenimmer noch sehr viel leistungsfähiger als andere Bun-desländer.
Dann hat Edmund Stoiber gesagt: Wenn HeinerGeißler so sehr daran gelegen ist, dann stelle ich ihm an-heim, als Bundestagsabgeordneter den Antrag zu stellen,den Tag der Deutschen Einheit als Feiertag aufzugebenoder ihn auf einen Sonntag zu verlegen.
Stoiber hat das nicht gefordert; er hat nur gesagt, dass eres Herrn Geißler anheim stellt.
– Entschuldigung! Hören Sie doch zu! Er hat einen klug-scheißerischen Ratschlag mit einer entsprechenden Ant-wort zurückgewiesen.
Das ist seinerzeit auf Herrn Geißler und auf diejenigen,die das in Bayern gefordert haben, zurückgefallen. Dasist ein rhetorischer Kniff gewesen. Den wird man dochnoch machen dürfen.
Obwohl wir Bayern am meisten natürlich von unsselbst überzeugt sind – das gilt selbst für uns Franken,die von den Bayern erobert worden sind –, haben wir nieetwas gegen Deutschland und gegen die deutsche Nationgetan.
Herr Müntefering, es war Bayern mit Franz Josef Strauß,das gegen den Grundlagenvertrag geklagt hat, als IhrePartei die Präambel des Grundgesetzes mit dem Wieder-vereinigungsgebot ändern wollte. Auch das ist eine ge-schichtliche Wahrheit.
Sie sollten sich schämen, vor allem für den Fraktions-vorsitzenden oder stellvertretenden Fraktionsvorsitzen-den der Grünen; ich weiß gar nicht, wie viele ihr habtund wie das alles so funktioniert.
Jeder spricht für sich und alle sprechen gegeneinander.Jedenfalls will dieser famose Herr Ströbele – Herr Trittinwill es, glaube ich, auch – den Feiertag am 3. Oktoberdurch einen islamischen Feiertag ersetzen. Mit Patrio-tismus hat das überhaupt nichts zu tun.
Dieser gescheiterte Anschlag auf unseren nationalenFeiertag wirft ein grelles Licht auf Rot und Grün. Ich be-danke mich beim Bundespräsidenten herzlich dafür, dasser ein klares Wort gesagt hat. Herr Bundeskanzler, ichhoffe nicht, dass Sie noch einmal auf die Idee kommen,diesen Feiertag abschaffen zu wollen.
Unser Land braucht – auch das ist eine Lehre aus derGeschichte – Partner und Vertrauen in aller Welt. Wirdürfen dieses Vertrauen nicht gedankenlos aufs Spiel set-zen. Ich stimme Volker Rühe zu, der heute in einem In-terview im „Handelsblatt“ sagt: Die deutschen Offizieredürfen nicht aus den NATO-Stäben zurückgezogen wer-den, wenn es Planungen im Irak gibt. Das wäre höchstverheerend, wenn wir hier einen Sonderweg gehen.Unser Verhältnis zu den USA ist ungeheuer sensibel,etwas, was Sie umtreiben muss, etwas, was die Kraft vonFischer überfordert. Er ist heute ein Super-Genscher ge-worden. Damals gab es die Story: Zwei Flugzeuge sto-ßen über dem Atlantik zusammen; in beiden saß Gen-scher. – Genscher flog wenigstens noch immer über denAtlantik, während Fischer heute in der Welt umherreist,von Entwicklungsland zu Entwicklungsland, und umeine Schimäre kämpft.
Er sammelt Stimmen für einen Sitz im UN-Sicherheits-rat, obwohl er da nichts zu gebenedeien hat. Dazu kannich nur sagen: Er hat auch nicht das nötige Geld undnicht die nötigen Mittel, um dort entsprechend mitwir-ken zu können.Weil wir schon über Werte reden, denke ich auch andie überzeugende Wiederwahl von Präsident Bush.Wir können uns den Präsidenten der Amerikaner nicht
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Michael Glosselbst aussuchen; das macht immer das amerikanischeVolk. Die Amerikaner können sich unsere Regierungauch nicht aussuchen; wahrscheinlich hätten wir sonsteine andere. Aber das ist nun einmal so. Neben dem Re-kordergebnis für den Präsidenten sollte uns auch diedeutliche Mehrheit in beiden Häusern des Kongressesbei stark gestiegener Wahlbeteiligung zu denken geben.Wenn das die Kommentatoren der öffentlich-rechtlichenMedien in Deutschland hätten verhindern können, hättensie es getan.
Ich habe das alles von China aus verfolgt. Die Chinesenund auch Putin, der Freund von Herrn Schröder, hattenschon längst gratuliert,
als in den öffentlich-rechtlichen Medien in Deutschlandimmer noch davon gesprochen wurde, dass die Anwälteaufmarschierten, Ohio kippen werde und was weiß ichnoch alles. Die Bundesregierung wird wahrscheinlichnach Burkina Faso irgendwann als Allerletzter gratulierthaben, weil man sich auf die Öffentlich-rechtlichen ver-lassen hat. Die deutschen Diplomaten, die die Bundesre-gierung in die Welt geschickt hat, sind ja teilweise auchnicht viel besser in Bezug auf ihre Einschätzung in die-ser Frage.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ob Sie eshören wollen oder nicht:
In Amerika wäre es unvorstellbar, dass die Kandidatureines gläubigen Katholiken für ein öffentliches Amt inder Form abgelehnt wird, wie es bei Rocco Buttiglionedurch das Europäische Parlament geschehen ist.
Auch das ist eine Tatsache, die zeigt, wie sich bei unsdas Koordinatensystem immer mehr verschiebt. All dasist nicht zum Vorteil unseres Landes. Ich meine, Ver-trauen kann nur aus festen Wertevorstellungen erwach-sen.Die Außenpolitik dieser Bundesregierung ist deswe-gen so schlimm, weil sie mit zweierlei Maß misst. Wäh-rend Sie, Herr Bundeskanzler, gegenüber unserem Ver-bündeten USA immer mehr auf Distanz gehen, biedernSie sich kritiklos bei Putin an. Als lupenreinen Demo-kraten, wie Sie es bei „Beckmann“ formuliert haben,sieht sich nicht einmal Putin selber. Eine solche Aussagewürde ihn beleidigen.
Da sind Sie zu weit gegangen.Deswegen war es auch ein ganz grober Fehler – jetztwird es ernst –, dass sich Deutschland, das nun einmalsehr nah an der Ukraine liegt, und die EuropäischeUnion überhaupt nicht um die Ukraine gekümmert ha-ben.
Sie, Herr Fischer, hätten bei Ihren Flügen rund um dieWelt dort wenigstens ab und zu einmal eine Zwischen-landung machen können.
Es geht ja darum, ob die Ukraine eine West- oder eineOstausrichtung wählt. Eine Westausrichtung der Ukraineliegt in ganz hohem Maß im deutschen Interesse. Einestarke ukrainische Demokratie mit einem westlich orien-tierten Präsidenten wollte die Mehrheit der Wähler in derUkraine und diese liegt auch – ich sage das noch ein-mal – im Interesse Deutschlands. Wiktor Juschtschenkowird offensichtlich um seinen Wahlsieg betrogen.Ich finde es gut, dass es seit gestern endlich eine Er-klärung von Herrn Fischer dazu gibt. Gestern ist es ihmeingefallen. Ich weiß nicht, ob seine Diplomaten ge-schlafen haben oder ob sie immer noch mit der Erteilungungerechtfertigter Visa beschäftigt sind. Man löst dieProbleme eines Landes nicht dadurch, dass man in ganzgroßem Stil rechtswidrig Visa erteilt. Ich komme nochzu diesem Thema. Herr Bundeskanzler, ich erwarte vonIhnen, dass Sie heute etwas zur Ukraine und zu dem, wasdort abläuft, sagen.
Wenn man den Blick einseitig nur auf die Vollmit-gliedschaft der Türkei richtet, weil man auf die Wähler-stimmen der türkischstämmigen Deutschen schielt,
also allein dies zum Maßstab für die Interessenvertre-tung eines Volkes macht, dann liegt man in der Außen-politik immer falsch.
Ich meine, die Vollmitgliedschaft der Türkei liegt nichtim Interesse unseres Landes; eine gute Partnerschaftliegt im Interesse unseres Landes. Eine aktuelle Studiedes Osteuropa-Instituts München besagt, die angebli-chen Vorteile einer Mitgliedschaft werden übertriebenund Risiken heruntergespielt. Wenn Sie den Aussagendes Osteuropa-Instituts nicht glauben, dann vertrauenSie wenigstens Helmut Schmidt. Er hat gestern gesagt:Die europäischen Diplomaten lassen sich täuschen – er hat damit auch die deutschen gemeint –,weil sie nur Istanbul, Izmir oder Ankara kennen.Sie kennen aber Anatolien nicht.
– Man wird doch bei der SPD, verdammt noch mal, nochHelmut Schmidt zitieren dürfen!
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2004 13013
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Michael GlosIch zitiere weiter Helmut Schmidt:Die Menschen werden kommen und bei der deut-schen Sozialfürsorge um eine Wohnung nachsu-chen, um einen Fernseher und ein Telefon.Er sagt auch, die Vorbereitungen für die Beitrittsver-handlungen würden zu eifrig betrieben. Der HunderteJahre alte Obrigkeitsstaat werde nicht in zwei Jahreneine Demokratie werden.
Außerdem bringt er zum Ausdruck: ökonomische Unter-stützung ja, aber Freizügigkeit – das heißt Vollmitglied-schaft – nein.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir brau-chen die Integration der hier lebenden ausländischenMitbürger, insbesondere der türkischstämmigen,
die den größten Anteil ausmachen, Herr Tauss. Aberdiese Integration wird doch nicht geschehen, wenn im-mer mehr nachwandern, wenn sich immer mehr eine Pa-rallelgesellschaft bildet, wie es jetzt auch von Ihnenbeim Namen genannt wird. Wir sollten hier äußerst vor-sichtig sein.Herr Bundeskanzler, ich habe heute mit großer Be-friedigung registriert, dass Ihr Freund Präsident Chiracdabei ist, einen Meinungswandel zu vollziehen. Er sagt,die privilegierte Partnerschaft der Türken müsse einVerhandlungsziel sein. Er äußert das natürlich auf Druckvon Sarkozy, der sich jetzt aufmacht, Vorsitzender derUMP zu werden. Die Franzosen wissen, dass man nichtsgegen die Mehrheit eines Volkes machen kann. Aber Siewollen die Vollmitgliedschaft der Türkei gegen den er-klärten Mehrheitswillen des deutschen Volkes erreichen,Herr Bundeskanzler. Das ist abzulehnen.
Werben Sie rechtzeitig vor dem 17. Dezember für dieprivilegierte Partnerschaft! Schaffen Sie keine Enttäu-schungen bei unseren türkischen Freunden,
indem Sie Dinge versprechen, die Sie nicht halten kön-nen, und handeln Sie im deutschen und europäischen In-teresse!
– Die Redezeit ist zu Ihrer Freude
leider nicht um, sondern ich darf weiterreden, auch wennes Ihnen nicht gefällt.Wer zu uns ins Land kommt, der soll, wie ich meine,mit uns leben und nicht neben uns. Wir brauchen mehrIntegration, wir brauchen mehr Gemeinsamkeit. Es istganz klar: Die Basis für die Verständigung muss diedeutsche Sprache sein.Das haben wir im Juli 1998 vor der Bundestagswahlauf unserer Klausurtagung in Banz gefordert. Damalswar es sensationell, so etwas zu äußern. Alle Schmutz-kübel der Linken, von Rot und Grün, sind über uns aus-geschüttet worden, weil wir gesagt haben, wer inDeutschland lebt, soll Deutsch sprechen. Der Einzige,dessen Einstellung ein bisschen anders war, war HerrSchily. Er hat nach der Regierungsübernahme einen an-deren Weg eingeschlagen. Er hat es richtig gemacht. Alses darum ging, ein moderneres Zuwanderungsrecht zuschaffen, hat er gesagt: Raus mit den Grünen aus denVerhandlungen! Dadurch ist der Kompromiss letztend-lich möglich geworden.
Das war der richtige Weg, Herr Bundesminister Schily.Herr Bundeskanzler, wenn Sie die Kraft hätten, zu sa-gen: „Raus mit den Grünen aus dieser Regierung“, dannwürde möglicherweise wieder eine ökonomische Basisfür das Vorwärtskommen dieses Landes geschaffen.
Ich komme noch einmal zu dem Zuwanderungskom-promiss. Schleuser, Terrorunterstützer und Hasspredigerkönnen jetzt endlich ausgewiesen werden. Sie sollten dieInstrumente auch nutzen. Für Ausländer, die nachDeutschland kommen, werden Integrationskurse Pflicht,obwohl die Grünen lange dagegen waren. Ihr Traum vonder multikulturellen Gesellschaft ist geplatzt.
Ich meine, dass Verstöße gegen die IntegrationspflichtFolgen haben müssen. Wie schwer sich die Grünen mitunserem Land und seinen Traditionen tun, hat HerrStröbele mit seiner Forderung nach einem islamischenFeiertag bewiesen. Das kann man gar nicht oft genugwiederholen.Der Prozess gegen den Chef einer ukrainischenSchleuserbande in Köln hat allerdings einen Skandal imAuswärtigen Amt an die Öffentlichkeit gebracht.
Während verhandelt worden ist, die Einwanderung nachDeutschland legal zu reduzieren, haben Sie, Herr Bun-desminister Fischer, illegal die Schleusen aufgemacht;unter Ihrer Verantwortung, Herr Fischer, ist das gesche-hen. Sie können nur der beliebteste Minister sein, weildie Leute das nicht wissen.
Aber wir werden mit dem Untersuchungsausschuss da-für sorgen, Herr Bundesminister Fischer, dass die Leutedas erfahren. Ich freue mich schon, wenn Sie einmal sovorgeführt werden, wie Sie immer versuchen, anderevorzuführen.
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13014 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2004
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Michael Glos
2000 wurden die Konsulate angewiesen, AusländernEinreisevisa zu erteilen, ohne alle gesetzlichen Voraus-setzungen zu überprüfen. Das Kölner Gericht sprichtvon einem „Putsch gegen unsere Rechtsordnung“. Rund5 Millionen Menschen sind mithilfe dieses Rechtsbru-ches nach Deutschland und in die europäischen Partner-staaten eingeschleust worden, halten sich illegal in deneuropäischen Ländern auf und fördern dort Schwarzar-beit, Prostitution, Menschenhandel und andere krimi-nelle Machenschaften. Sie sind dafür der Zuhälter– wenn man so will –, Herr Bundesminister Fischer.
– Ich habe gesagt: wenn man so will.
– Ich weiß gar nicht, warum es diese große Aufregunggibt. Dieser Skandal und seine Hintergründe werden voneinem Untersuchungsausschuss aufgeklärt. Wir werdenSie zur Ehrlichkeit zwingen.
Ein allerletzter Punkt. Herr Bundeskanzler, Sie habendas letzte Mal zu Beginn Ihrer Rede versucht, mich zudiskriminieren. Die Presse hat darüber geschrieben;meine Heimatzeitung hat es nachgedruckt. Deswegenhabe ich Sie gestern gefragt: Wie wollen Sie es denn?Sie haben mir gesagt: Sie waren sonst immer lustig, niepeinlich.Da wir gerade bei „lustig“ und „peinlich“ sind,
will ich ein Bild präsentieren, das der Wirklichkeit ent-spricht. Ob es lustig oder peinlich ist, das überlasse ichdem Urteil aller geneigten Zuschauer und Zuhörer. ZuBeginn Ihrer Amtszeit, Herr Bundeskanzler, haben Sienoch persönlich für Armani und Brioni Modell gestan-den.
– Das ist doch richtig, oder? – Wenn ich die „Bild“-Zei-tung richtig gelesen habe, dann ist es so, dass jetzt IhrHund für Rossmann wirbt.
Ich weiß nun nicht, ob es lustig oder peinlich ist. Ichkann es nicht beurteilen.
Ich kann nur sagen, meine sehr verehrten Damen undHerren: Wir haben es mit einer Bundesregierung zu tun,die nirgends durchgängig glaubhaft ist und die das Ver-trauen, das man in schwieriger Zeit in der Bevölkerungbraucht, verspielt hat. Deutschland ist besser als dieseBundesregierung. Das gibt mir Hoffnung für die Zu-kunft.Danke schön.
Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir eine Be-
merkung. Herr Kollege Poß, Sie haben den Redner der
Verlogenheit geziehen. Herr Glos, Sie haben es für rich-
tig gehalten, einen Minister als Zuhälter zu bezeichnen.
– Der kleine Nachtrag „wenn man so will“ macht es
nicht besser. –
Ich erteile Ihnen beiden einen Ordnungsruf und bitte
sehr darum, dass wir uns in der weiteren Debatte mäßi-
gen.
Nun erteile ich das Wort dem Bundeskanzler der Bun-
desrepublik Deutschland, Gerhard Schröder.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Unser Zwiegespräch war anders. Michael Glos,Sie hatten mir versprochen, heute friedlich und sachlichzu sein.
– Nach seiner Auffassung war er es.
Aber ich glaube, da wird es unterschiedliche Auffassun-gen in Ihrer eigenen Fraktion geben.
– Nein? Das ist ja noch bedauerlicher.
Das zeigt, dass das Differenzierungsvermögen in Ihrergesamten Fraktion außerordentlich unterentwickelt ist.Das wird sich heute noch zeigen.Ich möchte gerne zwei Punkte vorab richtig stellen,Herr Glos. Ich finde es zum einen nicht richtig, wie Sie
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2004 13015
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Bundeskanzler Gerhard SchröderHerrn Stoiber zitiert haben und dass Sie dann auch nochmeinen, er habe nicht gemeint, was er gesagt habe.
Es ist ein typischer „Stoiber“ gewesen, nach dem Motto„Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“. Daskennen wir von ihm.
Zum 3. Oktober würde ich Ihnen gern ein paar Dingesagen, die andere betreffen; ich hoffe, ich zerstöre nichtderen Karrieren. Ich habe mir das herausgesucht undwill es Ihnen mitteilen. Da gab es einen Sozialexperten,der sich in der „BZ“ vom 10. März 1994 zum 3. Oktobergeäußert hat. Peter Ramsauer,
CSU-Sozialexperte:
Selbstverständlich müssen wir auch bereit sein, Fei-ertage zu streichen, beispielsweise den 1. Mai. Der3. Oktober könnte auf einen Sonntag gelegt wer-den. Es darf keine Tabus geben.
Übrigens, Herr Singhammer, Sie wollen ja einen Kar-rieresprung machen. Ich will Ihnen deswegen auf demWeg dorthin mitgeben, was Sie zu diesem Thema gesagthaben:Singhammer würde für die Mehrarbeit Feiertageopfern, keine kirchlichen zwar, aber weltliche wieden Tag der Arbeit oder den Tag der DeutschenEinheit. Über den 1. Mai und den 3. Oktober gibt estatsächlich eine Diskussion, sagte der CSU-Abge-ordnete. An die könnte man rangehen.
Meine Damen und Herren, ich erwähne das nicht, umdiese Debatte weiterzuführen,
sondern ich erwähne das, damit Sie mit dem Patriotis-musvorwurf etwas vorsichtiger umgehen.
Diejenigen, die derart im Glashaus sitzen, sollten nunwahrlich nicht mit Steinen werfen. Das geht, wie ge-zeigt, immer nach hinten los.
Ich komme zum zweiten Thema. Dies betrifft densachlichen Gehalt – sofern einer vorhanden war – des-sen, was Herr Glos zur Ökonomie gesagt hat. Wie ur-teilsfähig er in diesen Fragen ist, will ich gern mit Rück-griff auf eine andere Begebenheit erläutern. In einer derletzten Debatten über ökonomische Fragen, Herr Glos,haben Sie sich in ganz bestimmter Weise mit demAußenwert des Euro beschäftigt. Sie werden sich erin-nern: Er stand damals im Verhältnis zum Dollar bei84 Cent. Da hat Herr Glos gesagt – das beweist seine Ur-teilsfähigkeit in ökonomischen Dingen –:Ich will jetzt gar nicht im Einzelnen darlegen, wiesich der Euro entwickelt hat. Gegenüber dem viet-namesischen Dong beträgt die Abwertung21 Prozent, gegenüber dem dominikanischenPeso – es fliegen ja ungeheuer viele Leute in dieKaribik – beträgt die Abwertung 19 Prozent.
Ich könnte Ihnen eine lange Liste nennen.Weiter sagte er:Ausschlaggebend ist also der Marktwert des Euro.Der Marktwert des Euro könnte besser sein, wennwir in Deutschland, im wirtschaftlichen HerzlandEuropas, eine bessere Regierung hätten.
So viel zu Ihrer ökonomischen Urteilsfähigkeit.
– Ich will das jetzt im Zusammenhang vortragen; ich bingerade so gut dabei. Sie werden das verstehen, HerrGlos.Der Euro – das macht mich wegen unseres Exportesdurchaus besorgt – liegt jetzt im Verhältnis zum Dollarbei etwa 1,30. Worauf ist das entlang Ihrer ökonomi-schen Einsichten zurückzuführen?
Offenkundig darauf, dass die Regierung so ungeheuergut ist, dass der Außenwert des Euro ständig steigt. Ichsage Ihnen aber: Das hat doch mehr mit der Situation aufden internationalen Finanzmärkten – übrigens in der ei-nen wie in der anderen Richtung – zu tun als mit dem,was Sie prognostiziert haben.
Ich erwähne das hier nur, um das Publikum davon zu un-terrichten, wie weit her es mit Ihrer ökonomischenUrteilsfähigkeit ist.
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13016 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2004
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Bundeskanzler Gerhard SchröderIch würde angesichts dessen doch raten, sich damit zubegnügen, was der Sachverständigenrat der Bundesre-gierung zu diesen Fragen gesagt hat. Der Sachverständi-genrat der Bundesregierung – auch das sollte Thema die-ser Debatte sein – hat sein Jahresgutachten unter dasMotto „Erfolge im Ausland – Herausforderungen im In-land“ gestellt. Ich finde, dass das – darüber haben wir indieser Debatte heute zu diskutieren – eine sehr gute, sehrzutreffende und solide Kennzeichnung der Lage der Na-tion sowohl im Hinblick auf das Ökonomische als auchdas Politische ist.Die Frage, die wir hier zu debattieren haben – wirdürfen keinen Klamauk machen, wie Sie ihn eben vorge-führt haben –, ist doch wohl: Welche Beiträge könnendie Politik und die Gesellschaft schlechthin – dazu gehö-ren sowohl Wirtschaft als auch Gewerkschaften – erbrin-gen, um die Herausforderungen zu meistern, um dieChancen zu nutzen, um Erfolge zu haben? Das sollte derKern der Debatte sein.
Anstatt diese Diskussion zu führen, haben wir von Ih-nen vorhin nur das gehört – von Herrn Merz brillant, vonIhnen, Herr Glos, eher holzschnittartig vorgetragen –,was wir von Ihnen schon kennen.
In jedem Fall zeichnen Sie das Bild eines Deutschlandsim Jammertal. Sie zeichnen ein Zerrbild des Landes.
Für Sie ist das Teil einer Machtauseinandersetzung inunserem Land. Das ist nachvollziehbar, Sie müssen aberbedenken, dass Sie mit der Zeichnung von ZerrbildernDeutschlands nicht nur erlaubte Machtauseinanderset-zung betreiben, sondern Deutschland diskreditieren. In-dem Sie Deutschland nach innen diskreditieren, tun Siees naturgemäß auch nach außen. Das freut niemanden inDeutschland, das freut nur unsere Wettbewerber überallin der Welt.
Das sage ich vor dem Hintergrund der so genanntenPatriotismusdebatte; denn wenn eines unpatriotisch ist,dann das eigene Land so schlecht zu reden, wie Sie esgegenwärtig tun, nur um Machtauseinandersetzung zubetreiben.
Auch insoweit halte ich es mit dem Sachverständi-genrat, der zur Situation unter Textziffer 484 gesagt hat– ich zitiere –:Gegenwärtig besteht in Deutschland eine gewisseTendenz zur Schwarzmalerei. Selbst das Positive,wie beispielsweise die verbesserte preisliche Wett-bewerbsfähigkeit und die Ausfuhrerfolge, werdenunter dem Menetekel vermeintlich drastischer undnegativer Folgen für die heimischen Arbeitsplätzein düsteren Farben gemalt. Hierzu besteht alles inallem kein Grund. Wer alles nur noch schwarzsieht, verliert auch den Blick dafür, welche Wege zubeschreiten notwendig und lohnenswert sind.
Natürlich gibt es Licht- und Schattenseiten. Wir soll-ten aber auch über das reden, was gut gewesen ist undweiterhin gut ist. Wiederum zitiere ich den Sachverstän-digenrat:Mit einem Anteil von rund 10 v. H. wurde imJahr 2003 fast wieder das Niveau erreicht, das zuBeginn der neunziger Jahre vorgelegen hatte.Es geht um den Export. Dies zeigt aber auch, was wirim Laufe der 90er-Jahre verloren haben. Wir haben daswieder aufgeholt. Das drückt aus, dass wir es in derPhase der Stagnation geschafft haben, Marktanteile inder Welt zu gewinnen und nicht zu verlieren. Dieser Pro-zess geht weiter. Die Exporterfolge dieses Jahres und diefür das nächste Jahr erwarteten Erfolge werden wiederdazu führen, dass wir im Export Rekordernten einfahrenkönnen.
Das erwähne ich nicht, um in Anspruch zu nehmen,dass das allein auf die Politik der Bundesregierung zu-rückzuführen ist. Niemand wird das sagen können. Esmuss aber erwähnt werden, weil dahinter eine Kraft derVolkswirtschaft steht und nicht eine Schwäche, wie Siesie an die Wand malen. Was denn anderes als Kraft?
Im ersten Halbjahr 2004 ist der Export, bezogen auf dasRekordjahr 2003, noch einmal um 10 Prozent gestiegen.Das zeigt doch, dass wir, jedenfalls was unsere außen-wirtschaftlichen Möglichkeiten angeht, auf dem richti-gen Weg sind. Das muss und soll doch denjenigen Mutmachen, die diese Leistungen in Deutschland erbrachthaben. Für diese Leistungen sind doch nicht wir, sonderndie Menschen draußen verantwortlich. Denen kann undmuss man auch einmal sagen, dass wir auf diese Leis-tungskraft stolz sind.
Niemand wird angesichts dessen die Tatsache leugnenwollen, dass wir bei der Binnenkonjunktur leider nochnicht so weit sind, wie wir sein wollten und sein müss-ten. Das hat aber doch nichts damit zu tun, dass man dasandere kleinschreibt. Bei der Binnenkonjunktur könnenSie das an den steigenden Ausrüstungsinvestitionen se-hen. Darüber hinaus können Sie das an der Tatsache er-kennen, dass der private Konsum nicht mehr sinkt. Ichweiß zwar, dass er noch stagniert; das reicht mir auchnoch nicht. Aber es ist die Basis für eine Verbesserung.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2004 13017
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Bundeskanzler Gerhard SchröderWenn Sie sich die Oktoberzahlen der Automobilin-dustrie anschauen und sich über die Orders, die dort ein-gehen, informieren, werden Sie feststellen können, dasswir den Trend nach oben stützen sollten, statt ständig dasGegenteil zu tun. Das geht doch nicht. Ein solches Vor-gehen ist auch nicht patriotisch.
Vor diesem Hintergrund müssen und sollen wir auchüber die Schattenseiten reden. Wir müssen uns dabeiaber bemühen, sie zu überwinden. Natürlich ist die Ar-beitslosigkeit zu hoch und natürlich gibt es noch zu we-nig Ausbildungsplätze. Natürlich gibt es Strukturpro-bleme in den Unternehmen, die Sie genannt haben.Natürlich beunruhigt uns das, was bei Opel an Arbeits-platzsicherung von den Beschäftigten erkämpft werdenmuss, und natürlich beschäftigt uns alle in Deutschlanddie Karstadt-Frage. Aber natürlich weiß auch jeder– niemand wird diskreditiert, wenn man das ausspricht –,dass es hier massives Missmanagement gegeben hat.Politik kann eben nicht alles richten, sondern kann nurund muss vernünftige Rahmenbedingungen setzen.Wir haben auf die Herausforderungen, die ich ge-nannt habe, sehr wohl reagiert. Wir sind doch die Erstengewesen, die mit der Agenda 2010 ein umfassendesStrukturprogramm vorgelegt haben, das die notwendigenReformen eingeleitet hat, um die Schattenseiten in unse-rem Land, die es natürlich auch gibt – ich sage aber nocheinmal: Es gibt sie nicht ausschließlich –, Schritt fürSchritt zu überwinden.
Es war richtig, dass der Finanzminister gestern daraufhingewiesen hat, dass es diese Regierung, diese Koali-tion gewesen ist, die mit ihrer Steuerpolitik dafür gesorgthat, dass – jedenfalls potenziell – mehr Konsummöglich-keiten vorhanden sind. Es werden 56 Milliarden Euromehr für die Unternehmer und die Konsumenten zurVerfügung stehen, wenn die letzte Stufe der Steuer-reform zu Beginn des nächsten Jahres in Kraft tritt. Dasist doch kein Pappenstiel, meine Damen und Herren, dasist eine Chance, die Wirtschaft nach vorn zu bringen.Diese Tatsache muss man einfach zur Kenntnis nehmen.
Über die ökonomisch vernünftige, aber auch sozialgerechte Ausgewogenheit dieses Steuerprogramms musssich doch niemand, aber auch wirklich niemand Gedan-ken machen. Diese Koalition ist es gewesen, die denEingangssteuersatz von 25,9 Prozent zu Ihrer Zeit auf15 Prozent – ab 1. Januar 2005 – gesenkt hat.
Wir sind es gewesen – ich weiß, dass wir dafür von denGewerkschaften und gelegentlich auch aus den eigenenReihen stark kritisiert wurden –, die den Spitzensteuer-satz von 53 Prozent auf 42 Prozent – ab 1. Januar 2005 –gesenkt haben. Unsere Steuerquote gehört zu den nied-rigsten in Europa. Ich halte das für richtig. Aber wenn esrichtig ist, dann muss man auch darüber reden und darfnicht das Gegenteil davon fordern.Wir haben dafür gesorgt, dass die Rentenbeiträge,die in Gefahr waren, auf über 21 Prozent zu steigen, bei19,5 Prozent festgeschrieben werden konnten. Natürlichhat das schmerzhafte Einschnitte erfordert; das ist dochgar keine Frage. Natürlich hat das auch dazu geführt,dass Belastungen unvermeidlich gewesen sind. DieseBelastungen haben es uns im abgelaufenen Jahr politischnicht einfach gemacht. Wir haben das aber durchgesetzt,weil es für die Zukunft Deutschlands notwendig ist undweil es patriotisch ist, das Land voranzubringen und esauf die neuen Gegebenheiten einzustellen.
Wir sind es doch gewesen – Walter Riester, mit des-sen Namen diese Reform verbunden ist, sitzt ja dort –
– ja, meine Damen und Herren, auch nach jahrzehntelan-gem Gezerre war niemand dazu in der Lage –, die nebender Umlagefinanzierung – die zwar wichtig bleibt, diedie Finanzierung aber angesichts unterschiedlicher unddifferenzierter Erwerbsbiografien in Schwierigkeitenbringt – das System der Kapitaldeckung aufgebaut ha-ben. Mehr als 4 Millionen Privatpersonen haben bisherdavon Gebrauch gemacht. Mehr als 50 Prozent der aktivBeschäftigten bekommen Betriebsrenten. Das sind Er-folge, die man nicht kleinreden darf; man muss sie deut-lich machen.
Wir sind es doch gewesen, die die beklagenswerteTatsache, dass die Menschen in der Vergangenheit zufrüh in Rente geschickt worden sind – woran wir alle be-teiligt waren –, geändert haben. Wir haben deutlich ge-macht, dass wir das wollen – weil wir die Älteren unteruns aus materiellen Gründen, um der Menschen selbstwillen länger in Beschäftigung halten müssen, als es je-mals zuvor der Fall gewesen ist.Es macht wenig Sinn, über die Altersgrenze bei derRente unter nominalen Gesichtspunkten zu reden. Nomi-nal liegt sie bei 65 Jahren; das wissen wir alle. Real liegtdiese Grenze aber bei 60 Jahren. Wenn wir es schaffen,die reale der nominalen Grenze um ein paar Jahre anzu-nähern, dann haben wir, was die Nachhaltigkeit des Ren-tensystems angeht, Erhebliches geleistet. Damit solltenwir uns in unseren Debatten beschäftigen.
Nun zur Gesundheitspolitik. Ich finde, dass dieMaßnahmen, die wir gemeinsam auf den Weg gebrachthaben, wirklich ein Erfolg sind. Wir werden, was die As-pekte Transparenz und Markt angeht, zum Beispiel beiden Apotheken aktiv werden. Dazu wird die FDP sicher-lich noch etwas sagen.
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13018 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2004
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Bundeskanzler Gerhard SchröderWir wären gerne etwas weiter gegangen, was die Markt-orientierung der Leistungserbringer angeht,
die – das glauben jedenfalls Sie – im Wesentlichen IhreKlientel ist
und die Sie deshalb immer vor dem Markt zu schützenbereit sind; das ist ja das Problem, das wir haben.
Dieses Thema haben wir angepackt und unsere Maß-nahmen wirken. Im ersten Halbjahr 2003 hatten die Kas-sen ein Defizit von 2 Milliarden Euro. Im erstenHalbjahr 2004 war von einem Überschuss in Höhe vonfast 2,5 Milliarden Euro die Rede. Dieser Turnaroundhat also eine Größenordnung von 4,5 Milliarden Euro.Das würde sich manches Unternehmen wünschen. Ichfinde, dass die Gesundheitspolitik von Frau Schmidt er-folgreich ist. Sie ist standhaft geblieben und hat sie ge-genüber den Interessengruppen durchgesetzt. Ich jeden-falls bin ihr dafür sehr dankbar. Das will ich Ihnen ganzdeutlich sagen.
Wir sind auf dem richtigen Weg. Wir haben den Men-schen sagen müssen, dass wir eine neue Balance zwi-schen der solidarischen Absicherung bei Krankengeldund Zahnersatz und der Eigenvorsorge brauchen. Wirwerden auch das durchsetzen. Ich bin mir ziemlich si-cher, dass das wieder zu Unmut führen wird – daraufwerde ich auch bei einem anderen Thema noch zu spre-chen kommen –, aber vor diesem Unmut darf man nichtweglaufen. Man muss geduldig erklären, warum dieseMaßnahmen im Interesse der Zukunftsfähigkeit unseresLandes sind und warum wir das, was wir machen, ma-chen müssen. Wir müssen das tun, auch wenn es für die-jenigen, die betroffen sind, manchmal bitter ist.Auch in der Arbeitsmarktpolitik gab es jahrelang Dis-kussionen. Aber diese Koalition ist es doch gewesen, diemit Hartz IV und den anderen Arbeitsmarktreformenfür mehr Flexibilität gesorgt hat, was sie auch weiterhintun wird. Diese Regierung sagt: Diejenigen, die heuteSozialhilfe bekommen, aber arbeitsfähig sind, erhaltendas Arbeitslosengeld II – nicht nur, weil sie dadurch ver-sorgt sind, sondern auch, weil sie nur dann die Leistun-gen der Bundesagentur für Arbeit in Anspruch nehmenund in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden kön-nen. Das ist der Zusammenhang. Wir wollen niemandenin ein anderes Versorgungssystem verschieben, sondernwir wollen durch diese Reform dafür sorgen, dass dieje-nigen, die arbeitsfähig sind, Arbeit bekommen
und die Arbeit, die zumutbar ist, auch annehmen müs-sen. Darum geht es uns.Eines ist klar: Wir werden noch harte Diskussionenüber diese Reform, die Millionen von Menschen betrifft,durchzustehen haben. Das sage ich insbesondere denje-nigen, die sich nicht in die Büsche schlagen können:meiner eigenen Fraktion und der Koalition. Natürlichwird das nicht einfach werden, es steht noch bevor, aberich bin ziemlich sicher, dass wir das leisten können –weil wir es leisten müssen. Die Einsicht, dass Reformennotwendig sind, wächst. Die Kluft, die bei Reformmaß-nahmen in doppelter Hinsicht besteht, beginnt sich zuschließen: die Kluft zwischen der abstrakten Bereit-schaft, Veränderungen mit zu tragen, und der abnehmen-den Bereitschaft, wenn es konkret wird, wenn man sel-ber betroffen ist; die Kluft auch zwischen den manchmalschmerzhaften Entscheidungen, die jetzt sein müssen,und den Erfolgen, die erst später eintreten werden. DieseKluft schließt sich. Das ist der Grund dafür, dass dieMenschen in Deutschland beginnen, den Reformprozessauch dort, wo er konkret wird und wo sie selber betrof-fen sind, nachhaltig zu unterstützen. Das ist eine Per-spektive, die Mut macht, auf diesem notwendigen Wegweiter voranzugehen.
Ich kann mir natürlich nicht verkneifen, insoweit aucheinmal darauf einzugehen, was von der anderen Seitedes Hauses zu erwarten ist, und zwar in punkto Steuernund in punkto Gesundheit.
Wir haben ja eine Idee geschildert bekommen, die dieMenschen in weiten Bereichen durchaus fasziniert hat,eine Idee, die mit dem Namen von Herrn Merz verbun-den ist: die Steuererklärung gleichsam auf einem Bier-deckel aufschreiben zu können. Ich finde, die Frage derVereinfachung hat natürlich etwas Faszinierendes in ei-nem komplexen System, das für viele schwer durch-schaubar ist und häufig nur noch von Experten wirklichin vollem Umfang durchschaut wird. Diese Idee ist na-türlich faszinierend. Aber was ist aus der Idee – ichunterstelle ihm durchaus, dass er das ernsthaft verfolgthat – geworden?
– Ist ja gut, das zu hören.Ich will doch einmal feststellen, dass in dem Gezerreum das andere Thema das, was Sie sich vorgestellt ha-ben, Herr Merz, zerredet und wegverhandelt worden ist.Anders ausgedrückt: Man hat Ihnen die Bierdeckel, dieSie gebraucht hätten, schlicht weggenommen.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2004 13019
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Bundeskanzler Gerhard SchröderDas ist das Problem, unabhängig von der Frage, ob daswirklich geht. An die Stelle des Konzeptes „Bierdeckel“ist der Abgang von Herrn Merz getreten.Es geht bei der Union noch weiter: Da haben Sie einegewaltige Gesundheitsreform groß angekündigt. Wasist daraus geworden?
Sie haben wirklich ein bürokratisches Monstrum zu-stande gebracht, wie man es schlechter kaum machenkann!
Ich will Ihnen gar keine darüber hinausgehende eigeneBewertung zumuten, sondern nur sagen, was der Sach-verständigenrat zu Ihrem Modell gesagt hat; darin sitzt jaeiner der Erfinder der von Ihnen vertretenen Grundidee– die ich im Übrigen für falsch halte –:Insgesamt werden die Nachteile des gegenwärtigenSystems kaum beseitigt und die Vorteile eines Pau-schalbeitragssystems kommen kaum zur Geltung.Das System wird äußerst kompliziert und noch un-durchsichtiger als das gegenwärtige. Kurzum: Die-ses Modell ist ein Kompromiss, von dessen Umset-zung abzuraten ist.
Dem habe ich nichts hinzuzufügen.Wenn man vor diesem Hintergrund die Regierungsfä-higkeit der Opposition prüft, dann kann man nur sagen:Sie haben in beiden Bereichen bewiesen, dass Sie kon-zeptionell zu nichts in der Lage sind. Sie haben abernachhaltig bewiesen, dass Sie in der Lage sind, Ihre bes-ten Leute gehen zu lassen. Das ist das eigentliche Pro-blem, das die Opposition hat.
Was die Innenpolitik angeht, noch ein paar Bemer-kungen zur aktuellen Diskussion um die Integration.Ich warne vor einem: davor, die Debatte über die Frage– ich komme darauf noch zurück –, ob man Beitrittsver-handlungen mit der Türkei – denn nur um die geht esja – aufnehmen soll,
mit der Integrationsdebatte im Inneren unseres Landeszu verquicken.
Ich warne davor, weil das in keinem Fall im deutschenInteresse sein kann: nicht was die Friedlichkeit im Inne-ren unserer Gesellschaft angeht und schon gar nicht, wasdie deutschen außerpolitischen Interessen angeht. Alsolassen Sie uns das trennen.Vor diesem Hintergrund noch ein paar Bemerkungen,die das unterstützen, was der Parteivorsitzende der SPDneulich den Mitgliedern meiner Partei geschrieben hat:Worum geht es dabei? Es geht dabei zunächst einmal da-rum, deutlich zu machen, dass wir, von Ausnahmen ab-gesehen, die wir alle kennen, bei der Integration jenerfast 3 Millionen Türken, die bei uns leben, im Grundemehr Glück als Pech gehabt haben.
Es geht auch darum, einmal festzustellen, dass sich diegroße Masse unserer ausländischen Mitbürgerinnen undMitbürger – welcher Nationalität auch immer – zwarnicht in jeder Frage so verhält, wie wir uns das vielleichtim Einzelnen wünschen – das ist aber nicht das Pro-blem –, dass sie sich aber gesetzestreu verhält und sichan die Leitlinien unserer Verfassung hält. Das ist das,was wir verlangen müssen und verlangen sollten, aberauch nur verlangen dürfen.
Jenseits dessen geht es um Respekt davor, wie wirhier leben – das ist gar keine Frage –, aber auch um Res-pekt vor dem, was andere Kulturen zu einem Leben ineiner Gesellschaft wie der unseren beizutragen haben.Ich denke, wir sollten unsere Integrationsbemühungenimmer auch mit dem Hinweis darauf verbinden, dasswir, von ärgerlichen Erscheinungen abgesehen – ichsage es noch einmal –, bezogen auf die bisherigen Inte-grationsleistungen im Großen und Ganzen zwar nochnicht zufrieden, aber doch froh darüber sein können,dass es in Deutschland nicht zu Eruptionen wie in be-stimmten Vorstädten in manchen anderen großen Gesell-schaften gekommen ist. Ich bin fest davon überzeugt,dass wir das beibehalten müssen.
Jenseits dessen sollten wir klar machen – das kannman durchaus auch einmal selbstkritisch sagen –, dass eswahrscheinlich ein Fehler gewesen ist, nicht sehr vielfrüher darauf hinzuweisen
– Sie haben das ja auch nicht getan –,
dass die wichtigste Voraussetzung für die Integration ineine Gesellschaft, in die man hineingeht, die Spracheist.
Deswegen ist es unerhört wichtig, einzusehen, dass dieSprache gelernt werden muss. Das sollten wir als Gesell-schaft auch abverlangen.
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13020 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2004
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Bundeskanzler Gerhard SchröderInteressant ist nun, dass wir das mit dem von derUnion lange bekämpften Zuwanderungsrecht zum ers-ten Mal tun.
Ich glaube, wir müssen dieses modernste aller Zuwande-rungsrechte, die es in Europa und weit darüber hinausgibt, jetzt offensiv nutzen. Das gilt für die Regelungenzur Sprache in ganz besonderer Weise.
Es geht bei dieser Frage immer um eine vernünftige Ba-lance zwischen dem, was wir von anderen Kulturen ler-nen können, und dem, was wir vor dem Hintergrund derWerte unserer Verfassung abverlangen können und müs-sen. Für jede Art innen- oder außenpolitischen Kreuzzugeignet sich dieses Thema zuallerletzt.
Sie haben nun angekündigt, Sie wollten eine Werte-debatte führen. Gerne! Ich habe mir einmal die Erörte-rungen auf dem CSU-Parteitag in Bayern angeschaut.Das war wahrlich keine reine Freude. Ich gebe aber zu,dass das auf allen Parteitagen so ist.
Dort ist ein ganz interessanter Versuch gemacht worden,über den wir, da bin ich mir ziemlich sicher, auch in Be-zug auf die Entscheidungen für 2006 sehr intensiv mit-einander diskutieren werden. Es wurde versucht, eineneue Dimension in der Wertediskussion zu erreichen.Wenn man sich die Reden angehört hat, in denen Konse-quenzen formuliert wurden, die angeblich oder tatsäch-lich aus bestimmten Menschenbildern folgen, und diesemit den Beschlüssen des Parteitages, bei denen es um dieharte Wirklichkeit ging, vergleicht, dann stellt man fest,dass – das sage ich Ihnen voraus –, diese Wertedebattesehr interessant wird. Sie reden abstrakt über Solidaritätund über die Würde des Menschen – damit meinen Sieja wohl auch die arbeitenden Menschen –, wenn es dannaber konkret wird, reden Sie über die Abschaffung desKündigungsschutzes und über die Abschaffung derMitbestimmung. Diese Art einer verqueren und unehr-lichen Wertedebatte werden wir Ihnen nicht durchgehenlassen.
Ich sage Ihnen: Zu dieser Diskussion werden wir die beiIhnen auftauchenden Differenzen zwischen den Wertenim Himmel einerseits und der brutalen Wirklichkeit aufder Erde andererseits genau abklopfen. Das wird einesehr interessante Debatte werden, damit wir uns da völ-lig richtig verstehen.
Lassen Sie mich noch ein paar Bemerkungen zur an-deren Seite dessen machen, was wir als Reformpolitikfür dieses Land vorschlagen und zu großen Teilen durch-gesetzt haben. Es geht nicht nur darum, die sozialenSicherungssysteme, die wir Gott sei Dank in Deutsch-land und in Europa haben, hier und in Europa zu erhaltenund zukunftsfest zu machen. Nein, es geht zugleich da-rum, Ressourcen für wichtigste Zukunftsaufgaben frei-zusetzen, die wir, so glaube ich, miteinander teilen. Esgeht um Forschung und Entwicklung. Wir haben dieAusgaben in diesem Bereich seit 1998 um mehr als einDrittel steigern können. Das ist nicht wenig, aber das istauch nicht genug; das gebe ich zu. Zurzeit liegen dieAusgaben bei 2,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes.Das ist mehr, als die anderen großen europäischen Län-der bereitstellen, aber weniger als in den skandina-vischen Ländern. Wir müssen in dieser Dekade auf3 Prozent des Bruttoinlandproduktes kommen und daswollen wir auch.Es gibt einen Weg, wie wir das schaffen können. Des-wegen mein Appell: Blockieren Sie diesen Weg nichtlänger! Wir müssen die rückwärtsgewandte Eigenheim-zulage abschaffen, damit wir diese Mittel in Forschung,Entwicklung und Bildung investieren können. Bis 2010sind das 15 Milliarden Euro. Wie denn sonst, wenn nichtauf diese Weise, sollen wir das schaffen?
Wir müssen in Betreuung von Kindern investieren,und zwar nicht nur um Gerechtigkeit zwischen den Ge-schlechtern zu realisieren, auch wenn das allemal einwichtiges Ziel ist. Vielmehr müssen wir auch dafür sor-gen, dass die Kreativität und die Leistungsbereitschaftvon Frauen ökonomisch genutzt werden können. Ichsage es noch einmal: Wer glaubt, Fehler in diesem Be-reich allein durch Zuwanderung ausgleichen zu könnenund so für die in der Wirtschaft fehlenden Arbeitskräftezu sorgen, irrt, weil das die Integrationsfähigkeit unsererGesellschaft bei weitem übersteigen würde. Das brau-chen wir auch, aber nicht nur.Deswegen halte ich es für außerordentlich wichtig,dass das, was wir gegenwärtig vorbereiten, von denKommunen umgesetzt wird,
nämlich dass die 1,5 Milliarden Euro von den 2,5 Mil-liarden Euro, die wir den Kommunen im Zuge der Hartz-IV-Reformen zur Verfügung stellen, wirklich für die Be-treuung der unter Dreijährigen eingesetzt werden. Dasist wichtig.
Polemik gegen den Bund, der in dieser Legislaturperiodefür die Betreuung in den Schulen 4 Milliarden Eurolockermacht, aber dafür angeblich nicht zuständig ist,nutzt doch überhaupt nichts. Stattdessen sollte das Geldsinnvoll investiert werden. Darum geht es, und das wärebesser, als hier Polemik zu betreiben.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2004 13021
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Bundeskanzler Gerhard SchröderIch finde, die Debatten über die Frage, welchen WertAusbildung für die jungen Menschen hat, haben genutzt.Der Ausbildungspakt, den wir geschlossen haben, be-ginnt zu greifen, auch wenn er noch nicht idealtypischist; das ist gar keine Frage. Aber die Zahl der in den Be-trieben angebotenen Ausbildungsplätze steigt. Das istein großer Erfolg, den wir miteinander erzielt haben, wo-mit ich unsere Seite dieses Hauses zusammen mit derWirtschaft meine.
Wenn wir klar machen, dass all das, was wir denMenschen in Deutschland an schmerzlichen Entschei-dungen und Zumutungen auferlegen müssen, damit ver-bunden ist, dass wir Zukunftsfähigkeit durch Investi-tionen in den Bereichen Forschung und Entwicklung,Bildung und Betreuung schaffen müssen und wollen,dann werden sich – da bin ich sicher – die Bewusstseins-lagen für die Notwendigkeit von Reformprozessen inimmer noch reichen Gesellschaften weiter positiv verän-dern. Davon bin ich überzeugt.
Zu dieser Generaldebatte möchte ich auch ein paarBemerkungen zur internationalen Politik machen. Esist wahrlich kein leichtes internationales Umfeld, in demwir unsere Position zu finden und zu behaupten haben.Ich stimme all denjenigen zu, die sagen – deswegen hates von uns darüber kein einziges Wort gegeben –, es seiSache des amerikanischen Volkes, seinen Präsidenten zuwählen. Ich habe immer hinzugefügt: Wir werden mit je-dem, der dort gewählt wird, gut zusammenarbeiten. Dasgilt ausdrücklich auch für den wiedergewählten amerika-nischen Präsidenten. Die Diskussionen auf allen Ebenenüber diese Zusammenarbeit laufen besser, als Sie sichdas vorstellen können. Das werden Sie auch erleben.
Es geht dabei um einige Entwicklungen in der inter-nationalen Politik, die noch in diesem, erst recht aber imkommenden Jahr auf uns zukommen werden. Die wer-den nicht unerheblich sein. Wir sind im Irak noch nichtso weit, dass man auch nur in Ansätzen von einer friedli-chen Entwicklung reden könnte. Trotzdem hoffen wirauf die Wahlen und wir unterstützen alles – der Außen-minister hat das gerade auf der Konferenz in Scharm al-Scheich getan –, damit die Wahlen im Januar des nächs-ten Jahres stattfinden können. Das wäre doch wichtig.Wir sind daran interessiert – unabhängig von derFrage, wie wir zum Krieg standen, und unabhängig vonder Frage, wie wir zum Einsatz deutscher Soldaten ste-hen –, dass es eine vernünftige, friedliche Entwicklungim Irak gibt. Wir tun auch etwas dafür, aber eben nichtmit Soldaten. Ich habe festzustellen – ich habe das in derletzten außenpolitischen Rede von Herrn Schäuble schongemerkt; jetzt ist es auch wieder bei Herrn Glos deutlichgeworden –, dass wir uns unterscheiden: Sie wollen,dass deutsche Soldaten in den Irak kommen, zwar nur inStäben, aber in den Irak, und wir wollen das nicht. Da-rüber werden wir eine faire Auseinandersetzung führen.
Ich scheue sie nicht. Ich weiß, warum wir Nein gesagthaben und warum wir das in aller Fairness und Offenheitunseren Partnern vermittelt haben.Ich habe in diesen Fragen immer wieder darauf hinge-wiesen – dabei bleibe ich auch –, dass niemandDeutschlands Beitrag zur friedlichen Entwicklung inder Welt gering schätzen sollte.Wir sind diejenigen, ohne die die Wahlen in Afgha-nistan nicht so hätten ablaufen können, wie sie abgelau-fen sind.
Ich sage das sehr selbstbewusst, ohne jeden Anflug vonÜberheblichkeit. Ohne uns, ohne unsere Bundeswehrwäre das nicht so gelaufen. Das weiß man in Amerikaund anderswo. Ohne uns, ohne unsere 4 000 Soldatenauf dem Balkan, hätten wir dort Konflikte ganz andererArt. Deshalb bin ich stolz auf diejenigen, die das dortleisten, auf die Soldaten der Bundeswehr.
Im Übrigen hoffe ich, dass anerkannt wird – von un-seren Partnern wird das auch anerkannt –, was wir tun.Wir waren die Ersten, die in den Emiraten angefangenhaben, und zwar erfolgreich, irakische Polizei und iraki-sches Militär auszubilden. Wenn Sie nicht nur die Be-richte der eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, son-dern auch die der anderen lesen, werden Sie merken,dass diese Zusammenarbeit mit den Vereinigten Ara-bischen Emiraten für einen friedlichen, einen sicherenIrak von höchster Qualität ist und in der internationalenStaatengemeinschaft in höchstem Maß anerkannt wird.Darauf können wir mit Fug und Recht stolz sein. Daraufkönnen wir verweisen und wir sollten es tun.Wir sind es doch gewesen, die dem Drängen nachge-geben und gesagt haben: Müssen wir nicht einem poten-ziell wohlhabenden Land wie dem Irak, das seinen Öl-reichtum aber auf absehbare Zeit nur schwer wird nutzenkönnen, dadurch helfen, dass wir Schulden stundenbzw. erlassen, schlicht deshalb, damit das Geld, das er-lassen ist, nicht für Zahlungen an Gläubiger verbrauchtwerden muss, sondern für den Wiederaufbau des Landesverwendet werden kann?
Im Grunde gibt es doch nur zwei Möglichkeiten: Entwe-der man macht es auf diese Weise oder die internationaleStaatengemeinschaft zahlt auf Geberkonferenzen Bei-träge, die sie zusagt. Wir haben das zusammen mit unse-ren Partnern in der Welt, mit den Amerikanern, mit denFranzosen, mit den Briten, mit den Russen im PariserClub getan. Ich glaube, das ist ein Beitrag, den wir deut-lich machen sollten, ein Beitrag, der dem Wiederaufbaueines friedlichen Irak dient und der von Deutschlandim Rahmen seiner Möglichkeiten geleistet worden ist.
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13022 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2004
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Bundeskanzler Gerhard SchröderIch hoffe und erwarte auch, dass wir jetzt in einePhase kommen, in der im Nahen Osten jener Konflikt,der sehr häufig nicht Ursache für internationalen Terro-rismus ist, diesem aber viel Zulauf ermöglicht, gelöstwerden kann. Ich meine den Konflikt zwischen Paläs-tina und Israel.Ich denke, wir alle sind uns darin einig, dass es jetztauf der palästinensischen Seite Hoffnung gibt. Ich hoffe,dass dies auch auf der israelischen Seite der Fall ist;auch dafür gibt es Signale. Vor allen Dingen gibt esSignale vom amerikanischen Präsidenten, dass man sichdieses Themas intensiv annehmen will. Ohne die Ameri-kaner wird es nicht gehen. Das Quartett ist wichtig. Dasgilt auch für die anderen in diesem Quartett: die Euro-päer, die Russen und die Vereinten Nationen; aber ohneeinen entschiedenen Beitrag der Vereinigten Staaten vonAmerika wird der israelisch-palästinensische Konfliktnicht zu lösen sein.
Deswegen können wir alle nur hoffen, dass es gelingt,die neue amerikanische Administration, die die alte ist,dazu zu bewegen, diesen Konflikt als ein zentrales Auf-gabenfeld anzunehmen. Denn nur sie kann es leisten; an-dere können es nicht alleine schaffen. In dem Maße, wiedies geschieht, werden wir es nach meiner Überzeugungschaffen, den Zulauf verarmter und auch fehlgeleiteterMassen zu Terroristen zu unterbinden. Der Konflikt, derbisher nicht gelöst werden konnte, bietet Terroristen im-mer wieder Möglichkeiten, ihn zu nutzen. Deswegen istdie Lösung dieses Konflikts so außerordentlich wichtig.
Ich bin außerordentlich dankbar und halte es für einesehr große Leistung nicht zuletzt unseres eigenen Au-ßenministers, dass es im Verein mit den Franzosen undden Briten gelungen ist – jedenfalls sieht es so aus –, denKonflikt über den Iran, der sich abzeichnete, zu deeska-lieren und dafür zu sorgen, dass die Iraner aus freien Stü-cken den Brennstoffkreislauf nicht schließen. Die Euro-päer haben auch mit Angeboten einer entwickeltenZusammenarbeit dafür gesorgt, dass in dieser so gebeu-telten Region kein neuer Krisenherd entsteht.
Lassen Sie mich – damit das nicht falsch aufgefasstwird – etwas dazu anmerken, was ich an unserem Ver-hältnis zu Russland für wichtig halte. Ich habe die Äu-ßerungen von Herrn Schäuble in Moskau zu diesemThema zur Kenntnis genommen. Ich habe auch zurKenntnis genommen, dass in diesem Hause bis auf Ein-zelheiten, die Sie kritisiert haben – ich habe das verfol-gen können –, möglicherweise Übereinstimmung da-rüber besteht, dass wir gut daran tun, geduldig einestrategische Partnerschaft zwischen der EU – dasbedeutet allemal, wenn nicht sogar zuallererst Deutsch-land – und der Russischen Föderation aufzubauen. Ichglaube, es muss nicht nur aus ökonomischen Gründenund längst nicht nur aus energiepolitischen Gründennicht zuletzt in dem Jahr, in dem der 60. Jahrestag desEndes des Zweiten Weltkriegs begangen wird, deutlichgemacht werden, dass es notwendig ist und in unseremureigensten Interesse liegt, eine solche Partnerschaftzwischen der Russischen Föderation und Europa bzw.zwischen Russland und Deutschland zuwege zu bringen.
Es ist viel von den tatsächlichen oder vermeintlichenfreundschaftlichen Beziehungen die Rede. Es sind tat-sächlich freundschaftliche Beziehungen. Ich bin erstensfest davon überzeugt, dass der russische Präsident Russ-land zu einer Demokratie entwickeln will und dass erdas aus innerer Überzeugung tut.
– Das können Sie zwar anzweifeln, aber es ist meineÜberzeugung.
– Mit dem Begriff „lupenrein“ ist das so eine Sache. Werist das schon außer Ihnen? Da wäre ich etwas zurückhal-tend.
Er ist nach meiner Auffassung fest davon überzeugt,dass dies die Perspektive für sein Land ist, für ein gewissnicht einfach zu regierendes Land, das im Übrigen– wenn Sie sich die Landkarte vor Augen führen – in denletzten Jahren bzw. im letzten Jahrzehnt nicht unerhebli-che Anstrengungen unternommen hat, etwas für diePartnerschaft mit dem Westen zu tun. Ich denke dabei andie Partnerschaften, die wir in der NATO mit Russlandeingegangen sind und die auch – weil sie richtig waren –akzeptiert worden sind.Zweitens bin ich fest davon überzeugt, dass er und ichdas gemeinsame Ziel haben, das, was im letzten Jahr-hundert geschehen ist, den Blutzoll, der wegen einer ver-kehrten Politik und wegen der Aggression, die vonDeutschland ausgegangen ist, von beiden Völkern gefor-dert wurde, ein für allemal zu beenden und es zu schaf-fen, durch eine so strategisch gemeinte Beziehung dau-erhaft den Frieden zwischen Deutschland und Russlandzu sichern. Das ist meine Vision, von der ich nicht abge-hen und die ich weiter strikt verfolgen werde.
Das heißt doch nicht – das sei nicht nur deshalb ge-sagt, weil Michael Glos es erwartet –, dass man nicht inaller Deutlichkeit kritisieren könnte und müsste, was inder Ukraine passiert ist. Ich habe doch nichts abzustrei-chen von dem, was die OSZE-Beobachter mitgeteilt ha-ben, wonach es zu massiven Wahlfälschungen gekom-men ist. Dass die Europäische Union genauso wie derBundesaußenminister für die Bundesregierung deswe-gen in aller Deutlichkeit reagiert hat, kann ich gern un-terstreichen. Das hat er auch in meinem Namen getan.Damit habe ich nicht das geringste Problem.
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Bundeskanzler Gerhard Schröder
Lassen Sie uns dabei mithelfen, dass die dort ohne un-ser Zutun entstandene Situation – wo die Demokratenstehen, kann ja nicht zweifelhaft sein – nicht außer Kon-trolle gerät. Ich will im Rahmen meiner Möglichkeitengern meinen Beitrag dazu leisten, dass die Situationfriedlich gelöst wird und dass all diejenigen, die daranein Interesse haben, unterstützt werden. Das ist für michgar keine Frage.
Aber bei aller Klarheit in der Kritik an Wahltäuschungenund Wahlmanipulationen haben wir alle ein Interesse da-ran, dass die Situation nicht gewaltsam eskaliert.
Neben der Kritik an den dortigen Vorgängen muss dasjetzt auch ein Teil unserer Aufgabe sein.
Herr Bundeskanzler, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Schäuble?
Bitte schön, natürlich.
Ich frage Sie, ob, in Bezug auf die Ukraine die von
uns gemeinsam für richtig gehaltene Zusammenarbeit
zwischen der Europäischen Union und der Russischen
Föderation sich jetzt nicht darin bewähren könnte, dass
man gemeinsam mit der Russischen Föderation für eine
Achtung der Prinzipien einer demokratischen Wahl
eintritt. Ich glaube, darin besteht eine Chance, die
Ukraine zu stabilisieren und es nicht zu einer neuen
Konfrontation im Ringen um Einflusssphären zwischen
West und Ost kommen zu lassen. Wenn Präsident Putin,
wie Sie sagen, ein überzeugter Demokrat ist, sollte er
von Ihnen gewonnen werden können, für die Einhaltung
demokratischer Grundsätze in der Ukraine einzutreten.
Ich finde, dass die Bemerkungen und die Feststellun-gen, die in Ihrer Frage liegen, erstens richtig sind
und zweitens verfolgt werden müssen und auch verfolgtwerden; dessen können Sie sicher sein. Die Antwort aufdie Frage, ob das zu dem Ergebnis führen wird, das Siewie ich gern hätten, bleibt offen.Sie haben interessanterweise etwas angesprochen,was vielleicht in der außenpolitischen Debatte noch ein-mal zum Ausdruck kommen wird: Es geht hier nicht nurum die Ukraine, sondern auch um Einflusssphären. Ichgehöre zu denjenigen, die immer sagen würden: WennEinfluss dauerhaft sein soll – dass aus realpolitischenGegebenheiten darum gekämpft wird, kann man kaumvermeiden –, kann er nur gegründet werden auf diejeni-gen, die auf dem richtigen Weg sind, nicht auf diejeni-gen, die offenkundig auf dem falschen Weg sind. Da binich ganz bei Ihnen.
Meine Damen und Herren, ich möchte ein paar ab-schließende Bemerkungen zu den europäischen Fragenmachen. Die zentrale Frage ist: Wie gehen wir mit derEU-Verfassung um? Ich bin froh darüber, dass es imGegensatz zu anderen Ländern in diesem Haus, von ge-ringen Ausnahmen abgesehen, über die Notwendigkeit,den Verfassungsprozess auch in Deutschland zu einemguten und schnellen Ende zu bringen, keine unterschied-lichen Meinungen gibt. Ich kenne die Debatten über ple-biszitäre Instrumente. Wir werden über die europäischeVerfassung vermutlich im parlamentarischen Verfahrenhier wie im Bundesrat beraten und beschließen und soll-ten auch so verfahren. Es wäre gut, wenn Deutschlandschon früh im nächsten Jahr sagen könnte: Wir gehörenzu den Ersten, die im Einklang mit unserer Integrations-politik, die von allen getragen wird, die Verfassung ra-tifiziert haben.
Sie haben sich wiederum kritisch zur Erweiterungder EU geäußert, Herr Glos. Ich nehme an – das wärekeine Überraschung –, dass Frau Merkel das auch tunwird. Ich will nur noch einmal klar meine Meinungsagen. Die Türkei braucht eine Perspektive, nicht nurweil wir 40 Jahre gesagt haben, dass wir ihr eine eröff-nen werden, wenn die Kopenhagen-Kriterien erfüllt sind– das ist sicherlich wichtig –, sondern auch weil es umunsere ureigenen Interessen – ökonomische sowie politi-sche – geht. Schauen Sie sich die Lage in der dortigenRegion an! Ich habe über den Iran geredet. Ich hätteauch über den südlichen Kaukasus reden können. Ichmusste über den Irak reden. Niemand von uns weiß,wann der israelisch-palästinensische Konflikt gelöst ist.Es gibt also Schwierigkeiten in dieser Region. Vor die-sem Hintergrund ist es von ungeheuer großer Bedeutungfür die nationalen Interessen Deutschlands, dafür zu sor-gen, dass die Türkei ein prowestlich ausgerichteter Fak-tor der Stabilität wird und bleibt.
Das ist der eigentliche Grund – machen Sie sich keineanderen Hoffnungen –, warum wir im Dezember diesesJahres zusammen mit allen unseren Freunden aus Eu-ropa für die Aufnahme von Verhandlungen mit einerzehn- bis fünfzehnjährigen Perspektive streiten und da-rüber entscheiden werden.Lieber Herr Glos, machen Sie nicht wieder den glei-chen Fehler wie bei der letzten Erweiterungsrunde, als esum die Aufnahme der mittel- und osteuropäischenStaaten ging. Auch damals haben Sie – längs der bayeri-schen Grenzen – vor Wanderungsbewegungen gewarnt.Wir haben dagegen mit vernünftig ausgestalteten
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Bundeskanzler Gerhard SchröderÜbergangsregelungen reagiert. Das war damals so undist problemlos verlaufen und das wird wieder so sein.Machen Sie nicht wieder den gleichen Fehler, die Men-schen mit falschen Informationen und Prognosen auf dieBäume zu treiben.
Ich denke, dass inzwischen jeder weiß, wie wichtigunser Verhältnis zu Frankreich ist und wie bedeutsam esist, dass wir uns eng abstimmen, was gegen niemandengerichtet ist. Häufig kommen noch andere Staaten hinzu,zum Beispiel Spanien und Großbritannien. Das wirdauch angesichts eines Europas der 25 ein richtiges undvernünftiges Konzept sein. Sie sehen doch, dass dieBundesregierung, der Außenminister ebenso wie ich,sensibel mit dem Verhältnis Deutschlands zu Polen um-geht und gelegentlich die Sensibilität – ich füge hinzu:gegen Einzelne aus Ihren Reihen – verteidigen muss,was wir auch tun. Wir würden uns freuen, wenn Sie, dieOpposition als Ganzes und insbesondere ihre Führung,gelegentlich mitmacht.
Ich hatte meine Rede mit dem Hinweis auf das Jah-resgutachten des Sachverständigenrates begonnen.Dort ist die Rede von Erfolgen, die wir nicht nur nachaußen haben, und von Herausforderungen, die wir im In-nern haben. Herausforderungen sind sicherlich vorhan-den und werden auch bestehen bleiben. Aber die rot-grüne Koalition ist die Konstellation – seien Sie sichdessen sicher –, die für die Erfolge nach außen, in der in-ternationalen und insbesondere in der europäischen Poli-tik, verantwortlich ist und die die einzige Kraft ist, diemit den Herausforderungen, die der Sachverständigenratgenannt hat, fertig werden kann. Das ist unsere Gewiss-heit. Das sollte der Kern der Debatte über unseren Haus-halt sein.Vielen Dank.
Ich erteile dem Kollegen Michael Glos das Wort zu
einer Zwischenbemerkung. Bitte sprechen Sie vom Platz
aus.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich habe leider noch nicht das amtliche Proto-
koll. Nach einer Agenturmeldung habe ich in der De-
batte vorhin harte Vorwürfe gebraucht, als es um die Tat-
sache ging, dass der so genannte Fischer/Volmer-Erlass
so viel illegale Zuwanderung in die Europäische Union
nach sich gezogen hat. Dabei ist auch das Wort „Zuhäl-
ter“ gefallen. Es tut mir sehr Leid. Wenn sich dadurch je-
mand beleidigt gefühlt hat,
dann möchte ich mich dafür ausdrücklich entschuldigen.
Es war sicherlich nicht sehr geschickt von mir, dieses
Bild zu wählen.
Danke schön.
Ich erteile nun dem Kollegen Guido Westerwelle,
FDP-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bundes-kanzler, ich möchte gerne mit einigen Vorbemerkungenbeginnen. Ganz am Anfang haben Sie etwas gemacht,was aus unserer Sicht, aus Sicht der Opposition, kaumakzeptabel ist: Sie fordern die Opposition auf, unserLand nicht schlechtzureden. Niemand in der Oppositionredet unser Land schlecht. Wenn jemand die deutscheBundesregierung für ihre schlechte Politik kritisiert,dann wird nicht das Land schlechtgeredet, sondern be-rechtigte Kritik an ihrer Politik geübt.
Sie offenbaren an dieser Stelle ein bemerkenswertesSelbstverständnis. Es erinnert ein wenig an den Absolu-tismus. Ludwig XIV. hat gerufen: „L’état c’est moi.“ Dasbedeutet: Der Staat bin ich. Ich warte darauf, dass Siesich jetzt eine gepuderte Perücke aufsetzen. Herr Bun-deskanzler, Sie werden kritisiert. Wir lieben unser Land– das ist übrigens ein Satz, der keinem Mitglied dieserRegierung über die Lippen gehen würde – und wir wol-len eine bessere Regierung für Deutschland, gerade weiles eine bessere Regierung verdient hat.
Sie haben etwas zur Außenpolitik gesagt, was sehrbemerkenswert ist. Auch darauf will ich eingehen. Siehaben über Russland und die USA gesprochen. Niemandaus den Reihen der Opposition kritisiert, dass der deut-sche Bundeskanzler und die Bundesregierung an einerguten Beziehung zu Moskau arbeiten. Wir kritisieren,dass es aus unserer Sicht eine AchsenbildungParis–Berlin–Moskau gibt, die wir außenpolitisch fürfalsch halten. Wir sagen: Es kann nicht richtig sein, dassdiese Bundesregierung an den Vereinigten Staaten vonAmerika alles kritisiert – davon vieles zu Recht –, aberbeim Thema Menschenrechte gegenüber Moskauschweigt. Diese Einseitigkeit halten wir für falsch.
Auch die Auseinandersetzung in diesem Hause zeigt:Durch die Entwicklungen in den letzten zwei, dreiJahren, aber auch durch manches, was Sie früher vertre-ten haben, steht Ihnen in Wahrheit Moskau politisch-
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Dr. Guido Westerwelleinhaltlich und auch menschlich mittlerweile näher alsWashington. Wir sind der Überzeugung: Wer dieeuropäische Integration befördern will, der darf das trans-atlantische Band nicht durchschneiden. Wir wollen Euro-pa einigen, aber nicht in Gegnerschaft zu, sondern inPartnerschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika.Deswegen sind wir gegen Ihre Achsenbildung.
Der Bundeskanzler folgt jetzt dort hinten dem erstenRedner der Opposition, der auf ihn antwortet. VielenDank, Herr Kollege!
Ihr Verhalten ist bemerkenswert. An dieser Stelle kön-nen wir auch einmal über Stilfragen reden.
Sie machen hier Mätzchen: Der Bundeskanzler hält ineiner Generalaussprache eine Rede. Der erste Redner derOpposition geht ans Pult. Die Reihe lichtet sich. DerVizekanzler geht ein bisschen scharwenzeln. Der Bun-deskanzler setzt sich erst mal gemütlich hinten ins Ple-num. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir mer-ken uns das. Das ist eine Stilfrage. Wir sagen Ihnenschon jetzt zu: Wir werden der scheidenden Regierungdiese Stillosigkeiten gleichwohl nicht mit gleicherMünze zurückzahlen.
Weil Sie sich dahinten jetzt so freuen, Herr Abgeord-neter Schröder, wollen wir einmal über die Dinge reden,die Sie uns hier vorgeworfen haben. Sie haben das Ver-hältnis der Freien Demokraten zu den Apotheken ange-sprochen. So ist das, Herr Abgeordneter Schröder: Dieeinen kümmern sich um die Apotheken und die anderenum die Drogerien.
Herr Bundeskanzler, was Sie jetzt hier machen, ist einbemerkenswerter Vorgang. Es wird eine bleibende Leis-tung von Ihnen sein, dass Sie den First Dog in der deut-schen Politik etabliert haben. Was Béla Anda nicht ge-schafft hat, schafft jetzt Holly. Sehr stark!
Wenn ein Bundeskanzler schon sein Haustier einsetzenmuss, dann ist dessen Regierung wirklich auf den Hundgekommen.
Herr Abgeordneter Schröder, jetzt will ich einmal daswiedergeben, was der Sachverständigenrat gesagt hat,weil es mir besonders viel Freude gemacht hat, dass aus-gerechnet Sie, Herr Kollege Schröder, den Sachverstän-digenrat als Kronzeugen für Ihre Politik angeführt ha-ben. Ich zitiere einmal etwas vom Sachverständigenrat,wozu Sie nichts gesagt haben; interessanterweise habenSie das verschwiegen. Der Sachverständigenrat rät uns:Erstens. Unabhängig davon ist mehr Flexibilität insbe-sondere auf Teilbereichen des Arbeitsmarktes gefordert.Angesprochen werden zweitens die dringliche Rückfüh-rung der Defizite in den öffentlichen Haushalten undSchaffung eines die Wachstums- und Investitionsanreizestärkenden Steuersystems, vor allem drittens eine Re-form der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversi-cherung und der Pflegeversicherung, viertens eine Be-seitigung der erkennbaren Mängel auf allen Ebenen desdeutschen Bildungssystems und fünftens eine teilweiseNeuausrichtung des Aufbaus Ost.Wir hätten vom Bundeskanzler der BundesrepublikDeutschland erwartet, dass er hier nicht im Wesentlichenerklärt: Hartz IV, Agenda 2010 – ich habe meine Arbeitgetan. – Herr Bundeskanzler, Sie wollen sich auf dem,was Sie gemacht haben, ausruhen. Wir hätten von Ihnenerwartet, dass Sie uns sagen, wie Sie die Probleme, dieder Sachverständigenrat zu Recht analysiert hat, lösenwollen. Was sind Ihre Vorstellungen zur Liberalisierungdes Arbeitsmarktes?
Können wir weiter zusehen, dass ein Kündigungsschutz-gesetz in Wahrheit Neueinstellungen verhindert? Was istmit dem komplizierten Steuersystem? Können wir zuse-hen, dass Investitionen deswegen in unsere Nachbarlän-der abwandern? Was ist mit dem Bildungssystem? Ist esakzeptabel, dass wir bei PISA immer schlechtere Notenbekommen? Was ist mit dem Thema „Aufbau Ost“?Nicht ein Satz vom deutschen Bundeskanzler zumThema „Aufbau Ost“!
Schämen Sie sich für eine solche rein westorientierteSicht der Dinge, meine sehr geehrten Damen und Her-ren!
Der Abgeordnete Schröder hat hier nichts anderes alseine Stillstandserklärung abgegeben. Herr Schröder, Siehaben gesagt: Ich habe meine Arbeit getan und jetzt re-den wir in Wahrheit nur noch über den Wahlkampf. Sowar es ja. Sie haben sich mit dem auseinander gesetzt,was die Opposition an Ihnen kritisiert, nicht der Sache,sondern nur der Form nach; manchmal auch zu Recht.Aber das ist, wie wir als Opposition finden, zu wenig.Ihre Politik wird immer schlechter, aber die Ausga-ben für die Werbung Ihrer Regierung werden immerhöher.
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Dr. Guido WesterwelleDas ist ein interessantes Phänomen. Mittlerweile hat dieBundesregierung eine halbe Milliarde Euro nur für Wer-bung ausgegeben; das war mal 1 Milliarde DM.
Der Finanzminister, der angeblich ein Sparminister seinwill, verdoppelt den Etat für Werbung und Öffentlich-keitsarbeit seines eigenen Hauses. Das ist die Lage. Wirhalten das für einen völlig falschen Weg. Wir sind derÜberzeugung, dass Sie sich, wenn Sie eine bessere Poli-tik machen und damit die entsprechenden Wirkungen er-zielen würden, diese Hunderte von Millionen Euro spa-ren könnten, die Sie für Werbung zum Fensterhinauswerfen. In Wahrheit greifen Sie mit Steuergeldernin Wahlkämpfe ein. Diese Art der Auseinandersetzungist aus unserer Sicht falsch. Wer sparen will, darf nichtseinen eigenen Propagandaetat immer weiter aufblähen.Er muss dafür sorgen, dass er gute Ergebnisse erzielt, diefür seine Politik sprechen.
Die Ergebnisse von sechs Jahren und zwei MonatenRot-Grün sind beträchtlich. Das ist wahr; das müssenwir feststellen. Sie sagen, Deutschland sei auf einem gu-ten Weg. Wir können angesichts der Tatsache, dass dieBundesagentur für Arbeit für diesen Winter 5 MillionenArbeitslose voraussagt, nicht erkennen, dass sichDeutschland auf einem guten Weg befindet.
Im September hatte die Arbeitslosigkeit den höchstenStand seit der deutschen Einheit erreicht. Wir erleben diegrößte Pleitewelle seit Gründung der BundesrepublikDeutschland. Mit Ihren gestrigen Beschlüssen ist dieStaatsverschuldung auf den höchsten Stand seit Grün-dung der Republik gestiegen. Wer in Anbetracht von sol-chen Zahlen allen Ernstes glaubt, seine Politik sei rich-tig, der leidet unter Realitätsverlust.
Sie haben abgewirtschaftet. Sie verletzen in Wahrheitauch die wirtschaftliche und politische AutoritätDeutschlands in Europa und in der Welt. Die internatio-nale Stärke Deutschlands hängt ganz entscheidend da-von ab, dass wir wirtschaftlich stark sind. Sie habenüberall Rekordergebnisse vorzuweisen – bei Arbeitslo-sigkeit, bei Schulden, bei Pleiten; die Stimmung ist aufdem Tiefpunkt. Das ist deswegen so bedenklich, weilman sich wirklich Sorgen machen muss, wenn eine Bun-desregierung angesichts dessen meint, es sei schon ge-nug getan, eigentlich könne man jetzt mit Reformierenaufhören. Sie haben hier eine Rede des Stillstandes ge-halten.
Herr Kollege Westerwelle, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage des Abgeordneten Eichel?
Aber selbstverständlich. Ich freue mich, dass der Ab-
geordnete Eichel eine Zwischenfrage stellt. Das beweist
zumindest, dass der Abgeordnete Eichel anders als an-
dere
noch peripher dieser Diskussion folgt. Das ist ja schon
einmal ein Ergebnis.
Bitte, Herr Abgeordneter Eichel. – Herr Abgeordneter
Schröder, der Abgeordnete Eichel spricht. Jetzt können
Sie wieder zuhören.
Herr Abgeordneter Westerwelle, Sie haben eben be-hauptet, die Mittel für Öffentlichkeitsarbeit seien ge-genüber denen der CDU/CSU-FDP-Regierung um einVielfaches gestiegen. Der Iststand der Ausgaben der Re-gierung des Jahres 1998 – ich rechne nicht die Ausgabendes Bundespräsidenten, des Bundestages, des Bundesra-tes, des Bundesverfassungsgerichtes und des Bundes-rechnungshofes ein – betrug 85,726 Milliarden Euro, dasSoll des Jahres 2004 beträgt 86,774 Milliarden Euro.
– Schön, es sind Millionen. Damit haben Sie Recht. Dasändert aber gar nichts.
