Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor wir in die Ta-
gesordnung eintreten, möchte ich der Kollegin Karin
Evers-Meyer herzlich zu ihrem heutigen 65. Geburtstag
gratulieren.
Ich will die Gelegenheit auch gerne nutzen, all denje-
nigen zu gratulieren, die während der parlamentarischen
Sommerpause beinahe unauffällig vergleichbare runde
Geburtstage hinter sich gebracht haben – angeführt von
unserer Bundeskanzlerin, die nicht ganz so unauffällig,
aber auch ihren 60. Geburtstag in der Sommerpause ge-
feiert hat,
ebenso wie die Kolleginnen und Kollegen Günter Lach,
Dr. Harald Terpe, Dr. Wilhelm Priesmeier, Jürgen
Trittin, Max Straubinger, Norbert Brackmann und
Dr. Axel Troost. Ihren 65. Geburtstag haben die Kolle-
gen Bartholomäus Kalb, Karsten Möring und Volker
Kauder begangen. Der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl hat
seinen 70. und der Kollege Wolfgang Gehrcke seinen
71. Geburtstag erfolgreich hinter sich gebracht. Allen
Jubilaren möchte ich auch auf diesem Wege noch einmal
herzlich alles Gute wünschen und die Gratulation des
Hauses aussprechen.
Wir setzen nun die Haushaltsberatungen – Tagesord-
nungspunkt 1 – fort:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das
Haushaltsjahr 2015
Drucksache 18/2000
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsauschuss
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung
Finanzplan des Bundes 2014 bis 2018
Drucksache 18/2001
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsauschuss
Für die heutige Aussprache haben wir gestern eine
Redezeit von insgesamt neun Stunden beschlossen.
Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich der Bundes-
kanzlerin und des Bundeskanzleramtes, Einzel-
plan 04.
Ich eröffne die Aussprache dazu und erteile zunächst
dem Kollegen Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke
das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie habensich zu einem Haushalt entschlossen, mit dem Sie alles,was wichtig ist, verschieben oder ausfallen lassen. DieKindergelderhöhung wird verschoben, die Abschaffungder kalten Progression wird verschoben – es wird alsoweiterhin so sein, dass zum Beispiel Leute, die 3 Prozentbrutto mehr erhalten, netto nur 0,5 Prozent mehr verdie-nen –, die Investitionen in Bildung, in digitale Netze, inWasserwege, in Brücken und in Straßen fallen aus.Und warum? Nur, um zum ersten Mal einen ausgegli-chenen Haushalt vorzulegen! Für ein sehr zweifelhaftesDenkmal verzichten Sie auf alles, was Zukunft ausmacht.Das kann nicht in Ordnung sein; das wissen Sie selbst.
Lassen Sie mich zunächst etwas zur Außenpolitik sa-gen. Außenminister Kerry hat nun voll Stolz erklärt, dasses eine Koalition der Willigen gegen ISIS unter Ein-schluss der Türkei und Deutschlands gibt.
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4548 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 50. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2014
Dr. Gregor Gysi
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Mich interessiert die Türkei. Bisher war es so, dass dieTürkei potenzielle Kämpfer der terroristischen Söldner-armee ISIS in Richtung Syrien und in Richtung Irak un-behelligt durchgelassen hat. Transporte mit Hilfsgüternwurden gestoppt. Interessanterweise hat die Türkei einenTag nach unserer Debatte vom 1. September dieses Jah-res die Transporte mit Hilfsgütern durchgelassen. SindSie sich wirklich sicher, dass die Türkei ihre Haltung zuISIS grundsätzlich geändert hat? Ich mache da erst ein-mal ein Fragezeichen.
Dann ist die Frage: Wie will sich nun eigentlich dieBundesregierung beteiligen? Sie haben schon Waffen anPeschmerga geliefert. Das war falsch, das bleibt falsch.Dem Irak fehlt vieles, aber keine Waffen. Es gibt vieleMöglichkeiten: Man kann die humanitären Hilfen fürKurdinnen und Kurden, für Jesiden, für Christinnen undChristen und viele andere ausbauen. Man kann eine ira-kische Einheitsregierung unterstützen, damit es keineAusgrenzungen mehr gibt: weder von Sunniten noch vonSchiiten noch von Christinnen und Christen, Jesidenoder anderen. Man kann Gespräche anbahnen. Man kannso vieles tun. Das Einzige, worauf die Regierungkommt, sind Waffenlieferungen. Das ist wirklich absurd;das muss ich ganz klar sagen.
Ich habe noch weitere Fragen: Was ist überhaupt dieKoalition der Willigen? Wann kehren wir zum Völker-recht zurück?
Zuständig ist der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen,der auf der Grundlage der Charta der Vereinten Nationenzu entscheiden hat, nicht irgendwelche Koalitionen derWilligen.
Warum leiten Sie diesbezüglich nichts ein? Ichglaube, Sie leiten deshalb nichts ein, weil das Verhältnisder USA zu Russland besonders schlecht ist. Aber wirwissen doch: Das Ganze geht nur mit, nicht ohne undschon gar nicht gegen Russland. Die internationalen Pro-bleme sind nur mit Russland zu lösen, egal ob ich anISIS denke, ob ich an die Probleme im Iran denke, ob ichan Syrien denke. Wir sind doch auf Russland angewie-sen.
Sie, Herr Kauder, haben hier am 1. September gesagt,dass ISIS mit dem falschen Krieg der USA und andererStaaten gegen den Irak, der 2003 begonnen hat, nichts zutun hat, weil ISIS in Syrien entstanden ist. Das stimmt,da haben Sie recht. Aber ohne den Bürgerkrieg in Syrienwäre ISIS nie entstanden. Ohne den Krieg gegen denIrak wäre ISIS niemals über die Grenze von Syrien inden Irak gekommen. Dort gibt es gar keinen Staat mehr.Es gibt auch keine Kontrolle mehr. Daran ist der Kriegvon 2003 schuld. Deshalb gibt es sehr wohl einen Zu-sammenhang.
Ich sage Ihnen noch etwas. Die PKK und die PYD inSyrien – das hat hier auch der außenpolitische Sprecherder Unionsfraktion eingestanden – schützen inzwischendie Jesiden, die Christinnen und Christen. Wir müssenunsere Politik ändern. Prüfen Sie das PKK-Verbot undheben Sie es auf! Haben Sie endlich die Kraft, ISIS zuverbieten! Es wird höchste Zeit, dass das geschieht.
In der Sendung Panorama wurde Folgendes gezeigt:Bei einer Demonstration waren auf der einen Seite De-monstranten mit PKK-Fahnen zu sehen, und die Polizeigriff sofort ein. Auf der anderen Seite waren Demon-stranten mit ISIS-Fahnen zu sehen, und es passiertenichts. – Da muss sich in unserem Land etwas gründlichändern.
Ich freue mich sehr, dass alle Dachverbände der Mus-lime in Deutschland ISIS scharf verurteilt haben und fürden 19. September dieses Jahres zu einer Großkundge-bung aufrufen.Wir alle beurteilen Assad überwiegend negativ. Vielehaben gegen Assad gekämpft, aber wir haben immer ge-sagt: Wir brauchen diesen Kontakt. Wir brauchen dieMöglichkeiten zu Gesprächen. – Jetzt wird es ganz deut-lich: Wir brauchen Assad auch im Kampf gegen ISIS. Esist also nie klug, übertrieben zu reagieren.Wissen Sie: Ihre ganze Außenpolitik wirkt hilflos,wirr und durcheinander. Das ist viel zu wenig. Dafür istdie Verantwortung Deutschlands zu groß. Ich sage Ihnennoch etwas: Im Kalten Krieg hat der Westen gesiegt.Aber er konnte nicht aufhören, zu siegen. Die alte Ord-nung wurde zerstört, und keine neue friedenschaffendeOrdnung hergestellt.Es gibt eine besondere Verantwortung der USA,Russlands und Chinas, dann erst kommt die EU mitGroßbritannien, Frankreich und Deutschland. DieserVerantwortung werden Sie alle nicht gerecht. Das verun-sichert die Menschen sehr. Das macht sie so unzufrieden.Sie wissen gar nicht, wohin das Ganze läuft.Ich komme zur Ukraine. Endlich gibt es eine Verein-barung über eine Feuerpause, einen Waffenstillstand.Das ist für mich schon ein Durchbruch. Der Donbassbleibt selbstverständlich Bestandteil der Ukraine. Esgeht dann um weitgehende Autonomierechte. Was wirjetzt brauchen – das sage ich Ihnen schon jetzt –, ist einMarshallplan für die Ostukraine. Wir brauchen regionaleWahlen.Es gibt Extremisten auf beiden Seiten. Es gibt die so-genannten Freiwilligenverbände der ukrainischen Ar-mee, die faschistisch strukturiert sind. Aber es gibt auchbei den Separatisten extremistische Kräfte, die den An-schluss des Donbass an Russland fordern und von einemgroßrussischen Reich träumen.Alle Fragen müssen am Verhandlungstisch geklärtwerden.
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Dr. Gregor Gysi
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Wie Finnland sollte die Ukraine nicht zur NATO gehö-ren. Und ich sage Ihnen: Die NATO-Gipfel-Beschlüssesind absolut kontraproduktiv – schnelle Eingreiftruppe,Aufrüstung im Baltikum und in Polen. Der Vertrag zwi-schen der NATO und Russland sieht aber vor, dass einedauerhafte Stationierung von NATO-Streitkräften in Ost-europa verboten ist. Wollen Sie diesen Vertrag verlet-zen? Was sollen die geplanten Änderungen? Russlandwird darauf wiederum mit einer Änderung seiner Mili-tärdoktrin reagieren. Es besteht die Gefahr einer neuenRunde des Rüstungswettlaufs. Das Minsker Abkommenüber die Feuerpause – und zwar unbefristet – muss dochein Anlass zur Deeskalation auch durch NATO und EUsein. Deshalb sind auch die neuen Sanktionsbeschlüssefalsch; denn sie führen zu einer Eskalation, obwohl dasGegenteil notwendig ist.
Ich sage Ihnen noch etwas: Die Sanktionen und ihreAntworten schaden – völlig unnötig – der Wirtschaft undder Bevölkerung in Deutschland – übrigens insbeson-dere in den neuen Bundesländern. Denn 80 Prozent derExporte von Deutschland nach Russland kommen ausden neuen Bundesländern. Da wird das gravierende Fol-gen haben.Ich sagen Ihnen: Eine vernünftige Politik wäre, dieSanktionen unverzüglich aufzuheben.
Und was macht die NATO? Sie führt acht Manöver inder Ukraine durch – aktuell ein Manöver im SchwarzenMeer, zusammen mit den USA, der Türkei, Spanien undder Ukraine. Dann gibt es Northern Coast, ein Manöver inder Ostsee, an dem auch die Bundeswehr mit 1 000 Solda-ten teilnimmt. Was soll diese Provokation Russlands?Die NATO und vor allem die USA fordern, 2 Prozentder Wirtschaftsleistung in den Verteidigungsetat zu stel-len – 2 Prozent. Deutschland ist gegenwärtig bei 1,3 Pro-zent. Wenn wir diesen Wunsch erfüllten, müssten wirrund 24 Milliarden Euro mehr für Rüstung ausgeben.Frau von der Leyen, Sie – das habe ich doch richtigverstanden? – wollen nicht so viel ausgeben, aber schonmehr. Und die Kanzlerin habe ich so verstanden, dass sieeigentlich nicht mehr ausgeben will. Ich hoffe, Sie ver-ständigen sich darauf, weniger auszugeben – auf gar kei-nen Fall mehr! Das will ich auch deutlich sagen.
Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: Nur mit denAtomwaffen der acht Atommächte kann die Menschheit1 000-mal ausgelöscht werden. Reicht das nicht? Wassoll zusätzliche Aufrüstung? Müssen wir die Menschheit1 500-mal auslöschen können? Wo soll das hinführen?
Ich sage Ihnen ganz klar: Die USA, die NATO undauch Deutschland sind hoch gerüstet. Wir brauchenkeine Aufrüstung mehr.
Mit Aufrüstung erreicht man auch nicht mehr Frieden –im Gegenteil. Und ich sage jetzt auch deutlich: Mit Auf-rüstungsreden und Aufrüstungsentscheidungen erreichenwir nichts. Was wir brauchen, sind Abrüstungsreden undAbrüstungsentscheidungen.
Die Bundesregierung – und damit auch EU undNATO – werden immer abhängiger von der US-Regie-rung. Warum können Sie diesbezüglich eigentlich nichtsouveräner, nicht eigenständiger auftreten? Das geht mirso auf die Nerven; das muss ich Ihnen ehrlich sagen. DieNSA hört unsere gesamte Bevölkerung ab, betreibt Wirt-schaftsspionage, aber Sie haben Angst, irgendetwasWirksames dagegen zu unternehmen.Ich nenne Ihnen nur ein Beispiel: In Wiesbaden wirdgerade ein hohes Gebäude für die NSA gebaut. Warumhaben Sie denn nicht den Mumm, der US-Regierung zusagen: Unter diesen Bedingungen, ohne No-Spy-Ab-kommen, ohne ein Abkommen, das gegenseitige Spio-nage ausschließt, kann die NSA niemals in dieses Ge-bäude einziehen. Die Volkssolidarität, Attac oder andereLeute, die etwas Vernünftiges machen, können da gerneeinziehen, aber nicht die NSA.
Zeigen Sie mal etwas Mumm!Ich sage Ihnen auch: Dieses Duckmäusertum, das Siean den Tag legen, führt nicht zu Freundschaft, sondernzu Verachtung. Wenn man Freundschaft will, muss mansich als Erstes Respekt erarbeiten. Und mit solchen Ent-scheidungen erarbeitet man sich Respekt, den wir drin-gend benötigen.
Nun höre ich aber auch, dass der BND die Türkei ab-hört. Aber ich habe das doch richtig verstanden: DieUSA, Deutschland und die Türkei – wenn auch gegenunseren Willen – führten zusammen Krieg in Jugosla-wien, dann in Afghanistan, und gleichzeitig behandelnsie sich wie Kriegsgegner. Das ist ja ein dolles Bündnis,kann ich nur sagen. Riesenfragezeichen!Ein weiterer Punkt sind die Abkommen. Eines liegtschon vor – das CETA-Abkommen mit Kanada –; dasandere, das TTIP-Abkommen, ist geplant. Ich habe dazuschon einiges gesagt. Was uns am meisten stört und be-fremdet, ist die Investitionsschutzklausel. Ich kommenoch darauf zurück.Die Bundesregierung sagt, sie sei auch gegen die In-vestitionsschutzklausel. Sie ist aber in dem Abkommenvorgesehen. Ich bin sehr gespannt, was Sie diesbezüg-lich vorhaben. Zu hören ist schon, dass die Vorteile sogroß sind, dass man vielleicht doch damit leben kann,was eine Katastrophe wäre, sowohl im Verhältnis zu Ka-nada als auch zu den USA.Was bedeutet denn eine Investitionsschutzklausel?Wenn wir in Berlin einmal eine vernünftigere Regierung
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4550 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 50. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2014
Dr. Gregor Gysi
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bekämen – das ist schließlich möglich, zum Beispiel mitLinken –
– es freut mich, dass Sie sich jetzt schon darauf freuen –,
und die beschlösse plötzlich, dass es mehr Mitbestim-mung gibt oder dass Konzerne etwas mehr Steuern zah-len müssen, dann könnten die kanadischen und amerika-nischen Unternehmen sagen: „Das geht nicht; es verstößtgegen das Verbot von Investitionshemmnissen;
denn wir haben unseren Sitz hier unter anderen Voraus-setzungen gegründet“, und Schadenersatz fordern.Das ist eine Katastrophe, weil Sie jede vernünftigerePolitik ausschließen. Deshalb darf das niemals in Krafttreten.
Es gibt einen Zeugen. Dieser Zeuge ist kein Linker,sondern der Ministerpräsident Australiens. Er hat gesagt,er würde das Abkommen nie wieder unterschreiben, undzwar aus folgendem Grund: In Australien wurde, nach-dem das Abkommen unterschrieben wurde, angeordnet,dass auf Zigarettenschachteln der Hinweis erfolgenmuss, dass Zigaretten ungesund sind. Es war ein biss-chen spät, aber irgendwann hat auch Australien das an-geordnet. Der Punkt ist, dass das Unternehmen PhilipMorris, das dort schon seinen Sitz hatte, sagte: „Das gehtnicht; das verstößt gegen die Investitionsschutzklausel“,und Schadenersatz in Milliardenhöhe forderte.Wollen Sie Politik wirklich unmöglich machen? Dasgeht nicht. Stoppen Sie das Ganze so schnell wie mög-lich!
Außerdem erleben wir eine Entstaatlichung, und zwarin dreifacher Hinsicht: erstens durch CETA und TTIP.Denn es sollen keine ordentlichen Gerichte zuständigsein. Es gibt dann nur ein Schiedsgericht, bestehend ausdrei Advokaten, die über Milliardenbeträge entscheidensollen. Der ordentliche Gerichtsweg ist ausgeschlossen.Das ist eine Entstaatlichung. Es verstößt auch gegen dieRechtsstaatlichkeit. Das ist nicht hinnehmbar.Die zweite Entstaatlichung, die noch viel schlimmerist, erleben wir in Somalia, Irak, Libyen und Afghanis-tan. Nirgendwo funktioniert der Staat noch. In Ägypten,Syrien und in der Ukraine besteht die Gefahr der Zerstö-rung des Staates.Das Dritte ist eine Entstaatlichung in unserer Gesell-schaft. Darauf möchte ich Sie gerne hinweisen, weil ichfinde, dass wir sehr viel genauer darauf achten müssen.Es gibt ein oberstes Zehntel in unserer Gesellschaft, dassich nicht mehr für den Staat interessiert. Diese Men-schen gehen zwar formal wählen, aber mehr interessiertsie nicht, weil sie alles, ob Firmensitz oder Wohnsitz, da-nach begründen, wie die Rechtsvorschriften in welchemTeil der Welt aussehen, wo welche Steuerregeln und Ar-beitsschutzregeln herrschen und welche Löhne kassiertwerden etc. Sie haben sich vom Staat innerlich völligverabschiedet.
Zu meinem großen Bedauern ist es so, dass wir zwarTeile des unteren Viertels erreichen – andere auch –,aber bestimmte Teile des unteren Viertels erreichen wirgar nicht mehr. Diese Menschen haben sich völlig vomStaat verabschiedet und gehen auch nicht mehr wählen.Was glauben Sie, wie oft ich versuche, mit ihnen zu re-den. Ich stelle eine Entwicklung fest, die mir große Sor-gen macht, weil sie für die Demokratie ungeheuer schäd-lich ist.Wir müssen erreichen, dass die gesamte Gesellschaftwieder am gesellschaftlichen Leben teilnimmt. Davonsind wir weit entfernt.
Jetzt werde ich auch etwas zu den Ursachen sagen,zum Beispiel unsere Vermögensentwicklung. Es gibtZahlen, die einen umhauen. Die EU-Millionäre, von de-nen es eine reichliche Anzahl gibt, haben ein Geldver-mögen – es geht nur um das Geld, ohne Grundstückeund Unternehmen – von 17 Billionen Euro. Die gesam-ten Staatsschulden der EU belaufen sich auf 11 BillionenEuro. Stellen Sie sich vor, sie würden uns das ganze Geldüberweisen. Dann könnten wir alle Schulden bezahlenund ihnen sogar noch 6 Billionen zurücküberweisen.Dann wären sie immer noch nicht arm. Aber so weit gehtnoch nicht einmal die Linke.
Wir sagen aber: Wir brauchen endlich eine Millionär-steuer in der Europäischen Union.
Aber Sie weigern sich, ein Stück mehr Gerechtigkeitherzustellen.Gehen wir einmal zu Deutschland über. In Deutsch-land haben wir ein Geldvermögen – passen Sie jetzt auf,Herr Kauder! Sie müssen sich die Zahlen merken – von10 Billionen Euro. Jetzt gibt es eine neue Studie derEuropäischen Zentralbank, die besagt: 1 Prozent unsererBevölkerung – 1 Prozent, ich bitte Sie! – besitzt 32 Pro-zent davon. Das sind weit über 3,5 Billionen Euro.50 Prozent – die in finanzieller Hinsicht unteren 50 Pro-zent – unserer Haushalte und damit die Hälfte unsererBevölkerung besitzt 1 Prozent davon. Nun sage ich, wasfür mich am erschreckendsten ist. Diese Hälfte besaß1998 4 Prozent. Meine Damen und Herren von Unionund Sozialdemokratie, aus 4 Prozent werden bei unsnicht Schritt für Schritt 5 und dann 6 Prozent, sondernaus 4 Prozent wird 1 Prozent. Werden es in fünf Jahren
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 50. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2014 4551
Dr. Gregor Gysi
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0,5 Prozent sein? Die Schere geht immer weiter aus-einander. Das ist unerträglich.
Die schlimmste Umverteilung von unten nach obenhatten wir durch die Agenda 2010 in Verantwortung vonSPD und Grünen. Seit 2000 haben wir – das ist dieselbeEntwicklung – einen Anstieg der Unternehmens- und Ver-mögenseinkommen, Herr Kauder, um 60 Prozent zu ver-zeichnen. In derselben Zeit sind die Reallöhne um3,7 Prozent gesunken. Erklären Sie das den Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmern, die das ganze Vermögengeschaffen haben! Ich jedenfalls finde diese Entwick-lung unerträglich. Wir müssen die Umverteilung von un-ten nach oben stoppen und eine von oben nach unteneinleiten, um ein Stück Gerechtigkeit in unserer Gesell-schaft zu erreichen.
Die Bundeskanzlerin und ihr Vizekanzler beklagenden Investitionsstau seit zehn Jahren. Einen solchen Staugibt es tatsächlich; das stimmt. Allerdings, Frau Bundes-kanzlerin, wer regiert denn seit zehn Jahren? Ich frageSie das so ganz nebenbei. Ich habe vorhin gesagt, dass essich um einen Verzicht auf Zukunft handelt, wenn dienotwendigen Investitionen ausbleiben. Aber schauen wiruns das einmal genauer an: 1991 investierten die Unter-nehmen noch 40 Prozent ihrer Gewinne, 2013 nur noch9 Prozent. Warum? Wir brauchen sehr dringend Investi-tionen. Das wichtigste Gebiet ist die Bildung. Gesternwurde ein neuer OECD-Bericht veröffentlicht. Er be-sagt, dass in keinem anderen Industrieland der Bildungs-erfolg von Kindern so abhängig von der sozialen Her-kunft ist wie in Deutschland. Auch das ist ein Skandal.Ich möchte Chancengleichheit für alle Kinder. Deshalbsage ich Ihnen: Wir brauchen endlich Kindertagesstättenfür Kinder vom nullten bis zum sechsten Lebensjahr inganz Deutschland, die ganztägig geöffnet sind, und zwarin ausreichender Anzahl, mit kleinen Kindergruppen,mit gut ausgebildeten Erzieherinnen und Erziehern, dieendlich anständig verdienen müssen, und das allesselbstverständlich gebührenfrei einschließlich eines voll-wertigen, gesunden Mittagessens. Das müssen wir inDeutschland erreichen.
Ich sage Ihnen zu den Schulen Folgendes: Ich bin einAnhänger der Gemeinschaftsschule. Dazu werde ichjetzt nicht viel sagen, nur so viel: Sie sollten sich einmaldie Studie zum Vergleich zwischen Gemeinschaftsschu-len und getrennten Schulen anschauen. Wissen Sie, wasdabei herausgekommen ist?
– Ich werde Ihnen sagen, was auch in Bayern dabei he-rausgekommen ist. – In den Gemeinschaftsschulen sindnicht nur die schlechteren Schülerinnen und Schüler bes-ser als die in getrennten Schulen, sondern auch die bes-ten und besseren Schülerinnen und Schüler sind besser.Sie haben es nicht begriffen. Nur in Gemeinschaftsschu-len lernen sie sozial. Wenn Sie die Schülerinnen undSchüler isolieren, dann bringen Sie ihnen nichts bei.
Abgesehen davon möchte ich, dass alle Schülerinnenund Schüler ein vollwertiges, gesundes Mittagessen ge-bührenfrei bekommen. Ich möchte Schülerinnen undSchüler nicht in der Suppenküche sehen.
Kommen Sie mir nicht mit dem Argument, dass das zuviel Geld kostet. Für jede Bank haben Sie Milliarden pa-rat. Investieren Sie das Geld endlich in die Bildung! Daswäre wirklich wichtig.
Des Weiteren haben wir ein Problem bei der Nach-frage. Es tut mir leid, aber das kann ich Ihnen nicht er-sparen. Die Reallöhne sind gesunken. Das Rentenniveauist gesunken. Die prekäre Beschäftigung hat enorm zu-genommen. Deutschland hat in Europa den größten Nie-driglohnsektor. Er ist größer als der in Griechenland.Denken Sie einmal darüber nach, um welche Zahlen essich dabei handelt! Nun beschwert sich die belgische Re-gierung bei der Europäischen Union über Deutschlandwegen Lohndumping, weil zum Beispiel die Arbeit aufSchlachthöfen in Deutschland so schlecht bezahlt wird,dass die belgischen Unternehmen niederkonkurriert wer-den. Ich finde, dass wir auch darüber nachdenken müs-sen.Herr Gabriel, es tut mir leid, aber Sie haben gesagt,dass kein Geld für Investitionen da ist – ich habe Ihnenvorhin gesagt, dass Sie damit auf Zukunft verzichten –,darauf kann ich nur erwidern: Die Schuldenbremse wareben Unsinn. Die erste war okay. Aber die neue Schul-denbremse, die Sie erfunden und im Grundgesetz veran-kert haben, geht völlig daneben und ist völlig überflüs-sig.
Ich sage Ihnen aber auch ganz klar: Wer Investitionenund soziale Gerechtigkeit will, muss Steuergerechtigkeitherstellen. Wer behauptet, dass er in der Lage sei, sozialeGerechtigkeit herzustellen und Investitionen zu ermögli-chen, ohne Steuergerechtigkeit herzustellen, der sagtnicht die Wahrheit; das wissen Sie ganz genau. Das gehtnicht. Aber hier haben Sie null Mut.Was passiert, wenn wir wirklich den von Ihnen, HerrGabriel, vorgeschlagenen Weg gehen und die Investitio-nen privatisieren, wenn also die Unternehmen das Ganzeübernehmen? Wollen Sie wirklich die öffentliche Da-seinsvorsorge noch stärker privatisieren? Die Politik ver-liert dann die Zuständigkeit für Energie- und Wasser-preise. Wir haben dann auch nichts mehr mit den Preisenfür Mobilität zu tun. Wir sind dann nicht mehr für Woh-
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nungen, Krankenhäuser und Bildung zuständig. WollenSie das alles ernsthaft privatisieren? Das kann doch nichtIhr Ernst sein, wirklich nicht.
Außerdem: Wenn öffentliche Investitionen privatfinanziert werden, wollen die Privaten auch eine Renditehaben. Die wollen etwas daran verdienen. Die Gebührenmüssen dann alle Steuerzahlerinnen und Steuerzahler,alle Bürgerinnen und Bürger bezahlen. Auch das ist un-erträglich.
Dann sage ich Ihnen noch etwas. Ich muss Sie fragen,Herr Schäuble: Stimmt es, dass Sie ernsthaft darübernachdenken, die Bundesstraßen zu verkaufen? Alsowirklich, lassen Sie den ganzen Quatsch mit der Maut.Das bringt nichts, liebe CSU. Packen Sie die einfachweg. Das bringt gar nichts.
Aber einmal abgesehen davon: Wenn Sie wirklich dieBundesstraßen verkaufen, dann sage ich Ihnen, was pas-sieren wird. Dann werden die Länder anfangen, die Län-derstraßen zu verkaufen, dann werden die Kommunenanfangen, die Kommunalstraßen zu verkaufen. Ich weißgar nicht, wie viele Arten von Maut wir dann überall be-zahlen müssen. Das lasse ich alles weg. Aber eines sageich Ihnen, Herr Schäuble: Wenn das je passieren sollte,dann muss ich Ihnen ein bisschen drohen. Dann werdeich mit allen Mitteln versuchen, die Straße zu kaufen, inder Sie wohnen.
Dann wird es für Sie sehr teuer, wenn Sie nach Hausewollen. Außerdem benenne ich dann die Straße um. Eswird Ihnen am peinlichsten sein, immer schreiben zumüssen, dass Sie Zum Gysi Nummer 1 wohnen. Aberdas mache ich dann. Das ist garantiert.
Im Übrigen hat der Internationale Währungsfonds– wie Sie wissen, ist das keine linke Organisation – fest-gestellt, dass wir mit etwas mehr Steuergerechtigkeit80 Milliarden Euro pro Jahr mehr einnehmen könnten.Dann hätten wir das Geld für Bildung und Investitionen,das wir dringend benötigen.
Die Europäische Zentralbank hat nun den Leitzins aufden niedrigsten Stand in der Geschichte gesetzt: auf0,05 Prozent. Ich will Ihnen sagen, was das bedeutet.Die Sparerinnen und Sparer in Deutschland, auch diekleinen und mittleren, bekommen so gut wie gar keineZinsen. Da wir eine Inflationsrate haben, das heißt alleDienstleistungen und Waren teurer werden, man aberkeine Zinsen bekommt, verlieren die Sparguthaben Jahrfür Jahr an Wert. Das heißt, die Sparerinnen und Sparerbezahlen die ganze Krise. Das kommt dabei heraus. Das-selbe passiert mit den Lebensversicherungen, weil auchdie an Wert verlieren. Bei den Lebensversicherungennehme ich Ihnen eine Sache schon übel, nämlich dassSie die Leistungen aus Lebensversicherungen hier imBundestag gekürzt haben,
und das am Tag des Viertelfinalspiels Deutschland gegenFrankreich bei der Fußballweltmeisterschaft, und zwarin der Hoffnung, dass es keiner mitbekommt. Ich findedas ziemlich übel; das muss ich Ihnen sagen.
Außerdem habe ich noch eine Frage: Wenn wir aufSparguthaben so niedrige Zinsen bekommen, warumgibt es dann eigentlich noch so hohe Zinsen bei Dispo-krediten und anderen Krediten? Wenn schon niedrigeZinsen, dann müssten die Banken und Sparkassen auchdiesbezüglich ihre Politik ändern.
Aber ich sage Ihnen auch: Sie werden mit privaten In-vestitionen in die Wirtschaft nicht wirklich weiterkom-men. Nehmen wir den Süden Europas: 25 Prozent Ar-beitslosigkeit, 50 Prozent Jugendarbeitslosigkeit, zumBeispiel in Griechenland und in Spanien. Wer will da in-vestieren? Wer soll denn bei sinkenden Löhnen, Rentenund Sozialleistungen noch einkaufen können? Daran,dass selbst die Deutsche Bundesbank für Deutschlandhöhere Löhne fordert, weil sie sieht, dass die Nachfragepermanent zurückgeht, sehen Sie, welchen Stand wirdiesbezüglich erreicht haben.Was mich auch stört, ist, dass die EZB wieder dieSchrottpapiere von den Banken aufkaufen will. Das istdoch der Gipfel der Frechheit. Die Steuerzahlerinnenund Steuerzahler haften wie immer für alle Banken. Ichmöchte, dass endlich Banken für Banken haften.
Kein Industrieunternehmen, kein Bäckermeister hat dieChance, dass Sie die Schulden übernehmen, aber bei je-der Bank übernehmen wir die Schulden. Das geht nichtmehr, das muss endlich beendet werden.
Die ganze falsche Bankenrettung in der Euro-Krise warein Aufbauprogramm für die AfD. Wenn wir das been-den wollen, müssen Sie auch diesbezüglich die Politikändern.Liebe Frau Bundeskanzlerin, wir hatten einen kleinenDisput hier beim letzten Haushalt, und zwar über dieMütterrente. Das Problem muss ich auflösen. Sie habengesagt, dass wir schon jetzt einen hohen staatlichen Zu-schuss an die gesetzliche Rentenversicherung zahlen undder 2018 sogar erhöht werden soll. Das mag sein, aberdas ändert an folgendem Umstand nichts: Jetzt gibt eseine Erhöhung der Mütterrente. Diese Erhöhung kostet
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Geld, und jetzt erhöhen wir nicht den staatlichen Zu-schuss. Also muss diese Erhöhung, weil wir den staatli-chen Zuschuss nicht erhöhen, allein von den Beitrags-zahlerinnen und Beitragszahlern bezahlt werden.
Das heißt, die Lidl-Kassiererin und jedes Unternehmenbezahlen das,
aber Frau Merkel, Herr Gabriel, Herr Kauder und HerrGysi nicht. Das ist und bleibt grob ungerecht.
Sie hätten ja einen anderen Weg gehen können. Siehätten ja sagen können: Die Erhöhung der Mütterrentekostet soundso viel Geld, und in diesem Umfang erhö-hen wir den Zuschuss. – Dann hätten wir es aus Steuer-mitteln finanziert. Da Frau Merkel, Herr Gabriel, HerrKauder und Herr Gysi mehr Steuern als die Lidl-Kassie-rerin zahlen, wäre das gerecht gewesen. So bezahlt sie esallein. Ich kann es ihr nicht erklären, und Sie können esihr auch nicht erklären. Das ist die Wahrheit.
Jetzt sage ich Ihnen auch etwas zur deutschen Einheit.Ganz aktuell ist in der Pflege ein Mindestlohn vereinbartworden: Ost 8,65 Euro, West 9,40 Euro – und das24 Jahre nach der deutschen Einheit. Ich bitte Sie! Werdie deutsche Einheit will, muss endlich für gleicheLöhne bei gleicher Arbeitszeit in Ost und West und füreine gleiche Rente bei gleicher Lebensleistung und füreine gleiche Mütterrente in Ost und West streiten.
Wer das nicht macht, der ist eben nicht für die deutscheEinheit.Ich sage Ihnen, Herr Kauder, auch wenn es Sie ärgert:Inzwischen ist die Linke die Partei der deutschen Ein-heit. Sie verfolgen diese Ziele nicht.
– Ich wusste, dass ich Ihre Zustimmung bekomme.Nun muss ich noch ein Thema anschneiden: dasThema „Überwachung der Linken“. Unser Spitzenkan-didat in Thüringen, Bodo Ramelow, hat ja einen großenErfolg vor dem Bundesverfassungsgericht erreicht;schon deshalb hat er sich vieles verdient. Aber einmalabgesehen davon: Bundesinnenminister de Maizière hatdaraufhin entschieden, dass die Beobachtung aller Mit-glieder unserer Fraktion durch das Bundesamt für Ver-fassungsschutz eingestellt wird.
Das begrüße ich. Die Gerichte haben entschieden, dassalle Unterlagen über uns zu vernichten sind. Auch dasbegrüße ich. Erst die überflüssige Arbeit, das alles her-zustellen, und nun haben sie die Arbeit, das alles zu ver-nichten. Aber das sei ihnen auch gegönnt. Wir habendamit der Bundesrepublik Deutschland zu mehr Rechts-staatlichkeit und Demokratie verholfen.
Nun habe ich 16 Bundesländer angeschrieben – meineHerren und Damen von der CSU, hören Sie gut zu – undgefragt, ob sie weiterhin die Bundestagsabgeordnetender Linken beobachten. 15 Bundesländer haben „Wir ha-ben das noch nie gemacht“ oder „Wir haben das schonlängst oder jetzt eingestellt“ geantwortet. Nur ein Land,Bayern, hat geantwortet, dass es bei der Beobachtungbleiben soll. Also, wir sehen uns vor Gericht wieder. Wirwerden auch Bayern zu Rechtsstaatlichkeit und Demo-kratie verhelfen.
Ich sage Ihnen: Man kann ja in Bayern als Linkernicht im öffentlichen Dienst arbeiten. Wir wollen auchdie Interessen des öffentlichen Dienstes vertreten. Wiesollen wir das eigentlich machen, abgesehen davon, dassuns dadurch natürlich auch Gelder verloren gehen? Jetzthabe ich mir dazu im Internet Informationen beschafft.Also, hören Sie einmal zu: Da wird gefragt, wenn mansich beim öffentlichen Dienst in Bayern bewirbt, ob manMitglied des Verbandes der Kleingärtner, Siedler undKleintierzüchter der DDR – so einer linksextremisti-schen Massenorganisation – war.
Wer in der DDR Äpfel geerntet oder Kaninchen gezüch-tet hat, soll also keine Chance im öffentlichen Dienst inBayern haben können. Auch Schwachsinn muss Gren-zen kennen.
Lassen Sie mich noch etwas sagen, was mir wichtigist: Sie alle behaupten doch, Parteien der Mitte zu sein.Aber dass die mittleren Einkommen in unserer Gesell-schaft aufgrund des Steuerbauchs alles bezahlen, dasnehmen Sie nicht zur Kenntnis. Es gibt nur eine Partei,die Linke, die will, dass der Steuerbauch beseitigt wird.Wir vertreten hier die Mitte, nicht Sie.
Das ist die Wahrheit. Wir vertreten die unteren Einkom-men, aber auch die mittleren.Zum Schluss sage ich Ihnen eins: Ich will nicht recht-haberisch sein.
– Gut, dann sage ich: Ich will nicht mehr rechthaberischsein. Das können Sie akzeptieren. Passen Sie auf! Ich
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4554 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 50. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2014
Dr. Gregor Gysi
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habe mich in meinem Leben auch geirrt; das bestreite ichgar nicht.
Wer hatte bei Afghanistan recht? Wir oder die ande-ren Fraktionen? Inzwischen wissen Sie alle, dass wirrecht hatten. Dieser Krieg war falsch. Wer hatte bei derPraxisgebühr recht? Sie, die das für eine geniale Erfin-dung hielten, oder wir? Inzwischen ist sie ja abgeschafft.
Wer hatte bei der Beobachtung durch das Bundesamt fürVerfassungsschutz recht? Sie oder wir? Wir hatten recht,wie das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat. Undwer hatte beim Mindestlohn recht? Sie haben mich allebeschimpft. Inzwischen haben Sie ihn eingeführt.
– Na, aber sicher, in den 1990er-Jahren. Das kann ich Ih-nen nachweisen.
Ich sage Ihnen: Sie werden noch einsehen, dass auchdie Rente ab 67 ein Grundfehler ist.
Herr Kollege.
Deshalb merken Sie sich doch bitte, liebe Union,
liebe SPD, liebe Grüne, dass Sie sich viel häufiger und
schneller, auch in Ihrem Interesse, nach den Linken rich-
ten sollten.
Danke schön.
Das Wort hat nun die Bundeskanzlerin, Frau
Dr. Angela Merkel.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir beraten heute in erster Lesung einen ganzbesonderen Haushalt. Mit dem Haushalt 2015 wollenwir zum ersten Mal seit 1969 keine neuen Schuldenmehr aufnehmen. Das, was wir seit Jahren angestrebt ha-ben, ist nun Realität. Der Bundesregierung ist es gelun-gen, einen generationengerechten Haushaltsentwurf vor-zulegen, der sozial ist, der in die Zukunft des Landesinvestiert und der damit wirtschaftliches Wachstum undBeschäftigung fördert. Wir können stolz sein, dass wirgemeinsam dieses Ziel erreicht haben.
Auch für die kommenden Jahre, meine Damen undHerren, sieht der Finanzplan keine neuen Schulden desBundes mehr vor. Das Wirtschaften auf Pump soll end-lich ein Ende haben, und das ist – darin liegt der tiefereSinn dieses Haushalts – der beste Beitrag zur Generatio-nengerechtigkeit, den wir für die Jungen, für die Kinderund Enkel, leisten können. Das schaffen wir heute ange-sichts einer sich anbahnenden großen demografischenVeränderung. Deshalb ist das richtig.
Damit wir unsere Ziele erreichen, wird strikte Ausga-bendisziplin erforderlich sein. Das, was für Deutschlandgilt, gilt unverändert auch für Europa. Wir wissen, dassdie Situation hier nach wie vor fragil ist. Wir habenwichtige Erfolge mit der Reformpolitik in Europa er-zielt. Wir sehen an einer Reihe von Ländern wie zumBeispiel Spanien, dass Reformen Wirkung zeigen, dasssie die Dynamik stärken, aber wir sollten sehr ernst neh-men, dass die Kommission mit Recht jetzt darauf hinge-wiesen hat, dass das Ablassen vom Reformkurs dasgrößte Risiko für die weitere Erholung ist. Deshalb ist esrichtig, dass die Kommission im Rahmen des sogenann-ten Europäischen Semesters den Druck mit Blick auf so-lide Haushalte und auf Reformen aufrechterhält. DieBundesregierung unterstützt die Kommission in diesemZiel.
Wolfgang Schäuble hat es gestern gesagt; ich möchtees wiederholen: Das Einhalten der von uns eingegange-nen Verpflichtungen in Europa, besonders in der Euro-Zone, muss anders als in der Vergangenheit endlich zumMarkenzeichen der Euro-Zone werden. Das schafft Ver-trauen, und das wird uns dann von den Betroffenen auchzurückgezahlt werden, meine Damen und Herren.Wir dürfen nicht die Augen davor verschließen, dassdie Arbeitslosigkeit weiterhin sehr hoch ist, gerade dieArbeitslosigkeit unter jungen Menschen. Deshalb bleibtdie Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit eine zentraleAufgabe. Am 8. Oktober wird die italienische Ratspräsi-dentschaft in Italien einen Gipfel der Staats- und Regie-rungschefs abhalten, auf dem wir uns noch einmal damitbeschäftigen: Wie sind wir vorangekommen? WelcheHemmnisse gibt es? Es ist kein gutes Zeichen, dass dasSonderprogramm für die Bekämpfung der Jugendar-beitslosigkeit bis jetzt seitens der betroffenen europäi-schen Staaten so wenig in Anspruch genommen wird.Wir müssen uns fragen: Brauchen wir mehr Flexibilitätin der Ausgestaltung? Ist das notwendig? Das Wichtigsteist, dass das Geld zu den jungen Menschen kommt unddass daraus Arbeitsplätze entstehen.Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen undKollegen, solides Haushalten ist kein Selbstzweck, son-dern es ist die Voraussetzung für politische Handlungs-möglichkeiten in der Zukunft.Erstens für eine aktive Begleitung des digitalen Wan-dels. Der digitale Wandel ist zentrale Gestaltungsauf-gabe für die Wirtschaft, die Wissenschaft, aber ebenauch – das ist unser Part – für die Politik. Wie sichDeutschland und wie sich die Europäische Union in derzweiten Hälfte dieses Jahrzehnts hier weltweit positio-nieren, das wird über unsere Wettbewerbsfähigkeit und
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damit auch über unseren zukünftigen Wohlstand ent-scheiden.Das Bundeswirtschaftsministerium, das Innenminis-terium und das Ministerium für digitale Infrastruktur ha-ben eine digitale Agenda erarbeitet, die am 20. Augustim Kabinett beschlossen wurde. Sie ist ein erster Schritt,um die technische Revolution, die sich durch die Digita-lisierung in nahezu allen Lebensbereichen ergibt, aktivzu begleiten und politisch mitzugestalten.
Wir setzen dabei als Bundesregierung drei Schwer-punkte: Impulse für weiteres Wachstum und Beschäfti-gung – die Informations- und Technologiebranche istentscheidender Innovations- und Wachstumsmotor –,Zugang und Teilhabe durch leistungsstarke Netze – un-ser Land braucht flächendeckende Breitbandinfrastruk-tur – und Vertrauen und Sicherheit im Internet; das reichtvon der Datensicherheit für Privatpersonen und Unter-nehmen bis zum Schutz unserer kritischen Infrastruktur.Der Kabinettsbeschluss vom 20. August umreißt denHandlungsrahmen. Die gemeinsame Umsetzung erfolgtim Dialog mit den relevanten Gruppen aus Wirtschaft,Wissenschaft und Zivilgesellschaft. Aber es wird auchetliche Punkte geben, bei denen die Politik nach diesemDialog auch kritische Entscheidungen fällen muss undfällen wird.Nach dem Kabinettsbeschluss am 20. August ist dernächste Schritt der IT-Gipfel am 21. Oktober in Ham-burg. Er wird die zentrale Plattform sein und wird auchdie Handlungsfelder der digitalen Agenda widerspie-geln. Mit den drei federführenden Bundesministern istverabredet, dass bis dahin erste wesentliche Punkte vor-angekommen sind, zum Beispiel beim Thema Netzneu-tralität oder beim konkreten Zeitplan für die Versteige-rung der 700-Megahertz-Frequenzen, die sehr wichtigdafür sind, dass wir den Ausbau der Netze voranbringen.Wir müssen verstehen, dass die Digitalisierung nichtnur schnelles Internet, IT-Sicherheit oder Innovationenauf dem Feld der Telekommunikation bedeutet, sonderndass es sich dabei um eine industrielle Revolution han-delt, diesmal nicht so, wie wir sie aus der Geschichtekennen, mit rauchenden Schloten von Fabriken oder Ma-schinenlärm, sondern in einer völlig anderen Art undWeise, aber mit ebenso faszinierenden Veränderungen.Das Schlagwort ist „Industrie 4.0“. Was heißt das? Eswird mehr und mehr Produktionsabläufe geben, die sichselbst organisieren können, wo die Maschinen miteinan-der kommunizieren. Das hat natürlich wesentliche Aus-wirkungen auf die Arbeitswelt, über die wir im Übrigenmit der Wirtschaft und den Gewerkschaften gerade vorwenigen Tagen in Meseberg gesprochen haben. Es wer-den durch kleine Softwareanwendungen ganze Ge-schäftsmodelle und Wertschöpfungsketten auf den Kopfgestellt, und Dienstleistungen und Produktionsprozessewerden sich immer weiter annähern und ineinandergrei-fen. Der Computer als Gerät, wie er uns heute bekanntist, wird immer mehr in den Alltagsgegenständen ver-schwinden und aufgehen. Das ist das Internet der Dinge,von dem so viel die Rede ist. Wir sind also in einer Ent-wicklung, in der Internetunternehmer, App-Entwicklerund alle übrigen Unternehmer auf dem Feld der digitalenDienstleistungen zu einem neuen Mittelstand werden,und der Mittelstand war ja immer das Rückgrat Deutsch-lands. Deshalb geht es darum, dass wir diesen Teil desMittelstandes dabei begleiten, damit er gute Entwick-lungschancen hat. Das geschieht einmal durch OpenInnovation, wie es heutzutage so schön heißt, also durchden Zugang zu den notwendigen Quellen. Es geht fernerdarum, dass wir junge Unternehmer, ganz besondersdurch den Wirtschaftsminister, fördern, bessere Finan-zierungsbedingungen entwickeln. So werden wir zumBeispiel den INVEST-Zuschuss für Wagniskapital vonder Ertragsteuer befreien. Schließlich arbeiten wir anweiteren Möglichkeiten, wie wir gerade solchen Start-ups gute Bedingungen in Deutschland geben können.
Eine gleichmäßige Entwicklung von Stadt und Landwird in Zukunft nur möglich sein – wir dürfen nicht ver-gessen, dass etwa die Hälfte der Bevölkerung im ländli-chen Raum lebt –, wenn beide gleichermaßen Zugangzum schnellen Internet haben. Es geht hier nicht nur umTeilhabe an den wirtschaftlichen Möglichkeiten; es gehtum Teilhabe an Bildung und vielen anderen Dingen, umgleichwertige Lebensbedingungen im weiteren Sinn.Deshalb konkretisieren wir jetzt Schritt für Schritt unserZiel, den Breitbandhochgeschwindigkeitsausbau voran-zubringen, sodass das Ziel, 2018 eine flächendeckendeBreitbandversorgung mit Geschwindigkeiten von min-destens 50 Megabit pro Sekunde, erreicht werden kann.Wir wollen die Dinge voranbringen. Deshalb hatBundesminister Dobrindt eine „Netzallianz DigitalesDeutschland“ gegründet, in der die einzelnen Schrittefestgelegt werden. Neben dem Aufbau der Infrastrukturgeht es in Zukunft auch und ganz besonders – das wirduns sehr herausfordern, die wir damit beschäftigt sind,Sicherheit auf der einen Seite und Zukunftsfähigkeit aufder anderen Seite gleichermaßen zu vereinen – um dasManagement von riesigen Datenmengen; denn Big Datawird der Ausgangspunkt von neuen Wertschöpfungsket-ten sein. Wer daran nicht teilnimmt, weil er schon Furchthat, bevor das Wort gefallen ist, wird nicht zu diesenWertschöpfungsketten vorstoßen. Deshalb werden wirzwei Big-Data-Kompetenzzentren in Berlin und in Dres-den einrichten und damit Erfahrungen sammeln, wieWertschöpfungsketten der Zukunft möglich gemachtwerden können.
Meine Damen und Herren, der Innenminister Thomasde Maizière hat zu Recht davon gesprochen, dass wireine Debatte um einen neuen digitalen Ordnungsrahmenführen müssen. Die Grundsatzfrage lautet hierbei immerwieder: Wie können wir Freiheit und Sicherheit im Netzin Einklang bringen? Deshalb arbeitet die Bundesregie-rung unter Federführung des Innenministeriums geradeam ersten IT-Sicherheitsgesetz. Es wird einen besonde-ren Schwerpunkt auf die Sicherung unserer Infrastruktursetzen. Wir werden auch die entsprechenden Geschäfts-
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modelle fördern, die dann in der Wirtschaft die Entwick-lungen möglich machen. Deutschland ist führend in derSicherheitstechnik im digitalen Bereich. Das soll weiterausgebaut werden: Initiativen wie „IT-Sicherheit in derWirtschaft“ und die „Allianz für Cyber-Sicherheit“ wer-den ausgebaut.Natürlich kann das alles nicht allein national geregeltwerden. Deshalb brauchen wir einen einheitlichen Da-tenschutz in Europa. Hierfür steht die Datenschutz-Grundverordnung. Ihre Verabschiedung ist von überra-gender Bedeutung; ich habe das hier schon öfter ange-sprochen. Wir müssen allerdings aufpassen, dass wir un-seren eigenen Datenschutz dabei nicht schwächen.Deshalb sind die Verhandlungen nicht ganz einfach.Aber: Wenn wir die wirtschaftlichen und rechtlichenRahmenbedingungen inklusive des Datenschutzes in Eu-ropa nicht vereinheitlichen, wird der Binnenmarkt indiesem Bereich nicht zur Entfaltung kommen. Deshalbist es eine Angelegenheit, die die 28 Mitgliedstaaten be-trifft.Die Weiterentwicklung der Digitalen Agenda mussnicht nur in Deutschland erfolgen, sondern auch im eu-ropäischen Maßstab. Unser Ziel muss sein – gerade auchin der Arbeit der neuen Kommission –, dass wir mitamerikanischen Digitaldienstleistern genauso wie mitchinesischen Netzwerkfirmen auf Augenhöhe agierenkönnen. Die Frage ist dann: Sind wir so gut wie dieanderen, und können wir hier wirklich in ZukunftWertschöpfung und Wachstum und Arbeitsplätze fürDeutschland, aber auch für ganz Europa generieren?Meine Damen und Herren, ein Ende des staatlichenSchuldenmachens ist – ich sagte es schon – kein Selbst-zweck, sondern eben Voraussetzung für politische Hand-lungsmöglichkeiten in der Zukunft.Das gilt – zweitens – für die Möglichkeit, die Spitzen-stellung unserer Forschungs- und Wissenschaftsland-schaft zu erhalten. Sie ist Ergebnis und Erfolg unsereskonsequenten Bekenntnisses zu Bildung und Forschungin den letzten Jahren. Ich will noch einmal auf Folgendeshinweisen, weil hier manchmal auch Zerrbilder verwen-det werden: Seit 2005 sind die Ausgaben für Forschungund Entwicklung des Bundes um knapp 60 Prozent aufrund 14,4 Milliarden Euro gestiegen. Es ist noch nie soviel Geld für Forschung und Bildung in der Bundesrepu-blik Deutschland seitens des Bundes ausgegeben wor-den.
Wir geben nahezu 3 Prozent unseres Bruttoinlands-produkts für Forschung und Entwicklung aus. Das ist imÜbrigen auch eines der europäischen Vorhaben, das vor14 Jahren propagiert wurde und heute nur von einerMinderheit der Länder umgesetzt wird. Das hat etwasmit Glaubwürdigkeit und im Übrigen auch etwas mitwirtschaftlicher Stärke zu tun. In dieser Legislatur-periode allein wird die Bundesregierung noch einmal9 Milliarden Euro zusätzlich für Bildung und Forschungzur Verfügung stellen, 3 Milliarden Euro davon für For-schung, etwa für den „Pakt für Forschung und Innova-tion“ und für die neue Hightech-Strategie, die wir in derletzten Woche im Kabinett beschlossen haben.Hier geht es vor allen Dingen um die Vernetzung vonWissenschaft und Wirtschaft, also um die Anwendungder Entwicklungsergebnisse. Das genau ist die Stärkeder neuen Hightech-Strategie. Denn wir wollen nicht nurdie Weltmeister im Forschen sein, sondern wir wollengenauso Weltmeister in den Anwendungen sein. Es gibtsehr gute Beispiele für solche Erfolge, die sich insbeson-dere in den Spitzenclustern zeigen. Ich nenne ein Bei-spiel aus dem Bereich der Medizin: In der Region Rhein-Neckar entwickelt ein Spitzencluster völlig neue Be-handlungsansätze und Medikamente in der Krebsfor-schung für die sogenannte personalisierte Medizin. Ichhabe mir das Krebsforschungszentrum in Heidelberg an-geschaut. Es ist faszinierend, wie die Individualisierungder Medizin völlig neue Therapien möglich macht. Ichkönnte viele andere solcher Cluster aufzählen. In ihnenspielt sich das ab, was Deutschlands Reputation in derWelt in Forschung und Entwicklung ausmacht.