Auch bei Ihnen hatte ich ja versehentlich Milliarden ge-sagt. Am Verhältnis ändert das ja nichts.Im Haushalt 2005 sind 90,194 Millionen Euro vorge-sehen. In meinem Haushalt sinkt der Etat dieses Jahr imVergleich zum vorigen Jahr. Das hat damit zu tun – daswird in diesem und im nächsten Jahr noch eine großeRolle spielen –,
dass wir unsere Maßnahmen zur Bekämpfung vonSchwarzarbeit verdeutlichen müssen.
Ich frage Sie: Werden diese Zahlen von Ihnen bestritten,Herr Abgeordneter Westerwelle?Zweite Frage. Sie haben behauptet, wir seien für diegrößte Verschuldung verantwortlich.
Im Jahre 1996 hat der Bundeshaushalt knapp 40 Milliar-den Euro neue Schulden gemacht; das waren 2,2 Prozentdes Bruttoinlandsproduktes. Wenn der Bundeshaushalt,
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Hans Eichelwie in diesem Jahr mit dem Nachtragshaushalt vorgese-hen, 43,5 Milliarden Euro Schulden machen sollte, sinddas 2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Damit genü-gen wir dem Maastricht-Kriterium, das Sie immer sohochhalten, im Übrigen zu Recht. Frage also: Ist es rich-tig, dass im Jahre 1996 nach volkswirtschaftlicher Be-trachtung die Verschuldung des Bundes höher war als imJahre 2004?
Herr Abgeordneter Eichel, ich danke Ihnen außeror-
dentlich für diese erhellenden Zahlen, die Sie wiederge-
geben haben, weil sie all das bestätigen, was ich gesagt
habe.
Ich fange einmal mit dem letzten Punkt an, den Sie
genannt haben, den 43,5 Milliarden Euro Neuverschul-
dung. Entschuldigen Sie bitte, aber als Finanzminister
haben Sie genau diese 43,5 Milliarden Euro erstens nicht
vorhergesehen und zweitens niemals eingeplant. Deswe-
gen hat dieses Haus gestern mit der Mehrheit von SPD
und Grünen jeden Bürger, der uns jetzt zusieht, jedes
Kind, jeden Greis, jeden, der in Deutschland lebt, um
530 Euro mehr verschuldet. Dafür sind Sie persönlich
verantwortlich. Diese Zahlen können Sie erstens nicht
bestreiten
und zweitens sprechen sie gegen Ihre Politik.
Was ist denn von Ihrer Nachhaltigkeit beim Thema
Staatsfinanzen übrig geblieben? Sie vergewaltigen die
Zukunftschancen der jungen Generation. Das ist unan-
ständig und wir als Opposition kritisieren das.
Zu der ersten Frage, die Sie gestellt haben. Das ist
eine ganz bemerkenswerte Sache. Erstens haben die
Zahlen, die Sie genannt haben, bestätigt, was ich gesagt
habe. Zweitens wollen wir einmal über das reden, was
Sie in diese Zahlen in Wahrheit gar nicht mehr hinein-
rechnen. Das Spannende ist ja – das können unsere Bür-
gerinnen und Bürger nicht so genau nachvollziehen, weil
das von Ihnen immer sehr schön verschleiert wird – –
– Ich bin mit meiner Antwort noch nicht fertig. Ich darf
Sie bitten, stehen zu bleiben.
Herr Präsident, es war eine lange Frage; es waren
zwei Fragen. Ich möchte darauf anständig antworten.
– Jetzt geht es wieder.
Herr Kollege Eichel, ich will Ihnen auch auf Ihre erste
Frage antworten. Sie haben eine Frage zum Thema
Öffentlichkeitsarbeit gestellt und die entsprechenden
Zahlen vorgetragen.
Deswegen wollen wir einmal über das reden, was Sie in
Wahrheit überhaupt nicht mehr einbeziehen.
Sie verstecken in Wahrheit wesentliche Ausgaben für
Öffentlichkeitsarbeit, die Sie in die Zahlen nicht hinein-
rechnen, die wir als Opposition aber selbstverständlich
hineinrechnen.
Wir sehen das am Beispiel unserer Kollegin Künast, der
Bundesministerin. Sie gibt 1,5 Millionen Euro für „nach-
haltiges Waschen“ aus. 20 Millionen Euro werden in an-
deren Titeln in diesem Haushalt versteckt. Es hat über-
haupt nichts mit ökologischem Landbau zu tun, wenn
Broschüren gedruckt werden. Das ist Öffentlichkeitsar-
beit und von uns selbstverständlich in diese Position hin-
eingerechnet worden, meine sehr geehrten Damen und
Herren.
Vielen Dank, Herr Kollege Eichel, für Ihre Fragen an
dieser Stelle. Es ist PR, aber nicht substanzielle Politik,
was Sie hier machen.
Herr Kollege Westerwelle, der Kollege Eichel möchte
noch einmal fragen und Ihnen die Chance geben, noch
einmal zu antworten.
Ich bin Ihnen außerordentlich dankbar dafür. Wenn
Ihre dritte Frage so ist wie die beiden ersten, herzlich
gerne!
Herr Kollege Westerwelle, ich hatte eine ganz einfa-che Frage gestellt: Sind 2,2 Prozent Verschuldung, ge-messen am Bruttoinlandsprodukt, mehr als 2,0 Prozent?Ich habe auf die Frage keine Antwort bekommen. Viel-leicht bekomme ich jetzt eine.
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Ich würde darauf philosophisch antworten: Drei istmehr als zwei.
Das sind doch, mit Verlaub gesagt, Albernheiten. Es hatniemals einen Finanzminister gegeben, der in einem Jahrso viel neue Schulden machen musste wie Sie. Dass Siehier vor lauter Verzweiflung auch noch versuchen, IhreBilanzen schönzurechnen, ist in meinen Augen und ver-mutlich auch in den Augen der Öffentlichkeit eine Gro-teske, eine Peinlichkeit. Sie sind kein Sparminister. Siesind der größte Schuldenmacher, den Deutschland je-mals gesehen hat. Das ist Ihre Rolle in diesem Hause.
Ich möchte an dieser Stelle ganz konkret sagen, wasaus unserer Sicht noch zu tun ist
und was vor allen Dingen in den nächsten beiden Jahrengetan werden sollte.Erstens. Die Bundesregierung sagt, sie habe keinenweiteren Spielraum für eine Steuerreform. Das haltenwir für falsch. Wir sagen: Steuersenkungs- und Steuer-vereinfachungspolitik sind das beste Beschäftigungspro-gramm. Es kann nur Steuern zahlen, wer Arbeit hat.Deswegen müssen wir mithilfe eines einfacheren, niedri-geren und gerechteren Steuersystems, das internationa-len Vergleichen standhält, Investitionen nach Deutsch-land holen und Arbeitsplätze schaffen. Nur so könnendie Staatsfinanzen wieder gesunden.
Dazu liegt diesem Hause ein Gesetzentwurf der Fraktionder Freien Demokratischen Partei vor.Wir haben auch ganz konkret gesagt, wo gespart wer-den sollte. Sie können nicht behaupten, dass die Opposi-tion in der Deckung bliebe und keine Vorschläge machenwürde. In dem Buch, das ich mitgebracht habe, sind aufüber 400 Seiten mehr als 400 Anträge der Fraktion derFreien Demokratischen Partei in diesem Hause abge-druckt. Sie sind der Beweis, dass wir konkrete Einspar-vorschläge, die ein Volumen von 12,5 Milliarden Eurohaben, gemacht haben. Wenn Sie von den Regierungs-fraktionen allerdings jeden dieser Anträge, die großenwie die kleinen, aus reiner Parteipolitik ablehnen, danndienen Sie nicht, sondern dann schaden Sie Deutschland.Wer Sparanträge der Opposition in so großer Anzahlablehnt, der kann nicht verlangen, dass die Oppositionmit weiteren Sparanträgen in diesem Hause aufwartet.Wir haben gesagt, wo gespart werden soll. Wir kommenaus der Deckung heraus. Das ist übrigens der Unter-schied zu Ihrer Oppositionszeit.
Wir erinnern uns noch sehr genau daran, wie Schröder,Lafontaine und Eichel als Ministerpräsidenten alles ver-hindert haben, was Deutschland hätte nützen können.
Zweitens. Wir sind der Überzeugung, dass die Lohn-zusatzkosten von über 40 Prozent im internationalenWettbewerb wie eine gigantische Sondersteuer auf Ar-beitsplätze wirken. Deswegen haben wir nicht unver-bindliche, sondern konkrete Vorschläge gemacht, wiedas Gesundheitssystem reformiert werden kann. Wirsind der Überzeugung, dass die Gesundheitskosten vonden Arbeitskosten abgekoppelt werden müssen, damitdieser Wachstumsmarkt nicht Arbeitslosigkeit aufgrundhöherer Lohnzusatzkosten produziert, sondern neue Ar-beitsplätze schafft. Von uns wurde in diesem Hause einpräzises Konzept vorgelegt.Drittens. Die Probleme bei der Pflegeversicherungsind bekannt, aber sie werden verschwiegen. Wir wissen,dass im Jahre 2006, also ungefähr zehn Jahre nach Ein-führung der Pflegeversicherung, die vorgeschriebenengesetzlichen Reserven unterschritten werden. Deshalbwerben wir dafür, dass die Finanzierung der Pflegever-sicherung – das geht bei ihr leichter als bei der Renten-und Krankenversicherung, weil sie erst zehn Jahre exis-tiert – auf ein Kapitaldeckungsverfahren umgestelltwird. Von uns wurde in diesem Hause ein entsprechen-der Vorschlag eingebracht. Wir alle wissen, dass es sokommen wird.
Viertens. Die Sanierung der Staatsfinanzen ist not-wendig. Dazu haben wir für diesen Haushalt konkreteÄnderungsanträge eingebracht. Wir haben darüber hi-naus in diesem Hause Anträge eingebracht, die aufzei-gen, wie man Subventionen abbauen kann. Herr Bundes-kanzler, wenn Sie beispielsweise über die Abschaffungder Eigenheimzulage sprechen, dann wollen Sie inWahrheit nicht Subventionen kürzen, sondern Steuernerhöhen. Denn wer steuerliche Vergünstigungen streicht,ohne gleichzeitig auf eine Entlastung der Bürgerinnenund Bürger durch niedrigere Steuersätze hinzuwirken,der erhöht die Steuern, senkt sie aber nicht. Aber höhereSteuern sind Gift für die Volkswirtschaft. Wir machendas nicht mit. Auch wenn Sie das dann als Subventions-kürzung verkleistern, bleibt es eine Steuererhöhungs-politik, der wir uns entgegenstellen.
Fünftens. Reformen auf dem Arbeitsmarkt anzuge-hen ist mehr als notwendig. Dazu zählt auch eine Aus-einandersetzung mit dem Tarifrecht und der betrieb-lichen Mitbestimmung. Dazu kam von Ihnen kein Ton,obwohl die Sachverständigen, die Sie selber zitieren, Ih-nen ausdrücklich Änderungen in diesem Bereich mit aufden Weg geben.
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Dr. Guido WesterwelleWir sind der Überzeugung: Wir brauchen mehr Be-triebsnähe bei den Vereinbarungen und weniger Funktio-närsherrschaft. Auch dazu haben wir Anträge im Deut-schen Bundestag eingebracht. Wenn sich 75 Prozenteiner Belegschaft in geheimer Abstimmung mit der Un-ternehmensführung auf etwas verständigen wollen, dannsoll das gelten dürfen, ohne dass ein Gewerkschaftsfunk-tionär ein Veto einlegen kann.
Sechstens, Bildung und Ausbildung. Wir habennicht nur vorgemacht, wie man den Bereichen Bildungund Ausbildung mehr Geld zur Verfügung stellen kann.Wir haben auch neue Strukturen empfohlen: von der Ab-schaffung der Kultusministerkonferenz bis hin zu Ange-legenheiten, welche die Bundesregierung selber etwasangehen. Dass Sie der Überzeugung sind, man müsse al-len Ländern und allen Hochschulen die Einführung vonStudiengebühren zur Finanzierung besserer Studienbe-dingungen verbieten, zeigt doch, dass Sie sich in Wahr-heit noch nicht einmal ansatzweise den Strukturverände-rungen genähert haben. Anfang dieses Jahres haben Siegesagt, das Jahr 2004 müsse das Jahr der Eliteuniversitä-ten werden, gleichzeitig wehren Sie sich aber dagegen,dass Universitäten, die es wollen, Studiengebühren ein-führen können, um vor Ort für bessere Studienbedingun-gen zu sorgen. Das ist von gestern; das ist Ihre Politik,Herr Bundeskanzler.
Siebtens, Forschung und Wissenschaft. Darüber re-den Sie gar nicht mehr. Sie reden nicht einmal mehr da-rüber, wo noch Arbeitsplätze entstehen könnten. Wirhalten es für einen großen Fehler, dass die Mehrheit die-ses Hauses und die Bundesregierung die Bio- und Gen-technologie außer Landes schicken. Wir sind der Über-zeugung: Schlüsseltechnologien mit neuen und gutendeutschen Patenten sollten auch bei uns im Inland eineChance haben, und zwar aus ethischen und moralischenGründen, um Krankheiten zu bekämpfen, aber auch ausökonomischen Gründen, damit hier die Arbeitsplätze derZukunft entstehen und nicht im Ausland.
Achtens. Das Thema Bürokratie wird von Ihnennicht einmal mehr angesprochen. Wir haben vorgelegt,wie man, gerade damit neue Arbeitsplätze im Mittel-stand entstehen können, Bürokratie abbaut. Nichts davonkommt mehr in Ihren Reden vor, weil Sie es aufgegebenhaben.Das entscheidende Problem ist: Sie verwalten sichselber. Sie sind der Überzeugung, Sie könnten nur mitein bisschen PR und Show den Wahlkampf einläuten.Substanzielle Politik haben Sie heute nicht geboten. Daswar eine Rede des Stillstandes und das ist das Letzte,was dieses Land in Anbetracht einer Massenarbeitslosig-keit braucht. Wir wollen einen Politikwechsel; der ist fürDeutschland fällig. Weil er mit Ihnen nicht hinzubekom-men ist, muss Rot-Grün weg.
Für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen erhält
nun die Kollegin Krista Sager das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol-lege Westerwelle, ich finde es schon merkwürdig, dassSie nach Ihrem Schuhsohlenwahlkampf und IhrenGuidomobilauftritten hier vor allem über Mätzchen re-den müssen.
Ich glaube, dazu sind Sie hier der falsche Kandidat.
Warum Sie sich an unserer Regierung stören, ist mirklar. Im Gegensatz zur CDU/CSU weiß man bei Ihnenwenigstens, was Sie vorhaben: Sie wollen den Kündi-gungsschutz und die Tarifautonomie schleifen.
Sie wollen die Mitbestimmung abschaffen. Sie wollenflächendeckend Subotnik, kostenlose Mehrarbeit der Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer, einführen. Dannwollen Sie noch die solidarische Absicherung derLebensrisiken abschaffen und stattdessen die Lebensrisi-ken privatisieren. Da sage ich Ihnen ganz klar: Das wol-len wir nicht. Und weil das auch nicht im Interesse derBürgerinnen und Bürger ist, wird Rot-Grün weiter regie-ren.
Auch das, was Sie über Ihre Steuerpolitik gesagt ha-ben,
liegt letztendlich auf der gleichen Linie. Wir haben inDeutschland mit 20,3 Prozent eine radikal niedrige Steu-erquote; das ist europaweit wirklich am unteren Ende.Auch das ist ein Verdienst dieser Regierung, die dafürgesorgt hat, dass gerade für die Bezieher niedriger Ein-kommen die Steuersätze gesenkt worden sind und derGrundfreibetrag erhöht worden ist. Wenn Sie jetzt ver-langen: „Noch weiter herunter mit den Steuern“, dannlässt sich das nicht damit vereinbaren, hier eine vernünf-tige, seriöse Haushaltspolitik einzufordern. Beides zu-sammen geht nicht.Was ferner nicht zusammen passt, ist, auf der einenSeite die Ruinierung der Staatsfinanzen durch eine unse-riöse Steuerpolitik immer weiter voranzutreiben und aufder anderen Seite zu fordern, dass in diesem Land mehrfür die Bildung getan werden soll. Auch das geht nichtzusammen.
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Krista Sager
Was ist denn unser Problem bei der Bildung? Die Ergeb-nisse der PISA-Studie haben das bestätigt und die neuePISA-Studie wird das erneut bestätigen: Wir haben einSchulsystem, das Menschen aus sozial schwächeren Fa-milien im Vergleich zu anderen Industrienationen dieschlechtesten Bildungschancen gibt. Das ist ein unge-heurer Skandal und das kann so nicht bleiben.
Die Ursache liegt darin, dass wir an einem Schulsystemfesthalten, mit dem wir inzwischen weltweit isoliertsind. Deswegen kann unser Schulsystem auch kaumnoch mit einem anderen Schulsystem auf der Welt ver-glichen werden. Unser System einer dreigliedrigen Se-lektion, bei dem ein Lehrer darüber entscheidet, ob derDaumen für ein zehn Jahre altes Kind gesenkt oder ge-hoben wird, ist gescheitert. Dieses Schulsystem hat ver-sagt, es taugt nicht für eine Gesellschaft, die vor großenIntegrationsherausforderungen, aber auch vor einemgroßen demographischen Wandel steht.
Herr Westerwelle, die einzige Antwort, die Sie aufdiese Frage gegeben haben, bestand in einem Vorschlagzur weiteren Privatisierung der Bildungskosten. Daskann im Ernst nicht die Antwort auf die Herausforderun-gen sein, vor denen wir im Bildungssystem stehen.
Herr Glos, jetzt ein Wort zu Ihnen. Ihre Rede war janun wirklich ein Beispiel dafür, dass der Werte- undLeistungsverfall inzwischen im konservativen Lager an-gekommen ist.
Das war wirklich ein Griff in die Mottenkiste der Res-sentiments, der Zerrbilder, der Peinlichkeiten, der per-sönlichen Beleidigungen.
Ich frage mich manchmal, wenn Sie hier Ihre Kalauerüber strickende Grüne und leistungsunwillige 68er brin-gen,
ob Sie gar nicht mehr hören, wie die Bartwickelma-schine vor Überforderung schon zu knirschen beginnt.
Aber an der Stelle, wo es eigentlich darum hätte ge-hen sollen, eigene Alternativen vorzustellen, haben Siesich ins Wolkige verloren oder geflüchtet. Ich habe er-wartet, dass Sie den Versuch machen, uns Ihr Gesund-heitsmodell zu erklären.
Aber das können Sie wahrscheinlich gar nicht erklären.Davon habe ich in Ihrer Rede nichts gehört.
Stattdessen hören wir etwas über die Werte unserer Ge-sellschaft. Hoch interessant wurde es allerdings, als Sie,Herr Glos, sich auf Ihrer Kalauerstrecke zu dem Themaerneuerbare Energien vorgearbeitet hatten: Da wurdeIhr Kollege Ramsauer blass und blässer.
Er hat natürlich Angst gehabt, dass Sie ihm sozusagendie Wassermühle abstellen wollen.
Herr Glos, ich kann Ihnen eines verraten – das gilt be-sonders für den Fall, dass Sie demnächst einmal wiederWahlkampf in Bayern machen müssen –: ZahlreicheBauern, von Schleswig-Holstein bis Bayern, setzen in-zwischen auf erneuerbare Energien, und zwar zu Recht,weil sie Entwicklungschancen für die ländlichen Räume,gerade auch in Ostdeutschland, bieten. Das haben Sieverschlafen, das muss man leider sagen.
Falls Sie ein bisschen Nachhilfeunterricht brauchen:
Ihr Ministerpräsident, Herr Stoiber, hatte neulich Besuchvon einer chinesischen Delegation. Was hat Herr Stoiberdem chinesischen Ministerpräsidenten mit seiner Dele-gation vorgeführt? Bayerische Biogasanlagen, die vonder Bundesregierung großzügig gefördert wurden. HerrGlos, peinlich für Sie, dass Herr Stoiber diese für Fort-schritt hält, während es für Sie offenbar eine Wollso-ckennummer ist!
Es wäre interessant, einmal die Alternativen der Op-position zu hören. Davon haben wir nämlich bisher nochnichts gehört. Es wäre aber gerade deshalb interessant,weil bei Ihnen in dieser Woche vieles in Bewegung gera-ten ist. Die Lage bei den Fraktionsvorsitzenden ist bei
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Krista SagerIhnen inzwischen unübersichtlicher als bei uns. Siezeichnet sich bei uns durch hohe Kontinuität aus, wäh-rend bei Ihnen ein Stafettenlauf stattfindet.Diese Woche ist die Woche der Abschiedsreden in derUnion. Ich sehe schon, dass Herr Schäuble und HerrMerz auf der Dissidentenbank ein bisschen zusammen-rücken müssen, damit auch Herr Seehofer dort nochPlatz findet. Ich muss leider zugeben, dass ich im letztenJahr einen Fehler gemacht habe, den ich jetzt korrigierenmuss. Ich hatte Herrn Seehofer ein freundliches Angebotgemacht, weil wir Grüne viele Erfahrungen mit querköp-figen Herren haben, und zwar nicht nur mit den älteren,sondern auch mit denen im besten Alter. Mein Angebotwar ein echter Fehler, weil Herr Seehofer seinen wirk-lich hohen Unterhaltungswert in der Union im letztenJahr besser zur Geltung bringen konnte, als das bei unsmöglich gewesen wäre. Ich denke, das wird auch so blei-ben; denn er hat versprochen, kein Blatt vor den Mundzu nehmen. Wir sind voller Hoffnung, wir betrachten dasnicht als Drohung, sondern als Versprechen.
Ihrer Fraktionsvorsitzenden möchte ich sagen: DieLebenserfahrung zeigt, dass es nicht immer ein Unglückist, wenn einem ein Mann davonläuft.
Wenn es allerdings in sehr kurzer Zeit zwei Männer sind,sollte einem das vielleicht ein bisschen zu denken geben.Da ich nicht nur eine lebenserfahrene Frau bin, sondernauch Mitglied eines berühmten Fußballvereins, kann ichnoch einen weiteren Rat geben: Wenn die Leistungsträ-ger einer Mannschaft anfangen, gegen den Trainer zuspielen, und nur noch Dienst nach Vorschrift machen,dann muss am Ende meist der Trainer gehen, FrauMerkel. Das sollten Sie sich vielleicht merken.
Herr Merz und Herr Seehofer wollten meist in völligunterschiedliche Richtungen, das war erkennbar. Manhatte den Eindruck, sie würden sich am liebsten gegen-seitig ins Steuerrad greifen. Eines konnte man ihnen abernicht absprechen: Sie wussten jeder für sich wenigstens,wohin sie wollten. Nachdem sie sich nun zurückgezogenhaben, fragt man sich natürlich, wohin geht es eigentlichmit der Unionsfregatte. Sie dümpelt erkennbar im trübenFahrwasser der Orientierungslosigkeit und des konzepti-onellen Niemandslandes.Ihre Gesundheitsreform steht geradezu für das, wasSie als Union im Moment programmatisch verkörpern.Die „Süddeutsche Zeitung“ hat es auf den Begriff „we-der Fisch noch Fleisch“ gebracht. Eine Zeit lang hatteich die Befürchtung, Sie würden uns am Ende IhrerSuche zwischen Fisch und Fleisch einen Hering mit Ka-ninchenohren servieren.
Das Resultat des Zusammenwirkens von Frau Merkelund Herrn Stoiber habe ich in der Tat noch unterschätzt.Es ist schon ein ausgewachsener bayerischer Wolpertin-ger, den Sie uns präsentiert haben,
in dem sich bekanntlich acht verschiedene Tierarten ver-einen.
– Ich sprach von dem berühmten bayerischen Wolpi.Den kennen vielleicht auch Sie. In ihm stecken acht ver-schiedene Tierarten.So verhält es sich auch mit Ihrem Gesundheitsmodell.Auf der einen Seite sagen Sie Ja zu Steuererhöhungen,zur Pauschale und zu prozentualen Arbeitgeberbeiträ-gen. Auf der anderen Seite machen Sie die sozial Schwä-cheren zu Bittstellern. Dieses Modell ist unterfinanziertund nicht seriös gegengerechnet. Den Solidarausgleichfür Kinder sollen auch die Privatversicherten bekom-men. Es ist vollkommen richtig, wenn Herr Seehofersagt, dass dieses Modell eine Totgeburt ist und dass da-raus niemals etwas werden wird.Eines ist auch klar: Dass die Bürgerversicherungdas Modell von Rot-Grün ist,
liegt nicht nur daran, dass sie einen besseren Namen hat,sondern auch daran, dass sie vom Prinzip her einfachund gerecht ist.
Wir können den Bürgerinnen und Bürgern versichern:Wir werden die sozialen Sicherungssysteme im Bereichder Krankenversicherung, die für 90 Prozent der Bevöl-kerung Sicherheit gewährleisten,
nicht zerschlagen, sondern sie auf eine breitere und ge-rechtere Grundlage stellen,
und zwar dadurch, dass wir alle Bürgerinnen und Bürgereinbeziehen.
Sie wollen das auf keinen Fall tun, obwohl das sogarvom Sachverständigenrat empfohlen wurde. Wir werdenallerdings keine Pauschale einführen; denn wir wollennicht, dass Millionen Menschen in unserem Land zu
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Krista SagerBittstellern werden. Wir werden die Einkunftsarten ge-rechter einbeziehen
und nicht nur die Arbeitnehmereinkommen belasten.Dieses System ist einfach, klar und gerecht.
Das ist das Gegenteil von dem, was Sie auf den Weg ge-bracht haben. Aus dem, was Sie wollen, wird nichts. Dasist ein hoffnungsloses Kuddelmuddel.
Meine Damen und Herren, es gibt keinen Grund, diederzeitige wirtschaftliche Situation schlecht zu reden.Im Moment stehen wir allerdings noch am Anfang derkonjunkturellen Erholung.
Der Sachverständigenrat hat gesagt, dass wir mit unse-ren Arbeitsmarkt- und Sozialreformen auf dem richtigenWeg sind. Wir wissen, dass sich die Wirkungen dieserReformen erst mittel- und langfristig zeigen werden.Ebenso wissen wir, dass die Reaktion vieler Menschenauf diese Reformen Verunsicherung war. Auch das istein Grund für die schwache Binnennachfrage. Daherdarf man die Menschen jetzt nicht weiter verunsichern.Ich fand es schäbig, wie Sie von der Opposition dieDiskussion über den 3. Oktober ausgenutzt haben: Indieser Debatte haben Sie so getan, als gehe es mitDeutschland so sehr bergab, dass nur noch flächende-ckendes Subotnik helfen könne. Dabei übertreffen Siesich ununterbrochen selbst: Herr Stoiber will flächende-ckend die 40-Stunden-Woche, Herr Merz die 42-Stun-den-Woche einführen. Letztes Jahr ist von Ihrem desi-gnierten stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden sogardie 48-Stunden-Woche ins Gespräch gebracht worden.Das kann nicht der Weg sein, den wir gehen müssen, da-mit Deutschland wettbewerbsfähig bleibt bzw. wird. Wirmüssen auf Qualität, Produktivität, Innovation und Bil-dung setzen. Für die Bildung müssen wir den Weg frei-machen.Nun komme ich zum Haushalt.
Natürlich ist die Haushaltslage schwierig. Aber derSachverständigenrat hat der Bundesregierung bestätigt,dass wir eine restriktive Haushaltspolitik betreiben.Gestern ist Ihnen deutlich gemacht worden, dass es sichbei Ihren Einsparvorschlägen im Wesentlichen um Luft-nummern und falsche Veranschlagungen handelt, dienicht seriös sind. An den Stellen, an denen Ihre Vor-schläge überhaupt belastbar sind, führen sie zu weiterenEinschränkungen: im Verteidigungsbereich in einer Grö-ßenordnung von 700 Millionen Euro und bei der innerenSicherheit in Höhe von 260 Millionen Euro. Sie trauensich nicht einmal, öffentlich laut zu sagen, welche Kon-sequenzen die Umsetzung Ihrer Sparvorschläge hätte.Jetzt müssen wir unsere restriktive Haushaltspolitikmit der konjunkturellen Entwicklung abstimmen, um zueiner weiteren Belebung der Wirtschaft beizutragen.Ebenso müssen wir beim Subventionsabbau vorankom-men. Hier haben wir durch Ihre Blockade im Bundesrateine Lücke in der Größenordnung von über 17 Milliar-den Euro; das wären über 9 Milliarden Euro für die Län-der und über 4 Milliarden Euro für die Kommunen. DassSie hier im Bundesrat über Ihre Unionsländer blockie-ren, ist nicht verantwortlich gegenüber den Bürgerinnenund Bürgern. Sie fahren in Ihren Bundesländern harteSparprogramme, gerade auch in der Bildungspolitik undin der Hochschulpolitik. Etliche Ihrer Bundesländer sindnicht mehr in der Lage, einen verfassungskonformenHaushalt aufzustellen – allen voran Hessen, aber auchdas Saarland und Niedersachsen haben ihre Probleme.Gleichzeitig blockieren Sie, dass wir endlich an dieEigenheimzulage herangehen. Ich weiß, Sie könnendieses Wort nicht mehr hören,
aber wir werden es Ihnen immer wieder vorhalten, undzwar so lange, bis Sie mit uns allein schon deshalb an dieEigenheimzulage herangehen, weil Sie das Wort nichtmehr hören können. Wir müssen in diesem Land wirk-lich Prioritäten setzen: für die Kinderbetreuung, für dieBildung, für die Forschung, für die Entwicklung. Daskönnen wir nicht schaffen, wenn wir uns weiter anDinge klammern, die einfach nicht mehr in die Zeit pas-sen.
– Ja, Herr Gerhardt, wir fahren die Steinkohleförderungherunter: von einem Fördervolumen von 28 Millionen Ton-nen auf 16 Millionen Tonnen; wir Grünen wären da si-cher noch ein bisschen ehrgeiziger. Aber eines solltenSie den Leuten ganz offen sagen: Die Vorschläge, die Siein den Haushaltsrunden gemacht haben, würden unmit-telbar, jetzt und heute, zu Massenentlassungen im Ruhr-gebiet führen. Das verschweigen Sie.
Meine Damen und Herren, wir haben in den letztenTagen eine aus meiner Sicht von falschen Tönen ge-prägte Debatte über Fragen der Integration und über Fra-gen der Haltung gegenüber unseren islamischen Mitbür-gern gehabt. Meine Fraktion – ich sage das gerne nocheinmal ganz deutlich, falls es irgendwelche Zweifelgibt – hat ganz klar gemacht, dass wir den Vorschlag, inDeutschland einen muslimischen Feiertag einzufüh-ren, für falsch halten.
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Krista SagerDamit ist der falsche Eindruck erweckt worden, hiersolle eine Mehrheit dazu gebracht werden, sich einerMinderheit anzupassen. Darum kann es nicht gehen.Ich will aber auch etwas anderes ganz deutlich sagen:Ich glaube, dass es richtig ist und dem Zusammenlebenin diesem Land dient, wenn sich Kinder in der Schulezum Beispiel damit auseinander setzen, wie in der einenFamilie Weihnachten und in der anderen Familie dasBairamfest gefeiert wird. Denn die Hintergründe vielerTraditionen, die wir selber pflegen, sind vielen Kindernsicher nicht bekannt. Ich bin auch dafür, dass Unterneh-mer und Arbeitgeber großzügig sind, wenn es darumgeht, zu solchen Festen Urlaubstage zu genehmigen.Ich will den Blick auf die Art und Weise, wie aufdiese Debatte und die furchtbaren Ereignisse in den Nie-derlanden reagiert worden ist, lenken: Das waren ent-schieden zu schrille Töne, das war falsch und teilweisegefährlich. Da müssen wir, verdammt noch mal, aufpas-sen.
In den Niederlanden gab es einen furchtbaren, grau-samen Mord an einem Journalisten. Es gab aber auchÜbergriffe auf Moscheen und Gewalttaten an islami-schen Bürgern. Beide Seiten gehören zum ganzen Bild.Wir müssen uns darüber im Klaren sein: Wir tragen eineriesengroße gemeinsame Verantwortung. Wenn ich von„gemeinsamer Verantwortung“ spreche, dann meine ichdamit die Muslime, dann meine ich die Christen, dannmeine ich die Nichtchristen, dann meine ich dieDeutschstämmigen, dann meine ich die Migranten. Des-halb sollten wir miteinander und übereinander so spre-chen, dass nicht die gewaltbereiten Ränder – bei denDeutschen: Rassisten und Faschisten; auf der anderenSeite: religiöse Fundamentalisten – am Ende das Gefühlhaben, sie würden von gewichtigen Teilen dieser Gesell-schaft in irgendeiner Weise mit Sympathie betrachtetoder auch nur geduldet. Das heißt nicht, Probleme aus-zugrenzen; das heißt nicht, Auseinandersetzungen nichtzu führen. So etwas darf wirklich nicht passieren. In denletzten Tagen ist das zum Teil sträflich missachtet wor-den.
Wir dürfen uns nicht in eine Weltreligionskriegshys-terie hineintreiben lassen. Seit dem 11. September gibtes zweifelsohne eine veränderte Sicherheitslage in derWelt. Freie und offene Gesellschaften müssen sich demstellen und beweisen, dass sie in der Lage sind, sich die-ser neuen asymmetrischen Gefahren zu erwehren – auchmit Mitteln der Polizei, des Verfassungsschutzes, derGerichte, der Ermittlungsinstanzen und mit repressivenMaßnahmen.Die Gefährdung der freien und offenen Gesellschaf-ten hat aber auch eine andere Seite. Der Angriff des in-ternationalen Terrorismus auf die offenen und freien Ge-sellschaften ist eben auch ein Angriff auf unsereFreiheitsrechte und auf unsere pluralistischen Gesell-schaften. Wenn wir damit anfangen, das Zusammenle-ben mit Menschen unterschiedlicher Religion, Herkunftund Kultur in unseren pluralistischen Gesellschafteninfrage zu stellen oder infrage stellen zu lassen, dann hatder internationale Terrorismus schon seinen ersten Tri-umph. Darüber müssen wir uns im Klaren sein. Das darfnicht passieren.
Es gibt niemanden, der behauptet, dass das Zusammen-leben von Menschen mit verschiedener Religion, Kulturund Herkunft ohne Konflikte und Probleme verläuft. Esist anstrengend, Fremdheit und Anderssein zu ertragenund sich damit auseinander zu setzen.Frau Merkel, ich hätte Verständnis dafür gehabt,wenn Sie gesagt hätten: Lassen Sie uns offen über dieProbleme reden.
Sie haben aber etwas anderes gesagt. Sie haben gesagt:Diese Form des Zusammenlebens, die multikulturelleGesellschaft, ist gescheitert.
Wer behauptet, dass diese Art des Pluralismus in unsererGesellschaft gescheitert ist, der liefert den Gewalttäterneine Steilvorlage.
– Herr Kauder, Sie können hier gerne kauderwelschen,sogar auf Kosten meines Namens,
aber auch Sie müssen erkennen: Die Auseinanderset-zung mit dem internationalen Terrorismus und mit denGewalttätern erfordert es, dass wir uns gerade machenund für unsere pluralistische Gesellschaft sowie die da-mit verbundenen Freiheitsrechte – dazu gehört auch dieReligionsfreiheit – einsetzen.
Deshalb kann es nicht sein, dass man einen Generalver-dacht gegen diese Menschen aufkommen lässt, nur weilsie den muslimischen Glauben haben. Das ist in diesenTagen nicht beachtet worden.
– Wenn Sie sagen, die multikulturelle Gesellschaft istgescheitert,
dann kapitulieren Sie vor der Gestaltungsaufgabe.
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Krista SagerIntegration muss gestaltet werden. Sie kapitulieren vordieser Aufgabe und deswegen ist es gut, dass Sie in derOpposition sitzen.Lange genug haben Sie vor dieser Gestaltungsauf-gabe den Kopf in den Sand gesteckt. Lange genug habenwir uns in diesem Land von den konservativen Kräftenimmer wieder die Lebenslüge vorhalten lassen müssen,dass wir kein Zuwanderungsland sind. An dieser Le-benslüge wollen Sie jetzt offensichtlich wieder anknüp-fen. Ich sage Ihnen: Das ist hochgefährlich. Sie könnendiese Gesellschaft mit den Menschen, die eine unter-schiedliche Herkunft sowie unterschiedliche Religionenund Kulturen haben, nicht ab- und anstellen, wie es Ih-nen gerade passt. Wir müssen diese Gesellschaft gestal-ten. Sie können hier im Lande die Diskussion nicht soführen, als könnte man von dem Mitbürgerstatus wiederzu einem Gaststatus zurückkehren. Die Stichworte, dieSie hier gegeben haben, sind wirklich verheerend.
Dass viele Probleme gegenwärtig ein solches Ausmaßangenommen haben, lag doch nur daran, dass wir denKopf in den Sand gesteckt haben und dass wir die Ge-staltung der Einwanderungsgesellschaft nicht aktiv an-gegangen sind. Eingewandert sind vor allem jene Tür-ken, die der ländlichen Unterschicht angehörten. Das istkeine politische Entscheidung von Rot-Grün gewesen.Das ist die Entscheidung von deutschen Unternehmengewesen, die billige Arbeitskräfte für billige Jobs habenwollten und diese Menschen nur als Arbeitskräfte gese-hen haben, die dann natürlich in die billigen Stadtteilegezogen sind, wo die Deutschen zum Teil gar nicht mehrleben wollten. Vor diesen Problemen stehen wir jetzt.Das Problem ist nun, dass diese Jobs, die die erste Ge-neration der Einwanderer noch gemacht hat, durch dieProduktivitätssteigerung in diesem Land zum großenTeil verschwunden sind. Die Menschen der zweiten,dritten und vierten Generation brauchen wir angesichtsdes demographischen Wandels in unserem Land drin-gend. Aber dann müssen wir sie gerade durch Bildungintegrieren. Das ist die Hauptaufgabe. Das muss bei derfrühkindlichen Förderung anfangen, sonst wird es nichtsmit dem „Bitte lernen Sie Deutsch“, wie Herr Becksteinzu Recht gefordert hat. Aber dann müssen dafür auch dieChancen gegeben werden. Das fängt eben bei der Kin-derbetreuung und der frühkindlichen Förderung an.Es macht die Sache doch nicht einfacher, FrauMerkel, Migrantenkinder in unserem Land zu integrie-ren, wenn es insgesamt zu wenig Kinderbetreuungs-möglichkeiten gibt. Es gibt auch deswegen viel zu we-nig Möglichkeiten der Kinderbetreuung, weil wir zulange einer konservativen Familienpolitik angehangenhaben, die diese Kinderbetreuung nicht wollte.
Ich will etwas zu dem Thema Leitkultur sagen. Wir,Migranten, Deutschstämmige, Christen und Muslime,brauchen eine gemeinsame Grundlage in dieser Gesell-schaft. Diese gemeinsame Grundlage sind unsere Grund-rechte, unsere Verfassung, unsere Rechtsstaatlichkeitund unsere Demokratie.
Diese Grundrechte sind nicht banal. Jeder, der be-hauptet, dass sie durch etwas anderes ersetzt werdenmüssten, der irrt sich ganz gewaltig. Die Würde desMenschen und der Gleichheitsgrundsatz von Männernund Frauen sind eine sehr tragfähige Grundlage. Ich ver-traue dieser Grundlage. Viele Muslime in Deutschland,die an unserer Zivilgesellschaft in Vereinen, Gewerk-schaften und Schulinitiativen aktiv teilnehmen, ver-trauen dieser Grundlage viel mehr als irgendeiner Formvon christlicher Leitkultur.
Ich will hier niemandem seinen christlichen Glaubenstreitig machen.
Ich begegne ihm mit großem Respekt. Ich habe vor derReligion eines jeden Menschen großen Respekt. Ich binder Ansicht, dass ein überzeugter Glaube einer Gesell-schaft etwas Wertvolles geben kann, wenn er auf der Ba-sis unserer Grundrechte gelebt wird. Aber wir solltennicht unkritisch sein.Das fängt schon bei unserer eigenen Geschichte an.Dafür brauchen wir gar nicht bis ins Mittelalter zurück-zugehen. Schauen wir uns doch einmal die Toleranz-konflikte in unserer deutschen Nachkriegsgeschichte an:die Auseinandersetzungen über die Stellung unehelicherKinder, lediger Mütter, unverheirateter Paare, Homose-xueller und auch Mischehen in dieser Gesellschaft. Da-bei waren Mischehen keine Ehen zwischen Schwarzenund Weißen, sondern zwischen Protestanten und Katho-liken.
Die Vergewaltigung in der Ehe wurde doch erst Ende der90er-Jahre unter Strafe gestellt. Wer hat denn dagegen solange Widerstand geleistet?
Ein anderes Stichwort ist das Ansehen geschiedenerFrauen. All das sind Toleranzkonflikte gewesen, die wirhinter uns gelassen haben.Ich bin froh, dass wir heute sagen können: Nein, un-sere Grundrechte, insbesondere die Würde des Men-schen, gelten für alle: für ledige Mütter, unverheiratetePaare, für Homosexuelle, für Christen und Muslime. Ichglaube, dass dies eine gute Grundlage für unsere Gesell-schaft ist.Bei der Diskussion über Beliebigkeit in unserer Ge-sellschaft wünsche ich mir mehr Respekt und Anerken-nung von denen, die uns diese Diskussion zum Teil auf-drängen. In der „Welt“ hat Herr Döpfner uns diese
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Krista SagerWoche einiges über das Ende der Appeasementpolitikmitgegeben. Herr Döpfner hat uns einiges über Kreuz-züge, die angeblich schon im Gange sind, mitgegeben.In derselben Woche musste eine mutige junge Schau-spielerin,
die in dem Film „Gegen die Wand“ die Hauptrolle ge-spielt hat, unter Tränen darum bitten und betteln, dassdie „Bild“-Zeitung endlich damit aufhört, sie mit einerdreckigen Hetzkampagne zu überziehen. Man kann nichtauf der einen Seite Krokodilstränen über die Situationvon muslimischen Frauen in traditionellen, rückständi-gen muslimischen Familien vergießen, auf der anderenSeite aber eine Frau mit einer solchen Hetzkampagneüberziehen. Das passt nicht zusammen.
Ich will Ihnen einmal sagen, was mich als deutscheFrau – zugegeben mit einem sehr gemischten Hinter-grund, aber auch als deutsche Frau – wirklich empörthat. In derselben Woche, in der wir uns anhören muss-ten, die multikulturelle Gesellschaft sei am Ende, derIslam sei mit unseren Werten nicht kompatibel und esmüsse die Auseinandersetzung über die Leitkultur ge-führt werden, konnte man in der „Bild“-Zeitung ein Fotovon einer Frau sehen, die einem Hund die Brust gibt. Ichwürde mir von den Menschen, die uns hier die Leitkulturpredigen, wünschen, dass sie deutlich machen, dass auchfür uns in diesem Lande Würde und Respekt noch etwaswert sind.
Das Wort hat nun die Vorsitzende der CDU/CSU-
Fraktion, Dr. Angela Merkel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bun-deskanzler, die Worte zu Beginn Ihrer Rede mögen amü-sant gemeint und nett gewesen sein, sie waren sicherlichauch nicht ohne jeden Unterhaltungswert; aber ich frageSie in diesem Saal: Was glauben Sie eigentlich, was dieMenschen, die uns draußen zuhören – der Arbeiter beiOpel, die Verkäuferin bei Karstadt, die Rentnerin, dienächstes Jahr real eine niedrigere Rente haben wird, die-jenigen, die in einem mittelständischen Betrieb arbeitenund von Insolvenz bedroht sind –, von uns hören wol-len?
Was glauben Sie, was diese Menschen ganz speziell vonIhnen, Herr Bundeskanzler, hören wollen? Ich bin mirganz sicher: Sie wollen auf gar keinen Fall amüsante,nette Geschichtchen von vorgestern hören, sondern siewollen eine Aussage über ihre eigene Lebensperspek-tive, über die Zukunft dieses Landes.
Sie haben beschwörend über das, was gemachtwurde, gesprochen. Sie haben plumpe Angriffe auf dieOpposition gemacht. Sie haben den Blick zurückgewor-fen – aber Zukunft, Herr Bundeskanzler, Fehlanzeige.Irgendeine Idee für die nächsten zwei Jahre? VölligeFehlanzeige.
Deshalb sage ich – ich sage das ganz ruhig, weil dies derOrt ist, an dem wir uns auseinander setzen –: Diese IhreRede war der eines Bundeskanzlers nicht würdig.
Das Allerschlimmste ist: Sie war unter der Würde unse-res Landes.
Das Problem ist nicht, dass dieses Land schlechtgeredetwird. Im Übrigen, Herr Bundeskanzler, passen Sie auf,dass Sie nicht dauernd Menschen, die an Ihnen und IhrerRegierung Kritik üben, gleich noch mit beleidigen. DasProblem dieses Landes ist, dass es unter Wert regiertwird. Das muss man immer und immer wieder deutlichsagen.
Das Ganze beginnt mit einer grandiosen Realitätsver-weigerung. Herr Eichel, Sie haben am 18. Juni 2002 inIhrem Haushaltsaufstellungsschreiben für 2005 eineVerschuldung von 5,5 Milliarden Euro prognostiziert,aber stolz hinzugefügt, dass man in der Summe zu einemausgeglichenen Haushalt käme, weil gleichzeitig diesozialen Sicherungssysteme Überschüsse aufweisenwürden.Ich bitte Sie, sich vor Augen zu führen, was seitdemgeschehen ist.
Was die sozialen Sicherungssysteme angeht, ist die Ren-tenversicherung am Anschlag. Sie werden sogar nochKredite aufnehmen müssen. Die Pflegeversicherung istvöllig auf den Hund gekommen. Im Gesundheitssystem– ich trage das mit, Herr Bundeskanzler; wir haben denMaßnahmen zugestimmt – sind inzwischen in dem MaßeÜberschüsse erwirtschaftet worden, dass wenigstens frü-here Schulden zum Teil getilgt werden können. Aberinsgesamt sind wir von einem ausgeglichenen Haushaltso weit entfernt wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Das hatniemand anders zu verantworten als Sie. Das ist IhrWerk.
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Dr. Angela Merkel
In diesem Hause gibt es eine lange gepflegte und auchzu Recht vereinbarte Aufgabenteilung zwischen der Re-gierung, die handeln kann, und den sie tragenden Frak-tionen einerseits und der Opposition andererseits, der dieAufgabe eines Wächters über das, was Sie tun, zu-kommt.
Deswegen werden wir – ob es Ihnen passt oder nicht –Ihren Nachtragshaushalt für dieses Jahr dem Bundes-verfassungsgericht vorlegen, weil wir der Meinungsind, dass die jetzt eingetretene Erhöhung der Neuver-schuldung von 29 Milliarden Euro auf über 44 Milliar-den Euro voraussehbar war, und weil Sie wie schon invielen anderen Jahren dieses Parlament und die Men-schen in diesem Lande bewusst getäuscht und instru-mentalisiert haben. Dem muss ein Ende gemacht wer-den.
Herr Bundeskanzler, Sie können davon ausgehen,dass kein vernünftiger Mensch irgendein Interesse daranhat, etwas schlechter zu reden, als es ist.
Wir kennen doch sicherlich alle die von der Bertels-mann-Stiftung und vom Weltwirtschaftsforum erstelltenRankings der Industrienationen. Sie können zwarfeststellen, dass einiges passiert sei, das in die richtigeRichtung weise, das Dumme ist aber, dass wir weiterhinganz hinten liegen.
Der auch von Ihnen geschätzte Wim Kok, der beauf-tragt ist, den Lissabon-Prozess – also den Wachstums-prozess der Europäischen Union – zu bewerten, hat denMitgliedstaaten der Europäischen Union deutlich insStammbuch geschrieben: Vorraussetzung für die Ver-wirklichung ist eine starke, entschlossene und überzeu-gende politische Führung. Er hat gleich hinzugefügt:Sicherlich waren die Ereignisse außerhalb Europas seitdem Jahr 2000 nicht förderlich. Doch es liegt eindeutigan der Europäischen Union und den Mitgliedstaatenselbst, wenn sich Fortschritte nur langsam einstellen.Denn in vielen Bereichen wurde es versäumt, die Refor-men mit dem erforderlichen Nachdruck voranzutreiben.Herr Bundeskanzler, ich frage Sie: Wen mag WimKok gemeint haben, wenn wir im Ranking der Industrie-nationen an hinterer Stelle liegen?
Ich glaube, dass sich Deutschland angesprochen fühlenmuss. Es fehlt an einer entschlossenen Führung diesesLandes. Das ist das Problem, über das wir sprechen müs-sen.
Es ist interessant, neben dem Wim-Kok-Bericht fürdie Mitgliedstaaten der Europäischen Union auch einenBlick in den Bericht der Bundesregierung zur Bewertungdes Lissabon-Prozesses zu werfen. Darin heißt es, dieStrategie von Lissabon, dass Europa der dynamischsteKontinent der Welt werden wolle, sei in der Euphorieder New Economy geboren. Dann sei es zu einer speku-lativen Blase gekommen.
Hinzu seien externe Schocks gekommen: der11. September, Bilanzskandale, der Krieg im Irak, derAnstieg der Ölpreise und eine dreijährige Stagnation.Damit ist aber immer noch nicht die Frage beantwortet,warum wir ganz hinten liegen, Herr Bundeskanzler, undzwar hinter anderen, die ebenfalls unter diesen Belastun-gen gelitten haben. Diese Frage müssen wir beantwor-ten.
Ich glaube, dass wir an dieser Stelle wieder auf einvon Ihnen bereits bekanntes Strickmuster stoßen: Schuldsind immer die anderen – die Welt, die Bundesländer, dieKommunen, die Blockade im Bundesrat. Alles kommtrecht, wenn es erklären kann, dass Ihnen irgendetwasnicht gelingt.Schon der frühere amerikanische Präsident Eisenhowerhat gesagt: Die Suche nach Sündenböcken ist von allenJagdarten die einfachste. Aber, lieber Herr Bundeskanz-ler, damit können wir uns nicht zufrieden geben.
Wir wollen danach jagen, beim Wachstum vorne mit da-bei zu sein und uns nicht mit einem Platz ganz hinten ab-speisen zu lassen. Das ist unser Anspruch.
Der Sachverständigenrat hat schon Recht mit seinerAussage, die wir alle begrüßen, dass der Export sichprima entwickelt und wir auf dem Gebiet Erfolge haben.Das sichert Arbeitsplätze. Auch wenn diese nicht alle inDeutschland liegen, freuen wir uns immerhin darüber.Aber für die 80 Millionen Menschen im Lande zählt na-türlich nicht nur – das werden doch auch Sie wohl nichtbestreiten –, ob sich der Export ordentlich entwickelt,
sondern für die Menschen zählt, was zum Schluss bei ih-nen in der Tasche ankommt, welche Möglichkeiten undChancen sie haben, Arbeit zu behalten oder zu bekom-men. Deshalb hat der Sachverständigenrat das eine ge-lobt – darüber haben Sie ausführlich gesprochen – und
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Dr. Angela Merkelgleichzeitig auf Herausforderungen im Inland hinge-wiesen. Über diese Herausforderungen haben Sie in Ih-rer Rede geschwiegen.Herr Bundeskanzler, der Sachverständigenrat siehtdarin sogar noch – diese Meinung teile ich im Übrigen –etwas Positives. Er sagt nämlich, tatsächlich sei dieWachstumsschwäche auf inländische Bestimmungs-gründe zurückzuführen und wir könnten ganz beruhigtsein. Sie hängt also nicht von außen, von der Welt odervon sonstwem ab,
sondern es sind inländische Bestimmungsgründe. Undwas außer inländischen Bestimmungsgründen könnenwir hier ändern? Das ist doch unsere Aufgabe. Deshalbkönnen wir happy sein mit einer solchen Situation, weilwir jetzt nur noch die Binnenkonjunktur ankurbeln müs-sen, und zwar mit Maßnahmen, über die wir hier mitei-nander diskutieren müssen. Das hat der Sachverständi-genrat prima gesagt.
Jetzt muss man fragen: Was passiert?
Ich habe heute hier nichts gehört. Ich bin aber überzeugt– und das sage ich für unsere Fraktion insgesamt –: Wirhaben die Kraft und die Möglichkeiten, aus diesem Landwieder das zu machen, was in diesem Land steckt.
Dazu brauchten wir jedoch Ihr Einverständnis und dashaben wir nicht.Wir sind am Anfang von Reformen und nicht amEnde.
Die Umsetzung von beschlossenen Reformen allein istnicht genug, sondern wir müssen darüber sprechen, wiewir nach den schon umgesetzten Maßnahmen weiterma-chen, damit wir aus dieser Inlandsmisere herauskom-men, Herr Bundeskanzler. Das ist die Aufgabe.
– Herr Poß, hören Sie auf zu schreien. Es ist wirklichlästig.
Dazu sagt der Sachverständigenrat – nicht wir, nicht dieFDP und nicht Ihre Gegner – ganz klar: Ein schlüssigesKonzept für eine wachstumsfördernde Politik ist von derBundesregierung nicht vorgelegt worden. Vielmehrbleibt der Eindruck, es handele sich um Einzelmaßnah-men, die zum Teil auch nur ergriffen wurden, weil sichdie Haushaltslage immer weiter zugespitzt hat.
Herr Bundeskanzler, deshalb müssen wir alle uns fra-gen: Was muss jetzt geschehen? Beginnen wir doch mitdem Haushalt selbst, der die Zukunftsfähigkeit diesesLandes definiert. Dazu hat sich der Präsident des Bun-desrechnungshofes doch in wirklich atemberaubenderWeise – um den Begriff noch einmal aufzunehmen –deutlich geäußert: Die Schieflage ist so extrem, dass eseinem den Atem verschlägt. Eine solche Aussage einesParteifreundes über einen Bundeshaushalt hat es nochnie gegeben, Herr Bundeskanzler. Damit müssen Siesich auseinander setzen.
Der Sachverständigenrat sagt in seinem Bericht wei-ter: Die ohnehin bescheidenen Schritte zur Konsolidie-rung des Staatshaushaltes gehen zulasten der öffentli-chen Investitionen und damit genau jenes Teils derStaatsausgaben, von dem am ehesten noch positive Wir-kungen für das Wachstum ausgehen könnten.
Herr Bundeskanzler, der nächste Haushalt enthältPrivatisierungserlöse in einem Umfang von 15 Milliar-den Euro. Vor ungefähr einem Jahr hatten wir das Ver-gnügen, miteinander im Vermittlungsausschuss zu dis-kutieren, und Sie haben aufs Ehrenwort versichert, mehrals 3 Milliarden Euro Privatisierungserlöse würden indiesen Haushalt nicht eingestellt. Ich glaube, Sie habendamals die Wahrheit gesprochen und Sie lügen sich jetztin die Tasche.
Sie verscherbeln nicht nur alles, was heute vorhandenist, sondern auch alles, was notwendigerweise für dieZukunft zurückgelegt wurde. Dabei waren die Rückla-gen ohnehin schon knapp. Der Sachverständigenratnennt das Desinvestition. Merken Sie sich dieses Wort!Das ist das Gegenteil von dem, was notwendig ist. Dastun Sie im festen Wissen darum, dass Sie damit den Kin-dern und Enkeln dieses Landes eine Bürde aufhalsen, diekaum zu schultern ist. Das ist das Gegenteil von Nach-haltigkeit, für die Sie in diesem Lande – Frau Roth, daSie gerade so interessiert schauen, sage ich Ihnen, dassSie mit diesem Anspruch einmal angetreten sind – ei-gentlich sorgen wollten. Das muss man den Menschensagen.
Herr Bundeskanzler, Sie haben Anfang 2004 dasJahr der Innovation ausgerufen. Dass man davon– rückblickend auf die letzten elf Monate – gar nichtsmehr gehört hat, erstaunt und überrascht mich, obwohles eigentlich klar ist. Schauen Sie sich nur den Zustanddes Gentechnikgesetzes an! Das ist ein völlig klaresEingeständnis – weil Herr Clement und Frau Künastnicht zueinander kommen –, dass in Deutschland der
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Dr. Angela MerkelWachstumsbereich Grüne Gentechnologie nicht existie-ren wird. Herr Bundeskanzler, Sie haben zusammen mitTony Blair und dem französischen Präsidenten Chiraceine bemerkenswerte Initiative gestartet. Sie haben ge-sagt: Lasst uns über die Chemiepolitik in Europa, insbe-sondere über die REACH-Richtlinie, reden! Als dannendlich im Wettbewerbsrat, in den alle anderen EU-Mit-gliedstaaten ihre Wirtschaftsminister entsandt hatten,über diese Richtlinie beraten wurde, ist zum Erstaunendes gesamten europäischen Publikums und insbesonderezu unserer Überraschung Herr Trittin dort wieder er-schienen und hat die gleichen Anträge wie im Umwelt-ministerrat gestellt. Herr Bundeskanzler, Sie führen eineRegierung, in der Sie noch nicht einmal durchsetzenkönnen, dass die vernünftigen Kräfte auf europäischerEbene das Schlimmste für die chemische Industrie inDeutschland verhindern.
Sie sind vom Europäischen Gerichtshof verklagt wor-den, weil Sie die Biopatentrichtlinie nicht umgesetzt ha-ben. Außerdem liegen Sie mit der pharmazeutischen In-dustrie – diese hat Recht – im Clinch, weil Sie eine Artder Umsetzung des Gesundheitsmodernisierungsgeset-zes bezüglich der Pharmabranche gewählt haben, die mitSicherheit die forschende Arzneimittelindustrie inDeutschland schwächt. Sie liefern damit einen kontra-produktiven Beitrag zum Jahr der Innovation. Es nutztjetzt auch nichts, auf bestimmte Medikamentenherstellerzu schimpfen, weil diese Anzeigenkampagnen machen.Nehmen Sie besser die falsche Eingruppierung zurückund schützen Sie die forschende Arzneimittelindustriemit ihren lizenzierten Medikamenten! Schon wären alleAnzeigenkampagnen beendet. Aber Sie haben dazunicht die Kraft. Deshalb haben Sie auch an dieser Stelleversagt.
Herr Bundeskanzler, ich möchte heute einmal nichtüber die Kernenergie, sondern darüber reden, dass dieEnergiepreise in Deutschland bis zu 50 Prozent – bei-spielsweise die Gaspreise mit 25 Prozent – über demEU-Durchschnitt liegen, wenn auch nicht über den Welt-marktpreisen. Das ist in einem Binnenmarkt eine ziem-lich komplizierte Sache. Die Internationale Energieagen-tur hat das völlig zu Recht moniert und die deutscheRegierung aufgefordert, ihre Energiepolitik mehr aufFakten zu gründen. Genau das ist das Thema. Sie solltenIhre Energiepolitik nicht auf Ideologien, sondern aufFakten gründen. Dann wären wir in Deutschland schonein ganzes Stück weiter.
Ich habe schon gesagt, dass das Verbot der Studien-gebühren aufgehoben werden muss. Nur noch so vieldazu: Der Regierende Bürgermeister von Berlin hat zumbaden-württembergischen Ministerpräsidenten gesagt:Wäre das Verbot doch schon aufgehoben! Er kann sichaber auf keinem Parteitag durchsetzen. Man wird sichvor dem Bundesverfassungsgericht wieder treffen, dasgerade Ihre Regelungen betreffend die Juniorprofessurgekippt hat.Das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzmüsste eigentlich deutlich verlängert werden. Aber zuwelchem Schluss ist die Bundesregierung – HerrClement, Bürokratieabbau! – gekommen? Sie verlängertdas Gesetz gerade einmal um ein Jahr. Nächstes Jahr umdiese Zeit werden wir also wieder darüber entscheidenmüssen. Man hätte es doch mindestens bis 2019, also biszum Ende der Laufzeit des Solidarpaktes II, verlängernmüssen. Das hätte doch die menschliche Vernunft gebo-ten. Aber die gibt es in Ihrem Kabinett wohl nicht.
Wir brauchen neue Stärken. Ich bin der festen Über-zeugung, dass wir unseren Wohlstand nur mit der Pro-duktion von Hochleistungsprodukten, die andere aufder Welt nicht herstellen können, halten können. Wirmüssen wettbewerbsfähig sein. Das heißt, wir müssenDinge können, die andere nicht können.Um das aber zu schaffen, bedarf es bestimmter Bedin-gungen. Darüber diskutiere ich mit Ihnen, Herr Bundes-kanzler, gerne. Sie haben gesagt: Schauen wir doch ein-mal in Ihre Programme, Stichwort Kündigungsschutz.Sie selbst haben eingesehen, dass das Kündigungs-schutzrecht in Deutschland dafür sorgt, dass Ältere nichtmehr eingestellt werden. Sie selbst haben es geändert.Wir haben gemeinsam für die Anhebung des Schwellen-werts für Kündigungsschutz von fünf auf zehn Arbeit-nehmer gesorgt. Falls in Deutschland nun jemand auf dieIdee kommt, den Schwellenwert für Kündigungsschutzvon zehn auf 20 Arbeitnehmer anzuheben: Bitte, erken-nen Sie darin kein Verhetzungspotenzial. So kommt un-ser Land mit Sicherheit nicht weiter. Das ist Ihrer und Ih-res Anspruchs einfach nicht würdig.
Ich habe heute kein Wort zur Fortentwicklung der so-zialen Sicherungssysteme gehört.
Ich kann verstehen, dass Sie zu dem Thema Pflege ge-schwiegen haben; denn der Malus für diejenigen, diekeine Kinder haben, ist nun wirklich das Ungeschick-teste gewesen, was Sie bei der Umsetzung des Verfas-sungsgerichtsurteils machen konnten. Sie haben daraufverwiesen, dass sich mittlerweile 4 Millionen Menschenfür die Riesterrente entschieden haben. Wir freuen uns,dass es so viele Menschen sind. Wir sagen aber: Wenndas Verfahren etwas unbürokratischer wäre, dann könn-ten es 12 Millionen Menschen sein. Denken Sie nocheinmal darüber nach! Wir wollen das gemeinsam.Jetzt reden wir einmal über die Gesundheitspolitik.
Da beobachte ich Sie mittlerweile seit vielen Wochenund Monaten. Herr Bundeskanzler, die leuchtendeFreude, mit der Ihnen das Wort „Bürgerversicherung“über die Lippen kommt, vermisse ich beständig. Ich
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Dr. Angela Merkelverfolge alle Ihre Reden. Herr Müntefering redet gerneüber die Bürgerversicherung; Frau Nahles redet noch lie-ber darüber. Wir nennen das Ganze „Bürgerzwangsversi-cherung“, weil es uns die Einheitskasse bringen wird.
Sie haben sich entschieden, zu diesem Thema garnichts zu sagen.
Mangels eigener Konzepte – Sie können keine Alterna-tive anbieten – haben Sie sich heute dazu entschlossen –ich glaube, das ist in Deutschland einmalig –, sich ledig-lich mit den Konzepten der Opposition auseinander zusetzen.
Herr Bundeskanzler, entschuldigen Sie einmal: Da es Ih-rerseits so viel Kritik an unserem Kompromiss gibt,wäre heute doch die Gelegenheit gewesen, die Bürger-versicherung einmal in ihrer vollen Breite und Blüte dar-zustellen.
Das wäre doch eine schöne Sache gewesen.
Sie haben geschwiegen.Sie ärgern sich – das verstehe ich ja –, dass wir unsgeeinigt haben. Das würde ich auch machen.
Herr Bundeskanzler – das sage ich auch in Richtung derArbeitgeber –, wir haben, übrigens schon in Leipzig,festgelegt, dass Arbeitgeberbeiträge in Deutschland auf6,5 Prozent eingefroren werden sollen. Weder unter ei-ner unionsgeführten noch unter einer SPD-geführten Re-gierung hat es in den letzten 20, 30 Jahren für die Arbeit-geber eine derartige Planungssicherheit in Bezug aufihre Sozialversicherungsbeiträge gegeben. Nach unsererVorstellung gehört es zur völligen Autonomie der Tarif-partner – so schreibt es das Grundgesetz vor –, wie dieAbschlüsse gestaltet werden. Wir wollen auf der Arbeit-geberseite Berechenbarkeit der Gesundheitskosten er-zeugen. Das ist ein richtiger und notwendiger Schritt,weil die Lohnzusatzkosten in Deutschland zu hoch sind.Davon werden wir uns auch durch Ihre komische Kritik,Herr Bundeskanzler, nicht abbringen lassen.
Wir plädieren für eine unumkehrbare Weichenstel-lung. Wir müssen heraus aus dem heutigen System. Siesollten sich von der Bürgerversicherung abwenden undeinem Prämienmodell zuwenden. Ich sage Ihnen: Daraufsind wir stolz. Der Weg in ein neues System soll unum-kehrbar sein.Herr Bundeskanzler, wir beide wissen: Sachverstän-dige gehen von idealen ordnungspolitischen Vorausset-zungen aus. Ich kann die Kritik eines Sachverständigen,der für das Prämienmodell in Reinkultur kämpft – mög-lichst für genau das, das er sich ausgedacht hat –, gutverstehen. Aber der Unterschied zwischen uns beidenist, dass Sie das Prämienmodell ablehnen, obwohl dieSachverständigen es Ihnen nahe legen, während wir da-für eintreten und damit auf dem richtigen Weg sind. Dendamit verbundenen Konflikt müssen wir austragen.
Friedrich Merz und das Steuerkonzept.
Da sind Sie ganz unruhig geworden, weil Sie natürlichwissen, dass das Merz/Faltlhauser-Konzept um Größen-ordnungen einfacher ist als alles, was Herr Eichel Ihnenjemals als denkbaren Vorschlag auf den Tisch gelegt hat,
dass auch das ein Schritt in die richtige Richtung ist,nämlich hin zu mehr Transparenz, zu mehr Klarheit imSteuersystem.Herr Bundeskanzler, ich freue mich ja für die Men-schen im Lande darüber, dass die Steuersätze gesunkensind. Nur, Sie hätten alles das schon 1996 haben können:
Petersberger Beschlüsse.
Ich habe es mir extra noch einmal sagen lassen:15 Prozent Eingangssteuersatz und 39 Prozent Spitzen-steuersatz.
Meine Damen und Herren, Sie haben das damals ausrein parteitaktischen Gründen verhindert,
Sie und der Ministerpräsident Lafontaine und der Minis-terpräsident Eichel. Wir waren damals auf dem richtigenWeg. Gott sei Dank wurde ein Stück dieses richtigenWeges gegangen. Aber Sie haben es damals blockiert;das müssen wir festhalten.
Ein weiterer Punkt – es ist schön, dass wir uns darüberauseinander setzen können, Frau Sager –: PISA-Studien.Wie kommt man zu besseren Ergebnissen? Wir sind derganz festen Überzeugung: mit der Einheitsschule nicht
– diese Überzeugung werden wir auch weiter vor unshertragen – und – das füge ich noch hinzu – dadurch,dass der Bund auch dafür noch die Kompetenz be-kommt, was Sie am liebsten hätten,
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Dr. Angela Merkelmit Sicherheit auch nicht. Deshalb wird in der Föderalis-muskommission eines nicht gelingen: Sie werden dieKompetenz des Bundes für die Bildung in der Schulenicht bekommen, so sehr Sie das auch wollen.
Wir werden auch den ganzen Mischmasch beenden – dasist die Aufgabe –, bei dem Sie dauernd mit anderer LeuteGeld versuchen, sich in Sachen einzumischen, die Sienichts angehen.
Herr Bundeskanzler, bei all den einzelnen Maßnah-men fehlt – das moniert auch der Sachverständigenrat –das schlüssige Konzept. Ich glaube, das schlüssige Kon-zept
braucht eine bestimmte innere Haltung. Diese innereHaltung – auch darüber müssen wir sprechen – speistsich aus der Antwort auf die Frage: Was sind die Einzel-maßnahmen und gibt es etwas, was mehr ist als dieSumme aller Einzelmaßnahmen?Wenn wir uns um Generationengerechtigkeit küm-mern, dann – ich glaube, damit sind wir alle miteinandereinverstanden – geht es um mehr als nur um die Frage:Was kommt beim kleinen Kind an? Was kommt beim äl-teren Menschen an? Wenn wir einen Solidarpakt zwi-schen Ost und West haben, dann gibt es doch das ge-meinsame Verantwortungsgefühl, das Gefühl dafür, dasswir zusammengehören. Wenn wir über Nachhaltigkeitreden, dann reden wir doch eigentlich darüber, dass wiruns für zukünftige Generationen genauso verantwortlichfühlen wie für die Bewahrung unserer Traditionen. EinBund/Länder-Finanzausgleich, eine Kultusministerkon-ferenz, eine Stiftung Preußischer Kulturbesitz, das allesgibt es doch nur, weil wir etwas Gemeinsames haben.Ich glaube, dass das durch die deutsche Einheit einewunderbare Vollendung insofern gefunden hat, als der3. Oktober ein Tag der Freiheit ist, ein Tag, an dem inDeutschland die Freiheit gesiegt hat.
Meine Damen und Herren, die Tatsache, dass ich hierheute stehen kann, dass viele Kollegen aus den neuenBundesländern hier sitzen, dass Frau Göring-Eckardt ausden neuen Bundesländern Vorsitzende der Fraktion derGrünen ist, haben wir denen zu verdanken, die den Ge-danken an die deutsche Einheit nicht als Lebenslüge derNation bezeichnet haben, wie Sie es getan haben, son-dern die durchgehalten haben, die sich zu Einheit inFreiheit bekannt haben, obwohl nicht klar war, ob manes durchsetzt.
Deshalb ist es doch nichts anderes als Erbsenzählerei,wenn man mit irgendwelchen alten Zitaten ankommt.
Die eigentliche Frage ist doch – davon sprechen ja auchSie immer wieder –: In welcher Lage sind wir heute?Heute wissen wir, vor welchen Herausforderungen wirstehen und was wir zu bewältigen haben. Genau in einersolchen Lage – deshalb hat dieser Vorschlag eine solcheEmpörung hervorgerufen – braucht man verbindende ge-meinschaftsstiftende Gedenktage, an denen einem be-wusst wird: Das Ganze ist mehr als die Summe der Ein-zelnen. Deshalb waren wir so empört, dass Sie den3. Oktober für ein einmaliges Wachstum in Höhe von0,1 Prozentpunkten abschaffen wollten. Das war absurdund verfehlt. Diesen Vorwurf müssen Sie sich gefallenlassen, Herr Bundeskanzler.
Wir sind ja für jedes Eingeständnis eines historischenIrrtums dankbar. Die Sache mit der Rente hatten Sie zu-gegeben; heute haben wir uns mit der Sprache befasst.
Damit die Geschichte nicht völlig verdreht wird, indembehauptet wird, dass bisher keiner von uns der Überzeu-gung war, dass das Erlernen der deutschen Sprache dieGrundvoraussetzung dafür ist, dass Integration stattfin-det, möchte ich Sie an unseren Integrationsantrag ausdem Jahr 1999 erinnern:Die Beherrschung der deutschen Sprache ist Vo-raussetzung für Kommunikation und somit wich-tigstes Mittel zur Integration. Wer dauerhaft inDeutschland leben will, muß die Bereitschaft ha-ben, die deutsche Sprache zu erlernen.Dann wurden all die Maßnahmen aufgeführt, die wirjetzt im Zuwanderungsgesetz durchgesetzt haben. Be-dauerlich ist nur, Herr Bundeskanzler, dass Sie, da Siedamals ausschließlich mit der Frage der doppeltenStaatsbürgerschaft beschäftigt waren, diesen Antrag ab-gelehnt haben. Das ist die historische Wahrheit.
Ich bin deshalb doch zufrieden, dass wir dies jetzt ge-meinsam erreicht haben.Frau Sager, ich werde aber nicht davon abgehen, dassdie Idee von Multikulti grandios gescheitert ist.
Bezüglich der Idee von Multikulti waren wir unter-schiedlicher Meinung, auch wenn Sie sich die Sache imNachhinein noch zurechtbiegen.
Ich kann nur sagen, dass wir alle miteinander, jetzt wie-der auf die Zukunft bezogen, uns so verhalten sollten,wie Günther Beckstein es auf der Demonstration der
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Dr. Angela MerkelMuslime, die sich zu Werten wie Freiheit und Toleranzbekannt haben, gemacht hat, indem wir sagen: Bitte,lernt Deutsch.
Natürlich dürfen wir niemals diejenigen, die die Werteunseres Landes ausdrücklich anerkennen, in irgendeinerWeise mit denen in einen Topf werfen, die dies nicht tun.Das sage ich ganz klar. Ebenso wie wir in Deutschlandnicht Bürgerinnen und Bürger pauschal mit denen, dieGesetze unseres Landes übertreten, gleichsetzen, so dür-fen wir so etwas auch nicht mit Personen ausländischerHerkunft machen. Es führt uns aber auch nicht weiter,wenn wir die Augen vor bestimmten Tendenzen ver-schließen.Deshalb ist es gut und richtig, dass unsere Fraktion ei-nen Antrag zum Islam und Islamismus eingebracht hat,um genau über diese Frage eine Diskussion anzustoßen.In dieser müssen wir uns mit sehr konkreten Punktenauseinander setzen. So geht es zum Beispiel darum, obwir es gutheißen, wenn für ein Jahr oder für zwei JahreImame aus der Türkei nach Deutschland kommen, oderob wir wollen, dass sie hier in Deutschland ausgebildetwerden. Da müssen Sie sich ganz klar entscheiden. Diein der CDU engagierten Mitglieder türkischer Herkunftsagen dies ganz klar.
– Wenn Sie das auch so sehen, freut mich das. Aber dieMenschen draußen haben das noch nicht mitbekommen.Deshalb müssen wir doch darüber reden. Man darf sichdeshalb nicht dauernd, wie Sie es heute hier wieder ge-tan haben, in Kleinkram verzetteln,
sondern man muss die Gemeinsamkeiten herausstellen,indem man sagt: Ihr seid willkommen, wenn ihr unsereGesetze akzeptiert. Wir wollen euch Chancen eröffnen.Das ist aber nur möglich, wenn ihr Deutsch lernt, euchintegriert und keine Parallelgesellschaften errichtet. Da-für werden wir kämpfen.
Ich bin sehr dafür, mit alten Lebenslügen aufzuräu-men,
zugleich sollten wir aber auch dafür Sorge tragen, dasswir uns nicht in neue Lebenslügen verstricken.
Vor diesem Hintergrund kann ich nur sagen: Es stehennoch eine ganze Reihe von Aufgaben vor uns, auch imSicherheitsbereich und im außenpolitischen Bereich. Dasteht zum Beispiel die Frage der Zukunft der Bundeswehrim Raum. Ich stimme zu, dass es zugunsten der Erhö-hung der internationalen Handlungsfähigkeit nötig ist,bestimmte Standorte zu schließen. Wir alle machen abernicht mehr mit, wenn Sie als ausschließliche Aufgabeder Bundeswehr die internationale Handlungsfähigkeitdefinieren, die Aufgabe des Heimatschutzes aber wegenfinanzieller Schieflagen bis zur Unkenntlichkeit verwi-schen. Damit vernachlässigen Sie die zweite Säule derBundeswehr, die wir auch in Zukunft brauchen, nämlichden Heimatschutz.
Darüber müssen wir miteinander streiten.
Die Lebenslüge Ihres Verteidigungsministers bestehtdarin, dass er so tut, als ob er mit den begrenzten Mittelnund seiner Strukturpolitik, die im internationalen Be-reich in die richtige Richtung geht, die Wehrpflicht auf-rechterhalten könnte. Das kann er nicht. Entweder wirschaffen es, ein ordentliches Heimatschutzkonzept, wiees von Wolfgang Schäuble und anderen entwickeltwurde, danebenzustellen; dann kann die Wehrpflicht er-halten bleiben, was ich und wir durchaus möchten. Wennman das aber nicht schafft, darf man sich nicht in eineneue Lebenslüge verstricken, sondern muss den Leutendie Wahrheit sagen. Das ist das, was wir anmahnen, HerrBundeskanzler. Wir haben hier klare Vorstellungen.
Wer würde denn infrage stellen, dass wir eine strate-gische Partnerschaft mit Russland brauchen? SchauenSie, ohne Michail Gorbatschow wäre die deutsche Ein-heit doch gar nicht zustande gekommen. Dass es natür-lich auch von russischer Seite in Bezug auf die eigeneBevölkerung eine Riesenleistung und Anstrengung war,dass die baltischen Staaten heute Mitglied der Europäi-schen Union und der NATO sind, stellt doch niemand in-frage. Ebenso stellt niemand infrage, dass es nicht ganzeinfach ist, ein Land wie Russland zu regieren. Aber eskann wirklich nicht sein, auch nicht mit Blick auf dieGeschichte – ich würdige die Situation 60 Jahre nachdem Zweiten Weltkrieg; ich habe mich auch in meinerJugend hinreichend mit diesen Themen auseinander ge-setzt und habe hohen Respekt vor dem russischenVolk –, Herr Bundeskanzler, dass Amerika kritisiert wirdund Russland nicht. Nichts weiter mahnen wir an, alsdass wir fair und ehrlich miteinander umgehen.
Das Thema Türkei ist ein wichtiges und relevantesThema. Da sind viele Versprechungen gemacht und vieleDinge gesagt worden. Der ehemalige BundeskanzlerSchmidt zum Beispiel sagt, wir hätten das alles nichtmachen sollen.
Vieles ist in Gang gekommen. Deshalb muss natürlichalles daran gesetzt werden, dass bei der Türkei nicht derEindruck entsteht, wir wollten ihr die Tür vor der Nasezumachen und Europa wolle sie verstoßen.
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Dr. Angela Merkel– Wir sagen nicht einfach Nein. – Aber, Herr Bundes-kanzler, es muss doch möglich sein, festzustellen, dasses der falsche Weg wäre, jetzt Verhandlungen, angeblichergebnisoffene Verhandlungen, aufzunehmen, die nurzwei Optionen kennen, nämlich Vollmitgliedschaft undScheitern. Die Option Scheitern gibt es realpolitisch garnicht. Denn Scheitern würde bedeuten, dass der Türkeidie Tür vor der Nase zugeschlagen wird. Deshalb sagenwir: Lasst uns eine – die von uns präferierte – Option mitaufnehmen, nämlich die privilegierte Partnerschaft!Schritt für Schritt kommen viele in Europa genau zu die-ser Einsicht. Ich verstehe nicht, warum Sie sich dieserEinsicht verweigern. Sie hätten die Möglichkeit, mitHerrn Erdogan als Ministerpräsidenten vernünftig da-rüber zu sprechen. Dann hätten wir ein Problem gelöst,das vielen Menschen Sorgen bereitet, das viele bedrücktund uns alle noch bedrücken wird.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Euro-
päische Union der 25, bald 27 oder 28, ist heute in sich
institutionell noch gar nicht gefestigt und von daher noch
nicht handlungsfähig. Deshalb ist es wichtig, dass wir
nicht einfach – nach der Humboldt-Rede des Bundesau-
ßenministers, in der er fast noch einen Bundesstaat sui
generis gefordert hat – Europa in dieser Form erweitern,
ohne uns Gedanken zu machen, ob das Integrationswerk
von 50 Jahren dabei Schaden nehmen könnte. Auch das
ist ein Beitrag der Kopenhagener Kriterien. Wir wollen
nicht mehr und nicht weniger, als darüber reden. Unsere
Option an dieser Stelle ist klar. Ich finde, sie ist vernünf-
tig und bewahrt uns vor einer neuen Lebenslüge, Herr
Bundeskanzler.
Angesichts der gesamten Aufgabenpalette – der He-
rausforderungen im Inneren und Deutschlands Rolle,
die, wie ich finde, eine Rolle von Maß und Mitte sein
sollte, wie es uns durch unsere kontinentale Lage vorge-
geben ist, wobei wir uns im Übrigen nicht immer nur um
Spanien, Großbritannien und Frankreich kümmern soll-
ten, sondern auch einmal um die kleineren Mitgliedslän-
der der Europäischen Union;
das ist eine ganz wichtige Sache, die von Helmut Kohl
immer beherzigt wurde – könnten wir zu etwas zurück-
kehren, was Sie im August 2002, zur Zeit der Flut, ge-
sagt haben:
Der Gemeinsinn, der hier deutlich geworden ist, ist
ein Schatz, den wir zu hüten und zu mehren haben.
Dieser Schatz an Gemeinsinn ist unbezahlbar. Denn
er macht das Land gerade in Krisen stark und er
macht damit uns und die Menschen im Land fähig,
nicht nur Krisen und Katastrophen zu bewältigen,
sondern auch die anderen Probleme zu lösen.
Nun, lieber Herr Bundeskanzler, frage ich Sie: Was
wollen Sie hüten, wenn Sie sich mit dem Gedanken tra-
gen, den Tag der Deutschen Einheit abzuschaffen? Herr
Bundeskanzler, welchen Schatz wollen Sie mehren,
wenn Sie so viel Schulden machen wie noch nie in der
Geschichte der Bundesrepublik Deutschland?
Herr Eichel, hören Sie auf zwischen 2,0 und
2,2 Prozent zu unterscheiden. Da lachen doch die Hüh-
ner!
Damals war es die Zeit kurz nach der deutschen Einheit.
Auf diese Weise können Sie doch nicht in die Geschichte
eingehen! Ich sage Ihnen: Der Schatz wird versilbert; er
wird sozusagen verfressen und verkloppt. Das ist die
Wahrheit.
Welchen Gemeinsinn wollen Sie fördern, wenn Sie
heute den Arbeitslosen in diesem Land kein einziges
neues, konkretes Angebot machen konnten und wenn
viele Menschen, die heute Angst und Sorge haben, weil
sie nicht wissen, wie es weitergeht, nicht mehr das Ge-
fühl haben, dass es jeder in diesem Land schaffen kann?
Wir wollen, dass sie wieder dieses Gefühl bekommen.
Wir wollen keinen beiseite schieben. Wir wollen die Vo-
raussetzungen dafür schaffen, dass wir diejenigen, die
leistungsstark sind, wieder in Freiheit leistungsstark sein
lassen können, wie es der Impetus der sozialen Markt-
wirtschaft war, damit wir denen, die schwach sind, eine
Chance geben und ihnen helfen können. Das ist unser
Ziel.
Herr Bundeskanzler, ich sage Ihnen voraus: Dafür
werden wir uns die Mehrheiten erarbeiten. Dafür haben
wir die Konzepte vorgelegt.
Zwei Jahre weiter sitzen Sie da, wo Sie bei der
Westerwelle-Rede gesessen haben, nämlich hinten im
Plenum, also genau da, wo diese Bundesregierung hin-
gehört.
Herzlichen Dank.
Nächster Redner ist der Vorsitzende der SPD-Frak-
tion, Franz Müntefering.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was CDUund CSU nie gewagt haben, nämlich eine Agenda 2010,hat diese Koalition begonnen. Darauf sind wir stolz. Wirsind damit auf einem guten Weg.
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Franz MünteferingUnser Kurs für Deutschland ist anstrengend; aber erist richtig. Mehr und mehr wird deutlich, dass die Er-folge kommen. Bei der Krankenversicherung ist klar ge-worden, dass die Einnahmen in diesem Jahr deutlich hö-her liegen, als es im vergangenen Jahr der Fall war. Wirhaben 4 Milliarden Euro für Ganztagsschulen und Ganz-tagseinrichtungen zur Verfügung stellen können.Bei den Ausbildungsplätzen haben wir Ergebnisse,die deutlich besser sind, als sie zu Beginn dieses Jahresnoch schienen. Denn es haben mehr junge Menschen dieSchule verlassen. Ich will an Herrn Braun vom DIHKund Herrn Philipp vom Zentralverband des DeutschenHandwerks ein ausdrückliches Dankeschön richten. Wasin Teilen der Wirtschaft und auch im Handwerk in denletzten Wochen und Monaten in dieser Hinsicht geleistetworden ist, ist aller Ehre wert. Das ist ein gutes Ergeb-nis.
Aber das haben wir gemacht und nicht Sie. Das habenwir organisiert.Wir holen durch die Zusammenlegung von Arbeitslo-senhilfe und Sozialhilfe 1 Million Menschen aus derSackgasse der Sozialhilfe. Ich hätte mir gewünscht, dassdas auf einigen der Plakate, die es bei den Demonstratio-nen dazu gab, gestanden hätte. Es werden nämlich1 Million erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger – mitKindern sind es 1,3 bzw. 1,4 Millionen –, die überwie-gend in der Sackgasse der Sozialhilfe stecken, wieder anBeschäftigung herangeführt. Somit bekommen sie wie-der eine Lebensperspektive. Das ist das Ergebnis unsererPolitik.
Die Beschäftigtenzahl steigt. Die Nachfrage nach Ar-beit ist größer geworden. Das heißt, beides ist gestiegen:die Zahl der Arbeitslosen, aber auch die Zahl der Be-schäftigten. Auch das müssen wir messen und könnenwir als Ergebnis unserer Politik zur Kenntnis nehmen.Die Zahl der Überstunden wird wieder zunehmen.Am Rande des Arbeitsmarktes ist Bewegung. Das, waswir jetzt erleben, ist bei solchen Konjunkturentwicklun-gen, wie wir sie jetzt haben, üblich. Das Plus von 1,8oder 1,7 Prozent in diesem Jahr wirkt sich noch nicht indiesem Jahr deutlich auf den Arbeitsmarkt und die Steu-erkassen aus. Aber es hat seine Wirkung und wird imnächsten Jahr deutlicher als jetzt erkennbar sein.Diese 1,7 oder 1,8 Prozent sind nicht das, was wir unswünschen. Aber sie sind auf der Basis des Wohlstandes,über den dieses Land verfügt, eine gute Sache. Ein Plusvon 1,8 Prozent bei uns sind mehr als 5 Prozent in Portu-gal; das bleibt richtig. Deshalb sind wir stolz auf diese1,8 Prozent.
Wir werden im nächsten Jahr vergleichbare Höhen ha-ben.Zu dem richtigen Weg gehören die 34 Prozent, die wirim Haushalt des Ministeriums für Forschung und Ent-wicklung draufgelegt haben. Auch da gibt es denWunsch, es möge mehr sein. Aber auch hier sei der Hin-weis erwähnt, dass es Bedingungen gibt, die zeigen, dasses mehr werden kann. Dass wir dafür das Geld, das heuteim Rahmen der Eigenheimzulage für andere Zweckeeingesetzt wird, brauchen, ist gesagt worden.Es wird immer deutlicher: Die Anstrengungen lohnensich für alle – und dies heute und morgen. Es wächstneues Vertrauen. Die Situation, in der wir waren und inder wir noch sind, ist zu begreifen: Wenn man einenWandel von erheblichem Umfang anstrebt und auslöst,dann verunsichert das die Menschen. Aber die Wahrheitist – das müssen wir in unserem politischen Handeln er-kennbar machen –: Sicherheit, soweit dies überhauptmöglich ist, wird man nur durch einen deutlichen Wan-del erreichen können.
Das ist die Aufgabe, in der wir stecken, wobei wir versu-chen, Dinge in Bewegung zu bringen.Frau Merkel hat eben nachgefragt, weshalb auf demBinnenmarkt relativ wenig Entwicklung sei bzw. weni-ger Bewegung, als man sich das wünschen würde, undweshalb die Menschen weiter sparen. Eines kann mansagen: Diskussionen über die Sozialsysteme, so wie sieim Moment in der Union mit einem Durcheinander, wasdie Perspektive angeht, und einer Ziellosigkeit, die dieMenschen sich fragen lässt, wohin es in diesem Land ge-hen soll, geführt werden und geführt worden sind, sindGift für den Binnenmarkt. Denn sie sind Gift für dieSelbstgewissheit der Menschen in diesem Land.
Das Vertrauen in die Zukunftsfähigkeit des Landeswächst wieder, auch das Vertrauen in die politische Linieder Koalition.
Die Zeit, in der sich die CDU/CSU, weil wir mit der Sa-che zu tun hatten, sicher fühlen und Pöstchen verteilenkonnte, ist vorbei.Gestern ein Merz ohne Pfiff und ohne Biss,
heute eine Parteivorsitzende ohne Merz und ohneSeehofer.
Das C in dem Namen Ihrer Partei, Frau Merkel, erinnertimmer mehr an Chaos.Zu Herrn Glos, der heute Morgen auch schon gespro-chen hat, doch noch ein Wort. Ich habe mir überlegt, obman sich damit länger beschäftigen sollte. Ich will mich
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Franz Münteferingdarauf beschränken, ihn einmal selbst zu zitieren. Er hatjetzt einen netten Artikel in der „Zeit“ veröffentlicht unddarin gibt es ein schönes Zitat von ihm, das, glaube ich,alles sagt. Glos in der „Zeit“:Ich hoffe, dass es meinem Land nie so dreckig geht,dass es auf Leute wie mich zurückgreifen muss.Das finde auch ich, und dann stimmen wir wieder über-ein.
Herr Kollege Müntefering, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage des angesprochenen Kollegen Glos?
Ja, bitte schön.
Herr Müntefering, wären Sie zu so viel Selbstironie in
der Lage?
Wenn das Selbstironie ist, dann ist das ja in Ordnung;das habe ich ja genau so aufgefasst. Denn Sie haben iro-nisch beschrieben, wie es sich tatsächlich verhält. Sie ha-ben gesagt, Sie hoffen, dass es dem Land nie so dreckiggeht, dass es auf Leute wie Sie angewiesen ist. Das isteine schöne Ironie; dazu kann ich Sie nur beglückwün-schen. Das ist wirklich gut.
In den vergangenen Monaten ist in der deutschen Po-litik einiges klarer geworden. Wir setzen uns mit unsererPolitik durch und das ist gut. Das ist wie im Irakkonflikt,als die CDU/CSU überwiegend meinungslos laviert hat.Heute verhält sie sich in der Innenpolitik genauso wiedamals beim Irakkonflikt.Zu den Fragen der Innenpolitik gehört auch die Bildung.Auch Frau Merkel hat eben wieder betont: Die Bildungist sehr wichtig. Darüber können wir uns schnell einigen.Wenn wir uns die Meldungen über die neue PISA-Studieanschauen, dann ist eines klar – ohne dass wir die Ergeb-nisse, die erst Anfang Dezember veröffentlicht werden,genauer kennen –: Drei Dinge müssen in diesem Land inAngriff genommen werden. Die frühkindliche Bildungmuss ein größeres Gewicht bekommen, als sie es bisherhat. Dafür treten wir ein.
– Bei Ihnen hat sie offensichtlich nicht funktioniert, HerrGlos; sonst würden Sie nicht immer dazwischen-schreien. Hören Sie einmal genau zu!
„Frühkindlich“ heißt auch: bei den unter Dreijährigen.
Den Begriff „Krippe“ kennen Sie doch in Bayern garnicht. Sie glauben, das hätte etwas mit Weihnachten zutun; es hat aber auch noch etwas mit den unter Dreijähri-gen zu tun, Herr Glos.
Wir wissen alle, wie wichtig die ersten Jahre im Lebeneines Menschen sind.
Also fangen wir dort an. Der Bund gibt den Städten undGemeinden freiwillig Geld, damit sie sich in diesem Be-reich besser engagieren können als bisher. Das ist rich-tig.
Das zweite, was ich zum Thema Bildung sagen will,betrifft die Selektion, die Feststellung, für welche wei-terführende Schule jemand mit neun oder zehn Jahrengeeignet ist. Wir machen auf der Bundesebene keineVorschläge und treffen keine Festlegungen darüber, wel-che Strukturen eine Schule haben soll. Ob man das nachacht, zehn oder zwölf Jahren in der Schule entscheidenmuss, das weiß ich nicht und will es auch nicht festle-gen. Das muss in den Ländern entschieden werden. Ei-nes allerdings ist klar – davor kann niemand mehr weg-laufen, auch nicht mit waghalsigen Begriffen, dieagitatorisch dagegengesetzt werden –: In einem Altervon neun oder zehn Jahren zu entscheiden, welche wei-terführende Schule ein Mensch besuchen kann – das istzu früh, das ist falsch; das muss korrigiert werden.
Wir haben in Deutschland festzustellen, dass75 Prozent der Kinder aus Akademikerfamilien eineUniversität besuchen, dass es aber bei Arbeiterfamilienoder solchen mit den untersten Einkommen nur20 Prozent sind. Das ist nicht in Ordnung. Darauf gibt eskeine schnelle Antwort. Anfangen müssen wir bei denKindern selbst. Wir müssen die Eltern ansprechen; wirmüssen die Schulen ansprechen, aber wir müssen auchdie Kinder ansprechen. Deshalb sage ich im Hinblick aufden von mir angesprochenen Sachverhalt, aber auch imHinblick auf den Sachverhalt der Migration:
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Franz MünteferingWir müssen uns in Deutschland darauf verständigen, ei-nen Sprachtest für die Vier- bis Fünfjährigen einzufüh-ren. Kinder, deren Sprachkompetenz deutliche Mängelaufweist, müssen einen obligatorischen Sprachkurs be-suchen, sodass sie die Möglichkeit erhalten, in derSchule zu bestehen. So praktisch und einfach ist das zuregeln, aber es kostet auch Geld.
Dass manches in diesem Bereich in Deutschland imArgen liegt, ist wahr, aber nicht Schuld des Bundes.
Es ist nicht Ihre und nicht unsere Schuld. Da FrauMerkel soeben betont hat, in der Föderalismuskommis-sion müsse klar sein, dass sich der Bund nicht in dasSchulwesen einmischen dürfe, möchte ich noch einmalklarstellen, dass das niemand von uns gefordert hat. Ichweiß nicht, wer Sie darüber informiert hat, ich möchte eshier nur noch einmal klarstellen. Wir kennen diese Ein-stellung und respektieren sie. Die Verantwortung für dieSchulen liegt bei den Ländern.Hochmut ist an dieser Stelle jedoch nicht nötig; denndas, was in den letzten 20 Jahren von der KMK geleistetworden ist, ist so gut offensichtlich auch wieder nichtgewesen; denn sonst hätte es Weltspitze zutage geför-dert.
Das muss man unter Freunden aus Bund und Ländernauch sagen dürfen.
Sie klagen über Löcher im Haushalt und verhinderngleichzeitig den Abbau von Steuervergünstigungen.Das ist eine Geschichte, die Sie offensichtlich völlig ver-drängen. Im März oder April des letzten Jahres gab esdie Möglichkeit, im Bundesrat zu stehen. Wenn diejeni-gen, die im Bundesrat in der Mehrheit sind – hier sindsie in der Opposition –, mitgestimmt hätten, hätten dieKommunen 4,4 Milliarden Euro, die Länder 8 bis 9 Mil-liarden Euro mehr gehabt und auch der Bund stünde indieser Legislaturperiode besser da.
Die Spitze der Heuchelei ist, wenn CDU-Bürgermeis-ter oder -Ministerpräsidenten durchs Land marschierenund sich darüber beschweren, dass sie kein Geld haben,aber dann, wenn es bei der Abstimmung darauf an-kommt, kneifen. Das geht nicht und das lassen wir Ihnenauch nicht durchgehen.
Sie sprechen über den Schuldenstand. Herr Merz hatgestern damit begonnen und Frau Merkel hat es heutefortgesetzt. Damit Sie wissen, wie es zu diesem Standkam, möchte ich ganz nüchtern die Zahlen nennen: ImJahr 1982 lag die Verschuldung pro Kopf bei2 750 Euro. In den 16 Jahren Helmut Kohl kamen11 220 Euro pro Kopf dazu. Das macht 68 Prozent desheutigen Schuldenstands aus. Bei uns sind noch einmal2 530 Euro hinzugekommen. Während Ihrer Regie-rungszeit – ich sage es noch einmal – wuchs die Ver-schuldung um 11 220 Euro. Das zu dem Thema, wie vielSchulden in jedem Kinderwagen oder jedem Kinderbett-chen liegen. Sie haben uns weiß Gott nichts vorzurech-nen. Erinnern Sie sich einmal daran, was Sie in der Re-gierungszeit von Helmut Kohl aufgehäuft haben.
Bei Hartz IV waren Sie halbherzig dabei: hinter ver-schlossenen Türen knallhart, beim leichtesten Gegen-wind aber butterweich. Herr Milbradt hat seine Quittungdafür schon bekommen. Er hat die Mehrheit verlorenund im Sächsischen Landtag Schwierigkeiten gehabt,gewählt zu werden. Auch der Generalrevisor Rüttgers inNordrhein-Westfalen sackt mittlerweile durch. Sein Vor-sprung ist hin.Dies ist überhaupt ein interessantes Thema. Im Fe-bruar wird in Schleswig-Holstein und im Mai in Nord-rhein-Westfalen gewählt. Heide Simonis und PeerSteinbrück haben gut aufgeholt. Sicher geglaubte Wahl-siege der CDU geraten ins Wanken.
Es stellt sich heraus: Rot-Grün ist eben doch das Beste,was es zurzeit als Koalition in Deutschland gibt.
Die Entscheidungen sind offen. Wir können es schaffen.Es macht wieder Spaß. Für einen Wahlsieg von HeideSimonis nehme ich sogar in Kauf, dass auch in den kom-menden Jahren hier in der ersten Reihe Herr Austermannsitzt.
Ich möchte zu Hartz IV zurückkommen. Es ist interes-sant zu sehen, wie unterschiedlich die Einführung an-läuft. Wenn man sich beispielsweise in Lübeck in Schles-wig-Holstein umsieht und mit den Verantwortlichen derArbeitsgemeinschaft spricht, weiß man, dass sie funktio-nieren wird. Rund 80 Prozent der Anträge sind bereitseingegangen, die meisten auch schon bearbeitet. MitteDezember soll die Vorbereitungsphase abgeschlossensein. Dass es so gut läuft, ist auch darauf zurückzuführen,dass sich die Ministerpräsidentin persönlich darum küm-mert und dafür sorgt, dass es vorangeht.
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Franz MünteferingAus anderen Regionen, beispielsweise aus Hessen,hört man anderes. Ich kann nur davor warnen, durchschleppende Einführung zu versuchen, das ganze Sys-tem infrage zu stellen. Das geht auf Kosten der Men-schen.Wundern würde eine solche Taktik der HessischenLandesregierung allerdings nicht; denn vergleichbar ver-hält sie sich auch beim Projekt der Ganztagsschulen. DieBehauptung von Herrn Koch, dass es nichts nütze, fürdie Ganztagsschulen für die Dauer von vier Jahren je-weils 1 Milliarde Euro pro Jahr zur Verfügung zu stellen,und dass diese Maßnahme zu nichts außer zu Cafeteria-programmen führe, steht in erheblichen Widerspruch zuden Erfahrungen, die in anderen Ländern gemacht wur-den.
Wenn Ministerpräsidenten von CDU und CSU, die derKoalition bei diesem Thema keinen Erfolg wünschen,versuchen, dieses Projekt schlechtzureden, dann ist dasgegenüber den Menschen in ihrem eigenen Land nicht inOrdnung.Diese seltsame Art und Weise, mit der Innenpolitikumzugehen, hat sich auch bei den Beratungen des Haus-haltes, über den wir im Augenblick sprechen, gezeigt.Ich will nur ein paar Ihrer unglaublichsten Änderungs-vorschläge vortragen: Für die Sozialhilfe wollen Sie imnächsten Jahr 1 Milliarde Euro weniger zur Verfügungstellen.
– Das ist Quatsch; das ist richtig.
Diese Kürzung hätte natürlich Konsequenzen für dieje-nigen, für die dieses Geld eingeplant war. Sie wollen,dass die Mittel für die Bundesagentur für Arbeit um1 Milliarde Euro gekürzt werden.
Das passt zu dem, was ich eben angesprochen habe. Siewollen ihr das Geld wegnehmen, das sie braucht, um dievernünftige Umsetzung von Hartz IV gewährleisten zukönnen. An dieser Stelle wollen Sie also 1 MilliardeEuro streichen; so ist das.
Besonders peinlich ist: Sie wollen die Mittel für die Pro-gramme gegen Rechtsextremismus um 5 MillionenEuro kürzen.
Sie haben sich geweigert zuzustimmen, diese Mittel beiihrer bisherigen Höhe zu belassen.Vor diesem Hintergrund habe ich mir die Haushalteder letzten Jahre angesehen und festgestellt, dass dieCDU/CSU-Fraktion im Jahre 2003 die Mittel für dieProgramme gegen Rechtsextremismus und die damit zu-sammenhängenden Probleme um 20 Millionen Eurokürzen wollte. Deshalb sage ich Ihnen: Wenn Sie überdie Verwerfungen in diesem Lande sprechen und sagen,worum man sich kümmern muss, dann sollten Sie andieser Stelle ganz vorsichtig sein. In diesem Bereich pas-siert nämlich Folgendes: Hier engagieren sich junge wieältere Leute in kleinen und größeren Organisationen. Siehaben nur relativ wenig Geld zur Verfügung. Sie machenden Menschen Mut, die von Rechten bzw. – um es kon-kret zu sagen – von Neonazis verfolgt sind. Das ist einesehr ehrenwerte Sache, die wir würdigen sollten, statt dieMittel für diesen Bereich zu kürzen.
Einer Ihrer Vorschläge ist, alle Steinkohlezechen inDeutschland sofort stillzulegen.
Hier sollen 1,6 Milliarden Euro gestrichen werden. Wersich ein bisschen mit den Zusammenhängen in diesemBereich auskennt, der weiß: Wenn man die Vereinbarungbricht und kein Geld mehr zahlt, dann ist das zu Ende.
Wenn Sie, Herr Austermann und Herr Westerwelle, andieser Stelle 1,6 Milliarden Euro streichen, dann bedeu-tet das, dass alle Steinkohlezechen, die es in unseremLand gibt, im nächsten Jahr stillgelegt werden müssen.Das ist unverantwortlich und widerspricht allen Verein-barungen, Herr Austermann.
Der interessanteste Kürzungsvorschlag der FDP ist,die Zuschüsse zur gesetzlichen Krankenversicherungum 1 Milliarde Euro zu kürzen.
Das sagt die Fraktion, die immer so viel über Lohnne-benkosten redet. 1 Milliarde Euro weniger für die ge-setzliche Krankenversicherung bedeutet, dass die Lohn-nebenkosten steigen bzw. weniger gesenkt werdenkönnen. Etwas anderes kann das nicht sein.
Logisch und konsequent finde ich das alles nicht. Siewollen nur zeigen, dass Sie etwas anders als wir machenwollen.Weil all das mit der Frage zu tun hat, wer eigentlichfür dieses Land kämpft und sorgt, sprechen Sie gerne
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Franz Münteferingvon Patriotismus. Sie versuchen dabei, das Landschlechtzureden und klein zu machen. Frau Merkel, Ih-nen fehlt die Souveränität, auch als Opposition unseremLand zu dienen.
Ihnen fehlen Augenmaß und Verantwortung. Deshalbsage ich: Wer Patriot ist, der sorgt dafür, dass Sie diesesLand nicht regieren.
Die Legende von der Kopfpauschale zeigt Ihre Unfä-higkeit, ein vernünftiges Ziel zu beschreiben und denWeg dahin zu markieren. Das Problem, das Sie haben,ist: Sie glauben, je rigoroser eine Reform ist, desto bes-ser ist sie. Dem ist aber nicht so. Reformen sind keinSelbstzweck. Sie dienen einem Ziel. Dieses Ziel mussman beschreiben. Wenn man dieses Ziel nicht klar vorAugen hat, kann man die Reformen, die man durchführt,nicht auf dieses Ziel ausrichten.
Das ist Ihr Problem.An dieser Stelle sind wir entschieden und sagen ganzklar: Wir werden unser Sozialwesen stärker als bishermit einem vernünftigen Mix von Sozialversicherungs-systemen bisheriger Art, Steuern und Zuzahlungen zuorganisieren haben.
Aber der Kern bleibt auf jeden Fall solidarisch finan-ziert. Denn trotz allem, was man sich sonst vorstellenkann, ist eines ganz sicher: Die beste Sicherung der exis-tenziellen Risiken des Lebens besteht darin, dass Men-schen für Menschen, Generationen für Generationen,Gesunde für Kranke und Junge für Alte eintreten. Das istder Grundgedanke unserer Sozialsysteme. Das wollenwir auch in Zukunft so halten.
Sie reden von Prinzipien, halten sich aber nicht an sie.Das gilt auch für den Bereich der Demokratie. Hier wen-den Sie sich zum Beispiel gegen die Möglichkeiten, diedie Einführung von Plebisziten und Referenden bietenwürde. CDU und CSU tun dies übrigens unterschiedlichstark. Die FDP sieht das Gott sei Dank anders. Ich hoffe,dass wir darüber in einem vernünftigen Ton sprechenkönnen. Aber Sie wenden sich auch gegen das, was De-mokratie in unserer Wirtschaft ausmacht: Mitbestim-mung und Betriebsverfassung, Kündigungsschutz. Siesagen: Kleinigkeit, es macht doch nichts, wenn der Kün-digungsschutz erst für Betriebe ab 20 Mitarbeitern gilt.Das hieße aber, in 90 Prozent aller Betriebe gäbe esüberhaupt keinen Kündigungsschutz mehr. Das wäre dasErgebnis dessen, was Sie fordern – mit den Konsequen-zen für den Arbeitsmarkt, die Sie kennen.Die Mitbestimmung ist ein Teil der Kultur unseresLandes, sie hat uns allen genutzt. Deshalb werden wir sienicht aufgeben. Das gilt für die Betriebsverfassung ingleicher Weise und auch für die Tarifautonomie. Wirwissen, dass Betriebe erfolgreich sein müssen, dass sieschwarze Zahlen schreiben müssen, aber wir wissenauch, dass die Menschen in den Betrieben – die Gewerk-schafter, die Betriebsräte, die Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer – bereit und willens sind und tausendmalbewiesen haben, dass sie nicht die fünfte Kolonne imBetrieb sind, sondern dass sie mithelfen, dass der Betriebeinen guten und erfolgreichen Weg einschlagen kann.Dass wir Mitbestimmung haben, tut unserer Wirtschaftgut und nicht umgekehrt.
Ein paar Worte zu der Diskussion der letzten Tageüber Fragen der Migration in diesem Lande; sie ist inerheblichem Maße von Herrn Stoiber und anderen aus-gelöst worden. Frau Sager hat dazu einiges gesagt. Ichwill das ausdrücklich unterstreichen und mich dafür be-danken; auch für das, was der Bundeskanzler dazu ge-sagt hat. Heute lese ich, dass 65 Prozent der Menschenbei uns im Lande sagen, dass Ausländer und Deutsche inihrer Gegend ein normales, nachbarschaftliches Verhält-nis pflegten. 22 Prozent sagen, es gibt ein sehr gutes Ver-hältnis zueinander. Deshalb sage ich: Wir müssen inDeutschland aufpassen, dass wir nicht leichtfertig eineDebatte beginnen und sich ausweiten lassen, die so nichtgeführt werden sollte. Alles in allem ist das Zusammen-leben zwischen Deutschen und Nichtdeutschen in Ord-nung.
Das hat etwas damit zu tun, dass viele bereit sind, sicheinzubringen und sich gemäß unserem Grundgesetz zuverhalten. Da das Wort so oft auf die Kultur des Landeskommt, soll noch einmal an das Grundgesetz erinnertwerden. Darin steht das, was die gemeinsame Basis füruns alle in diesem Land sein kann:Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zuachten und zu schützen ist Verpflichtung aller staat-lichen Gewalt.Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unver-letzlichen und unveräußerlichen Menschenrechtenals Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft,des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.…Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seinerPersönlichkeit, soweit er nicht die Rechte andererverletzt und nicht gegen die verfassungsmäßigeOrdnung oder das Sittengesetz verstößt.…Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.…
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Franz MünteferingNiemand darf wegen seines Geschlechtes, seinerAbstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seinerHeimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner reli-giösen oder politischen Anschauungen benachtei-ligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegenseiner Behinderung benachteiligt werden.Wenn wir uns fragen, was die Grundlage dafür ist,wie wir gemeinsam in diesem Land leben wollen – die,die einen deutschen Pass haben, und die, die einen ande-ren Pass haben –, dann ist es dieses.
Wir leben in diesem Land und auch in diesem Hausmit sehr unterschiedlichen eigenen Erfahrungen, wasReligion angeht. Wie in der gesamten Republik gibt esauch hier Christen, Agnostiker und Atheisten. Viele vonuns wissen gar nicht, wie der andere an dieser Stelleletztlich denkt. Das ist auch nicht schlimm,
weil die Politik, die Gesellschaft und der Staat nicht dieAufgabe haben, die letzten Sinnfragen des Lebens zu lö-sen. Das ist die Sache jedes Einzelnen. Die gemeinsameBasis, die durch dieses Grundgesetz gelegt wurde, kannuns alle miteinander tragen. Das muss auch für diejeni-gen gelten, die mit einem anderen Ausweis hier bei unsim Lande leben.Ich glaube, dass wir hier nicht mutlos sein dürfen. Wirselbst haben in unserem Land über viele Jahre, Jahrzehnteund Jahrhunderte hinweg eine Erfahrung gemacht, diewir nicht beiseite schieben dürfen. Leute meiner Alters-klasse sind noch in eine katholische oder – zwei Straßenweiter – evangelische Grundschule gegangen.
In der politischen Landschaft dieses Landes wurde da-rüber gestritten, ob Katholiken und Evangelen zusam-men in eine Schule gehen können. Danach wurde da-rüber gestritten, ob Jungen und Mädchen gemeinsam ineine Schule gehen können. Das alles geschah währendmeines Lebens und wir feixen jetzt herum, wenn Men-schen, die aus anderen Kulturen kommen, heute nochsolche Vorstellungen haben und sich erst an das gewöh-nen müssen, was wir längst gelernt haben. Warum habenwir nicht den Mut, die große Idee der Freiheit und dessozialen Fortschritts, die mit diesem Grundgesetz undmit dieser Republik verbunden ist, auch ihnen nahe zubringen? Ich sage euch: Das werden wir miteinanderdoch schaffen.
Weshalb sind Sie an dieser Stelle so defensiv?Abschließend bitte ich darum, sich gegenseitig ernstzu nehmen und Menschen nicht zu demütigen. Dasscheint mir beim Umgang mit den Menschen anderenGlaubens, anderer Religion und anderer Herkunft dasWichtigste zu sein.
Manchmal ist das bei uns nicht so. Wir begegnen ihnenund sagen ihnen etwas mit der Geste eines Besserwis-sers. Ich weiß, dass dies leicht geschieht. Selbst das, wasich eben gesagt habe, strahlte aus, dass wir Recht habenund dass sie sich unserem Grundgesetz unterordnen sol-len; das ist so und das meine ich auch so. Deshalb ist eswichtig, dass man dies in einer Art und Weise tut, durchdie die Menschen nicht gedemütigt werden. Das ist mirganz wichtig. Manchmal klingt das aber durch.Wir müssen auch aufpassen, dass sich diese Debatteum die Integration nicht auf unselige Weise mit Terro-rismus und Extremismus vermischt.
Das sind zwei verschiedene Dinge. Die Integration unddie Entwicklung dieses Landes mit 3,3 Millionen musli-misch geprägten Menschen sind etwas anderes als dieUnterstützung des Extremismus und des Terrorismus indieser Welt. Das dürfen wir nicht miteinander vermi-schen.Ich glaube, dass wir die Debatte, die im Augenblickgeführt wird, nutzen können, um daraus etwas Gutes zumachen. Ich bin mir sicher, dass wir das können, wennwir uns darüber bewusst sind, dass wir nicht unfehlbarsind – weiß Gott nicht – und dass dieses Land mit die-sem Grundgesetz und aufgrund der Praxis, in der wirmiteinander leben, eine Grundlage dafür hat, das zuschaffen. Wir werden die, die hinzukommen, davonüberzeugen, dass dieses Grundgesetz und die Grund-werte unserer Politik auch für sie den Weg in eine ge-meinsame gute Zukunft zeigen.In diesem Sinne vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hermann Otto
Solms für die FDP-Fraktion, dem ich im Namen des
ganzen Hauses zu seinem heutigen Geburtstag herzlich
gratulieren möchte.
Leider hat ihm seine Fraktion nur eine so schäbig kurze
Redezeit eingeräumt, dass sie gerade zum Dank für die
Glückwünsche reicht.
Ich setze Ihr Einverständnis damit voraus, dass der Prä-
sident die angemeldete Redezeit noch liberaler interpre-
tiert als seine eigene Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichbedanke mich bei Ihnen für die Glückwünsche. – Die
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Dr. Hermann Otto Solmskurze Redezeit zwingt mich dazu, mich auf Wesentlicheszu konzentrieren. Das will ich auch tun.Herr Müntefering hat durchaus Recht: Unsere Auf-gabe als Politiker, aber auch die der Bundesregierung istes, alles dafür zu tun, dass die Lebensverhältnisse derMenschen in Deutschland verbessert werden und sieneue Lebenschancen bekommen. Wo drückt sich dasbesser aus als in der Arbeitslosen- und Beschäftigungs-statistik? Da muss ich Ihnen nun Folgendes vorhalten:Im Oktober 1998 waren es 3,893 Millionen Arbeitslose.Im Oktober dieses Jahres waren es 4,2 Millionen Ar-beitslose. Eine Verbesserung ist dort beim besten Willennicht festzustellen. Es ist immer gut, sich an die Faktenzu halten.
Eine leichte Verbesserung gibt es ausschließlich bei dengeringfügig Beschäftigten oder den in Ich-AGs Beschäf-tigten,
von denen wir wissen, dass sie aus dem Wettbewerbweitgehend wieder ausscheiden werden. Es gibt alsokeine nachhaltige Verbesserung.Ich habe den Reden des Herrn Bundeskanzler und desBundesfinanzministers sehr aufmerksam zugehört undhabe überhaupt keine neuen strategischen Vorschläge er-kennen können.Die Schlacht um die Agenda 2010 hat die rot-grüneTruppe so erschöpft, dass sie jetzt für anderthalb Jahre indie Reha geschickt werden muss. Es soll nichts mehr ge-schehen – das habe ich aus den Reden herausgehört.
Dabei hat Rot-Grün einige vernünftige Ansätze gehabt– darauf will ich noch einmal hinweisen –, aber durcheine schlechte Ausführung den Ansatz von vornhereinzunichte gemacht.Der erste Ansatz, Herr Bundesfinanzminister, warIhre Steuerreform. Sie war halbherzig und ist auf halbemWege stecken geblieben, von Vereinfachung konntekeine Rede sein. Aber sie hatte auch vernünftige An-sätze. Warum hat sie keine ökonomische Wirkung er-zielt? Durch Steuererhöhungen an anderer Stelle unddurch Erhöhung der Beiträge für die sozialen Siche-rungssysteme haben Sie den Effekt wieder zunichte ge-macht.Die Bürger und Unternehmen wurden nicht entlastet.Deswegen ist es kein Wunder, dass wir im vierten Jahr inFolge einen Rückgang der Investitionstätigkeit inDeutschland verspüren. Das hat zur Steigerung der Ar-beitslosigkeit beigetragen.
Wir, die FDP, legen einen konkret ausformuliertenVorschlag für eine Steuerreform vor, der zu einer drama-tischen Vereinfachung des Steuerrechtes führen würdeund in der Lage wäre, das Vertrauen von Sparern und In-vestoren in Deutschland zurückzugewinnen. Daraufkommt es an. Das muss angegangen werden; denn wennwir nicht zu Entlastungen kommen, dann wird es keinenInvestitionsprozess, keine neuen Arbeitsplätze und auchnicht mehr Steuer- und Beitragszahler geben. Das heißt,dass dann die Haushalte und die sozialen Kassen in nochgrößere Not geraten werden.
Der zweite richtige Ansatz der Regierung war, derRentenversicherung eine kapitalgedeckte private Alters-vorsorge zur Seite zu stellen, Stichwort: Riester-Rente.Wir, die FDP, haben damals Walter Riester bei seinemVorhaben klar unterstützt. Warum ist die Riester-Renteein Flop geworden?
Sie haben überreguliert, bürokratisiert und bestimmteKriterien eingezogen – ich nenne hier beispielsweise dasVerbot der Vererbbarkeit –, sodass die Bürger dieRiester-Rente nicht in der notwendigen Weise angenom-men haben.
Das Schlimme dabei ist, dass Sie ein gutes Vorhaben da-durch, dass Sie es schlecht ausgeführt haben, in den Au-gen der Öffentlichkeit diskreditiert haben. Das Ergebnisist, dass ein neuer Anlauf schwerlich auf Akzeptanz sto-ßen wird.Der dritte Ansatz ist Hartz IV. Es ist richtig, arbeits-fähige Menschen ohne Beschäftigung wieder in Lohnund Brot bringen zu wollen und dabei auch Druck auszu-üben. Aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Dieandere Seite der Medaille ist, dass Sie den Arbeitsmarktzwingend öffnen und liberalisieren müssen, damit dieMenschen überhaupt eine Chance auf Beschäftigung be-kommen.
Genau das haben Sie nicht getan, weil die Gewerk-schaftsmitglieder in Ihren eigenen Reihen das verhinderthaben. Es ist zwingend notwendig, den Arbeitsmarkt zuöffnen, das Kündigungsschutzrecht zu liberalisieren, dieTarifautonomie durch betriebliche Bündnisse für Arbeitzu ergänzen und ähnliche Maßnahmen zu ergreifen, da-mit diejenigen, die jetzt weniger Geld erhalten, dieChance haben, durch eigene Arbeit ihr Einkommen zuverbessern. All das ist nicht geschehen. Auch dazu hatdie FDP ganz konkrete, vernünftige und sofort umsetz-bare Vorschläge gemacht. Das wird alles in das Wahlpro-gramm einfließen, wenn Sie nicht bereit sind, freiwilligden Weg der Erkenntnis zu gehen.
Schließlich noch ein Wort zur Gesundheitspolitik: MitIhrer Bürgerversicherung haben Sie sich völlig
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Dr. Hermann Otto Solmsverrannt. Das einzig Gute daran ist der Name. Sie redenschon gar nicht mehr über die Inhalte,
weil Sie wissen, dass das so nichts wird. Alle Berech-nungen gehen daneben. Das Kanzleramt dämpft die Er-wartungen und sagt, man solle nicht weiter darüber re-den. Deswegen wird vor der Wahl auch nichts passieren.Die CDU hat sich leider Gottes auch verrannt. Wir sindbereit, beiden auf die Sprünge zu helfen, um zu einemrichtigen, wettbewerbsorientierten und bürgerorientier-ten Gesundheitssystem, selbstverständlich mit sozialerFlankierung, zu kommen.
Das wird uns auch hier aus der Not heraushelfen und ins-besondere die Gesundheitskosten von den Arbeitskostentrennen, damit die Arbeit in Deutschland wieder wettbe-werbsfähig wird.
Wenn wir insgesamt im Ergebnis nicht zu mehr Wettbe-werbsfähigkeit der Arbeit in Deutschland kommen, dannsind alle anderen Versuche vergebens.
Deswegen müssen wir uns darauf konzentrieren. Dazumachen wir konkrete Vorschläge, die auch angegriffenwerden können; aber das ist wenigstens eine ehrliche Po-litik. Wir sind bereit, von heute ab sofort mit jedem zu-sammenzuarbeiten, der uns hilft, so schnell wie möglichVerbesserungen zu erzielen.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun der Kollege Gerhard Rübenkönig,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Wir beraten heute Morgen den Haushalt des Bun-deskanzlers. Seit jeher ist es parlamentarischer Brauch,diese Beratung zur Generalaussprache über die Politikder Bundesregierung zu nutzen. Das ist auch gut so,doch leider habe ich heute Morgen von den Rednern derOpposition keine inhaltliche Auseinandersetzung gehört.Das tut mir sehr Leid.
Ich hätte Ihnen jetzt in meinem Redebeitrag inhaltlichviel besser antworten können.Der Haushalt des Bundeskanzlers ist ein reiner Sach-und Personalhaushalt. Die Ausgaben sind mit1,5 Milliarden Euro veranschlagt. Ich möchte zweiPunkte nennen, die, wie ich denke, erwähnenswert sind.Der eine ist das Gästehaus in Meseberg, das der Bun-desregierung im nächsten Jahr zur Verfügung steht. Ichmöchte an dieser Stelle der Messerschmitt-Stiftung fürdie großzügige Bereitstellung des komplett sanierten Ge-bäudes danken. Ich sage das deshalb, weil ich von derOpposition teilweise andere Verlautbarungen gehörthabe.Der zweite Punkt ist: Wir haben die Stiftung Wissen-schaft und Politik wiederum mit demselben Betrag wieim vorigen Jahr versehen können. Wenn ich die vielenBriefe, die ich bekommen habe, betrachte, dann kann ichfeststellen, dass das der Wunsch des gesamten Hauseswar.Ich möchte an dieser Stelle den Mitarbeiterinnen undMitarbeitern und den Kolleginnen und Kollegen ganzherzlich für die faire und sachliche Auseinandersetzungüber diesen Haushalt danken. Ich glaube, das ist ein gu-ter Brauch.Vor einem Jahr habe ich an dieser Stelle – ich habe dieRede extra noch einmal nachgelesen – zur Agenda 2010einige Bemerkungen gemacht und gesagt:Meine Damen und Herren, durch die Umsetzungder Agenda 2010 kann das Jahr 2003 in die Ge-schichte eingehen, und zwar als das Jahr, in dem esPolitik und Gesellschaft gelungen ist, sich ein Stückweit vom Besitzstands- und Anspruchsdenken zulösen und sich auf wirklich Wichtiges zu konzen-trieren.Heute stelle ich fest: Genau das ist geschehen.Zwar haben Sie, meine Damen und Herren von derOpposition, in den Verhandlungen des Vermittlungsaus-schusses im Dezember 2003 einige Vorhaben, darunterstärkere Steuersenkungen bereits zum 1. Januar 2004,verhindert und sich gegen einen weiter gehenden Sub-ventionsabbau – das ist gestern und heute in den Debat-ten bereits angesprochen worden – gestemmt. Aber wirhaben die Phase der konjunkturellen Stagnation der letz-ten Jahre überwunden und die Weichen für eine bessereZukunft des Landes gestellt.Aus diesem Grunde können wir heute selbstbewusstfeststellen: Wenn das Jahr 2003 das Jahr der Entschei-dung und der Einleitung der Erneuerungsbewegung ge-wesen ist, so ist das Jahr 2004 das erste Reformjahr mitkonkreten Ergebnissen. Es ist ein Jahr, in dem zum ers-ten Mal seit vier Jahren das Wirtschaftswachstum diePrognosen vom Jahresbeginn übertroffen hat und durchdie Gesundheitsreform die Krankenkassenbeiträge sin-ken. Bislang haben in diesem Jahr 28 Millionen Versi-cherte von Beitragssenkungen profitiert.
Es ist ein Jahr, in dem wir die wichtigsten Zukunfts-aufgaben angepackt haben: Familie, Bildung und Inno-vation. Es ist auch ein Jahr, in dem sich die ersten Anzei-chen eines mentalen Wandels, eines neuen Optimismusandeuten.
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Gerhard RübenkönigZwar waren einige Reformen teilweise unpopulär; derKanzler hat davon gesprochen. Insbesondere die Ar-beitsmarktreformen haben zunächst Sorge und Verunsi-cherung ausgelöst. Aber die Wahlergebnisse des Som-mers – vor allem auch in Ostdeutschland – haben einesdeutlich gemacht: Wenn Politiker mit klarer Überzeu-gung für den Reformprozess einstehen, dann können siedie Wählerinnen und Wähler überzeugen. Ich denke,dies hat Matthias Platzeck in Brandenburg eindrucksvollbewiesen.
Das sollte Ihnen, Kolleginnen und Kollegen von derOpposition, eigentlich eine Lehre sein. Denn wie esHerrn Milbradt in Sachsen ergangen ist, ist eindrucks-voll aufgezeigt worden.
Deutschland ist auf Erneuerungs- und Wachstums-kurs. Wer allerdings den Leitantrag des CSU-Partei-vorstands für den Parteitag am vergangenen Wochen-ende liest, gewinnt den Eindruck, Deutschland fallezurück, das Wirtschaftswachstum lasse weiter nach undDeutschland verliere im internationalen Wettbewerb.Diese Schwarzmalerei wird durch die heutigen Beiträge,aber auch durch öffentlichkeitswirksame Stimmen ausWirtschaft und Wissenschaft unterstützt, die gerne insonntäglichen Talkshows Deutschlands Abstieg in teil-weise düsteren Farben an die Wand malen. Hier sind dieMiesmacher vom Dienst am Werk, die unserem Landund den hier lebenden Menschen nichts mehr zutrauen.
In Wahrheit sieht es aber in Deutschland ganz andersaus.
Die letzten internationalen Untersuchungen zeigen unsdoch deutlich die Stärken des Standorts Deutschland.
Lassen Sie mich einige Faktoren nennen.Erstens. Der Wettbewerbsbericht 2004/2005 desWorld Economic Forum vom Oktober 2004 zeigt, dassDeutschland unter den größeren europäischen Industrie-nationen mit Abstand den ersten Platz belegt. Der Fi-nanzminister hat in seiner gestrigen Rede deutlich daraufhingewiesen. Er hat feststellen können, dass demselbenBericht zufolge die deutschen Unternehmen weltweit amleistungsfähigsten sind.Deutschland war 2003 Exportweltmeister und hatgute Chancen, auch 2004 diesen Titel zu verteidigen.
Die Zuwächse beim Export von über 15 Prozent im Jah-resvergleich trotz des starken Euros, höherer Ölpreiseund harter Konkurrenz auf dem Weltmarkt unterstrei-chen die Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft.Schließlich deutet sich auf dem Arbeitsmarkt eineWende für 2005 an. Die Zahl der Erwerbstätigen hat indiesem Jahr bereits stetig um insgesamt 110 000 zuge-nommen. Insbesondere die Zahl von Minijobs und Ich-AGs ist stark angestiegen. Im Verlauf des nächsten Jah-res ist ein – wenn auch langsamer – Rückgang der Ar-beitslosigkeit möglich. Auch der Sachverständigenrathat in seinem Jahresgutachten unsere Arbeitsmarktrefor-men ausdrücklich gewürdigt. Angesichts dieser Lagesollten wir mit Stolz auf die Leistungen der Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer und der Unternehmen inDeutschland schauen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland hat – dasbestätigt auch das Sachverständigengutachten – die Sta-gnationsphase überwunden. Dazu haben die Strukturre-formen und die Steuersenkungen einen wichtigen Teilbeigetragen. Mit der dritten Stufe der Steuerreform wer-den private Haushalte und Unternehmen ab dem1. Januar 2005 um weitere rund 7 Milliarden Euro ent-lastet. Dabei kommt ein großer Teil der Entlastung denBeziehern niedriger Einkommen zugute. Der Ein-gangssteuersatz sinkt auf den historisch niedrigsten Wertvon 15 Prozent; bei Ihnen waren es noch 25,9 Prozent.
Ich nenne als Beispiel eine Familie mit zwei Kindern miteinem Bruttoeinkommen von bis zu 37 000 Euro, die inZukunft keine Steuern mehr zu zahlen hat. So viel Ent-lastung hat es vorher nie gegeben.
Durch Ihre unverantwortliche Blockadehaltung imBundesrat
konnten wir in der Konsolidierungspolitik noch keinevergleichbaren Erfolge erzielen.
Als Beispiel nenne ich die Eigenheimzulage, über diewir gestern und heute mehrfach gesprochen haben.Diese 15 Milliarden Euro wollen wir für Forschung undBildung und für eine bessere Betreuung von Kinderneinsetzen.
Gerade vor dem Hintergrund der Zahlen aus der neuenPISA-Studie müsste sich auch bei Ihnen, meine
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Gerhard RübenkönigKolleginnen und Kollegen von der Opposition, die Er-kenntnis durchsetzen, dass wir höhere Bildungsausgabenbrauchen und eine zukunftsgerechtere Politik machenmüssen.
Wir werden unseren Erneuerungskurs für Deutsch-land fortsetzen. Die Kombination aus langfristig wirken-den Strukturreformen und Wachstumsimpulsen hat sichbewährt. Wir wollen und werden unser Land durch In-vestitionen in Bildung, Betreuung und Familienpolitiksowie in Forschung und Innovation neu aufstellen.Weil der Kollege Kalb einige Bemerkungen zumTransrapid gemacht hat, gestatten Sie auch mir zumSchluss ein paar Ausführungen dazu. Innovation ist ge-nau das richtige Stichwort für dieses Projekt. Wie Siealle wissen, liegt mir und natürlich auch vielen anderendieser Transrapid, ein hoch innovatives Verkehrssystemmade in Germany, sehr am Herzen. Deshalb freut esmich, dass die Koalition im Haushalt 75 Millionen Eurofür die Jahre 2005 und 2006 für das Programm zur Wei-terentwicklung des Transrapid zur Verfügung gestellthat. Das ist ein Signal dafür, dass diese Bundesregierungund diese Koalition auch zum Transrapid in Bayern ste-hen.
Das war doch ein schöner Schlusssatz, Herr Kollege.
Sie sind schon sehr weit über die Zeit.
Ich komme zum Schluss. – Der Einzelplan 04 ist, wie
der gesamte Bundeshaushalt 2005, solide und verfas-
sungskonform aufgestellt. Daher bitte ich Sie, Kollegin-
nen und Kollegen, um Ihre Zustimmung.
Danke schön.
Ich habe aus einem früheren Debattenverlauf noch ei-
nen Ordnungsruf für den Kollegen Tauss zu erteilen, der
den Kollegen Glos einen Heuchler genannt hat. Das ist
bei uns nicht üblich.
Als nächsten Debattenredner rufe ich den Abgeordne-
ten Peter Harry Carstensen auf.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Ich habe nichts anderes erwartet: Die Regierungergeht sich in Selbstlob und Allgemeinplätzen. DieseRegierung macht schöne Worte und geht an der Wirk-lichkeit im Lande vorbei.
Lieber Herr Müntefering,
ich frage mich: Wer von den Menschen draußen – ichdenke an die 4,2 Millionen Arbeitslosen, an die Rentnerund an die mittelständischen Unternehmer, die Angst umihre Betriebe haben – war bei Ihrer Rede oder bei derRede des Bundeskanzlers eigentlich angesprochen?
Sie sind an den Wirklichkeiten im Lande vorbeigegan-gen. Die Regierung ist nicht in der Lage, das Land zu er-neuern. Das haben Sie heute wieder gezeigt.
Sie ruhen sich aus und machen Pause. Manche sagen,das sei gut so, weil Sie dann keine Fehler mehr machenkönnten. Ich bin aber der Meinung, dass eine Regierungkeine Pause machen darf, sondern dass sie die Lagedraußen im Land zu analysieren und entsprechend zuhandeln hat. Aber der Bundeskanzler redet stattdessenüber die Weltwirtschaft, die Ölpreise und die Euro-Dol-lar-Relation. Der Bundesfinanzminister stellt hier alsAbgeordneter wirre Zwischenfragen. Sie haben keinenBlick mehr für die konkreten Auswirkungen Ihrer Politikim Lande und insbesondere in den Regionen, in denendie Menschen leben und ganz persönliche Sorgen haben.
Ich glaube, die Menschen draußen sind viel klüger,als Sie denken.
– Herr Müntefering, einige, nicht alle. – Wenn die Ent-wicklung der Weltwirtschaft und insbesondere der Öl-preis ständig als Begründung dafür angeführt werden,dass es in unserer Wirtschaft nicht läuft und dass wirSchwierigkeiten mit den Finanzen haben, dann fragensich die Menschen draußen doch, warum es in Großbri-tannien, in Irland, in Dänemark und Schweden besserläuft als bei uns, obwohl dort die gleichen außenwirt-schaftlichen Bedingungen gelten. Als Antwort bleibt nurübrig, dass Sie schuld sind. Sie vergessen, dass Arbeits-plätze noch immer vor Ort geschaffen werden. DieStandortentscheidungen der Unternehmen sind konkretund spezifisch. Angesichts dessen hilft es auch nichts,darauf zu verweisen, dass sich bei den makroökonomi-schen Wirtschaftsdaten der Durchschnitt an dieser oderjener Kommastelle verbessert hat. Wir brauchen keineKommastellenpolitik, sondern eine Politik mit Boden-haftung.
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Peter H. Carstensen
Es ist eine haushälterische Tugend, sich auch überEinsparvorschläge Gedanken zu machen.
– Tatsächlich? Warum haben Sie dann bei Ihrem Besuchin Lübeck die Genossen gewarnt und ihnen gesagt:„Bleibt ganz ruhig und macht euch keine Sorgen, wennsich die Arbeitslosenzahlen Anfang nächstes Jahres inSchleswig-Holstein dramatisch verschlechtern wer-den!“? Herr Müntefering, ich hätte mir gewünscht, dassSie bei Ihrem Besuch in Lübeck mit der Betriebsführungvon Dräger Medical darüber gesprochen hätten, ob esnicht möglich ist, Einvernehmen mit den Betriebsrätenund der IG Metall zu erzielen, damit dort die Arbeits-plätze erhalten werden können.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten
Müntefering?
Nein.Herr Müntefering, Sie sollten zur Kenntnis nehmen– das gilt auch für andere Bundesländer –, dass Schles-wig-Holstein jeden Tag einen Verlust an sozialversiche-rungspflichtigen Arbeitsplätzen zu beklagen hat.
Angesichts dessen sollten Sie nicht behaupten, dass esmehr Arbeitsplätze im Land gibt. Tatsächlich verlierenwir in der Bundesrepublik Deutschland jede Woche10 000 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze. Siesollten auch erwähnen, dass dadurch aus BeitragszahlernLeistungsempfänger werden. Aber Sie vergessen dasständig und gehen an den Problemen der Menschen vor-bei.
– In Schleswig-Holstein soll es besser laufen als an-derswo? Ich glaube, ich bin im falschen Film!
Schleswig-Holstein ist das Bundesland mit der höchs-ten Verschuldung, das Land, das jeden Tag60 Arbeitsplätze verliert, das Land, aus dem Betriebe ab-wandern,
das Land, in dessen Landtag darüber debattiert wird, obman 2 Millionen Euro mehr für Kindergärten ausgebenkann, dabei aber gar nicht mehr darüber geredet wird,dass jedes Jahr 950 Millionen Euro an Zinsen gezahltwerden müssen. Das ist also ein Spitzenland für Sie? Ichglaube, ich bin im Wald!
Die Sparkommissarin, die Sie dorthin gesetzt haben, hatalles andere gemacht, aber nicht gespart.
– Ich rede nicht schlecht über mein Land Schleswig-Hol-stein. Ich liebe mein Land. Jeder weiß, wie sehr ich michmit diesem Land verbunden fühle. Aber ich rede darü-ber, dass die Schleswig-Holsteiner genauso wenig einesolche schlechte Politik verdient haben wie alle anderenDeutschen Ihre Politik, Herr Müntefering.
In Schleswig-Holstein gibt es kaum Globalplayer, beidenen man sagen kann, sie seien von der Weltwirtschaftabhängig und die Entwicklung der Weltkonjunktur be-reite den Unternehmen dort Probleme.
Unternehmen wie Dräger Medical in Lübeck sind einklassisches Beispiel für Vorgänge, die sich überall in derRepublik abspielen. Dieses medizintechnische Unter-nehmen, ein Hightechunternehmen auf dem Wachstums-markt Medizintechnik mit weltweit über 5 000 Mitarbei-tern und Produktionsstätten auf drei Kontinenten, siehtsich aus Kostengründen und um den Betrieb zu sichernganz konkret vor die Frage der Produktionsverlagerungnach Tschechien gestellt; denn dort sind die Lohnkostenüber 17 Prozent niedriger. Obwohl die Firmenleitung dieArbeitsplätze in Lübeck halten möchte, sorgt die IG-Me-tall-Zentrale bisher dafür, dass kein betriebliches Bünd-nis für Arbeit zustande kommt.
Allen schönen Sprüchen von den Exporterfolgen derdeutschen Wirtschaft zum Trotz sind auf ähnliche Weiseviele Arbeitsplätze in Deutschland akut gefährdet. Wasist aus der Ankündigung des Kanzlers von März 2003,betriebliche Bündnisse durchzusetzen, geworden?
Angesichts dessen kann ich es nicht akzeptieren, dasssich die Bundesregierung anhaltend weigert, im Arbeits-recht die notwendigen tarifpolitischen Freiräume für diekleinen Einheiten vor Ort zu schaffen.
Sie machen sich zu politischen Mittätern beim Heraus-drängen von Tausenden von Arbeitsplätzen aus unseremLand.Der Bundeskanzler hat zu Recht angemahnt – Sie ha-ben das eben aufgegriffen –, das Land nicht schlechtzu-reden.
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Peter H. Carstensen
Aber es gilt auch, sich nicht in Betriebs- und Betriebslei-terbeschimpfungen zu ergehen, lieber Herr Müntefering.
– Warum soll ich nicht „lieber“ zu Ihnen sagen? Sind Siekein „lieber“? Dass das so ist, haben mir auch schon an-dere gesagt.
Ich nehme das „lieber“ mit großem Bedauern zurück.Es ist für mich ein unerhörter Vorgang, dass die Mi-nisterpräsidentin von Schleswig-Holstein – vielleicht,weil sie falsch informiert war –
auf dem Parteitag der SPD die Firmenleitung beschimpfthat – ich zitiere –:Das ist nicht mehr die ehrbare KaufmannsfamilieDräger. Das ist der dahinterstehende GroßkonzernSiemens, der seine Arme wie eine Krake ausstreckt.Dagegen müssen wir uns wehren.Mit Blick auf die Forderungen an die Belegschaft hat siesogar von einer „Schreckensliste aus der kältesten Fol-terkammer des Kapitalismus“ gesprochen. Das ist dieverräterische Sprache der ehemaligen Stamokapvertre-ter.Herr Müntefering – ich sage nicht „lieber“ –, Sie wä-ren gut beraten gewesen, sich dort einmal mit dem Be-triebsrat zusammenzusetzen und bei der Familie Drägerein Wort der Entschuldigung für Ihre Ministerpräsiden-tin zu finden.
In Lübeck haben Sie sicherlich gemerkt, dassDeutschland ein Transitland im Herzen Europas ist, sowie Schleswig-Holstein ein echtes Transitland zwischenSkandinavien, dem Ostseeraum und Mitteleuropa ist.Durch die meisten Bundesländer laufen übrigens mehreuropäische Verkehrsachsen als durch jeden durch-schnittlichen EU-Mitgliedstaat. Unser Wohlstand undunsere Zukunft hängen im Wesentlichen von Mobilitätund wirtschaftlichem Austausch ab.
– Ich sage Ihnen: Sie sind nicht lange genug da gewesen;sonst wären Sie noch zwei Stunden in Mecklenburg-Vor-pommern auf der Autobahn gefahren, um anschließendanderthalb Stunden in Lübeck im Stau zu stehen.
So ist unsere Situation dort. Rot-Grün verwirklicht dortnicht die notwendigen Verkehrsinfrastrukturprojekte.Hier in Berlin stellt sich einer der Grünen hin und zeigtnicht klammheimlich, sondern unheimlich Freude, dassdie A 20 nicht gebaut wird. Gleichzeitig stellen Sie sichhierhin und sagen: Wir wollen uns auf die Osterweite-rung und auf die wirtschaftliche Entwicklung vorberei-ten.Die rot-grüne Verschuldungspolitik raubt den Men-schen die Freiheit. Sie verkleinert Stück für Stück denGestaltungsspielraum unserer Generation und zerstörtden Handlungsspielraum der zukünftigen Generation. Esist nicht gerecht und es hat nichts mit einer nachhaltigenPolitik zu tun, dass unsere Nachkommen die Suppe aus-löffeln müssen, die Rot-Grün ihnen einbrockt.Der Präsident des Bundesrechnungshofs, DieterEngels – er ist heute schon ein paar Mal zitiert worden –,bringt es auf den Punkt, wenn er zur Haushaltssituationdes Bundes sagt:Die Schieflage ist so extrem, dass es einem denAtem verschlägt.
Ich glaube nicht, dass Sie Dieter Engels vorwerfen kön-nen, dieses Land schlechtreden zu wollen; er redet viel-mehr über die Situation, die Sie hier verschuldet haben.
Der Bundeskanzler hat 1998 zu dem damals eintre-tenden Aufschwung gesagt:Der Aufschwung, den wir jetzt haben, ist mein Auf-schwung.Jetzt haben wir mehr als 4,2 Millionen Arbeitslose.
Wir haben Stagnation in der Wirtschaft. Wir haben eineRekordverschuldung. Wenn das damals sein Auf-schwung gewesen ist, dann ist auch die jetzige Krise aufdem Arbeitsmarkt, in der Wirtschaft und im Haushaltseine Krise.
Dieser Bundeskanzler trägt die Verantwortung. Rot-Grün kann es nicht, weder in Berlin noch in Kiel. Des-wegen gehören sie abgewählt, meine Damen und Her-ren.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Pau.
– Meine Damen und Herren, hören Sie bitte der nächsten
Rednerin zu. – Bitte.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die PDS wird den Haushaltsplan 2005 ablehnen.
Der Grund ist plausibel: Wir halten die hinter diesemHaushaltsplan stehende Politik für falsch.
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Petra Pau
Die Bundesregierung gibt vor, mit ihrer Agenda 2010werde der Sozialstaat gestärkt. Das Gegenteil ist aber derFall. Der Staat und das Soziale werden geschwächt. DieBundesregierung gibt vor, mit ihrer Außenpolitik werdeder Friede gesichert. Tatsächlich werden aber Kriege ge-führt und wird aufgerüstet.
Die Bundesregierung gibt vor, mit ihrer Innenpolitikwerde Sicherheit geschaffen. Tatsächlich werden aberBürgerrechte und Demokratie blockiert.
Diese rot-grüne Generallinie haben wir stets kritisiert.Wir als linke Opposition werden das auch weiterhin tun.
Die Opposition zur Rechten bietet allerdings eben-falls nichts Besseres. Der aktuelle Gesundheitskompro-miss von CDU und CSU belegt es. Er ist ein Bazillusund kein Heilmittel. Er belastet die Beladenen. Er passtweder auf den Bierdeckel von Friedrich Merz noch aufden Rezeptblock von Horst Seehofer. Aber auch das seinicht vergessen: Ihre Partei, Frau Merkel, hat die De-batte über weltweite Präventionskriege in den Bundesratgetragen. Hätten Sie das Sagen gehabt, wäre Deutsch-land unmittelbar an dem völkerrechtswidrigen Krieg derUSA im Irak beteiligt.Inzwischen haben sich CDU und CSU auch noch demFeldzug der FDP gegen die Gewerkschaften angeschlos-sen.
Ihr Angebot für das 21. Jahrhundert heißt: mehr arbeitenfür weniger Lohn oder, wie es in einem alten Arbeiter-lied heißt, „Unmündig nennt man uns und Knechte“. –Deshalb wiederhole ich: Die Konzepte von CDU undCSU wären nur der schwarze Punkt auf dem rot-grünen i. Davor mögen uns das Herz und auch der Ver-stand bewahren.
Zurück zum Haushalt der Bundesregierung. DerHaushalt basiert auf einer Steuerreform, die den Sozial-staat verarmen lässt, die Wohlhabenden belohnt und dieArmen immer mehr belastet. Sie verkaufen das Ganzeals sozial gerecht und wundern sich, wenn immer weni-ger das glauben – zu Recht; denn die rot-grüne Steuerre-form ist weder sozial noch gerecht. Sie setzt die Umver-teilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nachoben fort.Wir wollen mit dem Steuerkonzept der PDS das Ge-genteil. Auch deshalb haben wir beantragt, den Spitzen-steuersatz nicht zu senken und die Vermögensteuer wie-der zu erheben.
Ein zentraler Punkt Ihrer Agenda 2010 heißtHartz IV. Sie verkaufen es als Reform gegen die Mas-senarbeitslosigkeit – zu Unrecht. Ich habe Ihnen hierschon mehrfach vorgerechnet, warum Hartz IV schlechtfür den Westen und Gift für den Osten ist. Meine Argu-mente wurden auch in dieser Haushaltsdebatte nicht wi-derlegt. Die Zahlen zeigen: Die Arbeitslosigkeit steigtund steigt und steigt. Deshalb wiederhole ich hier meineGeneralkritik: Die Agenda 2010 ist ein Gegenentwurf zueinem modernen demokratischen Sozialstaat. Deshalblehnen wir als PDS im Bundestag sie auch so grundsätz-lich ab.
Die PDS bleibt dabei, Solidarität und Gerechtigkeitsind unverzichtbare und übersichtliche Werte, da ja gilt:Die Reichen helfen den Armen, die Gesunden helfen denKranken, Junge helfen den Alten usw. Genau diese Prin-zipien aber werden mit der Agenda 2010 aufgegeben.Viele Grünen bejubeln die Abkehr vom solidarischenSozialstaat sogar noch als Zukunftsmodell, manche so-gar so laut, dass sie das Grummeln in den Arbeits- undSozialämtern gar nicht mehr hören können. Ich gebe zu,liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, als ge-lernte DDR-Bürgerin habe ich in den letzten Jahren ver-sucht, von den Grünen zu lernen. Aber es bringt nichtsmehr.
Zu viele Grüne haben sich inzwischen von Bürgerrech-ten, von der Solidarität und übrigens auch von der Frie-denspflicht verabschiedet. Denn auch das gehört zumThema: Verlierer des Hartz-IV-Gesetzes und der Ar-beitslosengeld-II-Regelungen sind vor allem Frauen.Nach über 100 Jahren Frauenbewegung und Emanzipa-tionsstreben hat ausgerechnet Rot-Grün ein Stoppzei-chen für die Frauen gesetzt. So wird durch Sie Ge-schichte entsorgt.Solidarität als Zukunftsmodell ist auch vor einem an-deren Hintergrund wichtig. Ich vernehme mit großerSorge, wie CDU und CSU die unsägliche Debatte übereine vermeintliche deutsche Leitkultur wieder aufwär-men. Die Diskussion dreht sich um ein gefährlichesPhantom: Sie spaltet, sie macht arm – intellektuell undkulturell – und sie macht blind. Auf der Kölner Kundge-bung am Wochenende für ein friedliches Miteinandermeinte Bayerns Innenminister, er wolle nirgendwo in derBundesrepublik zweisprachige Ortsschilder sehen; daswiderspreche seinem deutschen Leitbild. Liebe Bayernunter unseren Kollegen, es gibt zweisprachige Ortsschil-der: in Sachsen und in Brandenburg, überall dort, wovon alters her Sorbinnen und Sorben mit ihrer slawi-schen Sprache und Kultur leben.
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Petra PauWeil das so bleiben soll, appelliere ich an Rot-Grün:Nehmen Sie die Kürzungen für die Stiftung für das sor-bische Volk zurück! Sie gefährden sonst eine Kultur, diegenauso zum multikulturellen Deutschland gehört wiedas Boßeln in Bremen oder der Kirchgang im Allgäu.
– Nein, nur wenn Sie unserem Antrag zustimmen, wirddas Förderniveau des vergangenen Jahres wieder er-reicht. Ansonsten stimmt meine Aussage, dass es Kür-zungen geben wird, Frau Kollegin Merkel.
Noch ganz wenige Bemerkungen zum Verteidi-gungshaushalt: Schon der Name ist falsch; denn es gehtum vieles, aber nicht mehr um Landesverteidigung. Esgeht um die Fähigkeit zu weltweiten Interventionen, diedas Grundgesetz bekanntlich nicht vorsieht. Wir habeneinmal hochgerechnet: Würde die Bundesregierung nurauf die Umrüstung der Bundeswehr zur Interventionsar-mee verzichten, dann würden allein im nächsten Jahrcirca 600 Millionen Euro für Besseres frei, zum Beispielfür Entwicklungshilfe. Auch dazu liegt ein Antrag vonuns vor. Sie müssen nur noch zustimmen.
Abschließend: Die Koalitionsfraktionen und die Re-gierung haben erneut versucht, ihren Haushalt und ihrePolitik als alternativlos schönzureden. Das ist falsch undlangweilig. Es gibt immer Alternativen. Die PDS setztdem Ganzen eine gerechte, eine soziale, eine moderneund vor allen Dingen eine demokratische „Agenda so-zial“ entgegen.
Der Weg ist ja auch lang.
Das Wort hat jetzt die Staatsministerin Christina
Weiss für die Bundesregierung.
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Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! „Das Richtige“, sagt Bert Brecht, „braucht denkleinsten Fingerzeig noch!“ Das ist ein Satz, der denKern unserer heutigen Debatte durchaus trifft; denn dieFrage, ob Kultur als Staatsziel im Grundgesetz verankertwerden sollte, hat in den letzten Monaten, Wochen undTagen an Aktualität gewonnen. Die Enquete-Kommis-sion „Kultur in Deutschland“ dieses Hauses hat dazu ei-nen sehr würdigen Vorschlag unterbreitet. Auch ich binsehr dafür, dass wir der Kultur in unserem Grundgesetzden ihr gebührenden Platz einräumen, und zwar in einemArt. 20 b mit dem Satz: Der Staat schützt und fördert dieKultur. So hat es die Enquete-Kommission vorgeschla-gen.
Eine Kulturnation wie Deutschland kann und darf es sichnicht leisten, diesen essenziellen Bereich in ihrer Verfas-sung unerwähnt zu lassen. Vielleicht darf ich Sie daranerinnern: Sie teilen diese Meinung.Kultur ist eine der lebensnotwendigen Grundlagenunseres Zusammenlebens. Wir können nicht einerseitsden Werteverlust in unserer Gesellschaft beklagen undandererseits die Kultur mit ihrer prägenden Kraft imGrundgesetz unerwähnt lassen.
Natürlich darf man sich von einer Staatszielbestimmungnicht zu viel versprechen. Niemand könnte daraus ablei-ten, dass der Gesetzgeber oder die Exekutive ganz be-stimmte Maßnahmen der Förderung treffen muss. Den-noch würde die Aufnahme in das Grundgesetz dasSelbstverständnis unseres Landes berühren. Es wäre einFingerzeig auf das Richtige, ohne das das Notwendigegar nicht bestehen kann.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, welcheidentitätsstiftende Kraft von der Kultur ausgeht, konntenwir nach dem schrecklichen Brand in der Anna-Amalia-Bibliothek beobachten. Eine gewaltige Welleder Hilfsbereitschaft erreichte Weimar und brachte fast4 Millionen Euro an Spenden zusammen.
Hunderte von freiwilligen Helfern haben während undnach dem Brand Bücher gerettet, Trümmer beseitigt undmit ihrem Einsatz bewiesen, wie sehr sich die Menschenmit ihrem kulturellen Erbe identifizieren. Das klassischeWeimar ist das Herz und der schicksalsschwere Knoten-punkt unserer Kulturnation, die Anna-Amalia-Biblio-thek ist ihr Gedächtnis. Mit dem Brand wurde nicht nurder Rokokosaal beschädigt, sondern auch ein geistigerSchaden angerichtet. Es gilt, diese Wunden so schnellwie möglich zu heilen und finanzielle Anstrengungenzum Wiederaufbau und zur Wiederbeschaffung der Bü-cher zu unternehmen. Ich freue mich, dass auch hierüberein umfassender Konsens besteht – in Thüringen, abervor allem hier in diesem Hause.
Ich möchte das zum Anlass nehmen, allen Fraktionendieses Parlaments für die konstruktive und kritische Zu-sammenarbeit bei den Haushaltsberatungen zu danken.Es ist uns gemeinsam gelungen, wirklich wichtigeAkzente zu setzen. Die Anna-Amalia-Bibliothek ist da-für nur das beste Beispiel.
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Staatsministerin Dr. Christina Weiss
Der Schutz des Weltkulturerbes in Weimar verlangtjedoch noch mehr. Es muss sichergestellt werden, dasssich ein solcher Verlust von Kulturgütern nicht wieder-holt. Die Schutzmaßnahmen in allen Objekten der Stif-tung können mit den zusätzlichen Bundesmitteln über-prüft und dort, wo es notwendig ist, verbessert werden.Auch hierfür Dank!
Der Schutz herausragender Kulturgüter, allen voran der-jenigen des Weltkulturerbes, wozu auch die Bibliothekgehört, wird in den nächsten Jahren unser vordringlich-stes politisches Ziel bleiben.
Die Berliner Akademie der Künste steht im nächstenJahr vor einem strukturellen Neubeginn. Die Akademieist eine Institution, die das geistige Leben Deutschlandsmitgeprägt hat. Sie blickt auf eine große, eine 300-jäh-rige Tradition zurück. Als unabhängige Künstlersozietätist sie nach den vergleichbaren Institutionen in Rom undParis die älteste Einrichtung ihrer Art in Europa. Siespiegelt in ihrer Geschichte und in ihrer Gegenwart dieEntwicklung und den Reichtum von Kunst und Kultur inDeutschland. Sie ist damit nicht nur ein Kernelement derHauptstadtkultur, sondern entfaltet ihren Glanz, ihreWirkung weit über die regionalen und nationalen Gren-zen hinaus.
In der finanziellen und rechtlichen Verantwortung desBundes – im völligen Einvernehmen übrigens mit demSenat von Berlin und der Regierung des Landes Bran-denburg – wird die Akademie als autonome Kulturein-richtung auch künftig die Sache der Künste fördern undin die Gesellschaft vermitteln.Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir noch einWort zur Medienpolitik. Deutschlands bester Botschafterim Ausland kann in seiner Arbeit ab 1. Januar 2005 aufein neues Fundament bauen. Mit dem geänderten Deut-sche-Welle-Gesetz hat der Auslandssender eines der mo-dernsten Mediengesetze Europas.
Dieses Gesetz gibt Auskunft über das Selbstbewusstsein,mit dem wir in der Bundesrepublik Deutschland Rund-funk organisieren, und über die Leitideen, die wir damitverfolgen. Die Deutsche Welle hat den Auftrag,Deutschland als „europäisch gewachsene Kulturnationsowie als freiheitlich verfassten demokratischen Rechts-staat“ darzustellen. Auch das ist ein kulturpolitischesNovum von Tragweite: Ein Bundesgesetz, das einstim-mig verabschiedet wurde, definiert unser Land als Kul-turnation.
Am 9. Mai 2005 jährt sich zum 200. Mal der TodestagFriedrich Schillers. An jenem Tag werden wir auf derBrücke zwischen Frankfurt/Oder und Slubice dasdeutsch-polnische Kulturjahr eröffnen. Ganz im Geistedes Dichters wollen wir uns dann – populär und mo-dern – an die Ideale erinnern, die jede Kulturnation aufdiesem Kontinent auszeichnen: Freiheit, Toleranz undMenschlichkeit.
Das sind vor allem auch kulturelle Errungenschaften. Esist Kultur. Das ist die Basis unseres Zusammenlebensund die Grundlage unserer Demokratie. Deshalb gehörtdie Kultur ins Grundgesetz.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Bernhard Kaster.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Unser Bundeshaushalt weist die denkbar simpelsteForm der Buchführung auf, nämlich eine einfache Ge-genüberstellung von Einnahmen und Ausgaben. Ichmöchte an dieser Stelle noch nicht darauf eingehen, obdieses Haushaltsrecht noch zeitgemäß ist – das ist esnach meiner Auffassung nicht –, aber es ist bemerkens-wert, dass diese Bundesregierung mit dieser simplenBuchführung offensichtlich schon überfordert ist.
Seit der letzten Wahl hat es Rot-Grün nicht ein einzi-ges Mal geschafft, mit dem Haushalt wenigstens denGrundrahmen unserer Verfassung oder unserer gemein-samen europäischen Währung einzuhalten. Im Wahljahr2002 lief der Haushalt mit neuen Schulden in Höhe von32 Milliarden Euro aus dem Ruder. Das waren 50 Pro-zent mehr als eingeplant. Prädikat: verfassungswidrig.2003 machte Finanzminister Hans Eichel fast39 Milliarden Euro neue Schulden, mehr als doppelt soviel wie ursprünglich geplant, also plus 100 Prozent.Prädikat: verfassungswidrig.
In diesem Jahr braucht unser Bundesschuldenminister43,5 Milliarden Euro neue Schulden. Das sind wieder50 Prozent mehr als geplant. Prädikat: verfassungswid-rig.
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Bernhard KasterIn gerade einmal drei Jahren ergaben sich114,2 Milliarden Euro neue Schulden, obwohl es einenmassiven Verkauf von Tafelsilber gegeben hat.Für den Haushalt 2005 stellt sich daher die berech-tigte Frage: Ist eine solche unverantwortliche Schulden-politik zulasten künftiger Generationen überhaupt nochsteigerungsfähig? Ein Blick in den Haushalt offenbartdie erschreckende Antwort: Ja. Die Hilflosigkeit dieserRegierung macht sogar vor den Einnahmen der Zukunft,dem endgültig letzten Tafelsilber, nicht mehr Halt.Mit dem Haushalt 2005 hat es diese Bundesregierunggeschafft, die Gesamtverschuldung des Bundes über dieZeitspanne von 50 Jahren in nur vier Jahren um20 Prozent zu erhöhen. Aus der Devise „Ist der Ruf erstruiniert, handle frei und ungeniert“ wird unter dem jetzi-gen Bundeskanzler für 2005 das Motto: „Nach uns dieSintflut!“
Was hier passiert, wie unser Land in den Ruin gewirt-schaftet wird, wie die Zukunft der Kinder leichtfertigund egoistisch schon heute verfrühstückt wird,
all dies hat eine Dimension erreicht, angesichts derer dieFrage gestellt werden muss: Wo bleibt in dieser Situationdas Eingreifen, die Richtlinienkompetenz und die Ver-antwortung des Bundeskanzlers? Ein Bundeskanzler, derden Eid geleistet hat, das Grundgesetz zu wahren undSchaden vom deutschen Volke zu wenden,
ist zum Handeln verpflichtet, wenn Verfassungsbruchzur Routine wird – ich erinnere an Art. 115 des Grund-gesetzes – und wenn Art. 110 des Grundgesetzes, alsoWahrheit, Klarheit und Vollständigkeit des Haushalts,mit Tricksen, Tarnen und Täuschen umgangen wird.