Das Wichtige ist, dass unsere neue Hightech-Strategiejetzt alle Ressorts miteinbezieht. Damit haben wir einenGesamtansatz für die Bundesregierung.Beim Thema Bildung will ich noch einmal auf die625 000 zusätzlichen Studienplätze hinweisen, mitgeför-dert durch den Bund im Rahmen des Hochschulpaktesgemeinsam mit den Ländern. Allein 2015 stehen dafür2 Milliarden Euro zur Verfügung. Und wir haben einenhistorischen Schritt gemacht, gemeinsam mit den Län-dern – ich meine, beim Thema Bildung können nur ge-meinsam mit den Ländern Lösungen gefunden werden,beim Thema Forschung im Übrigen auch –, indem wirjetzt die Übernahme der Kosten des BAföG für Schülerund Studierende durch den Bund zu 100 Prozent verein-bart haben, wodurch wir weitere gesamtstaatliche Ver-antwortung für die Bildung übernehmen. Wir habenauch die Weichen für die BAföG-Erhöhungen in dennächsten Jahren gestellt. Und wir werden denArtikel 91 b des Grundgesetzes ändern, damit er einesehr viel bessere Kooperation von universitären undnichtuniversitären Forschungseinrichtungen möglichmacht – etwas, das in anderen Ländern gang und gäbeist, die die föderalistischen Herausforderungen nichtkennen –, wodurch wir zur Weltspitze aufsteigen kön-nen.Wir werden den Ausbildungspakt weiterentwickelnund auch den Integrationsgipfel in diesem Jahr auf dasThema Berufsausbildung ausrichten. Hier, muss ich sa-gen, sind wir schon in eine Lage gekommen: So erfreu-lich die Förderung neuer Studienplätze ist, so sehr müs-sen wir jetzt schauen, dass wir, wenn zum ersten Malweniger junge Leute in die Berufsausbildung gehen alsein Hochschulstudium aufnehmen, die zweite Säule un-serer Berufsausbildung nicht aus dem Blick verlieren,und werden deshalb die berufliche Ausbildung weiterstärken.
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Wenn immer noch ein viel zu hoher Prozentsatz vonStudienanfängern keinen Studienabschluss macht, dannzeigt dies natürlich, dass die Verbindung von beruflicherBildung und universitärem System ebenso wichtig fürdie Durchlässigkeit ist; denn wer gar keine Ausbildunghat, ist später gefährdet, von Arbeitslosigkeit betroffenzu sein.Meine Damen und Herren, solides Haushalten ist– drittens – Voraussetzung für die Erneuerung unsererInfrastruktur. Wir sind uns alle einig: Eine gute Infra-struktur ist von herausragender Bedeutung für die Zu-kunft unseres Landes. Das gilt für die Energienetze imZusammenhang mit der Energiewende, die wir in denvergangenen Beratungen breit diskutiert haben. Das giltfür die Datenübertragung und die Digitalisierung; dazuhabe ich etwas gesagt. Und das gilt natürlich für unserNetz an Straßen, Brücken, Schienen und Wasserwegen.Bei allem Bedarf – das will ich vorwegsagen –, den ichsehe, den alle sehen, muss man sagen, dass Deutschlandimmer noch eines der besten Verkehrsnetze weltweit hat
und dass das weiter ein starkes wirtschaftliches Pfundunseres Landes ist.
Hinzu kommt, dass wir im Koalitionsvertrag für dielaufende Legislaturperiode 5 Milliarden Euro mehr fürden Erhalt und die Modernisierung unserer Verkehrs-wege vereinbart haben, in diesem Jahr allein 1,1 Milliar-den Euro. Die Verkehrsinvestitionen steigen im kom-menden Jahr auf rund 11 Milliarden Euro. ZusätzlicheMittel brauchen wir. Sie sollen einmal aus der Weiterent-wicklung der Lkw-Maut gewonnen werden. Auch dieEinführung einer Pkw-Maut gehört dazu, und das Kon-zept des Verkehrsministers Dobrindt wird derzeit mitden Ressorts und der Kommission diskutiert und abge-stimmt, meine Damen und Herren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Ende des staatli-chen Schuldenmachens ist – viertens – Voraussetzungfür die Bewältigung des demografischen Wandels undden Erhalt der sozialen Sicherheit, den die Menschenvon uns im Rahmen der sozialen Marktwirtschaft erwar-ten. Das gilt für das Rentensystem, das Gesundheitssys-tem, aber auch und gerade für den Bereich der Pflege.Wir wissen, wir werden in Zukunft mehr ältere Men-schen und damit auch mehr Pflegebedürftige haben. Dasbedeutet völlig neue Herausforderungen für Familien aufder einen Seite, in denen dauerhaft Menschen füreinan-der Verantwortung übernehmen; das bedeutet auf der an-deren Seite aber auch neue Herausforderungen für un-sere Gesellschaft. Die Bundesregierung stellt sich genaudiesen Herausforderungen. Es gibt ja nahezu keine Fa-milie in Deutschland, die nicht direkt oder indirekt vondem Thema der Pflegebedürftigkeit berührt wird. Des-halb ist es ein zutiefst menschliches Thema, das in unse-rer Gesellschaft gut bewältigt werden muss.Wir haben die erste Lesung des Pflegestärkungsgeset-zes gehabt. Hier geht es um die Weiterentwicklung derPflege ab 1. Januar. Der Grundsatz heißt: Eine men-schenwürdige Pflege muss für alle Menschen, die sie be-nötigen, auch in Zukunft bezahlbar bleiben. Das mussfür Betreute in Pflegeheimen genauso gelten wie für Be-treute in Familien.
Deshalb haben wir uns entschlossen – ich glaube, daswar richtig –, den Beitragssatz leicht anzuheben. Da-durch werden die Geldleistungen erhöht, und sie könnenkünftig auch flexibler in Anspruch genommen werden.Wir wollen die Möglichkeit der Inanspruchnahme derFamilienpflegezeit vereinfachen. Dadurch erhalten Fa-milien, die zu Hause Angehörige pflegen, mehr Unter-stützung. Daran wird zwischen den Ressorts gerade ge-arbeitet. Die Zahl der Betreuungskräfte in Pflegeheimenwird erhöht. Das bedeutet, dass nicht nur für an Demenzerkrankte Heimbewohner zusätzliche Betreuungskräftezur Verfügung stehen, sondern für alle Heimbewohner.Das ist eine Entlastung für die Pflegefachkräfte und da-mit eine Verbesserung der Situation.Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine menschlicheGesellschaft misst sich auch an ihrem Umgang mit denSchwächsten, mit denen, die unsere Hilfe und Unterstüt-zung brauchen. Das betrifft Menschen, die vor existen-zieller Not fliehen. Viele von ihnen suchen Schutz inEuropa, nicht wenige auch in Deutschland. Deshalb istes ganz wichtig, dass wir behutsam und sehr verantwor-tungsvoll mit dieser Situation umgehen.
In diesem Jahr ist die Zahl der Flüchtlinge und Ver-triebenen weltweit so hoch wie seit dem Zweiten Welt-krieg nicht mehr. Das ist eine riesige Herausforderung.Wir Deutschen wissen aus unserer Geschichte, wie vielLeid mit Flucht und Vertreibung verbunden ist, und des-halb nehmen wir unsere Verantwortung wahr. Innerhalbder Europäischen Union nimmt Deutschland mit großemAbstand die meisten Asylbewerber auf. Das waren imJahr 2013 127 000, und in diesem Jahr werden es vo-raussichtlich etwa 200 000 sein. Damit leistet Deutsch-land einen wichtigen Beitrag, auch hinsichtlich der Auf-nahme von Flüchtlingen aus Krisenregionen.Die steigende Zahl der Asylbewerber in Deutschlandstellt natürlich Bund, Länder und Gemeinden vor He-rausforderungen bei der Bearbeitung von Asylanträgenwie auch bei der Unterbringung und Versorgung. Des-halb überlegen wir als Bundesregierung gemeinsam mitLändern und Kommunen, wie wir bei der Planung undErrichtung von Unterkünften rascher zum Ziel kommen.Hier hat die Bundeswehr einen Beitrag zu leisten, undsie leistet ihn auch. Sie bemüht sich, nicht mehr benö-tigte Liegenschaften oder Teilflächen umgehend an dieBundesanstalt für Immobilienaufgaben zurückzugeben.Dadurch können besonders betroffene Landkreise unter-
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stützt werden. Da engagieren wir uns wirklich mit vollerKraft.Wir müssen aber auch, wie im Koalitionsvertrag ver-einbart, die Bearbeitungsdauer bei den Asylverfahrenweiter verkürzen, sowohl im Interesse der Schutzsu-chenden als auch im Interesse der betroffenen Kommu-nen. Der Bundestag hat im Haushalt 2014 – ich will da-ran noch einmal erinnern – 300 neue Stellen für dasBundesamt für Migration und Flüchtlinge bewilligt. Da-durch konnte im ersten Halbjahr die Zahl der Asylent-scheidungen immerhin verdoppelt werden. Angesichtsder stark steigenden Asylzahlen brauchen wir natürlicheine weitere Verbesserung; das ist gar keine Frage. LiebeKolleginnen und Kollegen, ich will dies zum Anlassnehmen, denen, die diese Asylverfahren bearbeiten, einherzliches Dankeschön zu sagen.
Das ist eine wirklich anspruchsvolle, schwierige Arbeit.Ich habe größte Hochachtung davor.In diesem Zusammenhang lautet eine wichtige Frage:Wie stufen wir bestimmte Länder ein? Sie wissen, dassdie Einstufung von Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina als sichere Herkunftsstaaten von uns imBundestag beschlossen wurde. Ich will noch einmal sa-gen, wie die Lage ist: Wir stehen angesichts der Flücht-linge aus Syrien und vielleicht auch der Flüchtlinge ausdem Irak vor drängenden Herausforderungen. Wir müs-sen überlegen: Wie können wir denen, die am meistenHilfe brauchen, wirklich helfen? 20 Prozent der bisher in2014 gestellten Asylanträge wurden von Angehörigendieser drei Staaten gestellt. 1 Prozent dieser Anträgewird genehmigt. Deshalb sind wir in Gesprächen, wiewir auch im Bundesrat eine Zustimmung für die Einstu-fung dieser Länder als sichere Herkunftsstaaten bekom-men können, weil uns das die Möglichkeit gibt, beiweiterhin rechtsstaatlichen Asylverfahren für alle, denenmehr zu helfen, die dringend unsere Hilfe brauchen.
Ende August haben wir Änderungen im Asylbewer-berleistungsgesetz beschlossen, die auch zu einer Entlas-tung der Kommunen führen werden. Damit haben wirdas Urteil des Bundesverfassungsgerichts umgesetzt.Wir brauchen natürlich auch eine europäische Asylpoli-tik. Auf europäischer Ebene müssen die Lösungen ge-meinsam gefunden werden. Dazu gehört, dass sich alleEU-Mitgliedstaaten gegenseitig unterstützen, aber sichnicht gegenseitig die Verantwortung zuschieben. Das istein Unterschied. Deshalb wünsche ich unserem Innen-minister Thomas de Maizière sehr viel Erfolg bei diesenGesprächen und begrüße, dass gemeinsam mit den Kol-legen aus Frankreich, Großbritannien und Polen hiereine gemeinsame Initiative gestartet wird.
Wenn wir in diesen Tagen und gerade in dieser Wocheüber unsere nationalen Herausforderungen beraten, sotun wir dies in einem stark veränderten internationalenUmfeld. Als wir im vergangenen Jahr die Schwerpunkteder Arbeit unserer Großen Koalition verabredet haben,haben wir überlegt, wie wir das Gedenkjahr 2014 gestal-ten können, das Gedenken an den Beginn des ErstenWeltkriegs vor 100 Jahren, an den Beginn des ZweitenWeltkriegs vor 75 Jahren und die Feiern zum Mauerfallvor 25 Jahren. Wie selbstverständlich erschien es uns da,dass die Völker in Europa im 21. Jahrhundert selbst ent-scheiden, welchen Weg sie einschlagen wollen, dass ihreterritoriale Integrität geschützt ist und die Verabredun-gen über unsere europäische Sicherheitsarchitektur ein-gehalten werden. Wie anders verläuft jetzt das Jahr2014!Aus dem Wunsch der Ukraine, ein Assoziierungs-und Freihandelsabkommen mit der EU zu unterzeich-nen, ist ein tiefgreifender Konflikt mit Russland entstan-den. Annexion der Krim, Unterstützung der Separatistenin Donezk und Luhansk durch Russland und aktives Ein-greifen durch russische Soldaten und Waffenlieferungensind nur drei Stichpunkte dieser Entwicklung. Ange-sichts dieses akuten Konflikts sind wir vor die Frage ge-stellt: Was haben wir aus der Geschichte gelernt? Wassind unsere Antworten in solchen Konfliktfällen heute?Vier Prinzipien leiten dabei unser Handeln: Erstens. DerKonflikt ist nicht militärisch zu lösen. Zweitens. Die28 Mitgliedstaaten der Europäischen Union und die Ver-einigten Staaten von Amerika finden gemeinsame Ant-worten. Drittens. Die Verletzung der territorialen Integri-tät eines Landes und seine Destabilisierung nehmen wirnicht hin; deshalb verhängen wir Wirtschaftssanktionen.Viertens. Gleichzeitig arbeiten wir fortwährend für einediplomatische Lösung des Konflikts. Die Tür zu Ver-handlungen ist und bleibt offen.In diesen Tagen gilt es, den Zwölf-Punkte-Plan derPräsidenten der Ukraine und Russlands umzusetzen.Waffenstillstand und Freilassung von Gefangenen sindhierbei nur zwei Elemente von zwölf Punkten. Vor allemgeht es um eine dauerhafte Überwachung des Waffen-stillstands durch die OSZE, den Abzug russischer Solda-ten und der Waffen aus der Region sowie die freie Ent-scheidung der Menschen in Donezk und Luhansk überihren zukünftigen Status. Das alles gehört zusammen.Neue Sanktionen wurden durch die Europäische Unionbeschlossen. Jetzt geht es um die Veröffentlichung und da-mit um das Inkrafttreten. Ich will für die Bundesregierungsagen: Angesichts der gegebenen Lage, die sicherlich eineVerbesserung im Zusammenhang mit den militärischenAktivitäten mit sich bringt – es ist keine hundertprozen-tige Waffenruhe, aber immerhin eine Verbesserung; eineUnklarheit über die Erfüllung vieler der anderen von mirgenannten Punkte besteht dennoch –, treten wir dafürein, dass jetzt eine Veröffentlichung dieser Sanktionenerfolgt.
Ich hoffe, dass hierüber bald entschieden wird. Ich fügehinzu: Wenn die zwölf Punkte wirklich substanziell er-füllt werden, werden wir die Ersten sein, die die neuenSanktionen wieder aufheben; denn sie sind kein Selbst-zweck, sondern werden immer nur verhängt, wenn sieunvermeidlich sind.
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Unser Ziel ist vollkommen klar: Wir unterstützen eineUkraine, die in Frieden und eigener Selbstbestimmungüber ihr eigenes Schicksal entscheiden kann, im Übrigenin guter Nachbarschaft mit Russland. Für uns sind guteBeziehungen zwischen der Europäischen Union und derUkraine sowie zwischen Russland und der Ukraine keineFrage eines Entweder-oder – ich habe das im Novembervergangenen Jahres hier gesagt –, sondern ein Sowohl-als-auch. Dafür arbeiten wir. Ich weiß sehr wohl, dassder Weg zur Überwindung dieser Krise lang und steinigist. Wir werden auch Rückschläge erleben. Wir braucheneinen langen Atem. Aber ich bin zutiefst überzeugt: Sohart die gegenwärtige Situation auch ist, am Ende wirdsich die Stärke des Rechts durchsetzen. Das sollte unsermutigen.
Natürlich war die Lage in der Ukraine auch Themaauf dem NATO-Gipfel in Wales in der letzten Woche. ImSinne unserer Bündnisverpflichtungen gemäß Artikel 5des NATO-Vertrages wurde dort einmütig der soge-nannte Readiness Action Plan beschlossen. Ziel ist einedeutliche Erhöhung der Reaktions- und Verteidigungsfä-higkeit des Bündnisses als sichtbarer Ausdruck unsererSolidarität gerade mit unseren baltischen und osteuropäi-schen Bündnispartnern.Deutschland leistet dazu einen Beitrag. Wir erhöhenunseren Bereitschaftsgrad und die Fähigkeiten, indem wirdas Multinationale Korps Nordost in Stettin stärken – eingemeinsamer deutsch-dänisch-polnischer Vorschlag. Esentspricht unserer Philosophie, dass wir planerisch, lo-gistisch und durch Übungen die Voraussetzungen füreine rasche Verlegung größerer Verbände schaffen unddafür eine Fähigkeit zur regionalen Kooperation mit un-seren Partnern aufbauen.Aber es war uns wichtig, dass sich diese Beschlüssedes Gipfels im Rahmen unserer euro-atlantischen Si-cherheitsarchitektur bewegen, also auch der NATO-Russland-Grundakte. Die Prinzipien der NATO-Russ-land-Grundakte, die Sicherheit des euro-atlantischenRaums auf Basis demokratischer Prinzipien und koope-rativer Sicherheit, sind nach wie vor grundlegend. Wirhoffen, dass sie eines Tages alle wieder eingehalten wer-den.Meine Damen und Herren, zeitgleich mit demUkraine-Konflikt in Europa mussten wir uns in Walesmit den dramatischen Konflikten in Syrien und im Irakauseinandersetzen. Der Bürgerkrieg in Syrien hat bislangnicht nur fast 200 000 Menschen das Leben gekostet undMillionen Menschen zu Flüchtlingen gemacht, die Län-der wie Jordanien und Libanon zu destabilisieren dro-hen, sondern hat auch eine Terrororganisation entstehenlassen, die eine ernsthafte Sicherheitsbedrohung für diegesamte Region und darüber hinaus darstellt: die Terror-miliz IS. Der Kampf gegen IS erfordert ein entschlosse-nes und ein geschlossenes Vorgehen aller, die sich gegendie Unterdrückung Andersdenkender und gegen die bar-barische Vernichtung von Minderheiten auflehnen. Esbesteht kein Zweifel: Christen, Jesiden, Turkmenen undandere Minderheiten im Irak stehen vor einer existen-ziellen Bedrohung. Deshalb ist es richtig, wenn sich einBündnis möglichst vieler Staaten dem IS entgegenstellt.Wir haben in der vergangenen Woche über die Bei-träge Deutschlands debattiert. Die Bundesregierung hatsich entschieden, umfassende Hilfe zu leisten. Wir wol-len in erster Linie helfen, die Not der Menschen zu lin-dern, die zu Tausenden vor dem Terror geflohen sind.Wir haben dafür bisher rund 50 Millionen Euro bereitge-stellt. 180 Tonnen Hilfsgüter wurden bereits für die Ver-sorgung von Flüchtlingen in den Nordirak geliefert. Wirwerden dies fortsetzen und dabei helfen, dass die Notlei-denden auch den nahenden Winter vernünftig überstehenkönnen.Wir haben außerdem entschieden, die Sicherheits-kräfte der kurdischen Regionalregierung mit Rüstungs-gütern zu unterstützen. Sie kämpfen mit knappsten Res-sourcen gemeinsam mit irakischen Sicherheitskräftenund flankiert von den USA gegen skrupellose und hochbe-waffnete IS-Terroristen. Eine erste Lieferung mit Schutz-westen, Helmen, Funkgeräten und Minenräumausrüs-tung nach Arbil ist erfolgt, und noch im Laufe desMonats sollen weitere Rüstungsgüter geliefert werden.Dafür haben wir die ausdrückliche Einwilligung der ira-kischen Zentralregierung und stimmen uns engstens mitinternationalen Partnern ab.Auch die Bekämpfung des IS wird nicht von heuteauf morgen gelingen; sie wird einen längeren Zeitraumin Anspruch nehmen. Aber auch dieser Kampf wird amEnde erfolgreich sein, weil er in neuen Bündnissen derVereinigten Staaten von Amerika, der EuropäischenUnion und vieler Partner im arabischen Raum erfolgt.Wir alle, Menschen jedweden Glaubens, bieten denExtremisten und Islamisten gemeinsam die Stirn.
Dabei möchte ich noch einmal betonen: Die Terrorge-fahr militärisch abzuwehren, ist absolut erforderlich.Aber auch hier gilt: Dauerhafte Stabilität kann nur miteiner politischen Lösung gelingen. Dazu ist die Vereidi-gung der neuen inklusiven Regierung im Irak amMontag ein erster wichtiger Schritt in eine richtige Rich-tung. Nun kommt es darauf an – Deutschland wird dabeinach seinen Kräften Unterstützung leisten –, dass dieRegierung endlich wirklich alle Bevölkerungsgruppeneinbindet; denn nur so wird es zu einer politischen Lö-sung kommen und das Land stabilisiert werden.Meine Damen und Herren, wir erleben in diesen Ta-gen einmal mehr, dass jede Generation den Auftrag hat,stets aufs Neue für ein freiheitliches und friedliches Zu-sammenleben der Menschen in Europa und in der Welteinzutreten. Wir erleben einmal mehr, welch große He-rausforderungen auch wir heute dafür zu bewältigen ha-ben.
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Vorhin haben wir bewegende Worte des polnischenPräsidenten Bronislaw Komorowski gehört. Es ist garnicht hoch genug einzuschätzen, dass mit ihm ein polni-scher Staatspräsident aus Anlass des vor 75 Jahren mitdem Überfall auf Polen von Deutschland entfesseltenZweiten Weltkriegs hier im Deutschen Bundestag zu unsgesprochen hat. Er hat uns damit eine große Ehre erwie-sen. Ich möchte ihm dafür auch ganz persönlich danken.
Bewegend waren seine Worte auch deshalb, weil deut-lich geworden ist, dass tiefe, weitreichende Veränderun-gen zum Guten möglich sind, wenn wir bereit sind, ausder Geschichte zu lernen. Denn das ist doch die epochaleLeistung der europäischen Nationen: Versöhnung unddarauf aufbauend die europäische Einigung. TrotzSchuldenkrise, trotz anderer ernstzunehmender Pro-bleme dürfen wir nie vergessen, wie wertvoll, wie schüt-zenswert das europäische Modell des Friedens, der Ver-söhnung und der Freiheit ist.Die Europäische Union ist zuallererst eine Wertege-meinschaft. Wir haben uns Regeln des Miteinanders ge-geben, und wir gehen fair miteinander um – in Friedenund Freiheit und zum Nutzen jedes einzelnen Bürgers.Sie zu schützen und zu stärken ist, so glaube ich, jedeAnstrengung wert.Herzlichen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Katrin Göring-Eckardt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja,noch vor zwei Jahren haben wir mit den Ukrainern dieFußballeuropameisterschaft bejubelt; heute herrscht dortKrieg. Vor knapp sieben Monaten haben Menschen aufdem Maidan ihren Protest gegen ein autokratisches Re-gime begonnen. Sie haben es mit dem Leben bezahlt.3 000 Menschen sind gestorben. Über 1 Million Men-schen sind inzwischen auf der Flucht. Putin hat die Krimbesetzt und die Ostukraine, und er stellt damit EuropasWerte knallhart auf die Probe.
Deshalb ist es gut, dass die EU stärkere Sanktionen be-schlossen hat. Wir wollen, dass sie jetzt auch greifen.Der Waffenstillstand ist brüchig. Herr Putin sollte wis-sen: Die Sanktionen werden nur aufgehoben, wenn er et-was tut, und nicht, wenn er etwas ankündigt. Dafür sinddie Sanktionen da, und dafür sind sie gut.
Es ist richtig, dass die NATO am Freitag klargemachthat: Wir werden Putins neuen Imperialismus nicht ein-fach hinnehmen. Sanktionspolitik und militärischeAnstrengungen wirken aber nur dann, wenn sie nicht an-derweitig untergraben werden. Dass der Verkauf des Ge-fechtszentrums von Rheinmetall an Russland widerrufenwurde, ist richtig und zeigt, dass diese Geschäfte um-kehrbar sind.
Das muss auch für alle anderen Rüstungsexporte nachRussland gelten.Energiepolitik ist Sicherheitspolitik. Umso unver-ständlicher ist es für mich, dass derselbe Wirtschafts-minister, der sich so stark zu den Rüstungsexporten äu-ßert, auf der anderen Seite keinerlei Bedenken hat, wennWingas seine Gasspeicher an Gazprom verteilt. UnserZiel in der Energiefrage muss doch mehr Unabhängig-keit sein, meine Damen und Herren, und nicht mehr Ab-hängigkeit von Russland; darum geht es.
Wer in diesem Zusammenhang wieder die Leier ab-spielt, es sei nötig, die Verteidigungsausgaben zu erhö-hen, der sei darauf hingewiesen: Unser Beitrag zurNATO beträgt 35 Milliarden Euro; damit liegen wir anzweiter Stelle. Hier fehlt es nicht an Geld. Hier könntedefinitiv zurückgeschraubt werden bei der Kalter-Krieg-Rhetorik und der Symbolik des Generalsekretärs – dasganz bestimmt. Die unbequeme Wahrheit ist: Die aktuelllaufenden Rüstungsprojekte in Deutschland sind seitVertragsabschluss um 4,3 Milliarden Euro teurer gewor-den, und sie haben alles in allem 1 400 Monate Verspä-tung.
Sie hatten einmal angekündigt, die Bundeswehrreformwürde zu Einsparungen führen. Aufstockungen und Ver-teuerungen sind das Gegenteil.
In den letzten Wochen und Monaten wurde viel da-rüber geredet, Deutschland solle mehr Verantwortung inder Welt übernehmen. In der vergangenen Woche habenwir hier im Parlament über die Lieferung von Waffendiskutiert. Ich bin sehr froh, dass wir diese Debatte ange-regt haben; denn eine Lieferung von Waffen ist nunwirklich kein Verwaltungshandeln. Jetzt ist DeutschlandTeil einer Koalition gegen ISIS. Frau Bundeskanzlerin,ich frage Sie – auch nach Ihrer Rede jetzt –: Was genausoll eigentlich die deutsche Rolle sein? Wie sollen dieregionalen Akteure beteiligt werden? Nein, mit Waffen-lieferungen und mit humanitärer Hilfe haben wir nochlängst nicht alles getan. Sich für eine politische Lösungeinzusetzen, heißt mehr. Das heißt, über Konzepte zu re-den, und zwar auch in der Öffentlichkeit, und auch, mitden europäischen und den NATO-Partnern über friedli-che, politische Lösungen zu debattieren. Wir befindenuns nämlich in einer neuen Phase, und die wird schwer
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und anstrengend werden. Ich verlange von Ihnen, dassSie hier, in aller Öffentlichkeit, darüber sprechen, wieSie sich vorstellen, wie dieser Konflikt befriedet werdenkann.
Es mag kleinteilig klingen; aber ich sage Ihnen trotz-dem: Es ärgert mich, dass Waffen im Wert von 70 Mil-lionen Euro geliefert wurden, während für humanitäreHilfe nur 50 Millionen Euro ausgegeben wurden. Das istein Ungleichgewicht, das uns nicht ansteht. Wir akzep-tieren das nicht, meine Damen und Herren.
– Wenn es anders kommt, Herr Kauder, dann sind wirgerne dabei; aber der Vorschlag, den Sie gemacht haben,beinhaltete dieses Ungleichgewicht. Ich finde, das zeigtauch, dass die Aufmerksamkeit auf dem falschen Punktlag. Das finde ich mehr als bedauerlich.
Meine Damen und Herren, vor genau 25 Jahrenwurde das Neue Forum gegründet. Menschen ganz un-terschiedlicher Herkunft und Biografie und mit ganz un-terschiedlichen politischen Vorstellungen wurden durchdie Überzeugung verbunden, dass die Diktatur überwun-den werden muss. Die Bürgerinnen und Bürger in derDDR haben sich ihre Freiheit mit friedlichen Mitteln er-obert, und nicht nur die in der DDR. Ich bin sehr froh,dass wir heute gesehen haben, dass es nicht nur inDeutschland eine friedliche Revolution gab, sonderndass es eine osteuropäische Friedensbewegung war. Daswar eine gewaltige Leistung. Ich glaube, wir verstehenerst heute, dass die Friedfertigkeit dieser Revolutionkeine Selbstverständlichkeit war. Sie war vielmehr eineAnstrengung und ein großes Geschenk.
Frau Bundeskanzlerin, Sie und ich, wir beide habendiesen Umbruch erlebt, wenn auch sicherlich ganz unter-schiedlich; aber wir haben dabei erlebt: Demokratie lebtvon der Debatte und entsteht im Wettstreit von Meinun-gen. Es ist nichts Schlechtes dabei, um Positionen zu rin-gen. Es ist auch nichts Schlechtes dabei, sich zu korrigie-ren. Das ist das Wesen von Demokratie. Es geht um denfriedlichen Wettstreit der Meinungen. Über den Kontrastund die Alternativen, über die wir reden müssen, werdendie Bürgerinnen und Bürger in Wahlen entscheiden. Esist eben nichts alternativlos, und es ist bitter, anzusehen,wie Sie es zulassen, dass jene Kräfte stärker und stärkerwerden, die sich von rechts als Alternative für Deutsch-land darstellen. Wir brauchen diese Auseinandersetzung,und dazu gehört es, dass man sagt, was man will, unddass man klarmacht, was man nicht will. Diese Alterna-tive wollen wir jedenfalls nicht.
Sie haben hier eine überwältigende Mehrheit, undnoch stehen wir wirtschaftlich gut da. Warum nutzen Siediese Chance nicht – wir leben in einem Land, das vorgewaltigen Integrationsanstrengungen steht; Sie habendarüber gesprochen – für eine Debatte über die Zukunftunseres Landes in Europa und in einer Welt der Krisen?Meine Damen und Herren, uns geht es heute gut. Jetztwäre der Moment, an den Fundamenten für die Zukunftzu bauen. Doch die Bundesregierung deckt auf der einenSeite den Mantel des internationalen Krisenmanage-ments über die innenpolitischen Notwendigkeiten, undauf der anderen Seite gibt es Trippelschritte. Die Ge-schenke sind verteilt, die Luft ist raus. Es gibt Streit umdie Maut, in der Wirtschaftspolitik verfallen Sie nurnoch ins Klein-Klein, und es erfolgt Dienst nach Vor-schrift. Sie nähern sich schon fast – jedenfalls fällt mirdas auf – dem Niveau der schwarz-gelben Bundesregie-rung.
Schon beschimpft man sich gegenseitig mit „Kleingeis-ter“, „Rumpelstilzchen“ und „Pipifax“. Herr Seehoferhat gerade das Ende der „Schonzeit“ angekündigt. Ichbin keine Jägerin; aber die Schatten der Wildsäue sindanscheinend nicht weit. Viel Erfolg bei der Treibjagd mitder CSU!
Deutschland lebt von der Substanz; das sieht jeder. Esbröckelt dahin: kaputte Schulen, Universitäten, in denenes von der Decke tropft, Schwimmhallen und Bibliothe-ken, die schließen, Sportplätze, auf denen das Gras aufder Tartanbahn wächst,
Straßen, auf denen jede Achse bricht, und Brücken, de-ren Pfeiler bröseln. Was macht der Finanzminister? DerFinanzminister schuldet um. Herr Schäuble, Sie holensich das Geld heute nicht mehr von den Banken, Sie ho-len es sich von den Krankenkassen und der Rentenversi-cherung.
Sie holen es sich auf Kosten der Zukunft und der Investi-tionen, die Sie nicht tätigen. Diese Politik ist falsch undzukunftsvergessen.
Frau Bundeskanzlerin, das hat auch nichts mit Gene-rationengerechtigkeit zu tun. Das ist das Gegenteil da-von. Welches Land und welchen Planeten überlassen wireigentlich den kommenden Generationen? Dass Siekeine Schulden mehr bei den Banken machen, ist dochnicht entscheidend. Dass die Sozialsysteme funktionie-ren, dass die Infrastruktur in Ordnung ist, dass wir inBildung investieren, das gehört dazu, und das verlangeich von Ihnen als einer verantwortungsvollen Regierung.
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Sie haben 111 Milliarden Euro Mehreinnahmen. Dassind 111 Milliarden Euro, die Sie nicht sparen. Das sind111 Milliarden Euro, die Sie nicht investieren. Das sind111 Milliarden Euro, die Sie verbraten. Ihre ganze Bi-lanz basiert auf einer Wette auf eine gute Konjunktur.Bleibt sie gut, dann verschulden Sie sich nur bei den So-zialkassen; wird sie aber schlecht, dann werden Sie wie-der Geld bei den Banken aufnehmen. Ehrlich gesagt: Dieschwäbische Hausfrau, der ehrbare Kaufmann aus Ham-burg, aber auch der junge Start-up-Unternehmer in Thü-ringen, der Risikokapital braucht, reiben sich die Augen,wenn sie an so viel wirtschaftliche Unvernunft und eineso kurzsichtige Wirtschaftspolitik denken. Ich finde, dieMenschen in Deutschland, denen es jetzt noch gut geht,haben eine Regierung verdient, die auch einmal über denTag hinausschaut.
Ja, Deutschland braucht Ideen, Innovationen und In-vestitionen. Sie haben heute lange über die Herausforde-rungen der digitalen Welt gesprochen. Es war ein bisschenmühsam, zuzuhören und zu verstehen, über welchen Be-reich Sie eigentlich gerade geredet haben, weil Sie im-mer davon gesprochen haben, dass man das so und sosagt und meint. Ehrlich gesagt: Wenn man sich Ihre digi-tale Agenda anschaut, Frau Merkel, Herr Dobrindt, dannhat man nicht den Eindruck, dass Sie an einer ganz gro-ßen Sache für die Zukunft arbeiten. Es erscheint eherwie Copy-and-Paste von ein paar Textbausteinen, die Siezusammengesucht haben. Sie haben noch nicht einmaldas verwendet, was die Enquete-Kommission des Deut-schen Bundestages in der letzten Legislaturperiode erar-beitet hat. Damit wären Sie aber drei Schritte weiter ge-wesen.
Ihre digitale Agenda ist nichts weiter als eine müde undlahme Eintagsfliege. Sie müssen endlich in den Ausbaudes Breitbandnetzes für die mittelständischen Unterneh-men im ländlichen Raum, die dies dringend brauchen,investieren und dürfen dies nicht immer weiter nach hin-ten verschieben. Diese wirtschaftlichen Investitionenwerden wirklich gebraucht.
Gleichzeitig bröckeln die Straßen und die Brücken.Aber das Geld für die Reparatur fehlt wahrlich nicht we-gen der Maut. Was von der CSU einmal als Watschen fürdie Österreicher und Tschechen gedacht war, erweistsich jetzt als Komplettwatschen für die Bundesregie-rung. Herrn Dobrindt glühen jetzt schon die Ohren:rechtlich fragwürdig, finanziell unrentabel und amSchluss bürokratisch ohne Ende, eine Abzocke der Bür-ger. Die Maut vernebelt schlicht und ergreifend, dass Ih-nen ein Plan fehlt, wie Sie die notwendigen Investitionenin Deutschland angehen wollen.
Es kann doch nicht ernsthaft sein, dass man nicht repa-riert, sondern lieber neu baut. Es kann doch nicht ernst-haft sein, dass man sich Direktmandate in Bayern si-chert, indem man Bänder zur Eröffnung einer teurenUmgehungsstraße durchschneidet, statt dafür zu sorgen,dass die Infrastruktur erhalten bleibt.
Frau Merkel, auf sieben fette Jahre sind noch immersieben magere Jahre gefolgt. Das steht schon im BuchGenesis. Dort heißen die mageren Jahre allerdings nichteinfach „magere Jahre“, sondern „teure Jahre“. Genau sowird es kommen: Es wird teuer für die Kommunen, eswird teuer für die Bürgerinnen und Bürger, und es wirdverdammt teuer für die kommende Generation.
Die Politik Ihrer Regierung lässt sich im Moment nurfolgendermaßen zusammenfassen: außen Krise, innenMaut.
Ich frage mich: Wann nehmen Sie sich eigentlich dieganz großen Fragen vor? Sie haben heute über Migrationgeredet; dazu komme ich gleich. Wie ist es mit dem Kli-maschutz? Das ist eine der zentralen Fragen, um die esgeht. Wir wissen nicht erst seit Nicholas Stern, dass esuns alle teuer zu stehen kommt, wenn wir nicht in denKlimaschutz investieren.
Trotzdem steigt der CO2-Ausstoß in Deutschland. UnserLand wird die Klimaziele nicht erreichen. Ehrlich ge-sagt, das ist mir peinlich, wenn ich im Ausland unter-wegs bin. Wir waren in Sachen Klimaschutz einmal ganzvorne; wir waren Vorbild.Dazu passt, dass Sie noch nicht einmal zum Klima-gipfel reisen werden.
Wenn sich alle Staats- und Regierungschefs zusammen-setzen und über Klimaschutz reden, wird der Platz derdeutschen Bundeskanzlerin frei bleiben. Das zeigt, dassSie diese zentrale Zukunftsfrage, über die Sie einmal ge-sagt hatten, sie sei Ihnen wichtig, aus Ihrem Konzeptverbannt haben. Wenn wir auf diesem Gebiet nichts tun,dann versündigen wir uns an uns selbst. Dann versündi-gen wir uns an den Menschen, die am anderen Ende derWelt inzwischen zu Klimaflüchtlingen geworden sind,und erst recht an unseren Kindern und Kindeskindern.Deswegen sage ich: Kehren Sie um!
Wir brauchen endlich ein Klimaschutzgesetz, das die-sen Namen auch verdient. Aber im Moment verhindertdas die große Kohlekoalition. In Brandenburg kann mandas ganz gut sehen: SPD, CDU und Linke sind vereint inder großen Kohlekoalition. Das ist Politik nicht des letz-ten, sondern des vorletzten Jahrhunderts. Kohle ist dre-ckig und ineffektiv. Zuletzt baggern Sie den Menschen
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ihre Heimat weg, ihre Dörfer, und zwar ohne Rücksichtauf Verluste. Ich sage Ihnen ganz klar: Hören Sie mitdieser rückwärtsgewandten Politik auf! Klimaschutz istdas nicht und ernsthafte Politik auch nicht.
Deutschland ist nicht mehr das Land, das ich 1989kennengelernt habe. Wir sind ein Einwanderungslandgeworden. Das hat uns gutgetan. Das ist auch keine Ro-mantik, sondern das Leben in Deutschland: Da ist derArzt aus Indien im Landkrankenhaus. Da ist das syrischeMädchen in der Kindertagesstätte. Da ist die weißrussi-sche Pflegekraft bei der Großtante. – Diese Entwicklungwird weitergehen – wir können uns darüber freuen –,aber uns auch viel abverlangen.Angesichts der aktuellen Entwicklung will ich hiervor allem auf die Situation der Flüchtlinge eingehen.Seit Monaten habe ich keine Nachrichtensendung mehrgesehen, in der nicht die außenpolitischen Krisen an ers-ter Stelle standen. Die Welt ist im Wandel, und wir sindmittendrin. Wir können die Augen nicht mehr davor ver-schließen.
Es hilft auch nicht, wieder zu betonen, dass wir dochschon viele Flüchtlinge aufnehmen. Wir können mehraufnehmen, wir sollten mehr aufnehmen, und wir müs-sen auch mehr aufnehmen.
Das Gute in diesem Zusammenhang ist doch, meineDamen und Herren, dass wir in unserem Land eine hoheBereitschaft zu helfen und eine Solidarität gegenüberFlüchtlingen erleben, wie es sie bisher kaum gegebenhat. Aber natürlich stellt die angemessene Unterbrin-gung dieser Menschen Länder und Kommunen vorgroße Herausforderungen – ja. Aber wer bitte soll siedenn bewältigen, wenn nicht ein Land, dem es so gutgeht wie unserem?
Die zynische Forderung: „Wer betrügt, der fliegt!“,zeigt hier ihre ganze Perfidität. Die Menschen habenGründe für ihre Flucht, und sie nehmen unendliche Risi-ken auf sich, um bei uns Schutz zu suchen. JederMensch, der hierherkommt und Asyl beantragt, hat einRecht darauf, dass sein Antrag sorgfältig und im Einzel-nen geprüft wird. Das Asylrecht ist ein Grundrecht,meine Damen und Herren.
Die Verfolgung, die Diskriminierung der Menschenauf dem Balkan kann und darf nicht leichter wiegen alsdie eines Menschen aus einem anderen Land.
Wir können uns nicht noch einmal schuldig machen anden Roma dort und an den Sinti und Roma hier. Die Ehr-lichkeit gebietet es, finde ich, das auch auszusprechen.Von jemandem, der keine Schule besuchen kann, derkeine Aussicht hat, jemals einen Beruf zu ergreifen, derAnfeindungen und Gewalt begegnet, und zwar wegenseiner Herkunft, weil er zu einer bestimmten Gruppe ge-hört, kann man nicht sagen, dass er in einem sicherenLand lebt, meine Damen und Herren.
Die Not solcher Menschen gegen die Not anderer auszu-spielen, ist auch geschichtsvergessen.Wenn Sie genau hinschauen würden – und zwar ohnePopulismus –, dann würden Sie angesichts der Anzahlder Menschen, um die es hier geht, sehen, dass es mit-nichten irgendeine Erleichterung bringen würde, wennsie nicht hier wären. Nehmen Sie die Situation der Romain den Balkanstaaten endlich ernst, und betrachten Siesie als das, was sie oft genug ist: ein Grund zu fliehen,meine Damen und Herren.
Ich sage Ihnen auch: Für die Flüchtlinge, die aus demIrak, aus Syrien, aus Afrika kommen, ist es elementar,dass sie hier arbeiten dürfen. Das ist übrigens auch gutfür die Kommunen und für die Unternehmen. Es wärebesser, menschlicher und angemessener, wenn Men-schen, die vor Krieg fliehen mussten, aber gestern nochganz normal – so wie wir – gelebt haben, in einer Woh-nung mit Wohnzimmer und Küche, mit einem kleinenAuto vor der Tür und zwei Kindern, endlich eine ausrei-chende, menschenwürdige medizinische Versorgung be-kämen.Wo Sie doch so gern von Bürokratieabbau reden: DasAsylbewerberleistungsgesetz ist und bleibt diskriminie-rend. Aber es ist auch eine riesige bürokratische Krake.Sie können in diesem Zusammenhang noch so vieleLeute einstellen – Sie könnten viel mehr erreichen, wenndieser Quatsch endlich abgeschafft würde.
Deswegen sage ich Ihnen klar: Legen Sie ein Ver-handlungsangebot vor, aber keines, mit dem wir die ei-nen gegen die anderen ausspielen. Wir müssen vielmehrdarüber reden, wie es möglich ist, Flüchtlingen in einemLand, dem es gut geht, eine Heimat zu geben, weil ihreverloren ist. Das ging nach dem Zweiten Weltkrieg.Meine Großmutter konnte davon erzählen. Sie sollten esnicht riskieren, dass Ihre Enkel irgendwann einmalGrund zu der Frage haben: Warum habt ihr diesen Men-schen nicht geholfen?
Ja, das ist anstrengend. Aber ich biete Ihnen aus-drücklich an, dass wir diese Anstrengung gemeinsamtragen, wenn nicht von den Grundsätzen abgewichenwird, dass das Recht auf Asyl ein Grundrecht ist und esnicht Flüchtlinge verschiedener Kategorien gibt. Esmuss der Grundsatz gelten, dass alle Flüchtlinge Men-schen wie du und ich sind, aber in großer Not. Es gehtum Haltung und um Hilfe. Dazu braucht es Geld, und es
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wird Fantasie brauchen. Hilfsbereitschaft ist schon da,und ich bin den Menschen außerordentlich dankbar da-für. Es wird auch Kompromisse brauchen, zum Beispielbei der Art der Unterbringung. Was wir aber nicht brau-chen, ist, dass jetzt wieder der Stammtisch bedient wird,die extremen Rechten und auch die von der angeblichenAlternative. Das können wir gemeinsam schaffen, wennSie wirklich wollen, meine Damen und Herren.
Natürlich kann man an einem solchen Tag nicht zumThema der Bekämpfung des politischen Islamismusschweigen. Zehn Jahre hat die Bundesregierung vor al-lem auf eines gesetzt: auf Repression. Strafrechtsver-schärfung und Überwachung sind aber zu wenig. Daswissen wir alle.Es reicht jetzt offensichtlich, dass sich ein paar jungeMänner Warnwesten anziehen, durch die WuppertalerInnenstadt ziehen und sich gerade noch so verhalten,dass es keine Volksverhetzung oder Nötigung ist, undschon ist Ihr Ansatz ad absurdum geführt. Sie gehen de-nen doch auf den Leim. Dieser PR-Trick hat wunderbarfunktioniert. Die Moschee der islamistischen Westenträ-ger aus Wuppertal ist angeblich voll. Das ist die Gefahr.Sie sind zweifelsfrei mit Ihrer Art gescheitert. Dabeikönnten Sie wissen, wie man Extremismus richtig be-kämpft: mit Prävention bzw. Vorbeugung. Aber genaudas passiert eben nicht. Was brauchen wir denn? Wirbrauchen Aufklärung an Schulen, vor allem Islamunter-richt. Wir brauchen auch Beratungsangebote für Fami-lien. Es ist doch irre, dass den Eltern, die das Verhaltenihrer Kinder häufig genug missbilligen, nur eine Hotlinebeim Verfassungsschutz zur Verfügung steht – also beider Institution, die bei der Aufklärung der NSU-Mordse-rie komplett versagt hat. Professionelle Prävention gehtanders, meine Damen und Herren.
Es ist auch ein wirksames Aussteigerprogramm not-wendig. Von ISIS, seiner einfachen Ideologie und seineraufwendigen Medienstrategie geht für eine Minderheitjunger Menschen eine gefährliche Faszination aus, derman nicht mit Strafandrohungen begegnen kann. Hiermuss die Bundesregierung ansetzen. Aber ich sage ganzklar: Dazu gehören auch die Verbände und die Gemein-den. Das wird nicht ohne die Zivilgesellschaft gehen.
Meine Damen und Herren, die Erwartungen an gutesLeben in unserem Land haben sich geändert. Das gilt be-sonders dann, wenn es um Gesundheit und um Essengeht. Deswegen brauchen wir dringend eine andere Stra-tegie in unserer Landwirtschaft. Eigentlich sind Sie im-mer gerne die Heimatpartei. Mit Ihrer Landwirtschafts-politik zerstören Sie die Heimat allerdings.Sie haben in den vergangenen Jahren versucht, diedeutsche Landwirtschaft komplett auf Industrialisierungund Export zu drillen, statt auf regionale Strukturen unddie Betriebe zu setzen, die anständig produzieren. Naklar, ich liebe Thüringer Bratwurst. Aber ich will mirdoch beim Essen nicht vorstellen müssen, dass demSchwein der Schwanz abgeschnitten wurde und dass dieSchweine Hunderte von Kilometern durch das Land ge-fahren wurden. Ich will mir auch nicht vorstellen müs-sen, dass ich gerade Antibiotika mitesse, obwohl wederdas Schwein noch ich krank sind.
Deswegen sage ich ganz klar: Es muss Schluss seinmit dieser Art der industriellen Massentierhaltung. Esmuss Schluss sein mit dieser Art von Produktion. DerFleischkonsum ist nicht gestiegen, sondern gesunken.Dass über ein Drittel der Rindertransporte in Deutsch-land inzwischen beanstandet wird, zeigt, wo wir stehen.Sie haben dafür gesorgt, dass ein Drittel der Fördermittelaus Brüssel an gerade einmal 2 Prozent der Unterneh-men geht. Das ist absurd, und es ist falsch, meine Damenund Herren.
Dieser Haushalt ist zum Selbstzweck geworden. Er isteher eine PR-Aktion. Vielleicht entspricht er irgendwel-chen Umfrageergebnissen, die Sie in der vergangenenWahlperiode für 11 Millionen Euro in Auftrag gegebenhaben. Jetzt ist dieser große Vertuschungsballon ge-platzt. An dieser Stelle waren Sie mit dem Datenschutzziemlich klar. Ich bin sehr froh, dass Malte Spitz entspre-chende Hartnäckigkeit an den Tag gelegt und gezeigthat, was Sie alles abfragen. Ehrlich gesagt, ist das schonziemlich krass. Den Schülern ist es wichtig, wie vieleFreunde sie bei Facebook haben. Sie zielen auf ein Ran-king der Bundesminister und fragen das bei der Bevölke-rung ab. Kriegt man dafür Bonuspunkte, oder hat man inIhrem Kabinett ein Gesetz frei, wenn man dabei gewon-nen hat?
Wer so arbeitet und regiert, dem geht es vor allem umsich selbst. So sieht dann auch der Haushalt aus:
Es ist ein Haushalt ohne Gestaltungswillen und ohne Zu-kunftswillen. Es ist ein Haushalt auf Kredit bei der Zu-kunft. Ich kann Sie nur auffordern: Ändern Sie das,wenn Sie hier noch einmal von Generationengerechtig-keit sprechen wollen!
Für die SPD-Fraktion spricht Thomas Oppermann.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! DerWaffenstillstand, der am vergangenen Freitag für dieSüdostukraine vereinbart worden ist, ist zwar noch im-mer brüchig. Wenn es aber gelingen sollte, diese Feuer-pause dauerhaft zu stabilisieren, dann wäre das nicht nureine Chance für eine politische Lösung, sondern es wärevor allem auch ein Ende des unerträglichen Leids der Zi-vilbevölkerung. Ich wünsche von ganzem Herzen, dasses bei dieser Feuerpause bleibt.
Ich möchte mich bei der Bundeskanzlerin und demBundesaußenminister dafür bedanken, dass sie wochen-und monatelang unermüdlich auf direkte Gespräche unddie bereits erwähnte Feuerpause hingearbeitet haben.Das ist immer die Voraussetzung für politische Lösun-gen. Ich habe gerade eine Agenturmeldung gelesen, wo-nach Präsident Poroschenko berichtet, dass 70 Prozentder russischen Streitkräfte aus dem Gebiet der Ukraineabgezogen seien.
Wenn diese Meldung zutreffen sollte, dann wäre das si-cherlich eine Bewegung in die richtige Richtung.
Dass dieser Waffenstillstand zustande kam, hat auchdamit zu tun, dass auf dem NATO-Gipfel in der vergan-genen Woche eine entschiedene, aber maßvolle Antwortauf die Situation in der Ukraine gefunden wurde. Alle 28NATO-Mitglieder haben bekräftigt, dass sie füreinandereinstehen. Jedes einzelne NATO-Land kann nur in Si-cherheit leben, wenn alle anderen NATO-Länder eben-falls in Sicherheit leben. Die Europäische Union und dieNATO stehen fest zusammen. Das ist, glaube ich, einegute Botschaft für unsere östlichen NATO-Partnerländer.
Jeder, der heute Morgen die bewegende Rede vonPräsident Komorowski gehört hat, kann nachvollziehen,dass die Polen und die Balten in großer Sorge sind. Ichmuss sagen: Andere haben jahrzehntelang Verantwor-tung für uns Deutsche, für unsere Sicherheit übernom-men. Dann ist es ganz selbstverständlich, dass wir jetztebenfalls Verantwortung für andere übernehmen.
Es war aber auch richtig, maßvoll zu handeln, an derNATO-Russland-Grundakte festzuhalten und keineNATO-Kampftruppen in Osteuropa dauerhaft zu statio-nieren.
Zwar hat Putin gegen den Geist dieser Vereinbarung ver-stoßen. Aber in einer Zeit, in der wir auf die Einhaltungdes Völkerrechts sowie die Einhaltung bestehender Ver-träge dringen, ist es nicht klug, selbst bestehende Ver-träge aufzukündigen. Stattdessen hat die EU weitereSanktionen beschlossen bzw. vorbereitet, die bei Bedarfin Kraft treten können und die russische Entscheidungs-elite sowie die russische Wirtschaft empfindlich treffenbzw., soweit sie noch umgesetzt werden müssen, treffenkönnen. Es ist gut, dass es dabei immer eine offene Türfür Russland gibt. Manche halten diese Maßnahmen fürnicht ausreichend und fordern härtere Maßnahmen. Ichwarne davor, die Wirkungen der Sanktionen kleinzure-den und sich über diplomatische Mittel zur Lösung derKrise verächtlich zu äußern, wie das teilweise geschieht.
Diesen Stimmen sollten wir nicht nachgeben; denn die-ser Konflikt kann – darüber besteht in der NATO großeEinigkeit – nicht mit militärischen Mitteln gelöst wer-den. Wir sollten uns nicht dazu hinreißen lassen, aufzu-hören, miteinander zu reden. Wir sollten nichts tun, wasdazu führt, dass nicht mehr miteinander geredet werdenkann.
Der Oppositionsführer Gregor Gysi hat heute eine be-merkenswerte Rede gehalten.
Lieber Herr Gysi, Ihre Rede hatte einen roten Faden undals einzigen Tenor: Die Bundesregierung macht allesfalsch, und Herr Gysi hat immer recht.
Sie haben nur am Ende Ihrer Rede einen kleinen Fehlergemacht, als Sie gesagt haben: Ich will nicht rechthabe-risch sein. – Mit diesem Satz haben Sie sich nämlichvom gesamten Inhalt Ihrer Rede selbst distanziert.
Wenn Sie sich hier hinstellen und sagen, Sie hättenbeim Mindestlohn recht gehabt und sich dafür rühmen,
dann kann ich Sie nur fragen: Wo waren Sie denn, alswir vor zwei Monaten über den Mindestlohn abgestimmthaben?
Sie haben dem Mindestlohn nicht zugestimmt. Wennalle sich so wie die Linke verhalten hätten, dann gäbe es
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4566 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 50. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2014
Thomas Oppermann
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heute keinen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro inDeutschland. Das ist die Wahrheit.
Sie haben hier auch einiges über TTIP erzählt. Man-ches davon haben Sie aus aktuellen Debatten aufgegrif-fen, aber einiges war auch Unfug.
Ich will Ihnen einmal sagen, welche Maßstäbe ein Frei-handelsabkommen erfüllen muss.
Kollege Oppermann, gestatten Sie vorher eine Frage
oder Bemerkung des Kollegen Matthias W. Birkwald?
Ja, gern.
Vielen Dank, Frau Präsidentin, vielen Dank, Herr
Fraktionsvorsitzender, dass Sie die Frage zulassen.
Sie haben eben eine Bemerkung zum gesetzlichen
Mindestlohn gemacht und kritisiert, dass Gregor Gysi
darauf hingewiesen hat, dass es ohne die Linke den Min-
destlohn heute nicht gäbe.
Ich will Sie darüber in Kenntnis setzen, dass es einen
Bundesparteitag der SPD gab, auf dem die heutige Bun-
desministerin für Arbeit und Soziales, Andrea Nahles,
für einen Mindestlohn als Position der SPD geworben
hat und es Franz Müntefering war, der dem Parteitag
empfohlen hat, diesen Vorschlag abzulehnen.
Das Ganze geschah zu einem Zeitpunkt, als die Linke
schon längst für einen flächendeckenden gesetzlichen
Mindestlohn in Deutschland gekämpft hat. Wir haben
damit in unserer Partei 1995 begonnen und haben da-
mals auch in der eigenen Partei Schwierigkeiten gehabt.
Ab dem Jahr 2000 hat unsere Vorgängerpartei PDS eine
Kampagne für den gesetzlichen Mindestlohn gemacht.
Im Jahr 2002 hat die Linke den ersten Antrag für einen
flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn in den Bun-
destag eingebracht.
Die SPD hat damals immer Nein gesagt.
Damit wir uns nicht missverstehen: Ich freue mich
sehr, dass heute die SPD und sogar die CDU/CSU und
einige wenige Kollegen, die diesem Hause jetzt nicht
mehr angehören, und sämtliche Gewerkschaften dafür
sind. Aber zur Wahrheit gehört schon, zu sagen, wer
begonnen hat, dieses Thema auf die Tagesordnung zu
setzen. Ich frage Sie, ob Sie bereit sind, das anzuerken-
nen.
Lieber Herr Kollege, wenn Sie sich wirklich freuenwürden, dass es heute einen gesetzlichen Mindestlohngibt, dann hätten Sie vor zwei Monaten mit Ja stimmenmüssen und nicht mit Enthaltung.
Wenn Sie an der historischen Wahrheit interessiertsind, dann müssen Sie die Debatte über den Mindestlohnin Deutschland auch korrekt darstellen. Zur Wahrheit ge-hört nämlich, dass vor 2005, als die SPD den Mindest-lohn in ihr Wahlprogramm aufgenommen hat, es in denGewerkschaften eine heftige Kontroverse über dieseFrage gab und mehrere DGB-Gewerkschaften dieEinführung eines gesetzlichen Mindestlohns abgelehnthaben.
Das war eine offene Debatte. An dieser Debatte habenwir teilgenommen und daraus die richtige Schlussfolge-rung gezogen. Am Ende ist entscheidend, dass wir denMindestlohn umgesetzt haben. Sie haben dabei gefehlt.Das war ein historischer Fehler, den Sie gemacht haben.
Herr Gysi, noch ein Wort zu TTIP. Auch damit habenSie sich ausführlich beschäftigt. Ich kann Ihnen sagen:Es wird kein Freihandelsabkommen geben, das dieRechte des demokratischen Gesetzgebers, verfassungs-konforme Gesetze zu erlassen, in irgendeiner Weisebeeinträchtigt. Ich sage Ihnen: Es gibt nur Freihandels-abkommen, bei denen jeder Investor in Deutschland dieverfassungsgemäßen, gesetzlichen Regeln voll zu beach-ten und zu respektieren hat. Etwas anderes kann es garnicht geben.
Meine Damen und Herren, die wirtschaftliche Situa-tion in Deutschland ist gut. Wir hatten im Juli einen Aus-fuhrrekord: Waren im Wert von über 100 MilliardenEuro wurden exportiert. Die Zahl der Beschäftigtensteigt weiter. Wegen guter Lohnabschlüsse mit kräftigenSteigerungen haben wir auch eine starke Binnennach-frage. Aber der Konflikt zwischen Russland und derUkraine wird, wenn er nicht beigelegt wird, auch anunserer Wirtschaft nicht spurlos vorübergehen. Es gibt
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Thomas Oppermann
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Unsicherheit über Investitionen, weswegen Investitions-entscheidungen aufgeschoben werden. Wir haben imAugust gesehen, dass das Wirtschaftswachstum im ers-ten Halbjahr 2014 etwas schwächer ausgefallen ist.Die Entwicklung zeigt: Wirtschaftlicher Erfolgkommt nicht von selbst. Wir müssen aktiv dafür arbei-ten, dass die wirtschaftliche Stärke Deutschlands erhal-ten bleibt.Ausdruck dieser wirtschaftlichen Stärke ist, dass wirdiesen Haushalt verabschieden können – zum ersten Malseit 46 Jahren einen Haushalt ohne neue Schulden. Dasist eine historische Zäsur.
46 Jahre lang haben wir immer nur neue Schulden aufge-türmt. Jetzt schaffen wir einen ausgeglichenen Haushalt.In Spitzenzeiten hatten wir eine Zinsbelastung von40 Milliarden Euro. Das hat die Handlungsfähigkeit un-seres demokratischen Gemeinwesens drastisch einge-schränkt. Nur ein Staat, der finanziellen Spielraum hat,kann investieren, kann gestalten und kann für sozialenAusgleich sorgen.
Deshalb ist es gut, dass wir jetzt einen ausgeglichenenHaushalt haben. Das ist auch eine gute Botschaft an diejungen Menschen in diesem Land: Wir wollen keinePolitik zulasten der künftigen Generationen mehr ma-chen.
Aber der Haushalt enthält auch andere Botschaften.Wir entlasten die Länder beim BAföG, damit sie mehr inBildung investieren können. Wir entlasten die Kommu-nen um weitere 1 Milliarde Euro jährlich im Vorgriff aufdas Bundesteilhabegesetz. Mit der Entlastung der Kom-munen bei der Grundsicherung sind das jetzt 5,5 Milliar-den Euro Entlastung. Wir investieren 6 Milliarden Euroin dieser Wahlperiode in Forschung und Entwicklung.Außerdem investieren wir in den Erhalt und Ausbauder Infrastruktur in dieser Wahlperiode insgesamt 5 Mil-liarden Euro. Das alles sind Schritte in die richtigeRichtung, aber sie reichen nicht aus, um die gewaltigenInvestitionsprobleme in diesem Lande zu lösen.Der Investitionsstau ist leider keine Erfindung derMedien, sondern ein real existierendes Problem unsererVolkswirtschaft. Im Bereich der öffentlichen Infrastruk-tur investiert Deutschland 0,8 Prozent des Bruttoinlands-produktes, also 20 Milliarden Euro pro Jahr weniger alsder Durchschnitt der OECD-Länder.
Die getätigten Investitionen reichen nicht aus, um dasabzudecken, was jährlich durch Verschleiß verlorengeht.
Mit anderen Worten, wir leben von der Substanz. Alleinim Verkehrsbereich müssten in Deutschland nach denunbestrittenen Feststellungen der Bodewig-Kommission7 Milliarden Euro im Jahr mehr investiert werden, umdie Substanz zu erhalten.
Davon sind wir trotz aller Anstrengungen noch weit ent-fernt.
Deshalb müssen wir uns jetzt vor allem auf zwei Dingekonzentrieren:Erstens. Wir dürfen die Mautdebatte nicht auf diePkw-Maut verengen, sondern wir müssen vor allem füreine schnelle Ausweitung der Lkw-Maut auf allen Bun-desstraßen sorgen.
Das Geld, das wir einnehmen, muss dort investiert wer-den, wo es am dringendsten benötigt wird: in die großenüberregionalen Engpassstellen unseres Verkehrsnetzes.Wir brauchen eine klare Prioritätensetzung,
und das muss sich auch in der Investitionsplanung derBundesregierung widerspiegeln.Zweitens. Wir müssen kreative Wege und Möglich-keiten suchen, wie das in Deutschland reichlich vorhan-dene private Kapital stärker in den Ausbau der Infra-struktur investiert werden kann,
statt in spekulativen und hochriskanten Anlagen im Aus-land verbrannt zu werden. Dabei will ich ganz klar sa-gen: Autobahnen und Schienenwege sind und bleibenöffentliches Eigentum. Herr Gysi, Sie haben keineChance, eine Straße zu kaufen und sie „Gregor-Gysi-Straße“ zu nennen. Wenn das doch noch passieren sollte,müssten Sie sich die historischen Verdienste dafür nocherwerben.
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Thomas Oppermann
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Öffentlich-private Partnerschaften sind nur sinnvoll,wenn sie eindeutig wirtschaftlicher, günstiger sind alsstaatliche Maßnahmen.
Das haben wir im Koalitionsvertrag so vereinbart, unddas werden wir natürlich auch genau so umsetzen.
Kollege Oppermann, nicht der Kollege Gysi, aber der
Kollege hinter ihm würde gern eine Frage stellen oder
eine Bemerkung machen.
Ja, gern.
Herr Oppermann, vielen Dank für die Möglichkeit,
nachzufragen, weil sich in der Behandlung der Frage
„ÖPP bei Verkehrsinfrastrukturprojekten“ doch ein
Widerspruch auftut.
Sie haben als niedersächsischer Abgeordneter massiv
dagegen gewettert, als Verkehrsminister Dobrindt die
Landesregierung angewiesen hat, die Maßnahme an der
A 1 auf jeden Fall privat auf den Weg zu bringen. Das
gilt heute offenbar nicht mehr so. Sie wehren sich nicht
dagegen, zu sagen: „Wir müssen mehr private Investitio-
nen haben“, sondern sagen: Es muss ganz genau nachge-
prüft werden, dass es so wirtschaftlicher ist.
Es sind bereits einige Projekte im Verkehrsetat 2014
enthalten. Es sind weitere neun im Verkehrsetat 2015
vorgesehen. Sie sagen: Es geht nur, wenn diese Projekte
auch wirtschaftlich sind.
Ist es aus Ihrer Sicht gewährleistet, dass alle jetzt im
Bundeshaushalt, im Einzelplan 12, vorhandenen Pro-
jekte so wirklich wirtschaftlich sind und deshalb privat
finanziert werden sollen?
Ich hatte die Antwort schon gegeben, bevor Sie dieFrage gestellt hatten. Es muss in jedem Fall der Nach-weis erbracht werden, dass diese Projekte wirtschaftli-cher sind; sonst sollten sie so nicht finanziert werden;denn es macht keinen Sinn, die Steuerzahler mit teurenprivatwirtschaftlichen Projekten zu belasten. Die Pro-jekte müssen effizient und kostengünstig sein. Das istdie Maxime, die wir haben, und die finde ich auch rich-tig.Ein gutes Beispiel für einen kreativen neuen Weg sinddie Lebensversicherungen. Die Lebensversicherungenbenötigen sichere Anlagen mit sicherer Rendite. Das wa-ren lange die Staatsanleihen. Die fallen wegen der nied-rigen Zinsen weitgehend aus. Deshalb kommen die Ver-sicherer zu uns und sagen: „Wir würden gern mehr inInfrastruktur und in erneuerbare Energien investieren,aber die Rechtslage erlaubt das nicht.“ – Das müssen wirschnellstens ändern.Das Bundeskabinett hat einen Entwurf zur Neufas-sung des Versicherungsaufsichtsgesetzes auf den Weggebracht. Damit bekommen Versicherungen die Mög-lichkeit, in größerem Maße in erneuerbare Energien, inStromleitungen und in den Breitbandausbau zu investie-ren. Das ist überfällig. Das werden wir mit Nachdruckunterstützen.
Aber auch das ist nur ein erster Schritt. Deshalb freueich mich, dass Wirtschaftsminister Gabriel mit der Wirt-schaft ins Gespräch gekommen ist, um eine Investitions-offensive für unser Land auf den Weg zu bringen. Inves-titionen, meine Damen und Herren, sind kein Feld fürideologische Auseinandersetzungen; sie sind zentralerGegenstand unserer Verantwortung gegenüber künftigenGenerationen, und der müssen wir gerecht werden.
Der zweite Engpass – neben der Infrastruktur – sinddie Fachkräfte. Bis 2025, also innerhalb eines Zeitraumsvon zehn bis elf Jahren, stehen dem Arbeitsmarkt 6 Mil-lionen Erwerbspersonen weniger zur Verfügung alsheute. Gleichzeitig verlassen jedes Jahr immer noch50 000 junge Menschen das deutsche Schulsystem, ohneeinen Abschluss zu haben, und jedes Jahr brechen25 Prozent der Jugendlichen ihre Ausbildung ab. Im Er-gebnis haben dadurch 1,5 Millionen junge Menschenzwischen 25 und 35 keine abgeschlossene Berufsausbil-dung. Das ist nicht nur ökonomisch ein ganz großerMissstand; es kann uns auch menschlich nicht kaltlas-sen, dass junge Menschen ohne Perspektive sind, sich alsmoderne Tagelöhner durchschlagen müssen und schonHartz IV bekommen. Wir müssen dringend etwas an die-sem Zustand ändern, meine Damen und Herren.
Im Augenblick leben wir von der Einwanderung,wenn es darum geht, unseren Fachkräftemangel auszu-gleichen, aber das wird auf Dauer nicht reichen. Wirmüssen mehr Anstrengungen unternehmen, um unserejungen Menschen durch Nachqualifizierung in denArbeitsmarkt zu bringen. Genau das sollen die Allianzfür Aus- und Weiterbildung und die Allianz für Fach-kräfte in der Zusammenarbeit von Bundesregierung,Wirtschaft und Sozialpartnern erreichen. Wer seine ersteChance verpasst und aus dem Bildungssystem heraus-fällt, dem müssen wir eine zweite und – wenn es seinmuss – eine dritte Chance geben, meine Damen und Her-ren.
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Aber bei denjenigen, die den Abschluss schaffen, dürfendie weiteren Bildungschancen nicht vom Geldbeutel derEltern abhängen. Deshalb wird es 2016 eine kräftigeBAföG-Erhöhung geben. Wir erhöhen aber auch dieFreibeträge um 7 Prozent, mit der Wirkung, dass zusätz-lich 100 000 Studierende aus den Mittelschichten durchdas BAföG gefördert werden können. Wir haben uns mitden Ländern darauf geeinigt, dass der Bund ab 2015 dieAusgaben für das BAföG allein übernimmt. Das ist eingroßer Schritt nach vorn; denn dadurch können die Län-der Milliarden in den Ausbau von Kitas, Schulen undHochschulen stecken. Ganz wichtig ist: KünftigeBAföG-Erhöhungen sind nicht mehr von der Kassenlageder Länder abhängig.Diese Koalition hat sich vorgenommen, dass Frauenund Männer gleiche Rechte und gleiche Chancen be-kommen. Es kann nicht sinnvoll sein, wenn fast 50 Pro-zent der Studierenden weiblich sind, bei den Führungs-kräften nur noch 30 Prozent und bei denVorstandspositionen nur noch 4 Prozent. Das ist eineSchwundquote, die mit dem Leistungsprinzip nichts,aber auch gar nichts zu tun hat.
Natürlich sind das immer noch tradierte Rollenbilderund Arbeitsteilungen, die Frauen den Weg in eine erfolg-reiche Berufstätigkeit verbauen. Aber wir merken, dasseine Änderung des Status quo immer auch eine Macht-frage ist. Manche Dinge bewegen sich eben nur, wennman Druck ausübt, zum Beispiel für die Gleichberechti-gung in deutschen Aufsichtsräten oder Großkonzernen.Deshalb brauchen wir nicht nur freiwillige Vereinbarun-gen, wir brauchen Regeln und Mechanismen wie dieFrauenquote und ein Entgeltgleichheitsgesetz, um dieseMachtstrukturen aufzubrechen. Deshalb sage ich ganzklar: Die Frauenquote muss kommen.
Viele Familien in diesem Land beklagen sich auchüber die enormen Schwierigkeiten des Alltages. Es gibtnicht genügend Kitaplätze von hoher Qualität. Sie findenkeine Ganztagsschule für ihre Kinder. Sie wollen ihreAngehörigen zu Hause pflegen. Es ist ein Himmelfahrts-kommando, beim Arbeitgeber wegen Teilzeit nachzufra-gen. Unsere Arbeitsministerin, Andrea Nahles, nennt das„den ganz normalen Wahnsinn der Familie“. Wir wollen,dass die Familien mehr Unterstützung und mehr Freiheitbekommen, ihre Zeit nach ihren eigenen Vorstellungeneinzuteilen. Dazu werden wir mit dem ElterngeldPlusund dem Familienpflegezeitgesetz zwei ganz wichtigeInitiativen der Koalition im Parlament beraten.Auch wenn es darüber im Koalitionsvertrag, lieberVolker, keine Einigung gegeben hat, finde ich den Vor-schlag von Manuela Schwesig, eine Familienarbeitszeiteinzuführen, hochinteressant; denn das ist eine Idee, mitder am Ende – das sagen uns die Vertreter der Wirt-schaft – sogar die Gesamtarbeitszeit von Männern undFrauen erhöht werden kann und sie trotzdem mehr Zeitfür die Familie haben. Vielleicht sollten wir darübernoch einmal nachdenken.
Es hilft den Menschen, ihre eigene Zeit nach ihren eige-nen Vorstellungen aufzuteilen, um Beruf, Kinder, Pflegeund Freizeit unter einen Hut zu bringen. Lassen Sie unsdarüber nachdenken, wie wir ihnen dieses Stück Freiheitzurückgeben können.Die Situation der Flüchtlinge. Krieg und Terror füh-ren dazu, dass immer mehr Flüchtlinge Schutz inDeutschland suchen. In diesem Jahr rechnen wir mitüber 200 000 Asylbewerbern. Es ist nicht absehbar, dasses im nächsten Jahr weniger werden. Ich sage: Es ist un-sere gemeinsame Aufgabe, die Aufgabe aller Fraktionenin diesem Hause, diese Flüchtlinge in Deutschland soaufzunehmen und unterzubringen, dass sie nicht zumAngriffsobjekt für rechtsextreme Gruppen werden. Da-bei dürfen wir die Kommunen nicht alleine lassen.
Deutschland nimmt zurzeit die meisten Flüchtlinge inder Europäischen Union, und zwar 30 Prozent allerFlüchtlinge, die nach Europa kommen, auf. Die anderenLänder müssen sich dieser Verantwortung aber auch stel-len. Wir wollen ein europäisches Flüchtlingskonzept,Herr Innenminister. Wir unterstützen Sie in der Forde-rung, dass die große Zahl der Flüchtlinge unter allenMitgliedsländern in der Europäischen Union fair verteiltwerden muss. Jeder muss dabei mitmachen. Keiner kannsich dieser Aufgabe entziehen. Dabei haben Sie unsereUnterstützung.Wenn wir am Ende sehen, dass wir nicht allen Flücht-lingen in Deutschland helfen können, dann müssen wiruns auf die konzentrieren, die am stärksten von Krieg,Verfolgung und Vertreibung betroffen sind. Mit anderenWorten: Wir müssen dort helfen, wo die Not am größtenist. Das setzt voraus, liebe Kollegen und Kolleginnenvon den Grünen, dass wir Prioritäten setzen, wenn wir esgut machen wollen. Und wir müssen es gut machen.Deshalb appelliere ich an Sie, das Gesetz über sichereHerkunftsstaaten nicht aufzuhalten, sondern im Bundes-rat passieren zu lassen. Dieses Gesetz beendet übrigensdas neunmonatige Arbeitsverbot für Asylbewerber undgibt ihnen die Möglichkeit, schon nach drei Monaten zuarbeiten. Ich sage Ihnen: Der beste Schutz vor Diskrimi-nierung ist es, wenn Flüchtlinge schon früh eine Arbeitaufnehmen und ihren eigenen Lebensunterhalt verdienenkönnen.
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Kollege Oppermann, gestatten Sie eine Frage oder
Bemerkung des Kollegen Volker Beck?
Ja.
Vielen Dank, Herr Oppermann. – Würden Sie der
Einschätzung von Ulrich Schneider vom Paritätischen
Gesamtverband zustimmen, dass man die Rechte für
Flüchtlinge, zum Beispiel im Hinblick auf den Zugang
zum Arbeitsmarkt, nicht gegen das Asylgrundrecht von
Flüchtlingen aus sicheren Herkunftsstaaten ausspielen
sollte, sondern dass man diese Fragen unabhängig vonei-
nander betrachten muss? Man kann doch eine Verbesse-
rung der Situation der Menschen, die hier sind, nicht er-
kaufen, indem man anderen Rechte abschneidet.
Entweder sind diese Herkunftsstaaten sicher oder nicht.
Ich glaube das zwar nicht; denn das gilt zumindest nicht
für Roma und Homosexuelle in diesen Ländern. Wenn
Sie aber sicher sind, dann kann man das so regeln. Man
muss das nicht mit einer anderen Frage verbinden. Das
klingt ein bisschen nach Zuckerbrot und Peitsche.
Wenn Sie den Arbeitszugang für Flüchtlinge für so
wichtig für die Integration halten, wie Sie es sagen – diese
Einschätzung teile ich –, dann verstehe ich nicht, warum
man nur die Frist verkürzt, aber die Vorrangprüfung
beim Zugang zum Arbeitsmarkt, an der die meisten, die
grundsätzlich arbeiten dürfen, scheitern, nicht gleichzei-
tig beseitigt. Die Vorrangprüfung beim Zugang zum Ar-
beitsmarkt für Flüchtlinge bedeutet nämlich, dass man
erst schauen muss, ob ein Deutscher oder EU-Bürger für
eine bestimmte Stelle infrage kommt, und dass der Un-
ternehmer erst, wenn keiner gefunden wird, einen
Flüchtling einstellen kann. Das führt unabhängig von
den Fristen dazu, dass Flüchtlinge mit Arbeitserlaubnis
faktisch nicht arbeiten können. Diese Regelung muss
weg, wenn wir die Flüchtlinge tatsächlich willkommen
heißen und dafür sorgen wollen, dass deren Leben hier
in Deutschland nach der Aufnahme neu beginnen kann.
Lieber Kollege Beck, Volker Kauder und ich habendoch deutlich gemacht, dass wir miteinander über dieseDinge reden können. In vielen Situationen läuft die Vor-rangprüfung doch vollständig ins Leere, weil die Unter-nehmen überhaupt keine Arbeitnehmer mehr auf demArbeitsmarkt bekommen, da es in vielen Regionen inDeutschland Vollbeschäftigung gibt. Selbstverständlichkönnen wir darüber reden. Ich weise aber entschiedenzurück, dass wir hier mit Zuckerbrot und Peitsche arbei-ten.
Wir hatten im letzten Jahr knapp 40 000 Flüchtlingeaus den Westbalkanländern. Ich glaube, es ist eine Frageder Verantwortung, ob es in der jetztigen Situation, inder Flüchtlingen aus Syrien, aus dem Nordirak und ausAfrika dringend geholfen werden muss, politisch richtigist, 40 000 Menschen durch ein Asylverfahren laufen zulassen, dessen Anerkennungsquote bei unter 1 Prozentliegt. Ich sage ganz deutlich: In diesen Westbalkanlän-dern gibt es in der Regel keine politische Verfolgung,und wenn es sie gäbe, müsste sie sofort beendet werden;denn diese Länder wollen alle Mitglieder der Europäi-schen Union werden.
Dann können Sie doch nicht mit politischer Verfolgungargumentieren; das kann doch nicht richtig sein.Was derzeit in vielen Großstädten und Ballungszen-tren, aber auch in vielen kleinen Universitätsstädten pas-siert, macht uns große Sorgen: Wer eine größere Woh-nung braucht, hat häufig keine Chance, eine neueWohnung im angestammten Umfeld zu finden. Eskommt vermehrt zu Zwangsräumungen, weil MenschenMieterhöhungen nicht zahlen können. Und Investorenentmieten systematisch Häuser, weil sie wissen, dass beieinem Mieterwechsel die Miete verdoppelt werden kann.Die soziale Verdrängung, die hier stattfindet, meine Da-men und Herren, darf so nicht weitergehen.
Wir haben im Koalitionsvertrag eine Mietpreisbremsevereinbart. Wir müssen dafür sorgen, dass es auch in denangesagten Wohnquartieren der Städte in Zukunft nocheine sozial gemischte Wohnbevölkerung gibt. Deshalbsage ich ganz klar: Die Mietpreisbremse muss kommen.Das Wohnen in großstädtischen Quartieren muss auchfür Menschen möglich sein, die nur ein normales Ein-kommen zur Verfügung haben.
Zum Schluss noch eine Bemerkung zu einer politi-schen Frage, die uns seit der Landtagswahl in Sachsenbeschäftigt. Zum zweiten Mal in sechs Jahrzehnten ha-ben wir erlebt, dass in Deutschland weniger als 50 Pro-zent der Wahlberechtigten bei einer Landtagswahl wäh-len gegangen sind. Ich finde, da dürfen wir nicht einfachzur Tagesordnung übergehen; denn je niedriger dieWahlbeteiligung bei einer Landtags- oder Bundestags-wahl ist, umso höher ist hinterher der Einfluss extremis-tischer Parteien, meine Damen und Herren.
Deshalb sage ich an dieser Stelle ganz klar: Wer Land-tagswahlen in die Sommerferien verlegt, der stärkt dasDesinteresse an Politik
und macht es Menschen leicht, sich aus der Demokratiezu verabschieden.
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Ich finde, dass wir es 25 Jahre nach dem Mauerfall nichthinnehmen dürfen, dass sich immer mehr Menschen inDeutschland von der Demokratie abwenden. Das müs-sen wir stoppen. Deshalb regen wir an, dass alle Fraktio-nen bei dieser Frage in einem Bündnis zur Steigerungder Wahlbeteiligung zusammenarbeiten. Ich finde, dasist etwas, was wir gut zusammen machen können. Wirjedenfalls sind dazu bereit.Vielen Dank.
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege
Volker Kauder.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Am Mittwoch in einer Haushaltswoche dient dieDebatte zum Etat der Bundeskanzlerin immer dazu, sichmit den Schwerpunkten, den großen Herausforderungender deutschen Politik auseinanderzusetzen und sie darzu-stellen. Das heißt nicht, dass wir die vielen innenpoliti-schen Fragen nicht ernst nehmen; aber dafür haben wirja auch die Diskussionen zu den Einzelplänen. Deswe-gen sollten wir uns heute – auch im Hinblick auf das,was die Bundeskanzlerin gesagt hat – mit den großenHerausforderungen beschäftigen und uns einmal an-schauen, welche Antworten von uns gefragt sind.Da ist natürlich die große Herausforderung, mit derwir bei Abschluss der Koalitionsverhandlungen nicht ge-rechnet haben und nicht rechnen konnten: die neue Si-tuation in der Welt und vor allem die neue Situation auchin Europa. Ich war von der Rede des polnischen Staats-präsidenten heute Morgen beeindruckt, der in einer Klar-heit über die Herausforderungen und die Notwendigkeitder Antworten gesprochen hat, wie man es sehr selten inEuropa hört, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Er hat davon gesprochen, dass wir es natürlich nicht hin-nehmen dürfen, dass die Errungenschaften in Europa,zum Beispiel unser Bild vom Menschen, einfach drange-geben werden. Es ist völlig richtig, was die Bundeskanz-lerin gesagt und wir hier, in diesem Deutschen Bundes-tag, mehrfach wiederholt haben: Wir sehen keinemilitärische Lösung des Konflikts in der Ukraine. Eswäre ja geradezu aberwitzig, wenn wir in diesem Jahr, indem wir über den Ersten und den Zweiten Weltkrieg re-den, militärische Lösungen suchen würden. Eines istaber auch klar: Deswegen müssen wir umso mehr mitden politischen Möglichkeiten, die wir haben, arbeiten,und die Dinge, die nicht gut laufen, auch beim Namennennen.
– Einen dümmeren Zwischenruf kann man sich gar nichtvorstellen, als jetzt, da ich hier über humanitäre Pro-bleme rede, von „Säbelrasseln“ zu sprechen. Sie solltensich schämen für diesen Zwischenruf!
Jetzt werde ich Ihnen einmal etwas sagen. Ich hoffe,Ihnen stockt der Atem. Ich habe gesagt, wir müssen fürunser Menschenbild eintreten und die Dinge beimNamen nennen. Die Kollegin Marieluise Beck hat michheute Morgen auf etwas hingewiesen, was einem wirk-lich den Atem stocken lässt – auch darüber müssen wirreden, wenn wir über Sanktionen sprechen –: Natürlichüben die Separatisten in der Ukraine Gewalt aus, undnatürlich werden dort mit militärischem Gerät keineSpielzeugveranstaltungen durchgeführt; aber nochschrecklicher als das ist, dass die Menschen in denGebieten, in denen die Separatisten das Sagen haben, ineiner Art und Weise bedroht werden, die wir nicht hin-nehmen können. Betroffen sind oft die Frauen. Es gibtdas Beispiel von Frau Dowgan, die, weil sie sich für dieukrainische Armee ausgesprochen hat, an einen Prangergestellt und mit Waffen bedroht worden ist
– das ist „Säbelrasseln“! –, die bespuckt worden ist, ge-schlagen worden ist, gedemütigt worden ist, über meh-rere Stunden hinweg. Dazu kann ich nur sagen: So etwasdürfen wir nicht dulden, liebe Kolleginnen und Kolle-gen!
– Ihr Klatschen ist mir völlig egal. – Deswegen bin ichder Meinung, dass wir die Sanktionen durchsetzen müs-sen, dass wir die Antwort geben müssen, dass wir diesnicht hinnehmen.Ich muss sagen: Diese neue Herausforderung, auf diewir zunächst einmal keine Antwort geben konnten, wirdvon dieser Bundesregierung großartig angenommen. DieBundesregierung argumentiert und handelt richtig. Dafürsage ich einen herzlichen Dank der Bundeskanzlerin,aber genauso auch dem Bundesaußenminister. Wir kön-nen wirklich froh sein, in dieser Situation eine solcheBundesregierung unserem Land stellen zu können.
Das zweite große Thema, mit dem wir uns in der in-ternationalen Politik auseinandersetzen müssen, ist derUmgang mit islamistischen Terrorgruppen. Auch da gilt,dass wir konsequent und, wie der polnische Staatspräsi-dent gesagt hat, entschlossen sein müssen und dieseEntschlossenheit denen, die in grober Weise gegen Men-schenrechte verstoßen, auch zeigen müssen.Dass diese Entwicklung uns Sorgen machen muss,zeigen die jüngsten Ankündigungen, und dass diesesThema uns über viele, viele Monate, wahrscheinlichJahre beschäftigen wird, ist doch für uns eine unglaubli-che Herausforderung. Deswegen werden der Einsatz fürFrieden, für Menschenrechte und für Religionsfreiheit
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sowie die Bekämpfung dieses islamistischen Terrors inder nächsten Zeit immer ein Thema unserer Politik in derGroßen Koalition sein müssen und auch sein.Es muss uns doch wirklich erschrecken und dann zumHandeln bringen, wenn wir lesen, dass die verschiede-nen Terrorgruppen jetzt in einen Wettbewerb um diegrößtmögliche Aufmerksamkeit eintreten. In diesenTagen haben wir erfahren, dass al-Qaida sagt: „Wir kom-men einfach nicht mehr vor, weil nur noch über ISIS undderen Brutalität gesprochen wird. Wir wollen das än-dern, und deswegen werden wir uns jetzt unserer Glau-bensgeschwister in Asien annehmen. Wir haben bereitseinen Chef von al-Qaida in Indien benannt“. – Dass esnicht nur dabei bleiben wird, kann man in diesen Tagenin Indien ganz genau sehen. Zum ersten Mal werden inden Slumgebieten in Indien Großplakate aufgestellt, aufdenen Israel dafür verantwortlich gemacht wird, dassKinder verletzt werden, und für vieles andere mehr, umdamit in solchen Gebieten zunächst einmal ein Bewusst-sein zu schaffen. Das Nächste wird sein, dass man natür-lich über den Einsatz der Muslime in Indien sprechenwird. Da kann ich nur sagen: Man muss aufmerksamsein, und natürlich muss man den Menschen vor Ort hel-fen, damit sie denen nicht auf den Leim gehen.Frau Göring-Eckardt, ich teile Ihre Auffassung, dassman nur mit Strafrecht die Dinge nicht regeln kann, aberes gibt Herausforderungen, bei denen man auch mit demStrafrecht eine moralische Kompetenz in diesem Landbeweisen muss. Ich kann nur sagen: Es macht mir großeSorgen – ich finde es unglaublich und hätte nie damit ge-rechnet –, dass wir am Sonntag wenige Meter von die-sem Reichstagsgebäude entfernt eine Kundgebung desZentralrats der Juden unter dem Thema „Steh auf! Niewieder Judenhass!“ haben müssen. Es ist unglaublich,dass das notwendig geworden ist. Da kann ich nur sagen:Es ist richtig, dass wir mit mehreren Maßnahmen denAntisemitismus bekämpfen, unter anderem auch mitdem Strafrecht. Damit sorgen wir dafür, dass bestimmteThesen in unserem Land nicht ungestraft gesagt oderwiederholt werden dürfen.
Natürlich muss abgewogen werden, aber von vornhe-rein nur die soziale Kompetenz herauszustellen und zusagen: „Strafrecht geht nicht“, halte ich für falsch.
Ich bin der Meinung, dass mehrere Dinge geschehenmüssen. Wenn jetzt aber wieder gerufen wird, dass wirbesondere Maßnahmen und Projekte brauchen, dannkann ich nur sagen: Der Einsatz für Toleranz, das Lernenaus unserer Geschichte – nie wieder Judenhass –, das ge-hört nach meiner Auffassung schon zur Grundausbil-dung in unseren Schulen. Das kann man nicht nach demMotto wegschieben: Der Bund muss irgendwelche Pro-jekte auflegen. Ich finde es erschreckend, wenn ich inBerichten lese, dass junge Leute wenig Ahnung von demhaben, was war. Geschichtsunterricht und damit Kennt-nis über das, was in unserem Land einmal war und niewieder sein darf, kann nicht das Thema von Projektender Bundesregierung sein, sondern muss Thema derAusbildung in unseren Schulen sein.
Da sind in besonderer Weise auch unsere Länder gefor-dert.Da wir über das Thema Flüchtlinge reden: Ich bineinverstanden – ich habe das am letzten Montag hier ge-sagt; da gab es noch eine breite Übereinstimmung –,dass wir Flüchtlinge in unserem Land aufnehmen und al-les dafür tun müssen, dass sie anständig untergebrachtsind. Dass dies natürlich eine große Herausforderung fürviele Kommunen ist, wissen wir; auch die Oberbürger-meister, die der Partei der Grünen angehören, sagen,dass das eine Herausforderung ist. Deswegen denke ich,hier brauchen wir gar nicht groß über das, was im Bun-desrat passieren muss, zu diskutieren.Aber Thomas Oppermann hat doch recht: Wir spielennicht die eine Gruppe gegen die andere aus. Ich denke,ein Schuh wird daraus – das wäre das Richtige –, wennwir uns hier im Bundestag sagen würden – die Linke hatja auch ein bisschen Einfluss; zumindest an einer Lan-desregierung ist sie beteiligt. –: Die Herausforderung,die wir in der Flüchtlingspolitik haben, stellt sich nichtnur diesem Haus, sondern sie muss sich im Bundesratfortsetzen. Deswegen müssen wir dort zu einer gemein-samen Lösung kommen. Ich bin davon überzeugt, dassdies auch gelingen wird. Die ersten Botschaften habenwir vernommen. Ich sage auch hier: Natürlich sind wirbereit, in einem Gespräch mit Ihnen über viele Punkte zureden. Ich kann nur sagen: Nehmen Sie dieses Angebotan, damit wir in den nächsten Tagen im Bundesrat zu ei-ner guten Lösung kommen. Sie helfen damit vor allemden Kommunen in unserem Land.
– Wir können nachher, Frau Göring-Eckardt, über dieVorschläge des grünen Ministerpräsidenten Kretschmannreden. Sie gehen schon in eine ganz gute Richtung.Was die Aufnahme von Flüchtlingen angeht, sage ichalso Ja. Aber ich habe schon am Montag darauf hinge-wiesen, dass es natürlich genauso notwendig ist, dieSituation vor Ort zu verbessern. Da möchte ich dieBundesregierung, sehr geehrter Herr Bundesaußen-minister, bitten, noch einmal genauer hinzuschauen. Ichhatte gestern ein Gespräch mit Vertretern der Jesiden.Sie haben mir berichtet, dass bis heute in großen Gebie-ten, in Dohuk beispielsweise, die Hilfe noch nicht richtigangekommen sei. Ich habe sie gebeten, dies auch demUNHCR mitzuteilen. Offenbar gibt es da noch immerProbleme. Ich wäre dankbar, wenn man sich darumkümmert.
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Es gibt einen zweiten Punkt, mit dem ich noch nichtzufrieden bin. Wir haben noch immer keine Antwort undkeine Lösung aus Europa. Es ist nicht allein Sache derBundesregierung, wie wir den Flüchtlingen helfen. Esvergeht Woche für Woche, der Winter kommt, die Re-genzeit kommt, und die Zeit wird immer knapper, umdort für eine entsprechende Unterbringung zu sorgen.Ich habe die herzliche Bitte, dass man hier noch einmalauf die EU-Kommission zugeht. Geld ist dort vorhan-den; das wissen wir. Dort hat man das Geld. Es mussjetzt endlich einmal einen Ruck geben und sich etwastun. Wir können die Leute im Nordirak nicht einfach sit-zen lassen. Deswegen sage ich: Ja, es ist richtig, dass wirWaffenhilfe leisten. Aber wir werden mehr als die50 Millionen Euro in die Hand nehmen müssen, um denFlüchtlingen vor Ort zu helfen. Das Geld ist da. Ich habedie Bitte an die Bundesregierung, Europa da einmal et-was Beine zu machen, damit das endlich vorangeht.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, neben diesen gro-ßen Herausforderungen in der Außenpolitik bleibt in un-serem Land und in Europa natürlich die große Aufgabe,weiter für Wachstum zu sorgen und damit die Grund-lagen für den Wohlstand in unserem Land und in Europazu legen. Wachstum entsteht in unserer Wirtschaft. Des-wegen ist es völlig richtig, wenn die Bundeskanzlerin inihrer Regierungserklärung darauf hinweist, dass wir ineinem wichtigen neuen Feld, nämlich im Bereich Indus-trie 4.0 und im Bereich Internet, vorankommen müssenund dass wir dort neue Start-ups, also neue Firmengrün-der, brauchen. Gerade von diesen Firmengründern hörenwir, dass es für sie nicht nur ein Thema ist, wie sie anKapital kommen, sondern dass sie sich natürlich auchwünschen, ja geradezu verlangen, dass man sie in ihrerStartphase von bürokratischen Gängeleien weitgehendbefreit. Die haben andere Sorgen. Deswegen, Herr Bun-deswirtschaftsminister, bin ich dankbar für das Signal,dass man überlege, gerade bei Start-up-Unternehmeneine ganze Reihe von bürokratischen Auflagen einmaleine Zeit lang auszusetzen. Deswegen, lieber KollegeOppermann, kann ich nur sagen: Gerade diese Firmenbrauchen hohe Flexibilität und nicht neue Arbeitszeit-modelle; das regeln die schon selber. Deswegen warneich vor „Stressverordnungen“ und neuen Arbeitszeitmo-dellen.
Ich finde – dazu stehen wir in der Union –: Wir habeneine ganze Reihe von Dingen gemacht, die wir im Koali-tionsvertrag vereinbart haben. Ich nenne die Rente mit63 und den Mindestlohn. Wir werden auch die anderenPunkte, die wir im Koalitionsvertrag stehen haben, wiedie Frauenquote, umsetzen. Aber dann muss es auch gutsein.
Ich rate uns, uns in der Koalition nicht jeden Tag und anjedem Wochenende in irgendwelchen Interviews neuemögliche Belastungen für die deutsche Wirtschaft ein-fallen zu lassen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Das ist bei der Investitionsfrage eher ein Problem alsvieles andere: wenn ich als Unternehmer nicht weiß, wasalles noch auf mich zukommt.
Das hemmt die Investitionsbereitschaft mehr als allesandere. Deswegen bin ich froh über die Signale, die ichvernommen habe.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ja, wirbrauchen natürlich auch Investitionen in unserem Land,Investitionen in die Infrastruktur. Das ist angesprochenworden. Deswegen können Sie ganz sicher sein: So, wiewir alle anderen Punkte im Koalitionsvertrag umgesetzthaben, werden wir auch mit dem derzeitigen Lieb-lingsthema der Medien, der Maut, bis Ende des Jahres zueinem guten Ergebnis kommen. Da dürfen Sie ganz si-cher sein, dass wir das schaffen und packen.
– Ja, wissen Sie, Frau Göring-Eckardt, das, was Sie mirmanchmal als gute Ergebnisse vorschlagen, entpupptsich bei näherem Hinschauen meist als schlecht. Deswe-gen können wir das nicht machen.
Es gibt ein paar Punkte, in denen wir uns einig sind, aberan den allermeisten Punkten kann man erkennen: VonWirtschaft verstehen Sie nun wirklich nicht so viel. Dasmuss ich einmal deutlich formulieren.
– Sie sowieso schon gar nicht, Herr Gysi. Sie sind dajetzt der schlechteste Ratgeber; nein, nein.Deswegen ist es richtig, dass wir beim Thema Wirt-schaft helfen, in neue Entwicklungen hineinzukommen.Auch da werden in dieser Regierung die richtigen Ent-scheidungen getroffen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolle-ginnen und Kollegen, für all die großen Aufgaben, dievor uns liegen – Frieden schaffen in Europa, in derUkraine, den islamistischen Terror bekämpfen und dafürsorgen, dass unsere Wirtschaft weiter wachsen kann unddamit auch der Wohlstand –, werden mit diesem Bundes-haushalt die Voraussetzungen geschaffen.Dieser Bundeshaushalt, mit dem zum ersten Mal seitlangem keine neuen Schulden aufgenommen werden,
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was auch für die nächsten Jahre versprochen wird,schafft die Grundlagen für neue Entscheidungsmöglich-keiten. Es wird die Botschaft vermittelt: Wir werden mitdem auskommen, was wir haben. Mit dem auskommen,was wir haben, heißt auch, dass wir sowohl die Bürge-rinnen und Bürger als auch die Wirtschaft am Wohlstandbeteiligen. Deswegen bleibt es dabei – auch wenn dereine oder andere meint, er müsse jetzt wieder eine an-dere Diskussion führen; aber die Kanzlerin hat es hiergesagt, der Vizekanzler hat es gesagt, der Finanzministerhat es gesagt, und ich kann es nur noch einmal bestäti-gen –: Es wird mit uns in dieser Koalition keine Steuer-erhöhungen geben. Alles andere ist Quatsch, liebe Kolle-ginnen und Kollegen.
Es wird mit uns keine Steuererhöhungen geben; dashaben wir zugesagt, und dabei bleibt es. Das ist einezentrale Botschaft, die sich auch an unsere Wirtschaftrichtet: Ihr könnt euer Geld investieren, ihr könnt fürWachstum sorgen und damit für eine gute Situation inunserem Land. – Wir schaffen dafür eine wichtige Vo-raussetzung. Gestern Abend beim ParlamentarischenAbend im Haus der Deutschen Wirtschaft ist man immerwieder angesprochen worden auf das Thema „qualifi-zierte Arbeitskräfte“. Die Industrie 4.0 verlangt natürlichentsprechende Ausbildung.Wenn ich den ein oder anderen aus der Linksfraktionda so höre, muss ich denken: Wo sind die denn die ganzeZeit unterwegs? – Es wird in unserem Land so viel fürBildung und Ausbildung ausgegeben wie nirgendwo inEuropa, liebe Kolleginnen und Kollegen. Da brauchenwir überhaupt keine Hinweise von einigen in diesemHaus. Was im Bildungs- und Forschungsministerium ge-tan wird, ist ein Supervorbild für ganz Europa, liebe Kol-leginnen und Kollegen.
Das schafft Zukunft für eine junge Generation.DieLänder müssen allerdings ihren Beitrag dazu leisten. DerBund hat den Ländern Geld gegeben für Hochschule, fürAusbildung. Einige Länder wollen wenigstens den we-sentlichen Teil dieses Geldes dafür einsetzen; das kannich gerade noch akzeptieren. Aber vor dem Hintergrund,dass Bildung und Ausbildung das entscheidende Zu-kunftsprojekt für unser Land ist, kann ich es nicht akzep-tieren, wenn einige rot-grün-geführte Bundesländer denwesentlichen Teil dieser Mittel, die vom Bund kommen,nicht für Hochschule und Ausbildung ausgeben wollen,sondern für viele andere Dinge. Ich kann nur sagen: Werso argumentiert, hat jedes Recht verloren, zu sagen: „DerBund muss mehr für Bildung und Ausbildung tun“, liebeKolleginnen und Kollegen.
Deswegen werden wir da auch nicht nachlassen; wirwerden in den Landtagen nachfragen, wofür das Geldeingesetzt wird.Ich bitte auch die SPD-Bundestagsfraktion, unserenKoalitionspartner, dass wir uns dieses Projekt, das wirgemeinsam auf den Weg gebracht haben, nicht unterhöh-len lassen von denjenigen, die glauben, sie könnten dasGeld für alle möglichen Haushaltszwecke, aber nicht fürHochschule und Ausbildung einsetzen. Dafür tragen wirin dieser Koalition Verantwortung.
Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind die gro-ßen Herausforderungen beschrieben. Ich bin sicher, dassdiese Koalition und diese von der Koalition getragene– nicht nur getragene, sondern in jeder Hinsicht unter-stützte – Bundesregierung diesen Aufgaben und Heraus-forderungen gerecht werden.
Das Wort hat die Staatsministerin und Beauftragte für
Migration, Flüchtlinge und Integration, Özoğuz.
A
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Aus durchaus unterschiedlichen Blickwinkelnwurde bereits gestern und auch heute darauf hingewie-sen, dass die Nachrichten und Geschehnisse aus allerWelt auch für unser Land nicht folgenlos bleiben. Ichglaube, dass diese vielen Beiträge auch das Ausmaß derGeschehnisse deutlich zeigen. Laut den Vereinten Natio-nen sind aktuell weltweit über 51 Millionen Menschenauf der Flucht, davon 17 Millionen Menschen außerhalbihres Landes. Das sind unglaubliche Dimensionen, dienatürlich auch uns erreichen. Die erschütternden Bilderund Nachrichten brauche ich kaum zu wiederholen; ichtue es trotzdem: Unfassbare Gräueltaten der IS-Terror-miliz, Bürgerkrieg in Syrien, Eskalation in der Ost-ukraine, israelisch-palästinensische Auseinandersetz-ungen, ein Gazastreifen, der in Trümmern liegt,Flüchtlingsboote auf dem Mittelmeer.Wenn das Bundesamt für Migration und Flüchtlingefür dieses Jahr mit rund 200 000 Asylanträgen rechnet,dann hat das natürlich auch Folgen für die Länder undKommunen; das ist hier schon lange und oft genug ge-sagt worden. Ich möchte nur noch einmal betonen, dasses nicht nur bei der Unterbringung Herausforderungengibt und dass sich Deutschland natürlich seiner Verant-wortung stellt. Wer vor Krieg, Bürgerkrieg oder Verfol-gung flieht, muss Schutz in unserem Land finden.
Die Asylantragsteller brauchen schneller Klarheitüber ihren Status. Jahrelange Verfahren, wie wir sie jadurchaus kennen, helfen niemandem weiter. Darumhaben wir 300 neue Stellen beim Bundesamt für Migra-
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tion und Flüchtlinge eingerichtet, und in 2015 soll esvermutlich noch einmal einen Aufwuchs geben; meinFraktionskollege Martin Gerster hat dies gestern ange-sprochen.Es nützt natürlich niemandem, wenn die Asylbewer-ber oft monatelang herumsitzen und nicht arbeiten dür-fen. Das haben wir alle miteinander erkannt. Deshalbwerden wir das Verbot der Arbeitsaufnahme von Asylbe-werbern und Geduldeten auf drei Monate begrenzen.Diese Frist braucht man schon; so fair muss man sein.Wenn jemand gerade hier ankommt, kann er nicht sofortirgendwohin geschickt werden. Die Menschen wollenaber arbeiten und selbstbestimmt ein Stück zu ihrem Le-bensunterhalt beitragen können. Dabei geht es auch umMenschenwürde, die wir damit ermöglichen.
Dazu passt es auch, dass wir junge Flüchtlinge, die inunser Land kommen und die richtig gut und schnell sind– sie lernen Deutsch und machen ihre Abschlüsse; übersie reden wir leider nur sehr selten –, nicht vier Jahrelang warten lassen, bis sie eine Ausbildung machen dür-fen.
Mit Unterstützung des Bildungsministeriums und des In-nenministeriums haben wir jetzt dafür sorgen können,dass schon nach 15 Monaten eine Ausbildungsförderunggezahlt wird. Hierfür haben uns übrigens auch Unterneh-mer schon ein großes Dankeschön ausgesprochen.
Die Bilder, die uns vom Mittelmeer und von Lam-pedusa erreichen, zeigen einen unhaltbaren Zustand undsind unwürdig für die Europäische Union. Ich möchtenoch einmal wiederholen: Wir müssen gemeinsam mitden europäischen Partnern eine faire, solidarische Auf-gabenaufteilung erreichen. Auch Thomas Oppermannhat das eben noch einmal gesagt. Deutschland nimmtheute 30 Prozent der Flüchtlinge auf. Ich glaube, wirkönnen sagen: Außer in Schweden sehen wir eigentlichnirgendwo vergleichbare Anstrengungen. So darf das na-türlich nicht bleiben. Das ist keine Partnerschaft.
Deutschland ist mittlerweile ein richtig beliebtesLand. Ich glaube, es ist für manche überraschend, dasswir plötzlich einen solchen Stellenwert haben. Diesehohe Position haben wir in der OECD erreicht, weil wirden zweithöchsten Wanderungsgewinn nach den USAzu verzeichnen haben.Ich möchte hervorheben, dass wir eine sehr erfreuli-che und sehr positive Grundeinstellung der Hilfsbereit-schaft in unserer Bevölkerung feststellen können – ichglaube, das ist sehr wichtig –,
und zwar nicht nur gegenüber Einwanderern insgesamt,sondern insbesondere auch gegenüber Flüchtlingen. Esgibt unglaubliche viele Nachbarschaftsinitiativen rundum Flüchtlingsheime, die sich in den letzten Monatengegründet haben, um den Flüchtlingen direkt zu helfen,um den Kontakt zu anderen zu ermöglichen und um auf-zuklären. Wir alle sind uns darüber im Klaren: Die Ar-beit, die die Menschen in diesen Nachbarschaftsinitiati-ven leisten, könnten wir aus unserem Haushaltüberhaupt nicht bezahlen. Es ist also wirklich ein Danke-schön an all die Menschen angebracht, die sich dort en-gagieren.