Muss der Bundeskanzler nicht auch handeln und Scha-den vom deutschen Volke abwenden, wenn beispiels-weise alle Skrupel fallen und den Kindern nicht nurgigantische Schuldenberge hinterlassen werden, sondernzwischenzeitlich schon die Perversion um sich greift undnun schon heute die Einnahmen der Zukunft, das heißtdie Einnahmen der jungen Generation verhökert wer-den? Mit dem unwirtschaftlichen Verkauf der Auslands-forderungen gegenüber Russland oder dem unseriösenPostpensionsdeal wird jetzt vor lauter Hilflosigkeit derschnelle Euro gemacht. Die Rechnung kommt später.Beim Postdeal warten ab 2007 Milliarden zusätzlicherKosten auf uns. Der Bundesrechnungshof hat dies ge-stern in einem Brief sehr deutlich kritisiert.Statt aber im eigenen Etat ein Zeichen des Sparens zusetzen, geschieht beim Bundespresseamt im Kanzleretatgenau das Gegenteil. Beim Thema Öffentlichkeits-arbeit sind seit langem alle Dämme gebrochen. Wir allefreuen uns auf die Fußballweltmeisterschaft 2006. Aberes ist eine Frechheit, dass die Weltmeisterschaft schonim Haushalt 2005 als Begründung für überhöhte PR-Mittel der Bundesregierung herhalten muss.
Ich bin daher sehr froh, dass der Bundesrechnungshofin der letzten Woche aus seiner objektiven Sichtweiseeindeutige Feststellungen getroffen hat:
zum Beispiel, wie diese Bundesregierung trotz leererKassen 250 Millionen Euro für Werbung und Öffentlich-keitsarbeit verprasst. Eine viertel Milliarde nur für An-zeigen und Plakate! Das ist nichts anderes als eine steu-erfinanzierte Parteiwerbung und Imagepflege.
Wir haben schon vor Monaten darauf aufmerksam ge-macht, dass vor allem die von den Grünen geführtenMinisterien rechtswidrig Millionenbeträge im Haushaltfür ihre Imagewerbung geradezu veruntreuen.
Wie stellt jetzt der Bundesrechnungshof unter Punkt 15seiner „Bemerkungen 2004“ fest – ich zitiere –:Das Bundesministerium für Verbraucherschutz,Ernährung und Landwirtschaft … hat aus demBundesprogramm Ökologischer Landbau … inweitem Umfang Maßnahmen der Öffentlichkeits-arbeit finanziert, um die politische Grundausrich-tung der Bundesregierung darzustellen. Damit hates gegen Haushaltsrecht verstoßen.So der Bundesrechnungshof.
Ich darf hinzufügen: bewusst verstoßen. Denn seitmehr als einem Jahr kritisieren wir an dieser Stelle im-mer wieder die PR-Ausgaben, ohne dass es Ihnen in denSinn kommt, hier irgendwelche Veränderungen vorzu-nehmen.
Allein bei der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierungmit den vielen im Haushalt versteckten Millionenbeträ-gen ließen sich jedes Jahr 200 Millionen Euro einsparen.Lassen Sie mich das noch sagen: Angesichts des Auf-tritts des Finanzministers eben und seiner Einlassungzum Thema Öffentlichkeitsarbeit muss man die Fragestellen: Kennt sich noch nicht einmal der Finanzministermit den Etats der Kollegen von den Grünen aus, in denendie Millionen für die Öffentlichkeitsarbeit in verschiede-nen Posten versteckt sind?
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Bernhard KasterVor dieser Bundesregierung müssen wir uns und müs-sen sich vor allen Dingen nachfolgende Generationenbesser schützen. Dafür müssen wir uns ernsthaft Gedan-ken über engere Grenzen auch in unserer Verfassung ma-chen. Der Investitionsbegriff im Grundgesetz muss alseingeengter Nettobegriff definiert werden.
Der Sinn des Art. 115 Grundgesetz wird doch geradezuauf den Kopf gestellt, wenn die Regierung die Begren-zung der Schuldenaufnahme in Höhe der Investitioneneinfach durch Vermögensverkauf und beispielsweisedurch den unseriösen Postpensionsdeal umgehen kann.
Wir brauchen beim Investitionsbegriff zwingend eineAnrechnung von Vermögensveräußerungen – das machtja auch Sinn –, sprich: von Privatisierungserlösen. Keinbetriebswirtschaftlich denkender Mensch versteht, dassbeispielsweise Abschreibungen vollkommen außen vorbleiben. Wir brauchen betriebswirtschaftliche Elementeim Haushaltsrecht. Viele Kommunen und Bundesländermachen es vor. Ich verweise auf das Bundesland Hessen,
das auf dem Weg ist, die Doppik einzuführen.Theo Waigel und die damalige Koalition haben schon1997 bzw. 1998 den Startschuss gegeben, die Kosten-leistungsrechnung und Produkthaushalte einzuführen.Seit dem Regierungswechsel herrscht hier Stillstand.Über die Experimentierphase ist diese Bundesregierungbis heute nicht hinausgekommen. Weder Ziele nochFortschritte sind hier auch nur im Ansatz erkennbar. Dasist aber dringend notwendig. Es wird höchste Zeit, dasskünftige Etats mit erkennbaren Vermögensbilanzen undsichtbarem Werteverzehr – Stichwort nochmals: Ab-schreibungen – sowie transparent dargestellten Zu-kunftsbelastungen, etwa Zinsen oder Versorgungsleis-tungen, beraten werden können. Die simple Form derBuchführung im Haushalt mit der einfachen Gegenüber-stellung von Einnahmen und Ausgaben reicht nicht mehraus.Lassen Sie mich zum Schluss ein Zitat bringen, daswir sehr gern in der Umweltpolitik verwenden. Es lautet:„Wir haben die Erde nur von unseren Kinderngeliehen.“ – Im Interesse der jungen Generation mussder Geist dieses Zitates auch auf unsere StaatsfinanzenAnwendung finden.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Merkel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HerrKaster, ein Erbe hat so seine Folgen. Denn man erbtnicht nur von seinen Vätern und Müttern, sondern auchvon den Großvätern und Großmüttern. Es ist vorhin jaschon hervorragend ausgeführt worden, welches Erbewir in Gestalt von Schulden pro Kopf den Kindern hin-terlassen. Es sind das pro Kopf 11 200 Euro aus derKohlzeit und die 2 531 Euro aus der rot-grünen Zeit.
Beides zusammen macht das Erbe aus. Diese Klarstel-lung trägt sicherlich ein wenig zur Sachlichkeit bei.
Ich komme jetzt zu einem Bereich, bei dem es erheb-lich friedlicher wird. Denn ich habe den Eindruck, fürKultur setzen sich erheblich mehr Personen im Parla-ment ein, als es den Anschein hat.
Vieles in Deutschland wäre farb- und freudloser, gäbe esnicht die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien,Frau Dr. Christina Weiss,
mit ihrem Etat von 950 Millionen Euro. Übrigens ist die-ser Etat, wie der Bildungsetat, im Rahmen der parlamen-tarischen Arbeit etwas aufgestockt worden.
– Richtig, wir haben es an der Stelle, weil Kultur undBildung zusammengehören, Herr Austermann.Als Erstes komme ich zu einer wichtigen Grundlagefür diesen Etat. Über die Austarierung der Zuständigkei-ten zwischen Bund und Ländern wird ja gerade verhan-delt und ich hoffe sehr – ich denke, das ist dringend not-wendig –, dass die Föderalismuskommission dieKulturtätigkeit des Bundes stärkt.
Dieser Haushalt zeigt, dass das weiterhin unabdingbar ist,dass es eine Zuständigkeit des Bundes für die Kulturgibt. Wenn wir uns darüber im Grundsatz einig sind,dann werden wir auch einsehen, dass wir da unbürokrati-sche Regelungen brauchen. Ich unterstütze natürlich,dass Kultur als Staatszielbestimmung im Grundgesetzverankert wird.
Vieles wird mit den 950 Millionen Euro aus dem Kul-turetat bewegt: die Bundeskulturstiftung – 35,7 Mil-lionen Euro – mit vielen lebendigen und anregendenProjekten, der neue Schwerpunkt „Filmförderung“, diegroßen Investitionen wie zum Beispiel auf der Muse-umsinsel, etwa für die Stiftung Preußischer Kulturbesitz– auf sie komme ich gleich noch einmal zu sprechen –,für die Deutsche Welle – 280 Millionen Euro – mit demneuen Standort Bonn und dem TV-Standort Berlin.
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Petra-Evelyne MerkelWichtig sind meiner Fraktion und mir folgende Pro-jekte für 2005. Die Anna-Amalia-Bibliothek ist ebenschon von Frau Dr. Christina Weiss angesprochen wor-den. Als Mitglied des Haushaltsausschusses bin ich sehrfroh, dass wir in diesem Jahr die Gelegenheit hatten, unsdie Anna-Amalia-Bibliothek anzusehen und die großeSammlung und den Rokokosaal auf uns wirken zu las-sen. Es ist wirklich ein unvergleichbarer Schatz, der dortzu finden ist und der jetzt nach dem Brand saniert wer-den muss.
Deswegen bin ich auch sehr dankbar dafür, dassChristina Weiss sehr schnell mit 4 Millionen Euro dieerste finanzielle Not gelindert hat. Ebenso haben dasLand und die vielen Spender, die dazu bereit waren undweiterhin sind, dabei geholfen, dass die Sammlung wei-ter ergänzt werden kann. Ich bin aber ebenso froh da-rüber, dass es uns gelungen ist, im Haushalt für dasJahr 2005 die Sanierungsmittel bereitzustellen, sodassdie Sanierung, die für 2006 geplant war, vorgezogenwerden kann und die Arbeiten zügig weitergehen kön-nen. Das ist wichtig.Wir haben sogar noch 1 Million Euro für die StiftungWeimarer Klassik eingestellt, damit trotz der extremenHaushaltsnotlage weiterhin Brandschutzmaßnahmenvorgenommen werden können.
Denn es kann niemand ein Interesse daran haben, dassuns ein solches Unglück noch einmal passiert. Es han-delt sich um Schätze, die die europäische Kultur ausma-chen. Sie müssen gehütet und bewahrt werden, egal– das sage ich für mich persönlich – wer dafür zuständigist, ob Bund oder Land. Wir müssen gemeinsam dafürsorgen, dass so etwas nicht noch einmal passieren kann.
Unserer Fraktion, aber auch den Grünen ist es wichtiggewesen, dass die Volksgruppe der Sorben noch ein-mal finanziell Luft bekommt, um Strukturveränderungenin ihren Organisationen umsetzen zu können. Gemein-sam mit allen Fraktionen – das zeichnet diesen Etat aus –haben wir den ursprünglichen Betrag von 7,225 Millio-nen Euro um 500 000 Euro aufgestockt; teilweise gegen-finanziert, teilweise werden die Mittel noch fließen.
Wir haben die Summe allerdings gesperrt, HerrKampeter, weil wir wollen, dass uns darüber Bericht er-stattet wird, wie die Strukturveränderungen angepacktwerden.
Im kommenden Jahr wird es historische Gedenktagegeben; sie sind teilweise bereits angesprochen worden.Das Ende des Zweiten Weltkrieges jährt sich zum60. Mal und wird mit Veranstaltungen nicht nur, aberauch in Deutschland begleitet. Im kommenden Jahr wirdauch der 60. Jahrestag der Befreiung der Konzentrati-onslager mit einer zentralen Veranstaltung in der Ge-denkstätte Buchenwald begangen werden. Wir habenneben einem Zuschuss zur Veranstaltung die finanziellenVoraussetzungen dafür geschaffen, dass die Opfer einge-laden werden können. Das sind wir diesen schuldig unddas ist uns wichtig.
– Sie haben Recht, Herr Kampeter, auch das haben wireinvernehmlich getan.Ich möchte an dieser Stelle allen danken, die als Zeit-zeugen ihre schrecklichen persönlichen Erlebnisse imhohen Alter Kindern und Jugendlichen erzählen, mit ih-nen reden und so zur Aufklärung beitragen. Allen mussklar sein, dass sich so schreckliches Leid nicht wieder-holen darf.
Wenn auch Sie die Wahlergebnisse der rechtsradika-len Parteien nicht ruhen lassen, wenn Sie Möglichkeitenhaben, mit Jugendlichen zu arbeiten, ob in Schulen, Ju-gendeinrichtungen oder Vereinen, bitte ich Sie: LadenSie Zeitzeugen ein und eröffnen Sie durch die persönli-che Begegnung, durch authentische Lebensberichte dieChance, dass Jugendliche wachsamer werden. Das istein Beitrag gegen die Rechtsradikalen und Neonazis.Zusammen mit den Programmen „CIVITAS“ und „enti-mon“, deren Mittel wir Ihren Anträgen entsprechendnicht gesenkt,
sondern aufgestockt haben, ist das eine gute Möglich-keit, einen gesellschaftlichen Beitrag zu leisten.
Es geht uns um das richtige Ausgeben von Geld,wenn wir über den Haushalt reden. Darüber wachenviele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Verwaltun-gen, meine Kolleginnen und Kollegen Politiker und derRechnungshof. Ich habe in den Berichterstattergesprä-chen zur Vorbereitung des Haushalts 2005 beantragt,dass wir uns künftig stärker mit der Museumsinsel be-schäftigen und jährlich ein besonderes Berichterstatter-gespräch vor Ort durchführen, und zwar bevor der Rech-nungshof seinen Bericht abliefert.Ich meine allerdings, dass die fiskalische KontrolleAufgabe des Rechnungshofs ist. Er sollte jedoch nichtdie politischen Zielsetzungen formulieren.
Dazu ist die Politik da, dazu sind meine Kolleginnen undKollegen und ich da. Wir werden weiterhin über Ent-scheidungen wie die über eine archäologische Prome-
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Petra-Evelyne Merkelnade oder ein Eingangsgebäude auf der Museumsinsel inBerlin-Mitte verantwortlich diskutieren.Unser Stand bisher: Die archäologische Promenadewird zurzeit nicht gebaut, aber durch notwendige Vor-sorgemaßnahmen innerhalb der Häuser wollen wir unsdie spätere Entscheidung auch nicht verbauen. Ein Ein-gangsgebäude wird notwendig sein. Wie es gestaltetwerden wird, steht noch nicht fest. Dieses gigantischeProjekt – das Juwel vor unserer Tür – lebt von den Mu-seen, die vordringlich saniert werden müssen. Museensind aber auch Lebensraum und dieser muss gestaltetwerden. Ich sage das in vollem Ernst, weil ich die Arbeitdes Rechnungshofs sehr schätze, auch als Mitglied desRechnungsprüfungsausschusses. Die politische Zustän-digkeit liegt bei uns.
Ich möchte jetzt kurz auf einen Punkt eingehen, dermir sehr wichtig ist. Im vergangenen Jahr wurde immerwieder der Vorwurf erhoben, das Geld versickere in denneuen Ländern. Ich habe angeregt, dass wir vier Be-richterstatter für den Kulturbereich uns vor Ort ansehen,was mit den Steuermitteln passiert. Wir haben im Früh-jahr eine kurze Fahrt gemacht: nach Halberstadt, Qued-linburg, Wittenberg, Halle und zum Abschluss in denWörlitzer Park.Wir vier Berichterstatterinnen und Berichterstatter– Frau Hajduk, Herr Kampeter, an den letzten beiden Ta-gen war auch Herr Dr. Rexrodt dabei, der leider kurzdarauf unerwartet verstarb, und ich – haben die hervorra-genden Kulturangebote gesehen, die aus Steuermittelnentstanden und mit der Kraft vieler Menschen aus demBoden gestampft worden sind. Wir haben gespürt, wiewichtig diese Anker sind, um die sich viel Engagement,aber auch der Stolz und die Zuversicht der Menschenranken. Ich bin sicher, wir werden uns auch im kommen-den Jahr über verschiedene Projekte vor Ort informieren.Ich finde, die Bundesregierung hat für den BereichKultur trotz der Zwänge und extremen Nöte einen ver-antwortungsvollen Haushalt vorgelegt.
Wir haben ihn verantwortungsvoll beraten. Ich danke al-len, auch der Opposition, dafür, dass wir die Anträge,mit denen wir Mittel erhöht haben, in breiter Überein-stimmung verabschiedet haben. Ich denke, dass die Kul-turpolitik immer wieder dazu geeignet ist, Brücken zubauen.Schönen Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin gerade darü-
ber informiert worden, dass die Klingelanlage, auch die
optische, in einigen Teilen des Hauses nicht funktioniert.
Deswegen sage ich Ihnen allen: Die namentliche Ab-
stimmung findet in zehn Minuten statt.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Günter Krings.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren Kollegen! Der Herr Bundesfinanzminister undder Herr Bundeskanzler, der noch abwesend ist und bis-her wohl auch noch nicht das Klingelzeichen in Deutsch-land gehört hat, haben zu Beginn ihrer Amtszeit einenAmtseid abgelegt. In diesem Amtseid heißt es zumSchluss, dass sie sich verpflichten, „Gerechtigkeit gegenjedermann“ zu üben.
Hier ist nicht die Stunde, auf die vielen großen undkleinen Ungerechtigkeiten Ihrer Politik hinzuweisen, diedie Wählerinnen und Wähler von heute aktuell betreffen.Ich bin überzeugt, dass nach der Verabschiedung diesesBundeshaushalts für jedermann in diesem Lande endgül-tig klar ist, dass diese Regierung ihren finanzpolitischenOffenbarungseid abgelegt hat. Ich bin mir sicher, dassdie Wählerinnen und Wähler ihre Chance wahrnehmenwerden, Ihnen das bei der nächsten Bundestagswahl zuzeigen, und dass es Ihnen nicht gelingen wird, noch ein-mal, wie Sie es im Jahre 2002 getan haben, Sand in dieAugen der Wählerinnen und Wähler zu streuen.
Während sich die heutigen Wählerinnen und Wählerin diesem Lande an der Wahlurne selbst gegen Ihre Poli-tik zur Wehr setzen können, können dies die jungenMenschen in diesem Lande und die nachfolgenden Ge-nerationen nicht tun. Sie haben keine Chance, heute da-rauf hinzuweisen, dass ihre Zukunftschancen verfrüh-stückt werden. Sie sind die Opfer Ihrer ungerechtenPolitik, können sich dagegen aber nicht wehren.
Was der SPD die Jugend bzw. der Nachwuchs wertist, haben wir in dieser Woche gesehen;
denn die SPD-Bundestagsfraktion hat in dieser Wochedie Wahl ihres Fraktionsvorstandes durchgeführt. Daseinzige Mitglied des engeren Fraktionsvorstandes, dasjünger als 40 Jahre ist, ist aus Ihrem Fraktionsvorstandrausgefallen. Meine lieben Kolleginnen und Kollegenvon der SPD, Sie haben in Ihrer engeren Fraktionsfüh-rung niemanden, der jünger als 40 Jahre ist.Das ist bei Ihren jüngeren Kollegen nicht ohne Kom-mentar geblieben. Ich zitiere die Kollegin KerstinGriese, die hierzu wörtlich im „Tagesspiegel“ von heutemeint: „Das war ein Angriff gegen die junge Genera-tion.“
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Dr. Günter Krings
Leider war das nicht der einzige Angriff, der dieseWoche von Ihrer Seite des Hauses gegen die junge Ge-neration gefahren wurde.
Ein weiterer Angriff erfolgt mit dem Bundeshaushalt 2005.Daher sage ich insbesondere den jüngeren Kolleginnenund Kollegen in Ihrer Fraktion bzw. in den Regierungs-fraktionen, beherzigen Sie das: Lasst euch nicht verar-schen!
Demjenigen, der in den letzten Tagen gelegentlich Wer-bung gehört bzw. gesehen hat, ist dieser Spruch wahr-scheinlich halbwegs bekannt. Wenn Sie die „Tages-schau“ schon abschalten, dann schalten Sie zumindestdie Werbung ein; dann kennen Sie das auch.Meine sehr verehrten Damen und Herren, jungenMenschen erlegt dieser ungebremste Marsch in denVerschuldungsstaat unzumutbare Lasten auf. JedesKind, das in diesem Lande geboren wird, bekommt so-zusagen als Begrüßung des Staates nicht nur eine Ge-burtsurkunde mit auf den Weg, es bekommt bei der Ge-burt gewissermaßen auch ein virtuelles Girokontoangelegt – nur leider mit Schulden von 16 500 Euro.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Hagedorn?
Gerne.
Herr Kollege, da Sie gerade die Pro-Kopf-Verschul-
dung von 16 500 Euro, auch für jedes Baby, das heute in
Deutschland geboren wird, ansprechen, würden Sie be-
stätigen, dass von diesen 16 500 Euro 11 220 Euro in
der Zeit von 1982 bis 1998 entstanden sind
und 2 531 Euro seit 1998?
Wenn Sie das bestätigen – und das können Sie eigentlich
nicht abstreiten, denn das ist eine Tatsache –, würden Sie
mir dann bitte die Frage beantworten, ob ein Subven-
tionsabbau nicht ein geeignetes Mittel wäre, dem entge-
genzuwirken?
Sehr verehrte Kollegin, es ist schön, dass Sie den Muthaben, auch bei dieser Geräuschkulisse vor der nament-lichen Abstimmung noch eine Zwischenfrage zu stellen.Ich beantworte sie Ihnen sehr gerne.
Wenn Sie auch nur im Entferntesten mit den Effektenvon Zins und Zinseszins vertraut sind, dann wissen Sie,dass der Damm in den 70er-Jahren gebrochen war – un-ter den Regierungen Brandt und Schmidt. Damals sinddie Schulden auf das Sechsfache gestiegen.
– Sie können sich offenbar nur noch mit gezwungenemLachen dagegen wehren.Wir haben dann in den 80er-Jahren eine Konsolidie-rungspolitik unter Finanzministern der Union erlebt undwir hatten 1990 die deutsche Einheit. Ich vermisse biszum heutigen Tag Ihre Vorschläge zur Finanzierung die-ser Einheit. Ich frage mich auch, welche deutsche Ein-heit Sie zwischen 1998 und 2004 finanzieren mussten.Womit erklären Sie Ihre Schulden? Ich glaube, dass IhrVergleich etwas albern ist, wenn man die deutsche Ein-heit bedenkt und sieht, dass die Regierungen Brandt undSchmidt in diesem Lande den Marsch in die Schulden-falle begonnen haben,
und dieser ist immer schneller fortgesetzt worden.Aber es bleibt ja gar nicht bei den Staatsschulden von1,4 Billionen Euro, die wir heute haben. Nehmen wir an,dass wir so weitermachen wie heute, dass wir mit einerFinanzpolitik wie der, die dieser Finanzminister zu ver-antworten hat, bis zum Jahre 2025 fortfahren. DiesesJahr werden die meisten von Ihnen noch erleben.
– Nicht in dieser Funktion, aber sie werden es physischerleben. – Dann werden wir Staatsschulden von über7 Billionen Euro haben. Das Defizit der öffentlichenHaushalte wird bei etwa 480 Milliarden Euro liegen –schier unvorstellbare Zahlen.Auch dieser Bundeshaushalt setzt seine Schwerpunktewieder ausschließlich rückwärts gewandt. Wir geben fürdie Alterssicherung in diesem Lande – dabei kommt esgar nicht darauf an, ob es Zuschüsse an die Rentenkassesind oder Pensionszahlungen – etwa 100 Milliarden Euroaus. Wenn wir die Zinsen und Zinseszinsen hinzuneh-men, ist das deutlich über die Hälfte des Bundesetats fürAufgaben zur Bewältigung von vergangenen Ansprü-chen und Lasten. Wir befriedigen Ansprüche von gesternmit Schulden von heute zulasten der Generationen vonmorgen. Das ist eine zutiefst unmoralische und unge-rechte Politik, weil sie generationenungerecht ist.
Aus lauter Scham erlauben wir uns ja gar nicht, daswahre Ausmaß der Schuldenlast für die nachrückendenGenerationen offen zu legen. Die 1,4 Billionen Euro
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Dr. Günter Kringssind ja nur der kleinere Teil der Wahrheit. Wenn wir allesdazuzählen, was an Ansprüchen an die sozialen Siche-rungssysteme täglich neu entsteht, sind wir nach sehrkonservativen Berechnungen bei weiteren Staatsschul-den von mindestens 3,5 Billionen Euro, Schulden, diejeder Einzelne in Deutschland mit abzahlen muss. Dasgibt nach zurückhaltenden Berechnungen summa sum-marum Staatsschulden von 5 Billionen Euro. Nur zurVerdeutlichung: Das ist eine Fünf mit zwölf Nullen,etwa so viele, wie dort gerade auf der Regierungsbank inden ersten beiden Reihen sitzen.
Umgerechnet auf das einzelne neugeborene Kind wärendas dann mindestens 60 000 Euro.Diese Entwicklung wird noch dadurch dramatischer,dass wir ebenfalls seit den 70er-Jahren auch bei derGeburtenrate hinterherhinken. Pro Jahr werden30 Prozent zu wenige Kinder geboren, um unsere Bevöl-kerung demographisch in der Balance halten zu können.Sie stellen sich also vor, dass die immer weniger Wer-denden von morgen die immer größeren Schulden dervielen von heute abzahlen sollen. Wie das funktionierenkann, ist bis heute schleierhaft.
Der Raubbau an den künftigen Generationen gehtdabei von Bundeshaushalt zu Bundeshaushalt immerschamloser vonstatten. Es wird von Jahr zu Jahr schlim-mer. In den vergangenen sechs Jahren haben Sie150 Milliarden Euro neue Schulden gemacht, gleichzei-tig haben Sie etwa 100 Milliarden Euro an Bundesver-mögen veräußert. Um Ihren Haushalt kurzfristig überWasser zu halten, haben Sie keine Hemmungen, die Ver-mögenssubstanz dieses Landes zu zerschlagen. EineKuh kann man entweder melken oder schlachten. Sie ha-ben sich offenbar für das Schlachten entschieden. Siemüssen den Steuerzahlern in diesem Land dann aberauch sagen, dass jeder Euro, der nicht mehr herein-kommt – zum Beispiel als Unternehmensgewinn –, inden nächsten Jahren durch Steuern oder neue Schuldenfinanziert werden muss.Ich nenne nur die Postpensionen. Ihnen reicht esnicht mehr, nur die Aktienanteile zu verkaufen – darüberkönnte man ja reden –, sondern jetzt soll der Bund diePostpensionen indirekt übernehmen. Das bringt einmalBares in den Etat und wird die Steuerzahler in diesemLand jahrzehntelang belasten. Das ist das Gegenteil ei-ner nachhaltigen Politik.Der Finanzminister hatte eine weitere geniale Idee. Erwill 2 Milliarden Euro aus dem ERP-Fonds, den ehe-maligen Mitteln des Marshallplans, der Kreditanstalt fürWiederaufbau zuschieben. Abgesehen davon, dass Siedamit eine wirkliche Gefährdung der einzigen nochfunktionierenden Mittelstandsförderung dieser Bundes-regierung herbeiführen, missachten Sie zugleich vertrag-liche Bindungen mit den USA. Aber auch das hat jaKonsequenz und Methode: Wem schon die Maastricht-Kriterien egal sind, der schert sich auch nicht um völker-rechtliche Verpflichtungen gegenüber den VereinigtenStaaten.
Das Ganze erinnert etwas an die letzten Jahre derDDR. Um sich kurzfristig eben über Wasser zu halten,hat man dort versucht, alles Mögliche auszunutzen undzu verscherbeln. Man hat versucht, die ökonomischenReserven bis an die Belastungsgrenze auszunutzen – nurum über den Winter zu kommen. Man hat nicht darübernachgedacht, ob in zwei, drei Jahren noch etwas übrigbleibt. So, wie in den 80er-Jahren in einem Teil Deutsch-lands Politik betrieben wurde, sieht auch Ihre Politik aus.Es gibt aber einen erheblichen Unterschied zur dama-ligen Situation in der DDR: Anders als vor 20 Jahrensteht jetzt kein Partner im Westen mehr bereit, der unswieder auf die Füße helfen kann. Wir müssen mit eige-ner Wirtschaftskraft aus diesem Sumpf herauskommen.Wir müssen uns anstrengen und die Verschuldungsstruk-turen dieses Landes aufbrechen, wenn wir wieder in einewirtschaftliche Erfolgsspur kommen wollen. Mit diesemBundeshaushalt erreichen Sie das Gegenteil.Die Zeit drängt. Wir haben jetzt das Glück, dass wiruns in einer Niedrigzinsphase befinden. Wenn die Zinsenauf den Weltmärkten um einen einzigen Prozentpunktsteigen, dann haben wir pro Jahr 8 Milliarden Euro mehrSchulden. Ich glaube, es ist deutlich, dass wir hier immertiefer in eine ganz katastrophale Situation hineinschlit-tern.Diese Bundesregierung redet sehr oft und sehr gernevon Nachhaltigkeit. „Nachhaltigkeit“ klingt wunderbar.Es wird von Nachhaltigkeit gesprochen, gehandelt wirdaber nach dem Motto: Nach uns die Sintflut. Herr Bun-deskanzler, Herr Finanzminister, hören Sie im Interesseder künftigen Generationen endlich damit auf, die Staats-verschuldung nur in wohlfeilen Reden zu bekämpfen. Be-kämpfen Sie sie endlich auch in der Wirklichkeit und be-herzigen Sie einen alten Satz von William Shakespeare:„Worte zahlen keine Schulden“!Danke schön.
Herr Kollege Krings, ich bitte für einen Moment umIhre Aufmerksamkeit. Ich rufe Sie wegen eines Aus-drucks, den Sie gebraucht haben, zur Ordnung. Zu denminimalen Voraussetzungen, insbesondere für Parlamen-tarier, aber ebenso für alle Demokraten gehört der Re-spekt vor Institutionen und ihren Repräsentanten.
Deswegen kann ich es nicht hinnehmen, dass Sie ge-wählte Vertreter dieses Hauses als „Nullen“ bezeichnen.
– Ich glaube, dass ich dies im Interesse aller gesagt habe.
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13064 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2004
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Vizepräsidentin Dr. Antje VollmerJa Dr. Herta Däubler-GmelinKarl DillerMichael Hartmann
Karin KortmannRolf KramerDr. Lale AkgünGerd AndresIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHermann BachmaierErnst Bahr
Doris BarnettDr. Hans-Peter BartelsEckhardt Barthel
Klaus Barthel
Sören BartolSabine BätzingUwe BeckmeyerKlaus Uwe BenneterDr. Axel BergUte BergHans-Werner BertlPetra BierwirthRudolf BindigLothar Binding
Kurt BodewigGerd Friedrich BollmannKlaus BrandnerWilli BraseBernhard Brinkmann
Hans-Günter BruckmannPeter DreßenElvira Drobinski-WeißDetlef DzembritzkiSebastian EdathySiegmund EhrmannHans EichelMartina EickhoffGernot ErlerPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerAnnette FaßeElke FernerGabriele FograscherRainer FornahlGabriele FrechenDagmar FreitagLilo Friedrich
Iris GleickeGünter GloserUwe GöllnerRenate GradistanacAngelika Graf
Dieter GrasedieckMonika GriefahnKerstin GrieseGabriele GronebergAchim GroßmannHubertus HeilReinhold HemkerRolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogPetra HeßMonika HeubaumGisela HilbrechtGabriele Hiller-OhmStephan HilsbergGerd HöferJelena Hoffmann
Walter Hoffmann
Iris Hoffmann
Frank Hofmann
Eike HovermannKlaas HübnerChristel HummeLothar IbrüggerRenate JägerJann-Peter JanssenJohannes KahrsUlrich KasparickDr. h.c. Susanne KastnerUlrich KelberHans-Peter KemperErnst KranzNicolette KresslVolker KröningDr. Hans-Ulrich KrügerAngelika Krüger-LeißnerHorst KubatschkaHelga Kühn-MengelUte KumpfDr. Uwe KüsterChristine LambrechtChristian Lange
Christine LehderWaltraud LehnEckhart LeweringGötz-Peter LohmannGabriele Lösekrug-MöllerErika LotzDr. Christine LucygaDirk ManzewskiTobias MarholdLothar MarkCaren MarksHilde MattheisMarkus MeckelUlrike MehlPetra-Evelyne MerkelUlrike MertenSPD Martin Dörmann Nina Hauer Anette KrammeIch schließe damit die AusWir kommen zur Abstimmin der Ausschussfassung. Hietrag der Abgeordneten Dr. Gevor, über den wir zuerst abstiÄnderungsantrag auf Drucksamen? – Enthaltungen? – Deden Stimmen von SPD, BüFDP bei wesentlicher Enthaldie Stimmen der beiden Abgabgelehnt worden.Wir stimmen jetzt über deschussfassung ab. Die FrakBündnisses 90/Die Grünen vstimmung. Ich bitte die Schrführer, die vorgesehenen Pläsichtlich ist nicht nur dieOrdnung an den Urnen zusein oppositioneller Schriftfühher kann ich leider noch nichginnen. – Wie ich sehe, sinDann eröffne ich die AbstimmEndgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 579;davonja: 298nein: 281sprache.ung über den Einzelplan 04rzu liegt ein Änderungsan-sine Lötzsch und Petra Paummen. Wer stimmt für denche 15/4342? – Gegenstim-r Änderungsantrag ist mitndnis 90/Die Grünen undtung der CDU/CSU gegeneordneten Lötzsch und Paun Einzelplan 04 in der Aus-tionen der SPD und deserlangen namentliche Ab-iftführerinnen und Schrift-tze einzunehmen. – Offen-Klingel, sondern auch dieammengebrochen. Es fehltrer an einer der Urnen. Da-t mit der Abstimmung be-d nun alle Plätze besetzt.ung.Edelgard BulmahnMarco BülowUlla BurchardtDr. Michael BürschHans Martin BuryMarion Caspers-MerkDr. Peter DanckertIst noch ein Mitglied des HStimmkarte nicht abgegebenFall zu sein.Ich schließe damit die ASchriftführerinnen und Schrlung zu beginnen.Bis zum Vorliegen des ErAbstimmung unterbreche ich
1) Erklärung zur Abstimmung, AnlWolfgang GrotthausKarl Hermann Haack
Hans-Joachim HackerBettina HagedornKlaus HagemannAlfred Hartenbachauses anwesend, das seinehat? – Das scheint nicht derbstimmung und bitte dieiftführer, mit der Auszäh-gebnisses der namentlichen die Sitzung.4.15 bis 14.25 Uhr)je Vollmer: ist wieder eröffnet.riftführerinnen und Schrift-der namentlichen Abstim- 04, Bundeskanzler undusschussfassung, Drucksa-ekannt. Abgegebene Stim-immt 298, mit Nein habenan 04 ist damit angenom-age 2Klaus KirschnerHans-Ulrich KloseAstrid KlugDr. Bärbel KoflerDr. Heinz KöhlerWalter KolbowFritz Rudolf Körper
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2004 13065
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Vizepräsidentin Dr. Antje VollmerAngelika MertensUrsula MoggMichael Müller
Christian Müller
Gesine MulthauptFranz MünteferingDr. Rolf MützenichVolker Neumann
Dietmar NietanDr. Erika OberHolger OrtelHeinz PaulaJohannes PflugJoachim PoßDr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeKarin Rehbock-ZureichGerold ReichenbachDr. Carola ReimannChristel Riemann-HanewinckelWalter RiesterReinhold RobbeRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannKarin Roth
Michael Roth
Gerhard RübenkönigOrtwin RundeMarlene Rupprecht
Thomas SauerAnton SchaafAxel Schäfer
Gudrun Schaich-WalchBernd ScheelenDr. Hermann ScheerSiegfried SchefflerHorst SchildOtto SchilyHorst Schmidbauer
Ulla Schmidt
Silvia Schmidt
Dagmar Schmidt
Wilhelm Schmidt
Heinz Schmitt
Carsten SchneiderWalter SchölerOlaf ScholzKarsten SchönfeldFritz SchösserWilfried SchreckOttmar SchreinerGerhard SchröderBrigitte Schulte
Reinhard Schultz
Swen Schulz
Dr. Angelica Schwall-DürenDr. Martin SchwanholzRolf SchwanitzErika SimmDr. Sigrid Skarpelis-SperkDr. Cornelie Sonntag-WolgastWolfgang SpanierDr. Margrit SpielmannJörg-Otto SpillerDr. Ditmar StaffeltLudwig StieglerRolf StöckelChristoph SträsserRita Streb-HesseDr. Peter StruckJoachim StünkerJörg TaussJella TeuchnerDr. Gerald ThalheimWolfgang ThierseFranz ThönnesHans-Jürgen UhlRüdiger VeitSimone ViolkaJörg VogelsängerUte Vogt
Dr. Marlies VolkmerHans Georg WagnerHedi WegenerAndreas WeigelPetra WeisReinhard Weis
Gunter WeißgerberGert Weisskirchen
Dr. Ernst Ulrich vonWeizsäckerDr. Rainer WendLydia WestrichInge Wettig-DanielmeierDr. Margrit WetzelAndrea WickleinJürgen Wieczorek
Heidemarie Wieczorek-ZeulDr. Dieter WiefelspützBrigitte Wimmer
Engelbert WistubaBarbara WittigDr. Wolfgang WodargVerena WohllebenWaltraud Wolff
Heidi WrightUta ZapfManfred Helmut ZöllmerDr. Christoph ZöpelBÜNDNIS 90/DIEGRÜNENKerstin AndreaeMarieluise Beck
Volker Beck
Cornelia BehmBirgitt BenderMatthias BerningerGrietje BettinAlexander BondeEkin DeligözDr. Thea DückertJutta Dümpe-KrügerFranziska Eichstädt-BohligDr. Uschi EidHans-Josef FellJoseph Fischer
Katrin Göring-EckardtAnja HajdukWinfried HermannAntje HermenauPeter HettlichUlrike HöfkenThilo HoppeMichaele HustedtJutta Krüger-JacobFritz KuhnRenate KünastMarkus KurthUndine Kurth
Dr. Reinhard LoskeAnna LührmannJerzy MontagKerstin Müller
Winfried NachtweiChrista NickelsFriedrich OstendorffSimone ProbstClaudia Roth
Krista SagerChristine ScheelIrmingard Schewe-GerigkRezzo SchlauchAlbert Schmidt
Werner Schulz
Petra SelgUrsula SowaRainder SteenblockSilke von Stokar vonNeufornHans-Christian StröbeleJürgen TrittinMarianne TritzDr. Antje Vogel-SperlDr. Antje VollmerDr. Ludger VolmerJosef Philip WinklerMargareta Wolf
NeinCDU/CSUUlrich AdamIlse AignerPeter AltmaierArtur AuernhammerDietrich AustermannNorbert BarthleDr. Wolf BauerGünter BaumannErnst-Reinhard Beck
Veronika BellmannDr. Christoph BergnerOtto BernhardtDr. Rolf BietmannClemens BinningerRenate BlankPeter BleserAntje BlumenthalDr. Maria BöhmerJochen BorchertWolfgang Börnsen
Wolfgang BosbachDr. Wolfgang BötschKlaus BrähmigDr. Ralf BrauksiepeHelge BraunMonika BrüningGeorg BrunnhuberVerena ButalikakisHartmut Büttner
Cajus Julius CaesarManfred Carstens
Peter H. Carstensen
Gitta ConnemannLeo DautzenbergHubert DeittertAlexander DobrindtVera DominkeThomas DörflingerMarie-Luise DöttMaria EichhornRainer EppelmannAnke Eymer
Georg FahrenschonIlse FalkDr. Hans Georg FaustAlbrecht FeibelHartwig Fischer
Dirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachHerbert FrankenhauserDr. Hans-Peter Friedrich
Jochen-Konrad FrommeDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelDr. Jürgen GehbNorbert GeisRoland GewaltEberhard GiengerGeorg GirischMichael GlosRalf GöbelDr. Reinhard GöhnerJosef GöppelPeter GötzDr. Wolfgang GötzerUte GranoldKurt-Dieter GrillReinhard GrindelHermann GröheMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundKarl-Theodor Freiherr vonund zu GuttenbergOlav GuttingHolger HaibachGerda HasselfeldtKlaus-Jürgen HedrichHelmut HeiderichUrsula HeinenSiegfried HeliasUda Carmen Freia HellerMichael HennrichJürgen Herrmann
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13066 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2004
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Vizepräsidentin Dr. Antje VollmerIrmgard KarwatzkiBernhard Kaster
Marlene MortlerDr. Gerd MüllerStefan Müller
Bernward Müller
Bernhard Schulte-DrüggelteUwe SchummerWilhelm Josef SebastianHorst SeehoferKurt SegnerHans-Michael GoldmannJoachim Günther
Dr. Karlheinz GuttmacherDr. Christel Happach-KasanVolker KauderGerlinde KaupaEckart von KlaedenJürgen KlimkeJulia KlöcknerKristina Köhler
Manfred KolbeNorbert KönigshofenHartmut KoschykThomas KossendeyRudolf KrausMichael KretschmerGünther KrichbaumGünter KringsDr. Martina KrogmannDr. Hermann KuesWerner Kuhn
Dr. Karl A. Lamers
Dr. Norbert LammertHelmut LampBarbara LanzingerKarl-Josef LaumannVera LengsfeldWerner LensingPeter LetzgusUrsula LietzWalter Link
Dr. Klaus W. Lippold
Patricia LipsDr. Michael LutherDorothee MantelErwin Marschewski
Stephan Mayer
art, die heutige Tagesord-terfraktionellen Antrags zuschaftswahlen auf Druck-nd diesen jetzt als Zusatz-inzelplan 05 aufzurufen. –erstanden. Dann ist so be-Matthias SehlingMarion SeibHeinz SeiffertBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerJens SpahnErika SteinbachChristian von StettenGero StorjohannAndreas StormMax StraubingerMatthäus StreblThomas Strobl
Lena StrothmannMichael StübgenAntje TillmannEdeltraut TöpferDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzVolkmar Uwe VogelAndrea Astrid VoßhoffGerhard WächterMarko WanderwitzPeter Weiß
Gerald Weiß
Annette Widmann-MauzKlaus-Peter WillschMatthias WissmannWerner WittlichDagmar WöhrlElke WülfingWolfgang ZeitlmannWolfgang ZöllerWilli ZylajewIch rufe TagesordnungspuEinzelplan 05Auswärtiges Amt– Drucksachen 15/430Berichterstattung:Abgeordnete AlexandLothar MarkUlrich HeinrichBirgit HomburgerDr. Werner HoyerMichael KauchDr. Heinrich L. KolbHellmut KönigshausGudrun KoppJürgen KoppelinSibylle LaurischkHarald LeibrechtIna LenkeSabine Leutheusser-SchnarrenbergerMarkus LöningDirk NiebelGünther Friedrich NoltingHans-Joachim Otto
Eberhard Otto
Detlef ParrCornelia PieperGisela PiltzDr. Andreas PinkwartDr. Hermann Otto SolmsDr. Max StadlerDr. Rainer StinnerCarl-Ludwig ThieleDr. Dieter ThomaeDr. Guido WesterwelleDr. Claudia WintersteinDr. Volker WissingFraktionslose AbgeordneteMartin HohmannDr. Gesine LötzschPetra Paunkt I.14 auf:5, 15/4323 –er BondeBernd HeynemannErnst HinskenPeter HintzeRobert HochbaumKlaus HofbauerJoachim HörsterHubert HüppeSusanne JaffkeDr. Peter JahrDr. Egon JüttnerBartholomäus KalbSteffen KampeterDr. Conny Mayer
Dr. Martin Mayer
Wolfgang MeckelburgDr. Michael MeisterDr. Angela MerkelFriedrich MerzLaurenz Meyer
Doris Meyer
Maria MichalkHans MichelbachKlaus MinkelAnita Schäfer
Dr. Wolfgang SchäubleAndreas ScheuerNorbert SchindlerGeorg SchirmbeckAngela SchmidBernd SchmidbauerChristian Schmidt
Andreas Schmidt
Dr. Andreas SchockenhoffDr. Ole SchröderFDPDr. Karl AddicksDaniel Bahr
Angelika BrunkhorstErnst BurgbacherHelga DaubJörg van EssenOtto FrickeHorst Friedrich
Rainer FunkeDr. Wolfgang Gerhardt
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2004 13067
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Vizepräsidentin Dr. Antje VollmerHerbert FrankenhauserJürgen KoppelinÜber den Änderungsantrag der Fraktion von CDU/CSU auf Drucksache 15/4340, der sich auf den Einzel-plan 05 bezieht, ist bereits bei Einzelplan 08 abgestimmtworden.Außerdem rufe ich den soeben aufgesetzten Zusatz-punkt 2 auf:Beratung des Antrags der Fraktionen von SPD,CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN undFDPFälschungen der ukrainischen Präsident-schaftswahlen– Drucksache 15/4265 –Nach interfraktioneller Vereinbarung sind für dieAussprache zwei Stunden vorgesehen. – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächstder Abgeordnete Friedbert Pflüger.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Hunderttausende, ja 1 Million Menschen de-monstrieren derzeit in Kiew bei klirrender Kälte gegenmassiv gefälschte Wahlen. Ich finde es gut, dass wir imDeutschen Bundestag unter allen Fraktionen Verständi-gung über einen gemeinsamen Antrag erzielt haben, überden wir heute abstimmen, in dem wir unsere Solidaritätmit den Demonstranten bekunden, Respekt vor demMut und dem Engagement der ukrainischen Zivilgesell-schaft klar machen und die Überprüfung der Wählerlis-ten und die Neuauszählung fordern.
In dieser Resolution fordern wir den Deutschen Bundes-tag und auch die Bundesregierung auf, auf allen Ebenenjede Möglichkeit zu nutzen, dem tatsächlichen Wähler-willen zum Durchbruch zu verhelfen.Für uns ist heute die Kollegin Claudia Nolte nachKiew gefahren. Sie ist inzwischen dort angekommen.Sie berichtet von einer sich zuspitzenden Lage unter denDemonstranten. Außerdem berichtet sie, dass ihre bishe-rigen Gesprächspartner übereinstimmend gesagt haben,man erwarte eine deutliche Präsenz der EuropäischenUnion vor Ort.
Ich glaube, Frau Nolte hat Recht mit dieser Bemer-kung. Die EU muss sich nicht nur klar und deutlich äu-ßern, sondern dort auch präsent sein. Es muss klar sein:Der tatsächliche Wählerwille muss zum Durchbruchkommen und ohne diesen tatsächlichen Wählerwillenkann es keine Anerkennung der Regierung in derUkraine geben.
Morgen findet der EU-Russland-Gipfel statt. Ichglaube, es wäre in der Tat sehr klug, dort auch dasThema Ukraine, das bisher nicht auf der Tagesordnungsteht, zu behandeln. Es wäre sehr klug, nicht einen kon-frontativen, sondern einen konstruktiven Versuch zu un-ternehmen, Putin und die Russen einzubinden in eineForderungsallianz gegenüber der Ukraine, um demWählerwillen zum Durchbruch zu verhelfen, und Putinzu bitten, seine vielleicht etwas vorschnelle Gratulationfür den durch Manipulationen ausgerufenen Wahlsiegerzurückzunehmen.
Wenn das gelingen würde, wäre das ein gutes, sichtbaresund wichtiges Zeichen für die Entwicklung einer ge-meinsamen Politik, so wie es Wolfgang Schäuble heuteMorgen angesprochen hat.
Gestern war Richard Lugar, einer der führenden ame-rikanischen Senatoren und Vorsitzender des Auswärti-gen Ausschusses, bei uns. Er war gerade in der Ukraine.In den Gesprächen zwischen ihm und mehreren meinerKollegen haben wir festgestellt, dass wir in den hier zurDiskussion stehenden Punkten eigentlich sehr ähnlichdenken. Es ist zu überlegen, ob wir jetzt nicht zusammenmit den Amerikanern und den anderen Europäern einenVersuch unternehmen sollten, eine gemeinsame Linie zufinden, eine gemeinsame Politik zu entwickeln, die deut-lich macht, wie wir mit den Verwerfungen, die in dennächsten Tagen in der Ukraine zu erwarten sind, umge-hen werden. Wir sollten dabei auf unsere polnischenFreunde hören – schließlich wissen sie am meisten überdie Ukraine – und mit ihnen sowie den Vereinigten Staa-ten von Amerika versuchen, zusammen mit Putin, alsonicht auf die Weise einer Konfrontation zwischen Ostund West, einen Weg zu finden, der die Ukraine, dieseswichtige Land im Herzen Europas, stabilisiert und ihreUnabhängigkeit garantiert. Darauf kommt es in diesenStunden an.
Ich hoffe sehr, dass die Appelle an den Bundeskanz-ler, die nicht nur aus unserer Fraktion, sondern auch ausden Reihen der Regierungskoalition ständig zu verneh-men waren, endlich Früchte tragen. Er muss generellsehr viel klarer Stellung zu dem nehmen, was russischePolitik heute leider in vielen Fällen ausmacht. Er solltedabei deutlich machen, dass sich das nicht gegen einevon uns allen gewünschte russisch-europäische Part-nerschaft – diese ist weiterhin ein zentrales Ziel unsererAußenpolitik – richtet. Wir wollen auch mit Putin gutzusammenarbeiten – eine Alternative dazu sieht ja kei-ner von uns – und Russland im Kampf gegen den isla-mistischen Terror in Tschetschenien zur Seite stehen.Aber es ist nicht in Putins Interesse, dass wir sozusagen
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Dr. Friedbert Pflügerjede Kritik außen vor lassen, wenn wir uns mit ihm tref-fen. Er hat schließlich genügend Jasager um sich herum.Es ist doch der Bundeskanzler, der ständig sagt, unterFreunden müsse ein offenes Wort möglich sein. Dannsoll er nun auch in wesentlichen außen- und innenpoliti-schen Fragen ein offenes Wort mit Putin sprechen. Daserwarten wir jedenfalls von ihm.
Der Bundeskanzler hat aber das Gegenteil gemacht.Das beklagen wir, nicht sein gutes Verhältnis zu Putin.Es ist richtig und wichtig, das anzustreben. Schließlichhatte auch Bundeskanzler Kohl ein gutes Verhältnis zuGorbatschow und Jelzin. Aber ich glaube, dass es eben-falls wichtig ist, klar Stellung zu beziehen, wenn solcheWahlfarcen wie in Tschetschenien geschehen. ClaudiaRoth von den Grünen hat zu Recht gesagt: Das warkeine demokratische Wahl. Frau Sager, Fraktionsvorsit-zende der Grünen, hat gesagt: Wir haben eine andereEinschätzung als der Kanzler und finden die Wahlennicht akzeptabel. Auch die Europäische Union hat dieWahlen in Tschetschenien kritisiert. Aber der Bundes-kanzler hat öffentlich gesagt: Das sind akzeptable Wah-len gewesen. Was soll man glauben? Welches Bild ver-mittelt die Regierungskoalition nach außen, zumBeispiel der Zivilgesellschaft in Russland, wenn mit sovöllig unterschiedlichen Zungen gesprochen wird?Das Gleiche gilt, wenn es um die inneren ProblemeRusslands geht. Putin hat angeordnet, dass die Gouver-neure künftig nicht mehr gewählt, sondern von ihm er-nannt werden. Man stelle sich einmal vor, dass inDeutschland die Ministerpräsidenten nicht mehr von denBürgern gewählt, sondern vom Bundeskanzler ernanntwerden sollten. Das wäre ein Verfassungsbruch. HerrFischer, Sie fänden das sicherlich gut. Aber die Mehrheitder Deutschen würde das nicht gut finden; denn siemöchte nicht so regiert werden wie in den rot-grün ge-führten Bundesländern. Sie möchte beispielsweise bes-sere Bildungssysteme haben. Glauben Sie es mir!
Aber unabhängig von diesem Einwurf: Die Absicht, dieGouverneure in Zukunft zu ernennen, ist eine Revolu-tion. Das ist ein Verfassungsbruch, wie unser KollegeRyschkow in der Duma gesagt hat.Bei „Beckmann“ sagte der Bundeskanzler, Putin seiein Musterdemokrat, ein lupenreiner Demokrat. FrauGöring-Eckardt von den Grünen sagt, für die strategi-sche Partnerschaft mit Russland fehle es im Moment amWertekonsens, die gelenkte Demokratie erinnere an sow-jetische Verhältnisse. Was denn nun? Sowjetische Ver-hältnisse oder ein lupenreiner Demokrat? Zwischen die-sen beiden Einschätzungen klaffen Welten. Wir lassenIhnen nicht durchgehen, dass Herr Schröder den Staats-mann gibt und mit Herrn Putin große Politik macht,während Sie zur Befriedigung einer bestimmten, ande-ren Klientel erklären, Sie hätten mit dieser Politik garnichts zu tun. Sie müssen sich schon einigen, wie die Po-litik der Regierungskoalition gegenüber Russland ausse-hen soll.
Am letzten Wochenende war Herr Kotscharjan, derPräsident von Armenien, in Berlin, um an einer Tagungder Quandt-Stiftung teilzunehmen. Wir alle wissen, dassArmenien besonders gute Beziehungen zu Moskaupflegt. Trotzdem ist Kotscharjan – das wissen wir – überdie russische Politik im Südkaukasus nicht begeistert.
Er sagt: Russland verhindert eine regionale Zusammen-arbeit. Die georgische Außenministerin Surabischwilisagt: Moskau spielt im Südkaukasus mit dem Feuer. Ali-jew, der Präsident von Aserbaidschan, sagt: Russland in-spiriert ethnische Konflikte in der Region, auch in Na-gornij Karabach, und Russland hält diese Konflikte amKöcheln.Ich finde, das muss unter Freunden ein Thema sein.Darüber müssen wir mit den Russen sprechen. Dazukann der Bundeskanzler nicht einfach schweigen. Ersollte sich nicht darauf beschränken, zu sagen: Ichglaube an Putin. Das reicht uns in diesem Parlamentnicht; das reicht nicht nur der Opposition nicht, sondern,wie ich weiß, auch großen Teilen der Grünen nicht. Esist gut, dass der Bundeskanzler diese klare Botschaft er-hält. Er soll seine Freundschaft pflegen. Wir wollen eingutes Verhältnis zu Russland. Aber wir wollen auch sa-gen dürfen, was wir denken. Wenn wir das nicht mehrtun, dann ist das ein Zeichen von Schwäche. Das wirduns im deutsch-russischen Dialog nicht helfen.
Herr Kollege Pflüger, ich darf Sie einen Moment un-
terbrechen. – Ich sehe, dass vor den Kameras auf der Tri-
büne Interviews gegeben werden. Das ist in diesem
Raum nicht üblich. Hier wird nur das gefilmt, was an
diesem Pult gesagt wird. Ich bitte Sie, das zu lassen.
Von Russland zu China: Bei China ist Bild das ziem-lich ähnlich. Der Bundeskanzler ist nach China gefah-ren. Auch dazu muss man sagen: Es ist wichtig, mitChina, einer aufstrebenden Weltmacht, ein gutes Ver-hältnis zu haben. Natürlich ist das ein großer Markt.Keine Frage, wir wollen dort Geschäfte machen. An die-ses Thema kann man nicht mit einem „Westminsterrigo-rismus“ herangehen und sagen: In China muss übermor-gen alles so sein, wie wir es uns vorstellen. Aber manwird doch wohl fragen dürfen, ob es richtig war, inChina einseitig die Aufhebung des Waffenembargos an-zukündigen.
Auch dazu kann ich sagen: Das kritisieren nicht nurdie Kollegen aus der CDU/CSU, sondern auch – das
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Dr. Friedbert Pflügerhaben wir in den zuständigen Ausschüssen gesehen –Abgeordnete der Regierungskoalition. Eine Abstim-mung im zuständigen Ausschuss hatte zum Ergebnis,dass eine Mehrheit gegen diese Position des Bundes-kanzlers ist.
Anschließend stellte sich der Bundeskanzler mit seinemRegierungssprecher hin und sagte, er nehme diese Posi-tion des Parlamentes zur Kenntnis, aber er bleibe bei sei-ner Linie. Gilt denn das Wort des Parlamentes, das wirauch hier in einer Debatte vor kurzem zum Ausdruck ge-bracht haben, so wenig? Das Waffenembargo hat seinenguten Grund, gerade vor dem Hintergrund der Zuspit-zung an der Straße von Taiwan. Für die BundesrepublikDeutschland muss doch klar sein, dass sie das tut, wasauch die übrigen EU-Partner tun und was auch in diesemHause Konsens ist, und dass sie den Chinesen nicht ein-fach nach dem Mund redet. Dass der Bundeskanzler dasgetan hat, ist ein Fehler gewesen. Herr Außenminister,sagen Sie doch bitte, wie Sie dazu stehen.
Herr Bundesaußenminister, Sie haben 1996, als Sienoch Oppositionspolitiker waren, im Bundestag gesagt,und zwar völlig zu Recht:Wir werden eine friedliche Entwicklung Chinasnicht bekommen, wenn wir vor allen Dingen aufdas Geschäft setzen … deswegen müssen wir mitden Chinesen unnachgiebig über Menschenrechte,über tibetische Kultur und über den Schutz vonMinderheiten in China sprechen. Wenn das Auf-träge kostet, dann kostet es eben Aufträge.Ich will überhaupt nicht, dass das Aufträge kostet. Ichglaube auch nicht, dass das im Interesse der Wirtschaftist, die langfristig und in unser aller Interesse gute Ge-schäfte in China machen möchte. Nur, wenn man nichtauch auf Menschenrechte und Demokratie in China ach-tet – nicht in dem Sinne, dass übermorgen alles erreichtsein muss, aber im Sinne einer kontinuierlichenEntwicklung –, dann wird man in China keinen langfris-tig stabilen Partner haben. Deswegen schließt es sichüberhaupt nicht aus, glaube ich, auf der einen Seite fürMenschenrechte einzutreten und auf der anderen Seitemit diesem aufstrebenden und wichtigen Land Geschäftezu machen.Ein Punkt zum Thema Türkei. Auch dabei sehen wirimmer wieder Widersprüche. Der Kollege Nachtwei vonden Grünen, verteidigungspolitischer Sprecher, hat inder „taz“ am 20. November erklärt, er sei gegen die vonBundesminister Struck gewünschte Lieferung von ge-brauchten Leopard-2-Panzern an die Türkei. Die Türkeisei dafür nicht reif, die Lage der Menschenrechte müssesich erst „unumkehrbar stabilisiert“ haben.Herr Kollege Nachtwei, erklären Sie mir doch einmal,wie das zusammenpassen soll! Sie sagen, die Türkei, un-ser NATO-Partner, sei nicht reif genug, gebrauchte Pan-zer zu bekommen. Aber offenbar ist sie reif genug, dassVerhandlungen über die Vollmitgliedschaft in der EUaufgenommen werden. Das passt doch hinten und vornnicht zusammen. Wie wollen Sie das eigentlich denMenschen draußen erklären?
Machen Sie es doch so, wie es jetzt Präsident Chiracmacht. Wenn man der heutigen Ausgabe des „Handels-blattes“ glauben darf – ich tue das –, dann bemühen sichdie Franzosen darum, das zu tun, was Frau Merkel vor-hin in Ihrer Rede gesagt hat, nämlich einen Weg zwi-schen Vollmitgliedschaft und Scheitern der Verhandlun-gen zu finden, eine besondere Form der Anbindung; wirnennen das „privilegierte Partnerschaft“. Machen Siedas doch! Schreiben Sie es doch mit hinein und lassenSie die Ergebnisse offen! Lehnen Sie diese vernünftigePolitik, die noch einmal eine wichtige Sicherung im Ver-hältnis zur Türkei sein kann, nicht aus dem einzigenGrund ab, dass der Vorschlag von der CDU/CSUkommt!Meine Damen und Herren, auch auf einem anderenGebiet sollten Sie noch einmal überprüfen, ob wir nichtdoch die richtige Linie vertreten.
Ich finde es richtig, Herr Bundesminister, dass Sie inScharm al-Scheich waren. Ich finde gut, was in Scharmal-Scheich beschlossen worden ist. Das entspricht unse-rer Forderung, die unmittelbaren Nachbarn des Irak inden Prozess einzubinden. Ich finde auch völlig richtig,dass wir Polizei- und Soldatenausbildung im Irak betrei-ben und dass wir jetzt endlich beginnen, deutlich zu ma-chen, auf welcher Seite wir wirklich stehen, nämlichnicht auf der Seite der feigen Terroristen, die dort mor-den, sondern auf der Seite der irakischen Regierung, dievon der UNO unterstützt wird, der Regierung, die jetztWahlen vorbereitet. Es ist ganz wichtig, dass wir uns mitdiesem Prozess ganz eindeutig identifizieren. Nur wenndieses klare Signal des ganzen Westens im Irak an-kommt, haben wir eine kleine Chance, den Irak wirklichzu befrieden.Dass wir jetzt auf diesem Weg Fortschritte machen,auch in der Entschuldungsfrage – darüber ist heute schongeredet worden –, finden wir gut und richtig, aber ichwürde Sie bitten, in einem Punkt – da hat der Bundes-kanzler gleich wieder versucht, hier eine Konfrontationaufzubauen, so als wollten die einen Kampftruppen hin-schicken und die anderen nicht – noch einmal nachzu-denken. Die NATO hat beschlossen, eine Ausbildungs-mission für Offiziere im Irak durchzuführen. Siekommt damit dem Wunsch der Iraker nach, die nämlichsagen: Wir wollen keine weiteren ausländischen Solda-ten. Wir wollen auch keine deutschen Soldaten. Wir wol-len unsere eigenen Leute ausbilden. – Dann hat die Bun-desregierung in den Verhandlungen bei der NATOrichtigerweise sehr sorgfältig darauf geachtet, dass manzwischen dieser Ausbildungsmission und den Koali-tionstruppen klar trennt, dass man nur höhere Offiziereausbildet und nicht sozusagen in die Breite geht. Sie hat
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Dr. Friedbert Pflügerdas Mandat der NATO genau bestimmt. Sie stellt auchGeld zur Verfügung. Sie stimmt diesem Einsatz letztlichzu, sagt aber dann: Die wenigen deutschen Soldaten, diein dem NATO-Stab, der die Ausbildung durchführensoll, sitzen, müssen draußen bleiben. Die Frage ist, obdas eine kluge Politik ist, oder ob es angesichts der Tat-sache, dass man multilateral tätig sein und seine Bünd-nisverpflichtungen wahrnehmen will und den Amerika-nern immer wieder sagt, dass sie die NATO nicht wieeine Toolbox, also wie einen Werkzeugkasten, benutzensollen, indem sie sich nur das herausgreifen, was siewollen –
Herr Kollege Pflüger, achten Sie bitte auf die Zeit.
– ich komme zum Schluss –, nicht klüger wäre,
NATO-Stäbe nicht auseinander zu reißen. Das ist, wie
ich glaube, dringend erforderlich. Der NATO-Generalse-
kretär hat ja vor wenigen Tagen klipp und klar gesagt:
Die Deutschen können nicht ständig fordern, in allen Stä-
ben vertreten zu sein, aber dann, wenn es ernst wird, sa-
gen, sie ließen ihre Soldaten außen vor. Es besteht völliger
Konsens darüber, dass keine Kampftruppen in den Irak
geschickt werden sollen. Aber wenn ein NATO-Stab zu
Ausbildungszwecken dort hingeschickt werden soll – –
– Darüber bestand immer und besteht Konsens.
Herr Kollege Pflüger, Sie können darüber nicht weiter
debattieren. Ihre Redezeit ist überschritten.
Meine Redezeit ist zu Ende.
Ich sage abschließend: Wir sollten den Versuch ma-
chen, einen wirklichen Neuanfang im transatlantischen
Verhältnis zu unternehmen, im Iran nicht Fehler der Ver-
gangenheit wiederholen und gegenüber dem Irak einen
Kurs fahren, der dem jetzt in Scharm al-Scheich verkün-
deten Kompromiss entspricht. Dann gäbe es mehr Kon-
sens in der Außenpolitik als in der Vergangenheit. Das
täte unserem Land gut.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gert Weisskirchen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lieber Herr Dr. Pflüger, ich finde, dass es nicht ganz an-gemessen war, wie Sie in Ihrer Rede die Würdigung des-sen, was in der Ukraine an Richtigem geschieht, mit par-teipolitischen Zielen vermengt haben.
Ich will Ihnen, lieber Kollege Pflüger, auch sagen, wa-rum das nicht angemessen war. In der Ukraine kämpfenin diesen Stunden Demokraten darum, dass sich dieWerte der Demokratie durchsetzen. Sie verbinden damitdie Hoffnung auf einen tief greifenden Wandel. Das istein historischer Moment, in dem sich die Ukraine gegen-wärtig befindet. Dieser historische Moment wird davonbestimmt, dass es in zwei oder drei Stunden passierenkönnte, dass die nationale Zählkommission an die Öf-fentlichkeit tritt und das Wahlergebnis, das sie sichwünscht und durch Manipulationen herbeigeführt hat,verkündet.Liebe Kolleginnen und Kollegen, es kann von unsnicht hingenommen werden, dass jemand aufgrund vonWahlfälschung bzw. -manipulationen zum Präsidentenausgerufen wird, der nicht vom Volk getragen ist. Daskönnen wir nicht akzeptieren.
Gerade darum geht es. Es sind Hunderttausende vonMenschen, die gegenwärtig in Eiseskälte auf den Stra-ßen Farbe bekennen, übrigens nicht nur in Kiew, sondern– man höre und staune – auch in Charkiw. Dort gab esgestern Demonstrationen mit Zehntausenden von Men-schen. Diese gab es in Lwiw, sie gibt es in Sumy undTscherkassy. Das heißt, die ganze Ukraine ist in Aufruhrund die Bevölkerung will sich die Demokratie friedlichauf den Straßen erkämpfen. Das unterstützen wir ganzklar in einer gemeinsamen Erklärung des DeutschenBundestages.
Vor diesen Hunderttausenden hat WiktorJuschtschenko letzten Montag – Jelena Hoffmann wardabei – Folgendes gesagt: Der Wille des Volkes kannnicht gebrochen werden und seine Stimmen könnennicht gestohlen werden. Das hat der vom Volk gewähltePräsident gesagt. Wenn ein anderer ausgerufen wird, derzugleich anderswo, nämlich in Moskau, zum Gewinnerder Wahl erklärt wird – jetzt denken wir eine Sekundedarüber nach, er würde nicht nur ausgerufen, sondernwirklich die Bürde des Präsidentenamtes übernehmen –,stellt sich die Frage, was er für ein Präsident wäre. Erwäre ein Präsident von Moskaus Gnaden. Er wäre einPräsident, der keine legitime Grundlage für sein Handelnhat. Er wäre ein Präsident, dessen Autorität auf Wahlfäl-schungen beruhen würde. Er wäre ein Präsident, der in-ternational keinen Kredit für die Ukraine gewinnenkönnte. Was wäre das für ein Präsident, der dann dieUkraine anführen und repräsentieren würde? Das ist eineschreckliche Vorstellung.
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Gert Weisskirchen
Wir, der Deutsche Bundestag, wollen, dass der poli-tische Wille des ukrainischen Volkes, der sich bei denWahlen am letzten Sonntag so überzeugend und deutlichgezeigt hat und der gegenwärtig zum Ausdruck gebrachtwird durch Zehntausende, Hunderttausende Menschen,die friedlich, zurückhaltend und ohne Gewalt anzuwen-den auf den Straßen sind, ungehindert, ungeschmälertund unverfälscht anerkannt wird. Das ist unsere Forde-rung an die Behörden.
Unser Ziel – auch das muss klar sein – muss dabei un-verändert sein: Wir wollen eine freie, unabhängige, sou-veräne, rechtsstaatliche, demokratische Ukraine. Auchdie anderen Ziele, die wir bislang – dankenswerterweisedurch den Bundeskanzler und den Bundesaußenministervertreten – deutlich gemacht haben, bleiben unverändert.Deutschland und Europa haben ein ungebrochenes ge-meinsames Interesse daran, dass die Ukraine und Russ-land gute Nachbarn sind. Wir können kein anderes Inte-resse haben.Wir befinden uns in der Tat in einem historisch ent-scheidenden Moment. Weil wir alle gemeinsam diesesInteresse haben und auch Moskau dieses Interesse habenmuss, darf die Ukraine nicht zum Spielball irgendwel-cher Interessengruppen, wo auch immer diese sind, wer-den. Dieses Schicksal hat die Ukraine schon sehr vieleJahre erleiden und erdulden müssen. Es ist erst 13 Jahreher, dass die junge, neue Ukraine überhaupt ins politi-sche Leben getreten ist. Das ist eine kurze Phase in derGeschichte der Ukraine. Sie knüpft an eine frühereEpoche an. Anfang der 20er-Jahre gab es einmal eineganz kurze Phase der Selbstständigkeit in ihrer Ge-schichte. Damals hat sie so etwas wie die erste Vorstufeder Demokratie erfahren können.Was gegenwärtig auf den Straßen von Kiew, Sumy,Tscherkassy und anderen Orten geschieht, stellt einenhistorischen Moment dar. Es hat noch nie ein solch uner-hörtes Ereignis in der Geschichte der Ukraine gegeben,dass die Menschen selbst sagen: Wir wollen unser politi-sches Schicksal in die eigene Hand nehmen.Das strategische Ziel, eine bessere, kooperativere Be-ziehung der Ukraine zu Moskau als zu Europa herzustel-len, weil die Beziehung zu Moskau wichtiger sei, istgrundfalsch. Wir müssen überall in Europa dafür sorgen,dass wir alle miteinander gute Nachbarn sind; denn wirbrauchen unser gemeinsames Europa nicht wegen eineshegemonialen Gefälles, sondern damit alle Menschen inEuropa die Chance haben, als gute Nachbarn und in glei-cher Weise unabhängig, frei und demokratisch leben zukönnen. Deswegen unterstützen wir heute den gemeinsa-men Antrag des Deutschen Bundestages.
Ich möchte gerne jemanden zitieren, der für die junge,neue Ukraine steht. Es gibt einen Schriftsteller, JuriAndruchowytsch, der gemeinsam mit Andrzej Stasiukein wunderbares Buch mit dem Titel „Mein Europa“ ge-schrieben hat. Damit bahnt sich etwas an, über die Gren-zen hinweg, zwischen der polnischen Ostgrenze und derwestlichen Grenze der Ukraine. Es erinnert an die Beski-den, Galizien und die Bukowina des Manès Sperber, desPaul Celan und der Rose Ausländer, literarische Regio-nen. Die Republik macht schon seit Jahrzehnten deut-lich, dass sie zu Europa gehören will. Diese Traditionlebt noch immer.Es ist die Aufgabe des Deutschen Bundestages, dieÄngste in dieser Region zu beachten. Was geschieht mit denUkrainern – so fragt beispielsweise Andruchowytsch –,wenn die Ungarn, Slowaken und Polen im „eigentlichenEuropa“ verschwinden? Die Angst in dieser Region ist,eingegrenzt und verbarrikadiert zu sein, weil es keinenneuen Zugang zu Europa gibt.Wir müssen deutlich machen, dass wir auf die oran-gene Revolution neugierig sind. Wir wollen mit denMenschen kooperieren. Wir wünschen, dass dieser fried-liche und demokratische Prozess dazu führt – dafür hatsich das Volk am letzten Sonntag in freier Selbstbestim-mung entschieden –, dass die Ukraine einen Platz in dereuropäischen Familie der Demokratien findet. Darumgeht es und dafür streiten wir.Wir hoffen sehr, dass auch in diesen Stunden dieserWeg ein Weg ohne Gewalt ist, dass er zum Frieden führtund der Ukraine einen festen Platz innerhalb der Familieder europäischen Demokratien sichert.
Das Wort hat jetzt der Fraktionsvorsitzende der Libe-
ralen, Wolfgang Gerhardt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HerrKollege Weisskirchen, was Sie zu den Wünschen in Be-zug auf die Ukraine vorgetragen haben, ist hier völligunstreitig.
Ich führe doch diese Debatte nicht, um Sie zu Ihremüberzeugenden Beitrag über die Demokratie in derUkraine zu beglückwünschen. Unter uns müssen wirdarüber nicht reden. Wir müssen aber mit der Bundesre-gierung darüber reden, was sie zu tun gedenkt, um demrussischen Präsidenten klar zu machen, dass er aufhö-ren soll, sich dort einzumischen. Darum geht es.
Wir wollen gute Beziehungen zu dem russischen Prä-sidenten unterhalten. Wir müssen ihm aber auch sagen,wie wir die Lage sehen, damit er unsere Einschätzungvon den Ereignissen um uns herum kennt. Er hat keineKultur des Rechtsstaates in Russland entwickelt. Er hatvielmehr staatlich interveniert, um einen Mann mithilfeder Staatsanwaltschaft, der Justiz und der Polizei verhaf-ten zu lassen.
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Dr. Wolfgang GerhardtNun wird gegen diesen Mann ein Prozess geführt, derrechtsstaatlichen Grundsätzen Hohn spricht.
Der russische Präsident hat Fernsehanstalten aufkau-fen lassen, um die Meinungsvielfalt zu unterdrücken. Erhat die Opposition im Wahlkampf praktisch beiseite ge-drängt. Er hat zwar die Menschenrechtsverletzungen inTschetschenien zur Kenntnis genommen, aber nur zöger-lich diejenigen Angehörigen seines Militärs zur Rechen-schaft gezogen, die dazu beigetragen haben, dass dieseMenschenrechte verletzt worden sind.
Das alles ergibt kein Bild eines lupenreinen Demokra-ten. Das ist vielmehr das Bild eines Mannes, der zwarum die Schwierigkeiten weiß, die ihm ein Land mit achtZeitzonen bereitet, der aber gegenwärtig einen Weg ein-schlägt, von dem wir gewünscht hätten, dass er ihn nichtgehen würde. Wir hatten uns einen anderen, nämlich ei-nen offeneren und internationaleren, Weg Russlands vor-gestellt.
Unsere Vorstellungen, liebe Kolleginnen und Kollegenvon den Grünen, müssen ihm mitgeteilt werden.Als Joschka Fischer noch nicht Außenminister war,hat er in einer Debatte einmal zu Helmut Kohl gesagt,dass man zu dem Tschetschenienkonflikt und zu derLage der Demokratie in Russland keine geduckte Hal-tung einnehmen könne. Damals waren Kohl und Jelzindie Akteure. Tauschen Sie Jelzin durch Putin und Kohldurch Schröder aus.Wer in der Sendung „Beckmann“ für die Weltöffent-lichkeit das Testat abgibt, es handele sich bei dem russi-schen Präsidenten um einen lupenreinen Demokraten– es handelt sich im Falle des Bundeskanzlers um einehochkarätige Meinung –, der verhält sich nicht so, wiedas die Stellungnahmen der EU, der OSZE, des amerika-nischen Präsidenten, vieler Wahlbeobachter und Nichtre-gierungsorganisationen sowie der oppositionellen Kräftein Kiew erforderlich machen. Warum hat der Bundes-kanzler das getan? Das dient doch nicht dazu – auch wirwünschen gute Beziehungen –, die Beziehungen zuRussland zu verbessern. Das dient doch eher dazu, je-manden im Unklaren darüber zu lassen, was unsere Vor-stellung über seine Herrschaftsausübung ist.
Ich finde, wer mit uns umgeht, sollte unsere Vorstellungkennen.
Ich könnte jetzt mühelos ein Zitat zu China von Ih-nen, Herr Außenminister Fischer, aus Ihrer Nichtaußen-ministerzeit hinzufügen. Das könnten Sie dem Bundes-kanzler auf die Reise nach China mitgeben. Wenn SieCourage haben, machen Sie es. Sie haben schon reich-lich zum Waffenembargo geschwiegen, als es damalsausgesprochen wurde.
Damit will ich auf Folgendes hinaus: Wir haben in derAußenpolitik viele große Linien der Gemeinsamkeiten.Aber allmählich ist es für die Bundestagsfraktion derFreien Demokraten nicht mehr hinnehmbar, dass im Ge-gensatz zu allen früheren Äußerungen gegenüber derVorgängerregierung jetzt bei denen, die man sich als nä-here Partner ausgesucht hat und mit denen man rechnenmuss, stillschweigend über die großen Fragen wie dieder Menschenrechte und der Menschenwürde hinwegge-gangen wird und auf die Milde der Opposition gebautwird, dass wir das nicht zur Aussprache bringen. DieKollegen aus Koalitionskreisen behaupten dazu, wir hät-ten nicht den nötigen internationalen Respekt und dasnötige Feingefühl.Für eine erwachsene Demokratie, für ein Land, das indie EU eingebettet ist und nach dem Willen der Regie-rung einen Sicherheitsratssitz in den Vereinten Nationenanstrebt, ist eine gepflegte offene Aussprache mit denje-nigen, die wir als Partner betrachten, wichtig. Das mussim deutschen Parlament einmal ausgesprochen werden.Das ist heute notwendiger denn je.
Die Ukraine ist unser Nachbar. Mitglieder der EUgrenzen an dieses riesengroße Land. Der russische Präsi-dent kann doch nicht annehmen, dass wir zu all den Ein-flussnahmeversuchen, die er schon früher unternommenhat, schweigen. Die Ukraine ist ein Land, in das wir imInteresse Russlands und der Europäischen Union nach-barschaftlich mit Hilfen an das Land bei seinen Demo-kratisierungsanstrengungen hineinblicken sollten. Wenndie Europäische Union jetzt ein Treffen mit Russland ab-hält, sollte Russland klar vermittelt werden, dass dieWerte, zu denen sich im Übrigen auch der russische Prä-sident in internationalen Abkommen verpflichtet hat,für beide Seiten gelten sollten. Wenn ein Land anderswählt, als sich das eines der anderen Länder vorgestellthat, gilt es, das Ergebnis zu respektieren. Offenheit inder Aussprache sollte doch unter lupenreinen Demokra-ten üblich sein. Anders kann ich mir das nicht vorstellen.Das gilt auch für die Aussprache mit dem chinesi-schen Regierungschef. Es ist immer gut, wenn die ande-ren wissen, wie wir denken. Sie können ja andere Vor-stellungen haben; aber sie können nicht verlangen, dasswir ruhig sind, wenn es um Demokratie, Menschen-würde, Transparenz, Rechtsstaat und die Kultur desRechtsstaats geht. Das muss man wissen.
Das wollte ich zu diesem Punkt sagen.Die „Frankfurter Rundschau“ schreibt heute:Die ukrainische Krise ist eine Bewährungsprobe fürdas neue Europa und es ist ein Lackmustest für dieviel gepriesenen guten deutsch-russischen Bezie-hungen.
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Dr. Wolfgang GerhardtDas ist es. Vor dieser Aufgabe steht jetzt die Bundesre-gierung. Die muss sie wahrnehmen.Wir haben in der Außenpolitik – das will ich im Tele-grammstil sagen – immer Problemlagen. Das ist jetzt soeine. Wir haben Chancen im Iran, in Israel und in Paläs-tina und Wiederanknüpfungspunkte zu besseren Bezie-hungen zu den Vereinigten Staaten. Diese Chancen kön-nen wir jetzt wahrnehmen, wenn auch Skepsis dahingehend besteht, ob im Iran die Erwartung, die dort schoneinmal geäußert worden war, eingehalten wird. Es fragtsich, ob wir wirklich dieses Window of Opportunity öff-nen können, das sich zwischen Israel und den Palästi-nensern jetzt auftun könnte. Es muss von unserer Seiteaus darauf gedrängt werden. Das tut der Außenminister;ich bestätige das hier gerne. Aber auch die zweite Bush-Administration muss von der Europäischen Union ge-drängt werden. Wenn jetzt nicht mit allem Engagementdarauf hingearbeitet wird, dass es dort zu einer Lösungkommt, verlieren wir unendlich viel Zeit.Ich komme gleich zum Schluss, möchte aber nochfragen: Hat sich eigentlich in Afghanistan ein neuesProvincial Reconstruktion Team eingefunden?
Eines?
– Das ist aber viel.
Ich frage immer wieder in Abständen nach, weil dasLand groß ist, immer noch vor Problemen steht und esnur millimeterweise vorangeht.
Wie ist die Lage im Kosovo nach den Wahlen? Wieschätzt die Bundesregierung das weitere Vorgehen imRahmen des Balkanstabilitätspaktes ein? Was wird dortpolitisch weiterbewegt?Eine weitere Frage im Telegrammstil: Glaubt dieBundesregierung, dass sie die Haltung, im Irak selbstkeine Ausbildung der Sicherheitskräfte vornehmen zukönnen, durchhalten kann, wenn es dereinst eine legiti-mierte, gewählte irakische Regierung geben sollte?Zu diesen Fragen könnte im Rahmen der Debattenoch einmal Stellung genommen werden.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Ludger Volmer, Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die au-ßenpolitische Diskussion der letzten Wochen wird ge-prägt durch drei personelle Entscheidungen bzw. Bestä-tigungen: die in Washington, die in Kiew und die inRamallah.Die Entscheidung in Washington ist für uns völligeindeutig: Präsident Bush ist mit einer klaren Mehrheitwieder gewählt worden; daran gibt es nichts zu deuteln.Noch ist offen, was er mit diesem politischen Kapital an-zufangen gedenkt. Wir sind mehr als bereit, die transat-lantischen Spannungen der letzten Jahre zu überwinden.Dazu bedarf es aber jetzt in erster Linie klarer Signaleaus Washington selbst.
Die ersten Entscheidungen sind widersprüchlich. Zubegrüßen ist das Bekenntnis zur Implementierung derKonfliktregelung für den Nahen Osten auf der Basis derRoadmap. Skeptisch stimmt uns hingegen eine andereEntscheidung. Wir hoffen, dass der zum Justizministerberufene ehemalige Rechtsberater des Weißen Hauses,Gonzales, seine in Gutachten für den Präsidenten geäu-ßerte Auffassung, dass die Funktion des Oberbefehlsha-bers diesen von allen völkerrechtlichen Restriktionenentbinde, nicht zur Maxime seiner Amtsführung machenwird. Ebenso hoffen wir, dass die designierte Außenmi-nisterin die angekündigte Politik der Entspannung ge-genüber Europa durchsetzen kann. Die Welt braucht dieVereinigten Staaten, die in kooperativem Geist mit derinternationalen Staatengemeinschaft zusammenarbeitenund nicht unilateralen und isolationistischen Tendenzenfolgen. In diesem Sinne sind wir bereit für einen „freshstart“.
– Ich glaube, unter diesem Begriff wird das Programm inden USA diskutiert; das war ein Zitat.
Die Beziehungen zu Russland verkomplizieren sichin der Tat. Wir führen die Diskussion über die russischeInnenpolitik und die russische Regionalpolitik seit dengrauenhaften Terroranschlägen in Beslan wieder in ver-schärfter Form. Wir sind uns hier einig, dass die Terror-anschläge in Beslan durch nichts, aber auch überhauptnichts zu rechtfertigen sind. Sie sind auch nicht durcheine falsche Politik Moskaus in Tschetschenien zu recht-fertigen. Dennoch hat diese Katastrophe den Blick aufdie russische Tschetschenienpolitik gelenkt und auchdarauf, welche innenpolitischen Konsequenzen aus dem– notwendigen – Programm, sich an der Bekämpfungdes internationalen Terrorismus zu beteiligen, gezogenwurden. Wir sehen schon mit einer gewissen Sorge, dasszahlreiche Errungenschaften der Ära Gorbatschow,Glasnost und Perestroika, wieder zurückgenommen
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Dr. Ludger Volmerwerden. Wir hoffen, dass sie nicht gegen null zurückge-führt werden.
Ebenfalls mit einigem Stirnrunzeln sehen wir, dassPräsident Putin im Vorfeld der Wahlen in der Ukrainenicht nur aufgetreten ist, sondern auch stark Einfluss ge-nommen hat, und zwar zugunsten des Kandidaten, demnun massive Wahlfälschungen vorgehalten werden müs-sen. Das sehen wir mit Stirnrunzeln und Argwohn.Der Deutsche Bundestag, der Auswärtige Ausschussin seiner gestrigen Sitzung wie auch die Bundesregie-rung haben eindeutige Erklärungen zu den Wahlen inder Ukraine abgegeben. Ich kann mich dem flammen-den Appell zur Durchsetzung der Demokratie und zurSolidarisierung mit den Demokraten in der Ukraine, denKollege Weisskirchen gerade an uns gerichtet hat, nuranschließen. Wir werden selbstverständlich dem ge-meinsamen Antrag der vier Fraktionen im Bundestag zu-stimmen.
Man muss sich aber auch einmal den Standpunkt derrussischen Politik selber zu Eigen machen. Schauen Siesich die Welt aus Moskauer Sicht an! Sie sehen einewachsende, sich erweiternde, sich vertiefende Europäi-sche Union. Als prominenter Politiker in Moskau wissenSie, dass sowohl Russland wie auch Weißrussland wieauch die Ukraine oder andere GUS-Staaten in absehba-rer Zeit nicht einmal in Diskussionen über eine Erweite-rung der Europäischen Union einbezogen werden kön-nen. Keiner kann sich im Moment vorstellen, dass auchdiese Länder dazugehören könnten. Deshalb ist es ausderen Perspektive nahe liegend, Anstrengungen zu un-ternehmen, sich zusammenzuschließen und zu formie-ren. Wir haben ein Interesse daran, dass die Nachbar-schaft zwischen diesen Ländern gut bleibt. Wir habendarüber hinaus ein Interesse daran, dass sie dort einenstarken Bund oder ein Bündnis, wie locker auch immer,bilden. Wir haben aber auch ein Interesse daran, dassdies auf der Basis des formulierten Volkswillens in denbeteiligten Ländern geschieht, also auf der Basis vonDemokratie.
Deshalb muss auch mit Präsident Putin darüber ge-sprochen werden, welche Kräfte er in den Nachbarstaa-ten unterstützt und welchen Einfluss dies auf das imPrinzip von uns gewünschte nachbarschaftliche Verhält-nis hat.
Das hat im Übrigen der Bundeskanzler heute Morgennicht anders gesagt; vielleicht haben Sie nur nicht richtighingehört. Der Bundeskanzler hat auf die Frage, wie eres sich vorstellt, geantwortet: Selbstverständlich musssich Präsident Putin auf die richtigen Kräfte stützen. Da-mit können doch nur die demokratischen gemeint gewe-sen sein.
Wenn Sie meinen, Sie müssten den Bundeskanzler zueiner öffentlichen Stellungnahme gegen Putin provozie-ren, dann müssen Sie sich auch genau überlegen, ob Siedie Konsequenz daraus wirklich wollen. Der Bundes-kanzler ist im Moment die Person mit dem besten Zu-gang zu Putin. Ich weiß aus eigenem Erleben, dass inden Gesprächen, die der Bundeskanzler mit Putin führt,alle diese schwierigen Fragen – Tschetschenien, dieUkraine und viele andere strittige Dinge – in größterOffenheit angesprochen werden.
Der offene Dialog, den Sie einfordern, findet längststatt. Der Bundeskanzler würde wahrscheinlich einengroßen Fehler machen, wenn er auf Ihre Provokationeinginge und sich durch eine falsche öffentliche Tonlageden guten Gesprächsfaden nach Moskau abschneidenließe.
– Das ist deren Absicht.Frau Merkel fragte heute Morgen, warum der Bun-deskanzler, wenn er doch in Moskau so offen redet, nichtgenauso offen mit Bush in der Irakfrage geredet habe.Damit wären wir bei dem Punkt – Herr Pflüger, auch Siehaben ihn gerade aufgegriffen –, über den wir im letztenJahr diskutiert haben. Der Unterschied ist folgender: InMoskau sind die Dinge im Fluss und eine gute und ge-zielte Gesprächsführung kann beeinflussend wirken. InWashington war damals nichts im Fluss. Es gab auf dereinen Seite die gute Kooperation, die keiner weiterenGespräche bedurfte. Sie lief während des gesamten Irak-konflikts und läuft heute noch weiter. Auf der anderenSeite hatte es bezüglich des Iraks längst den finsterenEntschluss gegeben, den Krieg auf jeden Fall zu führen,auch wenn es für ihn keine Grundlage gab. Was hätte indem Moment das Gespräch der Europäer genutzt?
Wären die Amerikaner von ihrem Plan zur Kriegsfüh-rung abgerückt? Hätten sie nur einen halben Krieg ge-führt? Vielleicht, auf jeden Fall aber hätten sie die Euro-päer in den Krieg hineingezogen. Das Ergebnis wäregewesen – dazu haben Sie sich als CDU/CSU immer be-kannt –, dass nicht nur die Europäer, sondern dass auchdie Bundesrepublik Deutschland, die Bundeswehr andiesem Kampfeinsatz teilgenommen hätte. Dagegen wa-ren wir und einen solchen Gesprächsinhalt haben wir im-mer abgelehnt.
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Dr. Ludger VolmerUm es ganz deutlich zu Ende zu deklinieren: Das Er-gebnis Ihrer Politik wäre, dass heute auch unsere Söhneund Töchter im Irak von Granaten in einem Krieg zer-fetzt würden,
für den es nicht die geringste Rechtfertigung gibt. Daswäre die Konsequenz Ihrer Politik, wenn die CDU/CSUdamals die Außenpolitik hätte bestimmen können.
Zum Glück haben der Bundeskanzler, der Außenminis-ter und die rot-grüne Koalition eine solch fatale Ent-wicklung verhindert.Wir sind bereit, zusammen mit den USA an einerneuen Sicherheitsstrategie, an einer Strategie, die insbe-sondere auf die Einbeziehung der Türkei in die Euro-päische Union setzt, zu arbeiten. Es gibt viele guteGründe für die Aufnahme der Türkei in die EuropäischeUnion, die historisch gewachsen sind, und es gibt das si-cherheitspolitische Argument, über das wir schon mehr-fach diskutiert haben.Wenn ich die Haltung der Union betrachte, habe ichden Eindruck: Es ist nicht Europa, welches überdehntwird, es ist nicht die Europäische Union, die durch denBeitritt der Türkei überdehnt wird, es ist die ChristlichDemokratische Union Deutschlands, die durch einenBeitritt der Türkei überdehnt wird. Während sich auf dereinen Seite die CSU noch am letzten Wochenende ein-stimmig, wie ich vernommen habe, dafür ausgesprochenhat, dass die Türkei der Europäischen Union nicht bei-treten darf – wenn dieses Ergebnis ohnehin feststeht,frage ich mich allerdings, warum Sie so tun, als würdenSie noch verhandeln –, gibt es auf der anderen Seitenamhafte Außenpolitiker in der CDU/CSU-Fraktion, diedurchaus für einen Beitritt der Türkei bzw. zumindest fürdie Aufnahme von Verhandlungen sind und in diesemSinne Regierungspositionen vertreten.Diese Überdehnung des christlich-sozialen Spek-trums drückt sich im Moment auch darin aus, dass dieFlügelkräfte Merz und Seehofer abbröckeln. DieseÜberdehnung können Sie nicht auf Dauer durchhalten.Wenn Sie einen internen Formelkompromiss finden, dernur Ihrem eigenen Kohärenzproblem geschuldet ist,dann sollten Sie Europa damit nicht belästigen.
Meine Damen und Herren, nach unserer letzten au-ßenpolitischen Diskussion kam es zum Ableben vonJassir Arafat. Die Palästinenser empfinden dies als gro-ßen Verlust, sind aber dabei, die entstandene Lücke aufdem Wege demokratischer Wahlen – so hoffe ich doch –zu füllen. Wenn es in der internationalen GemeinschaftKräfte gab, die Arafat immer als Hindernis angesehenhaben – mag dies ein tatsächlicher Grund oder nur einVorwand gewesen sein –, so sind diese Kräfte, wie auchdie palästinensische Seite selbst, nun aufgefordert, einenNeubeginn zu wagen und alles in ihrer Kraft Stehende zuunternehmen, um auf der Basis der Roadmap dieLösung des Konflikts mit der Perspektive der Zweistaat-lichkeit herbeizuführen.Damit bin ich am Beginn meiner Ausführungen zurKooperation mit den USA. Wir wissen, dass die USA indiesem Kontext die wichtigste Kraft sind. Wir hoffen,dass die USA ihre Interessen erkennen und einsehen,dass der Kampf gegen den internationalen Terrorismusnur dann erfolgreich geführt werden kann, wenn dieserzentrale Konflikt in der arabisch-islamischen Welt gelöstwird. Wir hoffen, dass es in Washington zu einer Um-orientierung kommt. Es gibt Anzeichen dafür, dass diesder Fall sein könnte.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Wir Europäer wären auf jeden Fall dabei, und die
Bundesregierung, die viele Initiativen in dieser Richtung
ergriffen hat, sowieso. Die Bundesregierung hat die
Grundlinien der deutschen Außenpolitik in den letzten
Jahren exzellent umgesetzt. Das wird sie auch weiterhin
exzellent tun. Deshalb werden wir diesen Haushalt
selbstverständlich bewilligen.
Das Wort hat der Kollege Peter Hintze, CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Mit dem Beitrag des Kollegen Volmer wurdedas ganze Drama der Grünen
im Hinblick auf die deutsche Außenpolitik dokumen-tiert. Herr Volmer hat uns, was die Beziehungen zu denUSA betrifft, einen „fresh start“ versprochen.
Was er geliefert hat, war eine ziemlich gequälte Reak-tion.
Ich finde, wir sollten hier vor dem Parlament einesklarstellen: Für Deutschland und Europa ist ein gutesVerhältnis zu Russland wichtig. Aber es wäre in hohemMaße geschichtsvergessen, wenn wir nicht sagenwürden, dass das Bündnis zwischen Europa und denVereinigten Staaten von Amerika aufgrund unsererWerte, unserer geschichtlichen Erfahrung, unsererpolitischen Verantwortung und der Befreiung von der
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Peter Hintzenationalsozialistischen Diktatur Priorität hat und dassdas transatlantische Band für uns ein wichtiges und fes-tes Band ist, zu dem wir stehen.
– Verehrter Herr Kollege Erler, das Drama besteht darin,
dass Sie sich damit schwer tun, dass sich Herr Volmerdamit sehr schwer tut und dass das immer wieder sehrstark zum Ausdruck kommt.Es ist auch wirklich ein Drama, dass wir im Momenteinen Bundeskanzler haben, der, was Äußerungen zurFrage der Menschenrechte in der Ukraine betrifft– hierzu haben wir einen sehr bewegenden Beitrag desKollegen Weisskirchen gehört –, im Fernsehen kläglicheAuftritte hatte; Kollege Gerhardt hat das wunderbar do-kumentiert. Solche Grundwahrheiten müssen hier gesagtwerden. Im Grunde müsste der Antrag zur Ukraine, derhier heute von den Fraktionen vereinbart wurde, demKanzler einmal zur Lektüre empfohlen werden, damitsich solche Auftritte im Fernsehen, wie er sie uns gelie-fert hat, nicht wiederholen.
Nun haben wir heute in gewissem Sinne eine Pre-miere: Der Haushalt ist ausdrücklich überschrieben mit„Auswärtige Angelegenheiten und Europa“. Wenn wirüber Europa sprechen, dann müssen wir uns auch überdas Bild verständigen, das wir von Europa haben. Wol-len wir nur eine Freihandelszone oder wollen wir einePolitische Union? Wollen wir nur eine künstlicheZweckgemeinschaft oder wollen wir eine Wertegemein-schaft? Wollen wir ein Europa gegen die Bürger oderwollen wir ein Europa, das vom Wir-Gefühl der Bürgergetragen ist?Die Bundesregierung und insbesondere der Bundes-außenminister überraschen uns ja immer mit sich wider-sprechenden Konzeptionen: In der Humboldt-Universi-tät zeichnete Herr Fischer mit spitzer Feder Kerneuropa,um später mit breitem Pinsel das Gemälde eines gren-zenlos ausufernden Europas dagegenzusetzen. Die deut-sche Europapolitik leidet unter der Geschichtslosigkeitund Kulturferne dieser Bundesregierung, die ein völligunklares Europabild hat. Daran scheitert vieles: WasDeutschland früher für Europa leisten konnte, wird heutenicht mehr geleistet. Unser Bild von Europa ist das einerfesten Politischen Union, die auf gemeinsamen Wertenaufbaut und auf dem Wir-Gefühl unserer Bürger.
Wir stehen vor schicksalhaften Fragen: Es geht umdie Ratifizierung der Verfassung, es geht um EuropasRolle bei globalen Konflikten, es geht um den Stabili-tätspakt und es geht um die Türkeifrage.
– Jetzt geht auch noch der Außenminister; das zeigt dieganze Dramatik. Nun kommt er wieder zurück – ich be-grüße Sie herzlich.
Ich will ein gemeinsames Projekt ansprechen. Daswichtigste Projekt der Europäischen Union ist die Euro-päische Verfassung. Wir haben ein gemeinsames Inte-resse an ihrem Erfolg. Das setzt allerdings voraus, dassdie Bundesregierung bereit ist, sich mit uns an einenTisch zu setzen, um über die Mitwirkung des Bundesta-ges an der europäischen Gesetzgebung und an zentraleneuropäischen Weichenstellungen zu sprechen.
Der Bundeskanzler und sein Außenminister verren-nen sich; sie wollen mit dem Kopf durch die Wand. Wirschlagen Ihnen vor, wählen Sie die Tür eines vernünfti-gen Kompromisses! Wir wollen, dass der Bundestag anzentralen europapolitischen Entscheidungen beteiligtwird. Wir wollen, dass der Bundestag vor der Aufnahmevon Beitrittsverhandlungen darüber entscheidet. Wirwollen, dass der Bundestag unterrichtet wird, wenn dieRegierung ein europäisches Gesetzgebungsverfahren beider Kommission anregt. Es kann ja nicht angehen, dasswir innenpolitisch diskutieren und hier Vorlagen ableh-nen, uns dann aber ein Minister oder eine Ministerin derRegierung über Brüssel ein Gesetzgebungsverfahrenpräsentiert und wir darüber noch nicht einmal unterrich-tet sind.
Wir wollen als Parlament besser in das Gesetzge-bungshandeln der deutschen Regierung in Brüssel einge-bunden sein. Wenn die Regierung glaubt, sie könne dieberechtigten Wünsche des Parlamentes nach Beteiligungignorieren, dann wird sie in arge Schwierigkeiten gera-ten. Wir haben ihr das gesagt und ich hoffe, dass die aufder Regierungsbank verbliebenen Staatssekretäre denHerrn Bundesaußenminister davon in Kenntnis setzen.Denn diese EU-Verfassung ist uns wichtig. Aber uns istauch wichtig, dass der Deutsche Bundestag an zentraleneuropäischen Weichenstellungen mitwirken kann.
Am Freitag entscheidet der Bundestag über die deut-sche Beteiligung an der EU-geführten Operation Altheazur Stabilisierung des Friedensprozesses in Bosnien undHerzegowina. Die CDU/CSU-Fraktion wird dem An-trag der Bundesregierung zustimmen.
Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitikist ein Feld, auf dem die Regierung unsere Unterstützunghat – und sehr häufig auch dringend braucht, weil sie inihren eigenen Reihen Schwierigkeiten hat.
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Peter HintzeStellen wir uns bitte einmal vor, eine Bundesregierungaus Union und FDP wäre im Amt
– das ist für Sie vielleicht keine so schöne Vorstellung,aber Sie müssen sich schon einmal langsam daran ge-wöhnen – und Herr Fischer wäre hier Oppositionsredner.Ich könnte mir vorstellen, dass er das Geschrei von einerMilitarisierung der EU anstimmen würde. Bei all demKummer, den wir mit dieser Regierung haben, ist esvielleicht ein Gutes, dass wenigstens diese Entscheidungauf diese Weise zustande kommt und wir es schaffen, ei-nen europäischen Beitrag auf dem Balkan zu leisten.
Die Operation Althea trägt den Namen der griechischenGöttin der Heilung. Ich hoffe, dass der Einsatz der EUdazu beiträgt, die immer noch offene Wunde Balkan tat-sächlich zu schließen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Deutschlandhat in Europa ein massives Glaubwürdigkeitsproblem.
Das Problem heißt Stabilitätspakt.
Ich bin von einer Kollegin aufgefordert worden, aucheinmal zum Haushalt zu sprechen, weil die Außen- undEuropapolitiker das nie tun würden. Ich will das an die-ser Stelle machen. Jedes Jahr aufs Neue gaukelt unsdiese Bundesregierung vor, sie werde die Vorschriftendes Stabilitätspaktes nicht brechen. Sie nennt uns dieentsprechenden Zahlen und jedes Jahr stellt sich wiederheraus, dass er gebrochen wird. Im Jahre 2005 droht dervierte Bruch des Stabilitätspaktes in Folge. Das ist nichtnur unter haushaltspolitischen und unter verfassungs-rechtlichen Gesichtspunkten problematisch,
es ist auch unter europapolitischen Gesichtspunkten einDrama, dass Deutschland, der Hüter und Wahrer des Sta-bilitätspaktes, diesen in unverschämter Weise bricht. Dasmuss sich dringend ändern.
Man sagt jetzt: Wenn wir den Pakt nicht einhaltenkönnen, dann ändern wir einfach den Pakt, erhöhen dieVerschuldung, definieren unsere Schulden um und ver-frühstücken das, was zukünftige Generationen brauchen.Ich empfehle der Bundesregierung eindringlich, denMonatsbericht November der Deutschen Bundesbankzur Kenntnis zu nehmen und zu studieren; denn in ihmheißt es in der nüchternen Sprache der Bundesbank klar:Abzulehnen ist eine Aufweichung des Referenz-wertes für die Defizitquote durch ausgeweiteteAusnahmeklauseln oder längere Korrekturfristen.
– Ich will den Zwischenruf des Kollegen Gerhardt auf-greifen: Alle Institutionen, die sich für die Stabilität un-seres Geldes noch einen Rest verantwortlich fühlen,warnen vor diesem Kurs der Bundesregierung. Ich hoffesehr, dass hier im letzten Moment noch Einsicht ein-kehrt. Im Notfall muss das Bundesverfassungsgerichtdas herstellen, wozu die parlamentarische Mehrheit indiesem Hause offensichtlich nicht in der Lage ist.
Nun komme ich zur Türkeifrage, die der KollegeVolmer hier angesprochen hat.
Ich glaube, dass Sie hier einen verhängnisvollen Fehlerbegehen. Sie sollten mehr auf die kritischen Stimmenhören, die sagen, dass das, was im Dezember durchge-peitscht werden soll, verhängnisvoll für Europa und fürDeutschland ist. Angela Merkel hat bereits auf ihrerReise in die Türkei sowohl der türkischen Regierung alsauch der europäischen Öffentlichkeit den Vorschlag derprivilegierten Partnerschaft erläutert.
– Herr Mark, ich darf Sie darauf hinweisen, dass BischofHuber – er war früher in der SPD aktiv und ist heuteRatsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutsch-land – auf der Synode zu diesem Thema gesprochen hat.In seinem Bericht hat er aufgeführt, welche massivenProbleme es gibt: das Frauenbild in der Türkei, die Un-terdrückung der nicht muslimischen Religionen, die Fol-ter usw. Er schließt seinen Bericht auf der EKD-Synodemit den Worten:Die Frage, ob eine privilegierte Beziehung der Tür-kei zur Europäischen Union nicht der bessere Wegist, wird sich auch beim weiteren Umgang mit die-sem Thema immer wieder stellen.Wenn Sie nicht auf uns hören, wenn Sie nicht auf un-sere Freunde in Frankreich hören, wenn Sie auch nichtauf die Wissenschaft hören, dann hören Sie vielleicht aufeine solche Stimme aus unserer Evangelischen Kirche,die sagt: Nehmt die Realitäten zur Kenntnis und legteuch jetzt nicht in einer Frage fest, die sich schicksalhaftnegativ für Deutschland und Europa auswirken kann.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat der Kollege Lothar Mark, SPD-Frak-
tion.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! LiebeKollegen! Wir haben uns nun offiziell seit 59 Minutenüber den Haushalt des Auswärtigen Amtes unterhalten;denn das ist das Thema dieses Tagesordnungspunktes.Das Wort Haushalt ist einmal vom Kollegen Dr. Volmer
und einmal von Herrn Hintze im Zusammenhang mitdem Stabilitätspakt erwähnt worden, der aber eher beieinem anderen Einzelplan angesiedelt ist.
– Bei den Begriffen „Drama“ und „Tragödie“ möchte ichdarauf hinweisen, dass die Differenzierung nicht ganzklar erkannt worden ist.
Deutschland hat in den letzten Jahren international er-heblich an Gewicht gewonnen. Vor dem Hintergrund derneuen Herausforderungen unserer Zeit durch terroristi-sche Anschläge, notwendige humanitäre Hilfe an altenund neuen Krisenherden sowie die gemeinsame Bewälti-gung der Folgen des Irakkriegs sind die Erwartungen andie Bundesregierung und den auswärtigen Dienst stetiggewachsen. Deutschland bewirbt sich zu Recht um einenSitz im UN-Sicherheitsrat, was unsere internationaleVerantwortung nicht mindert, sondern erhöht. Gefordertist eine schnelle Krisenreaktionsfähigkeit durch welt-weite Präsenz und Entsendung von Personal zu interna-tionalen Organisationen für friedenserhaltende bzw.Frieden stiftende Missionen.Ich weise aber auch auf die besondere Bedeutung derAußenrepräsentanz als rentierliche Zukunftsinvestitionhin. Die Aufgabe, Deutschland für das ausländische Pu-blikum verständlich darzustellen und auf Deutschlandneugierig zu machen, obliegt den Mitarbeitern der jewei-ligen Auslandsvertretung. Gerade die Kulturarbeit unddie Arbeit der Wirtschaftsabteilung prägen das Deutsch-landbild im Ausland und müssen als kohärente Strategieeiner Auslandsvertretung im Rahmen der so genanntenPublic Diplomacy vermittelt werden. Diese will langfris-tig Sympathie und Verständnis für und Neugier aufDeutschland wecken. Die grundsätzlich positive Wahr-nehmung Deutschlands im Ausland als traditionellesKultur- und Exportland soll um die Elemente des moder-nen Deutschlands ergänzt werden.Deswegen sind solche destruktiven Reden wie die desCSU-Kollegen Glos am heutigen Vormittag kontrapro-duktiv und für Deutschland schädlich.
Bundeskanzler Schröder sprach in diesem Zusammen-hang vom „Zerrbild Deutschland“, das von der CDU/CSU immer wieder in düsteren Farben gemalt wird. Fürmich, lieber Kollege Glos, ist nicht nachvollziehbar, wieSie sich als Christ so unchristlich äußern können.
„Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinenNächsten“ heißt das achte Gebot, Herr Müller.Seit der Reforminitiative von BundesaußenministerFischer im Jahr 2002 bemüht sich das Auswärtige Amt,alle Wirtschaftlichkeitsreserven auszuschöpfen, um mitweniger Ressourcen wesentlich mehr Effizienz zu erzie-len. Dabei stößt es an Grenzen. So hatte ich mich bereitsin den Haushaltsberatungen 2004 dafür ausgesprochen,den Einzelplan 05 künftig so weit wie möglich von wei-teren Kürzungen auszunehmen. Tatsächlich wird dasAuswärtige Amt wie auch alle anderen Ressorts imJahr 2005 mit 22,3 Millionen Euro zur globalen Minder-ausgabe beitragen und hat darüber hinaus wie die ande-ren Ministerien eine Absenkung in der Finanzplanung zuverkraften.In den Beratungen ist es aber gelungen, wichtige Prio-ritäten deutscher Außenpolitik auch finanziell abzusi-chern. So wird es Erhöhungen der Ansätze im Regie-rungsentwurf für die Unterstützung von internationalenMaßnahmen auf dem Gebiet der Krisenprävention sowiefür humanitäre Demokratisierungs- und Ausstattungs-hilfe geben. Vor dem Hintergrund der zugesagten konti-nuierlichen Erhöhung der ODA-Quote, der OfficialDevelopment Aid, auf 0,33 Prozent des Bruttosozialpro-dukts bis 2006 wurden bei den wichtigsten Titeln für dieöffentliche Entwicklungszusammenarbeit bescheideneAufwüchse vorgenommen.
Die ODA-Quote war in der Zeit der Regierung Kohl von0,48 Prozent 1982 auf 0,26 Prozent 1998 deutlich zu-rückgefahren worden.Der Haushaltsausschuss sah sich auch in einer beson-deren Obhutspflicht für die Sicherheit der Bedienstetenan den Auslandsvertretungen. Umschichtungen undeine Verstärkung der Titel zur Erhöhung der materiellenSicherheit an gefährdeten Dienstorten waren die Folge.Da die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik eineweitere wichtige tragende Säule der deutschen Außenpo-litik darstellt, habe ich mich gemeinsam mit meinem Ko-alitionskollegen Alexander Bonde dafür eingesetzt, auchhier bei einigen Titeln Umschichtungen zu ihren Guns-ten vorzunehmen. Im Regierungsentwurf war ein Ansatzin Höhe von 2,1 Milliarden Euro für den Haushalt desAuswärtigen Amtes vorgesehen, was ungefähr 0,84 Pro-zent des Gesamthaushaltes entspricht. Als Ergebnis derschwierigen Beratungen im Haushaltsausschuss wurdeder Ansatz jedoch durch Aufwüchse bei ODA-relevanten
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2004 13079
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Lothar MarkTiteln und zur Kompensation der GMA um rund56 Millionen Euro auf 2,2 Milliarden Euro erhöht.
Gerundet bedeutet dies für die einzelnen Kapitel:10 Prozent für das Auswärtige Amt, 37 Prozent für All-gemeine Bewilligungen, 28 Prozent für die Vertretungendes Bundes im Ausland und 25 Prozent für die Pflegekultureller Beziehungen mit dem Ausland.Ich will hier nur einige wichtige Veränderungen nen-nen.Deutschlands Pflichtbeiträge zum Haushalt derVereinten Nationen, insbesondere für Friedensmissio-nen in verschiedenen Brennpunkten der Welt, sind in denletzten Jahren deutlich angestiegen. Sie werden künftigweiter wachsen. Insbesondere vor dem Hintergrund derKrise im Sudan, die eine kostspielige Mission mit rund200 Soldaten aus Deutschland erforderlich macht, aberauch für friedenserhaltende und Frieden stiftende Maß-nahmen im Kongo, in Sierra Leone, Haiti, Burundi usw.wurde der Ansatz „Beitrag an die Vereinten Nationen“ inden Haushaltsberatungen um über 20 Millionen Euro er-höht. Damit kann Deutschland den internationalen Er-wartungen gerecht werden. Der Anteil für internationaleBeiträge im Haushalt des Auswärtigen Amtes beträgtcirca 28 Prozent.Beim Titel „Unterstützung von internationalen Maß-nahmen auf den Gebieten Krisenprävention, Friedenser-haltung und Konfliktbewältigung durch das AuswärtigeAmt“ wurde der bisherige Ansatz zur Stärkung des deut-schen Engagements in der öffentlichen Entwicklungszu-sammenarbeit für Darfur, für die UN-Schutztruppe imIrak – natürlich nur Beteiligung am Wiederaufbau –, fürden Internationalen Strafgerichtshof sowie für verschie-dene Maßnahmen an internationalen Krisenherden um14 Millionen Euro erhöht.Erlauben Sie mir an dieser Stelle einige kurze Wortezum deutschen Beitrag für den Wiederaufbau des Irak.Ich richte sie insbesondere an den Kollegen Schäubleund beziehe mich auf seine am 8. September in der ers-ten Lesung des Gesetzentwurfs geäußerte Kritik. Die Po-sition der Bundesregierung, Truppen zum VN-Schutznur zu finanzieren, aber keine eigenen Truppen zu ent-senden, ist nicht inkonsequent, wie er behauptete. DieUSA und die Vereinten Nationen haben für die VN-Schutztruppe insbesondere muslimische Staaten wegender kulturellen und sprachlichen Affinität zum Irak an-gesprochen. Es bleibt dabei: Wir werden keine Soldatenin den Irak entsenden.
Die Bundesregierung unterstützt die VN, soweit per-sonelle Kapazitäten und finanzielle Möglichkeiten dieszulassen. Im Übrigen ist Deutschland inzwischen einerder größten Truppensteller weltweit, so zum Beispiel inAfghanistan und im Kosovo.Der Titel „Für humanitäre Hilfsmaßnahmen im Aus-land außerhalb der Entwicklungshilfe“
wurde für Soforthilfe, Flüchtlingshilfe und vorbeugen-den Katastrophenschutz insbesondere in Afrika, Afgha-nistan, Bangladesch und der Karibik um circa 13 Millio-nen Euro erhöht.
Beim Titel „Demokratisierungs- und Ausstattungs-hilfe“ – und hier geht es insbesondere um Minenbeseiti-gungsprogramme – sprachen sich die Berichterstatter derRegierungskoalition für eine Erhöhung des Ansatzes imRegierungsentwurf um 2,5 Millionen Euro aus. Für dieHaushaltsjahre 2007 und 2008 sind zusätzlich zu den be-reits eingebrachten Verpflichtungsermächtigungen je-weils 3 Millionen Euro hinzugekommen.Jedes Jahr werden zwischen 15 000 und 20 000 Men-schen durch Antipersonenminen und Blindgänger ver-letzt und getötet, vor allem in Afghanistan, Angola,Kambodscha und Vietnam, aber auch in anderen Län-dern. Am 28. November beginnt in Nairobi die Überprü-fungskonferenz zur Ottawa-Konvention über die Besei-tigung von Antipersonenminen. Die Bundesregierungwird dort ihre fortbestehende Bereitschaft zur wirksa-men Hilfe bei der Vernichtung dieser heimtückischenWaffen unterstreichen, was wir sehr begrüßen. Auchdeshalb wurde in den Haushaltsberatungen entschieden,zusätzliche Mittel für Minenbeseitigungsprogramme be-reitzustellen.Mein Appell, hier aktiv zu werden, richtet sich aberinsbesondere an die Länder, die diese mörderischenWaffen herstellen, verkaufen und bis heute das Ottawa-Übereinkommen nicht unterzeichnet haben, so die Verei-nigten Staaten, Russland, Indien, China und viele an-dere. Sie sollten meiner Meinung nach die Hauptkostenfür die Beseitigung dieser Mordinstrumente tragen.Wir unterstützen ohne Vorbehalt die wichtigsten Be-stimmungen des Ottawa-Übereinkommens. Ich denke,dass wir gut beraten sind, wenn wir unsere Freunde inden anderen Ländern mit davon überzeugen können,dass wir dieses Abkommen vorbehaltlos unterzeichnen.
Um den Haushalt des Auswärtigen Amtes nicht zu-sätzlich zu belasten, haben sich die Haushaltsberichter-statter darauf verständigt, die für die Fortführung desDeutsche-Welle-Programms in Dari und Pashtu unddamit zum Aufbau der Zivilgesellschaft in Afghanistanbenötigten 1,2 Millionen Euro nicht mehr aus Förder-mitteln, sondern aus dem Stabilitätspakt Afghanistanaufzubringen. Die entsprechenden Gespräche zur Vorbe-reitung von Projektanträgen haben bereits stattgefunden,sodass sich die Sache auf einem guten Weg befindet.
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Lothar MarkZum Thema Deutsche Welle will ich nur noch hinzu-fügen, dass wir mit der geplanten Einstellung bzw. Re-duktion des Spanischprogramms nicht einverstandensind.
Hier muss sich – das sage ich mit allem Nachdruck – dieDeutsche Welle konstruktiv bewegen.
Die Fortführung der bisherigen Streitschlichtungsak-tivitäten von Bundesminister a. D. Dr. Schwarz-Schilling in Bosnien-Herzegowina, für die ich im Na-men meiner Fraktion hier ausdrücklich meine Anerken-nung aussprechen will,
und ihre Ausweitung auf Mazedonien und den Kosovokonnte über die Mittel des Stabilitätspakts Südosteuropaebenfalls gesichert werden, ohne den Ansatz des Regie-rungsentwurfs zu erhöhen. Auch hierzu haben bereitskonstruktive Gespräche zwischen den Beteiligten statt-gefunden. Ein Projektantrag über rund 350 000 Euro fürdas Haushaltsjahr 2005 ist in Arbeit. Seiner Bewilligungsteht im Grunde genommen nichts mehr im Wege.Vor dem Hintergrund des Terroranschlags vom11. September 2001, der Anschläge in Istanbul undMadrid sowie des Überfalls auf den BGS-Konvoi in Fal-ludscha, aber auch vor dem Hintergrund des nötigenSchutzes vor Erdbeben in besonders gefährdetenDienstorten wie zum Beispiel Almaty, Izmir, Tiflis,Lima, San Francisco und Teheran waren bereits im Re-gierungsentwurf zusätzliche Mittel für die Verbesserungder materiellen Sicherheit bei Bau- und sonstigen Maß-nahmen in den Auslandsvertretungen vorgesehen.In den Haushaltsberatungen sprachen sich die Be-richterstatter dafür aus, den beim Titel „Kleine Neu-,Um- und Erweiterungsbauten“ vorgesehenen Ansatznochmals um mehr als 5 Millionen Euro zu erhöhen.Beim Titel „Erwerb von Fahrzeugen“ wurde der bishe-rige Ansatz ebenfalls aufgrund der Sicherheitsanforde-rungen um weitere 500 000 Euro erhöht.
Wie die Bundesregierung sehen auch wir uns in beson-derer Weise der Sicherheit des Personals verpflichtet.Eine weitere wichtige Säule der deutschen Außenpo-litik stellt die auswärtige Kultur- und Bildungspolitikdar. Aufwendungen für Bildung und Forschung sindauch und gerade im Bereich des Auswärtigen Amtes loh-nende Investitionen in die Zukunft. Die Haushaltsbe-richterstatter der Regierungskoalition haben sich deshalbdarauf verständigt, im Titel „Stipendien, Austauschmaß-nahmen und Beihilfen für Nachwuchswissenschaftler“den Ansatz für den DAAD und die Alexander-von-Humboldt-Stiftung zu erhöhen.
Weitere Erhöhungen wurden bei den Auslandsschulenvorgenommen. Dieses Thema muss jedoch einmal sepa-rat behandelt werden; hier besteht Diskussionsbedarf.Zum anderen haben wir positive Veränderungen bei denMitteln für die Deutsche Gesellschaft für AuswärtigePolitik, bei dem Topf für den deutsch-britischen Jugend-austausch und bei den Kirchen vorgenommen sowie zu-sätzliche Mittel für die Tempelanlage Angkor Wat inKambodscha bewilligt.Bei den Berichterstattern der Regierungskoalition be-stand Einvernehmen darüber, den Ansatz für das Deut-sche Archäologische Institut um 400 000 Euro zu erhö-hen.
Der Einsatz des DAI für die Rettung und Bewahrung desWeltkulturerbes wird international hoch geschätzt undträgt deshalb zu Deutschlands Ansehen in der Welt bei.
Die Mittel sind ausschließlich für den Projektmitteletatvorgesehen. Aus diesem Titel werden unter anderemGrabungen in Syrien, in Saudi-Arabien, im Sudan, inJordanien, in Afghanistan und in Marokko finanziert undsie dienen damit auch der Stärkung des Dialogs mit isla-mischen Ländern und sind kulturhistorisch von großerBedeutung.
Wenn man sich, liebe Kolleginnen und Kollegen, dieernsthaften und erfolgreichen Bemühungen der Koali-tionshaushälter vergegenwärtigt, jeweils zu den best-möglichen Lösungen zu kommen, dann ist es umso un-verständlicher, dass die CDU/CSU Personalkürzungenbei den flexibilisierten Mitteln um 10 Prozent vorge-schlagen hat. Das würde zum Beispiel für den Haushaltdes Auswärtigen Amtes bedeuten, dass 600 bis 650 Stel-len nicht finanziert
sowie im Sachmittelbereich Kürzungen von fast14 Millionen Euro zu verkraften wären.
Dass dies aus personalrechtlichen und faktischen Grün-den nicht möglich ist, dürfte allen bekannt sein. Trotz-dem wird von der Opposition versucht, in der Öffent-lichkeit den Eindruck zu erwecken, man würde sinnvolleSparvorschläge unterbreiten.
Wer so querbeet kürzen will, macht letztlich alles kaputtund hat jedes Maß an Seriosität verwirkt.
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Lothar Mark
Angesichts der schwierigen Haushaltslage, die alleRessorts aufgrund der globalen Minderausgabe zu Redu-zierungen und Abstrichen zwingt, haben wir Deckungs-vorschläge erarbeitet, die schmerzlich sind, den Koali-tionsberichterstattern für den Einzelplan 05 aber als fürdas Auswärtige Amt verkraftbar erschienen. Hilfreichwar der Nichtabfluss von Mitteln beim Titel „DeutscherBeitrag im Rahmen der G-8-Initiative zur Abrüstungs-und Nichtverbreitungszusammenarbeit“ und beim An-satz „Beitrag an Organisationen und Einrichtungen iminternationalen Bereich“, Erweiterung des NATO-Hauptquartiers in Brüssel.Im Sinne der 2002 begonnenen Reforminitiativekonnten auch bei der Budgetierung und gegenseitigenDeckungsfähigkeit einzelner Titel Fortschritte erzieltwerden.
Ich begrüße deshalb das seit 2003 in Vorbereitung be-findliche und jetzt im Haushaltsentwurf festgeschriebenePilotprojekt Italien des Goethe-Instituts, der größtennicht staatlichen Mittlerorganisation, die im Auftrag derBundesrepublik Deutschland mit der Wahrnehmung kul-turpolitischer Aufgaben im Ausland betraut ist.Beschränkte Deckungsfähigkeit von einzelnen Titeln– dies sage ich ausdrücklich an die Adresse des Bundes-finanzministeriums – kann allerdings nur ein ersterSchritt zur Aufgabe der althergebrachten Titelstrukturhin zur Schaffung von Budgetierung sein.
Deshalb habe ich in den Haushaltsberatungen angeregt,nicht erst im Jahr 2006, sondern bereits ab Mitte 2005mit der externen Evaluierung des Goethe-Instituts inItalien zu beginnen, damit schnellstmöglich die Budge-tierung weiterer Mittlerorganisationen der auswärtigenKulturpolitik ins Auge gefasst werden kann.
Ich bin der festen Überzeugung, dass die neuen Steue-rungsinstrumente Budgetierung und die damit verbun-dene strategische Zielvereinbarung dazu beitragenwerden, eine effizientere Steuerung der Auslandskultur-arbeit durch das Auswärtige Amt zu ermöglichen.Vor dem Hintergrund der angespannten Haushaltslagesollten schon jetzt im Rahmen der Kameralistik alleMöglichkeiten einer betriebswirtschaftlichen Haushalts-führung genutzt werden, sofern dies haushaltsrechtlichmöglich ist. Die Einrichtung eines ausgelagerten Eigen-betriebs zur Verwaltung der Auslandsliegenschaftendes Auswärtigen Amtes als Facility Management ist einSchritt in die richtige Richtung.Zum Abschluss der Beratungen möchte ich auch dies-mal allen Berichterstatterkollegen für den Einzelplan 05,insbesondere dem Kollegen Alexander Bonde, sowie al-len Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalitionim Haushaltsausschuss, aber auch der Opposition, demAusschussvorsitzenden der SPD-Arbeitsgruppe „Haus-halt“ mit unserem Obmann Walter Schöler an der Spitzesowie Gerhard Küntzle, Jürgen Morhard undDr. Joachim Rücker vom Haushaltsreferat des Auswärti-gen Amtes für die ausgezeichnete Zusammenarbeit inden vergangenen Wochen und Monaten danken.
– Der Herr Kollege Frankenhauser gehört zur Opposi-tion, die ich in meiner Aufzählung ausdrücklich erwähnthabe. Wenn es aber gewünscht ist, hebe ich hervor, dassdie Zusammenarbeit mit ihm besonders gut war.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.
Ich bitte um Zustimmung zum Haushalt des Auswär-
tigen Amtes.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Werner Hoyer,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Da ich nicht 20 Minuten, sondern nur knapp vier Minu-ten Zeit habe, kann ich leider nicht alle Haushaltstiteleinzeln kommentieren. Ich möchte aber den Haushälternausdrücklich dafür danken, dass es ihnen gelungen ist,den Regierungsentwurf im Bereich der auswärtigen Kul-turpolitik erheblich zu verbessern. Das betrifft nicht zu-letzt den Bereich Alexander-von-Humboldt-Stiftung,den DAAD und die Auslandsschulen. Das ist ganz be-sonders wichtig und dies erkenne ich ausdrücklich an.Das ist die erste kurze Vorbemerkung.
Zweite Vorbemerkung: Ich finde es wichtig, dass dasThema „Sicherheit unserer Auslandsvertretungen“ ins-besondere in Erdbebengebieten ernsthaft weiterverfolgtwird. Ich mache mir nämlich ausgesprochen große Sor-gen über die Mitarbeiter in einigen Regionen.Wolfgang Gerhardt hat bereits das Thema Nahost an-gesprochen. Soeben ist die Meldung über den Ticker ge-kommen, dass der UN-Beauftragte für den Nahen Osten,Terje Roed-Larsen, nach seinen Gesprächen in Damas-kus ausdrücklich bestätigt, dass Syrien bereit ist, dieFriedensverhandlungen mit Israel ohne Vorbedingungen
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Dr. Werner Hoyerwieder aufzunehmen. Ich denke, das ist eine sehr guteNachricht. In der Tat gibt es jetzt ein Fenster der Gele-genheiten. Wir müssen alles tun, um es zu nutzen.
Lassen Sie mich vier Bemerkungen zur Europapoli-tik machen. Erstens. Wir Liberale gratulieren unserenKolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlamentzu ihrem Erfolg bei der Entscheidung über die Zusam-mensetzung der Kommission. Sie sind in den letztenWochen nicht als Tiger gestartet, um dann als Bettvorle-ger zu landen. Sie haben vielmehr eine hervorragendeLeistung erbracht und damit das Parlament, aber auchdie Kommission gestärkt. Nur wenn man diese beidenOrgane im Zusammenhang sieht, kann man von einerStärkung Europas sprechen.
Ich finde, dass es völlig verfehlt ist, dieses Thema aufdie Frage zu reduzieren, welcher Konfession bzw. reli-giösen Überzeugung ein EU-Kommissar anhängt. Dasmuss selbstverständlich jedem Kommissar überlassenbleiben. Das müssen wir respektieren.
Aber muss ausgerechnet jemand, der von bestimmtenÜberzeugungen geprägt ist und sich getrieben fühlt, dasInitiativmonopol der Kommission in Fragen der Innen-und Rechtspolitik bzw. der Gleichberechtigung haben?Der ursprüngliche Besetzungsvorschlag der Kommis-sion lässt auf ein schlechtes Urteilsvermögen schließen.Ihre Ablehnung hatte nach meiner Auffassung mit denreligiösen Überzeugungen der einzelnen Kommissarenichts zu tun.
Zweitens. Der Europäische Rat wird wichtige Wei-chenstellungen bezüglich der Erweiterung der Europäi-schen Union, insbesondere in Sachen Türkei, vorneh-men. Ich will die Türkeidebatte nicht fortführen, sondernlediglich darauf hinweisen, dass es zwei Extrempositio-nen gibt. Es gibt Politikerinnen und Politiker, die dieTürkei niemals, selbst bei Erfüllung aller Voraussetzun-gen, in die EU aufnehmen würden. Es gibt andere, diedie Türkei jederzeit ohne alle Vorbehalte und mit gro-ßem Rabatt in die EU aufnehmen wollen.
Zwischen diesen Extrempositionen müssen wir unserenWeg finden. Wir müssen präzise Kriterien aufstellen,wie wir das in der letzten Debatte über dieses Thema ge-tan haben. Daran sollte man sich orientieren.Auch wenn heute schon sehr viel Richtiges über dieUkraine gesagt worden ist, ist es wichtig, nicht zu ver-gessen: Die Europäische Union ist kein Endzustand,sondern ein Prozess. Jeder, der der EU beitreten will,muss bereit sein, sich an diesem Prozess nach dem Bei-tritt zu beteiligen und – bei Wahrung des Subsidiaritäts-prinzips – Souveränitätsrechte auf den Gebieten abzuge-ben, auf denen die Union nur gemeinschaftlicherfolgreich sein kann, und muss sich gefallen lassen,dass wir uns von außen einmischen, wenn zum BeispielMenschenrechtsfragen berührt sind. Das gehört zurLogik der Europäischen Union und das muss sich jederüberlegen, der der Europäischen Union beitreten will.
Drittens. Es muss klar sein, dass die Mitgliedschaft inder Europäischen Union kein Vehikel zur Lösung inter-ner Probleme von Beitrittsaspiranten sein darf. Sowohlder Beitrittsaspirant als auch die Europäische Unionmüssen ein Interesse an dieser Mitgliedschaft haben.
Sonst würden wir uns übernehmen. Das mögen manche– vielleicht jenseits des Atlantiks – bisweilen durchausganz gern sehen; aber dadurch würde die Grundidee dereuropäischen Integration sicherlich ruiniert. An einersolchen Überlegung dürfen wir uns nicht beteiligen.Letzte Bemerkung. Vor 15 Jahren ist die Mauer gefal-len. Europa ist geeint, frei und trotzdem gespalten. DieHauptaufgabe dieser Bundesregierung besteht darin, da-für zu sorgen, dass diese Spaltung Europas überwundenwird und dass wir an die besten Traditionen deutscherEuropapolitik anknüpfen: Man sollte bei allen, die sichan diesem Prozess beteiligen – auch bei den Kleinen –,um Vertrauen werben und dabei darauf achten, dass auchdurch bilaterale Außenpolitik innerhalb der Europäi-schen Union die Voraussetzungen dafür geschaffen wer-den, dass Deutschland seine Rolle als Mittler im europäi-schen Integrationsprozess erfolgreich spielen kann.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Bundesaußenminister Joschka
Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wennman die internationale Lage betrachtet, dann – ichglaube, diesen Eindruck haben die meisten Menschen imIn-, aber auch im Ausland – wird man sich des Ein-drucks schwer erwehren können, dass die Welt nicht nurkomplexer geworden ist, sondern dass auch die Anzahlder Krisen und der Konflikte zugenommen hat. Insofernsehen wir hier mit Sorge die Entwicklung in derUkraine. Alles spricht dafür, dass die Wahlen dort nichtden Standards entsprochen haben, die freie und geheimeWahlen kennzeichnen, und dass es zu erheblichen Ver-fälschungen gekommen ist. Die Bundesregierung hält esfür unbedingt notwendig, dass sich der Wille der Mehr-heit der ukrainischen Bevölkerung nach freien und ge-heimen Wahlen im Wahlergebnis ausdrückt.
Das ist das Wesen der Demokratie.
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Bundesminister Joseph FischerEs sollte alles getan werden, um dort zu einer Über-prüfung zu kommen. Zugleich sollte alles getan werden,um zu vermeiden, dass es eine Konfrontation gibt, die zuEntgleisungen führen könnte. Das heißt, der friedlicheCharakter dieses Prozesses ist ebenfalls von entschei-dender Bedeutung.Ich habe intensiv zugehört, auch heute Morgen. Ichglaube, manche machen es sich zu einfach. In dieser au-ßenpolitischen Situation gibt es unterschiedliche Interes-sen: Einerseits gibt es die prinzipien- und grundsatzorien-tierte Haltung – wir teilen sie –, die Menschenrechte,Demokratie, wirtschaftliche Entwicklung, marktwirt-schaftliche Reformen, soziale Gerechtigkeit und Armuts-bekämpfung im Auge hat; andererseits gibt es Machtver-hältnisse, die von uns nur bedingt beeinflussbar sind.Angesichts dessen steht man vor der schwierigen Frage,wie weit man an Grundsätzen und Prinzipien festhält undwie man die Chance nicht aus der Hand gibt, am Endedoch noch etwas zu erreichen.
– Das ist der entscheidende Punkt, mit dem es die Bun-desregierung zu tun hat, Herr Gerhardt.
– Bitte! Auch ich halte mich daran. Bei meiner letztenReise nach China wurde Klartext geredet. Das ist dochüberhaupt keine Frage. Dasselbe war beim Gespräch mitPräsident Putin im Kreml der Fall. Ich weiß das vomBundeskanzler. Er hat am heutigen Tag mit dem russi-schen Präsidenten telefoniert und nochmals über dieLage in der Ukraine gesprochen.
– Er hat das gesagt, was er auch hier im Bundestag ge-sagt hat.
Das ist doch überhaupt keine Frage.Dasselbe galt für mein Gespräch mit dem russischenAußenminister am Rande der Scharm-al-Scheich-Konfe-renz. Die russische Seite hatte eine andere Auffassung.Der Deutsche Bundestag wird eine Resolution beschlie-ßen, die völlig anders ist als die, die die Duma zu dem-selben Thema beschlossen hat. Die Frage, mit der wiruns auseinander setzen müssen, lautet, wie wir hierbeidann in der Tat auch parallel vorgehen. Da ist keineFrage, ob wir uns etwa bei den Menschenrechten wegdu-cken. Nein, das tun wir nicht.
– Bitte wo?
– Weltweit tun wir es? Überall da, wohin wir gehen,schweigen wir dazu? – Ich will Ihnen dazu Folgendes sa-gen: Ihr Ministerpräsident war damals Kanzlerkandidat.Er ist nach Moskau gefahren und – ich bekomme dasdoch mit – hat mit keinem Wort – das wissen Sie auch –die Situation im Kaukasus oder die Situation bei der in-neren demokratischen Entwicklung erwähnt.
Wir haben das erlebt, als Präsident Putin hier war. Ichhabe immer zugehört und gewartet, bis es soweit ist.Meine Damen und Herren, an diesem Punkt kann ich Ih-nen nur sagen: Da verfolgen wir eine Politik, die prinzi-pienorientiert ist, die an den Menschenrechten und derDemokratieentwicklung festhält, die sich an unserer ei-genen Verfassung orientiert.
Auf der anderen Seite gibt es natürlich Interessen, diewir hier zu vertreten haben.
– Ich setze mich damit jetzt nicht auseinander.
Da könnte man sagen: Da war immerhin noch eineSeele. Bei Ihnen – – Na ja. Herr Dr. Müller, voll danebengegriffen hat heute schon Ihr Kollege Glos. Er hat sichentschuldigt. Damit haken wir das ab. Der Rest ist besserSchweigen.
Für mich ist der entscheidende Punkt, dass wir dieeuropäisch-russischen Beziehungen fortentwickelnmüssen. Herr Kollege Gerhardt, das werden ganzschwierige Gespräche werden.
Selbstverständlich ist das auf der Tagesordnung – einKollege hatte danach gefragt –; Barroso hat es heute ange-kündigt. Die Präsidentschaft wird das genauso ansprechenwie Solana auch. Selbstverständlich ist das auf der Tages-ordnung, so wie es am Rande von Scharm el-Scheichauch schon angesprochen wurde.Die Frage lautet: Ist die strategische WestöffnungRusslands aufrechtzuerhalten?
Wenn dies entgleiten würde, wären wir in einer untervielen Gesichtspunkten sehr veränderten Welt.
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Bundesminister Joseph FischerAuf der anderen Seite ist aber auch klar anzusprechen,wo wir anderer Meinung sind und was nach unserer Mei-nung geht und nicht geht. Das gehört für die Bundesre-gierung, für den Bundeskanzler, für mich, für die Koali-tion selbstverständlich zusammen.In diesem Zusammenhang kommt auch immer derHinweis: Und mit Amerika ist Schweigen. – Dazu kannich nur sagen: Offensichtlich sind Sie da im völlig fal-schen Film. Wir haben die Debatte über den Kampf ge-gen den Terrorismus seit dem 11. September 2001 – ichpersönlich seit dem 18./19. September 2001 – mit deramerikanischen Seite geführt. Ich war bei Gesprächendabei, die der Bundeskanzler und der Präsident geführthaben. Wir haben von Anfang an klar gemacht, dass wirin der Frage des Irak eher der Analyse des Vaters desPräsidenten und dessen Mitarbeitern, von Scowcroft undPowell, zuneigen als dem, was sich in Washington ent-wickelt.Wenn es hier eine Tragödie gibt, dann ist es doch die,dass die Union am traditionellen Transatlantismus fest-gehalten hat, aus guten Gründen – das war nun einmalein prägendes Element ihrer Parteigeschichte und des-sen, was sie für unser Land geleistet hat, was ich nichtfür gering halte –, im Fall des Irak aber völlig unter-schätzt hat, dass hierbei offensichtlich andere Elementeeine Rolle gespielt haben, die mittlerweile offen zutageliegen.
– Das Problem bei Ihnen ist, dass Sie sich immer davon-machen. Zuerst riskieren Sie aber eine dicke Lippe. Ersthätten wir dabei sein sollen, um die VN zu schützen.Dann hätten wir bei der NATO dabei sein sollen. Wir ha-ben der NATO von Anfang an gesagt: Wir arbeiten an ei-nem Kompromiss, aber ihr wisst genau: Wir werden unsim Irak nicht mit Soldaten beteiligen. – Wir waren dieErsten, die Ausbildung betrieben haben. Zu dem Zeit-punkt, zu dem die NATO noch gar nicht daran gedachthat, waren wir bereits an der Polizeiausbildung beteiligt.
Ich habe meinem Freund, dem NATO-Generalsekre-tär, aber auch dem Oberkommandierenden der NATOvon Anfang an gesagt: Wir sind nicht bereit, da durch einTürchen zu gehen – sei es auch noch so klein – und unsdamit auf eine abschüssige Strecke zu begeben, undzwar deswegen, weil wir es nicht richtig finden; würdenwir es richtig finden, würden wir anders entscheiden.
Wir haben jetzt die große Chance im Nahen Osten,wobei klar sein muss, dass schwierige und grundsätzli-che Entscheidungen anstehen, wenn sie denn genutztwerden soll. An erster Stelle ist zu sagen: Es geht nichtohne Amerika – ohne jeden Zweifel. Aqaba hat gezeigt:So mutig und so wichtig es damals vom amerikanischen
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Was wäre gewesen,wenn Abu Masen damals den Rückzug von Gaza unddazu noch die Freilassung einiger Gefangener erreichthätte? Dann wären wir heute in einer völlig anderenLage. Aber bitte: Tempi passati.Um zu einem Erfolg zu kommen, müssen jetzt – ichglaube, beide Seiten begreifen das – richtungsweisendeEntscheidungen getroffen werden. Es wird nicht Friedenund Land geben. Das wird nicht funktionieren, sage ichder israelischen Seite.
Es wird aber auch keinen Staat geben, solange es Terrorgibt. Das sage ich der palästinensischen Seite. Wenn derMut zu entsprechenden Grundsatzentscheidungen aufbeiden Seite nicht da ist, wird die sich jetzt bietendeChance, die so schnell nicht wiederkommen wird, ver-tan.
Deswegen appelliere ich noch einmal dafür, jetzt nicht inkleinen Schritten zu denken, sondern den Mut zu großenGrundsatzentscheidungen aufzubringen. Damit könntewieder Vertrauen aufgebaut werden. Die Palästinensermüssen eine Entscheidung für Nation Building und ge-gen den Terror treffen. Israel muss sich im Gegenzug da-für entscheiden, einen wirklich lebensfähigen palästi-nensischen Staat zuzulassen. Dabei müssen mancheTräume, die man bezüglich der besetzten Territoriennoch hegt, hintangestellt werden. Wenn man sich dessenbewusst ist, kann es funktionieren.
Ich glaube, dass das auch sehr positive Wirkungen aufdie Gesamtregion hätte. Der wichtigste Ansatzpunkt istdoch, dass wir den Dschihad-Terrorismus, diesen neuenTotalitarismus, isolieren und dass wir ihm – nicht wil-lentlich – durch falsche politische Entscheidungen nichtetwa Unterstützung zukommen lassen. Wir müssen dierichtigen politischen Entscheidungen treffen. In diesemZusammenhang stellt sich auch die Frage nach Möglich-keiten der Stabilisierung des Iraks. Ich bin der festenÜberzeugung, dass es sich dabei nicht um eine militäri-sche, sondern letztendlich um eine politische Frage han-delt. Die Verbreiterung der politischen Basis jenseits derSaddamisten und Dschihadisten ist die Aufgabe, damitder Prozess dort von einer breiten Mehrheit getragenwird. Dazu gehört regionaler und internationaler Kon-sens.Damit der Irak nicht zu einem Ersatzschlachtfeld ineiner möglichen iranisch-amerikanischen Konfrontationwird, ist der Verständigungsprozess zwischen dem Iranund Europa bei allen Schwierigkeiten fortzusetzen. Bis-her haben sich nur die Fingerspitzen berührt, aber dieHände hat man gegenseitig noch nicht ergriffen. Dochwir sind dabei, das zu erreichen. Wenn Sie bedenken,welche Alternativen es gibt, dann werden Sie verstehen,dass eine auf Realismus gründende Politik, die die Ge-samtlage im Auge hat, alles versuchen muss, um einesolche, an der Nuklearisierung sich festmachende Kon-frontation zu verhindern
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Bundesminister Joseph Fischer
und eine Tür zu öffnen, durch die man gemeinsam ineine friedlichere Zukunft gehen kann.Vor diesem Hintergrund glaube ich – ich kann das nurim Telegrammstil machen, weil meine Redezeit zu Endeist –, dass Sie im Rahmen der Türkeidebatte einen Feh-ler machen. Ich möchte Sie nicht überzeugen. Sie kön-nen in der Türkeifrage eine andere Meinung vertreten; esgibt ja Gründe dafür. Diese Haltung teile ich nicht, aberich akzeptiere sie. Nach meinem Gefühl wird nicht Eu-ropa durch einen Beitritt der Türkei überfordert, sonderneher die Köpfe der Menschen. Angesichts der Realitätenunterfordern wir uns sogar. Denken wir an die Diskussio-nen um die Ukraine, an unsere Bemühungen im südli-chen Kaukasus und auf dem Balkan sowie an die Aufga-ben, die wir im Nahen Osten bis hin nach Afghanistan zubewältigen haben – trotz aller Schwierigkeiten zeichnetsich hier eine Erfolgsgeschichte ab. Vergleichen Sie dasErreichte einmal mit dem, was im Irak abläuft. Betrach-ten Sie auch die Rolle der Europäer in der Iranfrage undnehmen Sie Afrika hinzu.Aus zwei Gründen können wir uns nicht unter Beru-fung auf die alte Frage „Was haben wir mit Afrika zutun“? zurückziehen. Der erste ist: Dieser riesige Konti-nent ist über das Mittelmeer ein direkter Nachbar vonuns. Der zweite ist: Wir müssen die geschichtliche Lek-tion annehmen, dass eine Europäische Sicherheits- undVerteidigungspolitik nur dann funktionieren wird, wenndie Großen mitmachen. Wir sind einer von den drei Gro-ßen. Insofern geht es hier nicht mehr um traditionelleFragen deutscher Politik, sondern um die europäischeEinbindung. Auch hier müssen wir neu denken.Die Lagebeschreibung, die ich Ihnen skizziert habe,stammt nicht von jemandem, der gerne Weltpolitik widersein eigenes Land machen will. Es handelt sich um realeKrisen und Herausforderungen,
auf die Europa – nicht Deutschland allein, aber als einwesentlicher Teil Europas eben auch – Antworten gebenmuss. Deswegen leiden wir in der Türkeifrage aus mei-ner Sicht eher an Unterforderung als Überforderung. Na-türlich sehe auch ich, dass in den Köpfen noch ein ganzanderes Denken vorherrscht.Das also ist ein Teil der Agenda, die von uns zu bewäl-tigen ist. Hinzu kommt die Erneuerung der VereintenNationen. Ich könnte mir eine Welt mit erneuerten trans-atlantischen Beziehungen vorstellen, in der die USA vielschneller als die Europäer eine europäische Einigungwollen, weil sie nur so einen Partner für die Gestaltungder Welt hätten. Ich könnte mir vorstellen, dass die Su-permacht sagt: Wir wollen erneuerte, stärkere VN, diedie Realität des 21. Jahrhunderts repräsentieren; denndiese VN werden uns entlasten, genauso wie ein einigesEuropa uns entlasten wird. Wer sonst? Ich könnte mirvorstellen, dass wir Ernst machen mit einem neuen Kon-sens in der Welthandelsorganisation, die den RealitätenRechnung trägt. Ich könnte mir vorstellen, dass neue in-ternationale Institutionen geschaffen werden. Wenn dortdie Entscheidungen getroffen würden, inklusive der Ent-scheidungen in Bezug auf die friedliche Transformation,die Modernisierung des Nahen und Mittleren Ostens so-wie die Lösung der regionalen Konflikte, dann wäre dieWelt eine bessere.Wenn wir allerdings hauptsächlich auf die militärischeStärke schauen, wenn wir die Softpower vergessen,wenn wir falsche Entscheidungen treffen, dann, glaubeich, werden die Krisen und Konflikte eskalieren. Dannwerden wir vor Herausforderungen stehen, von denensich die meisten Menschen heute noch keine Vorstellungmachen. Wer hätte die Ereignisse am 11. September2001 für möglich gehalten? Wer hätte die dann folgen-den Entwicklungen für möglich gehalten? Aber es ist soeingetreten. Die Welt verändert sich radikal. Früher fan-den Revolutionen auf den Barrikaden statt, heute findensie im konservativen Gewande statt. Wir haben erlebt,welche dramatischen Veränderungen das Ende des Sow-jetblocks und der Fall der Mauer für uns bedeutet haben.Das gilt für die gesamte Weltordnung.Hier muss sich Deutschland, eingebettet in das sichintegrierende Europa, bewähren. Deswegen brauchenwir die Verfassung und deswegen brauchen wir auchden Mut zu einer gemeinsamen Sicherheits-, Verteidi-gungs- und Außenpolitik. Wir müssen alles tun, dass wir– ich sage es noch einmal – die Verfassung bekommen.
Lieber Lothar Mark, ich hätte gerne viel länger dasWeihrauchfass vor den Haushältern geschwungen. AlsMinistrant habe ich damit einige Erfahrung; was maneinmal gelernt hat, vergisst man nie.
– Damals ging es mit der Kirche noch nicht bergab. Erstals solche Helden wie Müller kamen, war es vorbei; dasist klar. Zu unserer Zeit war das noch schwer in Ord-nung.
Ich meine es ernst. Ich möchte mich in aller Kürze imNamen aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im In- undAusland für das bedanken, was die beiden Berichterstat-ter, Abgeordneter Bonde und Abgeordneter Mark, aberauch die Haushälterinnen und Haushälter der Koalitions-fraktionen und der Opposition, so sie zugestimmt haben,geleistet haben,
ganz besonders Herr Frankenhauser. Ich verwende michim Ausland von offizieller Seite ja auch für das deutscheBier. Es ist schließlich nicht so, dass wir nur Kontrover-sen hätten.Nein, ich möchte mich auch bei Ihnen – das ist ernstgemeint; ich war lange genug in der Opposition – trotzaller Kritik recht herzlich bedanken. Wir stehen im Aus-wärtigen Dienst vor zusätzlichen Herausforderungen.Die Last, die uns aufgebürdet wird, sollten wir nicht nur
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Bundesminister Joseph Fischerals Last, sondern auch als Verantwortung begreifen. DieAufgaben hängen mit der Größe und Leistungsfähigkeitunseres Landes zusammen, ebenso mit der Fähigkeit,dass wir aus der Geschichte gelernt haben, und mit unse-rer Rolle in Europa und zunehmend in der Welt. Dafür,dass wir zwar nicht all das, was wir wollen, aber diesmaldoch schon viel erreicht haben, möchte ich mich rechtherzlich bedanken.
Das Wort hat der Kollege Herbert Frankenhauser,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Für ei-nen Haushälter ist es bei so einer Debatte immer schwie-rig, weil man zunächst den Eindruck hat, man hätte sich,was den Sitzungssaal angeht, verlaufen. Es war wie imletzten Jahr: Der Herr Außenminister konnte die letztendrei Sätze doch noch in Richtung Haushalt verwenden.
– Das war aber sehr eingeschränkt; das waren vielleichtStängel, aber sonst nichts.
Aber das gehört dazu. Möglicherweise sind Sie jetzt sozurückhaltend, um den Äußerungen Ihres Finanzminis-ters zu folgen, der einmal gesagt hat, es gebe dauerndMissverständnisse, wenn sich ein Außenpolitiker zuWirtschafts- und Finanzfragen äußere. Damit waren Siegemeint. Aber ich weiß natürlich Ihre vielfältigen Bemü-hungen zu schätzen, mit dem deutschen Bier und demReinheitsgebot im Ausland zu punkten. Deshalb habeich es als außerordentlich unangemessen empfunden,dass die „SZ“ geschrieben hat, Sie seien lediglich deramtierende Minister für auswärtige Beileidsbekundun-gen.
Das stimmt natürlich nicht.Sie werden mir nachsehen, dass ich ein paar Zahlen indie Debatte einbringe. Sie haben von der notwendigenMittelausstattung des Auswärtigen Amtes gesprochen.Wenn der Vizekanzler bereit ist, über einen gewissenZeitraum 1 100 Millionen Euro für den Umzug desBND nach Berlin auszugeben, dann muss ich sagen:Dies ist ein Betrag, mit dem Sie fast 20 Jahre lang diehumanitäre Hilfe in der jetzigen Größenordnung oderüber zehn Jahre Auslandsschulen und Stipendien finan-zieren könnten. Die Bundesregierung sollte noch einmalüber diesen Posten nachdenken.
Herr Minister, nachdem der Kollege Mark in nicht zuübertreffender Präzision schon über die Details desEinzelplans 05 gesprochen hat, erlaube ich mir, Sie indem folgenden Punkt um Unterstützung zu bitten. WennSie zuweilen in Deutschland sind, können auch Sie beo-bachten, dass die Menschen schon ein gewisses Ver-ständnis dafür haben, dass aufgrund der bekannten Um-stände Sparen angesagt ist und der Gürtel engergeschnallt werden muss. Gerade in solchen Zeiten legendie Mitbürger aber größten Wert darauf, dass die knapperwerdenden Mittel ordnungsgemäß eingesetzt werden.Die Menschen sehen – so auch der Herr Bundesfi-nanzminister –, dass wir im Zuge der nächsten EU-Haushaltsplanung in eine schwierige Lage kommenkönnten. Denn: Selbst wenn es gelänge, den Beitrag derBundesrepublik Deutschland auf 1 Prozent festzuschrei-ben, würden unsere Nettolasten in den nächsten Jahrenvon jetzt 7,7 Milliarden Euro auf etwa 15 Milliarden bis16 Milliarden Euro mehr als verdoppelt werden. Dasmuss erst einmal verkraftet werden.
Dabei sind die finanziellen Auswirkungen – dass es siegibt, ist völlig unbestritten – eines möglichen Beitrittsder Türkei völlig unberücksichtigt.
Außerdem ist noch nicht sicher, ob es gelingt, den Bei-trag auf 1 Prozent zu begrenzen.Es ist den Mitbürgerinnen und Mitbürgern, durch Vor-kommnisse in jüngster Zeit besonders sensibilisiert,auch nur schwer vermittelbar, dass die Griechen pro Jahr950 Millionen Euro für den Tabakanbau, finanziert ausunseren Steuergeldern, erhalten, aber parallel dazu29 Millionen Euro für Anti-Rauch-Kampagnen ausgege-ben werden.
Es ist Ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass den sich ex-plosionsartig vermehrenden Betrugsfällen in der Europäi-schen Union Einhalt geboten wird.
Die Schadenssumme im Jahre 2001 in Höhe von 1,2 Mil-liarden Euro hat sich bis jetzt fast verdoppelt.Es muss auch einmal nachgefragt werden – dieses istein problematisches Thema –, was aus den mehr als6,5 Milliarden US-Dollar geworden ist – der größte Teilkommt aus der EU –, die seit 2003 an die Palästinensi-sche Autonomiebehörde geflossen sind. Es kann natür-lich nicht sein, dass der Internationale Währungsfondsfeststellen muss, dass 898 Millionen US-Dollar aus dempalästinensischen Haushalt verschwunden sind und bisheute nicht wieder aufgefunden werden konnten. Eskann auch nicht angehen, dass das europäische Amt fürBetrugsbekämpfung, OLAF, nach eintägiger Prüfung zudem Ergebnis kommt, dass man nicht feststellen könne,wohin das Geld geflossen sei. Hier bitte ich, einmalnachzuhaken.
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Herbert FrankenhauserDer mit EU-Geldern finanzierte Fernsehsender PA-TV, also der Fernsehsender der Palästinensischen Auto-nomiebehörde, hat aus einer Predigt in der Sheikh-Ijlin-Moschee unter anderem übertragen – ich darf zitieren,Frau Präsidentin –:Oh Allah, bring einen rabenschwarzen Tag über dieJuden! Oh Allah, lösche die Juden aus und auchihre Förderer!Ich denke, dass ein Sender, der fast schließlich aus EU-Geldern finanziert wird, dies nicht tun darf.
Wenn dann auch noch die Sendeanlagen – wenn auchdurch Fremdeinwirkung, das heißt durch die Israelis –zerstört werden, die palästinensische Behörde in Brüsselanruft und quasi wie bei einer Hausratversicherung mel-det, die Sendeanlagen seien defekt, und zulasten des EU-Haushaltes neue angeliefert werden, dann halte ich dasfür nicht vertretbar.
Ein Letztes, das möglicherweise nicht sehr einfach zubewältigen ist – aber Sie lieben ja schwierige Aufga-ben –:
Der im Hinblick auf das Programm „Öl für Lebensmit-tel“ bestehende Korruptionsausschuss, geleitet von PaulVolcker, hat im amerikanischen Kongress einen Schluss-bericht abgeliefert, der noch immer nicht veröffentlichtworden ist, offensichtlich aus gutem Grund. Wenn dieseKommission darin ausdrücklich feststellt, dass bei demProgramm „Öl für Lebensmittel“ – wir haben dies zu ei-nem großen Teil mitfinanziert – unter überwiegenderBeteiligung französischer und russischer Firmen und un-ter ausschließlicher Finanzierung durch eine französi-sche Bank Gewinne gemacht worden, aber auch etwa12 Milliarden US-Dollar an Saddam Hussein zurückge-flossen sind, dann muss das hier im Parlament deutlichangesprochen und bewertet werden, auch wenn derje-nige, der dieses Hilfsprogramm federführend geleitethat, der amtierende Generalsekretär Kofi Annan ist.Auch hier ist es dringend notwendig, dass die Fakten aufden Tisch kommen und dieser Bericht dem DeutschenBundestag zur Kenntnis gebracht wird.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Der Außenminister erklärte zum deutsch-amerikani-schen Verhältnis:Die Zusammenarbeit ist so eng, dass sich die Fragedes Aufeinanderzugehens gar nicht stellt.Wenn das so ist, dann verstehe ich nicht, dass diedeutsche Außenpolitik nicht mehr Wirkung entfaltet.Der Krieg gegen die irakische Zivilbevölkerung nimmtkein Ende. 1 000 Zivilisten wurden und werden immernoch im Irak von US-amerikanischen Soldaten getötet.Die viel beschworenen guten Beziehungen des deut-schen Außenministers zu seinem amerikanischen Amts-kollegen haben bisher nichts zur Lösung dieses Kon-flikts beigetragen. In dieser Frage wünschte ich mir vonIhnen, Herr Fischer, mehr Zivilcourage.
„Zivil“ ist gleich mein nächstes Stichwort. Zivil istdie Außenpolitik der rot-grünen Bundesregierung wirk-lich nicht mehr zu nennen. Noch nie nach dem ZweitenWeltkrieg war die deutsche Außenpolitik so militärischwie unter dem grünen Außenminister Fischer. Abstim-mungen über Auslandseinsätze der Bundeswehr sindim Bundestag zu einer fast alltäglichen Routine gewor-den. An diesem Freitag werden wir das 41. und 42. Malüber Auslandseinsätze der Bundeswehr abstimmen.Nach dem SPD-Prinzip „Kanonen statt Butter“, wiees Herr Dauderstädt von der Friedrich-Ebert-Stiftungproklamiert hat, macht die Bundesregierung mit derRüstung ein paar gute Geschäfte. Herr BundesministerStruck will 250 Leopard-Panzer an die Türkei verkau-fen. Was die Türkei damit machen will, scheint der Bun-desregierung relativ gleichgültig zu sein. Vielleicht er-fahren wir von Herrn Struck in der anschließendenDebatte Genaueres dazu. Wieso fragen Sie nicht, ob dieTürkei damit vielleicht einen Blitzvorstoß in die nord-irakische Ölstadt Kirkut unternehmen will? Vor ein paarJahren hätten solche schmutzigen Geschäfte die Grünennoch aus dem Gleichgewicht gebracht.
Sie müssen sich fragen lassen, was diese kostspieli-gen militärischen Einsätze der Bundeswehr und die Waf-fenexporte außenpolitisch bewirkt haben. Ist die Weltdurch die deutsche Außenpolitik sicherer geworden?Nehmen wir den Einsatz der Bundeswehr in Afghanis-tan! Ziel war, mit der Bush-Regierung in uneinge-schränkter Solidarität einen Schlag gegen den internati-onalen Terrorismus zu führen. Wir wissen: Es gab nochnie so viel Terrorismus in dieser Welt wie heute und je-den Tag kommen neue Opfer hinzu. Die Bush-Regie-rung ist mit ihrem Krieg gegen den Terrorismus geschei-tert. Die deutsche Regierung hat den Krieg gegen denTerrorismus glücklicherweise nicht bis zum bitterenEnde begleitet, aber – das darf nicht verschwiegen wer-den – immer logistisch unterstützt, auch den Irakkrieg.
Wir müssen uns jetzt gegen eine neue Logik des Wett-rüstens wehren. Es ist aus der Sicht der PDS der falscheWeg, die Europäische Union militärisch aufzurüsten,wie es auch der Entwurf der europäischen Verfassungvorsieht. Wir wollen kein Wettrüsten gegen die USA undwir wollen auch kein Wettrüsten gegen Terroristen. Dasist der falsche Weg!
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Dr. Gesine LötzschWie verhängnisvoll der Krieg gegen den Terrorismusist, spüren wir auch hier in Europa in unserem persönli-chen Leben. Wenn jetzt überall über die islamistischeRadikalisierung diskutiert wird, dann müssen wir unsüber eines im Klaren sein: Es ist der Krieg gegen denTerrorismus mit seinen vielen unschuldigen Opfern, derviele Menschen radikalisiert. Es hat wohl niemand damitgerechnet, dass der Krieg gegen den Terrorismus – wiewir das jetzt in den Niederlanden erleben mussten – soschnell auf das Leben in Europa zurückschlagen würde.
Uns von der PDS ist die Außenpolitik der Bundesre-gierung zu militaristisch. Darum haben wir für denEinzelplan 14, der gleich besprochen wird, eine Reihevon Änderungsvorschlägen eingebracht. Das Geld fürAuslandseinsätze der Bundeswehr und für die Beschaf-fung neuer Waffen wäre für humanitäre Arbeit wesent-lich besser angelegt. Vor einigen Jahren haben auch dieGrünen diese Auffassung noch dezidiert vertreten.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Kurt Bodewig, SPD-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Frau Lötzsch, ich würde Ihren Beitrag ernst neh-men, wenn nicht Ihr damaliger Vormann in einer Situa-tion, die mit dem, was wir zurzeit in der Ukraine erleben,vergleichbar ist, zu Milosevic gepilgert wäre.