Ich möchte an das anschließen, was Volker Kaudergesagt hat. Wir haben heute Morgen an den Ausbruchdes Zweiten Weltkrieges und die Gräueltaten der Natio-nalsozialisten erinnert. Vor diesem Hintergrund möchteich noch einmal sagen: Wenn ich mir manche Demon-strationen auf deutschen Straßen anschaue, dann kannich nur unterstreichen, dass diejenigen, die antisemiti-sche Parolen rufen, das Recht auf Meinungsfreiheit deut-lich überschreiten. Antisemitismus hat keinen Platz inunserem Land.
Ich möchte an dieser Stelle aber auch sagen – das istjetzt an Volker Kauder gerichtet –: Vor dem Hintergrundder deutschen Geschichte wäre es ebenso angebracht, zusagen: Auch Antiziganismus hat in Deutschland keinenPlatz.
Natürlich ist auch niemandem damit geholfen, Islam-feindlichkeit auszublenden. Ich finde, dass die Brandan-schläge auf Moscheen, die sich im Moment häufen, unsdurchaus nachdenklich machen müssen. Jegliche Diskri-minierung aufgrund von Religionszugehörigkeit oderHerkunft dürfen wir in Deutschland nicht dulden. Dasmuss uns doch die Geschichte gelehrt haben.
Wenn selbsternannte „Scharia-Polizisten“ durchWuppertal spazieren, dann dulden wir auch das nicht.Das hat der nordrhein-westfälische Innenminister RalfJäger deutlich gemacht. Aber wir sollten diese Verirrtenmit ihren abstrusen Ideen nicht wichtiger machen, als sieeigentlich sind. Das ist schon ein schmaler Grat, auf demwir uns da bewegen.Anders sieht es bei gewaltbereiten, meist jungenMännern aus Deutschland aus, die von hier in den NahenOsten oder nach Afghanistan reisen, um sich dort in densogenannten Terrorcamps ausbilden zu lassen odergleich in den Kampf zu ziehen. Hierzu möchte ich sa-gen: Es hat sich mir noch nie erschlossen – das konnteich noch nie nachvollziehen –, wie ein Mensch inDeutschland auf die Idee kommen kann, in ein soge-
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nanntes Ausbildungslager im Ausland zu reisen odersich gar einer Terrormiliz anzuschließen. Das hat in mei-nen Augen weder mit dem Islam noch mit dem ThemaReligion überhaupt irgendetwas zu tun. Deswegen ist esbesonders wichtig, dass deutschlandweit am 19. Septem-ber dieses Jahres die Moscheegemeinden aufstehen wol-len und ein Zeichen gegen Hass und Unrecht und fürFrieden auf der Welt setzen wollen. Ich habe den Ein-druck, dass viele in unserer Bevölkerung schon lange da-rauf warten. Es ist gut, dass ein solches Zeichen gesetztwird.
Ein Beweis dafür, dass man auch mit einem sachli-chen Blick und ohne zu starke emotionale Aufwallungenan die Herausforderungen herangehen kann, ist die Um-setzung der Empfehlungen des Staatssekretärsausschus-ses bezüglich der Inanspruchnahme von Sozialleistungendurch EU-Bürger. Alle Ressorts haben in diesem Aus-schuss gemeinsam mit den Kommunen in akribischerSacharbeit Daten und Fakten über die Zuwanderung nachDeutschland, insbesondere – weil es angesprochenwurde – aus Bulgarien und Rumänien, zusammengetra-gen.Das wenig überraschende Ergebnis, wenn ich das ein-mal so sagen darf, ist: Es ist keineswegs so, dassDeutschland unter der Last der rumänischen und bulgari-schen Zuwanderung zusammenbrechen würde. Ganz imGegenteil: Die Einwanderer aus Südosteuropa sind inder Regel gut ausgebildet und gehen einer Arbeit nach.Ja, es gibt Einzelne, auf die das nicht zutrifft – das willich gar nicht bestreiten –, was dazu führt, dass sich inden Kommunen die Herausforderungen ballen. Aber esist schon erstaunlich, dass bis heute niemand so recht dasAusmaß eines angeblich übermäßigen Sozialleistungs-betrugs faktisch darstellen konnte. Der Ausschuss hatbeschlossen, den Kommunen – ich glaube, das ist wirk-lich wichtig – mit insgesamt über 235 Millionen Euroschnell zu helfen.Einen unschätzbaren Beitrag zur Versachlichung derDebatte hat – das möchte ich in diesem Zusammenhanggern erwähnen – der Mediendienst Integration geleistet;denn viele Journalistinnen und Journalisten fragen dortnach Zahlen. Sie wollen wissen: Wie verhält es sichdenn wirklich mit den Zuwanderern? Wer arbeitet? Werbekommt Sozialleistungen? – Dieser Mediendienst wirdvon mir als Integrationsbeauftragter aus meinem extremkleinen Budget – wenn ich das in der Haushaltsdebattenoch einmal anmerken darf – unterstützt. Er bereitet fürJournalisten Daten auf und erklärt Hintergründe zu die-sen Themen. Ich glaube, dass das sehr hilfreich seinkann. Deswegen halten wir an diesem Mediendienstweiter fest.
Zwei kurze Stichworte zum Schluss. Ein bewährtesInstrument für ein Gelingen der Integration sind die Inte-grationskurse zum Spracherwerb. Der große Erfolg die-ser Kurse gibt uns recht. Wir haben am Tag der offenenTür des Kanzleramts ein Quiz gemacht und die Leute ge-fragt, wie viele Menschen so einen Kurs wohl schon ge-macht haben mögen. Es ist doch erstaunlich, dass diemeisten sich höchstens 300 000 Teilnehmer vorstellenkonnten und nicht wussten, dass es schon 1,3 MillionenMenschen sind, dass die Menschen Schlange stehen, umsich für diese Kurse anzumelden, und diese Kurse gernbesuchen. Deswegen war es wichtig, dass die Mittel indiesem Bereich nicht gekürzt wurden, dass wir sie alsoerhalten konnten.
Auch die Migrationsberatungsstellen für erwachseneZuwanderer sind im Moment sehr stark gefordert. Dasmöchte ich nur einmal erwähnen; denn bei ihnen stehendie Familien vor der Tür, die ganz viel Hilfe brauchen.Und wenn man sich einmal die Zahlen anschaut, dannstellt man fest, dass mehr Menschen kommen, aber nichtmehr Berater vorhanden sind. Auch darüber sollten wirnoch einmal sprechen.Es freut mich, dass wir mit der weitestgehenden Ab-schaffung der Optionspflicht – das möchte ich zu guterLetzt sagen – ein ganz klares Signal in Richtung Ein-wanderungsdeutschland gegeben haben. Frau Göring-Eckardt, ich bin vorhin ein bisschen zusammengezuckt,als Sie sagten, Deutschland sei seit 1989 ein Einwande-rungsland. Natürlich ist Deutschland schon länger einEinwanderungsland. Wir hatten immer ein bisschen Pro-bleme damit, das zuzugeben. Aber nun ist es vollbracht,wenn man so will. Wir sind mit der weitestgehenden Ab-schaffung der Optionspflicht dem Ganzen ein großesStück näher gekommen. Es ist jetzt eben nicht mehr so– wie noch in meiner Generation –, dass man hier gebo-ren wird, groß wird und immer Ausländer bleibt undzum Beispiel nicht irgendwann einmal am Kabinetts-tisch sitzen kann. Das haben wir nun endlich geändert.Ich glaube, so fühlen sich die jungen Menschen auchwirklich als fester Bestandteil dieses Landes, ohne ihreHerkunft verleugnen zu müssen.
Letzter Satz – das ist für den Haushalt wichtig –: DieMittel, die wir für den gesellschaftlichen Zusammenhaltin Deutschland, für mehr Bildungsmöglichkeiten, fürAustausch, für Begegnung und Beratung einsetzen – dasist manchmal in Zahlen nicht so leicht auszudrücken –,sind echte Investitionen in unsere Gesellschaft und in dieZukunft und den Frieden unseres Landes.Vielen Dank.
Die Kollegin Gerda Hasselfeldt hat nun das Wort fürdie CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!In diesen Tagen spüren wir alle, dass die Welt aus denFugen geraten ist. Wir erleben weltweit eine politischbewegte Zeit, und zwar in einer Intensität, die wir bishernoch kaum erlebt haben.In Europa wird uns klar, dass die Folgen der Finanz-und Wirtschaftskrise noch nicht ganz aufgearbeitet undbewältigt sind. Wenn dennoch immer wieder Stimmen inder Richtung laut werden, doch wieder einmal kreditfi-nanzierte Programme aufzulegen, dann, kann ich nur sa-gen, hat man das alles nicht verstanden.
Gerade vor dem Hintergrund dessen, was wir sowohlin Europa als auch weltweit erlebt haben und erleben, istes umso wichtiger, dass wir unseren Stabilitätskurs, un-seren Konsolidierungskurs in Deutschland so, wie er dieletzten Jahre gefahren worden ist, fortsetzen.Der Haushalt 2015, meine lieben Kolleginnen undKollegen, ist in der Tat ein Meilenstein. Das ist eine his-torische Zeitenwende; denn das erste Mal seit mehr als45 Jahren macht der Bund keine neuen Schulden. Dasletzte Mal war das unter der Verantwortung des Finanz-ministers Franz Josef Strauß der Fall.
– Das muss einmal gesagt werden. – Heute ist es unterder Verantwortung von Wolfgang Schäuble der Fall. Ichmöchte ihm persönlich, aber auch den Haushältern undallen, die hier in den letzten Jahren Verantwortung getra-gen haben, herzlich dafür danken. Denn das ist nicht nurdas Ergebnis einer kurzfristigen Haushaltsaufstellung indiesem Jahr, sondern es ist das Ergebnis harter Arbeit inden letzten Jahren, die heute Früchte trägt und auchkünftig tragen wird.
Und wir tun das, meine Damen und Herren, ohneSteuererhöhungen.
Das ist eine ganz wichtige Botschaft, die Volker Kauderam Ende seiner Rede deutlich zum Ausdruck gebrachthat. Man kann gar nicht oft und deutlich genug betonen,dass dies dazugehört. Steuererhöhungen bremsen dieLeistungsbereitschaft eines jeden Steuerpflichtigen; sieblockieren Investitionen. Wenn, wie im Laufe der gestri-gen und heutigen Debatte, von Oppositionskollegen im-mer wieder angemahnt wird, dass zu wenig investiertwird, dann sollten wir uns einmal klarmachen: Nicht nurdie öffentlichen Haushalte tätigen Investitionen, sondernder wesentliche Teil der Investitionen wird durch Privategetätigt, und zwar durch die Wirtschaft, durch unsereUnternehmen. Sie brauchen verlässliche Rahmenbedin-gungen und können keine zusätzlichen Belastungen er-tragen.Deshalb ist unser Credo: keine Steuererhöhungen indieser Legislaturperiode. Darauf können sich die Men-schen verlassen. Das haben wir vor der Wahl gesagt, unddas halten wir über die ganze Legislaturperiode ein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein ausgeglichenerHaushalt ist nichts, das man als Monstranz vor sich her-trägt. Er ist auch kein Selbstzweck. Nein, er ist aus drei-erlei Gründen, die ich ansprechen möchte, besonderswichtig:Erstens ist er ein Zeichen der Verlässlichkeit. Verläss-lichkeit ist die Basis für Vertrauen; ohne Vertrauen fin-den keine Investitionen statt. Es ist die wesentlicheGrundlage für wirtschaftliche Betätigung und wirtschaft-lichen Erfolg in einem Land, dass sich all diejenigen, dieinvestieren und wirtschaftlich tätig sind, auf Rahmenbe-dingungen verlassen können, die ihnen den entsprechen-den Spielraum geben.Das Zweite ist: Wir schaffen damit Spielraum für dienotwendigen Schwerpunkte und die notwendigen öffent-lichen Investitionen, beispielsweise im Infrastrukturbe-reich, sowohl im Verkehr als auch in der digitalen Infra-struktur, oder auch im Bildungs- und Forschungsbereich.Das wurde heute schon mehrfach angesprochen. 15 Mil-liarden Euro allein in diesem Jahr für Bildung: Das istmehr als doppelt so viel wie 2005. Es geht aber auch umSchwerpunkte im sozialen Bereich wie das, was wir inden vergangenen Jahren für die Entlastung der Kommu-nen gemacht haben und immer noch machen, und zwarbei Aufgaben, für die der Bund eigentlich gar nicht zu-ständig ist.Das Dritte und ganz Wesentliche ist, dass wir keinePolitik auf Kosten der jüngeren Generation machen. Wirsind uns vielmehr bewusst, dass das Allerbeste, was wirden jungen Menschen, unseren Kindern und Enkelkin-dern, mitgeben können, schuldenfreie Haushalte sind:keine Schulden, sondern Chancen, dass sie sich entfaltenund auf die aktuellen Herausforderungen ihrer Zeit ent-sprechende Antworten geben können und entsprechendeSpielräume haben.
Das Beste, was wir für unsere wirtschaftliche Ent-wicklung tun können, und das Beste, was wir für unsereKinder und Enkelkinder tun können, das machen wir mitdiesem Haushalt 2015.
Wenn, wie in der gestrigen und heutigen Debatte, dieKollegen aus der Opposition versuchen, das madigzu-machen und kleinzureden,
dann muss ich sagen: Jeder, der diese Erfolgsgeschichte,nämlich einen ausgeglichenen Haushalt ohne Neuver-schuldung und Steuererhöhungen mit entsprechenden in-
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vestiven Schwerpunkten, madigmacht, dokumentiert da-mit: Er hat mit dieser Erfolgsgeschichte nichts zu tun.
So ist es auch: Die Herrschaften von der Opposition ha-ben an dieser Erfolgsgeschichte keinen Anteil.
Sie haben keinen Beitrag dazu geleistet.
Dieser ausgeglichene Haushalt ist auch ein richtigesSignal in Richtung Europa. Wenn uns Europa in denletzten Jahren eines gelehrt hat, dann war es dies: Einezu hohe Staatsverschuldung blockiert Leistungsbereit-schaft, Investitionen, Wachstum und damit eine weiterepositive Entwicklung und schafft Krisen. Das haben wiralle miteinander erlebt.Es war die zu hohe Staatsverschuldung in den einzel-nen Ländern, die die Krise in Europa herbeigeführt hat.Deshalb war es richtig, wie wir gehandelt haben.Heute sehen wir: Portugal, Irland und Spanien habenden Rettungsschirm verlassen. Griechenland und Zypernhaben zumindest Fortschritte erzielt und sind auf einemguten Weg. Aber wir wissen auch, dass wir noch nichtam Ende angelangt sind, dass wir noch nicht das eigent-liche Ziel erreicht haben. Das werden wir nur dann errei-chen, wenn wirklich jedes Land seine Hausaufgabenmacht, wenn in jedem der betroffenen Länder die not-wendigen Strukturreformen durchgeführt werden undfür solide Haushalte gesorgt wird.Unser Kurs war richtig, der da lautete: Wir wollen dieProblemländer nicht aus ihrer Verantwortung entlassen.Solidarität ja, aber nur in Verbindung mit Solidität.Keine Vergemeinschaftung von Schulden und keineAufweichung der Stabilitätskriterien. – Das gilt für alleLänder. Das gilt in Zukunft und aktuell für Italien undFrankreich. Dabei muss es auch bleiben. Dass diese Li-nie erfolgreich ist, haben die letzten Monate gezeigt.
Wir erleben – das ist in allen Debattenbeiträgen deut-lich zum Ausdruck gekommen – eine Welt voller Krisen;gerade heute ist mir das bei der Rede des polnischenStaatspräsidenten wieder ganz bewusst geworden. Beiall den Krisen rings um uns herum mit ihren unterschied-lichen Ursachen muss uns doch immer wieder klar sein,welch großer Segen es ist, dass wir in der EuropäischenUnion verankert sind, dass wir in einer EuropäischenUnion als Friedens- und Freiheitsunion leben können, ineiner Gemeinschaft, in der nicht irgendwelche Gebiets-ansprüche oder geostrategische Einflusssphären eineRolle spielen. Vielmehr ist die Europäische Union ge-prägt von Freiheit, Frieden und dem Selbstbestimmungs-recht der Völker. Das ist ein riesiges Glück für uns. Ichbin – das sage ich ganz offen – jeden Tag dankbar dafür,erst recht angesichts der Krisen, die wir in der Welt erle-ben.
Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass sichbeispielsweise auch die Menschen in der Ukraine danachsehnen. Daher ist es unsererseits notwendig, nicht nureinfach zuzuschauen, sondern dies auch zu verteidigenund entsprechend politisch zu handeln. Ich unterstützedeshalb mit großem Engagement alle Entscheidungen,die die Bundeskanzlerin und der Bundesaußenministerin den letzten Wochen und Monaten vorbereitet und ge-troffen haben. Es kann natürlich keine militärische Lö-sung geben. Es muss eine politische Lösung geben. Ge-spräche müssen weiterhin geführt werden. Aber esmüssen auch klare Worte fallen, und es muss klare Kantegezeigt werden. Für den bisher eingeschlagenen Weg binich sehr dankbar. Ich bitte, auf diesem fortzufahren.
Natürlich sind wir angesichts der Krisen als traditio-nelles Zufluchtsland auch mit Herausforderungen kon-frontiert, die größere Anstrengungen von uns verlangenals in früheren Jahren. Wir rechnen in diesem Jahr mitetwa 200 000 Flüchtlingen; das wurde bereits ange-sprochen. Ich möchte meinerseits den Mitarbeitern desBundesamts für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg,das ich letzte Woche besucht habe, sehr herzlich für dieArbeit danken, die dort geleistet wurde und geleistetwird. Ich möchte auch all jenen danken, die in den Städ-ten und Gemeinden bei der Betreuung der Flüchtlingeehrenamtlich Hilfe leisten. Es ist großartig, was in vielenStädten und Gemeinden geleistet wird.
Wir haben hier einige Aufgaben zu bewältigen. Ichplädiere dafür, dass wir das gemeinsam machen, in ge-meinsamer Verantwortung des Bundes, der Länder undder Kommunen, aber auch Europas. Ich wünsche demBundesinnenminister viel Erfolg bei seinen Verhandlun-gen, wenn es darum geht, auch die anderen europäischenLänder ein Stück weit stärker in die Pflicht zu nehmen.Es kann nicht sein, dass die Flüchtlinge, die in Italienankommen, nicht registriert werden, ihnen aber ein Zug-ticket gegeben wird, mit dem sie Richtung Norden fah-ren können. Das ist nicht im Sinne dessen, was auf euro-päischer Ebene vereinbart wurde, das ist nicht im Sinnedes europäischen Geistes. An dieses Problem muss manherangehen, man muss es artikulieren, und das tut derBundesinnenminister. Dafür bin ich sehr dankbar.Was zu den sicheren Herkunftsländern vorhin gesagtwurde, teile ich. Wir sind darüber in Gesprächen. Ichhoffe sehr, dass wir zu einem Ergebnis kommen; denn eskann nicht sein, dass 20 Prozent der Asylbewerber inDeutschland aus drei Ländern des Westbalkans kommen,wobei deren Anerkennungsquote weniger als 1 Prozent
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beträgt. Das blockiert die Arbeit der Mitarbeiter imBAMF, das blockiert auch alle Aufnahmemöglichkeiten.Ich möchte die Diskussion sehr sachlich führen unddarauf hinweisen, dass die Einstufung als sicheres Her-kunftsland nicht bedeutet, dass die Menschen, die ausdiesen Ländern kommen, kein Asylverfahren bekom-men. Es geht nur darum, dass die Beweislast anders ist,dass die Verfahren verkürzt werden können. Es hat na-türlich jeder Einzelne ein Recht darauf, dass sein Antraggeprüft wird. Dies will ich nur zur Klarheit sagen, weilgelegentlich eine Legendenbildung erfolgt, die den Tat-sachen nicht entspricht.Meine Damen und Herren, ich habe vorhin vomHaushalt der Schwerpunkte gesprochen. Wir haben indiesem wie auch schon im vergangenen Haushalt deutli-che Schwerpunkte gesetzt. Ein ganz wesentlicher ist derSchwerpunkt Bildung und Forschung. Wenn uns vor we-nigen Tagen der Präsident des Fraunhofer-Instituts ge-sagt hat, dass wir beim Handel mit Produkten, die aufForschung und Entwicklung basieren, an zweiter Stelleweltweit stehen, hinter China und noch vor den USA,dann macht das deutlich, dass die Anstrengungen derletzten Jahre nicht irgendwo verpufft sind, sondern sicht-bar und spürbar sind. Die Hightech-Strategie, die Exzel-lenzinitiative, der Hochschulpakt – all das waren undsind Anstrengungen des Bundes in den vergangenen Jah-ren und aktuell, die weitergeführt werden und die zu die-sem positiven Ergebnis geführt haben. Wir können heutesagen: Wir sind ein wichtiges Forschungsland in derWelt. Das haben wir uns in den letzten Jahren aufgebaut.Der zweite Schwerpunkt liegt auf dem Bereich Sozia-les, Kinder, Familie. Wir reden heute schon gar nichtmehr über das Elterngeld; in manchen Ländern, wie inBayern, gibt es auch noch das Landeserziehungsgeld. Esgibt das Betreuungsgeld und die Kindertagesbetreuung.Wir haben vieles für Familien mit Kindern getan, undwir tun das auch weiterhin, obwohl der Bund zum Bei-spiel für die Kinderbetreuung gar nicht originär zustän-dig ist. Das tun wir aus der festen Überzeugung heraus,dass unsere Politik eine Politik ist, die den Kindern, Ju-gendlichen und jungen Familien bei der Bewältigung derneuen Herausforderungen, vor denen sie stehen, hilft.Das Gleiche gilt übrigens auch in anderen Sozialbe-reichen, was ich aufgrund der Zeit nicht mehr vertiefenkann.Aber eines will ich noch sagen: Wenn wir die Men-schen fragen, wie es ihnen geht, wenn wir die Umfrage-werte sehen, wenn wir die objektiven Zahlen unserer Be-schäftigungs- und Wirtschaftsentwicklung sehen, dannmerken wir: Die Menschen sind zufrieden. Sie erkennenan, dass diese Bundesregierung sie durch schwierigsteinternationale Krisen gut, ja bestens gesteuert hat. Sie er-kennen an, dass Deutschland eine hohe Reputation, jahöchste Anerkennung in der Welt genießt, nicht zuletztdurch die Arbeit der Bundeskanzlerin. Sie erkennen an,dass wir eine hervorragende Beschäftigungssituation ha-ben. Sie erkennen an, dass wir einen starken Mittelstandhaben, den wir auch pflegen müssen, und sie erkennenan, dass wir eine stabile Sozialversicherung mit hohenSozialstandards im ganzen Land haben.Diese Anerkennung und der Haushalt 2015 sind einegute Grundlage, damit auch weiterhin erfolgreich gear-beitet werden kann.
Die Kollegin Bettina Hagedorn hat für die SPD-Frak-
tion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Nach 46 Jahren gibt es das erste Mal keine neuenSchulden auf Bundesebene. Das ist auch für meine Kin-der und Enkel eine richtig gute Nachricht. Die Kehrseiteder Medaille, sozusagen der Preis dafür ist aber – da-rüber wird im Moment öffentlich und auch in diesemHause debattiert –, dass unser öffentliches Vermögenverrottet; so hat es manch einer überspitzt formuliert. In-sofern ist das Ganze auch für meine Kinder und Enkel inder Tat eine zwiespältige Nachricht. Darum will ichmich mit diesem Thema hier näher beschäftigen; es be-rührt uns alle in der Tat zutiefst.Es wäre volkswirtschaftlich verantwortungslos, wennwir uns um das, was wir an öffentlicher Daseinsvorsorgehaben, was in Deutschland einmal traditionell mit einemhohen Standard versehen und in einem guten Zustandwar, nicht in dem Umfang kümmern würden, wie es er-forderlich ist.Auf dem gestrigen zweiten Welt-Infrastrukturgipfelhier in Berlin wurde moniert, dass wir bei der Qualitätder Infrastruktur 2008 weltweit noch auf Platz drei lagenund aktuell auf Platz sieben abgerutscht sind. Das ist einTrend, der uns nachdenklich machen muss.Eine ganz besondere Rolle spielt in unserem Haus-haltsentwurf der Etat von Herrn Dobrindt. Ich zitiere,was ein Landesverkehrsminister, den die meisten vonuns noch als Kollegen kennen, nämlich WinfriedHermann von den Grünen, auf dem von mir gerade an-gesprochenen Infrastrukturgipfel forderte:Der Bund hat 20 Jahre lang zu wenig investiert, dasmuss er jetzt nachholen mit mindestens 7,2 Milliar-den Euro pro Jahr.Gut gebrüllt, Löwe! 7,2 Milliarden Euro, das ist dasErgebnis der Beratungen der Bodewig-Kommission, dasniemand hier im Hause ernsthaft anzweifeln will. Aberwoher nehmen und nicht stehlen? Also, es wäre schonschön, wenn uns Vorschläge gemacht würden, wie diese7,2 Milliarden Euro pro Jahr aufgebracht werden kön-nen.Ein Blick in unseren Koalitionsvertrag lässt erkennen,wie wir dabei auf jeden Fall nicht vorgehen werden: Wirwerden ganz bestimmt nicht neue Schulden machen; dasind wir uns einig. Wir sind uns auch einig – ich denke,darin sind wir uns auch mit Oppositionsabgeordneten indiesem Hause einig –, dass wir diese Summe schon garnicht durch Umgehung der Schuldenbremse, die wir ge-
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meinsam in die Verfassung geschrieben haben, bereit-stellen. Das wäre ja Lug und Trug; das kann es nichtsein.
Herr Minister Dobrindt, unser Koalitionsvertrag ent-hält eine sehr kritische Formulierung zu PPP-Projekten;sie ist von Herrn Oppermann hier schon angesprochenworden. Dort ist eindeutig festgehalten, dass im Einzel-fall nachgewiesen werden muss, dass PPP-Projekte wirt-schaftlich günstiger sind als Projekte, bei denen die öf-fentliche Hand allein die Verantwortung trägt, etwa beigroßen Verkehrsvorhaben. Darum gibt es in der Repu-blik Auseinandersetzungen zwischen Ihnen, HerrDobrindt, und dem Bundesrechnungshof; Sie selbst ha-ben auf dem Infrastrukturgipfel darauf hingewiesen. Estobt eine fröhliche Debatte.Eines kann man, glaube ich, sagen: Von uns Koali-tionspartnern wird diese Auseinandersetzung nicht alsideologischer Grabenkrieg geführt. Es geht nicht darum,ob man grundsätzlich dafür oder dagegen ist, sondern esgeht darum, etwas möglich zu machen; aber es mussdann auch wirklich volkswirtschaftlich günstiger sein.Der Wirtschaftsweise Bofinger hat es auf dem Infra-strukturgipfel gut formuliert – heute steht das übrigens inder Welt; ich zitiere –:Besser ÖPP als gar nichts. Das ist unstrittig. Abereins ist klar: ÖPP ist insoweit teurer, als niemandsich so günstig verschulden kann wie der Staat.ÖPP muss eben auch finanziert werden, die Anle-ger wollen etwas damit verdienen, dass sie sich amAusbau der Infrastruktur beteiligen.
Das, was er hier sagt, ist zutiefst richtig, und genau dassagt auch der Bundesrechnungshof, nämlich dass sichniemand so günstig verschulden kann wie der Staat.Vor diesem Hintergrund will ich an dieser Stelle sa-gen, dass ich es gut finde, dass wir in der Koalition ge-meinsam verabredet haben – es geht nicht nur darum,was wir alles nicht wollen, sondern wir wollen ja vor al-len Dingen gemeinsam nach Lösungsmöglichkeiten su-chen –, dass wir uns mit der Frage befassen – SigmarGabriel hat initiiert, dass es dazu in seinem Haus Ex-pertenrunden gibt –: Wie kann man eigentlich das Ver-mögen von Menschen im Land nutzen? ThomasOppermann hat darauf hingewiesen, dass Deutsche ihrVermögen teilweise im Ausland investieren, und zwar inProjekte, die sehr zwiespältig sind. Warum suchen wirnicht lieber einen Weg, der es möglich macht, dass sie indie Infrastruktur hier in Deutschland investieren? Aufdiesem Weg sind wir. Das finde ich ausdrücklich gut.Das Ganze ist ergebnisoffen.Was ich aber hinzufügen will, ist: Wir sind uns einig,dass wir auf diese Art und Weise nicht privatisieren wol-len, wie Herr Gysi uns heute Morgen unterstellen wollte;wir wollen die Infrastruktur im öffentlichen Eigentumbehalten. Wir wollen die Verantwortung dafür nicht etwaabgeben; wir wollen nur ihren Erhalt intelligent möglichmachen. Da ist besonders wichtig, dass wir für diese Gü-ter der Daseinsvorsorge die politische und die demokra-tische Steuerung sowie die parlamentarische Kontrollebehalten, und das setzt Transparenz voraus. Das sind dreiSchlüsselworte. Wenn die drei Schlüsselworte „Steue-rung“, „Kontrolle durch das Parlament“ und „Transpa-renz“ eine Seite der Medaille sind, dann kriegen wir esgemeinsam mit Sicherheit hin, dass die „Mobilisierungvon privatem Kapital“ die andere Seite der Medaillewird.
Das ist ein spannender Prozess. Nur dann, wenn wirdas miteinander hinkriegen, können meine Kinder undEnkel sagen: Super! Ihr macht nicht nur keine neuenSchulden mehr, sondern ihr sorgt auch dafür, dass das,was der Staat an Vermögen hat, nicht verrottet, sondernauch für die nächste Generation noch vorhanden ist. –Dann hätten wir den Praxistest ernsthaft bestanden.Wenn wir darüber reden, dass wir für Verkehrsinvesti-tionen nicht genug Geld haben, dann müssen wir nochetwas in den Blick nehmen, und das ist die Einnahmesi-tuation in Ihrem Haus, Herr Dobrindt. Da haben wir inder Vergangenheit durchaus Gutes gemacht. Wir habenin Deutschland nämlich die Lkw-Maut eingeführt. Beidem Stichwort „Lkw-Maut“ haben manche gar nicht imBlick, wie viel Geld dadurch tatsächlich in Ihrem Etatankommt, Herr Dobrindt, und damit in die Verkehrsin-frastruktur investiert werden kann. Das waren in denletzten fünf Jahren 22 Milliarden Euro – 22 MilliardenEuro!Wir haben im Koalitionsvertrag verabredet, dass wirdie Lkw-Maut auf alle Bundesstraßen ausweiten wollen.Das ist enorm wichtig. Ich glaube, durch diese Summeist noch einmal deutlich geworden, dass wir hier nichtsozusagen über Peanuts reden. Um 2 Milliarden Euro, soschätzen wir, könnten wir damit Ihren Etat, HerrDobrindt, à la longue, und zwar nachhaltig und aufDauer, vergrößern: von round about 10 auf 12 MilliardenEuro. Das wäre natürlich eine richtig gute Sache. Darumwill ich hier sagen: Diesen Weg müssen wir dringendweiterverfolgen.Ich weiß, dass das Thema Maut öffentlich und in denMedien im Moment völlig anders besetzt ist; ich möchtedavon auch keineswegs ablenken. Ich will nur sagen: ImThema Lkw-Maut steckt, finanziell betrachtet, der we-sentlich größere Betrag. Ich glaube, dass sich alle Deut-schen – egal wie sie zur Pkw-Maut stehen – in einemPunkt einig sind: Es sind doch die großen Lkw, die un-sere Straßen ganz erheblich kaputtmachen. Darum soll-ten wir diesen Weg gemeinsam gehen.Damit Sie die Dimension erkennen: Aktuell wird auf13 000 Kilometern Bundesfernstraßen für Lkw mit12,5 Tonnen – zukünftig schon ab 7,5 Tonnen; die Ge-setze werden kommen – Maut erhoben. Unser Ziel ist,dass auf 40 000 Kilometern Bundesfernstraßen Maut er-hoben wird, also eine Verdreifachung. Man kann sichvorstellen, dass dadurch viel Geld eingenommen wird.Das ist auch angemessen; denn wir wissen, dass viele
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Bettina Hagedorn
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Lkw zum Leidwesen der Anwohner die Autobahn ver-lassen und dadurch verstärkt Straßen belasten, die dafüreigentlich nicht geeignet sind. Für die Leute, die dortwohnen, bedeutet das zusätzlichen Lärm und einenschlechteren Zustand der Straßen.
An dieser Stelle haben wir gemeinsam viel vor. Dasswir die Aufgabe, mehr Geld für die Verkehrsinfrastruk-tur zu bekommen, gemeinsam lösen, darauf setzen dieMenschen in diesem Land große Hoffnung. Ich bin ge-spannt, inwieweit uns die Verwirklichung dieses hehrenZiels im Laufe der Haushaltsberatungen in den nächstenzwei Monaten gelingen wird.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Harald Petzold für die Frak-
tion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Sehr geehrte Frau Staatsministerin! LiebeBesucherinnen und Besucher der heutigen Sitzung! Alsich das letzte Mal an dieser Stelle über den Entwurf desEinzelplans der Staatsministerin für Kultur und Mediengesprochen habe, konnte ich meine Rede mit einem Lobeinleiten. Damals waren 90 Millionen Euro zusätzlichfür den Etat „Kultur und Medien“ zu feiern gewesen.Diese zusätzlichen Millionen waren fraktionsübergrei-fend erstritten worden. Heute kann ich leider nicht miteinem solchen Lob beginnen.Ich muss feststellen, dass der Entwurf des Einzelplans„Kultur und Medien“ ideologischem Ballast folgt, dasser zweitens nicht auf der Höhe der Zeit ist und dass erdrittens verteilungstechnisch unausgewogen ist. Ichmöchte Ihnen das begründen.Zum Ersten. Frau Staatsministerin, mit insgesamt12 Millionen Euro wollen Sie den Wiederaufbau derGarnisonkirche in Potsdam unterstützen. 12 MillionenEuro für ein Vorhaben, das selbst von der großen Mehr-heit der Potsdamerinnen und Potsdamer strikt abgelehntwird. Stellen Sie sich vor, was wir allein in Potsdam mitdiesem Geld für Soziokultur, für Theaterprojekte, fürAusstellungen, für Kulturvereine, für Künstlerinnen undKünstler anstellen könnten.
Sie wollen Geld für die Wiedererrichtung eines Ge-bäudes ausgeben, das in der Geschichte Deutschlands zueinem Symbol für den preußischen Militarismus und dienationalsozialistische Machtergreifung wurde. Sie för-dern ein Bauwerk, dessen Wiedererrichtung selbst fürChristinnen und Christen eine Zumutung darstellt. Einewiedererbaute Garnisonkirche in Potsdam wäre nach-träglich eine Demütigung des evangelischen Widerstan-des gegen die Barbarei, wie er in der Bekennenden Kir-che zum Ausdruck gekommen ist.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ichmöchte Sie bitten: Lassen Sie uns gemeinsam verhin-dern, dass ein Tempel der Täter wieder errichtet wird,auch im Respekt vor unseren gemeinsamen Opfern, dieunsere beiden Parteien bzw. Vorgängerparteien in derZeit der Nazidiktatur hinnehmen mussten.
Herr Kollege Kauder, Sie haben uns an Ihrer Seite,wenn Sie fragen, was wir aus der Geschichte lernen, undfordern, dass Aufklärung und Information in den Schu-len stattfinden müssen. Ich möchte Sie zum zweiten Maldarauf aufmerksam machen, dass im Haushaltsentwurfder Staatsministerin für Kultur und Medien das Sonder-investitionsprogramm für Gedenkstätten auf null gesetztworden ist. Ich frage Sie, ob es unser Ernst ist, dass wirhier um 9 Uhr eine Gedenkstunde aus Anlass des75. Jahrestages des Beginns des Zweiten Weltkrieges be-gehen und anderthalb Stunden später ein Haushalt vor-gelegt wird, der für Gedenkstätten für die Opfer dieserfaschistischen Barbarei keine Sonderinvestitionen mehrvorsieht. Ich sage das auch als Vertreter eines Wahlkrei-ses, in dem sich mit den Gedenkstätten Sachsenhausenund Ravensbrück zwei ganz besonders wichtige Ge-denkstätten befinden. Ich möchte Sie bitten, diesen un-haltbaren Zustand nicht aufrechtzuerhalten.
Es ist absurd, auf der einen Seite ein fragwürdiges,rückwärtsgewandtes Bauprojekt zu unterstützen und aufder anderen Seite mit dem Zukunftsprojekt „DigitaleAgenda“ einen Text vorzulegen, der alles andere ist alseine Agenda.
Dieses Papier ist bestenfalls eine Sammlung aus Absich-ten und Unverbindlichkeiten. Allein sein medien- undkulturpolitisches Kapitel leidet unter inhaltlicher Schwind-sucht.Sie erklären, dass die Deutsche Digitale Bibliothekausgebaut werden soll, sagen aber nicht, wie. Die einzel-nen Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen sind mitden an sie gerichteten Anforderungen der Digitalisierungin technischer, organisatorischer und personeller Hin-sicht sehr oft einfach überfordert. Deswegen sagt dieLinke – und das seit vielen Jahren –: Es braucht keineweiteren Ankündigungen, die zu nichts verpflichten, esbraucht eine nationale Digitalisierungsstrategie, unter-setzt mit einem Sonderprogramm in Höhe von rund30 Millionen Euro zur Digitalisierung des kulturellenErbes.
Diese Zahlen habe ich mir nicht selber ausgedacht, son-dern sie stammen vom Fraunhofer-Institut. Ich sage: Jelänger wir mit einer solchen Strategie warten, umso teu-rer wird es am Ende.
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4582 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 50. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2014
Harald Petzold
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Der dritte Bereich, den ich ansprechen möchte, ist dieMedienordnung. Ich gönne den Menschen in Thüringeneine bessere Regierung, und ich gönne ihnen mit BodoRamelow einen linken Ministerpräsidenten. Ich alsMedienpolitiker habe natürlich verständlicherweise einEigeninteresse an einem politischen und personellenWechsel in der Erfurter Staatskanzlei; denn in denStaatskanzleien wird die Medienpolitik gemacht, unteranderem auch die Medienordnung.Wenn die Kanzlerin sagt: „Wir müssen die Start-up-Unternehmen stärker unterstützen“, dann sage ich: Na-türlich! Das hat etwas mit der Medienordnung zu tun.Denn die Medienordnung stimmt seit langem nicht mehrmit dem überein, was tatsächlich Medienrealität ist. Des-wegen brauchen wir an dieser Stelle unbedingt eine Än-derung und einen neuen Impuls.
Daher sage ich: Am Sonntag wählen gehen in Thürin-gen und Brandenburg und die Linke wählen! Das ist einguter Schritt, damit an dieser Stelle endlich eine Verän-derung einsetzt und wir auch in der Medienordnung vo-rankommen.Vielen Dank, meine sehr verehrten Damen und Her-ren.
Das Wort hat die Staatsministerin und Beauftragte für
die Angelegenheiten der Kultur und Medien, Professor
Dr. Monika Grütters.
M
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Nach der bewegenden Gedenkstunde heute Vormit-tag zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahrenfällt es in einer Debatte über den Kulturhaushalt, derauch die Mittel für die Erinnerungskultur und die au-thentischen Orte des Gedenkens einschließt, in der Tatnicht leicht, einfach zur Tagesordnung überzugehen.Ich bitte den Fraktionsvorsitzenden der Linken, HerrnGysi, ganz kurz zuzuhören. – Herr Petzold, Sie habenkritisiert, es seien Mittel für das Gedenken gestrichenworden. Das ist nicht richtig. Das Gegenteil ist der Fall:Mehrere neue Gedenkstätten wie zum Beispiel der Ju-gendwerkhof Torgau wurden in die Gedenkstättenkon-zeption aufgenommen. Außerdem haben wir die Mittelfür dieses Gedenkjahr erheblich erhöht, unter anderem,weil wir die Ausstellung zur friedlichen Revolution vor25 Jahren am Standort Normannenstraße neu errichtenmöchten.Mit Blick auf unsere Gedenkstunde und die aktuellepolitische Situation bin ich dankbar für den geradezusymbolträchtigen Zufall, dass sich ausgerechnet heute,am 10. September 2014, die Überführung des wohl be-rühmtesten Picasso-Bildes nach Spanien zum 33. Maljährt. Es ist ein Gemälde, das, so denke ich, wie kaumein anderes geradezu symbolhaft wie eine zeitlose Anti-kriegsikone wirkt.
Es ist das Bild „Guernica“. Dieses Bild sollte nachPicassos Willen erst dann in sein Heimatland Spanienrücküberführt werden – es war bis dahin im MoMA inNew York –, wenn sein Heimatland wieder eine Demo-kratie ist.Es ist 1937 unter dem Eindruck der deutsch-italieni-schen Luftangriffe während des spanischen Bürgerkriegsentstanden. Guernica, die gleichnamige baskische Stadt,wurde dabei dem Erdboden gleichgemacht; mehr als1 500 unschuldige Menschen wurden ermordet. Aufrund 27 Quadratmetern Leinwand sind heute tote, ver-stümmelte, in Panik flüchtende Menschen und Tiere zusehen, abgetrennte Gliedmaßen, aufgerissene Münder –das blanke Entsetzen eines Krieges eben. „Guernica“ of-fenbart schonungslos die Gräuel jedes Krieges undzwingt uns, zu sehen, was im bloßen Abwägen des Fürund Wider eben nicht immer sichtbar wird. Darin liegtdas Subversive, das Verstörende, aber eben auch dieKraft der Kunst, auch dieses Werkes.Es sagt viel über die Verfasstheit einer Gesellschaftaus, ob sie bereit ist, sich damit wirklich auseinanderzu-setzen. Wir haben nicht zuletzt aus unserer Erfahrungmit der menschenverachtenden Diktatur des Nationalso-zialismus die Lehre gezogen, dass wir die Künstler, dieKreativen, die Vor-, die Querdenker als kritisches Kor-rektiv unserer Gesellschaft brauchen, als Stachel imFleisch der Demokratie – deshalb ist deren Freiheitschon sehr früh in der Verfassung, in Artikel 5, festge-schrieben. Sie sind es, die immer wieder Grenzen aus-loten, provozieren, hinterfragen, aber eben auch ver-hindern, dass intellektuelle Trägheit, argumentativeFantasielosigkeit und auch manche politische Bequem-lichkeit die Demokratie einschläfern. Vielfalt und Frei-heit für Kultur und Medien zu sichern, muss deshalboberster Grundsatz unserer Kulturpolitik sein.
Wenn wir über den Kultur- und Medienetat reden,meine Damen und Herren, dann reden wir immer auchdarüber, was uns die kulturelle Vielfalt und Freiheit wertsind. Deshalb bin ich froh, dass wir den Kulturhaushaltdes Bundes trotz des notwendigen und richtigerweisestrikten Sparkurses auch gegenüber dem zweiten Regie-rungsentwurf des Haushalts 2014 noch einmal leicht er-höhen konnten. Das ist auch ein Bekenntnis der Regie-rung zum besonderen Stellenwert der Kunst und Kultur.Ich bin froh, dass dies hier sehr wohl fraktionsübergrei-fend unterstützt wird.Eine in diesem Sinne gute und enge Zusammenarbeitwünsche ich mir aber auch mit den Ländern und Kom-munen. Ich habe nach dem ersten Treffen im März mitden 16 Kulturministerkolleginnen und -kollegen derLänder sowie den Vertreterinnen und Vertretern derkommunalen Spitzenverbände vereinbart, dass wir unskünftig zweimal im Jahr in dieser Zusammensetzung
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Staatsministerin Monika Grütters
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treffen. Das hatte es noch nie gegeben, aber es soll jetztwegen der guten Erfahrungen verstetigt werden.Außerdem bin ich in den letzten Monaten in 27 Städ-ten und Kommunen gewesen und habe immer wiederzwei Erfahrungen machen müssen.Die eine Erfahrung ist: Es gibt Länder, die aufgrunddes Engagements des Bundes die Mittel für ihre Länder-programme, beispielsweise Nordrhein-Westfalen imBereich des Denkmalschutzes, prompt nicht nur herun-terfahren, sondern ganz streichen. So war das nicht ge-meint, und so darf es auch nicht sein. Wir müssen dieLänder gelegentlich durchaus öffentlich stärker in diePflicht nehmen. Auf Kulturhoheit pochen und sich beider Finanzierung aus der Verantwortung stehlen – dasgeht so nicht!
Zum anderen sehen wir, dass gelegentlich Kommu-nen, die ja eigentlich sehr viel für die Kultur tun – natür-lich kennen auch wir die finanziellen Nöte der Städteund Gemeinden – jetzt gerade hier den Rotstift ansetzen.Das kostet mittelfristig mehr, als es an Einsparungenbringt; das wissen wir. Ich bitte Sie, auch in Ihren Wahl-kreisen immer mal wieder auf diesen Mechanismus hin-zuweisen – das muss man nämlich vor Ort tun – undnicht nur hier zu applaudieren.Der Bund tut alles, was im Rahmen des Grundgeset-zes möglich ist, um die kulturelle Vielfalt vor Ort zu för-dern. Da gibt es nicht nur herausragende Programme wiezum Beispiel den Kinoprogrammpreis, den Spielstätten-programmpreis und das Programm zur Förderung derDigitalisierung von Kinos, damit sie als Kulturorte er-halten bleiben, sowie die Denkmalschutzprogramme– auch im Bereich Buch wollen wir künftig etwas tun –,sondern wir entlasten die Kommunen auch materiell,zum Beispiel bis 2016 von den Pflichtleistungen fürKosten der Unterkunft und Grundsicherung im Alter,und zwar in Milliardenhöhe. Das schafft Investitionsfrei-räume, die gut für freiwillige Leistungen und da zuvör-derst für die Kultur genutzt werden können.Im Rahmen dieses kleinen kulturföderalistischen Ex-kurses möchte ich aber auch sagen, dass vieles in der Zu-sammenarbeit supergut funktioniert. Ich bin ehrlichstolz, dass es in Zusammenarbeit mit allen Bundeslän-dern, mit den Kommunen und der Kulturstiftung derLänder gelingen wird, unser Deutsches Zentrum Kultur-gutverluste tatsächlich noch Ende dieses Jahres an denStart zu bringen – in Form einer Stiftung, die in Sachsen-Anhalt gegründet wird. Wir haben darüber hinaus auchinternational Erfolge: Die Vereinbarung mit der israeli-schen Regierung über die Zusammenarbeit ist geschlos-sen. Dass das in so kurzer Zeit auf beiden Seiten möglichwar, zeigt, finde ich, wie Zusammenarbeit in der Kulturfunktionieren kann.
Das ist deshalb wichtig, weil es in 60 Prozent aller Mu-seen Bestände gibt, die noch nicht erforscht sind, abernur 10 Prozent dieser Museen die Mittel haben, um solcheine Arbeit zu leisten. Ich finde, es ist unser aller Auf-gabe, dabei zu helfen, und das tun wir gern.Ein weiteres Thema, das in Gesprächen mit Künstlernund Kreativen immer wieder hochkommt, ist die Sorge,dass die Vielfalt der Kultur in unserem Land Stück fürStück dem Primat des Ökonomischen geopfert werdenkönnte. Ich nehme diese Sorge sehr ernst und werdeeiniges tun, um die Freiheit der Kunst konkret zu stär-ken. Das gilt zum Beispiel für die staatliche Filmförde-rung – der Film hat eben einen Doppelcharakter: Wirt-schaftsgut und Kulturgut –, das gilt aber natürlich auchfür die Buchpreisbindung. Gerade Filme und Büchersind in unserer Kulturnation wichtig, weil sie viel mehrsind als bloße Handelsobjekte.Deshalb habe ich mich auch mit den Autoren solidari-siert, die von Amazon unter Druck gesetzt worden sind.Natürlich sind Rabattverhandlungen mit den Verlagenwirtschaftlich legitim. Ich glaube, der Sündenfall bestehtin diesem Fall darin, dass man sich an den Autoren, anden Künstlern, die am Beginn der Kette stehen, rächt,wenn die Verlage auf die Rabattforderungen nicht einge-hen. Das geht kulturpolitisch wirklich zu weit.
Es gibt ja nur einen kleinen Handlungsspielraum für Ge-genmaßnahmen. Wir können über kartellrechtsähnlicheRegeln bei Google, Amazon usw. nachdenken, aber wirkönnen natürlich auch kulturpolitisch etwas tun, zumBeispiel mit einem Preis für kleine, inhabergeführteBuchhandlungen, um dieses Netz geistiger Tankstellen,wie Helmut Schmidt es so schön gesagt hat, ein bisschenzu stärken. Ich glaube, dass selbst kleine Summen – ana-log zum Kinoprogrammpreis – große Wirkung entfaltenkönnen. Damit passen wir auch unsere Arbeit an dieseneue Herausforderung an.Am Beispiel Amazon sehen wir aber auch, worin dievielleicht größte Herausforderung für die Kultur- undMedienpolitik im digitalen Zeitalter besteht: Es geht da-rum, die Rahmenbedingungen für ästhetische Vielfaltund Meinungsvielfalt der digitalen Lebenswirklichkeitanzupassen. Die Demokratie lebt von unterschiedlichenStandpunkten, Perspektiven und Weltanschauungen.Diese Vielfalt in unserer Medien- und Kulturlandschaftzu sichern und dabei der Perspektive der Kunst zur Gel-tung zu verhelfen – neben dem Blickwinkel der Ökono-mie, des Rechts, der Wissenschaft, der Religion –, dasbleibt, glaube ich, über das Haushaltsjahr 2015 hinauseine große Herausforderung. Dabei hoffe ich natürlichweiterhin auf Ihre Unterstützung, ganz im Sinne PabloPicassos, der – das möchte ich zum Abschluss sagen –,lange bevor er „Guernica“ gemalt hat, es einmal so for-muliert hat – ich zitiere –:Wir alle wissen, daß Kunst nicht Wahrheit ist.Kunst ist– manchmal –
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4584 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 50. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2014
Staatsministerin Monika Grütters
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eine Lüge, die uns die Wahrheit begreifen lehrt, we-nigstens die Wahrheit, die wir als Menschen begrei-fen können.Ich danke Ihnen.
Vielen Dank, liebe Monika Grütters. – Nächste Red-
nerin in der Debatte für Bündnis 90/Die Grünen: Tabea
Rößner.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Wir leben in bewegten Zeiten. Kultur und Medien sollenuns – gerade in solchen Zeiten – zum Reflektieren anre-gen, helfen, aktuelle Geschehnisse einzuordnen, oder derStachel im Fleisch sein, wie Frau Grütters es eben sagte.Sie stehen aber selbst vor einem Umbruch.Eine der größten Herausforderungen ist das Handels-abkommen TTIP. Eigentlich sollen Kultur und audiovi-suelle Medien ausgenommen sein, aber wer kann da– bei so intransparenten Verhandlungen – so sicher sein?Es ist doch bezeichnend, Frau Grütters, dass Sie TTIPnicht einmal erwähnt haben.
Deshalb frage ich Sie: Was ist tatsächlich mit unserenKulturgütern, die die Amerikaner nur als Wirtschaftsgü-ter betrachten? Was ist mit der Buchpreisbindung? Wasist mit der Filmförderung? Was ist mit dem Schutz derUrheber? Und was ist mit dem öffentlich-rechtlichenRundfunk? Wir sagen ganz klar: Europäische Kultur-standards dürfen den Handelsinteressen nicht geopfertwerden!
Natürlich gibt es Befürchtungen der Kreativen inDeutschland. TTIP soll den Markt liberalisieren undSubventionen und Preisbindungen beseitigen, die denWettbewerb verzerren könnten. Da wird deutlich, gegenwen wir hier antreten: Das sind Giganten wie Amazon,die ein Interesse daran haben, europäische Standards zumindern. Amazon hat mit seinem erpresserischen Vorge-hen ja sehr deutlich gezeigt, welche Ambitionen es tat-sächlich hat. Buchpreisbindung, Urheberrecht, Filmför-derung – all dies sind für solche Konzerne europäischeSonderlinge, die dem Profit im Wege stehen. Aber füruns sind Kultur und Medien eben nicht nur Ware. Siesind elementar für eine vielfältige, für eine innovative,für eine demokratische Gesellschaft.
Sie bieten uns in bewegten Zeiten Halt. Deshalb ist esunsere Aufgabe, sie zu schützen.Die Staatsministerin ist sehr spät auf den fahrendenProtestzug aufgesprungen. Die französischen Kollegenhaben sich früher und auch viel engagierter für dieseAusnahmen eingesetzt. Wir fordern die Bundesregierungauf: Ziehen Sie die Notbremse! Binden Sie die Akteureein, und sorgen Sie für Transparenz!
Auch die Deutsche Welle steht vor bewegten Zeiten.Die Umstrukturierung des Senders bereitet vielen Sorge.Der Intendant will den BBCs und CNNs dieser WeltKonkurrenz machen, muss aber gleichzeitig sparen. DieInhalte sollen multimedial sein, und zugleich soll dasFernsehprogramm ausgebaut werden. Das ist so, alswürde man gleichzeitig vorwärts und rückwärts laufenwollen. Solch ein Laufen ist nicht sinnvoll und kostetvor allen Dingen viel Kraft. Über 200 der 3 000 Mitar-beiter stehen bereits auf der Straße. Ist das sozial ver-träglich?