Milosevic sitzt jetzt in Den Haag. Er wird wegen seinerverbrecherischen Politik angeklagt. Ich glaube, unter derverbrecherischen Politik des damaligen Gesprächspart-ners leidet die Balkanregion noch heute. – Das war dieerste Vorbemerkung.Die zweite Vorbemerkung richtet sich an HerrnPflüger. Ich finde, Herr Pflüger, Sie haben heute eine rie-sige Chance verpasst. Anstatt Johannes Raus Prinzip„Versöhnen statt Spalten“ in solch einer kritischen Situa-tion zu praktizieren, haben Sie mit Ihren Ausführungenzur Ukraine versucht, eine Spaltung der Politik hier inDeutschland zu betreiben, indem Sie dem Bundeskanz-ler Dinge unterstellen, die er in seiner Rede heute Mor-gen anders formuliert hat.
Ich finde, das ist kein guter Stil, und ich glaube, dass esfalsch ist.Ich will ausdrücklich auf die Rede von GertWeisskirchen eingehen. Gert Weisskirchen hat in einerbesonders guten Weise auf die derzeitige historische Si-tuation in der Ukraine hingewiesen, eine Situation, dieklare Signale erfordert. Meine Kollegen von der Opposi-tion, ich habe es bedauert, dass es Ihnen nicht gegebenwar, diesen Ausführungen Applaus zu spenden, denn ichfinde, es wäre notwendig gewesen. Wir müssen ein Si-gnal setzen. Ich glaube, die gemeinsame Erklärung istdafür der richtige Weg.Für mich ist Punkt 5 – er betrifft die Anerkennung ei-ner Zivilgesellschaft, die um Demokratie ringt und eineWahlverfälschung nicht zulässt – besonders wichtig.
Wenn die Ukraine ein Grenzland ist – das scheint diewörtliche Übersetzung zu sein –, dann geht es dabeiwohl um die Grenze zur EU. Die Ukraine darf aber nichtan der Grenze zur Demokratie liegen. Ich glaube, des-halb ist dieses Signal, diese Entschließung, zu diesemZeitpunkt genau das Richtige.
Ich will auch auf die Europapolitik eingehen. Ichglaube, wir sollten die Europapolitik vor dem Hinter-grund betrachten, dass wir uns in einer Zeit befinden, inder es gelungen ist, eine große Erweiterung zu erreichen,und in der durch die neue Verfassung eine Vertiefung be-vorsteht. Es ist klar: Mit den Regeln von Nizza kannman ein Europa der 25 nicht gestalten. Wir brauchen die-sen Verfassungsvertrag. Es ist wichtig, dass wir alle unsdafür einsetzen, dass er realisiert wird.Ich habe noch die Ausführungen der CSU im Ohr – esstand Ende Oktober in der „FAZ“ –, denen zufolge esder CSU wohl nicht möglich war, der Verfassung zuzu-stimmen. Das sollten Sie noch einmal überdenken. Siesollten das, was Sie proklamieren, Europa ernst zu neh-men, auch praktizieren. Hier haben Sie noch einen Lern-prozess vor sich. Aber der ist ja nicht ausgeschlossen.Mir ist noch ein anderes Thema wichtig, nämlich dieLissabonstrategie. Der Wim-Kok-Bericht ist ehrlich,treffend und zeigt, dass die Vereinbarung der Staatschefsvon vor vier Jahren in der Euphorie der damaligen Situa-tion der Entwicklung des Internets und einer Aktienent-wicklung, die damals zu großen Hoffnungen führten,aber nicht eingetroffen sind, korrigiert werden muss. Ichglaube, dass das Ziel von Lissabon nach wie vor richtigist. Wir müssen uns global als wissensbasierten Wirt-schaftsraum verstehen und diesen fortsetzen. Der Kok-Bericht schlägt vor: Verbesserung der Wissensgesell-schaft, Vollendung des Binnenmarktes, Schaffung einesbesseren Unternehmensklimas, schnellere Unterneh-mensgründungen, Anpassungsfähigkeit der Arbeits-märkte und schließlich auch Investitionen und Ökoin-vestitionen. Dies ist ein richtiger und erfolgreicher Weg.Thomas Mirow, der deutsche Vertreter in der Kom-mission von Wim Kok, meinte, dass die grundlegendeRatio von Lissabon gültiger ist denn je: Keine europäi-sche Nation kann auf sich allein gestellt im weltweitenWettbewerb erfolgreich agieren. Jeder Schritt eines EU-
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Kurt BodewigMitgliedstaates zu mehr Wachstum und Wettbewerbs-stärke gewinnt an Durchschlagskraft, wenn er mit ande-ren Mitgliedstaaten abgestimmt ist. – Das ist richtig undgilt nach wie vor.Wir müssen auch unsere eigenen Hausaufgaben ma-chen. In diesem Bereich ist fast anderthalb Dekadennichts geschehen. Wir realisieren jetzt die Agenda 2010.Diese Agenda 2010 versteht sich in der Logik des Be-richts von Wim Kok. Wir müssen dies den Bürgern ver-mitteln. Aber wir sollten den Bürgern auch vermitteln,dass wir auf europäischer Ebene Probleme überwiegendnicht durch Mehrausgaben lösen können, während wirhier nach den Kriterien des Wachstums- und Stabilitäts-paktes eine klare Sparpolitik betreiben. Ich glaube, dasgeht nicht überein. Wir sollten sehr deutlich machen,dass wir eine Entwicklung brauchen, die Europa in Ge-samtheit versteht, und dass wir diesen Stabilitäts- undWachstumspakt in beiden Teilen ernst nehmen.Nachdem ich gerade die Kritik von Herrn Hintze ge-hört habe, frage ich mich, warum damals in den Wachs-tumspakt nicht die große Leistung der deutschen Einheiteingearbeitet worden ist. Wir würden heute anders daste-hen, wenn man dies zur Grundlage hätte. Einige IhrerVorwürfe sind mehr als unzutreffend. Deswegen glaubeich, dass wir die Lissabonstrategie als europäisches Mo-dell weiterentwickeln sollten. Es ist notwendig, dass wirin diesem Bereich vorankommen.
Ich möchte auf einen Punkt der Lissabonstrategie ein-gehen: die Herstellung eines einheitlichen Binnenmark-tes. Wir werden uns bei der Dienstleistungsrichtlinieentscheiden müssen, ob wir Entbürokratisierung – die istdort auch angelegt – oder einen ausschließlichen Ab-bruch von Regeln und damit Deregulierung wollen. DasHerkunftslandprinzip und seine Dominanz in dieserRichtlinie sagt nichts anderes, als dass wir faktisch eineInländerdiskriminierung erhalten werden und dass wirfaktisch einen – unzulässigen – Druck auf soziale, öko-logische und ökonomische Standards erhalten werden.Dies ist ein desintegrierender Weg, weg von einer Har-monisierung in Europa, hin zu einem Europa der Her-kunftsländer,
deren Bedingungen dann in dem jeweils anzuwendendenLand nicht kontrolliert werden können.Hier sollten wir uns entscheiden. Das ist eine Diskus-sion, die wir in diesem Parlament gemeinsam führenmüssen. Aber in einem bin ich mir sicher: Dieses Europaist stark, genauso stark wie die Bundesrepublik Deutsch-land.
Ich bitte die Damen und Herren von der Opposition: Ma-chen Sie bei Europa nicht den gleichen Fehler, den Siemit diesem Land machen. Reden Sie Europa nicht ka-putt, sondern lassen Sie uns Europa gemeinsam entwi-ckeln.
In diesem Sinne ist eine solche Debatte unter europäi-scher Sichtweise eine sinnvolle.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Gerd Müller, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! DieSorge um die Entwicklungen in der Ukraine berührt unsalle. Wir haben das Bemühen des Außenministers zurKenntnis genommen. Aber wir sind der Meinung, dassder Bundeskanzler hier Farbe bekennen muss.
Morgen ist dazu Gelegenheit. Beim EU-Russland-Gipfelmuss dieses Thema auf die Tagesordnung. Das Zielmuss eine gemeinsame Erklärung zur Überprüfung derWahl und zum Weg zur Demokratie in der Ukraine sein.
Ich kann mir vorstellen, warum der Bundesaußenmi-nister so emotional reagiert, wenn ich beim Thema Men-schenrechte von den Seelenverkäufern bei den Grünenrede.
Der Punkt ist: Dieser Bundeskanzler fällt Gaddafi imWüstenzelt um den Hals. Er fordert die Aufhebung desWaffenembargos gegenüber China. Bei „Beckmann“sagte Schröder vor zwei Tagen, Putin sei ein „lupenrei-ner Demokrat“ – und das angesichts der Entwicklungenin Russland!
Meine Damen und Herren, hier würde auch ich, wennich Ihr grüner Koalitionspartner wäre und an das in IhrerPartei früher so hoch gehaltene Thema Menschenrechtedenke würde, Bauchschmerzen bekommen.
Lassen Sie mich zur Außenpolitik zurückkommen;denn am Ende dieser außenpolitischen Debatte sollteauch Bilanz über Erfolge und Misserfolge gezogen wer-den. Herr Außenminister Fischer, wir sind der Meinung,dass Ihre Amtszeit in der Vergangenheit von drei ent-scheidenden politischen Fehlern geprägt wurde: Erstens.Sie tragen die Verantwortung für eine nachhaltige Be-schädigung der transatlantischen Beziehungen. Zwei-tens. Sie haben durch Ihre Politik NATO und EU gespal-ten.
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Dr. Gerd Müller
Drittens. Herr Bundesverteidigungsminister, Deutsch-land ist nicht mehr abwehrbereit; darauf werden wir inder nachfolgenden Debatte noch eingehen.
Nun komme ich zur Störung der transatlantischenPartnerschaft. Diese Bundesregierung hat es geschafft,unsere Freundschaft mit Amerika zu gefährden. Es ge-nügt nicht ein Telefonanruf, um dies wieder in Ordnungzu bringen. Neben der nachhaltigen Störung des transat-lantischen Verhältnisses ist der zweite gravierende Feh-ler Ihrer politischen Amtszeit die von Ihnen aktiv betrie-bene Spaltung der Europäischen Union und derNATO.
In der Irakfrage sind Sie einen deutschen Sonderweggegangen. Sie haben einen Pralinengipfel einberufen.Wenn ich an die Bildung der Achse Paris–Berlin–Mos-kau denke, dann sage ich Ihnen: Das ist nicht der ge-meinsame Weg in die Zukunft zur Lösung der großenHerausforderungen.
Es gibt eine Grundübereinkunft zur Lösung diesergroßen Probleme im internationalen Bereich. Die euro-päische Einheit und die transatlantische Partnerschaftsind keine sich ausschließenden Alternativen.
Es ist unsere Aufgabe, die Aufgabe des deutschen Au-ßenministers und des deutschen Bundeskanzlers, außen-politisch die Balance zwischen europäischer Einheit,transatlantischer Partnerschaft und internationaler Zu-sammenarbeit zu finden.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die neuenund großen sicherheitspolitischen Herausforderungensind ohne die USA nicht zu bewältigen; in der verteidi-gungspolitischen Debatte wird darauf eingegangen wer-den. Nachdem die Bundeswehrreform durchgeführtwurde, ist Deutschland, was beispielsweise die Abwehrterroristischer Angriffe im eigenen Land betrifft, nurnoch bedingt abwehrbereit und abwehrfähig. Ich gebeden Stimmen von Rot und Grün Recht, die sagen: Siehaben die Bundeswehr in immer neue Auslandseinsätzegeschickt sowie die Truppenstärke und die zur Verfü-gung stehenden Haushaltsmittel gekürzt. Jetzt machenSie sich an die Abschaffung der Wehrpflicht und ver-nachlässigen die Landesverteidigung. Das ist ein unver-antwortlicher Weg.
Lassen Sie mich zum Thema Verfassungsvertrag anden Kollegen Hintze anknüpfen. Wir werden Anfangkommenden Jahres den Prozess der Ratifikation des Ver-fassungsvertrages einleiten.
Diesen Prozess haben wir vor uns. Dieser Verfassungs-vertrag ist eine große Herausforderung für die Zukunftder Europäischen Union.
Im Zusammenhang mit seiner Ratifizierung stellen sichneue Fragen, was die Zusammenarbeit von Parlamentund Regierung betrifft.
Die Unionsfraktion bringt in den Ratifikationsprozessdie Forderung ein, dem Deutschen Bundestag bei dereuropäischen Rechtsetzung in Zukunft ein maßgeblichesMitwirkungsrecht einzuräumen, wie es die Bundeslän-der bereits heute in ihren eigenen Angelegenheiten ha-ben. Wir wollen in der europäischen Gesetzgebung dieGleichstellung des Bundestages mit dem Bundesrat.Dazu bedarf es einer Grundgesetzänderung, zumindesteiner Änderung einfacher Gesetze. Dies müssen wir imZusammenhang mit dem Ratifikationsprozess miteinan-der besprechen. Wir wollen mehr Rechte für die Parla-mente, nicht für die Bürokratie. Wir wollen mehr Rechtefür das Volk und nicht für die Bürokraten in Europa,nicht von oben nach unten.
Der Bundesaußenminister hat unser Gesprächsangebotdazu bisher abgelehnt, er hat es nicht angenommen. Daskann nicht der Weg nach vorne sein.
Ich möchte zum Thema Türkei nur ein paar wenigeSätze anfügen; unsere Position ist klar. Aber in wenigenTagen steht der europäische Gipfel an. Dabei steht eineEntscheidung an, die uns über zehn oder 20 Jahre, viel-leicht darüber hinaus, binden wird; eine unumkehrbareEntscheidung. Herr Außenminister Fischer, Sie habeneinmal in einer Diskussion gesagt: Das ist eine 51 : 49-Entscheidung. Sie waren argumentativ einmal auf deranderen Seite. Aber eines ist klar: Die Mitgliedschaft derTürkei in der Europäischen Union ist der Abschied vonder Vision der Politischen Union in Europa.
Wir müssen dies wissen. Deshalb sagt die Union Neinzur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Tür-kei. Wir sagen Ja zur Freundschaft, zur Partnerschaft,zum Ausbau unserer wirtschaftlichen, kulturellen undSicherheitspartnerschaft. Die Türkei ist ein Freund undsie wird ein Freund bleiben. Aber wir müssen mit unse-ren Freunden aufrichtig umgehen: Die Türkei gehört we-der geographisch noch kulturell zur EuropäischenUnion. Die Türkei ist doppelt so groß wie Deutschland.Eine Vollmitgliedschaft bedeutet Freizügigkeit. Freizü-gigkeit heißt nach Aussagen der EU-Kommission: 2 bis3 Millionen Menschen, die der Armut Anatoliens ent-fliehen und in die Europäische Union einwandernwerden. Migration – Kosten – Integration. Wir leisten
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Dr. Gerd Müllerdie große Aufgabe der Integration in Deutschland schonheute nicht befriedigend. 80 Prozent der in Berlin einge-schulten sechsjährigen türkischen Kinder sprechen keinWort Deutsch. Daran wird deutlich, dass wir schon heutebei der Integration der türkischen Mitbürger scheitern.Wir müssen zunächst einmal diese dringenden Problemeangehen, bevor wir die Türen aufmachen und den EU-Beitritt propagieren.
Sehr gut und sehr treffend hat Klaus-DieterFrankenberger den Kurs deutscher Außen- und Verteidi-gungspolitik in der „FAZ“ umschrieben, Herr Fischer– ich möchte ihn hier zitieren; die Überschrift lautet„Hakenschlagen ohne Ziel“ –:Die Bundesregierung ist dabei, die wichtigste Platt-form, auf der sie steht und auf der sie weltpolitischspielen kann, die Europäische Union, zu beschädi-gen. Sie träumt von Multipolarität und gelegentlichvon Gegenmachtbildung. Aber das ist ein Albtraumgefährlicher Selbstüberschätzung. Daß aufSchröders Prioritätenliste China, Indien und Russ-land ganz oben stehen, ist ein außenpolitischerSchwenk, ein Traditionsbruch. Der ist riskant, wennnicht geschichtsblind, weil er die Bedeutung, dieAmerika nach wie vor für Deutschland hat, unter-schätzt und die Zentralität einer festgefügten Unionfür die deutschen Interessen ignoriert.Ich kann Klaus-Dieter Frankenberger hier nur zustim-men.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Einzel-plan 05, Auswärtiges Amt, in der Ausschussfassung.Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-gen? – Der Einzelplan 05 ist mit den Stimmen der Koali-tion gegen die Stimmen der CDU/CSU, der FDP und derPDS angenommen.Zusatzpunkt 2. Wir kommen zur Abstimmung überden Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, desBündnisses 90/Die Grünen und der FDP aufDrucksache 15/4265 mit dem Titel „Fälschungen derukrainischen Präsidentschaftswahlen“. Wer stimmt fürdiesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –Der Antrag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses an-genommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt I.15 auf:Einzelplan 14Bundesministerium der Verteidigung– Drucksachen 15/4312, 15/4323 –Berichterstattung:Abgeordnete Dietrich AustermannBartholomäus KalbDr. Elke LeonhardAlexander BondeJürgen KoppelinEs liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion derCDU/CSU sowie ein Änderungsantrag der AbgeordnetenDr. Gesine Lötzsch und Petra Pau vor. Über den Ände-rungsantrag der Fraktion der CDU/CSU aufDrucksache 15/4340, der sich auch auf den Einzelplan 14bezieht, ist bereits bei Einzelplan 08 abgestimmt wor-den.Weiterhin liegt je ein Entschließungsantrag der Frak-tion der CDU/CSU und der Fraktion der FDP vor, überdie wir am Freitag im Anschluss an die Schlussabstim-mung abstimmen werden.Außerdem rufe ich Tagesordnungspunkte I.16 a und bauf:a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Durchsetzung der Gleichstellung von Sol-
– Drucksache 15/3918 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidi-gungsausschusses
– Drucksache 15/4255 –Berichterstattung:Abgeordnete Ursula MoggUrsula Lietzb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
– zu dem Antrag der Abgeordneten Ursula Lietz,Christian Schmidt , Annette Widmann-Mauz, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder CDU/CSUSoldatinnen- und Soldatengleichstellungs-durchsetzungsgesetz zügig umsetzen– zu dem Antrag der Abgeordneten Ursula Lietz,Anita Schäfer , Christa Reichard
, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSUFrauen und Familien in der Bundeswehrstärken und fördern– zu dem Antrag der Abgeordneten Ina Lenke,Klaus Haupt, Helga Daub, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der FDPBundeswehr stärken – Beschäftigungsbedin-gungen für Soldatinnen und Soldaten ver-bessern– Drucksachen 15/3717, 15/3049, 15/3960,15/4255 –
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Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne KastnerBerichterstattung:Abgeordnete Ursula MoggKarin Evers-MeyerUrsula LietzNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeDietrich Austermann, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! BeiHaushaltsberatungen geht es in erster Linie um Geld undbei der Diskussion über die Frage, wer es am besten mitder Bundeswehr meint, muss ganz klar gesagt werden, inwelcher Situation wir uns konkret befinden.Der Haushalt hatte im Juni dieses Jahres auf dem Pa-pier ein Volumen von etwas über 24 Milliarden Euro. Erwurde dann zwischen Staatssekretär Wagner und dem Fi-nanzminister noch einmal besprochen und um eineViertel Milliarde Euro gekürzt. Auf dem Papier hat er jetztein Volumen von 23,9 Milliarden Euro. Eine weitere Kür-zung ist durch die globale Minderausgabe vorgenommenworden. Das bedeutet, dass der Etat jetzt um etwa750 Millionen Euro unter dem Ansatz des Jahres 2003liegt.Es gab dann eine Ressortvereinbarung zwischen demVerteidigungsminister und dem Finanzminister, mit derfestgelegt werden sollte, in welchem Volumen dem Ver-teidigungsministerium für die Bundeswehr und all das,was mit der Bundeswehr zusammenhängt, mittelfristigGeld zur Verfügung steht. Von diesem gemeinsam be-schlossenen Plafond ist man dann in einer solchen Grö-ßenordnung abgewichen, dass im Verteidigungsetat2004 und im nächsten Jahr exakt 1,35 Milliarden Euroweniger zur Verfügung stehen als versprochen.
Ich erwähne den Betrag deshalb, weil hier eine De-batte darüber entstanden ist, was Kürzungsanträge derOpposition für den Verteidigungsetat möglicherweisebedeuten würden. Um es deutlich zu sagen: Aufgrundder Verantwortung von CDU/CSU für den Gesamtetathaben wir für alle Etats Kürzungsvorschläge gemacht.Die Kürzungsvorschläge für das Verteidigungsministe-rium wurden uns so ausgelegt, als würden wir all das,was zur Bundeswehr gehört, um 580 Millionen Euro re-duzieren wollen. Das ist deshalb falsch, weil nur dernichtmilitärische, flexibilisierte Teil der Verwaltungsaus-gaben betroffen sein sollte. Dieser Betrag umfasst einDrittel der Kürzungen, die das Finanzministerium unddas Verteidigungsministerium für den Verteidigungsetatjetzt noch gemeinsam vorsehen.Was das bedeutet, kann sich jeder ausrechnen. Ein wei-teres Mal ist der Verteidigungsetat unverhältnismäßigstark zur Erwirtschaftung einer globalen Minderausgabeherangezogen worden. Ich sage es allen Anwesenden,weil die nächste Sparaktion bevorsteht: Die globale Min-derausgabe in allen Einzelplänen hat immer noch ein Vo-lumen von alles in allem 1,5 Milliarden Euro. Das bedeu-tet, der Verteidigungsetat wird weiter heruntergefahren. Erliegt dann um etwa 1 Milliarde Euro unter dem des Vor-jahres. Das ist die konkrete Situation. Dass diese Mittelnicht ausreichen, um Verteidigungspolitik in und außer-halb Deutschlands zu betreiben, ist, so glaube ich, jeder-mann klar.Es ist bedauerlich, dass der Verteidigungsetat, der nuretwa 9 Prozent des Gesamtetats ausmacht, mit fast30 Prozent bei den Kürzungen berücksichtigt wird. Hierhat sich der Verteidigungsminister offensichtlich nichtdurchgesetzt. Vielleicht ist das ja auch der Grund, wes-halb er heute wieder einmal nicht selber reden wird.Vielleicht ist das aber auch nur der übliche Firlefanz.Einmal darf der eine, dann darf mal der andere reden.Der eine wird angekündigt und der andere redet schließ-lich. Wir werden uns das anschauen.Neben dieser maßlosen Zusammenstreichung desVerteidigungsetats möchte ich einen zweiten Punkt an-sprechen, nämlich die so genannte Transformation derBundeswehr. Mit der Transformation bzw. Weiterent-wicklung der Bundeswehr sollte durch die Verkleine-rung, durch das Schließen von Standorten und durcheine andere Aufgabengestaltung Geld gewonnen wer-den, um so künftige Aufgaben besser erledigen zu kön-nen.Schauen Sie sich einmal die Zahl der Soldaten an. Siewerden feststellen, dass die Bundeswehr schon heutefast die Zahl erreicht, die sie erst im Jahr 2010 habensollte. Der Grund ist, dass in diesem Jahr etwa25 000 Wehrpflichtige – im nächsten Jahr werden esnoch mehr sein – einfach nicht eingezogen werden. DieHerabsetzung des Tauglichkeitsgrades T3 auf T2 – dasheißt, alles, was „schlechter“ als T2 ist, wird nicht mehreingezogen – bedeutet, dass in Deutschland von Wehrge-rechtigkeit praktisch überhaupt keine Rede mehr seinkann. Die Situation ist eben nicht mehr so, dass für jungeDamen und junge Herren die faire Chance besteht, zumWehrdienst herangezogen zu werden. Die Bundeswehrhat inzwischen die Größenordnung von etwa250 000 Soldaten fast erreicht. Das heißt, all das, wasdurch die „Transformation“ erwirtschaftet werden soll,ist schon jetzt verbraucht.Die nächste Sparaktion, die bevorsteht, wird sichzwangsläufig auf die Beschaffung auswirken. Wir wer-den in diesem Jahr nur einen Teil der ursprünglich ge-planten Beschaffung realisieren können. Zu einem Teilder ursprünglichen Beschaffung gehören zu meinerFreude der Schützenpanzer Puma, die Kampfausstattungfür die Infanteristen und ein Heeresinformationssystem.Aber wir werden vieles, was in diesem Jahr geplant ist,nicht realisieren können, weil einfach das Geld nichtreicht.Vielleicht liegt es aber auch daran, dass im Verteidi-gungsministerium nicht wirklich gespart wird. Der Bun-desrechnungshof hat dies immer wieder dargestellt.Erst vor kurzem wurde in einem umfangreichen Berichtam häufigsten das Verteidigungsministerium in Verbin-dung mit Schlamperei verzeichnet. Dazu wurden noch
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Dietrich Austermannnicht einmal die Beraterverträge und andere Ereignissegezählt. Elf neue Vorfälle werden dem Verteidigungsmi-nisterium zugerechnet. Wenn man mit dem Geld andersumgegangen wäre und umgehen würde, stünde mit Si-cherheit mehr Geld für Ausrüstung, Ausstattung, Übun-gen und unsere Soldaten zur Verfügung.Ich möchte einen dritten Punkt ansprechen, das so ge-nannte Stationierungskonzept. Dies ist Ausdruck derUmsteuerung der Bundeswehr – der so genannten Trans-formation – von einer Verteidigungsarmee mit Wehr-pflicht, die für Heimatschutz, Katastrophenschutz undLandesverteidigung zuständig ist, wie sie im Grundge-setz steht, hin zu einer Armee, die sich in erster Liniedarauf konzentriert, internationale Einsätze zu begleiten.Diese Aufgabe steht nicht im Grundgesetz. Da stehtzwar auch etwas von internationalen Verpflichtungen,aber an vielen Stellen ist von Verteidigungsarmee, Ver-teidigungsauftrag und auch der Wehrpflicht die Rede.All dies wird durch das ignoriert, was mit den Stand-ortentscheidungen gemacht wird. Die Bundeswehr wirdfast ausschließlich auf internationale Einsätze getrimmt.Sie zieht sich zum Teil in unverantwortlicher Weise ausder Fläche zurück und wird damit Aufgaben wie bei-spielsweise Heimatschutz, Katastrophenschutz und Ter-rorismusbekämpfung vor Ort, an der Küste in dem vor-gesehenen Umfang nicht mehr leisten können.
Es muss deutlich gemacht werden, welche Wirkungdies in Zukunft haben wird, was Sie natürlich bestreitenwerden. Klar ist aber: Wenn ABC-Abwehr zur Terroris-musbekämpfung nicht mehr vorhanden ist, der Minen-schutz in bestimmten Bereichen nicht mehr möglich istoder an anderer Stelle kein schweres Gerät mehr zur Ver-fügung steht, dann hat das eindeutig Auswirkungen aufdie Situation im Inland.Ich darf noch etwas zu der konkreten Ausgestaltungbei der Reduzierung der Truppen sagen. Ich habe derLokalpresse bei mir gesagt, ich habe den Eindruck, das,was der Verteidigungsminister macht, ist ein Rachefeld-zug gegenüber denjenigen, die sich kritisch zu seiner Ar-beit äußern, bei der Kritik durchaus angebracht ist. Ichdarf einmal auf meinen Wahlkreis bezogen sagen
– ich weiß, es ist unser Wahlkreis, Jürgen –: 1998 gab esdort zusammen mit einem Kreiswehrersatzamt und einerStandortverwaltung noch sieben Standorte. Von diesensieben Standorten wird in absehbarer Zeit keiner mehrübrig sein, obwohl einer der Standorte die ABC-Abwehrenthält, die auch noch in Zukunft gebraucht wird.An einem anderen Standort sind die Sanitäter. An die-sem Standort waren früher auch einmal Hubschrauber.Aber der frühere Verteidigungsminister Scharping – dieÄlteren werden sich noch an ihn erinnern – hat gesagt,
diese müssen in den Wahlkreis meines Fraktionsvorsit-zenden Struck. Also musste man 180 Millionen DM in-vestieren, damit im Wahlkreis von Herrn Struck dieHubschrauber konzentriert werden. Dadurch wurde beimir eine Kaserne frei. Ich habe damals erklärt, in diesesehr ordentliche Kaserne können die Sanitäter einziehen,die bisher in einer unzureichenden Kaserne unterge-bracht sind. Dann aber hat man ausgerechnet, dass aufeinmal die Sanitäter wesentlich teurer wären als vorherdie Heeresflieger, die vorher wesentlich teurer als dieSanitäter waren. Man legt sich das zurecht.Herr Struck, Sie wischen sich ständig über die Stirn.Ich deute diese Geste als Schwächezustand. Einen ande-ren Grund dafür kann ich mir nicht denken, es sei denn,Sie wollten damit etwas Unparlamentarisches ausdrü-cken.
Bei einzelnen Standortentscheidungen sind sachlicheKriterien nicht zu erkennen. Das kann ich für den Wahl-kreis der Kollegin Jaffke an der polnischen Grenze sa-gen, aber auch für viele andere Standorte in Deutsch-land. Die Entscheidungen sind nicht nachzuvollziehen,sie sind nicht logisch und nicht vernünftig.
Der Bundesfinanzminister hat angekündigt, dass erweiter sparen muss. Es gibt in der Tat weitere Anlässezum Sparen. Ich gehe davon aus, dass der Bundesrech-nungshof in absehbarer Zeit zwei Berichte vorlegenwird, in denen er sich mit der GEBB auseinander setzt.Die GEBB ist eine Einrichtung, die den Verteidigungs-minister beraten und bei dem, was er zu tun hat, unter-stützen soll. Die GEBB hat ein Flottenmanagement, einFuhrparkmanagement und ein Bekleidungsmanagementeingerichtet. Das Ganze sollte gemacht werden, um Per-sonal und Geld zu sparen. Inzwischen hat die GEBB5 000 Mitarbeiter. Von den 5 000 Mitarbeitern sind ei-nige Tausend vom Verteidigungsministerium ausgelie-hen. Sie erscheinen nicht dort als Dienstposten, sondernsie erscheinen bei der GEBB. Die GEBB sagt: Wir ha-ben jetzt einen gewaltigen Apparat aufgebaut. Ist dasnicht toll? – Diese vielen Mitarbeiter sollen also jetztFahrzeuge, Verpflegung, Liegenschaften und vieles an-dere mehr managen. Ich kann Ihnen jetzt schon vorher-sagen, dass der Bundesrechnungshof in den nächsten Ta-gen zwei Berichte vorlegen wird, in denen er deutlichmachen wird, dass die GEBB überhaupt nicht wirt-schaftlich arbeitet und das, was dort gemacht wird, kei-nen einzigen zusätzlichen Cent einspart, sondern es sichdabei um Geldverschleuderung handelt, insbesonderewenn man sich die Gehälter der führenden Leute in derGEBB anschaut, die zum Teil mehr als doppelt so vielwie der Bundeskanzler verdienen. Es gibt also an vielenStellen die Möglichkeit, zu sparen und das Geld für dieEinsätze, die Ausstattung und die Ausrüstung der Bun-deswehr zu verwenden. Darüber sollte einmal informiertwerden.
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Dietrich AustermannIch möchte einen letzten Punkt ansprechen, den ich inder Tat bemerkenswert finde. Wir haben miteinander im-mer die Auffassung vertreten, dass die Bundeswehr eineArmee des ganzen Parlaments ist, die von allen unter-stützt wird, die hier im Hause sitzen. Dazu gehört auch,dass man über das informiert wird, was in der Bundes-wehr passiert, und dass das Parlament an Entscheidun-gen beteiligt wird. Bisher hat es das noch nicht gegeben,dass ein Minister Entscheidungen wie die jetzigenStandortentscheidungen ohne eine vorherige Debatte mitVertretern der Länder oder mit dem Parlament trifft.
– Bei Stoltenberg, bei Rühe und auch bei Scharping ha-ben wir vorher einen Entwurf gesehen und darüber dis-kutiert. Dann gab es die Entscheidung. Hier ist das genauumgekehrt.
Herr Kollege, Sie wissen, dass Sie auf Kosten Ihrer
Kollegen sprechen.
Ja, ich bin fertig. Ein letzter Satz.
Wir müssen feststellen, dass wir unter diesem Minis-
ter nicht nur an Entscheidungen nicht beteiligt werden,
sondern noch nicht einmal darüber informiert werden.
Ich habe sogar manchmal den Eindruck, dass er selber
über das, was in der Bundeswehr und außerhalb der
Bundeswehr geschieht, gar nicht Bescheid weiß. Ich
brauche bloß das Stichwort Coesfeld zu erwähnen. Wenn
das stimmt, was ich im „Spiegel“ über das gelesen habe,
was sich vor drei Monaten zugetragen hat, dann kann ich
nur sagen: Es ist einiges in dieser Armee nicht in Ord-
nung. Auch deswegen unterstützen wir den Verteidi-
gungsetat nicht.
Nächster Redner ist der Kollege Johannes Kahrs,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Als erstes wünsche ich von dieser Stelle – ichhoffe, auch im Namen des ganzen Hauses – meiner er-krankten lieben Kollegin Dr. Elke Leonhard, für die ichhier reden soll, gute Besserung und ich hoffe, dass siebald zurückkommt.
Normalerweise wäre ich jetzt sachlich eingestiegen,wie Haushälter das so machen, und wäre die Zahlen fürdiesen Etat durchgegangen. Nachdem ich aber den Kol-legen Austermann gehört habe,
glaube ich, dass man einen Vergleich wagen kann. Erwirkt ein bisschen so wie die Tante, von der AlexanderMoszkowski vor fast 100 Jahren schrieb: „Die sitzt aufdem Sofa und nimmt übel.“
Wenn man sich die Rede anschaut, wird man dies auchfeststellen. Jenseits der Sachebene, mit viel Polemik undohne Kenntnis im Detail stellt er sich hier hin und be-treibt Wahlkampf für Schleswig-Holstein. Das ist gut,das hat die CDU dort auch nötig, denn sie wird die Wahlverlieren. Trotzdem ist es nicht sachgerecht.
Führen wir uns kurz vor Augen, was der Kollege vonsich gegeben hat.
Er hat gesagt, dass der Etat, also das Geld, das verfügbarist, im kommenden Jahr um 1 Milliarde Euro niedrigerals in diesem Jahr sein werde. Wir alle wissen, dass dasso nicht richtig ist. Dass sich insbesondere diejenigenhervortun, die keine Verteidigungspolitiker sind, bedeu-tet, dass bar jeder Kenntnis Stimmung gemacht wird.Ihre wissenden Kollegen sitzen dort und schweigen.
Trotz der Einsparungen aufgrund anderer Maßnah-men werden in diesem Jahr 23,8 Milliarden Euro verfüg-bar sein.
Das entspricht nicht 1 Milliarde Euro weniger, sondern100 Millionen Euro. Dies bedeutet kein maßloses Zu-sammenstreichen bei der Bundeswehr. Sie wissen esbesser, Herr Austermann. Man sollte auf einer sachli-chen Ebene bleiben.
Dass die Transformation dazu führt, dass wir nichtmehr in der Lage sind, die Landesverteidigung aufrecht-zuerhalten oder Bundeswehreinsätze durchzuführen,wenn es die Not gebietet wie bei der Oderflut oder Ähn-lichem, ist schlichtweg falsch. Vielleicht sollte man sichbeispielsweise an Charles de Gaulle orientieren, HerrAustermann, der gesagt hat, man dürfe nicht die Armeeerhalten, die man gewohnt sei, sondern man müsse dieArmee aufstellen, die benötigt werde. Das heißt Trans-formation. Es bedeutet, sich nicht nur an Liebgewonne-nes zu klammern, sondern das zu machen, was notwen-dig ist. Denn mit dem Geld der Steuerzahler sollte manverantwortungsbewusst umgehen.Zu der GEBB haben Sie eine Menge Märchen erzählt.Der Bundesrechnungshof hat eine Prüfung der erstenJahre durchgeführt, als die Lage durch die bestehenden
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Johannes KahrsAnfangsschwierigkeiten geprägt war. Wir alle wissenaber, dass sich in den Jahren 2003 und 2004 die Lage an-ders darstellt. Zeigen Sie mir ein Unternehmen, dasheute anfängt und gleich auf 100 Prozent hochschnellt!Ein solches Unternehmen gibt es nicht. Es handelt sich,wie gesagt, um billige Polemik und Panikmache.Die Anmerkung zu dem Rachefeldzug gegen Kritikerist ärmlich. Als Hanseat bzw. Hamburger könnte ichauch davon reden, was alles in den 80er- und 90er-Jah-ren in der Freien und Hansestadt Hamburg geschlossenwurde. Es gilt der Grundsatz, die Armee aufzustellen,die wir benötigen, und nicht die, die wir gewohnt sind.Das heißt auch, dass man sich nicht an jeden Standortklammern kann, sondern sich bemühen muss, das vor-handene Geld vernünftig und sinnstiftend so auszuge-ben, wie es die Soldaten benötigen. Deswegen ist esschade, dass Sie Ihre schöne Redezeit so vertan und sowenige Inhalte geliefert haben, Herr Austermann.Nach Abschluss der Beratungen im Haushaltsaus-schuss liegt jetzt der Haushaltsentwurf des Verteidi-gungsressorts vor. Die konzeptionellen und operativenVorgaben des Transformationsprozesses werden in die-sem Haushalt in aller Klarheit und Deutlichkeit abgebil-det.Der Plafond des Einzelplans 14 beträgt 23,9 Milliar-den Euro und entspricht damit dem Regierungsentwurf,wie er vom Kabinett beschlossen wurde. Das Verteidi-gungsressort trägt zur Konsolidierung des Bundes-haushalts bei, und zwar mit einem Betrag in Höhe von328 Millionen Euro. Wir haben also unseren Beitrag ge-leistet. Trotz der Einsparungen werden, wie gesagt, indiesem Jahr 23,9 Milliarden Euro verfügbar sein.Nach Bekanntgabe der Ergebnisse der letzten Steuer-schätzung ist klar, dass auch der Einzelplan 14 einenBeitrag zur weiteren Konsolidierung leisten muss. Des-halb werden wir in diesem Jahr weitere 248 Millio-nen Euro einsparen.Herr Austermann, Sie haben davon gesprochen, dass1 Milliarde Euro fehlt. Ich verweise Sie daher hocher-freut auf Ihre Forderung, die flexibilisierten Ausgabendes Einzelplans 14 um 10 Prozent zu kürzen. Diese For-derung ist von der Union erhoben worden. Für den Ver-teidigungshaushalt macht das 582 Millionen Euro aus.Das ist völlig unrealistisch und unsinnig.Gleichzeitig hat der Ministerpräsident von Bayern ge-fordert, dass der Bund die Bundesausgaben in allen Etatsum 5 Prozent kürzen solle. Das wären für den Verteidi-gungshaushalt 1,2 Milliarden Euro. Diese Forderung istvonseiten der Union erhoben worden.Jetzt werfen Sie uns vor, dass 1 Milliarde Euro fehlt,obwohl das gar nicht stimmt. Es geht um 100 Millio-nen Euro. Gleichzeitig fordert Ihre eigene Partei vielweiter gehende Kürzungen. Was ist das für ein finanzpo-litisches Chaos in der Union? Sie sind dafür verantwort-lich und das ist peinlich.
Im Etat stehen gesicherte Einnahmemöglichkeitenaus dem Verkauf von Wehrmaterial in einer Größenord-nung von 100 Millionen Euro zur Verfügung. Außerdemgibt es eine Vorleistung auf die Veräußerung von Bun-deswehrliegenschaften in Höhe von 40 Millionen Euro,die entsprechend eingestellt werden können. Das heißt,dem Verteidigungshaushalt stehen für das Jahr 2005Haushaltsmittel in Höhe von 23,8 Milliarden Euro zurVerfügung. Das entspricht ungefähr der gleichen Grö-ßenordnung wie in diesem Jahr. Von der von Ihnen kriti-sierten fehlenden Milliarde kann nicht die Rede sein, ab-gesehen davon, dass Sie Kürzungen in Höhe von1,2 Milliarden Euro gefordert haben.Der Einzelplan 14 ist zwar knapp bemessen, dennochermöglicht er der Bundeswehr, die Ausstattung in dembenötigten Umfang anzuschaffen. Er bietet eine solideBasis, um die Transformation der Bundeswehr wie ge-plant fortzusetzen. Dieser Haushalt ist reell und solideund nicht so schwammig wie die Forderungen derUnion.Im Hinblick auf den reibungslosen Ablauf des Trans-formationsprozesses, den Verteidigungsminister Struckeingeleitet hat – dafür ist ihm zu danken; denn er mussall das wiedergutmachen, was in den Jahren vorher dieUnion verbockt hat –, ist dieses Einsparvolumen geradenoch vertretbar.
– Bei Herrn Scharping wissen Sie es doch besser. Er hatdie ersten notwendigen Maßnahmen eingeleitet, das wis-sen wir doch alle.
Durch restriktive Steuerungsmaßnahmen im Betriebwird die Erwirtschaftung der zusätzlichen Einsparaufla-gen im Haushalt der Beschaffungsplanung nicht entge-genstehen.Die Betriebsausgaben werden zugunsten der investi-ven Ausgaben gesenkt. Insbesondere die Reduzierungder militärischen und zivilen Personalumfänge, Maßnah-men zur Optimierung des Betriebes und Betreiberlösun-gen schlagen hier zu Buche. Die Betriebsausgaben sin-ken insgesamt von mehr als 18 Milliarden Euro um rund500 Millionen Euro auf 17,5 Milliarden Euro. Die Aus-wirkungen der von Bundesminister Struck kürzlich be-kannt gegebenen Stationierungsentscheidung tragen ih-ren Teil dazu bei. Herr Austermann, da müssen Sie nichtbeleidigt sein, sondern Sie können mir einfach zuhören.Dann lernen Sie dazu und erzählen künftig nicht so einenUnsinn.
Besonders hervorheben möchte ich dabei die Absen-kung der Personalausgaben. Diese sinken von 12,3 Mil-liarden Euro im Jahre 2004 auf rund 12 Milliarden Euro.Wir berücksichtigen in diesem Fall die Absenkung derVeranschlagungsstärke der Soldaten um 25 000 bis zumJahr 2010 und einen um rund 3 700 Mitarbeiter
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Johannes Kahrsverringerten zivilen Personalumfang im nächsten Jahr.Dazu muss allerdings gesagt werden, dass der Perso-nalabbau im zivilen Bereich langsamer verläuft, als wiruns das gewünscht haben. Hier besteht deutlicher Hand-lungsbedarf.Der Transformationsprozess hat aber auch Auswir-kungen auf die Optimierung im Betrieb. Dadurch kön-nen die Ausgaben für Materialerhaltung und die Ausga-ben für den sonstigen Betrieb deutlich reduziert werden.Die Ausgaben für Materialerhaltung konnten gegenüberdem Vorjahr um rund 140 Millionen Euro im Wesentli-chen aufgrund der Erwartungen weiterer Außerdienst-stellung von Material gesenkt werden. Die Bundeswehrmuss in diesem Bereich jedoch keine unerwünschtenoperativen Einschnitte hinnehmen.Um eine sichere Durchführung und eine gesicherteFortsetzung internationaler Einsätze der Bundeswehr ge-währleisten zu können, haben die zuständigen Berichter-statter für den Einzelplan 14 im Haushaltsausschuss Vor-sorge getroffen. Für einsatzbedingten Sofortbedarf sinddie Mittel gegenüber dem Regierungsentwurf um rund64 Millionen Euro auf nunmehr 700 Millionen Euro an-gehoben worden. Die anstehenden Ausgaben für einenEinsatz im Sudan werden daraus erwirtschaftet.Die Veranschlagung der Betreiberlösungen – hierhandelt es sich um funktionierende Kooperationen mitder Wirtschaft – ist von rund 245 Millionen Euro imVorjahr auf nunmehr rund 300 Millionen Euro gestiegen.Solche Betreiberlösungen, übrigens zu Unionszeiten un-denkbar, ermöglichen eine Verbesserung der Ausstattungder Bundeswehr ohne eine Bindung von Investitionsmit-teln. So kann das Parlament heute wegen des vorgesehe-nen Betreibermodells für den Simulator beim NH 90 imHaushalt 2005 eine Erhöhung des Ansatzes für wehr-technische Forschung und Technologie um 30 Millio-nen Euro beschließen.Mit der Bw Fuhrpark Service GmbH wurde durch dieBereitstellung von mehr als 14 000 Neufahrzeugen miteinem hypothetischen Beschaffungswert von circa260 Millionen Euro begonnen, den Investitionsstau beiden Fahrzeugen der Bundeswehr abzubauen.Durch die genannten Einsparungen bei den Be-triebsausgaben konnten die verteidigungsintensivenAusgaben deutlich erhöht werden. So sparen wir580 Millionen Euro ein und können die Investitionenvon 5,92 Milliarden Euro auf nunmehr rund 6,15 Mil-liarden Euro anheben. Wir gehen den Weg, die tatsäch-lich verfügbaren Haushaltsmittel für die Verteidigungzukunftsorientiert und aufgabenbezogen zu nutzen, undzwar für unsere Streitkräfte und die davon abhängigewehrtechnische Industrie in Deutschland.Die jetzt vorgesehene Finanzausstattung erlaubt dieRealisierung wichtiger Vorhaben für den Transforma-tionsprozess der Bundeswehr. Das gilt insbesondere fürdie aus bündnispolitischer Sicht bedeutsamen Projektewie die erste Ausbaustufe des streifkräftegemeinsamenFührunginformationssystems, das Satellitenkommunika-tionssystem der Bundeswehr, Stufe 2, und die Kampf-ausstattung „Infanterist der Zukunft“ im Rahmen dervernetzten Operationsführung. Dies gilt für die einsatz-wichtigen Heeresneuvorhaben DINGO 2, DURO,ESK MUNGO sowie insbesondere den SchützenpanzerPuma.
Die Beschaffung des Puma ist nicht nur für die Panzer-grenadiertruppe von großer Bedeutung. Das sollten Sie,liebe Kolleginnen und Kollegen, aus eigener Kenntniswissen, dann müsste ich als Major der Panzergrenadier-truppe Ihnen das nicht erzählen. Sie soll zusätzlich dieKonsolidierung der Landsystemindustrie befördern. Derheute bekannt gewordene Verkauf von 42,1 Prozent derAktien an der Firma Rheinmetall an institutionelle Anle-ger ist aus derzeitiger Sicht von allen Alternativen nochdie beste. Ich hoffe, dass dies zu einer Konsolidierungder deutschen Landsystemindustrie beiträgt bzw. diesezumindest nicht beeinträchtigt. Auf jeden Fall zeigt sichhier, dass sich das geänderte Außenwirtschaftsgesetz,das der Regierung ein Mitspracherecht bei der Über-nahme deutscher Rüstungsunternehmen einräumt, be-währt hat.
– Kollegen, hören Sie doch einfach zu und sabbeln Sienicht laufend dazwischen! Sie können hier ernsthaft et-was dazulernen.
Ein Verkauf des Gesamtpaketes an ausländische Kon-kurrenten, wie zum Beispiel General Dynamics, kannnun ebenso verhindert werden wie ein Verkauf gestü-ckelter Aktienpakete an ausländische Investoren. Diesgilt für die geplante Beschaffung von vier Fregatten der125er-Klasse und zwei U-Booten der 212er-Klasse, dieder Marine eine langfristige Perspektive gibt und gleich-zeitig die Konsolidierung des Marineschiffbaus imWerftenverbund von Blohm + Voss, HDW und EmdenNordseewerke unterstützt. Dies gilt ebenso für daszweite Los Eurofighter, das sowohl für die Luftwaffe alsauch für die Unterstützung der erfolgten Konsolidierungin der Luft- und Raumfahrtindustrie unverzichtbar istund insbesondere den deutschen Anteil an EADS unter-stützt.Mit dem vorliegenden Haushalt wird also die Trans-formation der Bundeswehr unterstützt und gleichzeitigder Einstieg in eine langfristige Politik für die wehrtech-nische Industrie – sowohl für die großen Systemhäuserals auch für den wichtigen, besonders zu fördernden in-novativen Mittelstand – mit dem Ziel betrieben, deut-sche Kernkompetenzen zu halten und zu sichern; dennzur Bundeswehr gehört auch die wehrtechnische Indus-trie. Allerdings dürfen wir nicht darüber hinwegsehen,dass wegen des zu erbringenden Beitrags zur Konsoli-dierung nur ein kleiner Teil der bei den Betriebsausga-ben eingesparten Mittel tatsächlich zur Aufstockung derVerteidigungsinvestitionen genutzt werden kann. DasVerhältnis der Betriebsausgaben zu den Investitionsaus-gaben liegt in einem gerade noch vertretbaren Rahmen.
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Johannes KahrsDas Ende der Belastbarkeit ist aber erreicht. WeitereEinschnitte im kommenden Haushaltsjahr sind nichtmehr verkraftbar, ohne in die Investitionen einzugreifen,die für die Schließung der erkannten Fähigkeitslückennotwendig sind.Eine dauerhaft gesicherte Finanzplanung auf Basisdes 37. Finanzplans ist unabdingbare Voraussetzung, umdie Transformation der Bundeswehr erfolgreich zu been-den und die Einhaltung der von der Bundesregierung denBündnispartnern zugesagten internationalen Verpflich-tungen sicherzustellen. Ich glaube, wir Sozialdemokra-ten haben es zusammen mit den Grünen geschafft, einenHaushalt aufzustellen, der in sachlicher und fachlicherHinsicht solide ist,
der der Bundeswehr sowie insbesondere den Soldaten imEinsatz eine Zukunft bietet und der die Bundeswehr mitdem notwendigen Material ausstattet. Herr Austermann,das haben Sie sehr häufig nicht geschafft. Das kann ich,der ich jahrelang mit dem Marder gefahren bin, bezeu-gen. Während Ihrer Regierungszeit war dieses Fahrzeugnie so funktionstüchtig, dass es die Soldaten richtig nut-zen konnten. Ihnen ist doch bekannt, dass alle vorhande-nen großen Waffensysteme damals unter Apel, HelmutSchmidt und Leber angeschafft worden sind. Sie habenes 16 Jahre lang verschlafen, etwas zu tun, und habenuns nichts hinterlassen. Wir sind nun dabei, die Bundes-wehr wieder so aufzubauen, wie es notwendig ist.
– Jawohl, das ist richtig. Meine Damen und Herren vonder Opposition, Sie sollten meinem Kollegen ruhig er-lauben, dazwischenzurufen. Dann lernen Sie noch mehrdazu.Wir Sozialdemokraten haben es gemeinsam mit Mi-nister Struck und seiner fähigen Riege von Staatssekretä-ren geschafft,
die Bundeswehr einen großen Schritt voranzubringen.Ich möchte mich ganz herzlich bei den Kollegen so-wohl von der Regierungskoalition als auch von der Op-position für das große Engagement und die gute Zusam-menarbeit im Verteidigungsausschuss bedanken. – DerKollege Austermann scheint das alles nicht mehr mitzu-bekommen.Auch im Haushaltsausschuss haben wir vernünftigzusammengearbeitet.
Ich bedanke mich insbesondere bei all den Kollegen, diedaran mitgewirkt haben. Rainer Arnold mit seinen Ver-teidigungspolitikern ist uns auch im Haushaltsausschussständig eine große Stütze. Ich danke insbesondere mei-ner Kollegin Elke Leonhard, die das alles möglich ge-macht hat. Ich wünsche Ihnen allen weiterhin eineschöne Debatte.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Günther Nolting von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol-lege Kahrs, als Sie gerade dieses Lob ausgesprochen undauch die Mitglieder des Verteidigungsausschusses er-wähnt haben, habe ich mich gleich gefragt, was wir ei-gentlich falsch gemacht haben. Dazu, dass Sie hier dieOpposition angegriffen haben, kann ich nur sagen: Siehaben genau die Probleme, die Sie 16 Jahre lang habenwollten. Also beschweren Sie sich hier nicht!Herr Kollege Kahrs, Sie wissen ganz genau, dass dieEntscheidungen und die Maßnahmen von MinisterScharping grundlegend falsch waren. Sie haben uns Mil-liarden gekostet. Deswegen ist der Verteidigungsminis-ter heute in dieser schwierigen Situation und deswegenmuss jetzt, sechs Jahre nach der Regierungsübernahmedurch Rot-Grün, umstrukturiert werden. Auch wir stehenzu dieser Umstrukturierung. Aber tun Sie doch nichtso, als wären Sie dafür nicht verantwortlich. Sie sindjetzt sechs Jahre an der Regierung. Stehen Sie zu IhrerVerantwortung!
Sie wissen ganz genau, dass die Finanzmittel für eine gutausgestattete Bundeswehr hinten und vorne nicht ausrei-chen.Herr Minister, Sie müssen die Bundeswehr schlag-kräftiger und bündnisfähiger machen. Sie müssen dieAttraktivität des Dienstes steigern, um guten Nachwuchsrekrutieren zu können. Dies ist mit Ihrem Spagat zwi-schen Beibehaltung der Wehrpflicht auf der einen Seiteund Unterfinanzierung der gewählten Struktur auf deranderen Seite aber nicht möglich. Auch das wissen Sie.Herr Minister, ich frage Sie – vielleicht wird Staatsse-kretär Wagner auf diese Fragen gleich eingehen –: Han-deln Sie, was Ihre Untergebenen angeht, fürsorglich,wenn Sie den Angehörigen der Bundeswehr immer mehrLasten aufbürden? Handeln Sie fürsorglich, wenn Sieder Bundeswehr die zwingend notwendigen Mittel ver-sagen, weil Sie sich gegenüber Ihren Kollegen in denHaushaltsplanberatungen nicht durchsetzen können?Was sagen Sie zu der anstehenden zusätzlichen globalenMinderausgabe von 250 Millionen Euro? Ich würdemich freuen, wenn diese Fragen heute hier beantwortetwerden.
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Günther Friedrich NoltingHerr Minister Struck, wenn Außenminister Fischervon der Grünenfraktion immer mehr Einsätze der Bun-deswehr im Ausland fordert, dann müssen Sie ihn, Au-ßenminister Fischer, und seine Fraktion im Zuge derHaushaltsberatungen auch bei der Mittelvergabe beimWort nehmen, nach dem Motto: Wer bestellt, mussschließlich auch bezahlen. Sie wissen, was ich zu dieserRollenteilung schon einmal gesagt habe.
Der Haushalt von 24 Milliarden Euro könnte für einegut ausgerüstete und professionelle Bundeswehr viel-leicht knapp ausreichen, aber eben nur für eine Bundes-wehr, in der den Betroffenen, zum Beispiel im Rahmender flexiblen Budgetierung vor Ort, mehr Eigenverant-wortlichkeit in Bezug auf Investitionen und Ausgabengelassen wird. Meiner festen Überzeugung nach sind dieKommandeure und Dienststellenleiter sehr kreativ undinnovativ. Man muss sie nur lassen. Mit anderen Worten:Es muss ihnen auch möglich sein.
Herr Kollege Nolting, erlauben Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Bonde von den Grünen?
Ja, selbstverständlich.
Bitte schön.
Kollege Nolting, Sie haben auf die dringende Not-
wendigkeit zusätzlicher Ausgaben hingewiesen. Sie ha-
ben betont, der Minister habe sich gegenüber dem Kabi-
nett nicht durchgesetzt. Daher möchte ich Sie gerne
fragen, wie Ihre eigene Durchsetzungsfähigkeit in Ihrer
Haushaltsgruppe in den Haushaltsverhandlungen war.
Im Haushaltsausschuss sind mir keine besonderen „Auf-
wuchsanträge“ der FDP-Fraktion aufgefallen. Vielleicht
können Sie mir da auf die Sprünge helfen.
Herr Kollege Bonde, vielleicht schauen Sie einmal inunser Programm von vor vier Jahren.
– Wir waren etwas schneller als Sie. Im Gegensatz zu Ih-nen waren wir unserer Zeit voraus. – In diesem Pro-gramm haben wir aufgezeigt, wie wir uns die Bundes-wehr der Zukunft und die effektive Verwendung vonGeldern vorstellen. Heute sage ich Ihnen: Mir – viel-leicht auch Ihnen als Haushälter – fallen viele Möglich-keiten ein, wie Gelder effektiver eingesetzt werden kön-nen. Ich denke allein daran, dass wir heute noch immereine Aufwuchsfähigkeit von 500 000 Soldaten haben.Für diese Soldaten müssen die entsprechenden Geräte,die entsprechende Ausrüstung und die entsprechendenDepots vorgehalten werden. Als Haushälter wissen Sieebenso gut wie ich, wie viel Geld das kostet. Wir erwar-ten hier mehr Flexibilität. Dazu haben wir Vorschlägegemacht. Das wissen Sie zwar; allerdings verschweigenSie es heute.
Ich komme auf die 24 Milliarden Euro zurück. Siereichen eben nicht für eine Bundeswehr aus, die in über-holter Wehrstruktur und in von oben verordneter alterDenkweise verharren muss.
Attraktivität, Flexibilität, Einsparungen und weniger Bü-rokratie werden abgelehnt. Man bleibt bei der Wahrungvieler überholter Strukturen und Denkweisen und gau-kelt den Steuerzahlern soziale Kompetenz vor.Herr Minister, noch ein Wort zur Wehrpflicht. Selbstwenn ich Ihnen persönlich, Herr Minister Struck, nocheine gute Absicht bezüglich der Wehrpflicht unterstelle– auch wenn ich mit Ihnen in dieser Frage nicht einerMeinung bin –, bin ich der festen Überzeugung, dass dieStrategien zur Vermarktung des Endes der Wehrpflichtbereits in den Schreibtischschubladen Ihres Parteivorsit-zenden Müntefering und des Bundeskanzlers liegen.Was der SPD und dem Kanzler im Wahljahr 2002 derIrak und das Hochwasser war, wird ihnen im Wahljahr2006 die Wehrpflicht sein. Skrupellos – davon bin ichfelsenfest überzeugt – wird die Bundeswehr von Rot-Grün im Wahlkampf missbraucht werden. Die Unionwird von ihnen im Wahlkampf in dieser Frage vorge-führt werden.
Warum sollten genau die Personen, die zwecks Machter-halt 2002 nicht davor zurückschreckten, das transatlanti-sche Verhältnis massiv zu beschädigen,
Skrupel haben, jetzt die Wehrpflichtfrage zum Wahl-kampfthema zu machen? Hauptsache, die Wahl wird ge-wonnen!
Ich kann hier heute ankündigen, dass wir erneut einenAntrag zur Aussetzung der allgemeinen Wehrpflicht ein-bringen werden.
Die Wehrpflicht ist sicherheitspolitisch nicht mehr zu le-gitimieren. Wir wollen die Entscheidung jetzt haben.
Rot-Grün, vor allem Grün, wird in dieser Frage Farbebekennen müssen.
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Günther Friedrich Nolting
Ich will den Verteidigungsminister an dieser Stelle lo-ben; ich hoffe, das schadet nicht. In enger Zusammenar-beit zwischen Ihnen, Herr Minister Struck, Ihrem Hausund dem Parlament ist es gelungen, endlich die Beschaf-fung des Schützenpanzers Puma in die Wege zu leiten.
Das ist gut – ich bekräftige dies ausdrücklich –; ich steheauch dazu. Unsere Soldatinnen und Soldaten – ichdenke, darin stimmen wir überein – brauchen diesenSchutz. Ich hoffe, Herr Kollege Kahrs, dass der Zeitplaneingehalten wird und die Beschaffungsvorlage rechtzei-tig zugeleitet wird, sodass wir noch in diesem Jahr da-rüber entscheiden können.Herr Minister Struck, weniger gut ist allerdings, dassSie bei den Kasernenschließungen die betroffenen Kom-munen im Regen stehen lassen. Sie sind nicht der Infra-strukturminister der Bundesregierung – das ist richtig –,aber es ist falsch, dass die Bundesregierung die Gemein-den im Stich lässt,
weil man sich in der Bundesregierung offensichtlichnicht einig ist und sich andere Ressorts diesen Proble-men verschließen.
Die Entwicklung der Bundeswehr zu einer unterfi-nanzierten und schlecht ausgestatteten Armee ist besorg-niserregend. Falsche Beschlüsse, zum Beispiel – ichhabe darauf hingewiesen – die Aufblähung von Stäbenund des Ministeriums, sowie die verfassungswidrigenMethoden, zum Beispiel die Einberufung von nur rund10 Prozent aller geeigneten jungen Männer, sorgen da-für, dass alle Erfolge, die durch die Soldaten selbst er-zielt wurden, zunichte gemacht werden.
Herr Kollege Austermann, Sie haben hier die Vor-fälle von Coesfeld angesprochen. Ich will die wahrlichnicht verniedlichen. Wir werden im Ausschuss über dieVorfälle beraten und sie gemeinsam mit dem Verteidi-gungsministerium klären. Aber ich bin nicht bereit, dieBundeswehr in Gänze unter Generalverdacht zu stellen.Es waren Einzelfälle; wir sollten das nicht verallgemei-nern.
Unsere Soldatinnen und Soldaten leisten hervorra-gende Arbeit, teilweise unter schwierigen Bedingungen.Wir danken ihnen dafür. Der Bundeskanzler hat hierheute Morgen die Bundeswehr gelobt. Da hat er Recht.
Aber den Worten müssen auch Taten folgen. Wir werdenihn an seinen Taten messen.
Bei den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschlandkann das rot-grüne Verhalten nur auf Unverständnis sto-ßen. Nicht die Aussetzung der Wehrpflicht und die Ver-kleinerung der Bundeswehr bergen die Gefahr der Ent-fernung der Bundeswehr von der Gesellschaft in sich;Ihre Regierungsarbeit stellt diese Gefahr dar. Wir habenversucht – ich habe schon darauf hingewiesen –, im Rah-men der Haushaltsdebatte die Situation zu verbessern.Die rot-grüne Regierungsmehrheit hat dies abgelehnt.Rot-Grün ist beratungsresistent.Lassen Sie mich auf die Vorlagen zur Gleichstellungvon Soldatinnen und Soldaten eingehen, die die FrauPräsidentin – Ihre Vorgängerin bei der Leitung der Sit-zung, Herr Präsident – vorhin aufgerufen hat. LiberaleLinie ist die Ablehnung von Quotenregelungen. DerGesetzentwurf der rot-grünen Bundesregierung abersieht vor, dass Frauen beim beruflichen Aufstieg bevor-zugt berücksichtigt werden müssen.
Die Soldatinnen selbst wollen aber keine Quotenfrauensein.
Die FDP-Bundestagsfraktion hat deshalb einen eige-nen Antrag eingebracht, mit dem wir von der FDP dieBeschäftigungsbedingungen für Soldatinnen und Solda-ten deutlich verbessern wollen. Wir wollen unter ande-rem erreichen, dass die Anstrengungen im Bereich derPersonalwerbung vergrößert werden und bei Auswahl-entscheidungen und sonstigen personalen MaßnahmenFrauen im objektiven Qualitätswettbewerb mit denmännlichen Kameraden angemessen berücksichtigt wer-den.Wir sagen nämlich dazu: Eine höhere Anzahl vonweiblichem Führungspersonal wäre aufgrund der Vor-bildfunktion ein Vorteil bei der Gewinnung qualifizierterund interessierter Frauen für den Dienst in der Bundes-wehr. Die FDP fordert auch, dass Soldatinnen gemäß derLaufbahnverordnung bei entsprechender Leistung, Eig-nung und Befähigung – das sind die zentralen Entschei-dungskriterien – in gleicher Weise wie Soldaten bis indie Spitzendienstgrade befördert werden. Ich hoffe, dassSie unserem Antrag zustimmen werden.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Kollege Winfried Nachtweivom Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren! Heute diskutieren undentscheiden wir über die finanzielle Ausstattung derBundeswehr. In den letzten Wochen haben wir über dieSchließung etlicher Standorte diskutiert sowie über dieWehrform in der Öffentlichkeit gestritten. Heute stehtaufgrund aktueller Ereignisse ein Themenkomplex ganzoben auf der Tagesordnung, das für die Bundeswehr sehrzentral ist, aber in der Regel nicht im Blickpunkt der Öf-fentlichkeit steht, nämlich die Fragen nach Ausbildungund Klima innerhalb der Bundeswehr sowie nach der In-neren Führung. Sie gestatten, dass ich darauf zuerst ein-gehe.Was aus der Ausbildungskompanie eines Instandset-zungsbataillons in Coesfeld bekannt wurde, ist in mehr-facher Hinsicht bestürzend: einmal im Hinblick auf dieArt der Verstöße, bei denen eindeutig die Grenze von rea-litätsnaher Ausbildung überschritten und Menschen-würde beeinträchtigt und verletzt wurde, dann im Hin-blick auf die Zahl der aktiv Verwickelten und der passivVerwickelten und schließlich – das ist beunruhigend undauch rätselhaft – im Hinblick auf die Tatsache, dass soviele in der Kompanie und in der Kaserne davon wuss-ten, aber keiner es meldete.Wir wissen noch nicht genau, woran das liegt, aber esdrängen sich bestimmte Erklärungen doch zumindestauf. Offenkundig fehlte es an einem entsprechendenPflicht- bzw. Unrechtsbewusstsein, an Unterscheidungs-vermögen zwischen harter Ausbildung und einer Ausbil-dung, bei der Menschenrechte verletzt werden. Offen-kundig steckte der Wurm in der ganzen Kompanie. Eshandelt sich also doch um mehr als um das Fehlverhalteneinzelner Personen. Die bruchstückhaften Darstellungenhaben Assoziationen an Abu Ghureib geweckt. Dasschlug sich ja auch in manchen Überschriften nieder.Dazu müssen wir aber eindeutig klarstellen, dass Paral-lelisierungen zu den schlimmen Folterexzessen in AbuGhureib völlig unangebracht und falsch sind.
In diesen Tagen sind aber auch Stimmen zu hören, diebehaupten, diese Misshandlungen in der Ausbildungs-kompanie seien die Spitze eines Eisbergs in der Bundes-wehr und ergäben sich konsequent aus dem Wandel derBundeswehr von einer Abschreckungsarmee hin zu ei-ner Einsatzarmee. In einer Berliner Tageszeitung wurdesogar die Behauptung aufgestellt, die Bundeswehr sei in-zwischen für Rambos attraktiver, weil „unter Landesver-teidigung auch Angriffskriege verstanden werden“.Auch wenn diese Behauptungen für alle hier anwesen-den Außen- und Sicherheitspolitiker abwegig sind,
möchte ich hier dieses doch noch einmal klarstellen,denn draußen finden solche Positionen manchmal etwasmehr Echo.Der Auftrag der Bundeswehr ist ganz eindeutig durchdas Grundgesetz und das Völkerrecht eingegrenzt. Dem-nach kann und darf die Bundeswehr neben der Landes-verteidigung nur im Rahmen eines Systems kollektiverSicherheit zur Wahrung des Friedens eingesetzt werden.So lauten die Formulierungen im Grundgesetz. Negativausgedrückt: Friedensstörungen, insbesondere Vorberei-tung von Angriffskriegen, sind verfassungswidrig. Dasist unsere Verfassungsrealität. Sie gilt selbstverständlichfür die Bundeswehr.Für die Teilnahme an multilateraler Krisenbewälti-gung sind neue Fähigkeiten unabdingbar, die auch übergroße Distanzen wirksam sind. Damit entsteht unzwei-felhaft eine Interventionsfähigkeit. Aber ich sage aus-drücklich: Damit wollen wir die Bundeswehr keines-wegs zu einer Interventionsarmee machen. Das ist einriesiger Unterschied.Für die Bundeswehr gilt kategorisch: Sie wird nur fürdie Ziele der Vereinten Nationen und nach den Regelndes Völkerrechts eingesetzt. Ich konnte bisher immer da-von ausgehen, dass über diesen Rahmen im DeutschenBundestag eindeutig Konsens besteht. Auch deshalb ha-ben wir uns nicht am Irakkrieg beteiligt; ein andererGrund waren die absehbaren Folgen. Dies war ein deut-licher Beleg für unsere Haltung.Die Vorfälle von Coesfeld sind weder die Spitze ei-nes Eisbergs – hierauf haben ich und auch die anderenKollegen bisher keinerlei Hinweise – noch die kausaleKonsequenz aus Auslandseinsätzen. Stattdessen gilt: Dieneuen Aufgaben, die Friedenseinsätze erfordern ein vielbreiteres Spektrum an Fähigkeiten und eine besondereVerhaltenssicherheit der Soldaten sowie militärische,technische und soziale Kompetenz und ein ganz anderesRechtsbewusstsein in einer Gesellschaft, in der Wertvor-stellungen immer mehr ins Rutschen geraten.Die Notwendigkeit solch umfassender Kompetenzenzeigen negativ der Irakkrieg und positiv die bisher er-folgreichen Auslandseinsätze der Bundeswehr. Aus die-sen Gründen, Herr Minister, sind Ihre Bewertungen undSchlussfolgerungen bezüglich der Vorfälle in Coesfeldvoll zu unterstützen. Sie haben den Kommandeur desZentrums Innere Führung beauftragt, diese Dinge ge-nauer zu untersuchen. Damit werden die Vorfälle in denKontext bisheriger Ausbildung und Innerer Führung ge-stellt. Dadurch wird ermöglicht, dass über die Kompaniehinaus schnell angemessene Konsequenzen gezogenwerden können.Nun aber endlich doch noch zum Verteidigungshaus-halt. Durch die allgemeine Haushaltslage ist der Rahmeneng, aber noch ausreichend. Hervorzuheben sind einigeEckwerte, die für die Zukunftsfähigkeit der Bundeswehrvon entscheidender Bedeutung sind: Die Investitions-quote kann zumindest wiederum 1 Prozent angehobenwerden. Es ist darauf hingewiesen worden, dass ver-schiedene vorrangig wichtige Anschaffungen möglichsind und dass im Bereich Entwicklung und Erprobungeine vorgesehene erhebliche Reduzierung weitgehendwieder rückgängig gemacht werden konnte. Außerdemkönnen die Betriebsausgaben weiter gesenkt werden, vorallem die Personalausgaben. Eine besondere Ironie da-bei ist allerdings, dass die Senkung der Personalausga-ben vor allem darüber erfolgt, dass die Veranschlagungs-
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Winfried Nachtweistärke für Grundwehrdienstleistende enorm gesenktwird, nämlich von 62 000 in diesem Jahr auf 38 000 imkommenden Jahr.Eine Grunderfahrung aus vielen Jahren internationa-len Engagements der Bundesrepublik und Friedensein-sätzen der Bundeswehr ist: Sie sind nur mit ausgewoge-nen Fähigkeiten erfolgversprechend. Deshalb, war es imureigenen Interesse der Bundeswehr und ihrer Soldaten,ursprünglich beabsichtigte UN-einsatzrelevante Ein-schnitte in Nachbarressorts, also beim Auswärtigen Amtund bei der Entwicklungszusammenarbeit, nicht nurrückgängig zu machen, sondern auch gewisse, wennauch begrenzte Aufstockungen zu ermöglichen.Insgesamt bleibt aber die Einsicht, dass in einer Bun-desrepublik, die vermehrt internationale Verantwortungträgt, gegenüber der die Erwartungen der Staatenge-meinschaft deutlich zunehmen und die insgesamt vorgrößeren Anforderungen an internationaler Krisenbe-wältigung steht, verbesserte Fähigkeiten unabdingbarsind. Deshalb muss ich am Ende deutlich feststellen:Dieses Mehr an verbesserten Fähigkeiten wird mittelfris-tig nicht ohne ein Mehr an entsprechenden Ressourcenfür die Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitikinsgesamt erreicht. Daran arbeiten wir.Danke schön.
Das Wort hat jetzt der Kollege Christian Schmidt von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Die Bundeswehr hat in den letzten Tagenfür keine guten Schlagzeilen gesorgt: Proteste gegenStandortschließungen, Kritik vom Bundesrechnungshof,Ungereimtheiten im Zusammenhang mit dem Kosovo-einsatz – genauer: die ungeklärte Rolle des BND – sowiedie nicht enden wollende und jetzt wieder in der SPDhochkochende Wehrpflichtdebatte.Außerdem gibt es überproportionale Haushalts-kürzungen, die weit weg von dem veranschlagten Pla-fond führen. Wir waren von einem Plafond in Höhe von24,4 Milliarden Euro im Jahre 2003 ausgegangen. Wennman richtig rechnet, dann stellt man fest, dass jetzt dieGrenze bei 23,6 Milliarden Euro liegt. Außerdem bestehtdie Gefahr, dass es aufgrund einer globalen Minderaus-gabe noch eine weitere Absenkung gibt. Generalinspek-teur Schneiderhan hat in diesem Zusammenhang von ei-ner Makulaturmasse gesprochen. Denn sein Projekt„Bundeswehrreform“ würde zur Makulatur werden,wenn der Etat noch weiter heruntergefahren werdenwürde. Wenn man doppelt kürzt, dann kommt sehrschnell ein Betrag in Höhe von 1 Milliarde Euro zu-stande, von dem der Kollege Austermann gesprochenhat.
Negative Schlagzeilen machen auch die stockendenRüstungsprojekte und nicht zuletzt die von der Staatsan-waltschaft aufgegriffenen Vorwürfe hinsichtlich derEreignisse in Coesfeld, über die bereits gesprochenworden ist. Die einhelligen Reaktionen zeigen, dass esfür uns nicht vorstellbar ist, dass diese Misshandlungenin der Bundeswehr keine schlimmen Einzelfälle sind.Diese Einzelfälle gehören in die Hände der Staatsanwalt-schaft. Aber man muss sagen, dass die Bundeswehr ins-gesamt nicht betroffen ist.
Anders als Sie sich im Untersuchungsausschuss dersich mit Rechtsradikalismus in der Bundeswehr befassthat, verhalten haben, konstruieren wir aus einem Einzel-fall nicht einen flächendeckenden Missstand,
um daraus politisches Kapital zum Schaden der Bundes-wehr zu schlagen.
Dass die Vorfälle so schnell wie möglich aufgeklärtwerden müssen – auch um weiteren Schaden in der Öf-fentlichkeit von der Bundeswehr abzuwenden – verstehtsich von selbst. Insofern unterstützen wir ausdrücklichdas Vorgehen, die Vorkommnisse vollständig aufzuklä-ren und politische Konsequenzen zu ziehen, die unab-hängig von den Ergebnissen der staatsanwaltschaftlichenErmittlungen sind.Der Verteidigungsminister hat sich heute ins Wort be-geben. Ich bin sehr interessiert daran, zu erfahren, wie inden nächsten Wochen die notwendigen Änderungen bei-spielsweise in der Kette der Dienstaufsicht aussehenwerden. Auf jeden Fall sollten wir dieses Thema intensivdiskutieren und die notwendigen Schlüsse ziehen, damitdie Bundeswehr als eine Armee im Einsatz auch mentalgut gerüstet ist.Auch mit Blick auf andere Bereiche kann ich mirnicht so recht vorstellen, dass der Job des Ministers – ichnenne ihn immer noch Minister, obwohl ich heute ge-lernt habe, dass er nach den Vorstellungen des Bundes-ministeriums der Justiz eigentlich Ministerium heißenmüsste; ich halte aber trotzdem an der Anrede Ministerfest – im Moment vergnügungssteuerpflichtig ist. Vorlauter Krisenmanagement dürfte er kaum noch Zeit ha-ben, die konzeptionelle Transformation der Bundeswehrvoranzutreiben.
Überhaupt wäre es interessant, zu erfahren, wie es an-gesichts der Haushaltslage mit der Transformation wei-tergehen soll.Man kann in der nächsten Zeit nicht einfach sagen,dass man aufgrund der schlechten Haushaltssituation
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Christian Schmidt
nichts machen könne. Wenn einer zum Insolvenzrichtergehen und den Zylinder aufsetzen muss, dann wird nach-gefragt, wer dafür verantwortlich ist, dass der Betrieb indie roten Zahlen kommen konnte. In einem solchen Fallmuss zunächst der Geschäftsführer ausgewechselt wer-den; hier ist es der Bundeskanzler.
Danach muss man sanieren und die Ziele festlegen,die man erreichen will.
Deswegen wird man in der nächsten Zeit nicht darumherumkommen, bei den Aufgaben des Staates über Prio-ritäten zu diskutieren. Eine der Kernaufgaben des Staa-tes ist, Sicherheit für seine Bürger im Sozialen, aberauch unmittelbare Unversehrtheit unseres Landes unddes Einzelnen im Hinblick auf die innere und äußere Si-cherheit zu gewähren. Das ist die Priorität Nummer eins,die sich auch im Haushalt widerspiegeln muss.
Deswegen vermisse ich, dass sich die in diesem Zu-sammenhang gemachten zaghaften Ansätze, die sichnach den Verteidigungspolitischen Richtlinien in derKonzeption der Bundeswehr hätten wiederfinden müs-sen, dort nicht wiederfinden. Es fehlen ein nationalesSicherheitskonzept und eine Verschränkung der Aufga-ben mit einer entsprechenden rechtlichen Absicherungdort, wo es sinnvoll ist, was ja bereits angekündigt bzw.angedacht war. Das war ein Thema, das wir bereits ges-tern beim Haushalt des Bundesinnenministers angespro-chen haben. Hier ist wenig zu sehen.Wir hatten vor kurzem die Ehre, im Verteidigungs-ministerium von Feuerwehrleuten informiert zu werden.Ihnen wurde auf die Frage, mit was sie im Zusammen-hang mit dem, was man zivil-militärische Zusammenar-beit nennt, rechnen können, geantwortet: Das wird wohlweniger werden. Gerade das müsste mehr werden! Dasist ein konzeptioneller Punkt, den wir nicht ruhen lassenund an dem wir weiterarbeiten werden.
Zur Wehrpflichtdebatte. Es gibt hier Pro und Kontra.Mit dem Kollegen Nolting bin ich vom Ergebnis her imWiderspruch, aber nur in diesem Punkt. Über die Frage,dass wir eine anständige Bundeswehr brauchen, sind wiruns eigentlich einig.
Dass man sich darüber im Klaren sein muss, dass erstentschieden werden muss, wie die Bundeswehr aussieht,ob sie also eine Wehrpflicht- oder Mischarmee oder obsie eine Berufsarmee sein soll, und man dann den Haus-halt in den Griff bekommen und die Umsetzung derStandortschließungen durchsetzen sollte, müsste docheigentlich logisch sein. Eine Berufsarmee im Umfangder jetzigen Bundeswehr wird mindestens 3 MilliardenEuro mehr kosten.
Wo, bitte schön, jonglieren Sie solche Beträge her? Es istdoch klüger, einen Transformationsschritt erst dann zumachen, wenn ich weiß, mit welcher Bundeswehr ich ei-nen solchen Schritt tun kann. Ich vermisse hier Logik inder Abfolge der Schritte.
– Wenn Sie das durchsetzen können. Die Zweifel, die imHinblick auf eine Berufsarmee geäußert worden sind,teile ich.
Da sind wir einer Meinung. Das Kunststück möchte ichsehen.Der Bundesverteidigungsminister hat sich bereits ver-bal von dem Ziel einer alleinigen Berufsarmee distan-ziert. Er hat zwar sinngemäß gesagt, dass er auch eineBerufsarmee steuern könne.
Aber dazu braucht er das nötige Geld. Das hat er dochschon jetzt nicht für die Wehrpflichtarmee.Was das Thema, wohin sich die Bundeswehr imÄußeren entwickelt und welche Aufgaben sie wahrneh-men soll, betrifft, müssen wir feststellen – wir haben ei-nen Antrag dazu entsprechend korrigiert –, dass das Pa-pier für das Weißbuch – so habe ich mich belehrenlassen –, das seit Jahren gedruckt werden soll, bereits an-geschafft ist. Papier ist bekanntermaßen geduldig. Inso-fern wird die Geduld dieser Papierstapel im Verteidi-gungsministerium wohl noch einige Zeit anhaltenmüssen.Man ist nicht in der Lage, dem deutschen Volk zusagen, wie die sicherheitspolitische Konzeptionaussieht. Gehört der Sudan dazu? Wird nach dem Zu-fallsgenerator entschieden oder danach, dass es demHerrn Außenminister gerade passt, weil er noch jeman-den gefunden hat, der eine Stimme für einen SitzDeutschlands im Sicherheitsrat der Vereinten Nationenabgibt? Das ist Sprunghaftigkeit, aber keine Politik.In diesem Zusammenhang ein Wort zur NATO. Heutehat der Bundeskanzler beredt den Unterschied zwischenWolfgang Schäubles Position und seiner klaren unddeutlichen dargestellt, nämlich dass niemals jemand inden Irak geschickt werde. Hat der Herr Bundeskanzlerdenn jemals darüber nachgedacht, was die NATO be-deutet, dass die NATO ein Bündnis ist und dass diesheißt, dass gemeinsame Entscheidungen gemeinsam um-gesetzt werden? Niemand in der NATO will sich militä-risch im Irak – auch der Herr Bundeskanzler wird nicht
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Christian Schmidt
so vermessen sein, etwas anderes sagen zu wollen – imSinne von irgendwelchen Kampfeinsätzen engagieren.Es geht dort um Ausbildung und um einen Ausbildungs-stab. Es geht um die Frage, ob man bereit ist, zu einemBündnis Ja zu sagen. Das würde dann allerdings auchheißen, dass man Politik mitgestalten muss und dassman nicht einmal hü und einmal hott sagen kann.
Man kann allerdings sehen, wie die Bedeutung derBundeswehr im Hinblick auf die Posten bei der NATOzurückgeht: Wir haben mit Herrn Kujat bisher den Vor-sitzenden des Militärausschusses gestellt. Den werdenwir bald nicht mehr stellen. Wir haben mit Admiral Feistden stellvertretenden Oberbefehlshaber der NATO-Streitkräfte in Europa gestellt. Den werden wir nichtmehr stellen. Die Frage ist: Was ist dieser Regierung dieBundeswehr in der NATO wert? Diese Frage wird dieDebatten in den nächsten Monaten ganz entscheidendbestimmen.
Herr Kollege Schmidt, erlauben Sie noch eine Zwi-
schenfrage – sozusagen eine Abschlussfrage – des Kol-
legen Arnold?
Ja, gerne.
Herr Kollege Schmidt, Sie haben wiederholt über die
Option gesprochen, deutsche Soldaten in den Stäben im
Irak arbeiten zu lassen. Ich frage Sie: Sind Sie wirklich
der Meinung, dass es im Irak ein sicheres Umfeld gibt,
in dem Soldaten ausbilden können, ohne von der drama-
tischen Entwicklung im Irak betroffen zu sein? Ergän-
zend dazu frage ich Sie: Haben auch Sie festgestellt,
dass bei dieser Mission für den Schutz von
100 Ausbildern 1 600 Soldaten notwendig sind?
Herr Kollege Arnold, es stellt sich in der Tat die Frage
der Sicherheit. Wir haben bereits die sehr tragische Er-
mordung von zwei BGS-Beamten erlebt, die auf dem
Weg zum Schutze der Deutschen Botschaft nach Bagdad
unterwegs waren. Sie kennen den Fall. Es geht um die
Frage, ob die NATO nach langer Diskussion eine Aus-
bildungsfazilität schaffen will, wie das übrigens auch
viele Zivilorganisationen in ihren Bereichen gemacht ha-
ben. Der Kollege Bindig und ich gehören dem Vorstand
einer Organisation an, die mit einer Reihe von Helfern in
Bagdad vertreten war. Sie hat die Helfer jetzt abgezogen,
ist aber bereit, wieder Helfer dorthin zu schicken. Man
wird die politische Frage beantworten müssen: Ist die
NATO als Bündnis aktiv, engagiert, bereit, etwas zu tun,
oder ist sie das nicht?
Der Bundeskanzler tut so – ich halte das für absolut
daneben –, als ob die Deutschen die Wahren, die Schö-
nen, die Guten sind, die nicht mal in den Stäben – es geht
nicht um größere Zahlen von Soldaten, sondern um zehn
bis 15 Soldaten – Soldaten einsetzen wollen. Er tut so,
als ob diejenigen, die dort Soldaten einsetzen wollen, ei-
gentlich schief gewickelt sind.
So kann man im Bündnis nicht miteinander agieren. Die
Frage des Einsatzes in den Stäben muss – wie auch im-
mer es sich im Einzelfall darstellt – beantwortet werden.
Der Bundeskanzler ist dabei auf dem Wege, dafür zu sor-
gen, dass sich Deutschland aus der Solidarität der NATO
verabschiedet.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirverabschieden heute nicht nur den Verteidigungshaus-halt, sondern auch – ein wunderbarer Titel – dasSoldatinnen- und Soldatengleichstellungsdurchsetzungs-gesetz. Die Bundeswehr stellt sich damit den Herausfor-derungen der Integration von Frauen in den noch beste-henden Männerbund. Die Soldatinnen bekommen jetztdurch das Gesetz die volle Unterstützung. Aber auch dieSoldaten profitieren, nicht zuletzt von der Verbesserungder Vereinbarkeit von Familie und Dienst und der Ein-führung von Teilzeitarbeit. Das wir die Regelungen fürdie Bundeswehr nicht schon 2001 in das Gleichstel-lungsgesetz für den öffentlichen Dienst aufgenommenhaben, war der Tatsache geschuldet, dass es bei denStreitkräften besondere Bedingungen gibt.Dieser Gesetzentwurf sieht nun eine Verpflichtungzur Förderung von Frauen mit einer Quote von 15 Pro-zent bei der Truppe und einer Quote von 50 Prozentbeim Sanitätsdienst mithilfe von Gleichstellungsplänenund Gleichstellungsbeauftragten vor.
– Herr Nolting, zu Ihnen komme ich gleich. – Meine Da-men und Herren von der Opposition, wir haben schon imOktober über die Quote debattiert. Aufgrund meiner Er-fahrung ist sie leider oft das einzige Mittel, um fähigeFrauen nach vorn zu bringen, aber eben nur – das habenSie falsch verstanden – bei gleicher Eignung, Leistung
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Irmingard Schewe-Gerigkund Befähigung. Wer glaubt, dass nun gar keine Männermehr befördert werden, muss eigentlich davon ausgehen,dass es keine qualifizierteren Männer als Frauen gibt.Ich kann diese negative Sichtweise über Männer über-haupt nicht teilen.
Herr Kollege Nolting, Ihre Kollegin Lenke muss of-fensichtlich in Ihrer Fraktion noch viel Überzeugungsar-beit leisten. Während die Bundesvereinigung der Libera-len Frauen einstimmig gefordert hat, dass jetzt auch dieFDP der Quote zustimmen soll, weil sich ohne Quotenichts bewegt, lehnt die FDP den Gesetzentwurf aus die-sem Grunde ab. Ich finde, da machen Sie etwas falsch,
– Das glaube ich nicht. Warten Sie auf die Abstimmung.Aus meiner Sicht sind die 15 Prozent zu niedrig, aberich bin gern bereit, der besonderen Situation in denStreitkräften Rechnung zu tragen. Die von der CDU/CSU vorgeschlagene Jahrgangsquote ist nicht nur ver-fassungsrechtlich problematisch, da sie von den Zufäl-ligkeiten des Frauenanteils an den Geburtsjahrgängenabhängig wäre, sondern so würde man auch gerade beiden älteren Jahrgängen nur den Status quo festschreiben.Das kann nicht gewollt sein.Trotzdem freue ich mich, Frau Kollegin Lietz, dassSie diesem Gesetzentwurf, wie wir ihn vorschlagen,gleich zustimmen werden.Bei zwei anderen Punkten, die ich in der ersten Le-sung kritisiert habe, hat es Änderungen gegeben.Zum einen handelt es sich um die Geltung des Geset-zes bei Auslandseinsätzen. Der Gesetzentwurf sah einegenerelle Nichtgeltung vor. Es mag sicherlich Situatio-nen geben, in denen das Gleichstellungsgesetz zurück-stehen muss. Aber eine Generalklausel ist meiner Mei-nung nach hier nicht angebracht. Nach den Änderungenwird das Gesetz nun auch bei AuslandsverwendungenGültigkeit haben, es sei denn, der Verteidigungsministererklärt es im Einzelfall für nicht anwendbar. Das ist einegute Lösung.
– Ja natürlich, ich kann Ihnen einige Namen nennen.Zum anderen haben wir die im Gesetzentwurf vorge-sehenen Berichtszeiträume verkürzt. Über die Überprü-fung der Quotenregelung, aber auch die Umsetzung desGesetzes überhaupt muss nicht erst nach fünf, sondernschon nach zwei Jahren berichtet werden. Ich finde, auchdas ist richtig. Denn die Bundeswehr ist nun einmal auf-grund ihrer Geschichte und Struktur ein anderer Arbeit-geber als der öffentliche Dienst. Wir im Parlament habendie Pflicht, die Entwicklung genau zu prüfen.Mein Vorschlag, dass auch die Dienstgradbezeich-nungen die Gleichstellung zum Ausdruck bringen müs-sen, wurde leider nicht umgesetzt, da diese Bezeichnun-gen vom Bundespräsidenten festgelegt werden. Auchwenn man dem Bundespräsidenten keine Vorschriftenmachen sollte, bin ich ziemlich sicher, dass Bundespräsi-dent Köhler hierfür ein offenes Ohr hat.Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass wirmit diesem Gesetz dem Gebot des Art. 3 des Grundge-setzes und seiner Ergänzung nachkommen, die geradeletzte Woche ihren zehnten Jahrestag hatte. Wir habenumgesetzt, dass der Staat auf die Gleichberechtigungvon Männern und Frauen hinwirkt und Nachteile besei-tigt. Der Umsetzung des hier formulierten Staatszielssind wir mit diesem Gleichstellungsgesetz für die Bun-deswehr ein Stück näher gekommen.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Ursula Lietz von der CDU/
CSU-Fraktion,
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herrn! Der Gesetzent-wurf zur Gleichstellung von Soldaten und Soldatinnenist zwar nicht von besonders hoher Relevanz für denHaushalt, aber für die Praxis der Bundeswehr durchausvon Bedeutung. Deswegen behandeln wir ihn heute mit.Wir waren am 21. Oktober dieses Jahres zur erstenLesung des Soldatinnen- und Soldatengleichstellungs-durchsetzungsgesetzes – das ist ein echter Zungenbre-cher – noch alle der Meinung, dass dieses Gesetz mit ei-ner möglichst breiten Mehrheit in diesem Hauseverabschiedet werden sollte, um den mittlerweile fast10 000 Soldatinnen in der Bundeswehr gleiche Chancenwie ihren männlichen Kollegen zu geben. Das sind vierJahre, nachdem Frauen generell in die Bundeswehr auf-genommen wurden, und 30 Jahre, nachdem sie bereitsim Sanitätswesen tätig sind.Die Grünen und gerade Frau Schewe-Gerigk habensich besonders dafür ausgesprochen, dass wir das ge-meinsam machen sollten. Sie haben sogar bei einigenPassagen meiner Rede damals geklatscht. Da hatte ichdas Gefühl, ich hätte etwas falsch gemacht. Aber wiedem auch sei: Vor den Beratungen und der Beschlussfas-sung im Verteidigungsausschuss sah die Sache etwas an-ders aus.Interfraktionelle Vorberatungen sollten lediglich aufder Basis des Gesetzentwurfs der Bundesregierung statt-finden. Die Anträge der CDU/CSU und der FDP wurdengar nicht erst zu den Beratungen zugelassen. Das ist einetwas fragwürdiges Demokratieverständnis, das ichnicht zum ersten Mal bei Ihnen feststelle.
Geblieben ist zum einen eine ziemlich starre Quoten-regelung, die weder von den Soldatinnen noch vom
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Ursula LietzBundeswehrverband gewünscht ist. Auch die Opposi-tionsfraktionen wünschen diese Regelung nicht.Frau Schewe-Gerigk, die Änderung der Bezeichnungder Dienstgrade wird von den Soldatinnen ausdrücklichnicht gewünscht. Unterhalten Sie sich einmal mit ihnen!Dann werden Sie feststellen, dass dem so ist. Ich habedas getan.In diesem Gesetzentwurf fehlen sinnvolle Ergänzun-gen und Beurteilungen zur besseren und klareren Diffe-renzierung nach Eignung, Leistung und Befähigung. Wirkönnten angesichts der zurzeit großen Anzahl anstehen-der Stellenbesetzungen und Beförderungen bei den Un-teroffiziersdienstposten Probleme bekommen, nämlichdann, wenn – wovon ich ausgehe – eine Vielzahl vonBewerberinnen und Bewerbern mit vergleichbarer Qua-lifikation und Beurteilung zur Auswahl steht.Ich kann nur hoffen, dass es bei Beförderungen in Zu-kunft nicht zu zahlreichen Konflikten und zu Missgunstzwischen Männern und Frauen in der Bundeswehr kom-men wird. Denn das wäre in Anbetracht der Belastungendurch Auslandseinsätze und durch die jetzt einsetzendeReform der Bundeswehr in einer Zeit von ohnehin ziem-lich angespannter Stimmung ein sehr kritischer Faktor.Zur Inneren Führung und zu den heutigen Ausschussdis-kussionen ist schon einiges gesagt worden.Erstens. Durch diese Quotenregelung wird die Akzep-tanz dieses Gesetzes in der Bundeswehr nicht erhöht.Davor habe ich gewarnt. Ich habe gesagt, dass eine starreQuotierung dort zähneknirschend zur Kenntnis genom-men werden wird; denn die Bundeswehr ist ganz einfachkein kommunales Rathaus. Es gibt Unterschiede, die ineinem solchen Gesetzentwurf berücksichtigt werdenmüssen.Deshalb ist es umso wichtiger, dass die Berichtszeit-räume für eine eventuelle Änderung der Quotenrege-lung von vier auf zwei Jahre bzw. von zehn auf fünfJahre reduziert wurden. Das war in der Tat unser Vor-schlag. Sie haben ihn übernommen; aber sonst hätten wirdiesem Gesetzentwurf auch nicht zustimmen können.Denn wir sind sicher, dass eine Überprüfung der Wirk-samkeit dieses Gesetzes in kürzeren Abständen dringendnötig ist.Zweitens. Ich finde es besonders bedauerlich, dass dieVereinbarkeit von Familie und Beruf in diesem Ge-setzentwurf so gut wie keine Rolle spielt. Wie sieht esdenn mit der Fürsorgepflicht aus, wenn Soldaten als El-tern kleiner Kinder gemeinsam in den Einsatz geschicktwerden? Zu diesem Thema findet sich kein einzigerSatz, obwohl dieses Thema die Familien bewegt. Wiralle müssen ein Interesse daran haben, dass die Bundes-wehr auch für Männer und Frauen mit Familien ein at-traktiver Arbeitgeber wird.
Bei Einsätzen der Bundeswehr im Ausland wäre derGrundsatz der Freiwilligkeit eines der beiden Familien-partner möglich. Wenn Sie der Meinung sind, dass dasnicht Thema dieses Gesetzes sein kann, werden wir dazueinen gesonderten Antrag einbringen.Drittens. Da wir wollen, dass dieses Gesetz auch beiEinsätzen im Ausland Anwendung findet, müssen ein-satzbedingte Gründe für seine Aussetzung, wenn sie not-wendig ist, sehr viel präziser formuliert sein. Der HerrWehrbeauftragte hat dankenswerterweise darauf hinge-wiesen, dass über die Aussetzung eines Gesetzes nichtvon irgendjemandem im Verteidigungsministerium ent-schieden werden kann, sondern dass darüber vom Vertei-digungsminister persönlich oder aber – hören Sie jetztgut zu – von seinem Stellvertreter im Kabinett – alsonicht von seinem Stellvertreter im Verteidigungsministe-rium; denn dort sitzt nur sein administrativer Vertreter –entschieden werden muss. Dass Verteidigungsministeriumund Verteidigungsminister nicht immer dasselbe sind, daswissen wir spätestens seit den Vorfällen im Kosovo.
Dieser Gesetzentwurf ist nicht der ganz große Wurf.Er ist Neuland für die Bundeswehr. Ich betone noch ein-mal: Der Beruf des Soldaten bzw. der Soldatin ist keinBeruf wie jeder andere. Bei denjenigen, die ihr Lebenriskieren, um unser Leben zu schützen, müssen andereMaßstäbe angelegt werden. Daher sind Regelungen desöffentlichen Dienstes nicht eins zu eins übertragbar. Wirwerden im Laufe der Zeit feststellen, dass das so ist unddass dieser Gesetzentwurf Geburtsfehler hat, die wirhoffentlich alle gemeinsam und aufgrund neuer Einsich-ten aller hier vertretenen Fraktionen ausmerzen werden.Wir stimmen dem Gesetzentwurf zu – das habe ichschon einmal gesagt – allerdings mit Bauchschmerzen.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär
Hans Georg Wagner.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Da ich schon über ein Jahrzehnt die Haushalts-beratungen sehr intensiv verfolge, wäre ich heute über-rascht gewesen, wenn Herr Austermann einen Beitraggeleistet hätte, der sachlich gewesen wäre und vonKenntnis des Haushalts gezeugt hätte.
– Jetzt zur Sache, Herr Kollege Nolting, natürlich.Da wird beklagt – Frau Merkel hat das heute Morgengetan –, der Heimatschutz und der Katastrophenschutzseien aufgrund der Transformation der Bundeswehrnicht gewährleistet.
Wenn man sich alles und auch die Broschüre, die wirIhnen allen ins Fach gelegt haben, anschaut, dann wirdman unschwer feststellen, dass gerade diese Dinge in be-sonderer Weise beachtet worden sind. Schweres Gerät
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Parl. Staatssekretär Hans Georg Wagnerwird in Lagern vorgehalten und wenn es eine Katastro-phe gibt, kann durch Reservisten oder Soldaten soforteingegriffen werden. Das ist ein Festhalten an dem, wasgewesen ist. Deshalb bin ich der Meinung, man solltedas nicht immer wieder erwähnen.Da heißt es – auch von Herrn Austermann wieder –,die Bekämpfung des Terrorismus findet nicht mehr statt.Ja glauben Sie denn, wenn irgendein Terrorist oder eineTerroristengruppe etwa die EZB in Frankfurt angreifenwürde, dass die Bundeswehr dann erst fragen würde, obsie eingreifen dürfte? Nein, die Bundeswehr wird han-deln! Die Bundeswehr würde Katastrophenschutz leis-ten, wie wir das gewohnt sind.Übrigens, Herr Kollege Schmidt: Natürlich sind wie-der gemeinsame Übungen mit dem THW und der Feuer-wehr geplant, damit eine gute Zusammenarbeit im Kata-strophenfall gewährleistet werden kann. Das ist ja dieLehre aus dem Oderbruch, wo wirklich Defizite vorhan-den waren. Gott sei Dank war die Bundeswehr vor Ortund konnte mit dem THW, dem Roten Kreuz und derFeuerwehr zusammenarbeiten.Eines begreife ich allerdings nicht in der ganzen Dis-kussion: Die Opposition weint darüber, dass die Bundes-wehr wegen der globalen Minderausgabe 248,2 Millio-nen Euro weniger bekommen soll. Natürlich ist derMinister mit dem Kabinett und der Koalition solidarischund leistet seinen Beitrag. Wir tun das auch. 248,2 Mil-lionen Euro sind sehr viel Geld, das schmerzt sehr. Aberwenn ich mir Ihre Anträge anschaue, die heute zur Ab-stimmung stehen, Herr Kollege Austermann, dann binich völlig überrascht, und das aus mehreren Gründen.Der erste Grund ist, dass Sie etwa beim neuen Hub-schrauber NH 90 50 Millionen Euro sparen wollen.
Beim Eurofighter wollen Sie 250 Millionen Euro sparen.Wenn ich das zusammenrechne, komme ich auf eine Ab-senkung des Einzelplanes 14 um 300 Millionen Euro;auch die FDP ist dieser Meinung.
Jetzt komme ich zum nächsten Punkt, Herr KollegeAustermann. Ich glaube, der Kollege Raidel hat gewusst,warum er jetzt nicht mehr da ist; denn er belagert michpermanent wegen des Hubschraubers.
– Er ist doch da. Dass er schon auf der RegierungsbankPlatz nimmt,
konnte ich nicht ahnen – ich habe doch hinten keine Au-gen, Hans, entschuldige bitte.Der Kollege Raidel erinnert mich permanent, mansollte für neue Hubschrauberentwicklungen For-schungsgelder einstellen. Wenn Sie sich den Haushalts-plan ansehen, wie er heute vorliegt, werden Sie feststel-len, dass das enthalten ist: 32 Millionen allein zugunstender Entwicklung neuer Hubschrauber!
Nur, Herr Kollege Raidel, was ich nicht begreife, ist,dass Sie einem Antrag der CDU/CSU-Arbeitsgruppe„Haushalt“ zustimmen können, der vorzieht, die Mittelfür den neuen Hubschrauber NH 90 um 50 MillionenEuro zu senken.
Das heißt, Sie greifen direkt in die Produktion diesesneuen Hubschraubers ein. Noch schlimmer ist es beimEurofighter.
Die Kollegin Aigner ist nicht da. Auch sie belagert michpermanent, wir sollten beim Eurofighter voranmachen.Jetzt schlägt sie vor, 250 Millionen Euro beim Euro-fighter zu kürzen. Da frage ich mich: Welche Auswir-kungen hat das? Und was steckt eigentlich dahinter? DieAuswirkungen, Herr Kollege Austermann, will ich Ihnennennen; denn Sie sind ja derjenige, der permanent he-rumerzählt, dass der Eurofighter nicht fliegt, am Bodensteht, nicht funktioniert.
– Das sagen Sie immer, Herr Kollege Austermann. DasErgebnis ist: Ihr konservativer Kollege, der griechischeVerteidigungsminister, hat gestern entschieden, die60 Eurofighter, die Griechenland bestellt hat, abzube-stellen.
Was Sie sagen, hat also Auswirkungen beispielsweiseauf die Produktionsstätten des Eurofighters. Das nehmenSie billigend in Kauf. Es wundert mich vor allem, dassdie CSU-Leute, dass Sie, Herr Kollege Kalb, dabei über-haupt mitmachen: bei einem solchen Antrag, der Ar-beitsplätze in Bayern gefährdet.
Ich weiß nicht, was der Herr Ministerpräsident über IhreTätigkeit hier in Berlin denkt, wenn Sie solche Dingevernachlässigen.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2004 13107
(C)
(D)
Parl
Er kommt mit einem
uralten Rechnungshofbericht bezüglich der GEBB.
Gerade in seinem Heimatland – das hat er nicht gemerkt,
weil er permanent über die GEBB in Berlin schimpfen
muss – haben die GEBB, die Stadt Schleswig und das
Land Schleswig-Holstein einen Vertrag zur Finanzierung
einer Entwicklungsmaßnahme aus den vorhandenen
Mitteln abgeschlossen.
Die Länder müssen dabei mitmachen. Es wird eine wun-
derbare Sache, die mustergültig für ganz Deutschland
ist. Seien Sie doch froh, dass das in Ihrem Heimatland
geschieht! Sie sehen, dass wir keinen Rachefeldzug ge-
gen Schleswig-Holstein oder gar gegen Sie führen. Es
tut mir Leid: Sie sind leider Gottes zu unwichtig, als dass
man einen Rachefeldzug nur gegen Sie als Person führen
würde.
Sofern die Länder und Gemeinden das wollen, arbeiten
wir konstruktiv und kreativ mit ihnen zusammen. Dabei
wird es auch bleiben. Daran wird sich in Zukunft nichts
ändern.
Sie haben freundlicherweise die Flexibilisierung an-
gesprochen.
– Einen Satz noch, Herr Kollege Koppelin. – Das hätte
uns im Einzelplan 14 die Kleinigkeit von 528 Millionen
Euro gekostet.
Das heißt, Sie fordern uns wie beim Eurofighter dazu
auf, Vertragsbruch zu begehen.
Wenn man die Dinge nicht abnimmt, die man vertraglich
mit den Partnerländern vereinbart hat, dann gibt es Scha-
densersatzklagen; das haben wir alles diskutiert. Sie
wollen wohl eine Schadensersatzklage provozieren, in-
dem Sie solche Forderungen wie beim Eurofighter auf-
stellen.
Die von Ihnen vorgeschlagene Absenkung könnten
Sie nur erreichen, wenn Sie Personal entlassen, und nicht
dadurch, dass Sie es über einen längeren Zeitraum ab-
bauen. Erklären Sie mir einmal, wie Sie bei Beamten
und bei Angestellten im öffentlichen Dienst, die nach
15 Jahren unkündbar sind, zu Entlassungen kommen
wollen! Auch hier wollen Sie uns also einen verfas-
sungswidrigen Auftrag geben. Damit das vollkommen
klar ist: Den lehnen wir ab.
Herr Kollege Wagner, ich entnehme Ihren Worten,
dass Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin zu-
lassen wollen.
H
Ja, natürlich.
Bitte schön, Herr Koppelin.
Vielen Dank. – Herr Staatssekretär, ich höre ihrer
Rede gerne zu.
H
Das habe ich gewusst.
Ja, natürlich, in alter Freundschaft zwischen uns bei-
den.
Ich möchte aber einen anderen Punkt ansprechen, der
mich ebenfalls erfreut und zu dem ich Ihre Meinung hö-
ren möchte. Können Sie verstehen, dass meine Freude
sehr groß ist, dass sich der Verteidigungsminister auf sei-
nen alten Platz als SPD-Fraktionsvorsitzender gesetzt
hat, und dass er mir dort lieber ist als der jetzige Frak-
tionsvorsitzende der SPD?
H
Das mag Ihre Ansicht sein. Ich bin froh, dass sich derMinister auf diesen Platz gesetzt hat, weil er mir vondort aus Beifall klatschen kann. Von der Regierungsbankaus könnte er das nicht; das ist der Unterschied. Diesfreut mich daran.
Es gab natürlich auch noch die Empfehlung Ihres ver-hinderten Kanzlerkandidaten.
– Ja, der aus Bayern.
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13108 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2004
(C)
(D)
Parl. Staatssekretär Hans Georg WagnerAndere Verhinderte gibt es ja erst in der Zukunft. Er hatgefordert, man müsse eine weitere Kürzung von pau-schal 5 Prozent vornehmen. Er will also um weitere1,2 Milliarden Euro kürzen. Jetzt frage ich Sie: Weshalbjammern Sie eigentlich über die Absenkung im Rahmender Plafondierung? Da Herr Stoiber noch viel mehr will,als diese Regierung tut, müssten Sie eigentlich zuerst mitihm darüber reden. Sie haben den Antrag nicht wieder-holt, weil Sie ihn wahrscheinlich nicht für wichtig genugangesehen haben. Das hat aber mit Ihrer Einschätzungdes Herrn Stoiber und nichts mit dem Haushalt zu tun.
– Einen solchen haben wir vorgelegt und ich bin auchfroh darüber, dass dies geschehen ist.
Ein weiterer Punkt, den man ansprechen muss, ist dasAnheben des Anteils der Investitionen. Meine Herrenauf der rechten Seite des Hauses, wir haben von Ihneneine katastrophale Investitionsrate im Einzelplan 14übernommen.
Im Jahre 2005 werden wir wieder bei 25,4 Prozent lie-gen. Im Jahre 2008, in der 38. Finanzplanung, werdenwir bei 29 Prozent liegen. Ich bin mir sicher, dass wir imJahre 2010, wenn Peter Struck diese Reform abgeschlos-sen haben wird, bei einem Anteil der Investitionskostenin Höhe von 30 Prozent liegen werden. Das ist unser er-klärtes Ziel und das werden wir auch gegen den von Ih-nen eben erklärten Widerstand erreichen.
Wir haben diese Steigerung gegen Ihren Widerstand vor-genommen; denn schließlich haben Sie den Verteidi-gungshaushalt in jedem Jahr abgelehnt. Sie musste alsogegen Ihren Widerstand durchgesetzt werden. Ich binfroh, dass das endlich gelungen ist.Ein abschließendes Wort noch zur Stationierung, damir die Zeit wegläuft.
Herr Kollege Austermann, das Merkwürdige ist, dass beider Bundeswehr auch eine ganze Menge Ein-Mann- bisDrei-Mann-Stützpunkte als Standorte vorgesehen ist.
Darüber jetzt eine Standortschließungsdiskussion zuführen, halte ich wirklich für abenteuerlich. Das mussman nicht tun. In der Klausurtagung des Kollegiumssind wir jeden einzelnen Standort durchgegangen. Ichkann Ihnen sagen, dass das eine mühselige Arbeit war,zumal wir alle regionalen Besonderheiten vorher von Ih-nen freundlicherweise schriftlich erhalten hatten. Dasmussten wir durch unsere Argumentation ja abwehrenkönnen. Wir sind in der Lage, zu jedem Standort eineausreichende Begründung dafür zu liefern, warum wirdie Schließung dieses Standortes vorgeschlagen haben.
Der letzte Punkt betrifft die Sicherheit der Gemein-den. Der Minister wird im März eine Konferenz der be-troffenen Bürgermeister einberufen, um mit ihnen überdiese Dinge zu reden.
– Im März wird die Feinausplanung der Schließungsab-schnitte vermutlich vorliegen. Die Konferenz wird daherim Frühjahr stattfinden. Bei dieser Konferenz geht es da-rum, wie wir die Konversion bezahlen. Wir werden dasArgument anführen, das vorhin schon genannt wordenist: 1993 haben die Länder zu Zwecken der Konversion2 Prozent Umsatzsteuerpunkte mehr bekommen. Zweider wenigen Länder, die sich an die Absprache gehaltenhaben, waren Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen.Das waren aber auch schon alle. Man hat in den anderenLändern munter und fidel versucht, mit den Einnahmendie Landeshaushalte zu konsolidieren. Das ist die Wahr-heit.
Herr Kollege Wagner, bevor Ihre Redezeit völlig ab-
gelaufen ist – eigentlich ist sie schon zu Ende –: Erlau-
ben Sie dem Herrn Kollegen Schirmbeck eine Frage?
H
Herr Präsident, ich will Sie nicht kritisieren, aber ich
habe noch 20 Sekunden Redezeit.
Nein, Sie sind 20 Sekunden über Ihrer Redezeit.
Aber ich lasse die Frage noch zu.
H
Ich auch.
Bitte schön, Herr Schirmbeck.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2004 13109
(C)
(D)
Herr Staatssekretär, es ist Aufgabe der Bundesregie-
rung, mit den Mitteln des Staates sparsam umzugehen.
Jetzt haben Sie ein Standortkonzept vorgelegt, das uns
nicht überzeugt.
Einer der betroffenen Standorte ist Fürstenau. Der
Standort soll stillgelegt werden; einige Einheiten werden
verlegt und andere ersatzlos aufgelöst. Auf dem
300 Hektar großen Bundeswehrgelände gibt es diverse
Gebäude in hervorragendem Zustand, Stichwort: Ka-
serne 2000. Dort können zum Beispiel Panzer mit Re-
genwasser gewaschen werden. Außerdem wurden noch
andere ökologische Konzepte umgesetzt.
Die Bundesregierung erklärte vor drei Wochen, dass
der Standort geschlossen werden soll. Dienstag vor einer
Woche kamen Dachdecker, um auf dem Fahrschulge-
bäude einer Einheit, die ebenfalls aufgelöst werden soll,
ein neues Aluminiumdach anzubringen.
Herr Kollege Schirmbeck, bitte kommen Sie zu Ihrer
Frage.
Weiß die eine Hand nicht, was die andere tut? Ist das
ein sparsamer Umgang mit Steuermitteln? Wie läuft das
in Ihrem Haus?
H
Die Frage, ob die rechte Hand weiß, was die linke tut,
kann ich mit Ja beantworten. Zudem muss ich sagen,
dass Aufträge, die vergeben worden sind, ausgeführt
werden müssen. Wir können es ja nicht durch das Dach
hineinregnen lassen, weil wir den Standort irgendwann
schließen. Dadurch würde das Gebäude an Wert verlie-
ren; das kann keiner wollen. Wir wollen versuchen, ei-
nen möglichst hohen Preis zu erzielen. Sie dagegen ha-
ben einen Entschließungsantrag gestellt, dass wir
möglichst alles kostenlos abgeben sollen. Wir aber wol-
len auch über die Konditionen reden können. Das ist un-
sere Überlegung.
Natürlich sind in den letzten Jahren auch für die Un-
terbringung unserer Soldatinnen und Soldaten Investitio-
nen notwendig gewesen. Wenn man eine Fürsorgepflicht
hat, dann macht man das eben so. Deshalb bitte ich um
Verständnis dafür, dass auch Standorte geschlossen wer-
den, an denen vor kurzem noch Investitionen getätigt
worden sind.
Wir haben auf der Grundlage von Vorschlägen unter
militär-funktionalen Gesichtspunkten zu entscheiden.
Zudem haben wir betriebswirtschaftliche Überlegungen
angestellt. Dadurch kamen die vorliegenden Standortent-
scheidungen zustande. Das ist auch in jedem Einzelfall
zu begründen.
Herr Präsident das war es. Vielen Dank fürs Zuhören.
Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Bernd
Siebert von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Minister Wagner, Herr FraktionsvorsitzenderStruck,
Sie waren bei der Einbringung des Haushaltes 2005 nochstolz, darauf hinweisen zu können, dass sich der Vertei-digungshaushalt auf 24,04 Milliarden Euro beläuft. Un-ser Kollege Arnold sprach sogar davon, dass in diesemJahr im Verteidigungshaushalt 200 Millionen Euro mehreingestellt worden seien. Noch viele solcher oder ähn-licher Äußerungen aus den Koalitionsfraktionen könnteich zitieren; die politische Halbwertszeit all Ihrer Aussa-gen wird dabei leider immer kürzer. Zwischen dem, wasder Verteidigungsminister zunächst vom Bundesfinanz-minister an Mitteln für seinen Haushalt haben wollte under eigentlich auch dringend braucht, und dem, was erletztendlich erhalten hat, liegen 328 Millionen Euro.Beim Finanzplan des Bundes wird bis zum Jahr 2008etwa 1 Milliarde Euro gekürzt werden. Wir wissen alle,dass eigentlich das genaue Gegenteil notwendig wäre.Diese Form der Finanzpolitik hat für die Bundeswehrschwere Folgen.
Neuvorhaben im Bereich der militärischen Beschaf-fungen können nur noch durch haushaltspolitischeTricks begonnen werden. Dies beklagen Sie sogar selbstin Ihren eigenen Unterlagen, die Sie den Koalitionsfrak-tionen zur Beratung des Einzelplans 14 zur Verfügunggestellt haben. Leider müssen wir wieder feststellen,dass nicht fachliche und sachliche Notwendigkeiten fürdie Finanzausstattung des Bundesministers der Verteidi-gung maßgeblich sind, dass vielmehr der Etat nur dieHandschrift des Bundesfinanzministers trägt, der einereine buchhalterische Sparnotwendigkeit sieht.Herr Staatssekretär Wagner, Sie haben eben die fal-sche Gruppe angegriffen. Sie müssten wegen der Spar-maßnahmen, die ich hier vorgetragen habe und die derFinanzminister verordnet hat, den Finanzminister kriti-sieren und nicht uns. Diese Kritik war vollkommen un-korrekt.
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13110 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2004
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(D)
Bernd SiebertDie Kollegin Leonhard – wir haben vorhin gehört, dasssie heute krank ist – hat am 8. September darauf hinge-wiesen, dass der Verteidigungsetat auch in diesem Jahreinen substanziellen Beitrag zur Konsolidierung desBundeshaushalts leistet. Allerdings, so Leonhard, ist derEinsparungsbeitrag an der Grenze des Tolerierbaren. Daswar eigentlich schon am 8. September der Offenba-rungseid. Aber dann kam die globale Minderausgabefür das Jahr 2005. Wir wurden mit weiteren 250 Millio-nen Euro belastet und unterschreiten damit deutlich die24-Milliarden-Euro-Grenze. Das ist eine Entwicklung,die Sie vor einem Jahr noch intensiv bestritten hätten.Aber es kommt noch dicker: Eine weitere globaleMinderausgabe von zusätzlichen 250 Millionen Euroschwebt als Damoklesschwert über dem Verteidigungs-haushalt 2005.
– Warten wir es ab.Die finanzielle Basis, auf der Ihre Reformen zur Wei-terentwicklung der Bundeswehr erstellt wurden, war dervorgelegte Haushaltsentwurf. Wie Sie, Herr MinisterStruck, diese Etatkürzung verkraften und gleichzeitigden laufenden und neuen Verpflichtungen nachkommenwollen, wissen nur die Götter. Von Ihnen habe ich hierzubislang noch nichts Konkretes gehört. Die bisher vor-handenen Mittel reichen gerade einmal für das Allernö-tigste. Wir waren uns immer einig – das glaubten wir je-denfalls –, dass es das Ziel ist, eine Investitionsquotevon 30 Prozent zu erreichen
und so die auftrags- und bedarfsgerechte Ausstattung un-serer Soldaten zu gewährleisten. Dieses Ziel wird sicher-lich nicht erreicht werden. Sie werden im Investitionsbe-reich wieder mit Kürzungen arbeiten müssen, Siewerden wieder strecken und zeitlich verschieben müs-sen.Da hilft das Wehklagen der Kollegin Leonhard in der„Welt“ vom 10. November gar nichts mehr. Ich zitiere,was dort über die Kollegin Leonhard gesagt wird:Die Einsparungen dürften auch nicht zu Lasten derInvestitionen und des Personals gehen. „Sonst istdas Ende der Fahnenstange erreicht“, sagte FrauLeonhard der WELT.Herr Minister, Sie haben das Ende der Fahnenstangeschon längst verlassen. Sie sind schon längst im Schwe-bezustand.Nun haben Sie als eine Maßnahme gegen die Finanz-not zumindest für die nächsten Jahre der Bundeswehreine neue Reform verordnet. Standorte werden geschlos-sen, es werden neue, deutlich verringerte Personalziel-vorgaben gemacht. Nur noch 75 000 Zivilbeschäftigteund nur noch 252 500 Soldaten sollen als deutscher Bei-trag für die Sicherheit Deutschlands und Europas ausrei-chen. Das, was in diesem Zusammenhang zum Heimat-schutz zu sagen ist, haben meine Vorredner schondeutlich gemacht. So schnell wie möglich, wie Sie for-mulieren, sollen 105 Standorte der Bundeswehr ge-schlossen werden. Betriebsausgaben sollen gesenkt wer-den. Aber ohne Rücksicht auf die strukturschwachenRegionen zu nehmen, ist ein außerordentlich großervolkswirtschaftlicher Schaden angerichtet worden.Nun wird das Ziel angestrebt, durch die Senkung derBetriebsausgaben nach der Schließung der 105 StandorteFinanzmittel freizubekommen. Diese stehen aber durchdie globale Minderausgabe schon längst nicht mehr zurVerfügung.Herr Minister, Sie haben mehrfach darauf hingewie-sen, dass die Standortschließungen ohne Rücksicht aufdie regionalen Gegebenheiten umgesetzt werden sollen.Mag sein, dass Sie sich nicht als Infrastrukturministerverstehen. Aber heißt das auch, dass sich die gesamteBundesregierung nicht um diese Fragen zu kümmernbraucht?
Wenn Sie nicht dafür zuständig sind, Herr MinisterStruck, dann muss es der Bundeskanzler sein. Deshalbhabe ich ihm einen entsprechenden Brief geschriebenund ihn an seine Zuständigkeit und seine Pflicht, zu hel-fen, erinnert.Herr Minister, die globale Minderausgabe bringt Ih-ren Haushalt ins Wanken. Das Reduzieren des Personalswird nicht die gewünschten Ergebnisse erzielen. Die vonIhnen geplanten Privatisierungserlöse werden sich wie inden vergangenen Jahren als Luftnummern erweisen. Dasheißt, Sie müssen sich sicherlich schon jetzt Gedankenüber die nächste Reform der Reform der Reform ma-chen. In diesem Zustand befinden wir uns schon seit ei-nigen Jahren.Ein großer Teil Ihrer Parteifreunde arbeitet bereitsheute innerparteilich daran, eine Mehrheit für die Ab-schaffung der Wehrpflicht zu organisieren, lieberJohannes Kahrs.
Diese Entwicklung werden wir – vielleicht mit deinerHilfe – nicht zulassen.
Wir halten die Wehrpflicht aus sicherheits- und gesell-schaftspolitischen Gründen für notwendig, wie wir eskürzlich in der Debatte zu diesem Thema vorgetragenhaben.Angesichts all dieser Entwicklungen in den vergange-nen sechs Jahren muss ich den Eindruck gewinnen, dassSie dabei sind, Ihre und die ideologische Zielsetzung derGrünen durch das Kaputtsparen der Bundeswehr umzu-setzen. Diese Entwicklung erfolgt parallel zu einer Ent-wicklung in umgekehrter Richtung bei den Einsätzen derBundeswehr im Ausland, die deutlich zunehmen. Wirwerden in dieser Woche noch über einen weiteren Ein-satz der Bundeswehr im Ausland zu entscheiden haben.Immer mehr Einsätze deutscher Soldaten weltweit undimmer mehr sicherheitspolitische Zusagen an die Euro-
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2004 13111
(C)
(D)
Bernd Siebertpäische Union, die NATO und die Vereinten Nationen –das steht im krassen Widerspruch zu den von Ihnen zurVerfügung gestellten finanziellen Ressourcen.
Herr Minister, uns allen ist klar, dass in den letztenJahren eine schwierige, eher krisenhafte Finanzlage ent-standen ist. Dafür tragen Sie die Verantwortung. Uns istauch klar, dass der Verteidigungsetat seinen Beitrag zurKonsolidierung der Staatsfinanzen beisteuern muss.Aber die Kürzungen müssen verantwortbar sein und esmuss wieder eine Perspektive für den Verteidigungsetatgefunden werden, die unsere Sicherheitsinteressen wi-derspiegelt. Ich fürchte, dass die Bundeswehr mit IhremZahlenwerk nicht zukunftsfähig ist, Herr Minister.Herzlichen Dank.
Als letzte Rednerin zu diesem Einzelplan hat die Kol-
legin Ulrike Merten von der SPD das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Na-
turgemäß sind Haushaltsdebatten, wenn sie gut laufen,
die Stunde der Opposition. Das ist keine Frage. Wenn
man aber aufmerksam zugehört und die Themen verfolgt
hat, die von Herrn Austermann bis zu Herrn Siebert an-
gesprochen worden sind, dann muss man sich wundern.
Die Beiträge erinnern weniger an eine realistische Haus-
haltsdiskussion als an eine Märchenstunde und den Ver-
such, das, was im Transformationsprozess durch die
Bundeswehr erfolgreich fortgesetzt werden soll, kleinzu-
reden und in Misskredit zu bringen.
Ich bin dem Kollegen Nolting außerordentlich dank-
bar dafür, dass er in seinen Ausführungen den Kollegen
Austermann darauf hingewiesen hat, dass sich das, was
wir heute Morgen im Verteidigungsausschuss nach einer
ausführlichen Information durch den Minister sehr ernst-
haft diskutiert haben, in keiner Weise dazu eignet, in die-
ser Debatte instrumentalisiert zu werden.
Ich glaube, ich muss an dieser Stelle nicht noch ein-
mal darauf hinweisen – das haben meine Vorredner be-
reits getan –, dass wir selbstverständlich mit großer Be-
sorgnis auf das schauen, was vorgefallen ist. Wir haben
allen Anlass, genau auf die Motive zu schauen, die jene
bewogen haben könnten, so zu handeln. Wir müssen
aber auch die Motive derer genau untersuchen, die ganz
offensichtlich kein Gefühl dafür hatten, dass ihnen gro-
bes Unrecht angetan worden ist. Das sind die Fragen, die
uns bewegen. Eines sollten wir nicht tun: Wir sollten
nicht die Bundeswehr generell unter einen Verdacht stel-
len.
Ich glaube, wir Verteidigungspolitiker tun gut daran, sol-
che Vorwürfe zurückzuweisen.
Frau Kollegin Merten, erlauben Sie eine Zwischen-
frage?
Nein. Ich möchte jetzt keine Zwischenfrage zulassen,sondern meine Ausführungen fortsetzen.
Ich will auf einen weiteren Punkt eingehen, der hierimmer wieder eine Rolle gespielt hat: die Wehrpflicht.Ich kann gut verstehen, dass man, wenn man die derzei-tige Diskussion in meiner Partei verfolgt – auf die wir imÜbrigen zu Recht stolz sein können, weil wir diese Fragenämlich wirklich offensiv aufnehmen und diskutieren –,den Versuch unternehmen könnte, der SPD respektiveden Verteidigungspolitikern zu unterstellen, sie seien da-bei, die Wehrpflicht infrage zu stellen. Das ist nicht so.
Wir halten die Wehrpflicht nach wie vor für die bessereund die modernere Wehrform, auch unter Berücksichti-gung all der Fragen, die in dem Zusammenhang beant-wortet werden müssen. Natürlich stellt sich die Fragenach der Wehrgerechtigkeit und nach der Ausbildung.Natürlich gehört die Frage, welchen Stellenwert Wehr-pflichtige bei Auslandseinsätzen haben, ebenso dazu wiedie Frage nach der Sinnhaftigkeit ihres Einsatzes nachihrer Ausbildung. Diese Fragen werden wir in aller Ruhein den nächsten Monaten miteinander diskutieren undbeantworten.Ich will aber an dieser Stelle all jenen, die hier jetztimmer beklagen, das Konzept der so genannten Trans-formation – davon spricht Herr Austermann immer –,lasse die Erfordernisse der Verteidigung unseres eigenenLandes völlig außer Acht, sagen: Wahr ist doch, dass dieEinsätze heute und in der Zukunft sehr wahrscheinlichEinsätze zur Krisenbewältigung und zum Konfliktma-nagement sind und sein werden. Sich daran vorbei zumogeln hieße, den Realitäten nicht ins Auge zu sehen.Auch Beiträge der Bundeswehr zum Kampf gegen deninternationalen Terrorismus gehören dazu. Auf dieseAnforderungen richten wir Struktur, Organisation undAusrüstung der Bundeswehr aus.Im Haushaltsentwurf 2005 werden die konzeptionel-len und operativen Vorgaben im Transformationsprozessder Bundeswehr klar und deutlich abgebildet. Die Zeit,
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13112 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2004
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Ulrike Mertenin der der Einzelplan 14 ein Brückenhaushalt war, istendgültig vorbei und das ist gut so.
Wir setzen Prioritäten auf der Basis des finanziell Mach-baren. Natürlich könnten wir auch ähnliche Luftnum-mern machen, wie wir sie noch aus Ihrer Regierungszeitkennen,
aber damit würden wir weder der Verteidigungs- und Si-cherheitspolitik unseres Landes noch den Soldatinnenund Soldaten dienen.Zu den aktuellen Schwerpunkten gehören eine solideAusbildung und Einsatzbefähigung unserer Streitkräfteauf hohem Niveau sowie eine gute allgemeine Ausrüs-tung. Wer in diesem Zusammenhang immer darauf hin-weist, das Material, das wir zur Verfügung stellen, sei altund verbraucht, der muss sich wirklich noch einmal einpaar Jahre zurückerinnern und an das Geraffel denken,mit dem die Bundeswehr ausgerüstet war, als Sie dieVerantwortung für diese Streitkräfte hatten.
Zu den Schwerpunkten gehören weiter zivilberuflichnutzbare Qualifikationen für unsere Frauen und Männerin den Streitkräften und eine einsatzfähige Technik.Alle im Gesamtspektrum denkbaren Waffen und Ge-räte zu beschaffen, ermöglicht dieser Haushalt nicht. Daswissen wir und das will auch ich überhaupt nicht leugnen;das hat im Übrigen niemand getan. Der vorliegendeHaushalt schließt auch nicht alle Lücken zu den Fähigkei-ten, zu denen wir uns in der NATO und in der EU ver-pflichtet haben. Aber er markiert einen wichtigen Meilen-stein zur notwendigen Modernisierung der Streitkräfte.Wir haben heute Morgen im Verteidigungsausschuss da-rüber gesprochen und werden in dieser Woche auch hierim Bundestag noch darüber sprechen.Der Haushalt ist ein wichtiger Meilenstein auf demWeg zur Modernisierung der Streitkräfte. Mit ihm kön-nen wir außerdem unsere laufenden multinationalen Ein-sätze finanzieren. Wir werden in Zukunft noch genauerdarauf achten, ob das, was wir beschließen, verantwort-bar ist. In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hin-weisen, dass Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen derOpposition, heute Morgen im Verteidigungsausschussdie Finanzierbarkeit eines denkbaren Einsatzes im Su-dan nicht infrage gestellt haben.Ich möchte noch einen anderen Punkt aufgreifen. An-gesichts der Tatsache, dass Sie zwar bei jeder Gelegen-heit über den – angeblich – drastisch unterfinanziertenVerteidigungshaushalt lamentieren, dass Sie sich abernicht scheuen, an der einen oder anderen Stelle Kürzun-gen zu fordern, frage ich mich, was Sie eigentlich wol-len. Ich möchte nicht noch einmal die Vorschläge desbayerischen Ministerpräsidenten oder von HerrnAustermann, der glaubt, dass eine Kürzung sämtlicherBundesausgaben um 3 statt um 5 Prozent ausreichendist, als Beispiele bemühen.Herr Kollege Austermann, da Sie in Ihrer Rede unserStationierungskonzept infrage gestellt haben, frage ichSie, wie das alles, was Sie fordern, zusammenpassensoll. Auf der einen Seite wollen Sie, dass die Bundes-wehr den Weg zu mehr Wirtschaftlichkeit einschlägt, umgrößere Spielräume für Investitionen zu bekommen, unddass sie als Arbeitgeber ihren Beschäftigten eine attrak-tive Besoldungsstruktur bietet. Auf der anderen Seitefordern Sie, an allen Standorten festzuhalten, und tun so,als ob die Entscheidungen im Zusammenhang mit unse-rem Stationierungskonzept nach dem Gusto von Duo-dezfürsten und nicht nach sachlichen Erwägungen ge-troffen worden wären. Dies ist einfach unseriös.
Bei aller Ernsthaftigkeit, die die Kolleginnen undKollegen der Opposition durchaus an der einen oder an-deren Stelle gezeigt haben, ist wieder deutlich geworden,dass Sie die Sicherheit unseres Landes allein über dieVerteidigungsausgaben definieren. Angesichts unsererheutigen gesellschaftlichen Probleme – das zeigt dochdie Diskussion über Hartz IV in den letzten Monaten –ist Ihr Ansatz aus meiner Sicht völlig unrealistisch. Un-ser Verständnis von Sicherheit bindet auch die Aspektevon sozialer Zufriedenheit und Wirtschaftskraft ein.Das Gesamtwohl unseres Landes ist ein tragender Pfeilerunserer Interessen und somit der Sicherheit unseres Lan-des. Deshalb ist es unrealistisch, mehr Geld für die Ver-teidigung zu fordern, wenn man weiß, dass dies zu gra-vierenden Einschnitten in anderen gesellschafts- undsozialpolitischen Bereichen führen wird.Wir gehen einen anderen Weg. Wir nutzen die tat-sächlich verfügbaren Haushaltsmittel für die Verteidi-gung zukunftsorientiert und aufgabenbezogen, und zwarfür unsere Streitkräfte und die davon abhängige wehr-technische Industrie. Es wird nur noch das beschafft,was die Bundeswehr tatsächlich braucht. In der Ausrüs-tungsplanung sind nur noch die Beschaffungsvorhaben,die auch realisiert werden. Dadurch bekommen wir mit-telfristig Gestaltungsspielraum für neue Rüstungsvorha-ben und Waffensysteme, die im Streitkräfteverbund not-wendig sind.Mit dem Haushaltsentwurf 2005 für den Einzelplan 14werden die konzeptionellen und operativen Vorgaben imTransformationsprozess klar und deutlich abgebildet.Der Einzelplan 14 ist zwar knapp bemessen, keineFrage. Er ermöglicht aber, die Bundeswehr mit dem aus-zustatten, was sie tatsächlich benötigt. Er bietet eine so-lide Basis, um die Transformation fortzusetzen, undDeutschland die Möglichkeit, weiterhin als verlässlicherPartner in der internationalen Gemeinschaft anerkanntzu werden. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2004 13113
(C)
(D)
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Dietrich Austermann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich ver-
stehe, dass man angesichts der Verteidigungspolitik, die
Rot-Grün macht, einen Baum sucht, an dem man sich
reiben kann, und immer wieder deutlich machen will,
dass Positionen vertreten werden – der Verteidigungsmi-
nister läuft schon wieder in der Gegend herum –, die mit
der Realität angeblich nichts zu tun haben.
Erstens. Ich habe den Vorgang in Coesfeld nicht als
symptomatisch für die Situation in der Bundeswehr dar-
gestellt. Ich habe mich zu diesem Thema inhaltlich über-
haupt nicht geäußert. Ich habe beklagt, dass der Verteidi-
gungsminister hier – wie bei vielen anderen Punkten –
nicht bereit und in der Lage ist, das Parlament an Ent-
scheidungen zu beteiligen und es zu informieren. Dieser
Vorfall hat sich im Sommer zugetragen und wurde vor
wenigen Tagen über die Illustrierten bekannt. Diese Me-
thode ist nicht geeignet, um das Parlament zu informie-
ren. So geht man mit dem Parlament nicht um. Das war
der einzige Vorwurf, den ich gemacht habe.
Zweitens. Es ist über die Frage gesprochen worden,
wer es mit der Bundeswehr mehr und wer es mit ihr we-
niger gut meint. Unsere Kürzungsvorschläge haben
sich zum Teil auf einen Bereich bezogen, in dem die
Leistung von der Industrie einfach nicht erbracht wird.
Es macht keinen Sinn, Geld für den Eurofighter bereit-
zustellen, wenn die Flugzeuge nicht rechtzeitig geliefert
werden. Das gilt für den NH 90 und für vieles andere.
– Man kann an dieser Stelle die Ausgaben kürzen. Wir
haben vorgeschlagen, dafür an anderer Stelle, bei For-
schung und Entwicklung, mehr Geld bereitzustellen.
Drittens. Frau Kollegin Merten, Sie haben das Statio-
nierungskonzept angesprochen. Wenn das von Herrn
Struck vorgestellte Konzept
umgesetzt wird, müssen 30 000 Soldaten umziehen. Das
ist ohne Geld nicht zu machen. Das bedeutet, dass an
vielen Standorten zusätzlich Geld investiert werden
muss, um sie erst einmal herzurichten, damit die künf-
tige Aufgabe wahrgenommen werden kann. Den Ein-
druck zu vermitteln, das Ganze trage sich von selbst und
stehe mit der Finanzplanung im Einklang, ist völliger
Unfug.
Mein letzter Punkt. Wer meint es denn nun wirklich
gut?
Unsere Vorschläge sehen Kürzungen in einer Größen-
ordnung von netto weniger als einer viertel Milliarde
Euro vor. Die jetzt vorliegende Finanzplanung unter-
scheidet sich von den Versprechungen des bisherigen,
also des 37. Finanzplans um 1 Milliarde Euro jährlich.
Das heißt, Sie nehmen der Bundeswehr jährlich 1 Milli-
arde Euro weg.
Dennoch zeigen Sie mit dem Finger auf andere und wer-
fen ihnen vor, dass sie es mit der Bundeswehr nicht gut
meinen. Dieser Versuch ist völlig in die Hose gegangen.
Zu einer weiteren Kurzintervention erteile ich das
Wort dem Kollegen Jürgen Koppelin. Frau Merten kann
im Anschluss im Zusammenhang antworten.
Herr Koppelin, bitte schön.
Herr Präsident! Die Darstellung der Kollegin Merten
über den Verteidigungsetat in der Zeit der CDU/CSU-
FDP-Koalition muss ich zurückweisen. Frau Kollegin,
ich habe den Eindruck, Ihnen fehlen die Kenntnisse. Was
Sie gesagt haben, kann ich so nicht stehen lassen.
Ich darf Sie daran erinnern – das können Sie in den
Protokollen nachlesen –, dass Ihre Fraktion, als sie in der
Opposition war, bei den Haushaltsberatungen so viele
Anträge auf Kürzung des Verteidigungsetats gestellt
hat, dass sich die Verteidigungspolitiker der SPD gewei-
gert haben, an der Abstimmung über den Verteidi-
gungsetat teilzunehmen.
Das ist die Wahrheit. Schauen Sie sich die Anträge an,
die Sie damals gestellt haben! Von den Grünen will ich
überhaupt nicht reden. Sie wollten die ganze Bundes-
wehr abschaffen.
Zur Erwiderung hat Frau Merten das Wort.
Ich will dem Kollegen Koppelin zuerst antworten.Herr Kollege Koppelin, ich kann gut verstehen, dass Sienicht an eine Situation erinnert werden möchten, die Siegerne vergessen machen wollen. Ich habe mich im Zu-sammenhang mit Ihrer ständigen Anklage, wir seiennicht in der Lage, die Bundeswehr angemessen und mitdem notwendigen Gerät auszustatten, geäußert. Ich habeSie in diesem Kontext an das erinnert, was wir in diesemZeitraum angeschafft haben, wie wir die Bundeswehrausgestattet haben und wie es zu Ihrer Zeit gewesen ist.
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Ulrike MertenHerr Kollege Austermann, ich wiederhole, was ichgesagt habe: Sie versuchen jetzt, es so darzustellen, alshabe uns der Minister im Zusammenhang mit Coesfeldnicht zeitnah und hinreichend informiert.
Dazu will ich Ihnen Folgendes sagen: Wenn das so war,dann muss ich heute Morgen in einer ganz falschen Vor-stellung gewesen sein.
Ich hatte heute Morgen den Eindruck, dass die Kollegenund Kolleginnen des Verteidigungsausschusses dasGefühl hatten, vom Verteidigungsminister angemessenund rechtzeitig – so gehört es sich und so können wir eserwarten – informiert worden zu sein.
Was den letzten Punkt, den sie angesprochen haben,angeht: Der Kollege Kahrs hat mit der ihm eigenen Aus-führlichkeit und Sachlichkeit die Zahlen genannt, um diees hier de facto geht. Er hat genau dieses Gespinst vonFantasie und Wunschdenken, was es letztlich ist, ausein-ander genommen. Da gibt es nichts hinzuzufügen. Inso-fern handelt es sich jetzt eher um eine Verlängerung derDebatte. Wir tun vielleicht gut daran, sie an dieser Stellezu beenden. Dann machen wir uns auch bei den Kolle-gen und Kolleginnen beliebt, die noch nach uns reden.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 14– Bundesministerium der Verteidigung – in der Aus-schussfassung. Hierzu liegen drei Änderungsanträge vor,über die wir zuerst abstimmen.Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion derCDU/CSU auf Drucksache 15/4344? – Gegenstimmen? –Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen vonCDU/CSU und FDP abgelehnt.Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion derCDU/CSU auf Drucksache 15/4345? – Wer stimmt da-gegen? – Wer enthält sich? – Der Änderungsantrag istmit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen dieStimmen der CDU/CSU- und der FDP-Fraktion sowieder beiden fraktionslosen Abgeordneten abgelehnt.Wer stimmt für den Änderungsantrag der Abgeord-neten Dr. Gesine Lötzsch und Petra Pau auf Druck-sache l5/4346? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen derFraktionen gegen die Stimmen der Antragstellerinnenabgelehnt.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Einzel-plan 14 in der Ausschussfassung. Wer stimmt dafür? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Einzel-plan 14 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ge-gen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP sowie derbeiden fraktionslosen Abgeordneten angenommen.Tagesordnungspunkt I.16 a: Wir kommen zur Abstim-mung über den von der Bundesregierung eingebrachtenGesetzentwurf zur Durchsetzung der Gleichstellung vonSoldatinnen und Soldaten der Bundeswehr auf Drucksa-che 15/3918. Der Verteidigungsausschuss empfiehlt un-ter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache15/4255, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassunganzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-wurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, umdas Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mitden Stimmen der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU-Fraktion gegen die Stimmen der FDP-Fraktion ange-nommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und derCDU/CSU-Fraktion gegen die Stimmen der FDP-Frak-tion angenommen.Tagesordnungspunkt I.16 b: Beschlussempfehlungdes Verteidigungsausschusses auf Drucksache 15/4255.Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschluss-empfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion derCDU/CSU auf Drucksache 15/3717 mit dem Titel „Sol-datinnen- und Soldatengleichstellungsdurchsetzungsge-setz zügig umsetzen“. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich?– Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Ko-alitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU-und FDP-Fraktion angenommen.Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung empfiehltder Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktionder CDU/CSU auf Drucksache 15/3049 mit dem Titel„Frauen und Familien in der Bundeswehr stärken undfördern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be-schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-fraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU- undFDP-Fraktion angenommen.Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 4 sei-ner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antragsder Fraktion der FDP auf Drucksache 15/3960 mit demTitel „Bundeswehr stärken – Beschäftigungsbedingun-gen für Soldatinnen und Soldaten verbessern“. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen undder CDU/CSU-Fraktion gegen die Stimmen der FDP-Fraktion angenommen.
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto SolmsIch rufe den Tagesordnungspunkt I.17 auf:Einzelplan 23Bundesministerium für wirtschaftlicheZusammenarbeit und Entwicklung– Drucksachen 15/4318, 15/4323 –Berichterstattung:Abgeordnete Brigitte Schulte
Jochen BorchertAlexander BondeJürgen KoppelinÜber den Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/4340, der sich auch auf denEinzelplan 23 bezieht, ist bereits bei Einzelplan 08 abge-stimmt worden.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner das Wort dem Kollegen Jochen Borchert von derCDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirberaten in dieser Woche in zweiter und dritter Lesungeinen Haushalt, von dem jeder weiß, dass er unsolide ist,
auf der Einnahmen- wie auf der Ausgabenseite auf un-realistischen Annahmen aufbaut und Risiken in Höhevon mehreren Milliarden Euro enthält. Meine Damenund Herren, so habe ich vor einem Jahr meine Haus-haltsrede zum Einzelplan 23 begonnen. Ich muss heuteleider feststellen, dass sich an der katastrophalen Haus-haltspolitik der Bundesregierung nichts, aber auch garnichts geändert hat.
– Dies kann ich nur unterstützen. – Die Aufnahme weite-rer Schulden und der Verkauf des letzten Tafelsilbersstellen keine strukturellen Änderungen in der Haushalts-politik dar, sondern sind ein Armutszeugnis und ein Be-leg für die Einfallslosigkeit dieser Bundesregierung.
Es kann und darf nicht sein, dass auf dem Rücken dernächsten Generationen leichtfertig Politik gemacht wird,so nach dem Motto: Heute wird die Bilanz schöngeredetund morgen müssen die Nächsten sehen, wie sie damitzurechtkommen.Meine Damen und Herren, ein entwicklungspoliti-sches Mittel ist der Erlass von Schulden, weil wir wis-sen, dass diese eine der größten Bremsen für die wirt-schaftliche Entwicklung von Ländern darstellen. DieÜberlegung, Schulden abzubauen, um wieder Freiräumefür Gestaltungsmöglichkeiten zu schaffen, ist nicht nurin Bezug auf Entwicklungsländer richtig, sondern giltauch für entwickelte Industrieländer. Unter der rot-grü-nen Bundesregierung explodieren die Schulden inDeutschland jedoch weiter.
Es ist einfach unverantwortlich, wie hier mit der Zukunftnachfolgender Generationen umgegangen wird.Ich will hier nicht alle Versäumnisse und Missständedes Gesamthaushaltes aufzeigen, aber sie haben einenerheblichen Einfluss auf den Einzelplan des Bundesmi-nisteriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-wicklung, den wir jetzt beraten. Auf den ersten Blickkönnte man den Eindruck gewinnen, dass beim Einzel-plan 23 eine Verbesserung gegenüber dem letzten Jahreingetreten ist. Bei genauerem Hinsehen werden aber dieMängel offensichtlich: Sowohl die globale Minderaus-gabe als auch die Mittelverwendung durch das Aus-wärtige Amt verringern das verfügbare Mittelvolumenfür das BMZ.
Dabei handelt es sich möglicherweise, Frau Kollegin,um immerhin knapp 160 Millionen Euro; diese Tatsachewird auch durch Zwischenrufe nicht besser.
Dies ist ja nicht gerade wenig Geld für einen so kleinenEtat. Wenn man diese Abzüge berücksichtigt, erscheintdie Erhöhung des Etats für das Jahr 2005 um 76 Millio-nen Euro in einem anderen Licht. Ich gebe gerne zu:Ohne den engagierten Einsatz der Frau Kollegin Schultebei den Beratungen der Koalition wäre die Situation imEinzelplan 23 noch dramatischer.
Frau Ministerin, Sie haben sich bei den Haushaltsbe-ratungen im Kabinett nicht durchsetzen können und inder ersten Lesung einen Haushaltsentwurf eingebracht,der exakt dem Haushalt von 2004 entsprach. Das heißt,Sie haben für 2005 keinerlei Verbesserungen erreicht.Ohne den Einsatz der Haushälter läge der Etat 2005 un-ter Berücksichtigung der globalen Minderausgaben umrund 50 Millionen Euro unter dem Soll von 2004.
– Das war aber auch die einzige Tat, die die Koalition imHaushaltsausschuss vollbracht hat. – Bei den Beratun-gen im Haushaltsausschuss hat die Koalition dann aberleider nicht die Kraft gehabt, die globale Minderausgabe
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Jochen Borchertauf einzelne Titel aufzuteilen. Dies soll nun durch dasMinisterium erfolgen.Durch die Umsetzung dieser globalen Minderausgabegerät das Verhältnis von bilateraler und multilateralerEntwicklungszusammenarbeit immer mehr in eineSchieflage zugunsten der multilateralen EZ. Daran wer-den auch die punktuellen Erhöhungen dieses Haushaltsnichts ändern. Die rein optische Erhöhung des Etats istkeine strukturelle Verbesserung, geschweige denn einHoffnungsschimmer für die entwicklungspolitische Zu-sammenarbeit. Strukturell werden in diesem Etat keineVerbesserungen vorgenommen. Erst eine Erhöhung derVerpflichtungsermächtigungen würde eine strukturelleVeränderung bedeuten und in der Entwicklungspolitik,vor allem im bilateralen Bereich, zusätzliche Gestal-tungsmöglichkeiten eröffnen.Sehr geehrte Frau Ministerin, in der Öffentlichkeitlassen Sie sich dafür loben, dass das Volumen des ent-wicklungspolitischen Haushalts um 2 Prozent gestiegenist. In Wahrheit aber lassen Sie sich diese Steigerungüber die Erwirtschaftung der globalen Minderausgabeganz oder teilweise wieder abnehmen.
Mit der Verabschiedung des Haushalts bleibt ungewiss,über wie viel Mittel Sie tatsächlich verfügen können.Diese Politik der ungeklärten Haushaltsansätze – nie-mand weiß, in welcher Größe hier noch globale Minder-ausgaben umgesetzt werden müssen – ist eine Zumutungfür die Öffentlichkeit, das Parlament, die Durchführungs-organisationen und vor allem die Entwicklungsländer.Nicht nur, dass der Etat den gestiegenen Anforderun-gen nicht angepasst wird, nein, wir verlagern unsere Mit-tel auch immer mehr in den multilateralen Bereich. Siekürzen in der bilateralen Entwicklungszusammenarbeitmit dem Hinweis, dass in der multilateralen EZ die Zah-lungsverpflichtungen vertraglich festgelegt seien. AberSie wollen dies auch gar nicht ändern; denn gleichzeitigbeschließen Sie mit dem Haushalt 2005 neue Zahlungs-verpflichtungen für die multilaterale EZ und schaffen sodie Begründung für erneute Kürzungen bei der bilatera-len Zusammenarbeit in den nächsten Jahren.
Herr Kollege Borchert, erlauben Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Hoppe?
Aber gern.
Herr Kollege Borchert, ich frage Sie, warum Sie nicht
anerkennen können, dass es einen tatsächlichen Auf-
wuchs der Mittel für den Einzelplan 23 gibt. Natürlich
schlägt die globale Minderausgabe zu Buche; aber selbst
wenn man sie abzieht, bleibt unter dem Strich ein Saldo
von 38 Millionen Euro, die zusätzlich in die Entwick-
lungszusammenarbeit fließen. Auch ich habe von der
Koalitionsseite aus in der letzten Debatte Kritik an den
zu geringen Ansätzen im Haushalt geübt, aber jetzt gibt
es einen tatsächlichen Aufwuchs um 38 Millionen Euro.
Es stünde der Opposition gut an, dies anzuerkennen.
Herr Kollege, ich würde das gern anerkennen, wenn
es zuträfe. Die globale Minderausgabe von 1,1 Milliar-
den Euro im Gesamthaushalt ist noch nicht auf die ein-
zelnen Etats verteilt. Wenn diese 1,1 Milliarden Euro
globale Minderausgabe nach dem gleichen Schlüssel
verteilt werden, nach dem die 900 Millionen Euro auf
die Einzeletats verteilt worden sind
– natürlich! –, dann ist am Ende das verfügbare Soll des
Einzelplans niedriger als im Jahre 2004. Ich weiß, dass
die Koalition die Hoffnung hat, dass der Einzelplan 23
von der Verteilung der 1,1 Milliarden Euro ausmachen-
den globalen Minderausgabe nicht betroffen wird. Ob
diese Hoffnung zutrifft, steht in den Sternen. Es muss
zumindest kritisiert werden, dass hier ein Etat vorgelegt
wird, bei dessen Verabschiedung wir nicht wissen, wie
hoch die Mittel sein werden, die dem Ministerium am
Ende wirklich zur Verfügung stehen. Da lösen sich Ihre
38 Millionen Euro wahrscheinlich in Luft auf.
Herr Kollege Borchert, erlauben Sie eine weitere
Zwischenfrage, und zwar des Kollegen Koppelin?
Aber gern.
Es droht noch eine dritte Zwischenfrage. Ich mache
nur darauf aufmerksam.
Herr Kollege Borchert, Sie sind, da wir hier über eine
Erhöhung von 38 Millionen Euro gesprochen haben, si-
cher in der Lage, das Haus darüber zu informieren, wie
das mit diesem Etat war. Können Sie berichten, vor al-
lem in Richtung der Grünen, wie das Auswärtige Amt
beim Einzelplan 23 abkassiert hat, ohne dass die für Ent-
wicklungshilfe zuständige Ministerin darauf Einfluss
nehmen konnte, sodass am Ende weniger herauskam, als
wir vorgesehen hatten?
Nach der Verabschiedung des Haushaltes für das Jahr2004 ist auf den Einzelplan 23 noch die globale Minder-ausgabe umgelegt worden. Diese Kürzung betrug 38 Mil-lionen Euro. Außerdem flossen aus diesem Einzelplannoch 80 Millionen Euro für das Auswärtige Amt ab.
In diesem Jahr droht eine weitere Kürzung aufgrundder noch offenen globalen Minderausgabe in Höhe von1,1 Milliarden Euro. Außerdem fließen 70 Millionen
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Jochen BorchertEuro an das Auswärtige Amt ab. Am Ende fällt also dieBilanz, was die verfügbaren Mittel anbelangt, für dasMinisterium insgesamt sehr negativ aus.
Herr Borchert, erlauben Sie noch eine Zwischenfrage
des Kollegen Diller?
Aber gern.
Herr Kollege Borchert, als altgedienter Haushälter
müssten Sie eigentlich wissen, wie eine unspezifizierte
globale Minderausgabe im Einzelplan 60 erwirtschaftet
wird, nämlich in ganz wesentlichen Bereichen durch
eine vorsichtige Veranschlagung von Mitteln, die dann
nicht in Anspruch genommen werden müssen, durch
Einsparungen bei Zinsen und Gewährleistungen etc. pp.
Sie wird also nicht auf die Häuser umgelegt.
Wären wir Ihren Anträgen gefolgt, in den einzelnen
Titeln Kürzungen bei Zinsen und Gewährleistungen in
Höhe von Hunderten von Millionen Euro durchzufüh-
ren, hätten wir diese Reserve überhaupt nicht mehr ge-
habt. Dann wäre der Fall eingetreten, den Sie jetzt be-
fürchten, nämlich dass die Ressorts die globale
Minderausgabe allein hätten erwirtschaften müssen.
Es zeigt sich also: Ihr Vorschlag wäre der falsche ge-
wesen. Unser Vorschlag ist der richtige.
Herr Kollege Diller, ich freue mich, dass Sie zur glo-balen Minderausgabe fragen. Ich kann mich noch an dendamaligen haushaltspolitischen Sprecher der SPD-Frak-tion erinnern,
der im Parlament immer davon gesprochen hat, es seieine unglaubliche Schwäche der Regierung und Koali-tionsfraktionen, dass sie nicht in der Lage seien, die glo-bale Minderausgabe auf Einzeltitel umzulegen. Wennwir damals mit einer globalen Minderausgabe in Höhevon 1,1 Milliarden Euro – das entspricht 2,2 Milliar-den DM – im Einzelplan 60 im Parlament angetretenwären, hätten Sie aufgeschrien, Herr Diller.
Daran möchte ich Sie heute gerne messen.Zu einer weiteren Aussage von Ihnen: Wenn ich michrecht erinnere, haben Sie auch im Vorjahr gesagt, dassdie globale Minderausgabe im Einzelplan 60 erwirt-schaftet wird.
Sie ist aber nach der Verabschiedung des Haushalts aufdie Einzelpläne umgelegt worden und hat, wie schon ge-sagt, den Einzelplan 23 in einer Größenordnung von38 Millionen getroffen.
An Ihre Aussage, dass der Betrag von 1,1 MilliardenEuro im Einzelplan 60 erwirtschaftet wird, ohne dass dieEinzelpläne betroffen sind, werde ich Sie im Laufe desVollzugs dieses Haushaltes erinnern. Ich glaube nichtdaran, dass es so sein wird, wie Sie gesagt haben.
Herr Diller, wenn Sie die globale Minderausgabe imEinzelplan 60 so locker erwirtschaften, dann wundereich mich, warum Sie nicht von vornherein die einzelnenTitel um diesen Betrag gekürzt und auf die globale Min-derausgabe verzichtet haben.
Wer in der Politik gestalten will, der muss dies zu-kunftsgerichtet tun. Im Haushalt ermöglichen die Ver-pflichtungsermächtigungen einen Blick auf die zu-künftige Gestaltung des Haushaltes. Es ist festzustellen,dass es hier keine strukturellen Veränderungen gibt: we-der richtungweisende Erhöhungen noch richtungwei-sende Kürzungen.
Ich denke, dieser Haushalt ist ein Haushalt der Ein-fallslosigkeit. Hier gibt es weder Visionen noch den Mut,die bewährte deutsche Entwicklungszusammenarbeit zustärken. Diese Einfallslosigkeit spiegelt sich in allenPositionen dieses Haushalts wider. Vorausschauend, effi-zient, nachhaltig – so sollte die entwicklungspolitischeZusammenarbeit aussehen. Die deutsche entwicklungs-politische Zusammenarbeit wird aber immer mehr zu ei-nem unbeweglichen Konstrukt ohne Visionen.Ein erschreckendes Beispiel für die mangelnde Flexi-bilität und Koordination ist das Reagieren auf die Heu-schreckenplage in Afrika. Fachleute haben frühzeitigvor der Gefahr großer Heuschreckenschwärme gewarntund ein sofortiges Eingreifen gefordert. Mit nur einemBruchteil der jetzt notwendigen Mittel hätte durch früh-zeitige Schädlingsbekämpfung das Desaster verhindertwerden können. Die Folgen dieser Naturkatastrophe sindschon jetzt schlimmer als alle Kriege in Afrika zusam-men. Ein Ende ist noch nicht in Sicht.Was noch im Herbst letzten Jahres mit wenigenMillionen hätte verhindert werden können, wird jetzt zueiner Katastrophe. Die Bekämpfung der Schädlinge zumjetzigen Zeitpunkt ist schwierig und kostenintensiv. DieFolgen der Ernteausfälle sind noch nicht abschätzbar.Auf den Hilferuf der Welternährungsorganisation habendie Geberländer viel zu spät reagiert.Die Notwendigkeit, sich an internationalen Geberge-meinschaften zu beteiligen, will ich hier nicht in Zweifelziehen. Allerdings müssen die wenigen Mittel, die unszur Verfügung stehen, sinnvoll eingesetzt werden – mit
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Jochen Borchertdem Ziel einer nachhaltigen Hilfe für die Entwicklungs-länder. Hier hätte man sehr viel früher in Afrika helfenkönnen, als es jetzt mit vielen Mitteln erforderlich ist.Entscheidend sind beim Einsatz die Wirksamkeit und dieEffizienz des Mitteleinsatzes. Dies muss bedeuten: keineweitere Kürzung der bilateralen Hilfe – weder verdecktnoch offen.Ich will noch auf die Entwicklung der ODA-Quoteeingehen. Für das Jahr 2003 liegen wir bei geschätzt0,28 Prozent. Das ist nun wahrlich kein großer Sprungnach vorn. Auch die Zahlen für 2000 und 2001 warenauf 0,28 Prozent geschätzt worden. Die offizielleOECD-Statistik weist jetzt nur noch 0,27 Prozent aus.Ihr Ziel, Frau Ministerin, bis zum Jahr 2006 eineODA-Quote von 0,33 Prozent zu erreichen, ist ange-sichts der Haushaltssituation nur noch ein Wunschtraum.Die für dieses Ziel notwendige Mittelerhöhung im Ein-zelplan 23 werden Sie im Haushalt 2006 nicht erreichen.Die dafür erforderliche Aufstockung im Haushalt 2006ist nur dann möglich, wenn noch mehr Einmaleinnah-men als 2005 eingeplant werden. Aber so viel Tafelsilbersteht der Bundesregierung für 2006 nicht mehr zur Ver-fügung. Der Verkauf von weiteren Forderungen zulastender nächsten Generation wäre in der dafür erforderlichenGrößenordnung nicht zu realisieren.Natürlich werden Sie versuchen, die ODA-Quotedurch einen steigenden Schuldenerlass auf dem derzeitimmer noch viel zu niedrigen Niveau zu stabilisieren.Mehr als eine Stabilisierung der ODA-Quote werden Sieauch über einen steigenden Schuldenerlass nicht errei-chen.Wir unterstützen die Politik des Schuldenerlasses aufder Grundlage verbindlicher Verpflichtungen der Ent-wicklungsländer, die damit gewonnenen Finanzierungs-spielräume für eine aktive Armutsbekämpfung zu nut-zen. Dies ersetzt aber nicht die derzeit rückläufigenBarmittel in der Entwicklungshilfe. So richtig und sonotwendig der jetzt vereinbarte Schuldenerlass für denIrak auch ist, Sie helfen damit nicht den Entwicklungs-ländern, da Sie die für deren Unterstützung vorgesehe-nen Mittelansätze im Haushalt kürzen oder ganz strei-chen müssen. Der Schuldenerlass kann die finanzielleFörderung der Entwicklungsländer sinnvoll unterstüt-zen. Er darf aber nicht an die Stelle einer dringend not-wendigen Finanzierung von gemeinsamen Projekten tre-ten.Frau Ministerin, 1999 haben Sie vollmundig erklärt– ich zitiere –:Mit dem jetzt vorgelegten Bundeshaushalt habenwir den Abwärtstrend des Entwicklungshaushaltesgestoppt und die Grundlage für eine Aufwärtsent-wicklung geschaffen.Was ist aus der angekündigten Trendwende in derEntwicklungspolitik geworden? Bis heute ist keineTrendwende erkennbar. Das machen die folgenden Zah-len deutlich: 1998, im letzten Jahr der Bundesregierungunter Helmut Kohl, wurden für die Entwicklungspolitiknoch 4,05 Milliarden Euro ausgegeben. Im Jahr 2005sollen es nur noch 3,86 Milliarden Euro sein. Davonkönnen Sie die globale Minderausgabe und die 70 Millio-nen Euro abziehen, die an das Auswärtige Amt gehen.Sie liegen dann voraussichtlich nur noch bei knapp3,7 Milliarden Euro und werden somit 350 MillionenEuro weniger zur Verfügung haben als 1998.