Mitten in der Umstrukturierung werden viele Mitarbeiterim Regen stehen gelassen. Das können wir so nicht dul-den.
Noch ein paar Worte zum Film. Die Staatsministerinist dabei, sowohl das Erbe als auch die Zukunft des deut-schen Films zu verspielen.Unser Filmerbe besteht aus Zehntausenden Filmrol-len. Um sie zu bewahren, müssen sie digitalisiert wer-den. Aber die extra Million, die es 2014 gab und die imJuli schon aufgebraucht war – mit diesem Geld wurdengerade einmal 74 Filme digitalisiert! –, ist im Haushalts-jahr 2015 wieder gestrichen. Es fehlt vor allem ein Kon-zept, wie das Filmerbe dauerhaft gerettet werden kann.Das muss – wie vieles andere auch – dringend angegan-gen werden.Und die Zukunft des Films kürzen Sie sukzessive ein.2013 gab es 70 Millionen Euro für den Filmförderfonds,dieses Jahr 60 Millionen Euro und für das nächste Jahrsind trotz gegenteiliger Ankündigungen nur noch50 Millionen Euro eingeplant. Wenn das so weitergeht,dann haben Sie 2020 den Filmförderfonds abgewickelt.
Die Förderung deutscher Produktionen ist nicht nurkulturell von Wert, sondern auch wirtschaftlich. Jeder in-vestierte Euro bringt 6 Euro für die Wirtschaft. Wenn wirdann auch noch offen und ehrlich die Vergabe der Gelderevaluieren würden, hätten wir richtig was für den Film-standort Deutschland getan.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 50. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2014 4585
Tabea Rößner
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Wir sollten der Kultur und den Medien gute und ver-lässliche Partner sein. Denn in unruhigen Zeiten zeigtsich, auf wen man sich tatsächlich verlassen kann.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächste Rednerin in
der Debatte: Hiltrud Lotze für die SPD.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Verehrte Gäste auf den Tribünen! Wir haben heute Mor-gen in einer Gedenkstunde des Ausbruchs des ZweitenWeltkrieges vor 75 Jahren gedacht. Der polnische Staats-präsident Komorowski hat dazu eine beeindruckende eu-ropäische Rede gehalten. Sie hat mich an die Worte vonAlfred Grosser erinnert, der im Juli auch hier zu uns ge-sprochen hat, als wir des Ausbruchs des Ersten Weltkrie-ges vor 100 Jahren gedacht haben. Das sind zwei histori-sche Ereignisse, die uns eines mehr als deutlich machen,nämlich die Bedeutung Europas als Friedensprojekt.Beide Festredner haben das deutlich betont. Die Euro-päische Union ist aus den Ruinen zweier Weltkriege ent-standen, aus der Sehnsucht der Menschen nach Friedenund Freiheit. Auch Präsident Komorowski hat nocheinmal deutlich hervorgehoben, dass wir in Europa dieZukunft nur gemeinsam gestalten können.Die Erinnerung an die schmerzliche Vergangenheitdes 20. Jahrhunderts läuft aber auch Gefahr, eher tren-nend als identitätsstiftend für die Europäische Union zuwirken. Gerade in diesen Tagen sehen wir, dass sich jedeNation primär an das je eigene Schicksal erinnert. DieGedenkveranstaltungen und die Inhalte unterscheidensich doch sehr. Ein gemeinsames europäisches Ge-schichtsbewusstsein, ein Wir-Gefühl ist da noch nichtwirklich zu erkennen. Dabei geht es nicht darum, eineGleichmacherei in der Gedenk- oder Geschichtspolitikzu erreichen, ganz im Gegenteil: Die Verantwortung undSchuld Deutschlands sind unbestritten und dürfen auchnicht vergessen werden.Es bietet sich hier jedoch die Gelegenheit, eine histo-rische Chance zu ergreifen, nämlich uns mit den euro-päischen Nachbarn über unsere Vergangenheit auszutau-schen, das Trennende nicht zu verschweigen, aber ebenauch das Gemeinsame unserer europäischen Geschichtezu betonen, und zwar mit dem einen Ziel, uns besser zuverstehen.
Aus diesem gegenseitigen Verstehen kann dann eine ge-meinsame europäische Identität erwachsen, die wir dochdringender brauchen als je zuvor. Auch ich darf Richardvon Weizsäcker zitieren:Wer aber vor der Vergangenheit die Augen ver-schließt, wird blind für die Gegenwart.Gemeinsames Gedenken und Erinnern in Europa ma-chen uns gemeinsam stark für die Zukunft. Liebe Kolle-ginnen und Kollegen, hier sind wir Kulturpolitiker ge-fragt.Natürlich muss sich dieses Ansinnen – Gedenken undErinnern – auch im Haushalt, den wir hier debattieren,wiederfinden. Das ist natürlich eine ziemlich große Auf-gabe, die wir damit für den doch recht übersichtlichenEtat der Beauftragten der Bundesregierung formulieren,der für das nächste Jahr 1 237 231 000 Euro umfasst.Verglichen mit dem Regierungsentwurf für 2014 steigtdas Budget für Kulturpolitik aber immerhin um 2,2 Pro-zent. Damit, denke ich, sind wir doch recht gut aufge-stellt und können die Kulturpolitik auf hohem Niveaufortführen, zumal es uns bislang in den Haushaltsbera-tungen eigentlich immer gelungen ist, bestimmteSchwerpunkte noch einmal zu verstärken, auch wenn esdie Kulturstaatsministerin nicht geschafft hat, die Erhö-hungen an allen Stellen fortzuschreiben. Aber gerade wirKulturpolitikerinnen und Kulturpolitiker wissen ja: Wirmüssen immer ein bisschen mehr kämpfen als die ande-ren. Dabei haben uns die Haushaltspolitiker – ich seheda den Kollegen Kruse – bisher immer unterstützt. Ge-meinsam haben wir auch viel für die Kultur erreicht.
Schauen wir uns den Etat einmal genauer an – ich er-laube mir, auch da symbolisch die erinnerungs- und ge-denkpolitische Brille aufzusetzen; zu weiteren Aspektendes Etats wird mein Kollege Burkhard Blienert gleichnoch etwas sagen, weil wir ja über den Etat für Kulturund Medien sprechen –: Mit Blick auf die historischenEreignisse, derer wir 2014 gedenken, wurde im Haushalt2014 für die historischen Jahrestage eine Summe von550 000 Euro zur Verfügung gestellt. Im Regierungsent-wurf für 2015 ist diese Position leider auf null gesetzt.Das ist ein Punkt, über den wir angesichts der anstehen-den Jubiläen in 2015 – ich erinnere an die Wiederverei-nigung – noch einmal reden müssen. Die friedlicheRevolution war ja nicht am 31. Dezember 1989 beendet,sondern sie setzte sich im darauffolgenden Jahr fort. Wiewichtig dieses Ereignis für Deutschland und für Europawar und wie sehr es unsere Welt verändert hat, hat HerrKomorowski auch heute Morgen betont. Ich denke, hiersollten wir uns doch sehr um ein europäisches Gedenkenbemühen.Ein wichtiger Akteur, der es sich zur Aufgabe ge-macht hat, die europäische Erinnerungskultur zu fördernund ein gemeinsames Geschichtswissen über die Gren-zen hinweg zu entwickeln, ist das Europäische NetzwerkErinnerung und Solidarität. Deutschland beteiligt sichdaran mit 300 000 Euro. Diese Mittel werden auch 2015wieder zur Verfügung stehen, was ich sehr begrüße. Wirhaben übrigens im Koalitionsvertrag die Bedeutung die-ses Netzwerkes festgeschrieben. Dem muss natürlichauch der Haushalt der Kulturstaatsministerin Rechnungtragen.Ebenfalls im Koalitionsvertrag besonders erwähnt istdas Gedenkstättenkonzept des Bundes. Dieses wollenwir weiterentwickeln, auch um der positiven Momente
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4586 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 50. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2014
Hiltrud Lotze
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unserer Geschichte – ich nannte eben schon die Wieder-vereinigung – zu gedenken. Der Titel erfährt mit7 670 000 Euro in 2015 eine Steigerung um fast 2 Mil-lionen Euro.Gedenkstätten – wir haben eben in der Debatte schonetwas darüber gehört – haben ja eine wichtige Funktion.Sie können und sollen das Gedenken lebendig halten undgerade auch jungen Menschen ein authentisches Bild un-serer Geschichte vermitteln. Wir leben in einer Zeit, inder es immer weniger Zeitzeugen, die an die Zeit desNationalsozialismus oder an Flucht und Vertreibungerinnern könnten, gibt. Deswegen ist es so wichtig, dieGedenkstätten weiterhin in die Lage zu versetzen, ihreAufgabe wahrzunehmen. Sie dürfen sich nicht einfachzu Denkmälern entwickeln, die ich mir angucke, abervon denen keine Impulse und keine Bildung ausgehen.Gerade das Interesse von Jugendlichen zum Beispielan Orten der Nazivergangenheit ist groß. Dieses Inte-resse, das vorhanden ist, dürfen wir nicht verspielen.Aber gerade diese NS-Gedenkstätten – das ist ebenschon gesagt worden – klagen über einen Investitions-stau. Schon im Haushalt 2014 wurde ein Sonderinvesti-tionsprogramm eingestellt, weil die Bundesländer nichtin der Lage waren, mitzufinanzieren. Ich denke, es istganz wichtig, dass wir hier über andere Möglichkeitenund Wege nachdenken, um den Bundesländern bei dieserwichtigen Aufgabe zu helfen.Ich sprach bereits darüber, dass wir aus Geschichtelernen wollen. Dazu will ich noch ganz kurz das zentraleProjekt der nächsten Jahre ansprechen, den Wiederauf-bau des Berliner Schlosses, vor allen Dingen aber dasdarin enthaltene Humboldt-Forum. Jeder, der daran vor-beigeht oder vorbeifährt, merkt, dass da schon ziemlichwas zu sehen ist. Soweit wir wissen, läuft da auch allesnach Plan. Was aber unsere höchste Aufmerksamkeit alsKulturpolitiker verdient, ist die inhaltliche Ausgestal-tung und das Konzept des Humboldt-Forums. Hier sollsich ja – so ist die Idee – die Welt treffen und über kultu-relle Grenzen hinweg die wichtigen Themen der Zeitverhandeln. Insofern ist das eine einmalige und histori-sche Chance.Ebenfalls wollen wir die Planungen und Bauvorhabender Stiftung Preußischer Kulturbesitz unterstützen, dieein einzigartiges kulturelles Erbe bewahrt. Dafür sind25 Millionen Euro zusätzlich für Bauinvestitionen in denHaushaltsentwurf der BKM eingestellt. Das ist eine be-trächtliche Summe.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte zumSchluss noch einmal betonen, dass wir mit dem Entwurfder Bundesregierung für den Etat der Beauftragten fürKultur und Medien in 2015 eine erfreuliche Arbeits-grundlage haben. Gemeinsam mit unseren Haushältern,die ebenso wie wir ein großes Herz für die Kultur haben,werden wir uns bemühen, noch einige Akzente zu set-zen.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Frau Kollegin Lotze. – Nächster Redner
in der Debatte: Rüdiger Kruse für die CDU/CSU-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Sie werden schon gelesen oder gehört haben:Die Einbringung eines Haushaltes, der eine schwarzeNull hat, ist ein historisches Ereignis. Okay. Warum istdas ein historisches Ereignis? Was macht etwas zu einemgeschichtlichen Ereignis? Nicht nur die Tatsache, dass esirgendwann vergangen sein muss, sondern auch, dassdaran erinnert wird, das heißt, dass darüber gesprochenwird. Geschichten müssen erzählt werden. Eine Tat al-lein führt nicht dazu, dass etwas historisch wird. Vergan-genheit garantiert nicht die Ewigkeit der Geschichts-schreibung.Die Frage ist ja auch angesichts der vielen Mühe, dieman darauf verwendet, diese schwarze Null zu errei-chen: Warum tut das der Bundesfinanzminister? Was istda sein Antrieb? Hat er jetzt eine besondere Schwächefür Nullen? Wenn ich mir seinen Mitarbeiterstab ansehe,kann ich das nicht unterschreiben. Daran wird es nichtliegen. Eine schwarze Null steht eben für Stabilität. Sta-bilität ist ein hoher Wert. Das kennen wir von Gebäuden.Wir erwarten, dass sie stabil sind. Aber warum erwartenwir das? Wir erwarten das, weil wir ihre Funktion nutzenwollen. Das heißt, das Gebäude muss einen Sinn ma-chen. Dann macht die Stabilität einen Sinn. Es muss alsoeinen Sinn für all diese Arbeit geben.Nun ist ja das Ziel der Arbeit, auch wenn man dasWolfgang Schäuble nicht ansieht, die Muße. Und dieMuße ist eine Schwester der Freiheit.
Wenn Sie sich all die Bemühungen ansehen, die er unddie Bundeskanzlerin auch auf europäischer Ebene unter-nehmen, glauben Sie denn, dass sie das nur tun, weil Eu-ropa wirtschaftspolitisch gut für Deutschland ist? Das istja schon eine Geschichte, die wir keinem unserer Wählerdauerhaft so richtig erzählen können, weil es auch vieleBeispiele dafür gibt, dass zumindest kurzfristig gewisseHilfsprogramme nicht das bringen, was vielleicht etwasanderes in Deutschland selbst bringen würde. Da mussalso noch etwas anderes zu erzählen sein, es muss sie et-was anderes antreiben.Wäre Europa ein rein finanzpolitisch zu bewertendesKonstrukt, wäre es quasi eine große Holding, die Beteili-gungen in den Ländern hält, dann würden wir alle dreiMonate darüber nachdenken, ob wir uns über dieGewinne freuen, ob wir reinvestieren oder ob wir einesdieser Länder abstoßen – das ist nicht die Geschichte,die wir über Europa erzählen. Die Belohnung, diese we-nigen Mußestunden all dieser Akteure, die sich um Eu-ropa und um Deutschlands Stabilität bemühen, das istdie Vielfalt von freiheitlichen Nationen in Europa; da-rum geht es.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 50. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2014 4587
Rüdiger Kruse
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Da die Muße die Schwester der Freiheit ist und dieFreiheit eine große Familie hat, zu der auch die Sicher-heit und eine Tochter, die Kunst, gehören,
sind wir dann doch endlich bei dem kleinen und schönenEtat von Monika Grütters.
– Bei acht Minuten Redezeit kann man sich so eine Vor-rede erlauben.Die Frage ist jetzt: Was machen wir mit diesem Etat?Vorhin ist die Deutsche Welle angesprochen worden. Esist uns gesagt worden, wir hätten da nicht genug getan,nichts getan. Das ist nicht so ganz der Fall. Wir hattendieses Jahr das Vergnügen, zwei Haushalte aufstellen zudürfen. Im 2014er-Haushalt haben wir der DeutschenWelle sowohl für Investitionen 3 Millionen Euro bereit-gestellt, aber auch, was ich für viel wichtiger halte, fürdas Programm für die Ukraine 3,5 Millionen Euro. Dasheißt, das Parlament hat schnell reagiert und gesagt: Dasist uns wichtig, weil wir einen wesentlichen Beitrag leis-ten können, indem wir andere Informationen, nämlichdie Informationen, die man in einer freien Welt bekom-men kann, zur Verfügung stellen.
Das wird natürlich auch eine Frage sein, wenn wir überdie Kooperation mit den baltischen Ländern sprechen;auch da ist nicht nur die Frage, wie wir die NATO-Ver-sprechen einlösen, sondern vorrangig auch, wie wir jetztschon unterstützen können. Da ist es natürlich auchwichtig, dass bei all den russischsprachigen Informatio-nen, die durch den Äther gehen, nicht bloß die Putin-treuen Informationen durch den Äther gehen. Es warschon immer wichtig, dass Demokratie mit dem Wort fürsich kämpft; und das werden wir fördern müssen.
Wenn man sich das Regierungsprogramm bzw. denKoalitionsvertrag anschaut, sieht man: Da stehen vieleMaßnahmen drin, die nicht genau beziffert sind – das ist-auch in Ordnung –; im Kulturbereich sind das an die 35.Wenn man jetzt ein bisschen schaut, dann muss man sa-gen: Wir alle wissen nicht, wie lang das Leben ist; aberwir haben eine Vorstellung davon, wie lang eine Legis-laturperiode ist. Das heißt, wir haben natürlich die Er-wartungshaltung, dass diese Projekte – darunter sindviele ehrgeizige Projekte, und einige, die nicht ganz bil-lig sind – binnen der nächsten Jahre Stück für Stück ab-gearbeitet werden.Die Frage ist, ob das unsere einzige kulturpolitischeAgenda ist. Die Zusammenarbeit mit den Ländern ist an-gesprochen worden. Zum Glück sind seit einigen Jahrendie Zeiten überwunden, in denen wirklich wie in einemKulturkampf die Haltung vorherrschte: Kultur ist Län-dersache, Bund, halte dich da raus! – Stattdessen ist eszu einem Miteinander gekommen.Wir haben auch Herausforderungen zu bewältigen,die nur gemeinschaftlich zu bewältigen sind: Wir habeneine kulturelle Infrastruktur geerbt, die im Wesentlichennoch aus der Zeit kommt, als man sich in Deutschland zuFuß oder mit der Pferdekutsche bewegte. Da das heutenicht mehr so ganz der Fall ist, müssen wir uns überle-gen: Welche kulturelle Infrastruktur brauchen wir? Wiereagieren wir auf demografische Entwicklungen? Daskann sich nicht darin erschöpfen, bloß irgendwo Pflasterzu kleben oder Bedauernsschreiben aufzusetzen. Wirmüssen vorausschauend sehen, wie wir unsere föderalekulturelle Vielfalt in den kommenden 20, 30 Jahren indieser Form bewahren und in jener Form ausbauen kön-nen; das gilt es in Augenschein zu nehmen.Dazu gehört auch, dass wir mit den Ländern in einenDialog eintreten. Es nützt nichts, wenn der Bund seineMittel erhöht, die Länder ihre Mittel für Kultur jedochkürzen. Das sollten keine kommunizierenden Röhrensein. Das wäre auch eine schlechte Idee: Wenn dieLänder ihre Mittel halbierten, müsste der Bund seinenBeitrag vervierfachen. Ich bin ja gerne im Wettstreit mitanderen um einen höheren Kulturetat; aber ich glaube,dass spätestens dann das Ganze unrealistisch wird – undin der Summe würde das noch nicht einmal etwas brin-gen.Wenn wir uns gegenüber den Ländern auf die Schul-ter klopfen, dass wir den Kulturetat seit zehn Jahrennicht abgesenkt haben, muss man zugleich sehen, dassaus 100 Prozent – einmal unterstellt, dass die Dinge je-des Jahr um 2 Prozent teurer werden – 80 Prozent ge-worden sind. Das heißt, Sie dünnen das Ganze aus, unddann müssen Sie irgendwann die Entscheidung treffen:entweder in die gleiche Struktur mehr Geld zu gebenoder die Struktur zusammenzustreichen. Sie kommenum diese Entscheidung nicht herum; sonst stirbt flächen-deckend irgendwann alles. Das darf man nicht wollen.Politik ist auch immer Mut zu Entscheidungen.Ein weiterer Punkt ist, dass man gemeinsam mit denLändern darüber reden muss, wie wir die tarifvertragli-chen Bedingungen so umsetzen, dass wir uns nicht jedesJahr aufs Neue damit beschäftigen, wie prekär es denSchauspielern geht, dann aber doch wieder zum norma-len Leben umschalten.Dazu muss es Entscheidungen geben. Das bedeutet:Wenn der Bund die Kommunen mal wieder entlastet,dann müssen wir darauf achten, dass diese Entlastungauch in den Bereichen ankommt, die uns allen nützen.Das ist im Bildungsbereich so und, ich denke, auch imBereich der Kultur.Gleichzeitig sollten wir uns auch überlegen, ob es al-lein Aufgabe der Städte und Kommunen ist, eine kultu-relle Infrastruktur aufrechtzuerhalten, die nicht nur fürdie eigentliche Stadt und für das Umfeld, sondern auchfür die gesamte Nation von Bedeutung ist. Bei derHauptstadt haben wir das selbstverständlich so ange-nommen. Wir fördern hier und da – fast überall – dieProjekte und begründen das selbstverständlich nicht mitunserer Vorliebe für Berlin, sondern damit, dass das un-sere deutsche Hauptstadt ist. In Frankreich wäre das jaauch ganz okay. Dort gibt es Paris und la-bas en pro-
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Rüdiger Kruse
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vince. Das sind nicht wir. Wir sind ein föderalistischesLand und haben diese Vielfalt, weil es ganz vieleSubzentren gibt. Es lohnt sich, hier zu überlegen und mitden Ländern in einen konstruktiven Dialog darüber ein-zusteigen, ob wir analog zu dem vorgehen sollten, waswir bei den Universitäten tun, nämlich die Exzellenz zufördern und unterstützend tätig zu werden, wenn Länderetwas erbringen, was national und international von Be-deutung ist.Wir müssen das, was im Koalitionsvertrag steht, ab-arbeiten und die Dinge in Angriff nehmen, die wir fürdie nächste Zukunft wirklich lösen müssen. Ich glaube,wenn wir diese Mischung erreicht haben, dann stehenwir am Beginn einer für uns sehr guten Zeit, und das istdann auch ein Signal dafür, dass es der vielen Mühe wertist, für Stabilität in diesem Land zu sorgen und die kultu-relle Freiheit in einem geordneten Rechtsstaat zu erhal-ten.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege Kruse. – Nächste Redne-
rin in der Debatte ist Ulle Schauws für Bündnis 90/Die
Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste! Kaum ein Thema
beschäftigt die Kulturszene im Moment so sehr wie die
laufenden TTIP-Verhandlungen. Die Aufregung ist groß,
und darum will ich hier jetzt darauf eingehen, weil
Staatsministerin Grütters das gerade nicht getan hat.
Die gebetsmühlenartigen Beteuerungen seitens der
Bundesregierung, die Kultur sei von den Verhandlungen
ausgenommen, kann die Gemüter nicht beruhigen, und
ich meine: zu Recht. Meine Damen und Herren von der
Bundesregierung, ich frage Sie: Wer würde denn auf die
Idee kommen, seine Blankounterschrift auf ein leeres
Blatt Papier zu setzen? Wenn es um TTIP geht, erwarten
Sie quasi genau das von den Bürgerinnen und Bürgern.
Ich sage Ihnen: Ein völlig intransparentes Verfahren mit
einem „Wird schon gut gehen“ zu legitimieren, reicht
mir nicht, und es reicht mir auch nicht, darüber zu spe-
kulieren, wie eine Ausnahme für die Kultur am Ende
wirklich aussehen könnte.
Spekulationen über eine mögliche Ausnahme in der Prä-
ambel, unklar, in welchem Kontext, und unklar, mit wel-
cher Wirkung: Das ist keine Information, das ist ein Pla-
cebo.
Kulturelle Güter haben einen Wert, der über das Ma-
terielle weit hinausgeht. Deshalb haben wir alle uns hier
in Deutschland und in Europa immer für den besonderen
Schutz der kulturellen Güter ausgesprochen – nicht zu-
letzt durch eine UNESCO-Konvention. Wenn Sie, meine
Damen und Herren von der Bundesregierung, sich nicht
daran halten, dann verletzen Sie nicht nur die Grund-
werte dieser Konvention. Nein, wenn Sie dem kulturel-
len Ausverkauf durch TTIP Tür und Tor öffnen, dann
stellen Sie auch unsere kulturelle Vielfalt zur Disposition
und gefährden unsere Daseinsvorsorge auf fundamentale
Weise, und das geht nicht.
Frau Grütters, Sie wollen uns immer glauben machen,
dass Sie eine der entschiedensten Gegnerinnen des
TTIP-Abkommens sind – zumindest in Bezug auf den
kulturellen Bereich. Wenn es Ihnen mit der Kultur und
mit den Ausnahmen für die Kultur wirklich so ernst ist,
dann fordern Sie keine Generalklausel, deren Wirkung
Sie nicht kennen! Sie müssen dann schon konkreter wer-
den.
Wir erwarten von Ihnen eine nachhaltige Kulturpoli-
tik, eine Kulturpolitik, die ihre Projekte nicht anfängt
und erst dann schaut, wohin die Reise geht – wie jetzt
bei TTIP oder wie beim Humboldtforum, um noch ein
prominentes Beispiel zu nennen. Mitten in Berlin wächst
und wächst der Rohbau des Berliner Schlosses, aber er
wächst noch immer ohne inhaltliche Substanz, und das,
Frau Grütters, ist keine nachhaltige Kulturpolitik.
Noch ein Thema der Kategorie „Ende offen“ steht auf
der Agenda der Kulturpolitik: der Neubau für ein Mu-
seum der Kunst des 20. Jahrhunderts hier in Berlin. Seit
über einem Jahr reden Sie jetzt über diesen Neubau, Frau
Grütters. Bis heute ist aber auch hier nichts Substanziel-
les passiert: kein Budget, kein Zeitplan. Das Ende ist of-
fen – wie so oft.
Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Letzter Redner in der
Debatte ist Burkhard Blienert für die SPD.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Vor wenigenTagen habe ich mit Kolleginnen und Kollegen des Aus-schusses für Kultur und Medien die europäischen Kul-turhauptstädte 2014 besucht: Umeå in Schweden undRiga in Lettland. Insbesondere in Lettland begegnete unsein Thema sehr intensiv, welches heute Vormittag in derGedenkstunde und auch in den Reden meiner Kollegin
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Burkhard Blienert
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Hiltrud Lotze und meines Kollegen Kruse eine wichtigeRolle gespielt hat: die Erinnerung an die Zeit der sowje-tischen Besatzung und die immense Bedeutung der euro-päischen Integration für diese Staaten.Vor dem Hintergrund der aktuellen Krise in derUkraine wurde uns deutlich vermittelt, wie wichtig diemediale Berichterstattung und die Vielfalt der Mediensind. Lettland ist ein kleines Land, kaum groß genug fürein eigenes, vielfältiges und unabhängiges Medienange-bot. Unsere Medienlandschaft dient dort als Vorbild füreine neue Struktur. Ich beschreibe dies, weil wir mit derkonkreten Erwartung konfrontiert waren, den Aufbau ei-nes unabhängigen und vielfältigen Medienangebotes zuunterstützen.Dabei fällt mir auf Bundesebene natürlich zuerst dieDeutsche Welle ein. Diese bietet auch in dieser Regionein wichtiges Informationsangebot und ermöglicht esJournalistinnen und Journalisten aus aller Welt, an derMedienakademie das Handwerk des guten Journalismuszu erlernen. Ich spreche diesen Punkt an, weil wir mitder Bereitstellung von Haushaltsmitteln in der Verant-wortung sind, die Arbeit der Deutschen Welle so zu fi-nanzieren, dass sie das leisten kann, was von ihr erwartetwird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn der BundKunst und Kultur fördert, dann geht es vor allem darum,unser reiches kulturelles Erbe zu sichern und unsere Er-innerungskultur zu pflegen. Es geht darum, neue Im-pulse zu setzen, das Innovative, das Zeitgenössische zufördern. Wir wollen die kulturelle Infrastruktur unseresLandes in ihrer ganzen Vielfalt erhalten. Wir wollen denMenschen unabhängig von ihrer sozialen und individuel-len Situation kulturelle Teilhabe ermöglichen. Der Haus-halt der Beauftragten für Kultur und Medien für das lau-fende Jahr wird diesen Aufgaben gerecht. Mit demHaushalt für 2015 wollen wir das konsequent fortführen.Damit setzen wir weiter um, was wir uns mit unseremKoalitionspartner vorgenommen haben.Lassen Sie mich nun einige Bereiche herausgreifen.Der Erhalt von Denkmälern ist eine gesamtstaatlicheAufgabe. Dabei hat sich das Denkmalschutz-Sonderpro-gramm des Bundes in den vergangenen Jahren als beson-ders wirksamer Beitrag zur Pflege der kulturellen Infra-struktur in der Fläche bewährt. Beim Tag des offenenDenkmals am kommenden Sonntag können wir uns al-lerorten davon wieder überzeugen. Deshalb unterstütztder Bund seit Jahren Substanzerhaltung und Restaurie-rung dieser Baudenkmäler. Auch in diesem Jahr werdenwir uns bei den Haushältern dafür starkmachen müssen,dass die dafür notwendigen Mittel bereitgestellt werden.
Unser neues Förderprogramm für die Kinodigitalisie-rung ist ein weiteres Beispiel dafür, wie erfolgreich derBund in die Fläche hineinwirkt und für den Erhalt derkulturellen Infrastruktur sorgt; ein Programm übrigens,das wir in Umsetzung des Koalitionsvertrages ebenfallsim letzten Haushaltsverfahren beschlossen haben. Damitsichern wir zugleich das Angebot zu kultureller Teil-habe, gerade auch in den kleineren Orten und in denländlichen Regionen.Unser kulturelles Erbe umfasst auch ein reiches Film-erbe. Hier stehen wir vor immensen Herausforderungen.Zwei Dinge sind im Wesentlichen zu leisten: Einerseitsmüssen die Filmträger, seien es Filmrollen oder auchschon digitale Medien, gesichert werden. Viele sind akutvom Verfall bedroht, und es gibt bereits unwiederbringli-che Verluste. Wir müssen das Material retten, und wirmüssen nach Lösungen suchen, wie wir es langfristig er-halten können.Andererseits drohen viele Schätze in den Archiven zuverstauben, weil sie die Menschen nicht mehr erreichen.Ich habe eben von der Kinodigitalisierung gesprochen.Das bedeutet, dass die alten Filme auf analoger Rollelogischerweise nicht mehr auf die Leinwand gebrachtwerden können. Sie müssen erst digitalisiert werden.Das eröffnet natürlich auch neue Möglichkeiten; dennFilme werden heutzutage nicht nur im Kino, sondern im-mer häufiger über das Internet konsumiert.Wir stehen also vor der großen Aufgabe, unser Film-erbe zu digitalisieren.
Die ersten Schritte dazu sind getan. In den vergangenenJahren sind für diesen Zweck auch Mittel bereitgestelltworden, die allerdings ebenfalls nicht fortgeschriebenwurden. Unsere Aufgabe ist es jetzt, diesen Prozessgemeinsam mit allen Verantwortlichen auf „Dauer“ zustellen. Dazu gehört es auch, die Einrichtungen desKinematheksverbundes – die Stiftung Deutsche Kinema-thek, das Deutsche Filminstitut und das Bundesfilmar-chiv – weiter zu stärken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das gilt auch fürden Deutschen Filmförderfonds. Unser vorrangiges Zielist es, den überaus erfolgreichen Einsatz von Fördermit-teln auf „Dauer“ zu stellen – und das auf hohem Niveau.
Im Etatentwurf stehen 50 Millionen Euro für diesenZweck. Ich werde mich im weiteren Verfahren dafür ein-setzen, dass wir die deutsche Filmwirtschaft und denFilmproduktionsstandort Deutschland am Ende wiedermit 60 Millionen Euro fördern können. Die Erfahrung inder Vergangenheit hat gezeigt, dass jeder Förder-Euroaus dem DFFF 6 Euro an Investitionen auslöst. Und dasbringt nicht zuletzt auch Beschäftigung für viele Film-schaffende.
Die Debatte über den nächsten Einzelplan schließt in-sofern nahtlos an dieses Thema an. Denn Filmförderungist im wahrsten Sinne auch kulturelle Förderung undWirtschaftsförderung.
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4590 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 50. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2014
Burkhard Blienert
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie michnoch einen Posten im Haushalt ansprechen, der michganz besonders freut: der neue Preis für unabhängigeBuchhandlungen. Denn gerade die „geistigen Tankstel-len“, wie Helmut Schmidt die Buchhandlungen einmalbezeichnet hat, bilden die Grundlage für unsere vielfäl-tige Buchkultur. Sie ermöglichen erst literarische Viel-falt und Qualität. Zudem sind sie Orte der Begegnung.Insofern ist das auch ein Preis, der insgesamt zur kultu-rellen Bildung beitragen sollte.Abschließend noch ein paar Worte zur sozialen Absi-cherung der Kulturschaffenden. Wenn wir kulturelleVielfalt erhalten wollen, müssen wir auch diejenigen imBlick haben, die das Hervorbringen von Kunst und Kul-tur zu ihrem Erwerb gemacht haben. Oftmals arbeitensie unter prekären Arbeitsbedingungen. Deshalb habenwir uns als eine der ersten und wichtigsten Maßnahmendie Künstlersozialkasse vorgenommen und auf sichereBeine gestellt. Ende des Jahres läuft aber die Regelungfür den Arbeitslosengeldbezug von kurz befristet Be-schäftigten aus. Besondere viele Kulturschaffende sinddavon betroffen. Hier werden wir uns für eine vernünf-tige Anschlussregelung einsetzen, so wie wir es im Ko-alitionsvertrag angekündigt haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, wir ha-ben schon einiges erreicht, aber wir müssen in den kom-menden Haushaltsberatungen noch vieles umsetzen, wasuns wichtig ist. Ich denke, das werden wir gemeinsammit den Haushältern und im Ausschuss beraten und dem-entsprechend auf den Weg bringen.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Herr Kollege.Weitere Wortmeldungen zu diesem Einzelplan liegennicht vor.Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bun-desministeriums für Wirtschaft und Energie, Einzel-plan 09.Ich gebe das Wort an Sigmar Gabriel, den zuständi-gen Minister.
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Wirtschaft undEnergie:Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Deutschlands Wirtschaft hat sich in den vergangenenJahren als sehr krisenfest und stark erwiesen. Wichtigs-ter Beweis dafür waren steigende Beschäftigung, stei-gende Löhne und Gehälter und sinkende Arbeitslosen-zahlen.Auch jetzt, wo wir uns – nicht zuletzt aufgrund der in-ternationalen Krisen – in einem schwierigeren Umfeldbewegen, erweisen sich der Arbeitsmarkt und dieBeschäftigung sowie die Entwicklung der deutschenWirtschaft als robust. Die Exportzahlen im Juli sind auf100 Milliarden Euro gestiegen. Und der leichte Rück-gang der wirtschaftlichen Entwicklung, den wir imzweiten Quartal gesehen haben, hat eher etwas mit Vor-zieheffekten in der Bauwirtschaft aufgrund des mildenWinters zu tun als mit einem tatsächlichen konjunkturel-len Problem. Aber viel wichtiger für die Menschen imLand ist, dass sich diese wirtschaftliche Entwicklungauch am Arbeitsmarkt weiter zeigt.Wir haben mit über 42 Millionen Beschäftigten einRekordniveau bei den Arbeitsplätzen in Deutschland,und – das ist vielleicht noch wichtiger – wir haben mitmehr als 30 Millionen Beschäftigten auch ein Rekord-niveau bei den sozialversicherungspflichtigen Beschäfti-gungsverhältnissen erreicht. Das ist mehr als eine halbeMillion zusätzlich gegenüber dem letzten Jahr.
Die Arbeitslosigkeit sinkt selbst im Vergleich zumVorjahresmonat noch etwas, und vor allen Dingen stei-gen die Löhne und Gehälter in Deutschland. Das ist gutfür die Binnenkonjunktur, und es ist übrigens das größteUmverteilungsprogramm, das man sich vorstellen kann,viel größer jedenfalls als das, was Änderungen in derSteuerpolitik jemals bewirken könnten. Es ist gut, dassin Deutschland für gute Arbeit auch wieder mehr guteLöhne und Gehälter gezahlt werden, meine Damen undHerren.
Die gute wirtschaftliche Entwicklung hilft uns, das zuerreichen, was am heutigen Tag und auch gestern schonmehrfach angesprochen wurde, nämlich zum ersten Malnach 46 Jahren einen ausgeglichenen Haushalt zu be-kommen. Mir fällt es immer noch schwer, zu verstehen,warum das in der Öffentlichkeit, aber auch im Parlamentgelegentlich kritisiert wird. Denn abgesehen von derTatsache, dass eine gute und solide Finanzpolitik dasVertrauen in den Investitionsstandort Deutschland stärkt,ist es, finde ich, auch sozialpolitisch richtig, keine Schul-den zu machen.
Wer hat denn Interesse an steigender Staatsverschul-dung? Das können doch nur Menschen sein, die so reichsind, dass sie eine Bank zu ihrem Eigentum zählen kön-nen; denn dort leiht sich der Staat das Geld. Aber dieMenschen, die Steuergelder erarbeiten und an den Staatzahlen, wollen, dass in Schulen, Infrastruktur, Umwelt-schutz und soziale Sicherheit investiert wird, aber nichtmit immer mehr Anteilen von jedem Steuer-Euro inZinsen, die wir für Staatsschulden zahlen. Insofern kannman, glaube ich, das Ergebnis gar nicht hoch genugloben und schätzen, dass wir es geschafft haben, mitHilfe der Leistungsfähigkeit der Beschäftigten und ihrerUnternehmen in Deutschland dieses Ziel zu erreichen.
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Bundesminister Sigmar Gabriel
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Genauso klar ist aber auch – das ist unbestritten –,dass uns das nur dann nachhaltig gelingen wird, wennfiskalische Konsolidierung und höhere Investitionen inInfrastruktur, Bildung, Forschung und Entwicklung keinWiderspruch werden. Konsolidierung auf Kosten derZukunftsfähigkeit des Landes wäre natürlich nicht derrichtige Weg. Aber genau deshalb ist es gut, dass wir mitdem Haushalt und der mittelfristigen Finanzplanungauch die Investitionstätigkeit von Bund, Ländern undGemeinden stärken.Wir geben 5 Milliarden Euro zusätzlich für die Ver-kehrsinfrastruktur. Man muss das alles zusammenrech-nen. In diesem Jahr, 2014, ist die letzte Stufe der Entlas-tung der Kommunen um 4,5 Milliarden Euro pro Jahrbei der Grundsicherung im Alter erreicht worden. Wirhaben im Koalitionsvertrag verabredet – das können Siein der Finanzplanung nachlesen –, die Kommunen umweitere 5 Milliarden Euro pro Jahr zu entlasten. Das be-deutet, wir erreichen in wenigen Jahren eine finanzielleEntlastung der Kommunen in Höhe von fast 10 Milliar-den Euro.
Das ist, glaube ich, ein enormer Beitrag auch zur Stär-kung der Investitionstätigkeit der Kommunen. Denn sieleisten nun einmal den Großteil der öffentlichen Ausga-ben für die Infrastruktur.3 Milliarden Euro für Forschung und Entwicklungund 6 Milliarden Euro für Bildungsinvestitionen in denLändern: Ich glaube, dass diese Kombination – keineNeuverschuldung und trotzdem erhebliche Investitionenin die Zukunftsfähigkeit unseres Landes – zeigt, dass wirgerade nicht auf Kosten der Zukunft sparen.Richtig ist, dass wir auf mittlere Sicht einen nochbreiteren Investitionspfad brauchen, wenn wir den wirt-schaftlichen Erfolg unseres Landes und damit auch ge-sunde Finanzen sichern wollen. Wenn Deutschland eineAchillesferse hat, dann sind es in der Tat die fehlendenInvestitionen, und das schon seit mehr als zehn Jahren.Wir halten uns viel auf den Titel Exportweltmeister zu-gute, aber Investitionsweltmeister sind wir schon sehrlange nicht mehr.Deswegen ist es, glaube ich, richtig, dass sich das Par-lament, die Ausschüsse, die Regierung, Herr Schäuble,ich und viele andere mit der Frage befassen, was wir tunkönnen, um zwei Dinge stärker in den Griff zu bekom-men, nämlich erstens die trotz dieser Investitionen nochimmer nicht ausreichende Investitionsquote in deröffentlichen Infrastruktur, aber zweitens natürlich auchdie seit mehr als zehn Jahren zu geringe Nettoinvestiti-onsquote in der privaten Wirtschaft bzw. in den Unter-nehmen. Das gefährdet auf Dauer die Wettbewerbsfähig-keit unseres Landes ganz erheblich. Wir dürfen nichtzulassen, dass Deutschland im Kern seiner Leistungs-stärke auf Dauer von der Substanz lebt.
Der größte Teil der Investitionen in Deutschland wirdvon Privaten getätigt. Wir werden die strukturellen Pro-bleme angehen müssen, damit mehr privates Kapital inDeutschland investiert wird. Da Herr Gysi heute Morgenerklärt hat, dass das in einer weiteren Welle der Privati-sierung der öffentlichen Daseinsvorsorge münde: Genaudarum geht es nicht. Vielmehr geht es darum, dass wirüberhaupt eine Infrastruktur erhalten. Es gibt am Endenichts zu privatisieren, wenn die Infrastruktur gar nichtmehr da ist oder zu sehr verrottet ist.
Es geht auch nicht um die Neuauflage von PPP-Projek-ten, sondern um veränderte Rahmenbedingungen für In-vestitionen in die öffentliche Infrastruktur. Genausowichtig ist die Frage, welche Rahmenbedingungen wirverändern müssen, damit die Unternehmen selbst dasGeld in die Realwirtschaft und nicht in Spekulationsge-schäfte an den Finanzmärkten investieren. Ich hätte er-wartet, dass insbesondere die Linkspartei öffentlich sagt,dass das der richtige Weg ist.
– Das kann ja noch kommen. Klaus Ernst kann sagen,dass er es verstanden hat und gut findet. Wir sind aufge-klärte Menschen und glauben an die Emanzipations-fähigkeit jedes Menschen.Wir haben eine Expertenkommission aus Vertreternvon Unternehmen, Gewerkschaften, kommunalen Spit-zenverbänden und Wissenschaft eingesetzt, um eine In-vestitionsstrategie zu entwickeln, die uns wirklich hilft,das Kernproblem in Deutschland in den Griff zu bekom-men. Der nun vorgelegte Haushalt des Bundeswirt-schaftsministeriums, den wir beschließen werden, liefertdafür schon ein paar Hilfestellungen. Zuerst sei genanntdas gut laufende Zentrale Innovationsprogramm Mittel-stand. Die Mittel für das Programm werden ab 2015 dau-erhaft um 30 Millionen Euro erhöht. Was nicht ganz un-wichtig ist: Mehr als 40 Prozent der Mittel diesesProgramms finden ihren Weg in innovative Unterneh-men in Ostdeutschland; denn nach wie vor haben wireine Wettbewerbsfähigkeitslücke, eine Investitionslücke,eine Industrialisierungslücke und, wie wir heute nocheinmal gehört haben, leider weiterhin eine Lohnlückezwischen Ost- und Westdeutschland zu beklagen. Solltenwir den Solidarpakt 2019 abschaffen, dann müssen wirbis dahin alles tun, um die Unterschiede zwischen Ostund West bei Löhnen und Renten zu beseitigen.
Wir werden nach wie vor auf Dauer in die ostdeut-schen Länder investieren müssen, weil diese den Rück-stand auf Westdeutschland noch nicht aufgeholt haben.Das zweite wichtige Förderinstrument in diesem Zusam-menhang ist die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserungder regionalen Wirtschaftsstruktur“. Diese Förderungkommt sogar zu mehr als 80 Prozent den ostdeutschenBundesländern zugute. In der aktuellen Finanzplanung
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4592 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 50. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2014
Bundesminister Sigmar Gabriel
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haben wir die Mittel für die GRW in einem ersten Schrittbei 600 Millionen Euro verstetigt. Wir haben sie nichtwie geplant absinken lassen, sondern verabredet, sie aufdas alte Niveau ansteigen zu lassen.Wichtig wird aber auch sein, dass wir uns Gedankendarüber machen, wie wir mit den Schwierigkeiten beider Kofinanzierung umgehen. Es nutzt am Ende nichts,wenn GRW-Mittel nur von denjenigen abgerufen werdenkönnen, denen es schon gut geht, während die anderendas nicht können, weil sie nicht kofinanzieren können.Dann stärken wir die Starken, schwächen aber dieSchwachen. Deswegen glaube ich, dass wir darübernoch einmal reden müssen.Junge Unternehmen in Deutschland haben es in derWachstumsphase besonders schwer; denn hierzulandewird im internationalen Vergleich zu wenig Wagniskapi-tal investiert. Ich bin deshalb dem Kollegen Schäubledankbar, dass er begonnen hat, die Rahmenbedingungenfür Wagniskapital international wettbewerbsfähiger zugestalten. Wir wollen gemeinsam den neuen Markt 2.0in Deutschland unterstützen. Gleichzeitig beginnen wiraber auch damit, durch die ertragsteuerliche Freistellungdes INVEST-Zuschusses das steuerliche Umfeld fürStart-ups zu verbessern. Um bessere Investitionsbedin-gungen für Unternehmensgründungen geht es auch beidem Entwurf eines Gesetzes zum Kleinanlegerschutz,den die Bundesregierung erarbeitet.Eine entscheidende Rahmenbedingung für die Stär-kung der Investitionstätigkeit ist natürlich die Entwick-lung auf dem Energiesektor. Deshalb ist die Stabilisie-rung des Strompreises eines der zentralen Projekte derBundesregierung. Wir arbeiten weiter an einer bezahlba-ren Energiewende. Ich habe das hier im Haus schon einpaar Mal gesagt: Die Novellierung des EEG war nur dererste Schritt. Wir haben in dieser Legislaturperiode dieAufgabe, vieles von dem, was sich im Rahmen der Ener-giewende nebeneinander oder gegeneinander entwickelthat, zu systematisieren. In diesem Jahr wird es vor allenDingen um die Themen fossile Kraftwerksparks, Strom-marktdesign, Netze und europäische Einbindung gehen.Wir werden auf Dauer nicht in Europa klarkommen,wenn wir nicht eine gemeinsamere, harmonisiertereForm der Energiepolitik vorantreiben. Das wird nichtgehen.
Es gibt auch in meinem Ministerium eine große Bau-stelle, an der wir in diesem Jahr verstärkt arbeiten müs-sen. Das ist die sehr lange Vernachlässigung des ThemasEnergieeffizienz. Am Ende des Jahres werden wir in derBundesregierung einen Aktionsplan Energieeffizienzvorlegen, weil wir – das hat uns die Europäische Unionins Stammbuch geschrieben – hier eine Lücke haben, diein den letzten Jahren entstanden ist.Energie, Fachkräfte, Digitalisierung und immer wie-der Investitionsstärke – das zeigt, dass wir auch unab-hängig von außenpolitischen Krisen eine ganze Reihevon Aufgaben vor uns haben, die die Bundesregierungangepackt hat, die uns aber noch sehr viel Arbeit undauch Entscheidungsbedarf hier im Haus verschaffenwerden.Natürlich spielt für unsere wirtschaftliche Entwick-lung Europa nach wie vor die bedeutendste Rolle. NichtChina ist unser wichtigster Exportpartner, sondern dieEuropäische Union und die Euro-Zone. Deswegen ist esvon großer Bedeutung, dass wir immer wieder öffentlichklarmachen, dass, wenn wir in Europa investieren – wasDeutschland nun wirklich getan hat –, das nicht reinerAltruismus ist, sondern ganz viel mit den Arbeitsplätzenin unserem Land zu tun hat.Um es in diesen Tagen, in denen viel über eine Alter-native für Deutschland gesprochen wird, auch einmalauszusprechen: Für Mitarbeiter und Professoren des öf-fentlichen Dienstes, die sich einer solchen Partei an-schließen, oder für ehemalige Wirtschaftslobbyisten mages egal sein, wohin die deutsche Industrie Exportpro-dukte ausführt und wohin nicht. Für Facharbeiter undAngestellte dieses Landes ist das nicht egal.
Wir brauchen Europa auch, um Arbeitsplätze in unse-rem Land zu halten. Deswegen rate ich dazu, dass wirdieser Propaganda offensiv entgegentreten, gerade beidenen, die sich Sorgen machen, gerade bei denen, dienicht sicher sind, ob diese komplizierte Welt überhauptnoch beherrschbar ist. Denen müssen wir sagen: Europaist nicht die Gefahr, sondern die Antwort, gerade für einexportorientiertes Land. Dazu gibt es eben keine Alter-native für Deutschland.
Das heißt auch, dass wir insbesondere schauen müs-sen, wie wir die beiden Aufgaben zusammenbekommen,die in vielen Ländern Europas nach wie vor nicht bear-beitet worden sind. Das ist der Stau bei strukturellenReformen. Das wissen die Franzosen, das wissen die Ita-liener, und das wissen viele andere. Aber wir Deutschewissen aus eigener Erfahrung auch: Es gibt einen Re-formbedarf auch bei Investitionen und Wachstumsim-pulsen. Deutschland hätte 2003 die Agenda 2010 nachmeiner Einschätzung nicht durchsetzen können, wennwir zeitgleich noch 20 Milliarden Euro zusätzlich hätteneinsparen müssen. Der Unterschied zu Frankreich ist:Frankreich hat nur die Defizitkriterien überschritten undansonsten nichts gemacht.Ich glaube, dass wir den Stabilitäts- und Wachstums-pakt nicht zu ändern brauchen und ihn nicht ändern soll-ten; aber wir müssen jede Flexibilität nutzen, die wir inEuropa haben, um verbindliche und nachvollziehbareReformvorhaben mit einer Wachstums- und Investitions-strategie zu verbinden. Sonst kommen wir aus der euro-päischen Krise nicht heraus.
Am Ende sind es aber nicht nur Förderprojekte odergesetzliche Rahmenbedingungen, die über die Wettbe-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 50. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2014 4593
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werbsfähigkeit unseres Landes entscheiden. Ich glaube,mindestens ebenso entscheidend ist die Frage, mit wel-cher Haltung wir eigentlich an die Herausforderungenherangehen: ängstlich und risikoscheu oder offensiv undselbstbewusst.Ich will das einmal an zwei Beispielen der aktuellenDebatte deutlich machen. Natürlich ist es so, dass dieDigitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft auchRisiken mit sich bringt und dass wir schwere Entschei-dungen vor uns haben, zum Beispiel wie wir Datensi-cherheit, das Recht auf Persönlichkeitsschutz oder dieFreiheitsrechte des Einzelnen ins Verhältnis zu dem brin-gen, was jetzt gemeinhin unter der Überschrift „BigData“ gehandelt wird und was, na klar, auf der anderenSeite große Geschäftsmodelle ermöglicht.Natürlich ist das ein Problem. Natürlich wissen wir,dass es nicht von selbst passieren wird, dass der deutscheMaschinen- und Anlagenbau und die Automobilindus-trie noch die Innovationstreiber ihrer Bereiche seinwerden; vielmehr hoffen Google und andere, dass sie inZukunft die Innovationstreiber einer digitalisierten In-dustrie 4.0 sein werden.Das sind objektiv existierende Herausforderungen.Nur, ich glaube, es gibt überhaupt keinen Grund dafür,dass wir sie in Deutschland und Europa ängstlich ange-hen müssen. Wir – wir Deutschen, viele andere in Eu-ropa mit uns – sind die Ausrüster der Industrialisierungder Welt. Wir haben den modernsten und besten Auto-mobilbau, den modernsten und besten Maschinen- undAnlagenbau. Es müsste doch wirklich mit dem Teufelzugehen – würde ich fast sagen; eigentlich hat der Teufelhier im Parlament nichts verloren –, wenn es uns nichtgelingen würde, das auch in Zukunft aufrechtzuerhalten.Da muss der Schwerpunkt der Auseinandersetzung umdie Frage „Wohin gehen Investitionen, und wo findenInnovationen statt?“ liegen. Das ist nicht nur ein Risiko,sondern es ist vor allen Dingen eine Riesenchance, dieIndustrialisierung der Welt in Zukunft auf ein neues undhöheres Niveau zu bringen.Natürlich bin ich ganz sicher, dass es uns mit der eu-ropäischen Datenschutz-Grundverordnung gelingen kann,Standards zu schaffen, die Europa zum sichersten Stand-ort für Daten machen.
Das, glaube ich, ist es, wofür wir sorgen müssen.Ein weiterer Punkt sind die Freihandelsabkommen,über die heute schon ein paarmal diskutiert wurde. Na-türlich gibt es berechtigte Sorgen. Ich teile die öffentlichgeäußerten nicht alle. Es gibt eine Menge Vermutungenund Ängste, die etwas damit zu tun haben, dass die bis-herige Verhandlungsführung durch die EuropäischeUnion und die Amerikaner hinreichend dafür Sorge ge-tragen hat, dass jeder seine Ängste abladen konnte. Ichhabe einmal gesagt: Wenn man die Absicht hätte, das ge-plante Freihandelsabkommen mit den USA zu Fall zubringen, dann muss man es so machen, wie die Europäi-sche Kommission es bisher vorangetrieben hat; denndann ist relativ sicher, dass es am Ende keiner mitma-chen wird. Deswegen ist Transparenz sehr wichtig. Wirhier in Deutschland schaffen Transparenz. Wir haben ei-nen entsprechenden Beirat geschaffen. Ich hoffe, dass esdie Europäische Union auch tut.Natürlich ist es auch so – das ist auch meine Überzeu-gung; es war übrigens auch die Überzeugung der altenBundesregierung –, dass man für eine solche Verhand-lung zwischen zwei entwickelten Rechtssystemen keinInvestitionsschutzabkommen braucht.