Dies ist die Trendwende. Auch für Sie, Frau Ministe-rin, gilt: Nicht an Ihren Reden, sondern an Ihren Taten,an der Entwicklung des Haushalts werden Sie gemessen.Das Ergebnis ist für Sie niederschmetternd.
Aber nicht nur in absoluten Zahlen schrumpft derHaushalt seit sieben Jahren; auch der Anteil amGesamthaushalt ist weiter rückläufig. Diese rot-grüneKoalition stellt Jahr für Jahr einen immer geringeren An-teil am Bundeshaushalt für die Entwicklungsländer be-reit. Die Entwicklungspolitiker, die Durchführungsorga-nisationen und die Entwicklungsländer träumen dochheute von der Bedeutung und der Mittelausstattung, dieder Einzelplan 23 noch 1998 hatte.
– Aber natürlich, Brigitte! Damals betrug der Anteil amGesamthaushalt 1,7 Prozent; heute sind es noch 1,46 Pro-zent. Bei einem Anteil von 1,7 Prozent des Einzelplans 23am Gesamthaushalt stünden heute 623 Millionen Euromehr zur Verfügung, als heute tatsächlich in den Haus-halt eingestellt sind.
Trotz schöner Reden, vor allem auf internationalenKonferenzen: Die Entwicklungshilfe verliert in dieserKoalition, in dieser Bundesregierung immer mehr an Be-deutung. Die Entwicklungshilfe wird zur Manövrier-masse einer gescheiterten Haushaltspolitik. Dieser Haus-halt ist ein Dokument der gescheiterten rot-grünenFinanzpolitik und Entwicklungspolitik. Deshalb lehnenwir diesen Haushalt ab.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun die Kollegin Brigitte Schulte, SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Meine Damen und Herren! Lieber Herr KollegeBorchert, ich bezweifle nicht, dass wir uns in einer Zeitmit schwierigen Haushaltsfragen befinden. Ich stelle mirmanchmal vor, Sie wären an unserer Stelle.
Ich bin ziemlich überzeugt, dass die Bilanz kaum besserausfallen würde als die, die wir nun mit einer großen
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Kraftanstrengung erreicht haben. Eines können Sie lei-der nicht leugnen: Der Entwicklungsetat stellt trotzschwieriger Haushaltslage einen Lichtblick dar.
Darauf sind wir stolz.Es ist den Koalitionspartnern gelungen – das habenSie freundlicherweise gesagt –, die personellen und fi-nanziellen Ressourcen für 2005 zu verbessern. Ich freuemich sehr, dass ich mit dem Kollegen Bonde und mit denKollegen im Fachausschuss – ich schaue dabei FrauKortmann und Herrn Hoppe an – ganz leidenschaftlicheMitkämpfer hatte.
Ich gebe zu, dass wir für die Erreichung dieses Zielsgebissen und gekratzt haben. Denn, Herr Borchert, ichstimme Ihnen zu: Wir sind verpflichtet, die wachsendeninternationalen Aufgaben zu bewältigen. Sie waren es– es ist interessant, dass Sie das heute vergessen haben –,die am 29. Januar 2003 im Haushaltsausschuss den Vor-schlag gemacht haben, den Bundesrechnungshof zu be-auftragen, zu prüfen, wie die Ressortabstimmung in denArbeitsbereichen mit entwicklungspolitischen Bezügenerfolgt. Wir haben ihn dann zweimal mahnen müssen;aber am 28. August 2004 – man höre und staune –, nachanderthalb Jahren, bestätigte er tatsächlich in einem um-fangreichen Gutachten, dass die Abstimmung unter die-ser Regierung weitgehend reibungslos verläuft. Nachseinen Recherchen – die Untersuchung bezog sich aufdas Jahr 2002 – entfielen von den im Bundeshaushaltveranschlagten 4,7 Milliarden Euro, die auf die ODA-Quote angerechnet werden – Sie wissen genau, dass sienicht nur den jeweiligen Etatansatz umfasst –, 78 Pro-zent auf das Bundesministerium für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung, 18 Prozent auf das Aus-wärtige Amt und 3 Prozent auf Beitragsleistungenanderer Ressorts, unter anderem des Finanzministe-riums. Lediglich 1 Prozent betraf Vorhaben anderer Res-sorts für die bilaterale Zusammenarbeit. Das ist ein gutesErgebnis.Wir unterstützen deshalb die Empfehlung des Bun-desrechnungshofes, die Länderprogrammplanungen derverschiedenen Ressorts unter der Federführung desBMZ zu bündeln, ohne – das sage ich ausdrücklich – dieKompetenzen des Auswärtigen Amtes zu missachten.Wir waren mit dem Rechnungshof der Meinung, dassdas BMZ – übrigens auch der Fachausschuss – in allenfür die entwicklungspolitische Zusammenarbeit bedeut-samen Bereichen Zugang zur Berichterstattung der Aus-landsvertretungen erhalten soll. Um dies zu fördern, ha-ben wir – auch das haben Sie freundschaftlichverschwiegen – dem BMZ mit diesem Haushalt Mittelfür zusätzliches Personal beschafft, damit mehr Mitar-beiter des BMZ in den Auslandsvertretungen eingesetztwerden können.Ich bezweifle überhaupt nicht, dass wir im Parlamentüber Jahrzehnte hinweg und egal, wer gerade regiert hat– ob nun die SPD mit der FDP, ob die SPD mit der CDU,ob Sie ohne uns oder wir jetzt mit den Grünen –, einenguten Stil der wirtschaftlichen Entwicklung entwickelthaben, und zwar auch dank der Haushälter; das muss ichhier ausdrücklich sagen. Dies ist möglich, weil wir Mar-kenzeichen haben, die andere nicht besitzen: Das ist dievom Haushaltsausschuss initiierte und durchgesetzte Ge-sellschaft für Technische Zusammenarbeit. Die habennicht viele.
Das ist die Arbeit, auch darauf sollten wir gemeinsamstolz sein, der politischen Stiftungen – auch diese habennicht viele –, die helfen, Pluralität in den Entwicklungs-ländern zu schaffen. Und das ist die Kreditanstalt fürWiederaufbau, die man hierbei nicht vergessen darf. Dassind Markenzeichen deutscher Entwicklungspolitik.Zur Bewältigung internationaler Krisen und bei derBekämpfung globaler Seuchen – Sie haben völlig zuRecht auf die katastrophale Situation in Afrika hinge-wiesen; die Heuschreckenplage ist ja inzwischen inÄgypten angekommen – müssen die Länder besser mul-tilateral zusammenarbeiten. Deswegen, Frau Ministerin,sind wir als Haushälter so skeptisch, was die globale undmultilaterale Arbeit betrifft.Ich habe das Gefühl – das hatte ich auch schon früherin meiner anderen Funktion –, dass alle im Grunde allesmachen wollen. Die Gefahr besteht, dass es nicht genü-gend koordiniert wird. Sie haben sich auf unserenWunsch hin intensiv dafür eingesetzt. Dennoch bleibeich dabei: Wenn man auf den Balkan, Afghanistan oderPalästina blickt, dann sieht man, dass zu viele internatio-nale Regierungs- und Nichtregierungsorganisationendort arbeiten. Es kommt zu einem Nebeneinander undGegeneinander mit unterschiedlichen Kompetenzen. Da-her möchte ich, dass wir unsere sehr guten Instrumentestärker und engagierter einbringen: GTZ, KfW, politi-sche Stiftungen, unsere Kirchen und all die anderendeutschen Entwicklungsorganisationen, die ein großesExpertenwissen haben, engagiert sind und die wir kurz-und längerfristig einsetzen können.Herr Borchert, Sie hätten ruhig auch das sagen können:Bei der internationalen Evaluierung durch die Weltbank indiesem Jahr haben die GTZ und die KfW bewiesen, dasssie in den Bereichen strategische Ausrichtungen, Mitar-beiterqualifikation, Ergebnisverantwortung, Wissensma-nagement und Einsatz angemessener Instrumente an derSpitze liegen. Herzlichen Glückwunsch. Auch das ist einErfolg von uns und der Regierung.
Ich finde, Frau Ministerin, auch das sollte man sagen.Organisationen von dieser Qualität haben nicht viele.Die beiden Koalitionsparteien haben – das haben Sieauch verschwiegen, weil es Ihnen nicht passt – die An-sätze für die technische und die finanzielle Zusammenar-beit ganz erheblich angehoben. Wir werden kratzen, bei-ßen und alles tun, was wir können, wenn es um dieAuflösung der globalen Minderausgabe geht, damitdieses Ressort zum Schluss angegangen wird. Dabei
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Brigitte Schulte
rechne ich mit Ihrer tatkräftigen und kompetenten Hilfe,auch beim Kratzen und Beißen.Wir erwarten natürlich als Gegenleistung, Frau Mi-nisterin, dass Ihre Mitarbeiter, die ich sehr schätze, sichin den internationalen Institutionen, wie der Weltbank,der UNO und dem Europäischen Entwicklungsfonds,dafür einsetzen, dass diese Organisationen, die ich ge-rade gelobt habe, stärker zum Einsatz kommen. Wo un-ser Geld drin ist, Herr Koppelin, wollen wir es auchdurch deutsche Experten ganz wesentlich verwendet se-hen.Wir als Haushaltsausschuss werden keine Aufsto-ckung internationaler Finanzraten mehr mitmachen,wenn wir nicht stärker an der Umsetzung beteiligt sindund wir nicht früher gefragt werden. Herr Diller – Siesitzen jetzt in einer anderen Funktion hier –, wir schät-zen es nicht, dass wir erst in der Beratung feststellen,dass wieder etwas erhöht wird. Wir möchten früher in-formiert werden. Das ist Ihre Aufgabe als Bundesfinanz-ministerium.
Ich könnte Ihnen noch viel erzählen, aber das tue ichnicht. Ich will nur noch auf ein Land hinweisen, in demdie Hilfe ganz besonders erfolgreich war, dem wir aberdennoch weiter helfen sollten. China ist das Land, wel-ches in den letzten zwei Jahrzehnten die Armutsbekämp-fung erfolgreicher als alle anderen Staaten betrieben hat,und zwar aus eigener Kraft und mit unserer Hilfe.Ich möchte Sie auf Folgendes hinweisen: Dieses Landhat 1 292 Millionen Einwohner. Davon sind 1 000 Mil-lionen Einwohner älter als 16 Jahre. Man geht davonaus, dass die arbeitsfähige Bevölkerung 700 MillionenMenschen umfasst. Zum Vergleich: Europa hat insge-samt nur 772 Millionen Einwohner. Der starke Struktur-wandel wird bewirken, dass noch mehr Menschen ihreArbeitsplätze verlieren. Wenn also jemand sagt, dassChina unsere Hilfe nicht braucht, dann möge er im Hin-terkopf haben, was amerikanische Experten errechnethaben: Schon heute sind dort 175 Millionen Menschenim arbeitsfähigen Alter von verdeckter Arbeitslosigkeitbetroffen.
Das ist plump!
Wir ergreifen also jede Chance – auch deswegen habenwir diese Mittel aufgestockt –, um junge chinesischeWissenschaftler auszubilden.
Liebe Frau Ministerin, abschließend sage ich Ihnen:Wir sind mit Ihrer Arbeit einverstanden.
Wir kämpfen mit Ihnen und danken Ihren Mitarbeiterin-nen und Mitarbeitern; denn Ihr Haus ist kompetent. Ichbitte auch die Opposition um Zustimmung zu diesemHaushalt.
Das Wort hat der Kollege Markus Löning, FDP-Frak-
tion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Da dieODA-Quote vom Kollegen Bordiert angesprochenwurde, bitte ich die Ministerin, die ja nachher redet, unseinmal kurz darzustellen, wie sie ihre internationalenZusagen im nächsten Jahr einhalten will. Wir müsstenden Etat in einer Größenordnung von mehreren HundertMillionen Euro aufstocken,
um das einzuhalten, was Sie international zugesagt ha-ben.Ich hätte von Ihnen gerne Antworten auf zwei Fragen:Wie wollen Sie das im nächsten Jahr schaffen? Undwenn Sie es schaffen, wie lässt sich die Tatsache, dass indiesem Bereich Geld ausgegeben wird, das letztendlichunsere Kinder zurückzahlen müssen – schließlich hatdiese Bundesregierung bereits jetzt eine Rekordver-schuldung zu vertreten –, mit Ihren Zielen von Nachhal-tigkeit und Generationengerechtigkeit vereinbaren? Mei-nes Erachtens sollten Sie versuchen, einen neuen Weg zugehen: Wir müssen bei der Entwicklungshilfe stärker aufEffizienz achten und uns von dem fixen Ziel einer be-stimmten Ausgabenhöhe lösen. Wir brauchen Effizienzund den gezielten Einsatz der Mittel.
Das ist das Wesentliche; Sie hängen Schimären an.
– Das sehe ich nicht. Auch Sie, Frau Schulte, habendiese Position gerade wieder vertreten.Es ist – das ist nicht polemisch gemeint –, wirklichwichtig, dass wir uns ernsthaft mit dieser Frage ausei-nander setzen; denn die Finanzsituation des Bundes –das betrifft die Länder genauso – ist mehr als ernst. Ichfinde, die Ernsthaftigkeit der Situation spiegelt sich inden Debatten, die ich heute und gestern hier verfolgthabe, nicht wider.
Ich würde mir das allerdings wünschen, auch in dieserDebatte, einer Fachdebatte, in der wir als Entwicklungs-politiker natürlich immer dafür eintreten, dass für unserRessort Geld bereitgestellt wird. Dennoch müssen wirdie Gesamtsituation im Auge behalten.
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Markus LöningLassen Sie mich noch auf ein paar andere Punkte zusprechen kommen. Frau Ministerin, ich habe Ihnen vondieser Stelle aus schon oft vorgeworfen, Ihre PR sei bes-ser als Ihre Politik. Im Moment zweifle ich daran jedochein bisschen. Im Rahmen der Diskussion über Anker-und Schwellenländer, die Sie in den letzten Wochen los-getreten haben, haben Sie vieles gesagt, was richtig ist,und mir aus dem Herzen gesprochen. Sie haben mancheZiele, die Sie früher vertreten haben – zum Beispiel dieArmutsbekämpfung in bestimmten Schwellenländern –,zu Recht infrage gestellt.Sie, Frau Schulte, haben gerade wieder die Situationin China angesprochen. Ich glaube allerdings, dass ichSie falsch verstanden habe. Denn ich habe Sie so ver-standen, dass chinesische Wissenschaftler wegen derProblematik der Arbeitslosigkeit in China nach Deutsch-land kommen sollten.
Ich bin sehr dafür, die Mittel, die wir in China für Pro-gramme zur Armutsbekämpfung zur Verfügung stellen– was aus meiner Sicht falsch ist –, in Programme zumWissenschaftsaustausch umzuwidmen.
Das ist ein richtiger und unterstützenswerter Weg, denwir gehen sollten. Aber wir müssen uns auch darüberklar sein, dass die Chinesen, Inder und viele andere in-zwischen in der Lage sind, diese Leistungen aus eigenerKraft zu erbringen. Wir müssen an ihre Verantwortungappellieren und ihnen sagen: Das ist eure Verantwor-tung. Denn es kann nicht in unserer Verantwortung lie-gen, in Ländern, die Wachstumsraten von 7, 8 oder10 Prozent aufweisen und die Armut durch Wirtschafts-wachstum erfolgreich bekämpft haben, Sozialpro-gramme zur Armutsbekämpfung aufzulegen.
– Bitte.
Eine Zwischenfrage wird offensichtlich zugestanden.
Bitte.
Sie haben mich wahrscheinlich missverstanden. Sie
werden doch sicherlich nicht dafür sein, unsere Entwick-
lungszusammenarbeit in einem Land einzustellen, wel-
ches jetzt Gott sei Dank unsere technische und finanzi-
elle Hilfe erhalten hat, das aber mehr als 700 Millionen
Arbeitskräfte hat, von denen durch den Strukturwandel
möglicherweise – nach Berechnungen amerikanischer
Experten – 175 Millionen verdeckt arbeitslos sind. Ich
bin der Meinung, dass wir es weiter unterstützen und für
die Ausbildung der jungen Akademiker mehr tun müs-
sen. Deswegen haben wir die Mittel für den Deutschen
Akademischen Austauschdienst und die Alexänder-von-
Humboldt-Stiftung erhöht. Darin können Sie uns doch
sicherlich folgen, oder?
Frau Kollegin, ich unterstütze ausdrücklich die beiden
Institutionen, die Sie genannt haben. Auch wir halten sie
für außerordentlich wertvolle Institutionen und sind der
Meinung, dass sie mit mehr Geld ausgestattet werden
sollten; das ist gar keine Frage. Aber ich sage Ihnen auch
ganz klar: Ein Land wie China – mit dieser Wachstums-
rate und dem vorhandenen Know-how – braucht von uns
keinen Rat, wie es seine Arbeitslosigkeit und seine Ar-
mut bekämpfen soll.
Ich hielte uns für überheblich, wenn wir einem Land,
das erfolgreich einen extrem schwierigen Strukturwan-
del durchgeführt hat, sagten: Wir können euch lehren,
wie es richtig geht. Da müssen wir uns an unsere eigene
Nase fassen und sagen: Wir müssen die Zusammenarbeit
mit China, mit Indien und auch mit anderen Ländern auf
andere Füße stellen: wir müssen mit diesen Ländern auf
gleiche Augenhöhe kommen. Wir brauchen Zusammen-
arbeit in der Wirtschaft, in der Wissenschaft, in der Kul-
tur, an vielen Stellen. Aber sich hinzustellen und zu sa-
gen: „Wir erklären euch, wie die Welt funktioniert und
wie ihr die Arbeitslosigkeit bekämpfen könnt!“, das
steht uns bei diesen Ländern einfach nicht zu.
Lassen Sie mich noch ein paar Worte zu dem von der
Frau Ministerin angesprochenen Konzept von Anker-
und Schwellenländern sagen.
– Gleich lasse ich Ihre Frage gerne zu. Zuvor möchte ich
aber noch ein Beispiel bringen, welches vielleicht meine
Position erläutert, Frau Schulte: Unsere Entwicklungs-
zusammenarbeit erstreckt sich nach wie vor auch auf
Mexiko. Es geht dabei im Wesentlichen um regenerative
Energie und Ähnliches. Mexiko bekommt von uns Mit-
tel in der Größenordnung von 2 Millionen Euro pro Jahr
– das ist nicht viel –, hat durch den gestiegenen Ölpreis
in diesem Jahr aber Mehreinnahmen in der Höhe von
1 Milliarde Euro zu verzeichnen. Ich frage mich, ob es
richtig ist, einen solchen Know-how-Transfer zu finan-
zieren. Ich bin nicht dagegen, diesen Bereich zu unter-
stützen, aber ich frage mich, ob wir das in einem solchen
Fall finanzieren müssen. Ist das richtig und können wir
das wirklich vertreten? Ich bin sehr dafür, Know-how
weiterzugeben, aber ich bin auch dafür, gegebenenfalls
eine Rechnung mitzuschicken. Im Übrigen zeigen alle
Evaluierungen, dass die Programme umso besser funk-
tionieren, je mehr sich die Länder an der Finanzierung
beteiligen. Wir sollten deshalb vor dieser Diskussion
nicht zurückscheuen.
Herr Kollege, gestatten Sie jetzt die Zwischenfrage?
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Bitte.
Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, dass in Indien, das
Sie gerne als ein starkes Land anführen, mehr Kinder
hungern und in Armut leben als in ganz Afrika? Und ist
Ihnen – vielleicht aus dem Mathematikunterricht, wenn
ich das so sagen darf – bekannt, dass Wachstumsraten,
kein geeigneter Indikator für Wohlstand sind? Denn
wenn man von einem ganz niedrigen Niveau ausgeht,
bedeuten selbst Wachstumsraten von mehr als 10 Pro-
zent nicht, dass alle in Reichtum und Jubel ergehen. Bei
der Armut, die in Indien herrscht, kann man nun wirklich
nicht davon reden, die Entwicklungszusammenarbeit
einzustellen.
Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, dass sowohl die Kre-
ditanstalt für Wiederaufbau als auch das BMZ-eigene
Deutsche Institut für Entwicklungsforschung sagen, dass
die Armutsbekämpfungsprogramme, die dort in den letz-
ten Jahren durchgeführt worden sind, mitnichten zur Ar-
mutsminderung beigetragen haben, dass unser Geld dort
verschwendet worden ist und dass einzig und allein das
Wirtschaftswachstum, das der jetzige Premierminister,
1991 als Finanzminister, durch seine Wirtschaftsrefor-
men angestoßen hatte, zu einer wirklichen Armutsmin-
derung, und zwar in erheblichem Umfang, geführt hat?
Natürlich ist Indien ein riesiges Land mit einer großen
Bevölkerung. Die Inder haben es geschafft, die Zahl der
absolut Armen innerhalb von 25 Jahren von über 60 Pro-
zent auf jetzt 25 Prozent der Bevölkerung zu senken.
Das ist eine riesige Leistung. Wenn unsere Forschungs-
institute sagen, dass unsere Armutsbekämpfungspro-
gramme nichts dazu beigetragen haben, dann müssen
wir diese Armutsbekämpfungsprogramme aus meiner
Sicht infrage stellen. Darum geht es,
– Doch, aus meiner Sicht schließt das eine das andere
aus, weil es darum geht, ob wir es der indischen Elite zu-
trauen, dass sie das selber kann. Aus meiner Sicht kann
sie das; die Erfahrung hat es gezeigt.
Sie verfügt über das nötige Know-how, über die nötigen
Ressourcen und auch über die nötigen Instrumente. Es
gibt viele indische NGOs, die in diesem Bereich sehr er-
folgreich tätig sind. Ich bin dafür, dass wir bei den
Schwellenländern die klassische Entwicklungshilfe aus-
laufen lassen. Wir sollten uns nicht so schwer damit tun
und wir sollten das auf neue Füße stellen, nämlich auf
eine vernünftige Zusammenarbeit im Bereich Wirt-
schaft, im Bereich Wissenschaft und in der Kultur.
Frau Ministerin, in den verbleibenden 15 Sekunden
möchte ich noch einen Punkt ansprechen, zu dem ich
gerne etwas von Ihnen hören würde, zumal Frau Schulte
unsere Entwicklungshilfeorganisationen – im Wesent-
lichen waren die staatlichen gemeint –
über die Maßen gelobt hat. Ich schließe mich ihrem Lob
an. All diese Organisationen machen eine sehr gute Ar-
beit.
Ich habe in diesem Zusammenhang zwei Fragen.
Wenn ich im Ausland bin, höre ich erstens immer die
Frage: Wer spricht hier für die Deutschen? Es gibt keine
BMZ-Außenvertretung, weil man mit dem AA nicht
richtig klarkommt. Verschiedene Organisationen ver-
sprechen etwas und tun so, als seien sie die Deutschen.
Ist es nicht an der Zeit, eine richtige Reform der staatli-
chen Durchführungsorganisationen anzupacken und
deutlich zu machen, dass sie alle zusammengehören, so-
dass sie auch alle zusammengefasst werden? Was kön-
nen wir hier reformieren?
Die zweite Frage lautet: Was ist eigentlich mit der
GTZ?
Beide Fragen müssen nun aber von den folgenden
Rednern beantwortet werden.
Ich komme sofort zum Schluss, Herr Präsident. – Die
GTZ agiert als Vertreterin der Bundesregierung, als pri-
vate Auftragnehmerin und als staatliche Durchführungs-
organisation. Das ist ein Mischmasch, der aus meiner
Sicht nicht länger hingenommen werden kann. Mich
würde interessieren, wie Sie diesen Mischmasch auflö-
sen wollen. Vielen Dank.
Nächster Redner ist für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen der Kollege Alexander Bonde,
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Nach dem Beitrag des Kollegen Löning verstehe ichjetzt zumindest, aus welcher Geisteshaltung heraus IhreFraktion im Haushaltsausschuss eine Absenkung von129,8 Millionen Euro in diesem Einzelplan beantragthat. Insofern hatte diese Debatte zumindest einen erhel-lenden Punkt.Insgesamt will ich sagen, dass ich den Einzelplan 23in diesem Jahr für außerordentlich gut gelungen halte.Ich glaube, den roten und den grünen Haushälterinnenund Haushältern ist es hier gemeinsam gelungen, einenwichtigen Schwerpunkt zu setzen.
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Alexander Bonde
In einer Zeit, in der es schwierig ist, den Haushalt anbestimmten Stellen mit zusätzlichen Mitteln auszustatten– das wissen Sie alle –, erhöhen wir die Mittel in diesemEinzelplan um die genannten 2 Prozent. Das ist ein Auf-wuchs von 75,66 Millionen Euro. Insofern finde ich esschade, dass Sie in der Opposition es nicht einmal andieser Stelle schaffen, diese Leistung anzuerkennen, undim Gegenteil sogar versuchen, diesen Erfolg mitTaschenspielertricks wieder wegzurechnen.Wir haben im Haushaltsverfahren eine deutliche Auf-stockung der Mittel für die Hilfe für die ärmsten Län-der der Welt erreicht, und zwar nicht nur beim Ministe-rium, über das wir jetzt diskutieren, sondern auch beimAuswärtigen Amt und beim Ministerium für Verbrau-cherschutz, Ernährung und Landwirtschaft, wo ebenfallsMittel angesiedelt wurden, die ODA-relevant sind. Inso-fern verstehe ich diese schräge Diskussion hier nicht, dienach dem Motto geführt wird: Mittel beim AuswärtigenAmt tragen nichts zu dem bei, über das wir hier diskutie-ren. Ich finde es richtig, dass sowohl das AuswärtigeAmt als auch das Ministerium für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung hier in unterschiedli-chen Feldern gemeinsam tätig sind. Jeder Euro, der indiesem gesamten Bereich investiert wird, ist ein gut in-vestierter Euro.
Wir Haushaltspolitiker haben diese Schwerpunktset-zung bewusst getroffen, weil wir gerade in Zeiten derGlobalisierung immer weniger in nationalen Kategoriendenken dürfen und uns gerade auch um die Problemekümmern müssen, die es in anderen Gegenden dieserWelt gibt. Wenn wir uns nämlich nicht darum kümmern,dann kommen diese Probleme zu uns.Mit unserer Schwerpunktsetzung senden wir zweideutliche Signale: Erstens. Wir haben in diesem Haus-halt die ODA-Quote erhöht Damit machen wir klar, dasswir es mit den Zielen, die wir uns gesetzt haben, ernstmeinen. Ich gestehe Ihnen zu, dass das noch nicht dieSummen sind, die wir in diesem Bereich gerne sehenwollen. Aber es sind entscheidende erste Schritte. Ichfinde, auch das muss man an dieser Stelle deutlich fest-halten,
Zweitens. Wir senden auch ein sicherheitspolitischesSignal, weil wir wissen, dass jeder Cent, den wir in Ent-wicklungspolitik investieren, zur Bekämpfung von Ar-mut verwendet wird und terroristische Bedrohungen mi-nimiert. Auch hier stellt sich wieder die Frage derressortübergreifenden Zusammenarbeit. Der Ansatzdieser Regierung, dass Auswärtiges Amt, Verteidigungs-ministerium und BMZ Hand in Hand arbeiten, ist genaurichtig.Weil der Kollege Borchert viel zur globalen Minder-ausgabe gesagt hat, möchte auch ich noch einige Wortedazu verlieren. Es ist richtig: Im Gesamthaushalt musseine globale Minderausgabe von 2 Milliarden Euro er-wirtschaftet werden. Auf die Ressorts entfallen, anteiligverteilt, l Milliarde Euro. Das entspricht bei dem gängi-gen Schlüssel des BMZ einer GMA von 38,897 Millio-nen Euro. So weit ist das richtig.Nun haben der eine oder andere Kollege der CDU/CSU in dieser Debatte wie auch in Pressemitteilungenbezüglich der GMA bewusst Ängste geschürt undFa
Die zweite Milliarde wird nicht auf die Einzel-
pläne verteilt, sondern anderweitig erwirtschaftet, Stich-
wort Bodensatz, Herr Borchert, Sie grinsen. Sie wissen
natürlich, dass Sie mit Ihren Anträgen versucht haben,
genau diesen Bodensatz für Ihre Einsparliste vorwegzu-
nehmen. Insofern ist das ein Taschenspielertrick. Aber
beunruhigen Sie an dieser Stelle nicht die Verwendungs-
empfänger. Wer behauptet, die rot-grünen Aufstockun-
gen seien ein Nullsummenspiel, täuscht über das Haus-
haltsverfahren oder streut bewusst Falschinformationen.
Rot-Grün hat gemeinsam die Ansätze des BMZ so an-
gehoben, dass es die globale Minderausgabe erwirt-
schaften kann und zusätzlich Mittel zur Erhöhung der
ODA-Quote zur Verfügung stehen, somit die Zuwen-
dungsempfänger keine Angst vor der globalen Minder-
ausgabe haben müssen. Um es Ihnen in Zahlen vorzu-
rechnen: Rot-Grün hat den Ansatz um 76 Millionen Euro
erhöht. Davon sind für die GMA 38 Millionen Euro ab-
zuziehen. Es bleibt ein Plus von 38 Millionen Euro. Sie
können noch so viel rechnen: Wenn Sie bei Adam Riese
bleiben, verbleibt für den Einzelplan mindestens ein Plus
von 38 Millionen Euro.
Ich bedauere sehr, dass der Kollege Weiß von der
CDU in dieser Debatte nicht reden darf. Er hat im Sep-
tember sehr wortreich große Anforderungen an den Ein-
zelplan gestellt. Es hätte mich schon interessiert, wie er
erklärt hätte, dass seine Fraktion in den Haushaltsbera-
tungen beantragt hat, im Einzelplan 188 Millionen Euro
zu streichen, und wie die großen Ankündigungen, was
alles geschehen müsse, zu diesen Kürzungen passen. Die
CDU/CSU ist hier in der angenehmen Situation, dass sie
als Opposition nicht in der Verantwortung steht, in der
wir stehen.
Der Kollege Weiß will Ihnen offenkundig das erklä-
ren, was Sie gerade nachgefragt haben.
Solange er das mit einer Frage tut, bin ich damit ein-
verstanden.
Bitte schön.
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13124 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2004
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Herr Kollege Bonde, nachdem Sie als neuer Bericht-
erstatter der Grünen-Fraktion für den Einzelplan 23 ei-
nige Ausführungen über die Beratungen im Haushalts-
ausschuss gemacht haben, möchte ich Sie fragen, wie
Sie die offenkundigen Dissense zu Ihrer ebenfalls be-
richterstattenden Kollegin, Frau Brigitte Schulte von der
SPD-Fraktion, aufklären können.
Erstens, Frau Kollegin Schulte hat in ihrer Rede be-
redt dargestellt, wie kritisch sie es sieht, dass immer
mehr Mittel für die multilateralen Organisationen zur
Verfügung gestellt werden. Das hat sie kritisch hinter-
fragt. Deswegen ist es auch offensichtlich aus der Sicht
der Berichterstatterin der SPD-Fraktion, Frau Schulte,
nur konsequent, dass die CDU/CSU zur Veränderung
dieses Ungleichgewichtes Kürzungen nur bei den Mit-
teln für die multilateralen Institutionen der Entwick-
lungszusammenarbeit beantragt hat.
Zweitens. Frau Kollegin Schulte hat sich zum Schluss
ihrer Rede äußerst vorsichtig zum Thema der globalen
Minderausgabe geäußert.
Denn es bleibt doch trotz der Tatsache, dass Sie jetzt
eine kleine Erhöhung des Mittelansatzes gegenüber dem
Entwurf durchgesetzt haben – das erkennen wir an und
das ist von Herrn Borchert als Sprecher der CDU/CSU
nicht infrage gestellt worden –, das Damoklesschwert
über uns schweben: Was geschieht mit der globalen
Minderausgabe von 1,136 Milliarden Euro im Haushalt,
die nicht spezifiziert worden sind? Frau Kollegin Schulte
hat ganz vorsichtig gesagt, dass sie hofft, dass das BMZ,
wenn diese Mittel aufgeteilt werden, als allerletztes
drankommt. Jetzt habe ich an Sie die Frage:
Das, Herr Kollege, ist die dritte, wenn ich richtig mit-
gezählt habe.
Woher nehmen Sie als grüner Berichterstatter die ab-
solute Gewissheit, dass diese globale Minderausgabe ir-
gendwie erwirtschaftet und auf gar keinen Fall im Laufe
des Haushaltsjahres auf den Einzelplan 23 umgelegt
wird?
Herr Kollege Bonde, nun haben Sie die Rede des Kol-
legen Weiß bekommen, die Sie so dringlich eingefordert
haben.
Ich kenne den Kollegen Weiß. Wenn man ihn zu einerRede auffordert, dann bekommt man sie auch immer. In-sofern beantworte ich die Fragen gerne.Ich möchte darauf hinweisen, dass die KolleginSchulte und ich in den Verhandlungen ausgesprochen ei-nig waren und auch die Reden nicht voneinander abwei-chen. Ich bin mit der Kollegin Schulte insbesondere da-rüber einig, was sie zur globalen Minderausgabe ge-sagt hat; denn sie hat ausdrücklich von dem Anteil derglobalen Minderausgabe gesprochen, der auf den Einzel-plan 23 entfällt. Ich bin ebenso wie die Kollegin Schulteder Meinung, dass wir dann, wenn es die Möglichkeitgibt, den Einzelplan 23 vor dieser Einbuße in Höhe von38 Millionen Euro zu schützen, alles tun müssen, um daszu erreichen. Wir reden also nur über die globale Min-derausgabe von 38 Millionen Euro, über die auch ich ge-sprochen habe.Sie haben offenbar dem Kollegen Diller vorhin nichtzugehört,
als er davon sprach, was mit dem Rest der GMA passiert.Ich hätte zumindest erwartet, dass Sie verfolgt haben, wel-che Anträge Ihre Haushaltsgruppe zum Einzelplan 60 ins-gesamt gestellt hat. Dort hat sie Einsparsummen in Milli-ardenhöhe gesehen. Wenn nur ein Bruchteil derKürzungsvorschläge, die Ihr Obmann im Haushaltsaus-schuss, Herr Austermann, vorgelegt hat, realisiert würdeund wenn sich die Zinsen tatsächlich so entwickeln wür-den, wie es der Kollege Austermann prognostiziert hat,dann – das kann ich Ihnen mit Gewissheit sagen; daskann jeder, der rechnen kann – besteht keinerlei Gefahr,dass eine zusätzliche globale Minderausgabe von Einzel-plan 60 auf den Einzelplan 23 umgelegt werden muss.Die 188 Millionen Euro waren nicht die einzige Be-lastung, die die CDU/CSU-Fraktion für den Einzelplan23 parat hatte. Sie wollten den Einzelplan 23 durch eine10-prozentige Kürzung bei allen flexiblen Titeln belas-ten. Ruckzuck wären wieder 4,4 Millionen Euro weg ge-wesen. Sie haben uns aufgefordert, die zweite Milliardeder GMA, über die wir gerade gesprochen haben, auf dieEinzelpläne umzulegen. Nach der Logik Ihrer Anträge inden Haushaltsberatungen mussten Sie das auch tun, weilSie das, was es an Bodensatz gibt, bereits vervespert hat-ten. Das heißt, dass bei Verwirklichung der Anträge derCDU/CSU eine weitere Belastung von 38 MillionenEuro erfolgen würde. Alles in allem hätte die CDU/CSU,wenn ihre Anträge eine Mehrheit im Haushaltsausschussgefunden hätten, den Etat des Einzelplans 23 um230 Millionen Euro abgesenkt.Wenn wir jetzt den Vergleich ziehen, dann, könnenwir feststellen: Wir haben bei Rot-Grün ein Plus vonmindestens 38 Millionen Euro, während nach den Vor-schlägen der CDU/CSU ein Minus von 230 MillionenEuro vorhanden wäre. Ich frage mich schon, woher Sieden Mut nehmen, sich hier hinzustellen und mit solchemHerzblut versuchen, uns entwicklungspolitisch anzugrei-fen.
Das ist schon mehr als Opposition, was Sie hier machen.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 141. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 24. November 2004 13125
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Alexander BondeIch weiß auch nicht, wie Sie behaupten können, mitdieser Reduzierung der Mittel könne man zu einer Ver-ringerung der Armut beitragen. Rot-Grün hat einendeutlichen Schwerpunkt gesetzt. Sie können aus IhrerOppositionshaut nicht heraus. Akzeptieren Sie, dass wiretwas durchgesetzt haben, wozu Sie in der Oppositiongegenüber Ihren eigenen Haushältern nicht in der Lagewaren. Das muss man an dieser Stelle deutlich sagen.
Da die Kollegin Schulte auf viele Ansatzerhöhungenin den Einzeltiteln eingegangen ist, möchte ich nur zweiTitel zum Schluss erwähnen. Uns Grünen war es beson-ders wichtig, die Förderung afrikanischer Staaten nicht ausdem Auge zu verlieren. Insofern freuen wir uns besondersdarüber, dass es gelungen ist, die Aidsbekämpfung so-wohl bilateral als auch multilateral finanziell zu stärken.Es freut uns, dass es uns gelungen ist, Mittel für denWeltwirtschaftsgipfel 2005 in Großbritannien zu bin-den, der sich mit dem Thema Afrika befassen wird. Wirunterstützen in diesem Rahmen die New Partnership forDevelopment und den G-8-Afrika-Aktionsplan. Der Ein-satz dieser Mittel dient dazu, die Reformkräfte in Afrikain ihrem Bemühen zu unterstützen, Afrikas Problemedurch eigene afrikanische Anstrengungen zu lösen.Gemeinsam mit unserer Staatssekretärin Uschi Eid ha-ben wir dafür gesorgt, dass der Bundeskanzler beim G-8-Gipfel in London nicht mit leeren Händen erscheint unddass unsere herausragende Position in diesem Prozesserhalten bleibt. Auch damit hat Rot-Grün ein wichtigesSignal gesetzt.Ich glaube, wenn Sie nicht in der Opposition wären,sondern regieren würden, dann wären Sie – zumindestall diejenigen, denen die Entwicklungspolitik am Herzenliegt – sehr froh über den Einzelplan 23. Ich glaube, fürdie Koalition können wir feststellen, dass wir in schwie-rigen Zeiten ein gutes Ergebnis erzielt haben. Das hättenSie uns erst einmal vormachen müssen.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Christian Ruck,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! ich
möchte auf die einzelnen Miilionenrechnereien meines
Vorredners Folgendes erwidern: Kernpunkt unserer Kri-
tik ist nach sechs Jahren rot-grüner Entwicklungspolitik,
dass die Ministerin und ihre parlamentarische Basis mit
großartigen Versprechungen als Tiger gestartet und als
Papiertiger gelandet sind. Inzwischen ist jeder – die Öf-
fentlichkeit, die Wissenschaft, die Kirchen und die
NGOs – zu der traurigen Erkenntnis gekommen, dass
von den Versprechungen nichts übrig geblieben ist. Wir
als Entwicklungspolitiker sind um genau 300 Millionen
Euro ärmer als 1998, Darum geht es uns.
Jeder von Ihnen hat sich bei den rot-grünen Haus-
haltspolitikern bedankt. Ich möchte mich bei unseren
Haushaltspolitikern und vor allem bei Jochen Borchert
bedanken, der genauso gekämpft hat, wie wir alle – das
haben Sie mir auch zugestanden, Frau Kortmann – im
AwZ auch bei den Einzelerhöhungen gekämpft und, wie
ich glaube, auch ein gutes Ergebnis erzielt haben. Auch
das muss einmal gesagt werden. Vielen Dank, Herr
Borchert!
Ich will nicht spekulieren, ob wir um die zweite glo-
bale Minderausgabe herumkommen. Ich wünsche mir
und uns allen, dass Ihr Kratzen und Beißen – das würde
ich übrigens gerne einmal hautnah miterleben, Frau
Schulte –
– natürlich nicht bei mir –
einen Sinn hat, Ich hoffe es. Aber ehrlich gesagt: Bei
dem Resultat, das wir für 2005 nach sechs Jahren Rot-
Grün bestenfalls erzielen, bleibt es dabei, dass wir auf
die Handlungsunfähigkeit der deutschen Entwicklungs-
politik zusteuern,
Reden Sie auch einmal mit denen, die in unseren
Durchführungsorganisationen die Projekte verwalten
und umsetzen! Sie würden Ihnen berichten, dass inzwi-
schen alle unsere Projekte wie Kaugummi ad infinitum
gestreckt werden, dass der relative Anteil der Verwal-
tungskosten immer größer wird, dass für neue Projektak-
tivitäten kaum noch Spielraum vorhanden ist und dass
wir uns selbst ad absurdum führen.
Ich erinnere daran, was bei unserem neuerlichen Ein-
satz in Faizabad passiert ist. Wir schicken Soldaten in
eine gefährliche Gegend, um Wiederaufbauteams zu
schützen, während die Ministerin feststellt, dass die not-
wendigen Mittel für den Wiederaufbau nicht vorhanden
sind. Das ist keine Kohärenz und auch keine vernünftige
Art der Zusammenarbeit.
Herr Kollege Ruck.
Bitte, Frau Schulte.
Herr Kollege Ruck, gerade das ist ein Musterbeispiel,das deutlich macht wovor wir uns in Zukunft in Acht
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Brigitte Schulte
nehmen müssen. In Faizabad waren bereits 20 internatio-nale Nichtregierungsorganisationen vertreten. Das habeich vorhin gemeint, als ich die Ministerin freundschaft-lich darauf hingewiesen habe, dass es nicht angeht, dassalle alles machen. Die deutsche Entwicklungspolitik warnicht in einem besonderen Maße gefordert, solangekeine bessere Koordinierung der UN-Programme undder Nichtregierungsorganisationen stattfindet. Ich binfest überzeugt und darf Sie darauf hinweisen, dass eshier nicht um Geldfragen geht, sondern dass wir uns Ge-danken darüber machen müssen, ob die Projekte richtigabgestimmt sind. Haben Sie da eine bessere Idee?
Zur Projektabstimmung komme ich noch. Wir ha-ben auf jeden Fall auch dazu Ideen. Ich gebe Ihnen auchvöllig Recht, dass wir gerade in Afghanistan ein un-glaubliches Durcheinander von internationalen Hilfsor-ganisationen haben. Das gilt aber auch anderswo, wodeutsche Soldaten involviert und deswegen gefährdetsind, wenn die entwicklungspolitische Aufbauarbeit da-neben geht.
Trotzdem kann es nicht sein, dass ein RessortkollegeSoldaten in eine gefährliche Mission schickt, um denWiederaufbau in Afghanistan vorzubereiten – natürlichgeht er dann davon aus, dass auch die deutsche Entwick-lungshilfe den entsprechenden Beitrag leistet –, unddann die deutsche Entwicklungsministerin sagt: Ich habefür diesen Einsatz der deutschen Soldaten kein Geld. Siekann dieses Zitat hernach bestätigen oder auch nicht.Das ist jedenfalls keine kohärente Politik.
Es geht aber nicht nur in Afghanistan, sondern auchanderswo um eine Verknüpfung von Sicherheits-, Au-ßen- und Entwicklungspolitik. Wenn es darum geht, ein-mal ganz schnell zu reagieren und auch einmal die Prüf-szenarien von GTZ und KfW, die sich immer über zweibis drei Jahre erstrecken, beiseite zu lassen, haben wirkeinen Topf mehr. Wir haben kein Geld mehr, umschnell auf Krisen reagieren zu können. Das genau istder strukturelle Fehler, den ich dieser Regierung an-kreide.
– Da stimmen wir doch überein.
– Schade.Ich finde es übrigens auch schade – ich glaube, da sindwir uns einig, wenn ich Sie richtig verstanden habe –,dass es zu einem Bedeutungsverlust der deutschen Ent-wicklungspolitik gegenüber anderen Ressorts gekom-men ist.
– Doch, Ich beweise es Ihnen. Während der Anteil desBMZ-Haushalts am Gesamthaushalt abgenommen hat,sind die Anteile des Haushalts für das Auswärtige Amtund der Verteidigungshaushalt etwa gleich geblieben.Genau damit sind Sie nicht angetreten. Sie haben gesagt,auch die relative Bedeutung der Entwicklungspolitikmüsse gesteigert werden.Vor diesem Hintergrund gebe ich Ihnen Recht, FrauSchulte, dass wir alle den Rechnungsprüfungsberichternst nehmen sollten. Das BMZ soll, auch mit unsererUnterstützung, Aufgaben und Kompetenzen wieder zu-rückholen, wie es der Rechnungsprüfungsbericht vorge-schlagen hat. Es ist doch ein Unding, dass zum Beispieldas Bundesforschungsministerium mit den Ländern desMercosur mehr bilaterale Projekte unterhält als dasBMZ, und zwar ohne Abstimmung mit dem Entwick-lungshilfeministerium.Voraussetzung für eine solche Rückholung von Kom-petenzen sind natürlich Kollegialität und Überzeugungs-kraft im Kabinett. Die Wahrheit sieht aber laut „Spiegel“-Bericht und laut Aussage des Bundesverteidigungsmi-nisters im Ausschuss anders aus. Danach wird gestrittenwie Hund und Katz, und zwar sowohl oben als auch un-ten. Genau diese Animositäten zwischen dem Verteidi-gungsministerium, dem Außenministerium und demEntwicklungshilfeministerium nehmen uns und demganzen Politikfeld das politische Potenzial und das Ge-wicht, das notwendig ist, um politische Veränderungensowohl in den Entwicklungsländern als auch in den In-dustrieländern vornehmen zu können. Ohne diese Verän-derungen wird die Entwicklungshilfe verpuffen.
– Ihr mit eurer Zusammenlegung. Unsere Meinung istbekannt. Wir wollen, anders als die FDP, das BMZ nichtauflösen. Wir wollen das BMZ stärken.
Wir wollen das Politikfeld stärken und modern aufstel-len und sind anderer Meinung als die FDP und auch alsRot-Grün.Natürlich ist das nicht nur eine Quantitätsfrage, son-dern auch eine Qualitätsfrage. Die Qualität hat durch di-verse Missgriffe und Fehlgriffe gelitten. Ich nenne alsBeispiel das Aktionsprogramm 2015, mit dem großeErwartungen geweckt, aber auch enttäuscht wurden unddas auch von der Gemeinsamen Konferenz Kirche undEntwicklung zu Recht als Etikettenschwindel bezeichnetwird.Ein weiteres Beispiel ist die Entschuldungsinitia-tive, die auf der einen Seite zu bürokratisch ist und aufder anderen Seite zu wenig politisch kontrolliert wird. Esstellt sich beispielsweise die Frage, was geschehen soll,
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Dr. Christian Ruckwenn die Regierung des Sudans im Rahmen der HIPC-lnitiative entschuldet werden will. Wir müssen dochrechtzeitig signalisieren: Liebe Freunde in Khartum,ohne ein anderes Verhalten in Darfur und in anderenLandesteilen kommt ihr niemals für eine HIPC-Ent-schuldung infrage!Ausgeblieben ist ebenfalls eine grundlegende Reformdes unüberschaubaren Fleckerlteppichs aus unterschied-lichen Vorfeld- und Entwicklungsorganisationen. FrauMinisterin, die Umorganisation Ihres Hauses ist miss-glückt.
Es ist nicht gelungen, die internationale und nationaleFührungskompetenz des BMZ zu stärken.
– Ich bitte, auch das im Bericht des Bundesrechnungsho-fes genau nachzulesen. Das steht dort drin.
– Doch, das steht dort drin. Ich bin der Meinung, dassder Bundesrechnungshof in seinem Bericht auch hierRecht hatDie Schwerpunktsetzung ist ebenfalls misslungen.Damit komme ich auf die Schwellenländer zu sprechen.Hier ist man nach dem Motto verfahren: Raus aus denKartoffeln, rein in die Kartoffeln! Zuerst gab es den er-klärten Willen, aus der Zusammenarbeit mit den Schwel-lenländern auszusteigen, wie unter anderem die Bei-spiele Argentinien, Chile und Uruguay zeigen. Nun heißtes aber plötzlich, Schwellen- und Ankerländer seienwichtig für die Entwicklungszusammenarbeit.Wir haben auf unserer gemeinsamen Reise durch In-dien aber auch Erhellendes gesehen. Es ist durchausstrittig – Herr Löning, hier bin ich nicht Ihrer Meinung –,ob es in unserem Interesse liegt, aus der Armutsbekämp-fung in Ländern mit Hunderten von Millionen Armeneinfach auszusteigen. Nach meiner Meinung muss es inunserem Interesse liegen, in Ländern wie Indien einenachhaltige und einigermaßen gleitende Entwicklung inGang zu setzen. Ein Beispiel dafür ist das Umweltpro-gramm, das wir in Brasilien mit Entwicklungsgeldernaufgelegt haben. Alles andere würde auf uns zurückfal-len.
Herr Kollege Dr, Ruck, nun möchte der Kollege
Löning eine Zwischenfrage stellen und Ihre Redezeit
verlängern.
Dafür bin ich ihm bei diesem Thema sehr dankbar.
Bitte, Herr Löning.
Herr Kollege Ruck, Sie haben von Hunderten von
Millionen Armen in Indien geredet. Das ist ohne Zweifel
richtig. Erkennen Sie aber auch die Tatsache an, dass es
in Indien Hunderte von Millionen reiche und sehr reiche
Menschen sowie Hunderte von Millionen Menschen
gibt, die in den letzten Jahrzehnten aus eigener Kraft aus
der absoluten Armut in die untere Mittelschicht aufge-
stiegen sind, was durch die richtige Aufstellung des Lan-
des in der Wirtschaftspolitik und durch Investitionen aus
dem Ausland, insbesondere von Auslandsindern, ermög-
licht wurde? Sind Sie mit mir der Meinung, dass der
Elite eines Landes wie Indien, das in der Biotechnologie
weltweit führend ist, in unser Land investiert und Firmen
aufkauft, durchaus die Verantwortung zugemutet werden
kann, sich selbst um die Bekämpfung der Armut im ei-
genen Land zu kümmern?
Herr Löning, wie Sie wissen – wir haben uns darüberschon ausgetauscht –, ist meine Position in sehr vielenPunkten von Ihrer nicht weit entfernt. Auch ich bin derMeinung, dass unsere Entwicklungszusammenarbeit aufgleicher Augenhöhe mit den Schwellenländern erfolgensollte, vor allem wenn es um gemeinsame Interessen inder Energie- oder der Raumfahrtpolitik geht. Es gibtviele Bereiche, in denen man beispielsweise mit Indien,China oder Brasilien zusammenarbeiten kann. Aber IhreForderung an Indien, selber soziale Verantwortungwahrzunehmen, gilt für jedes Land. Die Armutsbekämp-fung kann beispielsweise in Guatemala von der dortigenOberschicht alleine geleistet werden. Die Frage ist nur,was man machen soll, wenn das nicht geschieht.
– Wir müssen die Frage der sozialen Verantwortung derEliten natürlich auch bezogen auf Guatemala diskutie-ren.In einem gebe ich Ihnen Recht: Die Art und Weise,wie wir Armut in den Schwellenländern, auch in Indien,bekämpfen, hat überhaupt keine Signifikanz.
Auch ich bin der Meinung, dass Armutsbekämpfunggegen den Willen der herrschenden Eliten sinnlos ist.Deswegen müssen einige Punkte viel schärfer als bisherins Blickfeld gerückt werden: die Entschlossenheit derGegenseite und die Frage, wo wir wirklich etwas signifi-kant bewegen können. An diesen Kriterien müssen wiruns in Bezug auf Brasilien, China und anderswo entlang-hangeln. Bisher geschieht das eben nicht. Trotz allen Be-mühens um eine Schwerpunktsetzung wird in Indiennach wie vor alles, was man sich vorstellen kann, geför-dert, auch wenn die Mittel noch so gering sind. So etwasist keine Schwerpunktsetzung, sondern ein Gemischtwa-renladen.Die heutige Konstellation sieht so aus, dass Sie, FrauMinisterin, und Frau Kortmann mit unserem ausdrückli-chen Einverständnis nach uns sprechen. Genauso wieHerr Löning möchte ich Sie – ganz naiv – darum bitten,
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Dr. Christian Ruckuns einige Fragen zu beantworten. In den bisherigenHaushaltsdebatten haben Sie die entscheidenden Fragenoft gar nicht angesprochen oder nur nebulös beantwortet.Meine erste Frage lautet – ich halte sie für entschei-dend –: Sind Sie bereit, dafür einzutreten, dem Chaos beider Arbeitsteilung zwischen UN-Organisationen undEU entgegenzuwirken? Wenn ja, mit welchen Instru-menten wollen Sie für etwas mehr Konsistenz sorgen?Deutschland bewirbt sich jetzt um einen Sitz im UN-Si-cherheitsrat. Für mich ist viel entscheidender, wie wirdazu beitragen können, dass es in der Entwicklungspoli-tik wirklich mehr internationale Arbeitsteilung gibt. Siehaben zu einem solchen Beitrag sechs Jahre Zeit gehabtund bisher ist nichts geschehen.
Etwas anderes ist – es wurde schon angesprochen –die Organisationsform der nationalen entwicklungs-politischen Systeme. Welches Organigramm haben Sieim Kopf? Auch ich bin der Meinung, dass wir im Inlandnoch viel zu umständlich agieren.
Herr Kollege, bedenken Sie bitte, dass alle von Ihnen
angekündigten Fragen außerhalb Ihrer Redezeit gestellt
werden.
Es ist gut, dass Sie mich daran erinnern.
Wir alle haben gesagt, dass wir den Einsatz in Darfur
wollen. Aber ein solcher Einsatz allein ist nur der Bruch-
teil eines Konzepts, dessen außen-, sicherheits- und ent-
wicklungspolitische Bestandteile verzahnt werden müs-
sen.
Bei einer Leistungsbilanz zählt nicht die Zahl der In-
terviews, sondern die Zahl der bestandenen Herausfor-
derungen. Für uns sind das folgende: Erstens. Wie wur-
den wir den ethischen Ansprüchen in der deutschen
Entwicklungspolitik gerecht? Zweitens. Welche Erfolge
hatten wir bei der Eindämmung von Gefahren, also bei
der Gefahrenabwehr? Drittens. Wie konnten wir die
deutsche Position in der Welt auch mit Entwicklungspo-
litik stärken?
Rot-Grün ist im Hinblick auf alle drei Ziele unserer
modernen Entwicklungspolitik weit davon entfernt,
seine Versprechungen einzuhalten. Ich würde mich
freuen, wenn Sie diese Behauptung in den verbleibenden
zwei Reden entkräfteten. Ich glaube aber nicht, dass Ih-
nen das gelingen wird.
Für die Bundesregierung hat nun die Bundesministe-rin Heidemarie Wieczorek-Zeul das Wort.
Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin fürwirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Was mich in dieser Debatte bedrückt – das muss ich ehr-lich sagen –, ist, dass bei dem vielen Hin und Her eigent-lich nicht mehr deutlich wird, worum es in der Entwick-lungszusammenarbeit geht. Es geht darum, dass wirMenschenleben retten, dass wir dafür sorgen, dass indieser Welt weniger Kinder sterben müssen und dass we-niger Menschen von Aids dahingerafft werden.
Diesen Menschen gilt unsere Arbeit. Man kann darumringen, ob das genug Geld ist, ja oder nein; aber ich bitteSie: Lassen Sie doch dieses Klein-Klein und – das ist fürmich der allerwichtigste Punkt – konzentrieren wir unswirklich auf die zentralen Fragen der Entwicklungszu-sammenarbeit!
Jeder muss doch zugeben: Wir haben jetzt mehr Spiel-raum in diesem Haushalt – das ist gut so – und den nut-zen wir zugunsten der Menschen.Ich will auf die gestellten Fragen zurückkommen,weil darin falsche Behauptungen waren. Wir haben imJahr 1982 – so weit muss man zurückgehen; denn Ent-wicklungszusammenarbeit ist langfristig; bei der Kredit-vergabe gibt es langfristige Festlegungen, teilweise überJahrzehnte –, also am Ende der Regierung Schmidt undzu Beginn der Regierung Kohl, 0,48 Prozent des Brutto-sozialprodukts für Entwicklungszusammenarbeit gehabt.Wenn Sie das auf dem Niveau fortgesetzt hätten, hättenwir den Anteil von 0,7 Prozent längst erreicht.
Stattdessen betrug der Anteil im Jahr 1998, als ich an-gefangen habe, 0,26 Prozent des Bruttosozialprodukts;Sie haben die Entwicklungszusammenarbeit – das musshier einfach noch einmal gesagt werden, damit nicht fal-sche Positionen aufgebaut werden – nämlich als Stein-bruch benutzt.
Ich habe in mühsamer Arbeit, unterstützt durch dieHaushälter – ich will mich bei all den Kolleginnen undKollegen auch sehr herzlich dafür bedanken –, erreicht,dass der Anteil im Jahr 2003 – das ist ja immer im Rück-blick – 0,28 Prozent des Bruttosozialprodukts beträgt.Ich schwöre Ihnen, dass wir bezogen auf das Jahr 2006das 0,33-Prozent-Ziel erreichen werden,
und zwar in einer Mischung aus Haushaltsmitteln,Schuldenerlassen im Rahmen der HIPC und der EU-Ent-wicklungszusammenarbeit. Dazu verpflichten wir unsallgemein. Wer Mitglied des UN-Sicherheitsrats werden
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Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeulwill, muss auch seine internationalen Verpflichtungeneinhalten. Dafür stehen wir alle gemeinsam.
Was mich bedrückt, sind die neuen Zahlen zur Aids-pandemie, die wir seit gestern haben; ich habe gedacht,das würde heute angesprochen. Wir stellen fest: Obwohldie internationale Gemeinschaft die Mittel von 2001 bisjetzt verdreifacht hat, ist die Zahl der Infektionen gestie-gen. Heute, im Jahr 2004, gibt es 39,4 Millionen Men-schen, die HIV-infiziert sind.Die internationale Gemeinschaft hat, wie gesagt,mehr Finanzmittel mobilisiert. Woran liegt es also, dasssich trotzdem so viele Menschen infizieren, dass so vieleMenschen sterben und so viele Aidswaisen allein ihrerZukunft entgegensehen? Das liegt an Unkenntnis, dasliegt an der Unterdrückung von Frauen und das liegt ander Armut. Ich werde noch engagierter, als das bisherder Fall war,
gemeinsam mit Ihnen dafür sorgen, dass gegen die Un-terdrückung von Frauen gearbeitet wird
und dass die Position der Frauen gestärkt wird. Es istdoch schrecklich, dass sich Frauen infizieren, weil ihrePartner – das sagt der Bericht der UNAiDS – einen nichtverantwortlichen Geschlechtsverkehr praktizieren. Des-halb müssen wir die Frauen stärken. Wir müssen die Ar-mut bekämpfen. Das sind die Aufgaben, die vor uns lie-gen.Etwas lastet mir besonders auf der Seele; dazu hätteich gern auch von anderen etwas gehört. Am 1. Januar2005 wird eine Übergangsregelung zum Produktpatent-schutz auslaufen und das bedeutet, dass dann zum Bei-spiel Indien Generika nicht mehr kostengünstig verkau-fen kann. Wir müssen alle Möglichkeiten mobilisieren,um in den ärmsten Entwicklungsländern, für die der Pro-duktpatentschutz noch nicht gilt – bis zum Jahr 2016 –die Produktion von Generika zu unterstützen.
Das ist wichtig. Es geht darum – das sage ich ganz offen;das ist meine feste Überzeugung –, Patienten und Men-schen und weniger Patente zu schützen.
Jetzt zu den Fragen. Ich hoffe, Sie sehen es mir nach,Herr Präsident, wenn das etwas länger dauert; es warenso viele Fragen. Herr Löning hat mehr Effizienz gefor-dert. Mein Gott! Ich nenne Ihnen nur vier Punkte, in de-nen wir in dem Gestrüpp dessen, was Sie uns in der Ent-wicklungszusammenarbeit hinterlassen haben,
wirklich Effizienz erreicht haben.Erster Punkt: Von Ihnen haben wir Projekte in119 Entwicklungsländern übernommen. Ihr Prinzip wardas der Gießkanne. Wir haben die Zahl der Länder, mitdenen wir kooperien, reduziert und damit dazu beigetra-gen, dass unsere Finanzmittel sinnvoller eingesetzt wer-den können.
Zweiter Punkt: Die Projekte in Indien, über die sichHerr Löning beklagt hat, sind Projekte der Entwick-lungszusammenarbeit aus den Jahren Ihrer Regierungs-zeit. Diese war von der Projektitis geprägt: viele kleineProjekte, sodass man viele Fähnchen auf die Weltkartesetzen konnte. Wir haben die Ausrichtung geändert undwollen durch strukturelles Denken dazu beitragen, dassganze Bereiche in verschiedenen Ländern gestärkt wer-den, also nicht mehr ein einzelnes Projekt im Vorder-grund steht, sondern zum Beispiel ein Land wie Indiendabei beraten wird, wie soziale und ökologische Normenerreicht werden können. Dass wir so etwas unterstützen,ist doch sinnvoll und liegt in unserem eigenen Interesse.Wir denken also strukturell und global. Sie dagegenhaben ein Klein-Klein beklagt, das von Ihrer eigenenPartei, als sie Regierungsverantwortung trug, angerichtetwurde.
Dritter Punkt: Wir haben die Entwicklungszusam-menarbeit reformiert, ohne dass es irgendwo geknirschthätte. Wir haben zum Beispiel die DEG in die KfW ein-gegliedert. Das hat hervorragende Auswirkungen gezei-tigt. Die DEG hat heute ein weit höheres Portfolio, dassie zugunsten der Entwicklungsländer einsetzen kann.Vierter Punkt: Zu Ihrer Zeit sind aus dem Europäi-schen Entwicklungsfonds kaum Mittel abgeflossen. Wirhaben dafür gesorgt, dass er reformiert wurde. Heutefließen die Mittel so schnell ab, dass manche Haushälterbesorgt sind, weil es ihnen zu schnell geht. Auch das seizum Stichwort „Effizienz“ gesagt.
Nun zum letzten Punkt: Ich habe mir die Haare ge-rauft, als ich gehört habe, was Sie zu den Ankerländerngesagt haben.
– Ich mache es anschließend. – Nach dem Konzept, daswir entwickelt haben, liebe Kolleginnen und Kollegen– Sie haben das ja eben am Beispiel Indien gesehen –,sind Ankerländer solche Länder, die in ihrem regionalenUmfeld ökonomisch und/oder politisch dazu beitragenkönnen, dass auch andere Länder aus der Armut mit he-rausgezogen werden. Natürlich sind die Länder für dieBekämpfung der Armut in ihrem Land selber verant-wortlich. Niemand wird ihnen dabei etwas abnehmen.Außerdem sind diese Länder dadurch gekennzeichnet– das hat Herr Ruck ja dankenswerterweise dargestellt –,
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Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeuldass sie durch ihr globales Wirken positiv oder negativEinfluss nehmen.
Frau Ministerin, der Kollege Löning würde Ihnen
gerne eine Zwischenfrage stellen.
Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:
Wenn ich darf, würde ich gerne erst den Gedanken zu
Ende führen.
Und ob Sie dürfen.
Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:
Wenn Sie dann noch das Gefühl haben, einige Punkte
wären unbeantwortet geblieben, beantworte ich Ihnen
gerne noch eine Frage.
Ankerländer wie zum Beispiel China und Brasilien,
Indien und Südafrika tragen also selbst die Verantwor-
tung. Deshalb geht es nicht um Einzelprojekte. Lassen
Sie mich das an einem Beispiel verdeutlichen: China ist
nach den USA der zweitgrößte Emittent von CO2. Indienist weltweit der fünftgrößte CO2-Emittent. Dazu beizu-tragen, dass diese Länder auf Energieeffizienz setzen
und erneuerbare Energien einsetzen, liegt erstens im In-
teresse des globalen Klimas und zweitens auch im Inte-
resse der deutschen Industrie. Deshalb bin ich so frap-
piert, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass hier darüber
von dem einen oder anderen so borniert diskutiert wor-
den ist.
Deutsche Unternehmen sind ja in diesen Bereichen der
Marktführer. Auch das sollten Sie einmal berücksichti-
gen.
– Nein, wir orientieren die Mittel anders: weg vom
Klein-Klein der Einzelprojekte.
Indien zum Beispiel beraten wir bei der Privatisierung
von Staatsfirmen und bei der Frage, wie soziale Siche-
rungssysteme entwickelt werden können. Ein solches
Vorgehen charakterisiert das neue moderne Denken in
der Entwicklungszusammenarbeit: Statt eines Klein-
Kleins von vielen Einzelprojekten wollen wir Strukturen
verändern. Ich fordere Sie auf, dieses Konzept der An-
kerländer mit uns zu vertreten. Ich komme auch gerne zu
Ihnen in den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammen-
arbeit, um das im Einzelnen noch einmal darzustellen.
Das heißt übrigens nicht, dass es mehr Finanzmittel
für diese Länder gibt. Das bedeutet vielmehr, dass die
Mittel gleich bleiben, aber strukturell sinnvoll und rich-
tig eingesetzt werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin der Mei-
nung, wir sollten in Bezug auf diesen Haushalt und bei
diesen Perspektiven über die Inhalte und auch über die
Zusammenarbeit mit den eben genannten Ankerländern
sprechen, die unser Engagement für Afrika in keiner
Weise einschränkt, weder finanziell noch politisch, und
gemeinsam Positionen entwickeln, statt uns über Klein-
Klein zu zerstreiten.
Ich bedanke mich sehr herzlich.
Ich denke, dass der generöse Vorschlag, möglicher-
weise offen gebliebene Fragen im Ausschuss zu vertie-
fen, ein zielführender Beitrag ist, die Debatte nicht gänz-
lich über die vereinbarten Zeitlimits hinaus ausufern zu
lassen.
Nun hat der Kollege Hedrich um eine Kurzinterven-
tion gebeten.
Ich hatte an ungefähr eine halbe Stunde gedacht. –
Herr Präsident! Man könnte natürlich zu einer ganzen
Reihe von Punkten etwas sagen.
Dem wollte ich aber ausdrücklich keinen Vorschub
leisten.
Aber Herr Präsident, Sie sind doch sonst so großzü-
gig!
Eben drum!
Ich wollte nur auf einen Punkt verweisen, weil Sie,Frau Ministerin, einfach nicht aufhören, bestimmteDinge immer zu wiederholen. Das will ich an einem Falldeutlich machen.Sie verweisen immer wieder auf die große Zahl derLänder, mit denen zusammengearbeitet wird. Darf ichSie daran erinnern, dass sich in den Zeiten unserer Re-gierung über 80 Prozent der Mittel auf 40 Länder kon-zentriert haben? Daran hat sich übrigens im Grundsatzbis heute nicht viel geändert. Mir geht es nur darum,dass Sie nicht den Eindruck erwecken, das hätte sich ge-ändert .Ich möchte Sie mit einem netten Beispiel auch daranerinnern, welche Möglichkeit Sie genutzt haben, dieZahl der Länder, mit denen Sie zusammenarbeiten, zureduzieren: Sie haben, um dieses Ziel zu erreichen, aufder Liste der Länder, mit denen wir zusammenarbeitenund deren Zahl auf keinen Fall 70 überschreiten darf, ein
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Klaus-Jürgen HedrichLand ausgewiesen, das mit dem Namen „Zentralasien“umschrieben war.
Jeder weiß, dass es dieses Land nicht gibt. Die Be-zeichnung umfasste insgesamt fünf Länder.Eines muss man Ihnen bescheinigen, Frau Ministerin:Der Erfindungsreichtum Ihres Ministeriums ist unter Ih-rer Führung beachtlich,
Als letzter Rednerin erteile ich der Kollegin
Kortmann für die SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Ichmöchte auf einige Dinge eingehen, soweit die Zeit daszulässt.Herr Ruck, ich kann gar nicht mehr zählen, wie oftSie in Ihren Reden schon von einer modernen Entwick-lungspolitik gesprochen haben. Bis heute weiß ich nicht,was die Union mit dem Wort „modern“ verbindet; dennaußer einem kleinen, immer wieder vorgebrachten „Mansollte“, „Man müsste“, „Man könnte“ habe ich bis heutekeinen großen Wurf von Ihnen wahrgenommen, durchden man diese „moderne“ Entwicklungspolitik tatsäch-lich mit dem Prädikat „zukunftsfähig“ verbinden könnte.
Herr Borchert, zur Frage der Mittelverwendung. Wirreden so viel über Kohärenz, über das Zusammenspielvon Ministerien, über die Notwendigkeit von Verzah-nungen. Ich empfinde es daher eher als kleinkrämerisch,wenn über 70 Millionen Euro in der Mittelverwendungdes Auswärtigen Amtes gesprochen wird, obwohl mandavon überzeugt ist, dass diese für das richtige Anliegenverwendet werden. Ich bin wirklich mit Herz und Ver-stand Entwicklungspolitikerin; aber mir ist, ehrlich ge-sagt, das engstirnige Ressortdenken an dieser Stelle dochein bisschen fremd. Mir ist es wichtiger, dass wir guteProgramme auflegen, die wirklich effektiv und nachhal-tig sind.
Zu der Reduzierung der Zahl der Länder; der Kol-lege Hedrich ist jetzt leider weg. Es ist wunderbar, wennman an diesem Projekt festhält, weil wir in der Tat nichtLösungen für alle Probleme der Welt bieten können. Esist sinnvoller, die Aufgabe auf Schwerpunkte zu be-grenzen.Wenn ich in fast jedem Antrag der Union eine neueLänderschwerpunktsetzung erkenne, dann muss ichmich natürlich fragen, wie ernst Sie es mit der Reduzie-rung der Anzahl der Länder meinen. Außerdem stellenSie immer wieder neue Anforderungen.Herr Löning, wenn Sie über diese Fragen mit denSchwellen- und Ankerländern reden, dann ist es in derTat richtig, dass an diese andere Anforderungen als andie ärmsten Länder unter den Entwicklungsländern ge-stellt werden. Wir müssen ihnen dabei behilflich sein,wirtschaftlich gut Fuß zu fassen, damit sie die Problemealleine bewältigen können.Ihren Hinweis auf die beiden Länder China und In-dien verstehe ich allerdings nicht. Wir haben uns imAusschuss auf eine gemeinsame Beschlussempfehlungbezüglich des Themas „Weltbevölkerung: zehn Jahrenach den Kairoer Beschlüssen“ verständigt. Die einzigeFraktion, die dabei nicht mitgemacht hat, war die FDP.Denn sie war der Meinung, dass Bevölkerungsfragennicht oben auf der Liste stehen.
Aber das ist eine der entscheidenden Fragen, gerade wasChina und auch Indien angeht.Wir müssen in der Haushaltsdebatte Acht geben, dasswir nicht das Gefühl vermitteln, wir würden auf der Inselder Glückseligen leben. Wir haben in zwei RichtungenVerantwortung zu tragen. Angesichts der Gesamthaus-haltslage des Bundes haben wir auch im Einzelplan 23zu einer Haushaltskonsolidierung beizutragen, ohne unsvon der Zielsetzung zu verabschieden, durch bi- undmultilaterale Hilfen weiterhin sehr vehement und sehrerfolgreich an der Erreichung der Millennium Develop-ment Goals mitzuwirken. Daher bin ich mit den Haus-haltsberatungen, die wir im Ausschuss geführt haben,sehr zufrieden. Ich glaube, dass wir eine gute Basis fürGemeinsamkeiten in Bezug auf die Frage „Wohin wol-len wir eigentlich?“ erreicht haben.Es ist darauf hingewiesen worden, dass wir starke ent-wicklungspolitische Organisationen haben. In der Tat istdas so. Deswegen war es notwendig, die beiden großenBereiche zu stärken. Das sind zum einen der Bereich derfinanziellen Zusammenarbeit, für den die KfW verant-wortlich ist, und zum anderen der Bereich der techni-schen Zusammenarbeit, für den die GTZ die Verantwor-tung trägt. Das ist uns mit einem Plus von 33 Millionenbzw. mit 32 Millionen Euro gelungen.
Wir dürfen uns aber vor der Erkenntnis nicht drücken,dass zu einer effektiven Mittelverwendung und zu einemerfolgreichen Einsatz von Personal auch gehört, dass wirweiterhin an einer Harmonisierung von finanzieller undtechnischer Zusammenarbeit arbeiten. Die ursprünglichbei der Gründung der Institutionen festgelegte saubereTrennung von FZ und TZ ist längst überholt und ent-spricht nicht mehr den Erfordernissen, die wir heute ha-ben. Deswegen muss die engere Verzahnung weiter vo-rangetrieben werden.Unter dieser Prämisse sage ich: Wenn unsere staatli-chen Organisationen – da schließe ich neben der GTZund der KfW auch den Deutschen Entwicklungsdienst
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Karin Kortmannmit ein – im multilateral ausgerichteten EZ-Spektrumwettbewerbsfähig bleiben wollen, sind eine Überprüfungihrer originären Tätigkeiten und eine abgestimmte Pro-grammplanung mit den privaten Trägern, mit den Kir-chen, aber vor allen Dingen auch mit den Stiftungen not-wendiger denn je.Die Ministerin hat auf die gestern veröffentlichtenZahlen von UNAIDS hingewiesen. Sie sind in der Taterschreckend. Allein in diesem Jahr starben bereits mehrMenschen am Aidsvirus als je zuvor. Außerdem hat sichder Virus trotz des großen öffentlichen Engagements undder Akquirierung von Mitteln schneller verbreitet. AmEnde dieses Jahres wird die Zahl der Toten auf 1,3 Mil-lionen gestiegen sein. Fast 40 Millionen Menschen sindinfiziert. Das entspricht jedem Zweiten, der in Deutsch-land lebt. Das sind ganz Besorgnis erregende Zahlen. Siesollten eine Aufforderung an uns sein, mehr zu helfen.Kofi Annan hat im letzten Jahr davon gesprochen,dass Aids die größte Massenvernichtungswaffe sei unddass im Kampf dagegen die meisten Regierungen nichtso engagiert seien wie etwa bei der Verfolgung von Ter-roristen. Diese Zustandsbeschreibung trifft aber auf dieBundesregierung nicht zu. Wir haben uns im AWZ aufder Grundlage von gemeinsamen Beschlusslagen auf einverstärktes HIV-/Aidsengagement verständigt. Das halteich für einen richtigen Weg. Ich glaube, wir müssen denKreislauf „je höher die wirtschaftliche Abhängigkeit, jeniedriger der soziale Status und je geringer das Bil-dungsniveau, desto ungehinderter erfolgt die Verbrei-tung der Krankheit“ wirkungsvoll durchbrechen. Ich bindeswegen sehr froh, dass wir neben den Mitteln für diebilaterale HIV-und Aidsbekämpfung weitere Mittel zurVerfügung stellen konnten, um dieses wichtige Sektor-vorhaben im BMZ zu stärken, und dass wir mit weiteren10 Millionen Euro für den globalen Fonds gegen HIVund Aids, Tuberkulose und Malaria wirkungsvolle Hilfegeben können.Nichtsdestotrotz sagen viele Hilfeorganisationen, diein diesem Bereich tätig sind: Man kann die Qualität derHilfe nicht allein an der Höhe der bereitgestellten Mittelmessen. Nehmen wir das Beispiel Mosambik. Dort sagtman: Bringt uns nicht mehr Geld, sondern helft uns,Leute auszubilden. Mosambik, ein Land, das doppelt sogroß ist wie die Bundesrepublik Deutschland, verfügtüber 450 Ärztinnen und Ärzte. Da weiß man, wo derNotstand ist. Hier können Sie eine wirkungsvolle HIV-und Aidsbekämpfung betreiben. Wir müssen mehr in dieAusbildung von Fachpersonal investieren. Dann könnensich diese Länder selber helfen.
Zur Stärkung der ODA-Quote der BundesrepublikDeutschland von zurzeit 0,28 Prozent. Es liegt mir aufder Zunge, noch einmal zu sagen, zu welcher Absenkungder ODA-Quote es in den 16 Jahren Ihrer Regierungkam. Sie haben es von einem Haushaltsjahr zum ande-ren, von 1996 auf 1997, geschafft, die ODA-Quote um0,04 Prozentpunkte zu senken. Das war ein rasantesTempo.Ich glaube, dass wir nicht nur im Rahmen der Erhö-hung von Haushaltsmitteln darüber reden dürfen, ob wirdie ODA-Quote erreichen. Ich wünsche mir von der Op-position, dass sie die Schranken öffnet und mit uns da-rüber spricht, welche anderen kreativen Ideen es gibt.Ich erinnere an die Devisenumsatzbesteuerung, an Nut-zungsentgelte und an Beiträge durch die Privatwirt-schaft. Dem haben Sie sich bisher verschlossen,
Allein über Haushaltsansätze die Probleme zu regelnreicht nicht aus.Wir als SPD haben deshalb Vorschläge für die weitereBeratung im Ausschuss gemacht. Es ist dringend not-wendig, dass wir im Ausschuss über alternative Finan-zierungselemente reden und uns auf ein neues Maß ver-ständigen. Denn ansonsten bleibt es bei dem derzeitgestückelten Verfahren. Ich glaube, dass unsere Haus-haltsanträge auch dadurch, dass wir gesagt haben, esmüsse neue verbilligte FZ-Kredite geben, um neueHaushaltsmittel zu akquirieren, die ODA-anrechnungs-fähig sind, in die richtige Richtung gehen.Ich bin sehr zuversichtlich, dass unsere Haushälterinund unser Haushälter von Rot-Grün das aufgreifen undwir im nächsten Jahr eine noch positivere Bilanz ziehenkönnen.
Ich schließe die Aussprache, für die eine Stunde vor-
gesehen und vereinbart war und die nun tatsächlich deut-
lich mehr als anderthalb Stunden gedauert hat, was die
Vermutung der Großzügigkeit des amtierenden Präsiden-
ten eindrucksvoll bestätigt,
auch wenn der entsprechende Kollege mit dem Hinweis
auf die Großzügigkeit des Präsidenten seine Anwesen-
heit danach für entbehrlich gehalten hat.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Einzel-
plan 23 – Bundesministerium für wirtschaftliche Zusam-
menarbeit und Entwicklung – in der Ausschussfassung.
Wer für den Einzelplan in dieser Fassung stimmt, den
bitte ich um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich der Stimme? – Der Einzelplan 23 ist da-
mit angenommen.
Damit sind wir zugleich am Schluss der heutigen Ta-
gesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages für morgen, Donnerstag, den 25. November
2004, 9 Uhr, ein.
Ich wünsche allen noch einen schönen, angenehmen
Abend und schließe damit die Sitzung.