Das war schon für die alte Regierung keine Frage.Jetzt muss man sich aber entscheiden, ob man dieseVerhandlungen sozusagen risikoavers, ängstlich und mitwenig Selbstbewusstsein betreibt und dann auch nochdie Forderung aufstellt, die Verhandlungen am bestengleich abzubrechen. Übrigens, wer die Verhandlungenmit den Vereinigten Staaten abbrechen will, der soll öf-fentlich keine Reden mehr über die notwendigen Nach-haltigkeitsregeln, die sozialen und ökonomischen Re-geln der Globalisierung halten.
Wer sich nicht traut, mit den Vereinigten Staaten zu ver-handeln, der soll den Menschen keine Hoffnung machen,der Rest der Welt werde mit uns Nachhaltigkeitsstan-dards verabreden. Das ist nicht der Fall.
– Im Unterschied zu Ihnen bin ich bekanntlich Sozialde-mokrat. Ich weiß aufgrund der 151-jährigen Geschichteder Sozialdemokratie, dass Forderungen nach revolutio-nären Veränderungen in der Regel nichts bringen,
sondern dass man sich auf den Weg machen muss,Schritt für Schritt, über Kompromisse.
– Der Unterschied zu Ihnen ist: Wir bekennen uns seit151 Jahren zu Kompromissen. In Ihren Vorläuferorgani-sationen ist das bekanntermaßen etwas anders gewesen.
Ich bin dagegen, dass wir naiv an die geplanten Ab-kommen herangehen. Ich bin dagegen, dass wir da blau-äugig herangehen. Es will übrigens auch niemand einweißes Blatt Papier unterschreiben. Wir haben geradenoch einmal klargestellt, dass es sich um ein gemischtesAbkommen handelt, das deswegen auch hier im Bundes-tag beschlossen werden muss. Aber wogegen ich bin, ist,dass wir so tun, als ob es uns besser geht, wenn wir garnicht verhandeln, wenn wir mit niemandem reden.
Wir sind das exportstärkste Land Europas. Wir müs-sen uns doch wohl zu dem Ziel eines möglichst umfas-
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4594 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 50. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2014
Bundesminister Sigmar Gabriel
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senden Freihandels – am liebsten natürlich über dieWTO, aber wenn es nicht geht, dann auch in bilateralenAbkommen – bekennen. Wer, wenn nicht wir, hat eigent-lich ein Interesse an Freihandel?
Deswegen, glaube ich, geht es aufgeklärter Politiknicht darum, naiv damit umzugehen. Es geht auch nichtdarum, die eigenen Interessen nicht klar zu definieren.Aufgeklärte Politik hat nicht die Aufgabe, Ängste zuschüren, sondern die, die Fragen der Bevölkerung klarund eindeutig zu beantworten
und am Ende eines Prozesses zur Beantwortung derFrage zu kommen, wie man sich entscheidet. Man darfnicht bereits am Anfang alles abbrechen und sagen: Ichmache nicht mehr mit.
Deswegen: keine Naivität, aber SelbstbewusstseinEuropas und Deutschlands. Ich glaube, dass am Ende dieHaltung darüber entscheidet, ob wir erfolgreich sindoder nicht. Ich finde, unser Land und seine Bürgerinnenund Bürger, Wirtschaft, Politik, Gesellschaft, NGOs, Ge-werkschaften haben wirklich Grund, die Herausforde-rungen, die auf uns zukommen – sie sind wahrlich nichtklein –, mit großer Zuversicht und Selbstbewusstsein an-zugehen und mit dieser Haltung die Zukunft des Landeszu beeinflussen und nicht ängstlich zurücksteckend dieChancen zu vergeben, die in all diesen Herausforderun-gen immer auch stecken.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Sigmar Gabriel. – Der nächste Redner
in der Debatte: Roland Claus für Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Da derBundeswirtschaftsminister gleich zu Beginn seiner Rededie Infrastrukturkompetenz der Linkspartei hervorgeho-ben hat, muss ich den Ball natürlich aufnehmen. Es gehtum die Frage der privaten Beteiligung an öffentlichenInfrastrukturinvestitionen. Da will ich von einem Vor-gang erzählen, an dem ich intensiv beteiligt war.Vor fast zwei Jahren hat ein Chemieunternehmen inWittenberg dem Bund 35 Millionen Euro für den Ausbaueiner Umgehungsstraße angeboten – ohne Bedingun-gen –, weil sich dort Bürgerinitiativen und mehrere Un-ternehmen einig waren. Der Bund war bis heute nicht inder Lage, mit dieser Schenkung auch nur umzugehen.Deshalb zweifle ich an den Infrastrukturkapazitäten die-ser Bundesregierung, Herr Minister, und das müssen Siesich dann auch gefallen lassen.
Ich denke, Wirtschaftspolitik steht in diesen bewegtenTagen in der besonderen Verantwortung, einen Beitragzu Frieden, einer gerechten globalen Entwicklung undAbrüstung zu leisten. Ich glaube, wenn ich diesen Satzvor einem Jahr gesagt hätte, hätte ich noch den Zwi-schenruf geerntet: Wovon träumen Sie nachts?
Aber ich will mit der Verflechtung von Wirtschafts-, Au-ßen- und Sicherheitspolitik beginnen. Bekanntlich hatdie EU weitere Sanktionen gegen Russland beschlossen,hat sie zunächst angedroht. Jetzt will ich nur einen einzi-gen Fakt benennen, um die Absurdität dieses Vorgangszu kennzeichnen.Sie haben vor einer Woche mit großer Mehrheit Waf-fenlieferungen in den Irak beschlossen. Im Moment istdie Fluggesellschaft Wolga-Dnjepr damit befasst, dieseWaffen in den Irak zu fliegen. Der Dnjepr ist bekanntlichder größte Strom in der Ukraine, und die Wolga ist dergrößte Strom im Westen Russlands. Nun muss man wis-sen, dass Wolga-Dnjepr ein russisches Flug-, Logistik-und Handelsunternehmen ist – mit ukrainischer Beteili-gung. Dann muss man noch wissen, dass Wolga-Dnjeprvor kurzem 49 Prozent der Air Cargo Germany, also ei-ner deutschen Luftfrachtgesellschaft, erworben hat. DieseVerflechtung von Wirtschaftsstrukturen macht kenntlich,wie absurd die Vorstellung ist, man könnte Sicherheits-,Friedens- und Außenpolitik mit Wirtschaftssanktionenbeeinflussen.Deshalb ist Sanktionspolitik in aller Regel kontra-produktiv. Sie ist aber auch eine Irreführung der Öf-fentlichkeit. Ich hätte gar nichts gegen die Idee einerSanktionspolitik, wenn Sie mal darauf kämen, wenn esum Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien und Katargeht, meine Damen und Herren.
Ich will noch einen Fall internationaler Wirtschafts-politik ansprechen: die Verhandlungen über die transat-lantischen Freihandelsabkommen zwischen der Europäi-schen Union und den USA, Kanada und anderen, die imMoment im Wesentlichen als Geheimverhandlungenstattfinden. Der Bundesfinanzminister hat gestern beider Einbringung seines Etats einen sehr bemerkenswer-ten Satz zu den Abkommen gesagt: Wir wollen sie zu ei-nem guten Ergebnis verhandeln, aber auf Augenhöhe. –So etwa Schäuble.Neben mir saß zu dem Zeitpunkt eine junge Kolleginaus München, und die fragte mich: Du kennst doch denFinanzminister schon länger. Glaubt der das wirklich?Glaubt der das angesichts einer Situation, in der Abhör-und Ausspähaktionen durch die NSA unvermindert fort-gesetzt werden? – Ich bin ihr die Antwort noch schuldiggeblieben und hoffe auf Unterstützung durch den Bun-desfinanzminister. Ich bin übrigens froh, dass gesternaus den Reihen der SPD eine ganze Reihe kritischer Äu-ßerungen zu den Freihandelsabkommen gemacht wur-den.
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Roland Claus
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Zu einigen Elementen Ihres Etats für das nächsteJahr:Herr Wirtschaftsminister, wir wissen: Fast die Hälftedieses Etats wird für Subventionen bei Steinkohle sowieLuft- und Raumfahrt aufgebraucht. Gewiss, bei derKohle stehen wir im Wort; aber bei Luft- und Raumfahrthandelt es sich um die Subventionierung staatsnaherMonopolisten. Nur ein Drittel dessen, was in die Luft-und Raumfahrt geht, verwenden wir für Innovations-forschung und Innovationsförderung bei kleinen undmittelständischen Unternehmen – und das alles vordem Hintergrund der Tatsache, dass wir uns alle mitschöner Regelmäßigkeit vor dem deutschen Mittelstandverneigen. Natürlich ist das Zentrale Innovationspro-gramm Mittelstand gut und unterstützenswert. Es findetauch unsere Unterstützung. Aber angesichts der Heraus-forderungen, vor denen wir stehen, ist es viel zu gering.Ich will darauf verweisen, dass uns in diesem Jahr nurdrei Monate für die Umsetzung dieses Programms zurVerfügung stehen, weil bekanntlich der Etat 2014 erstspät verabschiedet wurde und der Dezember ja der Kas-senmonat ist.
Das Bundeswirtschaftsministerium hat uns, die wir nach-gefragt haben, bislang immer gesagt: Du musst keineSorge haben, das wird in Ordnung kommen. – Trotzdemschlagen wir für den Fall, dass es doch klemmen sollte,vor – in diesem Fall und auch bei großen Verkehrsinfra-strukturvorhaben –, im Haushalt Vorsorge zu treffen undÜberjährigkeit zu beschließen. Wenn wir sie nicht brau-chen, umso besser.
Ich will zum Schluss noch auf die Wirtschaft im Os-ten zu sprechen kommen, wohl wissend, dass es inzwi-schen schick geworden ist, nicht mehr über den Osten zureden. Selbstverständlich weiß ich auch, welche Pro-bleme im Ruhrgebiet und in Bremen zu finden sind.Selbstverständlich weiß ich, dass es inzwischen mancheLeuchttürme im Osten gibt, über die wir reden. Das istim Detail alles richtig, aber insgesamt falsch. Sie könnendas beispielsweise ablesen am Industrieatlas der DAX-Unternehmen, den die Beauftragte für die neuen Bun-desländer vor kurzem veröffentlicht hat. Oder Siekönnen sich die Veröffentlichung über die Zahl der Mil-lionäre, also die Einkommensverteilung, im Osten an-schauen. Deshalb werden wir weiter vorschlagen, dieGemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalenWirtschaftsstruktur“ zu fördern, wohl wissend, wie kom-pliziert es bei der Kofinanzierung ist. Wir werden Ein-sparungen beim Luft- und Raumfahrtzentrum zugunstendes Zentralen Innovationsprogramms Mittelstand vor-schlagen.
Aber jetzt nichts mehr vorschlagen, weil Sie über die
Redezeit sind.
Ich bedanke mich, Frau Präsidentin, für den Hinweis
und habe das auch als Mahnung verstanden. – Wir brau-
chen eine zukunftsfähige Wirtschaftspolitik. Dies geht
mit diesem Etat nicht. Wir wollen eine sozialökologische
Gerechtigkeitswende. Davon sind wir noch weit ent-
fernt, aber da wollen wir hin.
Vielen Dank.
Danke, Herr Kollege. – Nächster Redner in der De-
batte: Dr. Michael Fuchs für die CDU/CSU-Fraktion.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! LiebeKollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ichfühle mich zurzeit in Deutschland ausgesprochen wohl.
Uns geht es in Deutschland auch ausgesprochen gut. DerBundeswirtschaftsminister hat eben völlig zu Recht ge-sagt: Wir haben in Deutschland 42 Millionen Beschäf-tigte. Wir haben über 30 Millionen sozialversicherungs-pflichtig Beschäftigte. Das ist eine Zahl, die es ewignicht gegeben hat. Dadurch haben wir alle Sozialversi-cherungssysteme wieder in einen Zustand versetzt, deres erlaubt, dass wir nicht mit irgendwelchen Zuschüssenrechnen müssen. Das hat uns – darüber kann man glück-lich sein oder nicht glücklich sein – auch in die Lageversetzt, die Rente mit 63 und die Mütterrente umzuset-zen. Das wäre überhaupt nicht gegangen, wenn sich dieSozialversicherungssysteme nicht in diesem exzellentenZustand befänden.
Das bedeutet, dass wir in den letzten neun Jahren denrichtigen Weg gegangen sind; in neun Jahren AngelaMerkel haben wir es richtig gemacht. Die Arbeitslosig-keit ist so niedrig wie seit Jahren nicht. Übrigens: DasAllerbeste ist – ich denke, das müsste jeder in diesemHohen Hause genauso sehen –: Die Jugendarbeitslosig-keit ist extrem niedrig. Wenn man sie mit der in irgendei-nem europäischen Land vergleicht, kann man nur sagen:Es geht uns ziemlich gut.
Meine Damen und Herren, parallel dazu sind wir Vi-zeexportweltmeister. Es ist eine Erfolgsstory für ein rela-tiv kleines Land, so hohe Exportleistungen an den Taglegen zu können. Das liegt daran, dass wir über Jahre ei-nen Konsolidierungskurs gefahren haben, der sich ge-lohnt hat; denn jetzt sind wir so weit, dass wir erstmaligeine schwarze Null fahren, einen Haushalt hinbekom-
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Dr. Michael Fuchs
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men, in dem es keine Neuverschuldung mehr gibt. Dasschaffen wir ohne Steuererhöhungen. Ich weiß, wieschwierig die Diskussionen in den Koalitionsverhand-lungen gewesen sind. Aber mittlerweile, Herr Minister,haben wir uns gemeinsam daran gewöhnt, dass es ebenkeine Steuererhöhungen geben wird. Und das ist auchgut so.
Wir sollten das auch unseren europäischen Freundenimmer wieder mitteilen. Denn das zeigt, dass wir aufdem richtigen Weg sind. Ohne Neuverschuldung lebt essich wesentlich besser. Es hat auch in keinem einzigenLand bis jetzt irgendetwas gebracht, wenn mit hoherVerschuldung irgendwelche Konjunkturprogramme fi-nanziert worden sind. Das waren in aller Regel Seifen-blasen, die dann auch dementsprechend schnell kaputtwaren.Ist also alles in Butter, wie es so schön heißt? Manmuss nicht unbedingt ein Hellseher sein, um zu sehen,dass am Horizont doch ein paar dunkle Wolken aufzie-hen. Es gibt eine durchaus nachlassende Dynamik aufden für uns wichtigsten Auslandsmärkten, StichwortChina. Da sieht es nicht mehr so gut aus: von wegenzweistelliges Wachstum – das war einmal. Es gibtStreiks und permanente Streikandrohungen in einem Be-reich Deutschlands, in dem man fast von Daseinsvor-sorge sprechen kann, nämlich bei der Luftfahrt und derBahn.
Das wird unsere Zuverlässigkeit nicht unbedingt fördernund macht mir Sorgen.Ich wünsche mir, dass die Bundesarbeitsministerinmöglichst schnell mit einem vernünftigen Vorschlagkommt, der natürlich die Rechte der kleinen Gewerk-schaften berücksichtigt, der aber auch sicherstellt, dassganz kleine Gruppierungen – ich sage jetzt mal: undwenn es die Feuerwehr bei BASF ist – nicht ein riesigesUnternehmen lahmlegen. Das darf uns nicht passieren.Wir müssen dafür Lösungen finden. Ich weiß, dass daskompliziert ist. Ich weiß auch, dass das verfassungs-rechtlich – Stichwort Artikel 9 – nicht einfach ist.
Hinnehmen können wir es so aber nicht, dass sicheine Gruppe von 5 000 Leuten herausnimmt, nicht nurden Flugverkehr für Personen, sondern auch den Cargo-Verkehr lahmzulegen. Das bereitet uns als Exportnationerhebliche Schwierigkeiten. Das wird eine wichtige Auf-gabe sein.
Wir haben durch die Auseinandersetzung mit Russ-land natürlich Probleme. Ich finde es völlig richtig, wasder polnische Präsident heute Morgen hier in diesem Ho-hen Hause gesagt hat. Es war eine bemerkenswerteRede. Aber dass die Sanktionen der deutschen Wirt-schaft wehtun, wollen wir nicht verschweigen. Ich darfin diesem Zusammenhang einmal ausdrücklich den BDI-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Klar ist, dass der Frie-den in Europa und die Geltung des Völkerrechts Vorrangvor unseren wirtschaftlichen Interessen haben. – Ichfinde, das ist eine sehr bemerkenswerte Aussage. Denner hat die Interessen der Wirtschaft deutlich hinter dasVölkerrecht gestellt. Dafür sollten wir ihm auch in die-sem Hohen Hause dankbar sein. Das ist sehr verantwort-lich.
All das führt nicht unbedingt dazu, dass wir uns in ei-ner wirtschaftlich besseren Situation als in den Jahrenzuvor befinden. Das heißt: Wir müssen jetzt darauf ach-ten, dass es keine zusätzlichen Belastungen gibt. Ich bindem Fraktionsvorsitzenden Volker Kauder sehr dankbarfür die klaren Worte heute Morgen in seiner Rede, in derer sehr deutlich gemacht hat, dass jetzt Schluss mit wei-teren Belastungen ist.Erhebliche Sorgen bereitet mir der Investitionshaus-halt. Über den Investitionshaushalt der öffentlichenHand will ich gar nicht reden; das haben Sie getan. Dassdas besonders toll ist, was da investiert wird, kann mannicht unbedingt sagen. Obwohl wir beispielsweise dieKommunen zusätzlich mit annähernd 10 MilliardenEuro ausgestattet haben, wird wenig investiert. In vielenLändern – Stichwort NRW – wird fast überhaupt nichtsinvestiert.
Die haben schon seit Jahren keinen verfassungsgemäßenHaushalt mehr hinbekommen.Obwohl wir deutliche Fortschritte in dieser Koalitiongemacht haben, sind auch die Investitionen in unseremHaushalt nicht so, dass man sagen kann: Wir werden alldie Probleme lösen können, die vor uns liegen. – Vor al-len Dingen im Verkehrs- und Infrastrukturbereich ist einganz dicker Betrag erforderlich, der sich eher in der Grö-ßenordnung dessen bewegt, was wir heute für das EEGausgeben. Wir werden uns in der nächsten Zeit darüberGedanken machen müssen, wie wir diese Investitionen,unter Umständen über öffentlich-private Partnerpro-gramme, pushen und wie wir zu mehr Investitionenkommen können. Denn das macht mir Sorge.Sorge macht mir aber auch – da sollten wir genau hin-schauen –, dass in der Industrie ein ähnlicher Attentis-mus feststellbar ist. Zumindest in der energieintensivenIndustrie finden kaum noch vernünftige Investitionenstatt. Der VDMA hat eine Statistik herausgegeben, diebesagt, dass energieintensive Unternehmen zurzeit nurnoch 80 Prozent ihrer Abschreibungen reinvestieren.Was heißt das denn? Das heißt im Prinzip nichts anderes,als dass in fünf Jahren die Investitionen aufhören. DerUnterschied zwischen einem Unternehmen und einemBürger ist, dass sich der Bürger beim Amt abmeldenmuss, wenn er umzieht. Die Industrie macht das nicht.Irgendwo investieren sie, jedenfalls nicht in Deutsch-land. Da sind wir gefordert, und zwar alle gemeinsam,darüber nachzudenken, was wir denn machen können,um diesen Attentismus zurückzuführen, und was dieGründe dafür sind, dass es einen solchen Investitionsat-
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Dr. Michael Fuchs
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tentismus gibt. Da ist an allererster Stelle natürlich dasEnergieproblem: Die energieintensive Industrie kannsich Deutschland nicht leisten.
Das wird uns immer schwerer treffen; es wird in dernächsten Zeit immer mehr darüber diskutiert werden. Esist ja nicht so, als könnten wir auch nur annähernd er-warten, dass es da einen Schritt zurück geben wird, dasses billiger wird – nein, es wird teurer. In anderen Län-dern läuft es genau umgekehrt: Die Strom- und Gas-preise in den USA sind göttlich niedrig. Das liegt natür-lich am Fracking und all den Folgen, die das hat.
Dann gibt es in diesem Hohen Hause natürlich immerwieder Versuche, weitere Belastungen für die Wirtschaftzu schaffen, leider auch – Herr Gabriel, ich bin Ihnendankbar, dass Sie das schon zurückgewiesen haben – daseine oder andere Mal aus Ihrer Fraktion, Stichwort Anti-stressgesetz. Lieber Thomas Oppermann, wenn das Ge-setz käme, dann dürftest du nach 18 Uhr deine Kollegennur noch dann anrufen, wenn Andrea Nahles es dir er-laubt.
Das wollen wir nicht haben; wir wollen eine solche Re-gelung nicht. Stellen Sie sich bitte einmal vor, da ist einHandwerksbetrieb, bei dem ein Kunde anruft und sagt:„Bei mir ist eine Wasserleitung geplatzt“, und der Hand-werksmeister darf seinen Gesellen nicht mehr anrufen,weil es nach 18 Uhr ist und er sonst Stress hätte. So et-was kann es nicht geben. Es ist, wenn überhaupt, dieAufgabe der Tarifpartner, so etwas zu regeln. Das ma-chen sie, dazu haben sie die Kompetenz; dafür brauchensie uns nicht.
Deswegen sollten wir solche Gesetze nicht machen.Wir werden uns sehr intensiv mit dem Thema Fra-cking zu beschäftigen haben. Es wird Sie nicht wundern,dass ich es noch kurz erwähnen muss. Aber es macht mireinfach Sorge, dass Deutschland heute zu 40 Prozentvon russischem Gas abhängig ist.
Wenn ich höre, was Putin am letzten Wochenende wie-der gesagt hat, nämlich dass wir uns nur ja nicht trauensollen, auch nur 1 Kubikmeter Gas an die Ukraine zu-rückzuliefern, weil er uns in diesem Moment sofort dasGas abstellen würde, dann beruhigt mich das nicht wirk-lich.
Also ist es unsere Aufgabe, darüber nachzudenken, wel-che technischen Möglichkeiten, welche anderen Mög-lichkeiten wir überhaupt haben.
Man muss sich ein Stück weit wundern, wenn selbstPanorama, eine Fernsehsendung, die man nicht geradeals katholisch und CDU-nah bezeichnen kann,
uns mittlerweile mitteilt, dass das mit dem Fracking jawohl ein Irrtum von Panorama und auch aus dem HauseUBA gewesen sei und dass Frau Krautzberger anschei-nend das Gutachten, das für das UBA erstellt wurde,nicht verstanden hat. Das mag an mangelnder Intellek-tualität oder woran auch immer liegen – jedenfalls hatsie es völlig falsch ausgelegt und dann auch noch dieBundesumweltministerin falsch beeinflusst.
Ich empfehle jedem, sich einmal diese Sendung anzuse-hen, aus der deutlich hervorgeht, dass Fracking keineGefahr für Deutschland darstellt
und wir Fracking unproblematisch betreiben können.Das halte ich für notwendig.
Lieber Michael Fuchs, ich muss jetzt Stress machen.
Sie sind über die vorgesehene Redezeit hinaus.
Ich glaube, dass wir das tun müssen.
Zum Schluss möchte ich – das kann ich ziemlich un-
beschwert tun – Bodo Hombach zitieren, der gesagt hat:
Es muss jetzt Schluss sein mit dem „Fräckingsausen“. –
Recht hat er.
Würden Sie eine Zwischenfrage oder Anmerkung von
Frau Hendricks erlauben?
Immer, ja.
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4598 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 50. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2014
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Lieber Kollege Fuchs, ich bin von der Präsidentin des
UBA, Frau Krautzberger, deren intellektuelle Kapazität
ich keinesfalls in Zweifel ziehen möchte,
nicht falsch beeinflusst worden. Ich darf Sie aber viel-
leicht darauf hinweisen, dass dem UBA zwei Gutachten
vorliegen und Panorama fälschlicherweise und wider
besseres Wissen nur aus dem einen Gutachten zitiert hat
und die UBA-Pressestelle rechtzeitig darauf hingewie-
sen hat, dass dies eine einseitige Sichtweise, bezogen auf
ein einziges und nicht auf die Summe zweier Gutachten,
war.
Im Übrigen bitte ich Sie einfach, die Diskussion mit
Ihrem Kollegen Mattfeldt zu führen.
Verehrte Frau Hendricks, selbstverständlich werde ich
das tun; davon können Sie schon ausgehen.
Zweitens darf ich Ihnen aber mitteilen, dass Professor
Dannwolf, der das Gutachten für das Umweltbundesamt
erstellt hat, klar und deutlich gesagt hat und es auch Ih-
nen und Frau Krautzberger mitgeteilt hat, dass diese
Techniken heute risikolos und sicherlich beherrschbar
seien.
Dieses Gutachten ist vom Umweltbundesamt in Auftrag
gegeben worden. Es wundert mich, dass es unter der De-
cke gehalten wird.
Vielen Dank, Herr Kollege Fuchs. – Darüber werden
wir sicher noch heftige Debatten führen. – Nächste Red-
nerin in der Debatte: Kerstin Andreae für Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Fuchs, Sie heben zu Beginn Ihrer Reden gerne Zeit-schriften hoch. Dieses Mal haben Sie das nicht gemacht.Sie hätten den Spiegel von dieser Woche mit dem Titel„Der Bröckelstaat“ hochhalten können.Seit Jahren investiert der Staat weniger, als zum Er-halt der Infrastruktur notwendig wäre.
Da muss im Wirtschaftsministerium die Alarmglockeangehen. Sie sagen: Wir haben eine schwarze Null. Siesagen: Wir nehmen keine neuen Schulden auf. Fakt istaber, dass Sie sich weiterhin verschulden. Sie holen sichdas Geld im Augenblick nicht bei den Banken, aber Siemindern das Erbe unserer Kinder und verschulden sichan der Zukunft. Das ist das, was Sie gerade tun.
Es bröckelt an allen Ecken und Kanten, bei Straßen,Brücken und Schulen. Als Begründung sagen Sie: DieKassen sind leer – trotz stetig steigender Steuereinnah-men. Heute Morgen wurde es gesagt: 111 MilliardenEuro zusätzliche Steuereinnahmen in den kommendenvier Jahren. Trotz dieser Steuereinnahmen sind die Kas-sen leer? Wir Grünen sagen klipp und klar: Nicht jedeInvestition ist sinnvoll, viele davon sind sogar absoluterBlödsinn.
Was Sie als Erstes machen müssten, wäre, die Spaten-stichpolitik von Dobrindt zu stoppen. Nach wie vor gehtnur jeder vierte Euro in den Erhalt von Straßen; 75 Pro-zent des Etats gehen in den Neubau. Dabei bröckeln dieBrücken so stark, dass die Lkws nicht mehr darüber fah-ren können. Stoppen Sie diese Verschwendung! SetzenSie die Priorität auf den Erhalt von Straßen und Brücken.
Ich möchte, dass wir über Wettbewerbsfähigkeit spre-chen. Das ist ein ganz wichtiges Thema. Wir sehen ein-fach nur zu, wie ganze Orte von der digitalen Entwick-lung abgekoppelt sind, weil sie nicht über schnellesInternet verfügen. Das ist im Übrigen ein Thema, das imWahlkampf eine große Präsenz hatte. Der Breitbandaus-bau wurde von allen gefordert, vorneweg von der SPD.Aber nichts passiert. 1,4 Milliarden Euro werden in dieLuft- und Raumfahrt investiert und gerade einmal73 Millionen Euro in neue Informations- und Kommuni-kationstechnologien. Das sind 5 Prozent. Was fehlt, isteine offensive Breitbandstrategie. Wir sagen: MachenSie endlich Schluss mit Dobrindts Politik, bei der Mautsowieso, aber auch beim mangelnden Breitbandausbau.Investieren Sie in die Infrastruktur der Zukunft. MachenSie Ihr Versprechen vom Breitbandausbau wahr,
und zwar so, dass man davon mal etwas merkt. Sie ver-sprechen seit Jahren, dass Sie das tun. Faktisch kommtaber nichts an. Das ist aber ein entscheidender Faktor fürunsere Wettbewerbsfähigkeit in zehn Jahren. Das ent-scheidet darüber, ob am Standort investiert wird.
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Kerstin Andreae
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Es geht – das ist zu Recht angesprochen worden – nichtnur um öffentliche Investitionen. Es geht auch um privateInvestitionen. Klare Signale an die Unternehmerinnen undUnternehmer und an die Investoren sind nötig. Ich finde,Sie haben im vergangenen halben Jahr gerade bei derEnergiewende an vielen Stellen Missmanagement an denTag gelegt. Ich will das an einer Stelle verdeutlichen, diezeigt, dass Ihnen die Investoren wirklich wegbrechen:Wirtschafts- und Energieminister Gabriel hat zuge-stimmt, dass jetzt jedes Bundesland seine eigenen Ab-standsregeln für Windkraftanlagen festlegen kann. Dasbedeutet erstens, dass Flächen für den Windkraftausbaudrastisch reduziert werden. Es bedeutet aber noch etwasanderes: Was passiert denn, wenn ein Investor Repowe-ring machen möchte, wenn er die Anlagen ertüchtigenmöchte, wenn er ein besseres Windrad aufstellenmöchte? Was passiert dann? Dann greift die Abstandsre-gel. So hat uns das Staatssekretär Baake im Wirtschafts-und Energieausschuss klar und deutlich gesagt. Dasheißt faktisch, dass Neuinvestitionen und Ertüchtigun-gen bei Windenergie nicht mehr möglich sind. Das istdoch absurd. Das kann ein Energie- und Wirtschafts-minister unserer Ansicht nach nicht zulassen. Das habenSie aber zugelassen. Hier hätten Sie Seehofer in denArm springen müssen; denn Deutschland bleibt nurTechnologiestandort, wenn hier geforscht wird.
– Ich kann mir vorstellen, dass das Bild, Seehofer in denArm zu springen, nicht ganz so hübsch ist; aber Sie wis-sen, wie ich es gemeint habe.
– Ja, oder für ihn; je nachdem. Ich glaube, beide leiden.Der Mittelstand braucht Impulse. Sie haben ja nichtnur den Breitbandausbau immer wieder im Wahlkampfthematisiert, sondern auch immer gesagt, dass Sie einesteuerliche Forschungsförderung machen werden. Daskönnen Sie jetzt als Große Koalition auf den Weg brin-gen. Sie hätten sogar unsere Unterstützung. Wieso ge-lingt es nicht, das zu machen, was 27 von 34 OECD-Ländern machen? Warum fördern Sie nicht Kreativität,Tüftlertum, den Geist von vielen kleinen Unternehmenund bringen die steuerliche Forschungsförderung aufden Weg? Denn dort ist unheimlich viel Potenzial. Nein,Sie machen Projektförderung. Wir wollen aber steuerli-che Forschungsförderung. Da sind wir uns mit den Wirt-schaftsexperten dieses Landes einig und im Übrigenauch mit Ihren Wirtschaftspolitikern. Zeigen Sie Initia-tive, und machen Sie steuerliche Forschungsförderung.Das wäre eine kluge, vorausschauende Wirtschaftspoli-tik.
Sie haben gesagt, wie wichtig Ihnen Investitionen indie Zukunft sind. Was haben Sie gemacht? Sie haben ein160 Milliarden Euro schweres Rentenpaket beschlossen.Die Rentenkasse, Herr Fuchs, wird in den nächsten Jah-ren leer sein. Sie machen sie leer. So kommt übrigensauch der Haushalt zustande. Sie bedienen sich derart beiden Sozialkassen, dass man dafür gar keine Worte findet.Sie schröpfen die Rentenkasse, und Sie schröpfen dieGesundheitskasse. Es ist auch wirtschaftspolitisch Un-fug, Frühverrentung zu fördern und höhere Sozialbei-träge herbeizureden. Ein Wirtschaftsminister muss sichdoch dagegen stellen und sagen: Wir geben Antwortenauf den Fachkräftemangel und auf den demografischenWandel. – Wir brauchen keinen Griff in die Sozialkassenund keine Beitragssatzsteigerung, sondern eine klugePolitik, die auch in den nächsten Jahren eine soziale Si-cherung garantiert, und zwar wirtschaftspolitisch abge-federt. Das muss ein Wirtschaftsminister machen.
Schließlich erwarten wir von einem Wirtschaftsminis-ter, dass er sich zum Anwalt einer nachhaltigen Konsoli-dierung macht, und zwar nachhaltig im besten Sinne. Ichnenne als Stichworte Investitionen und Innovationen fürden Klimaschutz, eine konsequentere Energiewende,Ressourcenschonung und Energieeffizienz; das ist einganz wichtiges Thema. Aber wir müssen auch aus einereuropäischen und globalen Perspektive den Blick daraufhaben, wie die europäische Strategie „weg vom Öl“ aus-sieht. Wie sieht denn die europäische Energiewende aus?
Frau Kollegin!
Ich komme zum Schluss. – Dafür brauchen wir eine
wirtschaftspolitische Agenda, die über das hinausgeht,
was der Wirtschaftsminister hier angedeutet hat. Dafür
muss man sich auch einmal mit den Unternehmen und
mit den Gewerkschaften anlegen.
Letzter Satz. Stichwort Tarifeinheit: Ich warne den
SPD-Parteivorsitzenden und die SPD-Bundestagsfrak-
tion davor, leichtfertig mit dem Thema Streikrecht und
leichtfertig mit dem Thema Koalitionsfreiheit umzuge-
hen.
Letzter Satz.
Seien Sie vorsichtig mit dem, was Sie bei der Ta-
rifeinheit machen.
Wir stehen für Tarifpluralität.
Ich danke Ihnen.
Danke, Frau Kollegin. – Nächster Redner in der De-batte ist Wolfgang Tiefensee für die SPD.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Es ist die Aufgabe der Opposition, sich diesesoder jenes herauszupicken, schwarzzumalen und zu pro-gnostizieren, dass alles ganz schlimm wird. Es wärenicht schlecht, wenn in diesem Hause dennoch zunächstdie Zahlen und Fakten sprechen würden. Deutschland istin einer sehr robusten wirtschaftlichen Situation. Wennwir uns das Bruttoinlandsprodukt anschauen, dessenSteigerung wir nach wie vor mit 1,8 Prozent prognosti-zieren, und wenn wir uns den Arbeitsmarkt anschauen,dann kann man sagen: Trotz eines schwierigen europäi-schen und internationalen Umfelds stehen wir gut da.In Richtung der Linken – Herr Ernst hat gleich Gele-genheit, zu diesem Thema zu sprechen – sage ich: EinBlick auf den Osten ist ebenfalls interessant. Die großeLücke, die wir bisher bei der Entwicklung des Bruttoin-landsproduktes zwischen den westlichen und den östli-chen Ländern gesehen haben und die der Durchschnitteben nicht abbildet, hat sich geschlossen. Die starkenostdeutschen Länder haben beim BIP und beim BIP-Wachstum aufgeschlossen; sie haben sogar zum Teil dieschwächeren westlichen Länder überholt. Schauen wiruns die Arbeitslosigkeit an. Sie beträgt im Durchschnittin Deutschland 6,7 Prozent, in Ostdeutschland 9,4 Pro-zent, im Westen 6 Prozent. Angesichts dieser Zahlenkann nicht mehr regelmäßig die schlimme Nachrichtverbreitet werden, dass die Arbeitslosigkeit in Ost-deutschland doppelt so hoch ist. Das ist ein Erfolg derletzten Jahre, ein Erfolg der Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer, der Unternehmer und derjenigen, die die Är-mel hochgekrempelt haben.
Schaut man sich die Konjunkturberichte des DIHKan, sieht man durchweg eine positive Resonanz bei denUnternehmen. Der ZDH hat eine Konjunkturumfragedurchgeführt. 86 Prozent der Handwerksbetriebe sindmit der Situation ihres Betriebes sehr zufrieden bzw. zu-frieden. Das ist eine sehr gute Ausgangslage für die Zu-kunft. Das Wachstum, das auf das Handwerk entfällt,wird das Wachstum der allgemeinen Wirtschaft, des BIP,sogar um 2 Prozent übersteigen. Schaut man sich denExport an – er ist schon angesprochen worden –, stelltman fest: Wir haben die magische Grenze von 100 Mil-liarden Euro überschritten. Bei den Ausrüstungsinvesti-tionen ist ein leichter Anstieg zu verzeichnen. Das Auf-tragsvolumen der Industrie ist von Juni auf Juli diesesJahres um 4,6 Prozent gestiegen. Insgesamt haben wiralso eine sehr gute wirtschaftliche Lage.Jetzt geht es darum, zu diagnostizieren: Wo sind dieGefahren? Wo sind die Herausforderungen? Ich will zu-nächst bei dem international schwierigsten Thema, näm-lich bei den Brandherden auf dieser Welt, beginnen, undals Beispiel die Ukraine erwähnen. Die Sanktionen wer-den auch von der deutschen Wirtschaft, von den Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmern als das richtige Instru-ment, als die richtige Antwort auf die katastrophalenZustände und die katastrophale Politik Putins betrachtet.Greifen wir den Maschinen- und Anlagenbau heraus.Hier beträgt das Umsatzvolumen 200 Milliarden Euro;9 Milliarden Euro davon entfallen auf das Geschäft mitRussland. Es wird prognostiziert, dass dieser Anteil auf4,5 Milliarden Euro sinken wird. Das entspricht einemMinus von 2 Prozent. Das ist nicht gravierend. Aber mitBlick auf Sie, Herr Wirtschaftsminister, und die Regie-rung sage ich: Ich finde, wir müssen jetzt intensiv da-rüber nachdenken, welche Antwort wir kurz- und mittel-fristig geben, wenn Mittelständler oder auch großeUnternehmen fragen: Wie können wir eine Entlastungerfahren? Wie können wir neue Märkte erschließen?Da sind mir zwei Dinge wichtig. Der erste Punkt ist:Wir müssen die USA und insbesondere Afrika als neueMärkte erschließen. Meine Bitte ist, dass wir in der Zu-kunft darüber nachdenken, wie wir die Hermesbürg-schaften so gestalten können, dass der Mittelstand dortinsbesondere gegenüber den chinesischen Wettbewer-bern Fuß fasst. Die Produkte müssen dort ihren Markthaben und ihre Käufer finden. Dazu braucht es eine in-tensive, eine intensivere Unterstützung durch die Bun-desregierung in Form von Hermesbürgschaften.Das zweite Thema – es wurde schon mehrfach ange-sprochen – betrifft das Freihandelsabkommen und dieÖffnung der Märkte insbesondere gegenüber den USA.Darüber, dass wir keinen Investorenschutz brauchen, isthinlänglich diskutiert worden. Dass wir unsere klarenPositionen haben – zur öffentlichen Daseinsvorsorge,zur Kultur, zu vielen anderen Fragen, auch was dasChlorhühnchen usw. angeht –, ist sattsam bekannt. Ichplädiere dafür, das, was den Mittelstand und die großenUnternehmen tatsächlich interessiert, möglichst schnellzu verhandeln und zum Abschluss zu bringen, nämlichdie nichttarifären Handelshemmnisse. Wenn wir uns da-rauf beschränken und in einer ersten Etappe mit denUSA hier möglichst schnell Boden gewinnen, könnenwir dem Mittelstand nachhaltig helfen.Schauen wir ins Inland, stellen wir fest: Die Investi-tionsquote liegt auf einem bedenklichen Niveau. Sie be-trägt nach wie vor 17 Prozent. Der OECD-Durchschnittlegt die Latte mit 20 Prozent wesentlich höher. Was müs-sen wir hier tun? Wir müssen uns anschauen: Wo werdendie meisten Investitionen getätigt? 51 Prozent, also überdie Hälfte, werden im Bereich der öffentlichen Hand ge-tätigt. Darauf reagiert die Bundesregierung. Darauf wer-den auch wir als Bundestag mit der Verabschiedung die-ses Haushalts reagieren. Es ist schon angesprochenworden: Die zusätzlichen 5 Milliarden Euro, die auf10 Milliarden Euro per annum aufwachsen, werden hel-fen, die Investitionen anzukurbeln. Das ist die richtigeAntwort auf diese Frage.
Ein weiterer wichtiger Punkt, der in Zukunft auf derAgenda stehen wird, betrifft das Stichwort „Industrie4.0“. Hier macht mir etwas Sorgen. Auch in der Redevon Frau Bundeskanzlerin kam, nachdem der Begriff„Industrie 4.0“ gefallen ist, sofort der Hinweis auf denIT-Gipfel. Uns in Deutschland muss es zusätzlich zu die-sem Blickwinkel aber um etwas ganz anderes gehen. Wirmüssen die Mittelständler, insbesondere im Maschinen-und Anlagenbau und im Automobilbau, in den Blick
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nehmen. Das ist nämlich kein Thema, das nur den IT-Be-reich betrifft, sondern es ist ein Thema, das vorwiegendim Maschinen- und Anlagenbau und in der Automobilin-dustrie eine Rolle spielt.Warum? Zum Ersten müssen wir uns darum küm-mern, dass sich alle, in Kindergarten über die Hoch-schule bis zu den Facharbeitern, die sich nachqualifi-zieren müssen, auf diese neue Entwicklung einstellen.Zum Zweiten müssen wir bedenken, dass wir bei denIT-Instrumenten immer ein Stück hinter den Amerika-nern herhinken werden. Wir können Leitmarkt, Leitan-bieter für Industrie 4.0 werden, wenn wir uns insbeson-dere auf den Maschinenbau und die Automobilindustriekonzentrieren.
Des Weiteren werden wir das ZIM-Programm um30 Millionen Euro auf 443 Millionen Euro aufstocken.Der Plafonds für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesse-rung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ mit 600 Millio-nen Euro wird in den nächsten Jahren eine Steigerungerfahren. Wir werden Existenzgründungen fördern, bei-spielsweise durch die Freistellung von der Ertragsteuer.Oder denken Sie an die Mini-Mezzanine-Fonds, an das,was wir kleinen Start-ups, kleinen Unternehmen, kleinenMittelständlern geben, damit sie sich entwickeln können.Auch hier gibt es einen Aufwuchs von 35 MillionenEuro auf 70 Millionen Euro. Das alles sind wichtige In-strumente, um deutlich zu machen: Sowohl die Wirt-schaftskraft von nebenan, das Handwerk, als auch dieIndustrie werden in Deutschland gestärkt, damit sie euro-päisch und global wettbewerbsfähig bleiben, Arbeits-plätze schaffen und erhalten und hier im Land investieren.Denn das brauchen wir, damit das Wirtschaftswachstumauch in Zukunft stabil bleibt. Wir wollen diese Politik sofortsetzen.Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner in der
Debatte ist Klaus Ernst für Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Erstens. „Ja, wir haben in Deutschland seit zehnJahren eine schlechte Investitionsentwicklung, und zwarzuallererst mal im öffentlichen Bereich“, haben Sie, HerrWirtschaftsminister, heute früh im Rundfunk gesagt. Ichhabe das zur Kenntnis genommen. Sie haben recht. Ichmöchte allerdings darauf hinweisen, dass dieser Zustand,den Sie da beschreiben, natürlich auch von Ihrem jetzi-gen Koalitionspartner mit verursacht wurde; denn die In-vestitionen sind ja irgendwann von Leuten unterblieben,die darüber entschieden haben. Wir waren es nicht.
Das waren Sie.Zweitens. Der Spiegel schreibt:Kaum eine andere Industrienation geht so fahrlässigund knauserig mit der eigenen Zukunft um.Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung berech-net, dass, um den Status quo zu halten, also das, was wirjetzt haben, jährlich 100 Milliarden Euro an zusätzlichenInvestitionen notwendig wären. 100 Milliarden Euro!Das kann ich in Ihrem Haushalt beim besten Willennicht finden. Ich stelle vielmehr fest, dass wir hier dieschwarze Null als Riesenerfolg feiern. Angesichts desnotwendigen Investitionsbedarfs ist die schwarze Nullaber doch geradezu absurd.Herr Minister, Sie haben vorhin, bezogen auf dasSchuldenmachen, gesagt, das wäre falsch. Sie haben üb-rigens auch in dem Interview gesagt – das hat mich gera-dezu erstaunt –, durch mehr Schulden bekomme man janicht mehr Geld für Investitionen. – Natürlich, Sie kön-nen geliehenes Geld für Investitionen ausgeben.Mich wundert diese ganze Politik deshalb sehr, weilwir aktuell eine ganz besondere Situation haben. Gesternhat Herr Schäuble Schatzanweisungen zu Zinsen unter0 Prozent verkauft. Mit anderen Worten: Die, die ihmdas Geld geben, bekommen nachher weniger zurück, alssie ihm gegeben haben. Wenn ich in einer Situation Geldaufnehme, für das ich null Zinsen zahlen muss, gleich-zeitig 100 Milliarden Investitionsbedarf habe und dieschwarze Null feiere, dann versteht das doch die Weltnicht mehr. Da müssen Sie doch als Wirtschaftsministereingreifen und sagen: Wir brauchen Investitionen, umdieses Land am Laufen zu halten.
Von der schwarzen Null kann keiner leben, Herr Gabriel.Das ist das Problem.
– Zu Ihnen komme ich gleich noch.Gerade hat sich Herr Fuchs in seinen hervorragendenAusführungen – er ist ja wirklich ein Fuchs in dieserFrage –
noch einmal für private Investitionen ausgesprochen.Dazu sagt Herr Bofinger, Wirtschaftsweiser – ich habeden Eindruck, er ist ein bisschen weiser als HerrFuchs –:
In der Regel ist PPP– Public Private Partnership –teurer als eine konventionelle öffentliche Investi-tion, da sich der Staat sehr viel günstiger finanzie-ren kann als private Investoren. Im Gegensatz zumStaat wollen sie zudem noch einen Gewinn erzie-len.
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Klaus Ernst
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Sie legen hier also ein Konzept vor, das vielleicht IhrenFreunden Gewinn verschafft; aber der Steuerzahler musses zahlen. Es ist Unfug und deshalb abzulehnen.
Es gäbe eine Lösung, wie wir tatsächlich ohne zusätz-liche Schulden das finanzieren könnten, was notwendigist. Diese Lösung hatte auch die SPD ein Stück weit inihrem Wahlprogramm stehen; ich habe mich darüber ge-freut. Ihr habt das leider zu schnell aufgegeben. DerPunkt, den ich meine, ist: Natürlich brauchen wir auchvernünftige Steuererhöhungen,
um das zu bezahlen, und zwar Steuererhöhungen bei de-nen, denen das nicht wehtun. In der BundesrepublikDeutschland befinden sich 35 Prozent des Vermögens imBesitz des reichsten Prozents. Das sind übrigens die Ver-mögen, die trotz Krise weiter gewachsen sind. Wenn wirnicht dort, wo das Wachstum gelandet ist, bei den Priva-ten,
durch Steuern etwas abschöpfen, dann wird der Staatkünftig nicht mehr in der Lage sein, seine Aufgaben zuerfüllen; das ist ein großes Problem.
– Weil Sie, meine Herren, sich da so aufregen, möchteich einmal erwidern, was Herr Stephan Hebel in derFrankfurter Rundschau von heute dazu schreibt – ich zi-tiere –:Ein Land atmet auf, weil es keine Schulden mehrmacht – und nimmt die Verrottung seiner Besitztü-mer in Kauf. So ein Land hat die Milchmädchen ander Macht fast schon verdient.– Es können auch Milchbubis sein.
Meine Damen und Herren, natürlich wäre es notwen-dig, dass wir über einen vernünftigen Spitzensteuersatznachdenken; er liegt nach wie vor 11 Prozentpunkteniedriger als unter Kohl. Und es wäre notwendig, dasswir über eine Abschaffung der Abgeltungsteuer nach-denken und einen vernünftigen Steuersatz entsprechenddem für das private Einkommen vorsehen. Wir müsstenauch wieder über eine vernünftige Körperschaftsteuernachdenken. – Aber Sie lehnen Steuererhöhungen abund verhindern damit, dass der Staat das Geld bekommt,das er braucht, um seine Aufgaben zu erfüllen. Was da-ran vernünftig sein soll, verstehe ich nicht.
Jetzt kommen wir zu der Situation, dass – Sie habendas angesprochen – auch die Unternehmen zu wenig in-vestieren. Wundert es Sie eigentlich nicht, dass das soist? Was ist alles unternommen worden, um die Anreizefür die Unternehmen zu erhöhen, damit sie doch bitteschön freudiger Geld investieren. Da wurden die Löhnegedrückt, da wurde der Arbeitsmarkt flexibilisiert, dawurde ein Niedriglohnsektor aufgebaut, da wurden Leih-arbeit und befristete Beschäftigung ausgeweitet. Trotz-dem investieren die Unternehmen nicht. Haben Sie sicheigentlich einmal die Frage gestellt, warum? Die einzigeErklärung dafür ist offensichtlich, dass die Senkung desFaktors Lohnkosten nicht ausreicht; wir brauchen Nach-frage.
Dadurch, dass Sie die Löhne und die Renten senken indiesem Land, machen Sie die Nachfrage kaputt. Das giltauch auf europäischer Ebene: Durch das Abwürgen derWirtschaft in Südeuropa haben Sie dazu beigetragen,dass die Probleme dort zunehmen. Wenn die Nachfragefehlt – egal ob in Deutschland oder in Europa –, wird na-türlich auch kein Wachstum möglich sein. Sie könnensich kaputtsparen und bekommen trotzdem kein Wachs-tum zustande. Deshalb brauchen wir eine andere Politik.Wir brauchen
höhere Löhne, höhere Renten und vor allen Dingen einInvestitionsprogramm, und zwar möglichst rasch, fürSüdeuropa; das ist notwendig.
In der Presse wird von der schwarzen Null geredetund der Finanzminister ist gemeint. Ich wäre also einbisschen vorsichtig damit, von roten Nullen zu reden.
Kommen Sie langsam zum Schluss?
Meine Damen und Herren, ich habe meine Redezeit
bereits ausgeschöpft und werde gleich aufhören. Nur
noch eine kleine Bemerkung, die letzte, zu CETA; ich
bin auch gleich fertig.
Aber wirklich!
Ich wundere mich nur, Sigmar Gabriel; denn ihr habtetwas ganz anderes gesagt. Es steht ein Investorenschutzim CETA-Abkommen. Ich weiß auch, dass fraglich ist,ob dieses Parlament überhaupt mitreden darf in dieserFrage. Bitte klären Sie das! So ist das wirklich nicht zuakzeptieren.Danke fürs Zuhören.
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Vielen Dank, Herr Kollege Ernst. – Nächster Redner
für die CDU/CSU-Fraktion ist Dr. Joachim Pfeiffer.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man hier
hört, wie schlecht es uns angeblich geht, muss endlich
einmal gesagt werden: Das Gegenteil ist der Fall. Es ist
doch deutlich geworden: Deutschland geht es gut, und
zwar so gut wie lange nicht, trotz manchem Dämpfer
auch konjunktureller Art – 0,2 Prozentpunkte Wachstum
geben uns durchaus zu denken –, zahlreichen politischen
Krisen in Europa und auch weltweit und der Schulden-
krise in Europa, die sicherlich nicht vorbei ist, aber im
Moment pausiert. In einigen Ländern wurden die richti-
gen Entscheidungen getroffen – dort nimmt die Wettbe-
werbsfähigkeit zu; auch bei den Exporten legen diese
Länder zu –; ich meine Spanien und Portugal. In anderen
Ländern wie in Frankreich sind die Weichen noch nicht
richtig gestellt.
Deutschland steht dagegen so gut da wie nie zuvor.
Die Beschäftigtenzahl hat einen historischen Höchst-
stand erreicht: Fast 43 Millionen Menschen sind in Lohn
und Brot. Wir eilen hier von Rekord zu Rekord. In den
letzten Jahren haben wir erst von 40 Millionen, dann von
41 Millionen und schließlich von 42 Millionen gespro-
chen. Jetzt scheint es eine realistische Perspektive zu
sein, dass 43 Millionen Menschen in Lohn und Brot sein
werden. Sehr viele dieser Menschen zahlen natürlich So-
zialversicherungsbeiträge und Steuern und ermöglichen
dadurch, dass es Deutschland auch weiterhin gut geht.
Ich werde versuchen, darauf einzugehen, was wir hier
noch tun müssen. Die Arbeitslosigkeit ist im Gegenzug
auf einem Rekordtief angelangt.
Es gibt zwei Säulen, die dieses Wachstum gleicher-
maßen tragen. Es ist eben nicht so, dass es keine Lohn-
zuwächse gibt, wie der Kollege Ernst gesagt hat. Ich
weiß nicht, in welcher Welt Sie leben. Das Gegenteil ist
der Fall. Wir haben in diesem Jahr Reallohnzuwächse,
wie wir sie schon lange nicht mehr gesehen haben. Die
andere Säule des Wachstums sind die Binnennachfrage
und der Export. Im Juli haben wir beim Export erstmalig
die Marke von 100 Milliarden Euro geknackt. Insofern
ist das, was Sie hier gesagt haben, überhaupt nicht nach-
vollziehbar.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Frage oder Bemer-
kung von Herrn Ernst? – Ja oder Nein?
Ja, immer gerne.
Gut. – Herr Ernst.
Danke, dass Sie die Frage zulassen. – Herr Pfeiffer,
Sie haben gerade gefragt, wie ich auf diese Zahlen
komme. Das ist ganz einfach: Die realen Arbeitsentgelte
pro Beschäftigtem waren im Jahre 2013 um 3,7 Prozent
niedriger als im Jahre 2000. Das heißt, die Einkommen
der Beschäftigten sind über einen längeren Zeitraum,
nämlich über die genannten 13 Jahre, deutlich gesunken.
Es gab also keine Erhöhung und damit auch keine stei-
gende Nachfrage. Übrigens: Auch die Renten der lang-
jährig Versicherten sind von 2000 bis 2012 real gesun-
ken: im Westen um fast 20 Prozent, im Osten um
23 Prozent.
Die Masseneinkommen sind also gesunken. Damit geht
davon über einen längeren Zeitraum gesehen natürlich
kein Wachstumsimpuls aus.
Das war die Feststellung, die ich getroffen habe. Ich
denke, dass Sie die Zahlen nun zur Kenntnis genommen
haben und in Ihren weiteren Ausführungen wohlwollend
berücksichtigen werden.
Ich weiß nicht, woher Sie die Zahlen haben und wel-che Schlussfolgerungen Sie aus Ihren Zahlen ziehen.Tatsache ist: Fast 43 Millionen Menschen sind in Lohnund Brot – darunter sind 30 Millionen sozialversiche-rungspflichtig Beschäftigte –, die Selbstständigenquotehat zugenommen, und der Anteil der Schwarzarbeit istso niedrig wie nie zuvor. Wenn sie sich anschauen, wielange die Menschen heute real arbeiten müssen, um bei-spielsweise Konsumgüter oder Lebensmittel kaufen zukönnen, dann sehen Sie, dass sie heute deutlich wenigerarbeiten müssen, um sich beispielsweise einen Kühl-schrank, einen Computer oder ein Auto kaufen zu kön-nen. Das heißt, real stehen die Menschen heute viel bes-ser da als 1990. Das werden Sie doch wohl nichternsthaft bestreiten wollen, Herr Ernst.
Auf die Staatsschulden ist bereits eingegangen wor-den. Wir sind nun wirklich in der historisch einmaligen,glücklichen Situation, die allerdings auch nicht vomHimmel gefallen ist, dass wir jetzt einen Haushalt ohneNeuverschuldung vorlegen können. Was bedeutet es,keine Neuverschuldung zu machen? Im letzten Jahr hatDeutschland erstmalig real über 30 Milliarden Euro anSchulden abgebaut. Damit gewinnen wir in der ZukunftSpielräume. Der Anteil der Verschuldung am Bruttoin-landsprodukt lag in der Spitze bei 82 Prozent. In diesemJahr schaffen wir vielleicht eine Reduzierung auf76 Prozent, und in dieser Legislaturperiode wollen wirauf unter 70 Prozent kommen. Dadurch schaffen wir dienotwendigen Spielräume, um die notwendigen Mittel für
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Dr. Joachim Pfeiffer
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Innovationen und Wachstum an anderer Stelle zur Verfü-gung zu haben.Das bedeutet aber nicht, dass wir uns darauf ausruhensollten. Wir dürfen jetzt die Agenda 2010, die für diesenStrukturwandel in Deutschland richtig und wichtig war,nicht rückabwickeln, sondern müssen überlegen: Wiesieht die Agenda 2030 aus? Was müssen wir heute tun,damit die Entwicklung nicht wieder nach unten geht,sondern wir 2030 genauso gut dastehen wie heute?Dafür ist in der Tat ein langfristiger Rahmen fürWachstum und Beschäftigung von zentraler Bedeutung.Das Freihandels- und Investitionsabkommen mit denVereinigten Staaten kann da ein zentraler Wachstums-treiber sein.
Dieses Freihandelsabkommen schafft den größten Bin-nenmarkt der Welt, schafft Wachstumsimpulse überJahrzehnte hinweg. Es trägt dazu bei, Zollschranken ab-zubauen
– ohne zusätzliche Kosten. In der Automobilindustriezum Beispiel könnten 1 Milliarde Euro pro Jahr – dieKosten für die Zölle auf Autos sind zwar nicht mehr sehrhoch, aber sie summieren sich ganz schön auf – einge-spart werden.
Einem mittelständischen Maschinenbauer entstehenheute für Zulassungen und Umrüstungen von Maschinenim Rahmen des Exports in die USA Zusatzkosten von15, 20 oder sogar 25 Prozent. Mit Inkrafttreten diesesAbkommens würde er wettbewerbsfähiger, würde derAustausch von Waren verbessert. Das ist Wirtschaftsför-derung im besten Sinne.
Es geht doch nicht darum, Standards abzusenken.Glauben Sie denn ernsthaft, dass uns dann, wenn wir eszusammen mit den USA nicht schaffen, weltweit gültigeStandards zu setzen, zum Beispiel im Arbeitsschutz, imUmweltschutz oder auch in anderen Bereichen, andereihre Standards vorgeben und wir dann besser dran wä-ren? Das glauben Sie doch selber nicht. Das Beste, wasuns passieren kann, ist, dieses Freihandelsabkommenmit einem guten Ergebnis zügig abzuschließen.
Des Weiteren ist für eine Agenda 2030 natürlich vonzentraler Bedeutung, dass wir Innovation, Forschung,Entwicklung und Bildung als Nährboden für das Wachs-tum und die Sicherung des Wohlstandes weiter stärken.Deshalb ist es sicher richtig – offensichtlich sind mittler-weile alle, selbst die Linken, dafür –, dass wir das Zen-trale Innovationsprogramm Mittelstand stärken, indemwir die Mittel um 30 Millionen Euro auf 543 MillionenEuro erhöhen und sie auf diesem hohen Niveau halten;Kollege Tiefensee hat das angesprochen. Dadurch kön-nen gerade mittelständische Unternehmen ihre Produkteund Dienstleistungen auf den Markt bringen und fürInnovationen, für Produkte von morgen, sorgen.Ich halte es für ziemlich daneben – das muss ich ein-mal deutlich sagen –, wenn man versucht, diese Mittel-standsförderung gegen die Förderung der Luft- undRaumfahrt auszuspielen. Auch die Luft- und Raumfahrtist für uns und für den Mittelstand eine Schlüsseltechno-logie. Ohne Galileo, ohne Kommunikationsmittel undohne Satelliten, mit denen das Klima beobachtet wird,werden wir keine guten Wettervorhersagen haben, diefür Windkraft oder die Photovoltaik wichtig sind. Aucheine Energiewende, wie wir sie uns gemeinsam vorstel-len, wird es ohne diese Technologie nicht geben. Inso-fern ist es zu kurz gesprungen, zu sagen: Wir brauchenkeine Luft- und Raumfahrt. Ganz im Gegenteil: Wirbrauchen diese Technologie.
Wollen Sie den Beschäftigten von Airbus ernsthaft sa-gen, dass all das, was sie machen, Quatsch ist und wirdas, was wir in Europa geschaffen haben, nicht brau-chen? An dieser Technologie hängen Hunderttausendevon direkten und indirekten Arbeitsplätzen und dieTechnologieführerschaft im Luftfahrtsektor. Das kannalso nicht ihr Ernst sein.Noch etwas – das sage ich ohne Schadenfreude, weildas zu unser aller Schaden ist –: Die letzten zwei Gali-leo-Satelliten, die mit einem russischen Trägersystemtransportiert wurden, sind nicht dort ausgesetzt worden,wo sie hätten ausgesetzt werden sollen. Das ist ein Pro-blem. Deshalb halte ich es für richtig, dass wir in Europaweiterhin ein eigenes Trägersystem haben. Wir müssendie Ariane-Trägerrakete weiterentwickeln. Es ist vonzentraler Bedeutung für Deutschland und Europa, dasswir eine wettbewerbsfähige und leistungsfähige Luft-und Raumfahrt haben.
Lassen Sie mich auch etwas zum Thema „Stärkungder Investitionen“ sagen; viele haben das bereits ange-sprochen. Die Tatsache, dass wir früher 23 Prozent desBruttoinlandsprodukts für Investitionen ausgegeben ha-ben und im Moment bei 17 Prozent liegen – der OECD-Durchschnitt beträgt 20 Prozent –, sollte uns nachdenk-lich machen. Wir müssen überlegen, was wir hier tunkönnen. Wir brauchen Investitionen in die öffentliche In-frastruktur, in Netze, Straßen und Schienen. Ich freuemich, dass sich die neue Lkw- und brückenpolitischeSprecherin der Grünen nachhaltig für den Ausbau vonStraßen einsetzt.
Herzlich willkommen an Bord! Bei diesem Thema kön-nen wir gar nicht genug Verbündete haben, liebe KerstinAndreae. Ich freue mich, dass wir uns zukünftig gemein-sam – gegen den grünen Verkehrsminister in Baden-Würt-
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Dr. Joachim Pfeiffer
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temberg – für die Verbesserung der Infrastruktur desLandes einsetzen.
Wir müssen aber nicht nur für Infrastrukturmaßnah-men im Bereich Straße und Schiene, sondern auch fürsolche im Breitbandbereich und im kommunalenBereich private Mittel mobilisieren. Öffentliche Mittelallein werden dafür nicht ausreichen. Und wenn wir dieHaushaltskonsolidierung, der heute eigentlich niemand– außer von ganz links – ernsthaft widersprochen hat,weiter vorantreiben wollen, dann werden wir uns Kon-junkturpakete oder Investitionen auf Pump nicht leistenkönnen.
Wir wollen auch keine Investitionen durch Steuerer-höhungen finanzieren. Deshalb brauchen wir die Mobili-sierung von privatem Kapitel für öffentliche genausowie für private Infrastruktur. Ich frage Sie: Was istSchlechtes daran? Die Grünen sind doch auch für Inves-titionen von Bürgern in Windparks und Photovoltaikan-lagen.
Warum sind Sie dann gegen Investitionen von Bürgernin kommunale Infrastruktur oder Straßeninfrastruktur?Lassen Sie uns doch hier Modelle entwickeln, damit wirdiese Investitionen in die richtige Richtung lenken kön-nen.Wir haben das beispielsweise bei den Netzen ge-schafft: Gas- und Stromnetze werden auch hier inDeutschland von internationalen Investoren finanziert.
Da kommt das Geld hierher. Warum soll das nicht auchin anderen Bereichen gehen? Durch eine intelligente Re-gulierung werden wir es schaffen, dieses Investitionsde-fizit auszugleichen.Mit dem Blick auf die Uhr möchte ich noch sagen, be-vor Sie mich ermahnen, Herr Präsident: Es gibt nochviele Dinge, die man in eine Agenda 2030 aufnehmenkönnte – Stichworte sind Digitalisierung, Internet 4.0und andere Dinge mehr. Das ist eine Chance. Auch amArbeitsmarkt dürfen wir nicht untätig bleiben. Wir wer-den daran arbeiten. Wir werden jetzt säen, damit wir inZukunft ernten können und damit Deutschland in Europaund in der Welt weiterhin an der Spitze bleibt. DieserBundeshaushalt legt einen Grundstein dafür, dass es da-bei bleiben wird. Und wir werden sicherlich in den par-lamentarischen Beratungen und Verhandlungen noch ander einen oder anderen Stellschraube drehen, damit es indie richtige Richtung geht.Vielen Dank.
Die nächste Rednerin ist für Bündnis 90/Die Grünen
die Kollegin Anja Hajduk.
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren!Sehr geehrter Herr Minister Gabriel, ich möchte Siegleich zu Beginn meiner Rede auf das Thema TTIPansprechen. Sie haben hier sehr klar Position dazu bezo-gen.
Ich will auch nicht verhehlen, dass ich das Argumentüberlegenswert finde: Wer für die Internationalisierungvon Standards eintritt und höhere Standards will, dermuss sich auch mit der Frage beschäftigen, ob er Ver-handlungen mit den USA ausweichen kann. – Ich werdedas gerne aufnehmen; das werden wir bei unseren Argu-mentationen bedenken.Aber wenn man das zu Ende denkt und ernst nimmt,dass es um die Sicherung von Standards und Regelungengeht, die auch souveräne Parlamente – wie der DeutscheBundestag oder das Europaparlament – festlegen, dannwird nur dann etwas daraus, wenn Sie es wirklich schaf-fen, das beabsichtigte Investitionsschutzabkommenrauszukicken.
Wenn Sie das nicht schaffen, dann hat Ihre Aussage kei-nen Wert. Ich sage das aus einer zutiefst demokratischenÜberzeugung heraus. Wenn durch Investitionsschutzab-kommen das ausgehebelt wird, was wir als Souverän desVolkes entscheiden, dann haben wir ein tiefgreifendes Pro-blem. Ich habe – das möchte ich hier heute feststellen –Ihre Aussage als Kritik am Investitionsschutzabkom-men, als Festlegung der Bundesregierung begriffen. Siemüssen das eigentlich schon bei CETA umsetzen, sonstist das nicht glaubwürdig, sonst wird CETA eine Blau-pause für TTIP. Und dann hätten Sie sich hier wirklichwidersprochen. Insofern wünsche ich Ihnen viel Erfolgbei diesen Verhandlungen. An dem Punkt haben Sie unsan Ihrer Seite.
Seit gestern liegt der Fokus auf unserem Haushalt,und wir haben häufig über die schwarze Null gespro-chen. Trotz der schwarzen Null stellen wir aber fest: Esgibt in dieser Debatte einen wichtigen Punkt, um densich die Aufmerksamkeit dreht und in dem wir uns rechteinig sind: Unsere Investitionen sind zu gering.Sie sind eine Regierung mit großer Mehrheit. Ichkann nicht verstehen, warum Sie in Ihrem Finanzplanzulassen, dass die öffentliche Investitionsquote sinkt.
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4606 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 50. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2014
Anja Hajduk
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Sie sinkt um ein Fünftel. Das habe ich gestern schon ge-sagt. Deshalb reichen Ihre warmen Worte nicht aus, mitdenen Sie feststellen: Wir brauchen auch mehr öffentli-che Investitionen. – Gute öffentliche Infrastruktur istauch eine Voraussetzung für mehr private Investitionen.Es ist doch ein Warnhinweis, wenn wir in Vergleichen,die beispielsweise das Weltwirtschaftsforum tätigt, zu-rückfallen mit dem Hinweis auf mangelhafte Infrastruk-tur. Das ist eine Aufforderung an die Regierung, jetztund heute umzusteuern und mehr zu tun.
Ich möchte eine Frage ansprechen, die wir ehrlich be-antworten müssen, und die hätten der Wirtschaftsminis-ter, aber auch der Finanzminister noch ehrlicher beant-worten können. Wir dürfen es nicht zulassen, dass dieschlechte Investitionsquote dieser Regierung dazu führt,die Schuldenbremse zu diskreditieren.
Die Schuldenbremse schreibt nicht vor, dass dieInvestitionsquote sinken muss, weil wir sonst die Null-verschuldung nicht hinbekommen. Wir müssen das zu-sätzlich sehen: Das Ziel der schwarzen Null heißt auch,innerhalb des Haushaltsrahmens die Investitionen zusteigern. An dieser Zielsetzung scheitern Sie nicht nurim Haushalt 2015, sondern über die gesamte Finanzplan-periode.
Ich habe schon darauf hingewiesen, dass das auch einGrund ist, warum private Investitionen zurückhaltenderfolgen und der Kapitalmarkt sich anderen Ländernzuwendet. Dabei geht es nicht um Schwarzmalerei. Wirhaben zurzeit in Deutschland eine in Teilen wirklich guteEntwicklung. Herr Pfeiffer hat darauf hingewiesen. Aberwir müssen auch sehen, dass es dabei ernsthafte Eintrü-bungen gibt und dass wir auch zukünftig dem Wett-bewerb standhalten müssen.Zurück zu der Frage, warum eine steigende Investi-tionsquote und das Einhalten der Schuldenbremse nichtzusammengehen bzw. wie man das doch hinbekommt.Das schafft man dann, wenn man Strukturreformendurchführt, die bei den laufenden Ausgaben zukünftig zuEinsparungen und Begrenzungen führen. Das ist aberdas genaue Gegenteil von dem, was Sie gemacht haben.Sie haben mit der Rentenreform und dem falschenGriff in die Sozialkassen die Spur dafür gelegt, dass dielaufenden Ausgaben nicht in einem Rahmen bleiben, derauch für zukünftige Generationen gerecht ist, sondernsteigen. Insofern liegt auch in Ihrer mangelhaften Fähig-keit zu Strukturreformen die Ursache dafür, dass wir beiden Investitionen zu kurz kommen.
Insofern ist gerade auch für einen Wirtschaftsministerdiese Strategie der Bundesregierung eine absolut man-gelhafte Strategie. Ich hoffe, dass der Minister das neuanpackt und ändert.Ich möchte zum Schluss noch erwähnen, dass dieserMinister auch ein Energieminister ist. Es ist in diesemHaushalt überhaupt nicht zu erkennen, wie die Energie-effizienz gesteigert werden soll. Herr Gabriel hat geradegesagt, dass er im Herbst seinen nationalen Plan zurSteigerung der Energieeffizienz vorlegen wird. Dazugibt es schon eine Mahnung seitens der EU-Kommis-sion. Angesichts seines jetzigen Haushalts gehe ich da-von aus, dass das nach den Haushaltsberatungen seinwird. Dann werden wir das Traurige erleben, dass nichtnur der Haushalt 2014, sondern auch der Haushalt 2015verschlafen wird, ohne dass wir bei der Energieeffizienzvorankommen. Auch dazu werden wir in diesen Bera-tungen Vorschläge machen, wie man das hoffentlichnoch beheben kann.Schönen Dank.
Vielen Dank. – Bevor jetzt der Kollege Thomas Jurk
das Wort ergreift, erteile ich Sigmar Gabriel zu einer
Kurzintervention das Wort.
Frau Kollegin Hajduk, da ich Sie in der Debatte alseine sehr sachbezogene Kollegin kennengelernt habe,liegt mir daran, klarzustellen, worum es bei den Freihan-delsabkommen auf gar keinen Fall gehen darf, nämlichum ein Investitionsschutzabkommen – das gilt auch fürjede andere Regelung –, das die Möglichkeit bietet,Gesetze oder die Willensbildung in einem demokratischgewählten Parlament – egal ob auf nationaler oder euro-päischer Ebene – auszuhebeln. Darum geht es bei deminfrage stehenden Investitionsschutzabkommen nicht.Vielmehr geht es um die Frage, ob die Inanspruchnahmevon Schadenersatz- bzw. Entschädigungsregelungendurch solche Investitionsschutzabkommen gegenüberdem nationalen Recht erleichtert wird und ob dadurchmöglicherweise der Gesetzgeber indirekt beeinflusstwird.
– Ich führe darüber eine sachliche Debatte. Das kannman nicht von jedem Teilnehmer erwarten; das versteheich.Es geht also um die Frage, ob durch solche Abkom-men indirekt Druck auf den Gesetzgeber ausgeübt wird.Das zu untersuchen, ist in der Tat unsere Aufgabe beiCETA genauso wie bei dem amerikanisch-europäischenFreihandelsabkommen. Einem Freihandelsabkommen,das Investitionsschutz vorsieht und bei dem diese odereine weitergehende Gefahr durch andere Regelungen be-steht, kann man nach meiner Meinung nicht viel abge-winnen.Wir müssen nur aufpassen, nicht den Eindruck zu er-wecken – das würde das Vertrauen der Öffentlichkeit ingewählte Parlamente und Regierungen beschädigen –,
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 50. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2014 4607
Sigmar Gabriel
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dass ein Freihandelsabkommen – egal welches – einenGesetzgeber an etwas hindern oder auch nur ein Gesetzoder einen Standard in Europa außer Kraft setzenkönnte. Das ist nicht Gegenstand der Freihandelsabkom-men.Deutschland hat nämlich bereits 130 solcher Investi-tionsschutzabkommen abgeschlossen. Im Unterschiedzu dem infrage stehenden Freihandelsabkommen sinddiese Abkommen zumeist mit Staaten abgeschlossenworden, die Defizite im Rechtsschutz haben. Deswegenist meine Grundsatzposition: Eigentlich bedarf es sol-cher Investitionsschutzabkommen mit Staaten mit aus-geprägten Rechtsschutz überhaupt nicht. Aber selbstwenn sie wie bei CETA durch EU und Kanada verein-bart wurden, geht es nie um die Frage, ob eine Parla-mentsentscheidung oder eine Regierungsentscheidungdadurch außer Kraft gesetzt werden könnte. Es geht viel-mehr um die Frage, ob dabei ein erhöhter Entschädi-gungsanspruch entsteht.Mir liegen derzeit zwei Gutachten vor. Nachdem ichselber mit den Gutachtern gesprochen habe, werde ichdiese Gutachten Ihnen allen hier im Parlament zur Verfü-gung stellen. Das eine Gutachten geht davon aus, dass essich bei CETA selbstverständlich um ein gemischtesAbkommen handelt, sodass der Deutsche Bundestag– genauso wie alle anderen Parlamente – darüberentscheiden muss. Das zweite Gutachten geht davon aus,dass die Investitionsbestimmungen, die zwischenKanada und der Europäischen Union verabredet wurden,keinen höheren Schutzstandard bieten als das nationale,deutsche Recht, im Gegenteil. Es wird allerdings auchdavon ausgegangen, dass sich die Vereinigten Staatenmit einem solch schwachen Investitionsschutzabkom-men nicht zufrieden geben werden. Wie gesagt, sobaldich die Chance hatte, mit den Gutachtern zu reden,werde ich Ihnen das alles mitteilen.Mir liegt nur daran, dass wir in der öffentlichen De-batte niemals den Eindruck erwecken, ein Freihandels-abkommen könne einem souveränen Parlament zumBeispiel in Deutschland, Frankreich oder Italien oderdem Europäischen Parlament Vorschriften machen oderGesetze, Verordnungen und Standards ändern. Genaudas kann ein Freihandelsabkommen nicht.
Frau Kollegin Hajduk, ich vermute, dass Sie darauf
antworten wollen.
Sehr gerne, Herr Präsident. – Herr Minister Gabriel,
das ist ein enorm kitzliger Punkt. Ich möchte gar nicht
allgemein diffamierend unterstellen, dass jedes interna-
tionale Freihandelsabkommen eine solche Wirkung
entfalten will. Wenn aber zwischen Staaten mit belast-
baren, entwickelten Rechtssystemen verhandelt wird,
dann ließen sich die Bedenken am einfachsten ausräu-
men, indem man anerkennt, dass man gar kein Investi-
tionsschutzabkommen braucht. Das ist doch klar.
In der Tat ist die Diskussion für eine deutsche Regie-
rung nicht einfach zu führen, weil gerade Deutschland
als Exportnation viele Freihandelsabkommen mit Län-
dern ausgehandelt hat, in denen nicht klar war, ob der
Rechtsschutz hinreichend garantiert ist. Deshalb wurde
eine gewisse Absicherung gesucht. Wir müssen uns aber
in der heutigen Situation davon deutlich emanzipieren.
Ich glaube Ihnen, dass Sie ausschließlich gute Absichten
haben. Wir sind es gewohnt, dass unser Rechtssystem
mithilfe einer gegliederten Gerichtsbarkeit darauf achtet,
dass die Standards, die wir setzen, eingehalten werden.
Wenn aber nicht die klassische Gerichtsbarkeit zu-
ständig ist, sondern ein Schiedsgericht, das nicht die na-
tionalen und europäischen Gesetze auslegt, sondern sol-
che Probleme eher im Rahmen einer Mediation löst,
dann ist der Druck sehr hoch, dass große internationale
Konzerne gegenüber souveränen Gebietskörperschaften
hohe Schadensersatzsummen geltend machen. Ich möchte
nicht, dass wir das akzeptieren.
Deswegen möchte ich, dass Sie sich mit Ihrer Mei-
nung, die Sie hier vertreten, für die deutsche Regierung
durchsetzen bzw. sonst nicht die Zustimmung Deutsch-
lands geben, wenn trotzdem Investitionsschutzabkom-
men zwischen Staaten mit entwickelten Rechtssystemen
gefordert werden. Sie haben gute Argumente auf Ihrer
Seite. Da begleiten wir Sie gerne. Setzen Sie sich damit
durch!
Für die Sozialdemokraten spricht jetzt der Kollege
Thomas Jurk.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Bevor ich mich dem Einzelplan desBundeswirtschaftsministeriums zuwende, gestatten Siebitte eine Vorbemerkung. Eine Exportnation wie Deutsch-land benötigt, um wirtschaftlich erfolgreich zu sein, einpositives außenpolitisches Klima. Die derzeitigen Krisenvon der Ukraine bis in den Nahen Osten stellen dagegenerhebliche Belastungen dar, weil ohne friedliches Um-feld kein Handel und kein Wandel, kein Austausch vonWaren und Dienstleistungen mehr stattfinden können.Auch wirtschaftliche Sanktionen, über deren Berechti-gung und Sinnhaftigkeit ich mich an dieser Stelle nichtauslassen möchte, fallen schlussendlich auf uns zurück.Bei mir in Sachsen gibt es viele Unternehmen, dieihre Produkte nach Russland liefern. Diese Betriebe be-kommen aufgrund der Krise nun zunehmend Absatz-schwierigkeiten. Daran wird sehr deutlich, dass unsereexportorientierte Wirtschaft mehr denn je auf ein friedli-ches Umfeld angewiesen ist und Sanktionen eben auchunsere eigene Wirtschaft treffen.
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4608 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 50. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2014
Thomas Jurk
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Deshalb müssen wir unsere Bemühungen, den Konfliktdurch Verhandlungen zu lösen, verstärkt fortsetzen, ganzim Sinne von Helmut Schmidt, der einst formulierte:„Lieber hundert Stunden umsonst verhandeln, als eineMinute schießen.“Wir alle sind uns sicherlich einig, dass der Bund mehrinvestieren, aber auch die Wirtschaft zu mehr Investitio-nen anregen muss. Entgegen der Kritik der Oppositionbietet der vorliegende Entwurf des Einzelplans des Bun-deswirtschaftsministeriums dafür eine gute Grundlage.Warum dies so ist, möchte ich an zwei nach meiner An-sicht positiven Entwicklungen in diesem Einzelplan ver-deutlichen.Zum einen handelt es sich um die zusätzlichen For-schungsmittel, die ab 2015 im Etat des Bundeswirt-schaftsministeriums zur Verfügung stehen. Bekanntlichhatte die Regierungskoalition vereinbart, in der laufen-den Wahlperiode bis 2017 zusätzlich 3 Milliarden Euroin Wissenschaft und Forschung zu investieren. Ein er-heblicher Teil dieser Mittel wird künftig im Etat desBundeswirtschaftsministeriums veranschlagt.Im kommenden Jahr sind das 52 Millionen Euro, die2016 auf 161 Millionen Euro und 2017 auf 310 Millio-nen Euro aufwachsen sollen. Insgesamt handelt es sichdamit also um 523 Millionen Euro, die bis 2017 imEinzelplan 09 zusätzlich für Forschung und Innovationverwendet werden können. Ich finde, dies ist vor demHintergrund, dass gleichzeitig erstmals seit 1969 einausgeglichener Bundeshaushalt vorgelegt wird, eine be-achtliche Leistung.
Auch ich freue mich natürlich über die Aufstockungder Mittel beim Zentralen Innovationsprogramm Mittel-stand, kurz ZIM. Wie schon meine Vorredner erwähnthaben, steigt das Programmvolumen auf mittlerweile543,5 Millionen Euro. Was nicht erwähnt wurde und wasich deswegen hinzufügen will, ist, dass wir wiederum imlaufenden Jahr 15 Millionen Euro Verstärkungsmittelzur Verfügung stellen, die nach Bedarf abgerufen wer-den können.Die zweite positive Entwicklung in diesem Einzel-plan – sie wurde von meinem FraktionskollegenWolfgang Tiefensee ebenfalls bereits erwähnt – ist dieAufstockung der Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe„Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“, kurz:GRW. Der Titelansatz für die GRW wurde gegenüberdem Haushalt 2014 um 17 Millionen Euro auf nunmehr600 Millionen Euro angehoben. Gegenüber der bisheri-gen Finanzplanung der Vorgängerregierung sind es da-mit übrigens sogar 31 Millionen Euro mehr. Damit wirddie im Koalitionsvertrag vereinbarte Anhebung derMittel für die GRW nunmehr schrittweise umgesetzt.Ich begrüße diese Aufstockung der Mittel für die GRWausdrücklich; denn gerade stärkere Investitionen in denstrukturschwachen Regionen sind in Deutschland nachwie vor dringend notwendig. Allein im Zeitraum 2011bis 2013 konnten durch den Einsatz öffentlicher Gelderin Höhe von 3,5 Milliarden Euro Investitionen in Höhevon 20 Milliarden Euro ausgelöst werden.Hervorheben möchte ich außerdem, dass das Bundes-wirtschaftsministerium derzeit mit den Ländern im Ge-spräch darüber ist, wie deren Kofinanzierung besser si-chergestellt werden kann. Die Bundesregierung stellthier also zusätzliche Mittel nicht nur ins Schaufenster,sondern sie kümmert sich auch um den Mittelabfluss.Da ich gerade dabei bin, zu loben, möchte ich kurzdas Thema Personal ansprechen. Gerade als Sozialde-mokrat finde ich es richtig, dass das Wirtschaftsministe-rium viele aus dem Umweltministerium übernommeneEnergieexperten jetzt endlich fest anstellt und damit de-ren befristete Beschäftigungsverhältnisse beendet.
So wird diesen Beschäftigten eine berufliche Perspektivegegeben, und gleichzeitig wird wichtiges Know-how fürdas Gelingen der Energiewende gesichert.Damit komme ich zur Gestaltung der Energiewende.Anfang Juli hat der Minister seine 10-Punkte-Energie-Agenda für diese Legislatur vorgestellt. Eine zentraleRolle nimmt dabei die Energieeffizienz ein. Diese wich-tige Rolle spiegelt sich auch im Haushalt wider; dennvon den zusätzlichen Forschungsmitteln fließt ein großerTeil in die Energieforschung, insbesondere in die Ener-gieeffizienzforschung. Für den Energiebereich hoffe ichauch auf die vom Minister in Aussicht gestellte Bewer-tung der einzelnen Programme. Mir ist bewusst, dass da-für auch Zeit erforderlich ist. Aber für unsere Arbeit imHaushaltsausschuss und im Parlament generell halte iches für wichtig, dass diese Ergebnisse alsbald vorgestelltwerden.Leider muss ich auch ein wenig Wasser in den Weingießen und wie schon bei den letzten Haushaltsberatun-gen die Finanzierung des Betreuungsgeldes ansprechen.Die Einsparung dafür beläuft sich im Einzelplan 09 desHaushaltes für das kommende Jahr auf knapp 63 Millio-nen Euro, und sie soll ab 2016 weiter steigen. Für denHaushaltsentwurf 2015 hatte dies zur Folge, dass an vie-len Stellen gekürzt werden musste. Insbesondere Kürzun-gen bei der Förderung von Innovationen konterkarierendoch den Aufwuchs durch die zusätzlichen Forschungs-mittel. Wir Haushälter werden uns in den kommendenBeratungen natürlich ganz genau anschauen, ob die Kür-zungen zur Finanzierung des Betreuungsgeldes im Ein-zelnen sachgerecht sind und wo gegebenenfalls eine an-dere Schwerpunktsetzung erfolgen muss.Für 2016 möchte ich an dieser Stelle dafür werben,den Einsparbetrag für das Betreuungsgeld nicht mehrüber eine Umlage auf die Einzelpläne der Ressorts zu fi-nanzieren. Dann könnten beispielsweise die Titelansätzefür Forschung und Innovation im Etat des Bundeswirt-schaftsministeriums weiter verstärkt werden. Wir allewissen: Forschung und Innovation sind die Grundlagenunseres Wirtschaftswachstums und deshalb von beson-derer Bedeutung.Ich freue mich auf die kommenden Beratungen imHaushaltsausschuss und auf sicherlich viele spannendeDiskussionen mit den Fachpolitikern.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 50. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2014 4609
Thomas Jurk
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Eva Bulling-
Schröter für die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Minister! Die weltweite Konzentration von CO2 hatim vergangenen Jahr so stark zugenommen wie seit30 Jahren nicht mehr. – Das titelten gestern die Zeitun-gen. Ich halte das für beängstigend. Wir haben da sehrviel Handlungsbedarf. Ich frage mich natürlich: Ist Kli-maschutz bei dieser Bundesregierung überhaupt einThema? Man hat den Eindruck: im Bundeswirtschafts-ministerium eher nicht, auch wenn in den Debatten zumEinzelplan 09, Wirtschaft und Energie, wieder einmalbehauptet wird, die Umsetzung der Energiewende sei ihrwichtigstes Vorhaben.Wenn das Bundesministerium für Wirtschaft undEnergie mit einem Haushaltsvolumen von 7 MilliardenEuro eine solche Behauptung aufstellt, dann sollte manmeinen, dies finde einen Niederschlag in Heller undPfennig bzw. Euro und Cent ebendieses Einzelplans.Aber weit gefehlt! Das Wirtschaftsministerium ist unterIhrer Führung, Herr Gabriel, ein klassisches Ministeriumzur Förderung der Großindustrie geblieben, wie es dasauch schon unter den Ministern Rösler, Brüderle, Glos,zu Guttenberg und selbstverständlich auch WolfgangClement war, die allesamt die Energiewende – diesenEindruck hatte man jedenfalls – bekämpft haben.Sie atmen den Geist Ihrer Vorgänger, einen Geist, derden Interessen der Kohleindustrie und der Großkonzerneinniglich verbunden ist. Sie pflegen die gleichen Routi-nen und Kontakte zu den Konzernen, weniger zu mittel-ständischen Unternehmen, die schon vor Jahren in dieErneuerbaren investiert haben und die jetzt als Folge derEEG-Reform wahrscheinlich – ich hoffe, wir können esnoch verhindern – zugrunde gehen werden. Ich fragemich: Wo ist der Ehrgeiz? Wir müssen das verhindern.
Wie paradox es bei der Energiewende zugeht, zeigtdie Tatsache, dass bei der Finanzierung der Energie-wende nur der geringere Teil aus dem Haushalt ge-stemmt wird. Der Löwenanteil wird aus dem Energie-und Klimafonds bestritten, den die Bundesregierung mitseinen 1,68 Milliarden Euro als das zentrale Finanzie-rungsinstrument für die Energiewende betitelt. Dabeihandelt es sich, wie wir wissen, gar nicht um einenHaushaltstitel, sondern um ein Sondervermögen, dassich hauptsächlich aus dem kraftlosen Patienten „Emis-sionshandel“ speist. Sie wissen auch, dass die Einnah-men aus dem Emissionshandel nicht vorhersehbar sindund dass mittlerweile regelmäßig aus dem Haushalt auf-gefüllt werden muss. Ich sage: Das ist ein Flickwerk.Jetzt wollen Sie einen dauerhaften Bundeszuschussetablieren. Wir halten das für richtig. Allerdings steht imGesetzentwurf, dass die Höhe des Bundeszuschusses ge-deckelt wird, und im Gesetz stehen Maximalbeträge.Was ist, wenn der CO2-Preis wieder stärker sinkt als pro-gnostiziert? Das kann ja sein; das war auch in der Ver-gangenheit mehrfach der Fall. Streichen wir dann denProgrammtitel, oder woher kommt das Geld dann? Es istleider Flickschusterei. Es geht um Geld, das wir drin-gend benötigen würden.Die Bundesregierung befreit sich damit nicht aus denEU-Fesseln. Ich kann nur noch einmal fragen: Wann be-mühen wir uns, die weiteren Zertifikate aus der Pipelinezu nehmen und stillzulegen? Sie wissen, das ist der ein-zige Weg im Sinne des Klimaschutzes: Der Preis steigt,um das Ganze klimarelevant werden zu lassen.
Dazu kommt noch: Von den 1,68 Milliarden Euro ausdem Energie- und Klimafonds entnehmen Sie gleich203 Millionen Euro, um der Aluminium-, der Leder-,aber auch der Papierindustrie und vielen anderen Ge-schenke zu machen.
„Strompreiskompensation“ nennt sich das. Es ist, mitVerlaub, völlig verkehrte Welt,
die Mittel für Klimaschutz und für die Energiewende fürdie Förderung der stromintensiven Industrie zu verwen-den. Noch ein Privileg der Industrie, das zu den vielenanderen Privilegien hinzukommt! Dieses Geld fehlt derEnergiewende.
Jetzt zum Thema Fracking. Herr Fuchs hat noch ein-mal dargestellt, dass er Fracking für sicher hält. In einemwegweisenden Interview im Sommer hat er sich fürGentechnik, für eine Verlängerung der AKW-Laufzeiten
und auch für Fracking ausgesprochen.
Jetzt sage ich Ihnen noch etwas: Der Exxon-Chef RexTillerson hat sich öffentlich dagegen ausgesprochen,dass auf seinem Grundstück gefrackt wird.
Er war sogar in der Stadtratssitzung, gemeinsam mit Ini-tiativen, und hat sich dagegen ausgesprochen. Wenn derExxon-Chef das schon selbst macht – das ist in den Me-
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4610 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 50. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2014
Eva Bulling-Schröter
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dien zu belegen –, dann frage ich Sie: Wie sicher ist dennFracking überhaupt?
Sie zitieren nur eine Studie.
Sie nehmen nicht wahr, dass die Bevölkerung Frackingnicht will, dass man Angst davor hat. Politik hat die Auf-gabe, die Bevölkerung vor Gefahren zu schützen: vorGefahren durch Gentechnik, vor atomaren Gefahren undvor Gefahren durch Fracking. Das sollten auch Sie ein-mal sehen. – Man kann natürlich immer eine Studie zi-tieren, die man selbst bezahlt hat; dazu sagt der Volks-mund etwas.
Für die CDU/CSU spricht als nächster Redner der
Kollege Karl Holmeier.
Sehr verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Ganz Europa schaut bewundernd auf Deutschland. Un-sere Wirtschaft ist unter der Regierungsverantwortungder Union und unserer Bundeskanzlerin Angela Merkelwieder zur schwarzen Lokomotive in Europa geworden.Die Wirtschaft verlangt nach Vertrauen. Dieses notwen-dige Verlangen der deutschen Wirtschaft haben wir vorallem während und nach der weltweiten Finanz- undWirtschaftskrise mit Inhalt und mit Rückhalt erfüllt.Deutschland steht heute im europäischen Vergleich her-vorragend da. Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht,meine sehr verehrten Damen und Herren.Ganz Europa blickt auf Deutschland. Deutschland istdie unumstrittene Lokomotive für Wachstum und Be-schäftigung. Den Aufschwung in Deutschland haben wirnicht mit Worten herbeigeredet. Es waren vielmehr um-fassende Anstrengungen auf allen Ebenen des Staatesund in der Wirtschaft, die die Weichen für die Wachs-tumslokomotive Deutschland gestellt haben. Die Zahlengeben uns Recht. Die wirtschaftlichen Aussichten inDeutschland sind weiterhin gut. Die Schätzungen erwar-ten in diesem Jahr ein Wachstum von etwa 1,8 Prozent.Auch die Prognose für 2015 ist hervorragend.Es wurde schon oft angesprochen: 42,7 MillionenMenschen sind in Deutschland erwerbstätig, ein Rekord-wert. Seit 2005 sind mehr als 3 Millionen Menschen inArbeit gekommen. Die Zahl der sozialversicherungs-pflichtig Beschäftigten ist auf über 30 Millionen gestie-gen, ein Plus von über 540 000 im Vergleich zum Vor-jahr.Meine sehr verehrten Damen und Herren, der euro-päische Durchschnitt bei der Jugendarbeitslosigkeit liegtbei 22,5 Prozent, mit Spitzenwerten in Spanien undGriechenland von über 50 Prozent. Deutschland – dasbescheinigt uns das europäische Amt für Statistik – hatmit 7,9 Prozent die geringste Jugendarbeitslosigkeit inganz Europa, ein großartiger Erfolg.
In meiner Region finden alle jungen Leute eine Lehr-stelle. Wir helfen auch, indem wir auch in diesem Jahrwieder zahlreiche Lehrstellen für junge Spanier und Spa-nierinnen anbieten. Das wird dankend angenommen.Der in Deutschland eingeschlagene Weg aus Wach-sen, Konsolidieren und Reformieren zeigt, dass er richtigist. Dieser Weg sollte Vorbild für ganz Europa sein.Mit dem vorliegenden Bundeshaushalt 2015 tragenwir dazu bei, diese guten Aussichten weiter zu verfesti-gen. Der klare Kurs der Haushaltskonsolidierung wirdsich in den nächsten Jahren fortsetzen. Der Haushalt2015 weist erstmals seit 45 Jahren wieder eine schwarzeNull auf. Der Erfolgsweg aus Wachsen und Konsolidie-ren wird fortgesetzt.Wir fördern den Mittelstand. Wir fördern Innovatio-nen und investieren weiter in Forschung und Entwick-lung. Wir unterstützen die Energiewende und setzen aufEnergieeffizienz. Wir erhöhen die Fördermittel für dieGemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalenWirtschaftsstruktur“ und werden sie, wie im Koalitions-vertrag vereinbart, weiter bedarfsgerecht steigen lassen.Deutschland, meine sehr verehrten Damen und Her-ren, ist ein Gründerland. Daher werden wir auch in Zu-kunft Unternehmensgründungen unterstützen, den inno-vativen Mittelstand fördern und die regionale Wirtschaftweiter stärken. Familienunternehmen, kleine und mittel-ständische Unternehmen sind die Stütze unserer Wirt-schaft. Unser gesunder Mittelstand hat bei der Finanz-und Wirtschaftskrise gezeigt, wie stark und zukunftsfester aufgestellt ist. Unsere gesunde mittelständische Wirt-schaft war und ist der Garant, dass Deutschland dieKrise schneller als andere Staaten bewältigt hat. Geradeder Mittelstand schafft Arbeitsplätze, vor allem Lehrstel-len, und erhält sie in Krisenzeiten. Die Vergangenheit hatdas ganz klar bewiesen.Die Bundesregierung unterstützt innovative Unter-nehmensgründungen im Jahr 2015 mit einer Gesamt-summe von 67 Millionen Euro. Dies sind wichtige Zu-kunftsinvestitionen in den Standort Deutschland. Fürden Ausbau der Forschungsinfrastruktur stellen wir demMittelstand rund 200 Millionen Euro zur Verfügung. Sosollen vorwettbewerbliche Forschungsaufgaben mit ho-hem Umsetzungspotenzial unterstützt werden.Wir fördern die deutsche Wirtschaft ressortübergrei-fend. Eine gesunde und intakte Infrastruktur ist derSchlüssel zum Erfolg eines jeden Unternehmens. Daherist es richtig und wichtig, dass wir den Breitbandausbauin Deutschland vorantreiben. Bis zum Jahr 2018 wollenwir bundesweit ein schnelles Internet mit einer Ge-schwindigkeit von 50 Megabit pro Sekunde etablieren,
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 50. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2014 4611
Karl Holmeier
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auch und vor allem im ländlichen Raum. Darüber hinausstellt die Bundesregierung bis 2017 zusätzlich 5 Milliar-den Euro zur Stärkung der Verkehrsinfrastruktur zur Ver-fügung. Ein schnelles Internet und eine gesunde Ver-kehrsinfrastruktur sind für unsere deutsche Wirtschaftvon großer Bedeutung. Indem wir beides ausbauen, stär-ken wir den Wirtschaftsstandort Deutschland.Wesentlicher Schwerpunkt der Förderung des Mittel-stands als Innovationsmotor ist auch in der Zukunft dasbislang sehr erfolgreiche, technologieoffene Zentrale In-vestitionsprogramm Mittelstand, ZIM. Aufgrund desgroßen Erfolges – es wurde bereits angesprochen – wer-den die Mittel 2015 um 30 Millionen auf insgesamt543 Millionen Euro steigen. Mit der Erhöhung der Mittelfür ZIM und der Förderung innovativer Unternehmens-gründungen sind die Weichen für künftiges Wachstumund künftige Beschäftigung somit richtig gestellt.Erhöht werden auch die Mittel für die Gemeinschafts-aufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruk-tur“, GRW, auf insgesamt knapp 600 Millionen Euro.Zusammen mit den Mitteln aus der Kofinanzierungdurch die Bundesländer stehen somit 1,2 MilliardenEuro für strukturschwache Regionen zur Verfügung. Vonden GRW-Mitteln profitieren in erster Linie die Grenzre-gionen. Ich möchte, weil meine Region betroffen ist, derBundesregierung an dieser Stelle einen herzlichen Dankdafür sagen, dass die ostbayerische Region an derGrenze zur Tschechischen Republik wieder Fördergebietgeworden ist. Dies ist wichtig und vor allem für diekünftige, gute Weiterentwicklung unserer ostbayerischenRegion von hoher Bedeutung.Meine sehr verehrten Damen und Herren, der heraus-ragende Stellenwert von Energie als Bestandteil einer in-takten und erfolgreichen Wirtschaft ist unbestritten. DieEnergiewende ist beschlossen, sie ist auf den Weg ge-bracht, und sie wird im Jahre 2022 sicherlich erfolgreichenden.
Wir haben ein neues EEG beschlossen, das die langfris-tige Bezahlbarkeit von Strom für Unternehmen und Ver-braucher sowie die Konkurrenzfähigkeit der deutschenWirtschaft gewährleistet. Die Energiewende ist ein rich-tiger und notwendiger Schritt auf dem Weg in eine In-dustriegesellschaft der Nachhaltigkeit. Mit der Energie-wende verfestigen wir den nachhaltigen Umwelt- undKlimaschutz. Wir machen uns damit auch unabhängigervon Energieimporten.Die Energiewende, meine Damen und Herren, sichertArbeitsplätze und Wertschöpfung in Deutschland, ge-rade im ländlichen Raum. Die Energiewende ist eine rie-sige Chance für den ländlichen Raum in Deutschland.Eine der Herausforderungen der Großen Koalition ist na-türlich auch, den engagierten Klimaschutz zum wirt-schaftlichen Fortschrittsmotor zu entwickeln und dabeiWohlstand und Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Wirwollen die Entwicklung zu einer Energieversorgungohne Atomenergie und mit stetig wachsendem Anteil er-neuerbarer Energien konsequent und planvoll fortführen.Wir müssen uns aber auch klar darüber sein, dass dieEnergiewende nicht von alleine kommt. Die Verabschie-dung des EEG 2014 war ein erster Schritt. WeitereSchritte müssen und werden folgen: Wir brauchen einneues Marktdesign, mehr Energieeffizienz, Speicherka-pazitäten und ein leistungsfähiges Stromnetz. In unserenHaushaltsplanungen wird daher den Projekten zur Ener-gieeffizienz und zur energetischen Gebäudesanierungein besonderer Stellenwert eingeräumt. Wir werden al-leine für die Forschung und Entwicklung in den Berei-chen der Energieeffizienz, der erneuerbaren Energienund der Sicherheitsforschung 324 Millionen Euro für2015 bereitstellen. Das Marktanreizprogramm zur För-derung von Anlagen zur Nutzung erneuerbarer Energienverfügt zusammen mit der Finanzierung des Betriebs derClearingstelle EEG über Mittel von insgesamt 255 Mil-lionen Euro.
Schwerpunkte des Marktanreizprogramms sind derWärmemarkt und die Energiegewinnung. Wir werdendie Energiewende auch in Zukunft mit dem Energie-und Klimafonds als zentralem Finanzierungsinstrumentunterstützen und voranbringen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit demvorliegenden generationengerechten Haushalt stellt dieBundesregierung unter Beweis, dass sie einen Zukunfts-plan hat. Wir planen und gestalten mit diesem Haushaltdie Zukunft unseres Landes. Wir stärken damit die wirt-schaftliche Entwicklung Deutschlands, nachhaltig undlangfristig. Diese Stärkung wird auf unsere Nachbarn inEuropa sicherlich abstrahlen. Auch sie werden von unse-rer Stärke in Deutschland profitieren. Deutschland istdamit ein starkes Herz im Zentrum Europas.Nach Jahren, in denen in Deutschland ohne Rücksichtauf nachfolgende Generationen aus dem Vollen ge-schöpft wurde, befinden wir uns heute im Zeitalter derkonsolidierten Staatsfinanzen. Wir schließen somit einenKreis zu Franz Josef Strauß, der 1969 den letzten schul-denfreien Haushalt in Deutschland vorlegen konnte. ImJahr 2015 legen wir wieder einen schuldenfreien Haus-halt in Deutschland vor. Das ist nach 45 Jahren ein Rie-senerfolg. Darauf können wir stolz sein, genauso wie aufunsere Wirtschaft, genauso wie auf unser Land.Herzlichen Dank.
Lieber Kollege Karl Holmeier, Sie haben heute nichtnur im Hohen Hause gesprochen, sondern Sie feiernheute auch Ihren 58. Geburtstag. Im Namen der Kolle-ginnen und Kollegen möchte ich Ihnen recht herzlichdazu gratulieren und für das neue Lebensjahr Glück, Ge-sundheit und Gottes Segen wünschen.
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4612 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 50. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2014
Vizepräsident Johannes Singhammer
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Julia Verlindenfür Bündnis 90/Die Grünen.
Ich gebe mir Mühe. – Sehr geehrter Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die letzten
Monate waren geprägt von erschreckenden Nachrichten
aus den Krisenregionen unserer Welt: Ukraine, Irak, Sy-
rien, Libyen, Nigeria – die Liste ließe sich lange fortset-
zen. Weltweit sind Menschen auf der Flucht und brau-
chen Hilfe – von uns, sofort.
Darüber hinaus müssen wir kritisch reflektieren, was
diese Konflikte für unsere Wirtschafts- und Energiepoli-
tik eigentlich bedeuten; denn neben all den schreckli-
chen Nachrichten über die humanitären Konsequenzen
dieser Auseinandersetzungen wird auch unsere Abhän-
gigkeit von Energieimporten deutlich. Etwa die Hälfte
unserer Energierohstoffe importieren wir aus Krisen-
regionen. Diese Abhängigkeit kann außenpolitisch
extrem problematisch sein. Und es gibt Menschen, die
sich Sorgen machen, dass die verabredeten Energieliefe-
rungen womöglich nicht zuverlässig kommen. Manche
sagen: Dann müssen wir uns die Energie halt woanders
herholen. – In diesem Zusammenhang wird der Begriff
der sogenannten heimischen Energiequellen gerne ver-
wendet. Jedoch: Den Menschen einzureden, wir seien
langfristig auf fossile Energieträger angewiesen, das ist
einfach falsch. Sie von der Koalition wollen eine Stein-
zeitenergiepolitik mit dreckiger Kohle und mit Fracking
durchsetzen.
Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
Es soll bei Ihnen einige geben, die meinen, es sei eine
gute Idee, Chemikalien unter hohem Druck in die Erde
zu pressen, um auch noch das letzte bisschen Erdgas aus
dem Boden zu fracken. Aber ich sage Ihnen: Ein viel
besserer und dauerhafterer Weg aus der Abhängigkeit
von Energieimporten ist es, weniger Energie zu benöti-
gen. Die Energieeffizienz, das Einsparen von Energie,
das ist die eigentliche heimische Energiequelle.
Frau Kollegin Verlinden, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Mattfeldt?
Gerne.
Ich habe ein bisschen den Eindruck, Sie sind nicht
ganz so gut informiert, was die Erdgasförderung insge-
samt und insbesondere in Niedersachsen anbelangt.
Ich würde wirklich gerne einmal wissen, wie Sie dazu
stehen, dass der grüne Umweltminister Herr Wenzel es
toleriert, dass giftige Frackingfluide, dass Lagerstätten-
wasser sogar in Trinkwasserschutzgebieten verpresst
werden dürfen.
Wenn man im Glashaus sitzt, sollte man nicht mit Stei-
nen werfen. Vielleicht können Sie mir einmal erläutern,
warum das von einem grünen Umweltminister nicht zu-
rückgenommen wird. Diese Kritik müssen Sie sich ge-
fallen lassen.
Herr Mattfeldt, ich bin darüber informiert, dass Sieein Skeptiker der Frackingtechnologie sind. Da sind wireiner Meinung.
– Ja, genau. Es geht um das Handeln. – Deswegen warteich seit einiger Zeit darauf, dass die Bundesregierungendlich einen Vorschlag für eine Änderung des Bundes-bergrechts vorlegt;
denn nur so können wir rechtssicher die Frackingtechno-logie verhindern.
Wir brauchen mehr als nur eine Änderung des Was-serhaushaltsgesetzes.
Wir brauchen mehr als nur eine Änderung der Umwelt-verträglichkeitsprüfung für Bergbau. Wir brauchen klareAnweisungen aus Richtung der Bundesregierung. Wirals Bundesländer können die Missstände, die auf Bun-desebene existieren, nicht ausmerzen.
Wir können das Thema aber gerne einmal bei einemKaffee vertiefen, Herr Mattfeldt.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 50. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2014 4613
Dr. Julia Verlinden
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Sie alle reden immer von Energieeffizienz, aber ichglaube, Sie haben es noch nicht verstanden
als echte Strategie der Energie-, Wirtschafts- und Außen-politik. Sie alle sprechen immer in Ihren Reden davon,aber es passiert nichts. Energieeffizienz nützt nicht nurdem Klima, sondern schont auch unsere Kassen. Derzeitgeben wir 100 Milliarden Euro für den Import vonErdöl, Erdgas und Kohle aus, und zwar jedes Jahr. DieseAusgaben zu senken, sollte doch auch in Ihrem Interessesein.Mehr als 35 Prozent unseres Erdgases kommt ausRussland. Dieses Gas benötigen wir in erster Linie zumHeizen des Fraunhofer-Instituts IWES. Eine Studie hatjüngst gezeigt, dass wir durch eine schnellere energeti-sche Sanierung unserer Häuser und durch einen raschenAusbau der erneuerbaren Energien diese Erdgasimportebis 2030 komplett überflüssig machen können. Dafürmüssen wir aber jetzt mit dem Energiesparen anfangen.Das heißt, wir brauchen eine spürbare Erhöhung derKfW-Mittel für energetische Sanierung. Dies ist im au-genblicklichen Entwurf des Haushalts leider nicht vorge-sehen. Aber nicht nur das: Wir brauchen auch einenEnergiesparfonds, mit dem wir Effizienzpolitik undEnergieeinsparungen umfassend, sozial gerecht und wir-kungsvoll finanzieren. Das wäre der richtige Weg, umhier endlich voranzukommen.
Seit der Bundestagswahl ist nun fast ein Jahr vergan-gen. In den Wahlprogrammen aller im Bundestag vertre-tenen Parteien finden sich, wie gesagt, diese rhetorischstarken Bekenntnisse zur Energieeffizienz. Aber es gehtums Handeln. Das haben Sie ja eben sehr richtig ange-merkt. Selbst im Wahlprogramm der FDP stand etwaszum Thema Energieeffizienz. Aber was ist in diesem Be-reich seit einem Jahr passiert? So gut wie gar nichts.
Diesmal können Sie nicht der FDP die Schuld dafür ge-ben.
– Nein, gehen sie nicht.
Der vorliegende Haushaltsentwurf steht nicht fürgroße Sprünge bei der Energieeffizienz im nächsten Jahr,schlimmer noch, es geht schrittchenweise zurück mit derEnergiewende. Es geht zurück, Herr Jurk. So wollen Siezum Beispiel die Mittel für das eben angesprochene er-folgreiche Marktanreizprogramm für erneuerbare Ener-gien im Wärmebereich um 12 Millionen Euro kürzen.Wie passt das bitte schön mit der Energiewende zusam-men?
Zur Erinnerung, Herr Gabriel: Auch diese Legislatur-periode dauert nur vier Jahre. Das erste Jahr ist um. Eswird langsam Zeit, dass Sie in die Hufe kommen. Wirbrauchen eine Energieeinsparpolitik, die sich auch imBundeshaushalt ganz klar niederschlägt, und zwar jetzt,sofort.
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Mark
Hauptmann.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kollegen!Deutschland geht es gut und sorgt dafür, dass das sobleibt. – So könnte die Überschrift in den Zeitungen lau-ten, nachdem wir in dieser Woche über den Haushalt de-battiert haben. Denn dieses Jahr haben wir mit demHaushalt einen großartigen Erfolg erzielt. Zum erstenMal seit 1969 liegt für 2015 ein Haushaltsentwurf vor,der ohne Neuverschuldung auskommt. Dies zieht sich inder Finanzplanung bis 2018 so weiter. Dem Schulden-machen auf Kosten kommender Generationen wird hier-mit ein Riegel vorgeschoben. Die schwarze Null ist da-her auch eine historische Leistung im Sinne derGenerationengerechtigkeit, auf die wir zu Recht stolzsein können.
Sehr geehrter Herr Kollege Ernst, diesen Erfolg ge-rade im Hinblick auf die Generationengerechtigkeit wol-len wir uns von Ihnen und von Ihren Kollegen, die per-manent nach Steuererhöhungen und Umverteilungschreien, nicht zerreden lassen. Wir haben hier quasi ei-nen zukunftsweisenden Erfolg erzielt.Der stabile Bundeshaushalt ist aber aktuell auch aufdie gute Beschäftigungssituation zurückzuführen, diewir vor allem unseren mittelständischen Unternehmenzu verdanken haben. Die Kernaufgabe der deutschenWirtschaftspolitik muss daher die Impulsgebung für mit-telständische Aktivitäten sowie die gezielte Förderunginnovativer Technologien sein. Wir brauchen Mittel-stand, wir brauchen Investitionen, und wir brauchenTechnologien für eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik.Kommen wir zum ersten Punkt, zum Mittelstand. DerMittelstand ist bei uns in Deutschland Innovationsmotorund das Fundament unseres deutschen Wohlstands. Über1 500 deutsche Unternehmen sind Weltmarktführer inihren jeweiligen Marktsegmenten. Das Bundeswirt-schaftsministerium hat festgestellt, dass neun von zehnSpitzenunternehmen Mittelständler sind. Der BereichMittelstandspolitik hat im Einzelplan dieses Haushalts-entwurfes ein Volumen von 875 Millionen Euro. Dergrößte Teil entfällt dabei auf die Investitionsförderung instrukturschwachen Regionen.Die Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe „Verbesse-rung der regionalen Wirtschaftsstruktur“, GRW, hat imHaushalt 2015 eine Aufwertung um 17 Millionen Euro
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Mark Hauptmann
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auf 600 Millionen Euro erfahren. Gerade ostdeutscheBundesländer haben in den vergangenen Jahren von die-ser Förderung profitiert, beispielsweise durch Fördermit-tel für die Erschließung des Breitbandausbaus. Diestrukturschwächeren ländlichen Räume haben hier be-sonders mit den kleinen und mittelständischen Unterneh-men eine Infrastruktur vorzuweisen, die wir nachhaltigstärken sollten. Die Erhöhung der GRW-Mittel ent-spricht daher exakt der Zielsetzung unserer Wirtschafts-politik, allen Regionen einen marktorientierten Struktur-wandel mit verlässlichen Rahmenbedingungen zuermöglichen und positive Wachstumskräfte freizusetzen.
Zweitens: zum Bereich der Innovationen. Ein innova-tiver Mittelstand ist für die Wettbewerbsfähigkeit derdeutschen Wirtschaft entscheidend. Aufgrund ihrer Spe-zialisierung und unmittelbaren Kundennähe tragen ge-rade die mittelständischen Unternehmen mit vielen Ent-wicklungen zu innovativen Produkten bei. Kleine, aberhochinnovative Familienbetriebe stärken als HiddenChampions das Qualitätssiegel „Made in Germany“.Ziel einer erfolgreichen Mittelstandspolitik muss alsosein, entsprechende Rahmenbedingungen für unterneh-merisches Handeln zu schaffen, um Gründung, Wachs-tum, Innovationen und Investitionen zu erleichtern. DieErhöhung der Förderung des Kapitels zu Innovationenund Technologie im Haushaltsentwurf um 39 Millio-nen Euro auf über 2,38 Milliarden Euro ist hierbei einklarer Schritt in die richtige Richtung.Es wurde bereits angesprochen: Unser deutschesLeuchtturmprojekt zur Unterstützung von anwendungs-orientierter technologieoffener Forschung ist dasZentrale Innovationsprogramm Mittelstand. Auch hierhaben wir dafür gesorgt, dass mit der Erhöhung derZIM-Mittel um 30 Millionen Euro auf rund 543 Millio-nen Euro ein Schritt in die richtige Richtung gemachtwird. Mit der Unterstützung von ZIM können Unterneh-men und kooperierende Forschungseinrichtungen Zu-schüsse für anspruchsvolle Forschungs- und Entwick-lungsprojekte erhalten und so auch innovative Ideen inganz Deutschland umsetzen.Es ist zu begrüßen, dass die neuen Länder mit einemAnteil von 40 Prozent besonders von diesen Forschungs-unterstützungsleistungen profitieren. Warum ist das so?Während im Süden und im Westen der Republik diegroßen Unternehmen Forschungs- und Entwicklungs-aufgaben übernehmen, findet diese Innovationsleistungin Ostdeutschland – Herr Claus, Sie haben das angespro-chen – gerade bei den kleinen und mittelständischenUnternehmen statt. Die Bezeichnung des Mittelstandesals „Brutkasten“ für innovative Ideen und Entwicklun-gen ist daher gerade für die neuen Bundesländer inbesonderem Maße zutreffend. ZIM kann diese Lückefüllen und kleine und mittlere Betriebe entscheidendstärken.
Neben den vielen Chancen gibt es natürlich auchzahlreiche Herausforderungen. Wir alle wissen, dass derdemografische Wandel uns alle betrifft. Wir müssenauch Antworten im Hinblick auf den ländlichen Raumund den demografischen Wandel dort finden. Meine Hei-mat, der Freistaat Thüringen, ist hier bereits einen Schrittweiter als wir im Bund.Seit dem 1. September dieses Jahres werden Familienin Thüringen mit einem Sanierungsbonus von mindes-tens 12 000 Euro unterstützt, wenn sie bestehendeGebäude energetisch und barrierearm umgestalten undmindestens 50 000 Euro investieren. Insgesamt inves-tiert der Freistaat Thüringen 25 Millionen Euro in diesesProjekt.Wenn wir dies flächendeckend in ganz Deutschlandhaben wollen, dann brauchen wir diesen Sanierungs-bonus auch mit der Unterstützung des Bundes. In denKoalitionsvertrag hat der Sanierungsbonus schonEingang gefunden; nun müssen wir ihn auch mit Lebenerfüllen.Drittens: der Bereich der Technologie. Von der Inno-vationsfähigkeit unserer mittelständischen Betriebe ist esnicht weit zur Technologiepolitik. Die große Stärke un-seres Landes liegt darin, dass wir gerade hier wollen,dass der Erhalt der Technologie und die Erschließungneuer Märkte weiter gefördert werden.Von daher, sehr geehrter Herr Minister, gestatten Siemir eine kurze Anmerkung. Wir alle wollen Hochtech-nologie in diesem Land halten. Von daher verstehen wirin der Union teilweise nicht die Frage, dass wir auf derGrundlage der zu rot-grünen Zeiten festgelegten Export-richtlinien im Bereich der Verteidigung weitere Ein-schränkungen vornehmen wollen und eben einen Abbaudieser Technologie zumindest billigend in Kauf nehmen.Von daher bitte ich Sie – das sollte auch noch einmalzusammen mit uns überlegt werden –, dass wir diesenBereich gerade dort, wo Dual-Use-Güter hergestellt wer-den, wo also zivile als auch sicherheitsrelevante Güterhergestellt werden, besonders berücksichtigen. Sie allekennen diese Spill-Over-Effekte, die im Bereich der si-cherheitsrelevanten Forschung auch auf die zivile Nut-zung entstehen. Denken Sie an das GPS, an die Sensorik,die Optik, die IT-Sicherheit, die Oberflächentechnik, dieMechatronik und, und, und.Wir alle wollen, dass diese Bereiche auch in Zukunfterfolgreich hier in Deutschland bleiben können und hierfür Arbeitsplätze und für die Hochtechnologie in diesemLand sorgen.Von daher bitte ich Sie, dass wir noch einmal darübernachdenken, wie wir es schaffen können, Hochtechnolo-gie in diesem Bereich auch in Zukunft in diesem Landerfolgreich zu erhalten, und wie wir hier dafür sorgen,dass wir auch beim Haushaltsentwurf 2016 sagen kön-nen: Deutschland geht es gut, und wir sorgen auch in Zu-kunft dafür, dass dies so bleibt.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege JanMetzler, CDU/CSU.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren! Ein ausgeglichenerBundeshaushalt: ein Ziel, an dem Generationen vonPolitikerinnen und Politikern gearbeitet haben. Seit Jah-ren wird daran beharrlich gefeilt, oft gegen Widerständeund – das ist heute in der Debatte gewissermaßen auchnoch einmal als „Restreminiszenz“ deutlich geworden –auch mit Rückschlägen, aber immer das Langfristzielvor Augen.Ein großer Dank geht dabei zuallererst an unserenBundesfinanzminister Wolfgang Schäuble, liebe Kolle-ginnen und Kollegen.Der erste ausgeglichene Bundeshaushalt seit 45 Jah-ren – das ist für mich ein klares Bekenntnis zur Genera-tionengerechtigkeit.
Ein Paradigmenwechsel weg von einer Politik desSchuldenmachens ohne Steuererhöhungen eröffnetDeutschland neue Chancen und Perspektiven.Was heißt das konkret? Die Zinsen sind mit rund9 Prozent der drittgrößte Posten im Bundeshaushalt. Jeweniger Zinsbelastung, desto mehr Gestaltungsspiel-raum für unser Land. Das wird sich auch schon imkommenden Jahr zeigen, liebe Kolleginnen und Kolle-gen. Die Zinsausgaben sinken dann um beinahe 650 Mil-lionen Euro. Das ist beachtlich. Das festigt das Vertrauenin die deutsche Finanz- und Haushaltspolitik sowohl imInland als auch im Ausland.Maßgebliche Treiber der positiven Haushaltsentwick-lung sind ohne Frage die starke Wirtschaft mit einemleistungsfähigen Mittelstand und der daraus resultie-rende solide Arbeitsmarkt.
Gerade dieser Tage erlebt die deutsche Industrie erneuteinen Exportrekord. Darauf können wir stolz sein.Deshalb müssen wir jetzt die finanziellen Spielräumenutzen und die richtigen Impulse setzen, um Deutsch-land auch in Zukunft fit zu halten. Natürlich gilt: Dieweltwirtschaftliche Entwicklung hat ebenfalls einenmaßgeblichen Einfluss auf unser Land und darauf, wiewir gemeinsam den bestmöglichen wirtschaftspoliti-schen Rahmen für Deutschland gestalten können. Jetztgilt es, unsere entschlossene und unaufgeregte Politikfortzusetzen. Finanzminister Wolfgang Schäuble hat dasgestern betont, und, liebe Kolleginnen und Kollegen, erhat recht damit.Wie packen wir das an?Erstens. Wir werden auch weiterhin gezielt in die Inf-rastruktur als Fundament der deutschen Wirtschaft in-vestieren.Zweitens. Die gerade erst von der Bundesregierungverabschiedete Digitale Agenda ist Dreh- und Angel-punkt der Hightech-Strategie für die kommenden Jahre.Sie wird die Innovationskraft in Deutschland weiter vo-ranbringen.Drittens. Wir werden auch weiterhin beständig in Bil-dung, Wissenschaft und Forschung investieren und hiervor allem in die Vernetzung mit der Wirtschaft.Viertens – und damit abschließend –: Wir setzen ei-nen wirtschaftspolitischen Rahmen, der solide Wachs-tumsimpulse schafft und Innovation als Schlüssel dazuidentifiziert.Das ist der richtige Weg, liebe Kolleginnen und Kol-legen, weil wir ein Land der Forscher und der kreativenKöpfe sind. Also müssen wir den WirtschaftsstandortDeutschland auch verlässlich und darüber hinaus beson-ders attraktiv als Nährboden für Innovationen gestaltenund erhalten. Wir werden mehr Anreize als bisher fürNeugründungen und Innovationen schaffen. Neue Ideenaus Wissenschaft und Forschung sollen erfolgreich inDeutschland zum Produkt oder zur Dienstleistung wer-den. Unternehmen müssen auch weiterhin bei uns inves-tieren, produzieren und ansässig sein wollen, egal ob essich dabei um einen kleinen Betrieb, einen Mittelständ-ler oder einen Konzern handelt. Nur so kann es uns auchweiterhin gelingen, Vorreiter auf den Märkten von mor-gen zu sein.Was wir ebenfalls tun müssen: Wir müssen insgesamtmutiger werden. Wir müssen Unternehmer in ihrem Tunbestärken und den Gründergeist fördern.
Auch unternehmerisches Scheitern kann dazugehören.Aber gerade hiermit tun wir uns in unserer Gesellschaftimmer noch schwer. Das müssen wir lernen, um den Mutzum Risiko nicht zu verlieren und Menschen in ihremBestreben nicht zu bremsen, sondern sie zu stärken.Hier setzt der Haushaltsplan des Bundesministeriumsfür Wirtschaft und Energie an:Beispiel eins. Mit dem Förderprogramm EXIST solleine Kultur der unternehmerischen Selbstständigkeit anHochschulen und Forschungseinrichtungen etabliert undsomit die Zahl der Unternehmensneugründungen erhöhtwerden.Beispiel zwei. Das Programm INVEST zielt darüberhinaus auf eine Stärkung des Wagniskapitalmarktes inDeutschland ab.Beispiel drei. Der entscheidende Impulsgeber ist dasZentrale Innovationsprogramm Mittelstand mit einemVolumen von mehr als 540 Millionen Euro. Der Wissens-transfer zwischen Forschung und Mittelstand wird hiergefördert und Innovation so beschleunigt.Das sind passgenaue Programme, meine sehr geehr-ten Damen und Herren. Insgesamt werden Innovation,Gründergeist und Wissenstransfer in der deutschen Wirt-schaft mit fast 850 Millionen Euro gefördert, mehr als10 Prozent des gesamten Wirtschaftsetats. Das ist rich-tungsweisend, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Jan Metzler
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Ein weiterer wichtiger Punkt ist die regionale Wirt-schaftspolitik, der strukturpolitische Eckpfeiler der sozia-len Marktwirtschaft. Mit der GRW, der Gemeinschaftsauf-gabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“,werden wir die schwächeren Regionen in Deutschlandweiter fördern und voranbringen. Die GRW ist ein Er-folgsmodell seit 1969. So können beispielsweise durchdie Förderung von Unternehmen, Industrie- und Gewer-begeländen oder der touristischen Infrastruktur wettbe-werbsfähige Arbeitsplätze geschaffen und nachhaltig ge-sichert werden. Wir müssen auch künftig schwächerenRegionen in Deutschland unter die Arme greifen; denndie Unterschiede zwischen ländlichen Regionen undstrukturstarken Ballungszentren werden durch den de-mografischen Wandel und den Fachkräftemangel weiterzunehmen. Dieser Entwicklung werden wir uns stellen.Darum ist es wichtig, dass für dieses zentrale und be-währte Instrument ab dem nächsten Jahr mehr Mittel,nämlich insgesamt rund 600 Millionen Euro jährlich, zurVerfügung gestellt werden.Förderung von Innovation, eine verlässliche Infra-struktur und Vertrauen in unsere Haushalts- und Finanz-politik sind die Rahmenbedingungen, die wir als Politiksetzen können und müssen, um der Wirtschaft ein lang-fristiges und nachhaltiges Wachstum zu ermöglichen.Die Menschen vertrauen auf eine verlässliche Finanz-und Wirtschaftspolitik in unserem Land. Ein ausgegli-chener Haushalt ohne Neuverschuldung das erste Malseit 1969 ist dabei ein starkes und das richtige Signal.
Dies ist kein einmaliges Ziel für ein Jahr, eine Regie-rung, eine Koalition oder eine Legislaturperiode. Nein,es muss vielmehr ein gesamtpolitischer Anspruch an unsalle sein, um den bisher eingeschlagenen Weg in die Zu-kunft erfolgreich fortsetzen zu können. Der erste ausge-glichene Bundeshaushalt seit 45 Jahren ist für mich– das möchte ich klar unterstreichen – ein klares Be-kenntnis zur Generationengerechtigkeit.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der
Kollege Andreas Mattfeldt, CDU/CSU.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Fast zwei Stunden nähern sich demEnde, und wir kommen jetzt endlich zum Schluss derDebatte. Ich denke auch, es ist schon fast alles gesagtworden, nur noch nicht mit meinen Worten.Ich darf Ihnen zur Haushaltspolitik sagen: Gerade beider derzeitigen weltpolitischen Lage ist es natürlich sehrschwierig gewesen, einen Haushalt in dieser Dimensionaufzustellen. Zu Recht haben derzeit viele Menschen inDeutschland Angst, und ich hoffe inständig, dass sichdie vereinbarte Waffenruhe in der Ukraine zu einemtragfähigen Frieden entwickeln wird.
Natürlich kann oder wird sich die derzeitige fragileSituation auch auf die wirtschaftliche Lage bei uns inDeutschland auswirken. Noch kann niemand abschätzen,wie sich die Wirtschaftsdaten zukünftig entwickeln. Ge-rade deshalb ist es wichtig, dass wir den erfolgreichenWeg mit den in diesem Haushalt gesetzten Schwerpunk-ten fortsetzen und weiterhin eine mittelstandsfreundlicheFörderpolitik hin zu noch mehr Innovation und For-schung umsetzen, damit Arbeitsplätze erhalten, neue Ar-beitsplätze geschaffen und – das stellen wir in diesen Ta-gen fest – sowohl Unternehmer als vor allem auchArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von einer stabilenWirtschaft profitieren werden.
Der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine unddie immer stärker werdende Bedrohung durch die soge-nannte IS-Terrortruppe im arabischen Raum verlangendieser Koalition wichtige Entscheidungen ab, die sich– das darf ich auch in Bezug auf den Beschluss in derletzten Woche einfach einmal sagen – niemand leichtmacht. Deshalb hat Deutschland in der vergangenen Wo-che richtigerweise Hilfs-, aber auch Waffenlieferungenin die Krisenregion des Irak auf den Weg gebracht. Weileben etwas anderes anklang, stelle ich hier zudem fest:Auch die Sanktionen gegenüber Russland sind richtig.Mit Blick auf den Verkauf des ErdgasförderbetriebesRWE Dea an einen russischen Oligarchen sage ich, dasssie meiner Auffassung nach sogar noch schärfer hättenausfallen können.Das Verhalten der russischen Seite gegenüber derUkraine darf eben nicht sehenden Auges still hingenom-men werden – auch nicht, wenn, wie in diesem Fall, eingroßes Geschäft eines deutschen Rüstungskonzerns ge-stoppt werden muss.
Freiheit gibt es eben nicht kostenlos.Herr Minister, Sie wissen, dass wir beide uns nichtnur persönlich sehr nahe sind,
sondern uns auch in vielen Dingen auf einer Linie befin-den. Allerdings – und das darf in einer Koalition auchangesprochen werden – haben viele Kollegen in derCDU/CSU-Fraktion große Probleme mit der neuen Rüs-tungsexportlinie Ihres Hauses. Es kann nicht nachvollzo-gen werden, warum schusssichere Westen, die Ende Maivon der Ukraine angefordert wurden und die nun wirk-lich nicht im Verdacht stehen, als Waffen eingesetzt wer-den zu können, die Ukraine bis heute nicht erreicht ha-ben.Viele in unserer Fraktion haben die Sorge, dass einganzer Wirtschaftszweig in große wirtschaftliche Schwie-
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Andreas Mattfeldt
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rigkeiten gerät, und ich habe den Eindruck, dass sichNachbarländer darüber freuen, dass die Rüstungsexport-richtlinien von uns zu streng ausgelegt werden. Dabeigeht es eben nicht nur um zahlreiche Arbeitsplätze, son-dern auch um Know-how und die Erhaltung unserer Ver-teidigungsfähigkeit durch die Weiterentwicklung vonTechnologien. Ich bin der festen Überzeugung, dass wirall dies nicht leichtfertig aufs Spiel setzen dürfen.
Kommen wir zum Kernthema, über das wir heute spre-chen, zurück: zum Haushaltsentwurf des Bundeswirt-schaftsministeriums für 2015. Das Gesamtvolumen istum rund 300 Millionen Euro auf gut 7,1 Milliarden Eurogesunken, liegt damit aber immer noch 1,1 MilliardenEuro über dem Ansatz des Finanzplans. Das liegt natür-lich an der Tatsache, dass die Zuständigkeit für die Ener-giepolitik in dieser Legislaturperiode in Ihr Wirtschafts-ressort übertragen wurde. Doch neben der Energiepolitikfällt auch ein weiterer wichtiger Schwerpunkt in die Zu-ständigkeit des Wirtschaftsministeriums, nämlich dieLuft- und Raumfahrtindustrie, die richtigerweise ausdiesem Haushalt mit 1,4 Milliarden Euro gefördert wird.Ende dieses Jahres stellt sich beim EU-Ministerrat dieFrage, ob wir Europäer weiterhin einen eigenständigenZugang zum All haben wollen oder ob wir hierauf ver-zichten wollen. Ich bin hinsichtlich eines Verzichts skep-tisch; denn erst kürzlich durften wir erleben, was esheißt, wenn wir uns beim Transport ins All von anderenNationen abhängig machen. Wir haben kräftig Lehrgeldgezahlt: Wir haben zwei teure Galileo-Satelliten mit ei-ner russischen Sojus-Rakete ins All befördern lassen.Leider wurden die Satelliten in einer falschen Umlauf-bahn ausgesetzt und konnten nicht mehr gerettet werden.Deshalb ist klar: Deutschland darf seine Aktivitäten un-ter dem Dach der ESA nicht einschränken, und wirEuropäer benötigen weiterhin einen eigenständigen Zu-gang zum All.
Unser technisches Wissen in diesem Bereich darfnicht verloren gehen. Ich bin überzeugt, dass es richtigist, dass deutsche Firmen auch zukünftig bei der Weiter-entwicklung und beim Bau der Ariane federführend tätigsind. Wir müssen das Wissen und das Können unsererIngenieure nutzen, und wir müssen es gewinnbringendeinsetzen. Deshalb ist es richtig, dass wir uns mit demProjekt Galileo im Bereich der Navigation als Europäerunabhängig machen.Eingehen möchte ich, weil es noch nicht angespro-chen worden ist, auf den Tourismus. Die Welt ist nichtnur durch unser fußballerisches Können auf uns auf-merksam geworden, sondern sie interessiert sich auch– manch einen auf der linken Seite des Hauses mag daswundern – für unser Land. Viele Menschen im Auslandwollen nach Deutschland. Sie wollen bei uns Urlaub ma-chen, sie wollen sich unsere Städte ansehen, unsere Kul-tur erleben und deutsche Lebensart schnuppern.Deutschland ist in! Davon profitiert auch unsereVolkswirtschaft.
In den vergangenen Jahren betrugen die Einnahmen ausdem internationalen Reiseverkehr um die 30 MilliardenEuro. Um sich das einfach einmal auf der Zunge zerge-hen zu lassen: Wir reden von über 2,9 Millionen Be-schäftigten allein in der Hotel- und Gastronomiebranche.
Damit sich dieser Erfolg fortsetzt und wir das auchdurch den Gewinn des Weltmeistertitels erreichte Inte-resse an Deutschland als Urlaubsziel erhalten und weiterausbauen können, brauchen wir die Arbeit der Deut-schen Zentrale für Tourismus. Jeder hier investierte Eurolohnt sich. Die Deutsche Zentrale für Tourismus wirbtim Ausland für unsere schöne Heimat. Ich kann mir so-gar vorstellen, dass wir in den kommenden Beratungenmehr Mittel dafür einsetzen.
Deutschland als rohstoffarmes Land kann natürlichnicht nur auf den Tourismus setzen. Das machen wirauch nicht. Deshalb haben wir im Koalitionsvertrag festverankert, 3 Milliarden Euro zusätzlich für die Forschungauszugeben, Geld, von dem das Wirtschaftsministeriummassiv profitiert.Eben ist schon das Zentrale InvestitionsprogrammMittelstand angesprochen worden. Das ist die tragendeSäule der Mittelstandsförderpolitik. Das Programm istäußerst erfolgreich: Der Mittelstand forscht erfolgreich,und er forscht im Gegensatz zu manch großem Unter-nehmen sehr effektiv. Deshalb ist es gut – ich habe dasbei den Haushaltsberatungen im vergangenen Jahr ange-kündigt –, dass wir dieses Programm mit 30 MillionenEuro zusätzlich ausstatten dürfen.Wichtig ist aber – das sage ich, weil man ja auch Kri-tik üben soll –, dass wir die Unternehmen auch nach er-folgreicher Produktentwicklung begleiten, damit Inno-vationen produziert und vermarktet werden können. Hiersehe ich noch Defizite, die wir ganz offen ansprechenmüssen. Wir sollten überlegen, ob wir nicht zum Bei-spiel den Titel für Beteiligungen an Auslandsmessen er-höhen, um kleinen Unternehmen den Zugang zu den fürsie wichtigen Märkten zu verschaffen, den sie sich al-leine nicht leisten können.Herr Minister, Ihr Haushaltsentwurf sieht, wie übri-gens auch in den vergangenen Jahren, vor, dass 40 Pro-zent der ZIM-Fördermittel – bei anderen Programmen istder Anteil noch höher – in die neuen Bundesländer flie-ßen sollen. Ich möchte hier wirklich keine Ost-West-Klischee-Schublade öffnen; aber es muss doch erlaubtsein, dass wir uns an Fakten orientieren. Ich sage: Es gibtprosperierende Regionen in Ost- und in Westdeutschland.Aber wir dürfen auch nicht die Augen davor verschließen,dass es genauso in Ost- und in Westdeutschland Regio-nen gibt, die eine Förderung brauchen.
Ich bin mir unserer besonderen Verantwortung gegen-über den neuen Ländern sehr wohl bewusst. Aber im
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Jahre 25 nach der deutschen Teilung muss man sich dochfragen, ob eine dauerhafte Bevorzugung der neuen Län-der durch Fördergelder in der derzeitigen dogmatischenArt noch zeitgemäß ist. Ich glaube, hierüber sollten undmüssen wir sprechen.
Meine Damen und Herren, wir haben heute einen sehrguten Haushaltsentwurf vor uns, und wir werden ihn si-cherlich in den anstehenden Haushaltsberatungen nochweiter verbessern. In diesem Sinne freue ich mich aufdie anstehenden Beratungen, und ich kann Sie, meineverehrten Kolleginnen und Kollegen von der Opposi-tion, nur erneut auffordern, hieran konstruktiv und vorallen Dingen ideologiefrei mitzuarbeiten.Herzlichen Dank.
Weitere Wortmeldungen zu diesem Einzelplan liegenmir nicht vor.Deshalb kommen wir jetzt zum nächsten Geschäfts-bereich, nämlich dem des Bundesministeriums derVerteidigung, Einzelplan 14.Ich warte noch ein bisschen, bis die Kolleginnen undKollegen, die zu diesem Einzelplan sprechen bzw. sichan der Diskussion beteiligen wollen, die Sitzplätze ein-genommen haben.Für die Bundesregierung erteile ich zuerst der Bun-desministerin Dr. Ursula von der Leyen das Wort.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin derVerteidigung:Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Wir diskutieren den Haushalt 2015 vor ei-ner Folie gravierender Veränderungen, die zurzeit inEuropa stattfinden – fast die gravierendsten seit Endedes Kalten Krieges. Es sind vor allen Dingen die beidenKonflikte in der Ukraine und im Irak, die ihre langenSchatten werfen.Zunächst einmal zur Ukraine: Wir erleben ein Vorge-hen Russlands – darüber haben wir heute schon viel ge-sprochen –, das nicht nur die Ukraine destabilisiert,sondern auch die Grundprinzipien der Sicherheitsarchi-tektur, die wir in den letzten 20, 30 Jahren aufgebaut ha-ben, infrage stellt.Vor allen Dingen erleben wir durch das russischeAgieren ein aktuelles Beispiel dessen, wofür inzwischender Begriff „hybride Kriegsführung“ eingeführt wordenist. Russland ergreift eine Mischung von Maßnahmen:verdeckte Operationen und offener Einsatz von Mitteln,Einsickern von Geheimdienstpersonal, Militärpersonalohne Hoheitsabzeichen, Desinformationen, sehr gezieltePropaganda, Schüren von sozialen Disparitäten oderSpannungen in einer bestimmten Region, massiver Auf-wuchs von Truppen in Grenzregionen, auch als psycho-logisches Druckmittel – und das Ganze zum Teil kombi-niert mit wirtschaftlichem Druck.Meine Damen und Herren, diesem Verhalten müssenGrenzen gesetzt werden. Wir haben uns beim NATO-Gipfel ausführlich damit auseinandergesetzt und mit Ge-schlossenheit und Entschlossenheit reagiert. Überwöl-bendes Ergebnis des NATO-Gipfels ist der ReadinessAction Plan.Wir werden uns von deutscher Seite aus erstens an derneuen Einsatztruppe, der sogenannten Speerspitze, beteili-gen, die die Voraussetzungen dafür schaffen soll, Kräfte– wenn nötig – schnell an die Ränder der Allianz zu ver-legen und sie dort schnell zum Einsatz zu bringen. Esgeht hier vor allem um Reaktionsgeschwindigkeit.Zweitens werden sich Deutschland und die Bundes-wehr weiterhin dauerhaft an der stärkeren Präsenz in denbaltischen Mitgliedstaaten, die wir in den letzten Mona-ten schon gezeigt haben, beteiligen.Wir werden drittens zusammen mit Dänemark undPolen das Multinationale Korps Nordost verstärken.Auch das verbessert die Reaktionsgeschwindigkeit undbietet vor allen Dingen Sicherheit für die östlichen Mit-gliedsländer.Wir werden viertens das Rahmennationenkonzept,das auf deutsche Initiative hin vor einem Jahr in denNATO-Prozess eingebracht worden ist, nutzen, um dieEntwicklung von militärischen Fähigkeiten innerhalbder NATO voranzutreiben.Das ist insgesamt, meine Damen und Herren, ein star-kes und ausbalanciertes Paket an Maßnahmen, das dieAnpassungsfähigkeit der NATO unterstreicht und voran-bringt.In Wales war auch der Irak ein Thema. Wir sehen ei-nen blutigen Vormarsch des „Islamischen Staates“ imIrak und in Syrien, geprägt von unbeschreiblicher Grau-samkeit. Wir alle sehen, dass eine ganze Region in ihrerSicherheit bedroht ist. Auch hier hat die Bundesregie-rung rasch reagiert. Wir stellen humanitäre Hilfe für dieunmittelbar Verfolgten und die Flüchtlinge im Nordendes Iraks zur Verfügung. Aber wir unterstützen auch die-jenigen, die sich dem IS entgegenstellen, weil wir derfesten Überzeugung sind, dass das zum einen selbstver-ständlich in erster Linie unsere Verantwortung ist, zumanderen aber auch unser sicherheitspolitisches Interesse,und dass deshalb beides zwei Seiten einer Medaille sind.Unsere aktuelle Unterstützung ist aber auch – das istmir wichtig – in einen politischen Prozess eingebettet– unser Außenminister ist dafür unermüdlich unter-wegs –, der im Irak dazu führen muss, dass eine inklu-sive Regierung gebildet wird, die alle Religionsgruppenan der Regierungsbildung und vor allem an der Gestal-tung des Landes teilhaben lässt und auch alle Länder inder Region konstruktiv mit einbezieht.
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Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
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Beim NATO-Gipfel war sehr deutlich zu spüren, dasskein Zweifel daran besteht, dass es lange dauern wird,bis der „Islamische Staat“, der mit großer Kompromiss-losigkeit auftritt, niedergerungen ist. Das heißt, wir wer-den Geduld brauchen. Wir werden gemeinsam mit unse-ren Partnern vorgehen, und wir werden unsere Politik imEinklang vor allem mit den islamischen Ländern der Re-gion gestalten müssen; denn nur das wird mittelfristig zueiner Stabilisierung der Region führen.Beide Entwicklungen, im Osten wie im Süden, wer-den für einige Jahre unsere volle Aufmerksamkeit erfor-dern. Das heißt aber auch, dass mit unseren internationa-len Aufgaben unsere Verantwortung wächst. Das, wasich eben beschrieben habe, führt uns auch immer wiedervor Augen, dass Freiheit und Sicherheit nicht zum Null-tarif zu bekommen sind.
Mir ist wichtig, dass wir uns nicht missverstehen,weil dies eine Haushaltsdebatte ist: Ich fordere keine Er-höhung des Plafonds 2015. Das ist alles in den letztenMonaten geschehen, und wir können jetzt nicht als Re-aktion darauf einfach mehr Geld für Verteidigung in2015 fordern. Aber – und das ist mir wichtig – Kürzun-gen, vor allem Kürzungen in allerletzter Minute, wärenbei diesen Aufgaben für die Bundeswehr hochriskant.Das sage ich bewusst an dieser Stelle.
Die Bundeswehr ist gut aufgestellt. Sie ist einsatzbe-reit. Sie stellt täglich unter Beweis, was sie leisten kann.Wir sind weltweit in 17 Auslandseinsätzen unterwegs.Der größte davon ist der Einsatz in Afghanistan. Hilfebei Naturkatastrophen, die Hilfsflüge in den Irak, inner-halb von 72 Stunden auf die Beine gestellt, die Bereit-stellung von militärischem Material für die Peschmerga,die Versorgung verwundeter ukrainischer Soldaten sindnur einige Beispiele.Das ist alles keine Selbstverständlichkeit, sonderneine hochprofessionelle Leistung unserer Soldatinnenund Soldaten, und dafür muss der Verteidigungshaushaltbereitstehen, und zwar jetzt und auch in Zukunft. Das istdas Ziel unserer Beratungen.
Wir reden über einen Etat von 32,26 Milliarden Eurofür das nächste Jahr. Wenn wir die vom Finanzministe-rium bereitgestellten zusätzlichen Mittel für die Tarif-und Besoldungsrunde 2015 mit einbeziehen, dann kom-men wir auf rund 33 Milliarden Euro.Vom NATO-Gipfel haben wir das Ziel mitgenommen,auf Dauer 2 Prozent unseres BIP für die Verteidigungaufzuwenden. Das bleibt ein langfristiges Ziel. Kurz-und mittelfristig sollte allerdings der Fokus darauf lie-gen, dass wir das vorhandene Geld möglichst effizientund effektiv ausgeben. Darum geht es auch in der De-batte dieser Tage.Ich möchte die Situation, vor der sich das abspielt, et-was näher beleuchten. Wir kommen aus einer Umbruch-phase. Die Bundeswehr steckt noch mitten in der Neu-ausrichtung. Die Zahl der Soldatinnen und Soldaten wirdbinnen weniger Jahre von rund 250 000 auf 185 000 ver-kleinert werden. Bundesweit werden zurzeit 32 Standortegeschlossen. Wir haben in der letzten Legislaturperiodebei der Beschaffung schon neue Prozesse eingeführt.Wir haben Aufgaben in neuen Ämtern gebündelt, um dieTruppe schneller und effizienter mit moderner Ausrüs-tung zu versorgen. Es gab also ganz viel Bewegung.Das alles ist natürlich nicht ohne Auswirkung auf dielaufenden Planungs- und Beschaffungsprozesse geblie-ben. Projekte sind ausgefallen wie der Euro Hawk imJahr 2013. Die Industrie hat zum Teil große Schwierig-keiten, zeitgemäß in der verlangten Qualität zu liefern,wie zum Beispiel beim A400M, der inzwischen vierJahre Verspätung hat. Das produziert natürlich auchEngpässe. Hierbei handelt es sich um Milliardenpro-jekte, die nicht ohne Weiteres durch ein Austauschpro-jekt schnell kompensiert werden können.Wichtig ist, dass wir aus den Schwierigkeiten der Ver-gangenheit Konsequenzen ziehen. Deswegen unterzie-hen wir den Rüstungsbereich einer tiefgreifenden Über-prüfung. Das ist kein Selbstzweck; es dient nicht dazu,sich einmal selbst zu spiegeln. Vielmehr geht es – mitBlick auf die Sicherheit unserer Soldatinnen und Solda-ten – um die notwendige Ausrüstung auf der einen Seiteund um den verantwortlichen Umgang mit Milliardenvon Steuergeldern auf der anderen Seite. Wie Sie allewissen, ist zurzeit ein externes Konsortium in unseremHaus dabei, bestehende Rüstungsprojekte und -prozessezu untersuchen. Das Gutachten erwarte ich Anfang Ok-tober. Es wird uns inhaltlich helfen, künftig die richtigenInvestitionsentscheidungen zu treffen, zum Beispiel beiden Hubschraubern, beim Luftverteidigungssystem, beiden Wartungsverträgen für den A400M, beim Schützen-panzer Puma und beim Mehrzweckkampfschiff, um nureinige Themen zu nennen, die konkret anstehen. All diessind Investitionen in die Zukunft der Bundeswehr.Noch einmal zur Erinnerung: Wir sind uns in derNATO nicht nur über das 2-Prozent-Ziel einig, sondernauch darüber, dass 20 Prozent des Etats für eine stetigeModernisierung der Ausrüstung einzusetzen sind. Hierzeichnet sich folgendes Bild ab: Wir hatten in demschwierigen Jahr 2013 einen Rückschritt auf 16,6 Pro-zent des Einzelplans für Investition, Forschung und Ent-wicklung zu verzeichnen. Auch das ist nicht ohne Fol-gen geblieben. Unser Ziel ist, diesen Anteil im Haushalt2015 wieder auf über 19 Prozent zu steigern und vor al-len Dingen in den Folgejahren bei gut 20 Prozent zu ver-stetigen. Wir werden außerdem Schwerpunkte für künf-tige Planungsvorhaben setzen.Das alles gehört in die Oktoberdebatte. Dabei geht esauch um die Identifizierung der wehrtechnischen Kern-fähigkeiten, die wir in Deutschland und Europa unbe-dingt halten wollen. Das ist nicht nur eine Frage der Fä-higkeiten, sondern auch eine Frage der Souveränität undder Unabhängigkeit eines jeden Landes; diese sind unsviel wert.
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Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
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Wir reden in diesen Tagen auch viel über das ThemaEinsatz- und Verwendungsfähigkeit unseres Materials.Es ist richtig: Die Ausrüstung der Bundeswehr ist starkgefordert. Wir tragen dem Rechnung, indem wir dieAusgaben für Instandsetzung und Wartung von 2013 anin dieser Legislaturperiode um immerhin rund ein Fünf-tel, um 20 Prozent, steigern.Infrastruktur und Material sind die beiden großenThemen, die im Augenblick die Debatte beherrschen.Trotzdem bleibt es dabei – darüber herrscht Konsens indiesem Hohen Hause –: Das eigentlich Entscheidendesind die Menschen in der Bundeswehr. Es kommt aufmotiviertes und qualifiziertes Personal an; das hat dieFrühjahrsdebatte sehr stark dominiert. Wir haben des-halb unsere Agenda Attraktivität und untergesetzlicheMaßnahmen auf den Weg gebracht.Richten wir den Blick jetzt auf das angekündigte Arti-kelgesetz. Ich möchte Sie informieren, dass wir dieVorabstimmung über das Artikelgesetz mit dem Finanz-ministerium und dem Innenministerium fast abgeschlos-sen haben. Wir gehen dann in die Ressortabstimmungund die Verbändeabstimmung. Im Oktober werden wirbereit sein, den Gesetzentwurf in das Kabinett einzubrin-gen, von dem ein Teil 2015 und ein anderer Teil erst da-nach in Kraft treten wird. Ich sage mit Blick auf das Ar-tikelgesetz ganz deutlich: Dieses Gesetz wird nachjetzigem Stand der Dinge zusätzliche Mittel beanspru-chen. Die exakten Zahlen können wir erst vorlegen,wenn wir das Gesetz zwischen den Ressorts abgestimmthaben und feststeht, was wir tatsächlich umsetzen. Dannwerden wir darüber hier gemeinsam diskutieren.Abschließend, meine Damen und Herren: Viele Men-schen in unserem Land stellen sich vor allem angesichtsder schrecklichen Bilder, die wir tagtäglich sehen, zu-nehmend die bange Frage, ob wir auch in Zukunft sicherleben. Man sieht auch an den Umfragen, dass sich da et-was im Augenblick verändert. Meine Antwort lautet:Deutschland ist sicher – dank eines guten Miteinandersvon Diplomatie, Entwicklungszusammenarbeit und ja,ganz ohne Zweifel, auch den Leistungen der Bundes-wehr, eingebettet in EU und NATO. Damit das auch inZukunft so bleibt, damit wir eine einsatzfähige Bundes-wehr behalten, braucht es vor allem mittel- und langfris-tig einen verlässlichen Verteidigungshaushalt.Ich freue mich auf die anstehenden Beratungen unddanke für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Frau Ministerin. – Es spricht jetzt der
Kollege Dr. Alexander Neu, Die Linke.
Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Sehr geehrter Herr Präsident! Die Dar-stellung von Frau von der Leyen hat einmal mehr ge-zeigt, wie wichtig es ist, dass es eine Linke in diesemBundestag gibt, die ein differenzierteres Bild der sicher-heitspolitischen Lage zeichnet.
Zunächst einmal zu den Einzelplänen. Es ist schon in-teressant, dass die beiden größten Einzelpläne des Bun-deshaushalts die für Arbeit und Soziales und für Militärsind. Die Militärausgaben betragen nicht 33 MilliardenEuro, sondern nach NATO-Kriterien – das ist das Ent-scheidende im Haushalt – 35,1 Milliarden Euro. Das ent-spricht etwa 440 Euro jährlich pro Einwohner in diesemLand. Deutschland hat den viertgrößten Militärhaushaltin der NATO und den siebtgrößten global. Viele Staatendieser Welt haben einen geringeren Gesamthaushalt, alsDeutschland für sein Militär ausgibt.
Viele Staaten haben sogar ein geringeres Bruttoinlands-produkt, als Deutschland für sein Militär ausgibt. Dassollte uns zu denken geben.Was sagt das aber über eine Gesellschaft aus, in derdie Einzelpläne für Arbeit und Soziales und für Militärdie beiden größten Einzelpläne darstellen? Zum einen,dass wir eine verfehlte Wirtschaftspolitik oder – besser –ein falsches Wirtschaftssystem haben, das mehr Men-schen in Armut und prekäre Verhältnisse bringt, die mitsozialpolitischen Maßnahmen mehr schlecht als rechtkorrigiert werden müssen. Zum anderen zeugt das voneinem Verständnis einer militarisierten Außen- und Si-cherheitspolitik in einer Zeit, in der Deutschland nichteinmal ansatzweise bedroht wird. So lautet auch dieFeststellung von Generalinspekteur Wieker 2010 in sei-ner Stellungnahme zu einem Prüfauftrag. Ich zitiere:Eine unmittelbare territoriale Bedrohung Mittel-europas und damit Deutschlands mit konventionel-len militärischen Mitteln besteht heute nicht mehr.Warum aber brauchen wir einen so hohen Militäretat?Zum einen, weil es immer noch die anachronistischeVorstellung gibt, wonach eine gewachsene Verantwor-tung auf internationaler Ebene primär mit militärischenMitteln ausgeübt werden müsse. Steinmeier, von derLeyen und Gauck fordern immer unverhohlener, die in-ternationale Reputation Deutschlands und die Mitspra-che auf internationaler Ebene über das Militärische aus-zubauen. Gerade wurde es gesagt: Es gibt derzeit17 Militäreinsätze der Bundeswehr.Der zweite Grund, warum es einen so hohen Militär-etat gibt, besteht im westlichen Selbstverständnis: derWesten als Zentrum der Welt. Entweder unsere Vorstel-lungen und Werte werden global übernommen, oder aberes gibt Konflikte. So ist auch das Verständnis in derKooperation mit Russland. Wenn Russland eine Berück-sichtigung seiner sicherheitspolitischen Interessen ein-fordert, wird das weitestgehend ignoriert.
Wenn Russland seine sicherheitspolitischen Interessenumsetzt, da die Diplomatie und Gespräche mit dem
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 50. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2014 4621
Dr. Alexander S. Neu
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Westen erfolglos waren, wird Russland als Aggressordämonisiert.
Gemeinsame Sicherheit sieht gravierend anders aus.
Die Frage ist und bleibt doch, wer sich vor wessenHaustür mit militärischen Strukturen breitmacht. Russ-land auf jeden Fall nicht.
– Ihnen sollte die NATO-Osterweiterung bekannt sein.Wenn Ihnen die nicht bekannt ist, ist das traurig.Schaut man sich die sicherheitspolitische Bilanz derOut-of-Area-Kriege der NATO oder der kriegführendenNATO-Staaten wie USA, Frankreich und Großbritannienseit dem Endes des Kalten Krieges an, so stellt man fest,dass sie desaströs ist. Alle Kriege wurden verloren. DieSchlachten wurden gewonnen, keine Frage; aber dasoffiziell formulierte politische Ziel wurde niemals er-reicht. Afghanistan, Libyen, Irak, die serbische ProvinzKosovo, Bosnien-Herzegowina – das alles sind geschei-terte Staaten, nachdem der Westen dort militärisch Handanlegte und letztendlich die Situation verschlimm-besserte.Das ist übrigens ein wesentlicher Grund für die Ver-weigerung, ehrliche Einsatzbilanzen vorzulegen; denndie Ergebnisse würden das Scheitern belegen. Genau daswill man vermeiden. Aber den Tod HunderttausenderMenschen als Kriegsopfer, Kriegsfolgenopfer oderSanktionsopfer durch NATO-Kriege oder Kriege derUSA mit ihren Koalitionen der Willigen kann man nichtverleugnen und nicht verstecken.Trotz dieses offenkundigen Scheiterns der militarisier-ten Außen- und Sicherheitspolitik zeigt man sich völligunbeeindruckt. „Weiter so wie bisher und ein bisschenmehr“ scheint das Leitmotto zu sein. Das „ein bisschenmehr“ ergibt sich aus der Reaktivierung des alten Feind-bildes Russland, wie Beschlüsse auf dem NATO-Gipfelbelegen: Schaffung einer „Speerspitzen“-Eingreiftruppe,Bekräftigung der Ausdehnung der NATO nach Ost-europa und in den postsowjetischen Bereich, Open DoorPolicy, das Festhalten am NATO-Raketenabwehrsystemzwecks Neutralisierung des atomaren Gleichgewichtsund die Bekräftigung der 2-Prozent-Klausel für die Mili-tärhaushalte. – Eine kurze Anmerkung zur Absurditätder letzteren Argumentation: Die NATO hat mehr als dasZehnfache an Geldern, die der russische Militärhaushaltzur Verfügung hat.
Die einzige friedenspolitische Alternative für Europaist nicht die NATO, sondern ein System gegenseitigerkollektiver Sicherheit.
Wir brauchen die Retransformation der Bundeswehr zueiner reinen Verteidigungsarmee und zur Landesverteidi-gung.
Eins ist klar: Frieden in Europa kann es nur mit undnicht gegen Russland geben. Auch wenn Deutschland esmanchmal für sich beansprucht: Russland ist faktischdas größte Land Europas und ein wichtiger Handelspart-ner Deutschlands und der Europäischen Union. Sich vonder US-amerikanischen Außenpolitik diktieren zu las-sen, wie wir unsere Handelsbeziehungen mit Russlandhandhaben, ist schon beschämend. So viel zur Souverä-nität deutscher Außenpolitik.
Daher fordert die Linke haushaltspolitisch die Einspa-rung und Umwidmung von Steuergeldern: von Men-schen für Menschen und nicht für Waffen und Gewaltpo-litik.Hierzu kann ich drei Beispiele anführen: Mit demGeld für 53 Transportflugzeuge A400M kann man in die-sem Land 6 300 Kitas bauen. Mit dem Geld für vier Fre-gatten 125 können Kommunen – sie sind eh gebeutelt –620 Sporthallen bauen.
Mit dem Geld für den Eurofighter – das große Milliar-dengrab – ließen sich 210 000 Sozialwohnungen bauen,die in diesem Land dringend gebraucht werden. Daswäre echte Friedenspolitik und bedeutete einen Gewinnan internationalem Ansehen und zugleich einen Gewinnfür die Menschen in diesem Land.Ich danke.
Für die Sozialdemokraten spricht jetzt der Kollege
Rainer Arnold.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Auch wir in diesem Haus haben heute des Leids imZweiten Weltkrieg gedacht. Gerade meine Generationerinnert sich in solchen Stunden daran, dass es ebennicht selbstverständlich ist, dass wir in Frieden aufwach-sen konnten.
Dieser Friede wurde organisiert durch eine weitsichtigePolitik, und er wurde unterstützt, getragen und gesichertvon Streitkräften, die glaubwürdig einsatzfähig sind.
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4622 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 50. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2014
Rainer Arnold
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In den letzten Monaten mussten wir erleben, dass sichim Nahen und Mittleren Osten und in Afrika Terror undKrieg breitmachten. Mit Blick auf den Kollegen Neu: Essind nicht wir, es ist nicht der Westen, der zur Stunde imNorden von Nigeria den Menschen Gewalt antut und denMenschen seinen Willen aufzwingen will; es sind diefundamentalen Islamisten der Boko Haram.Herr Kollege, wir alle haben geglaubt, dass es nachBeendigung der Balkankriege undenkbar sein wird, dassin Europa Konflikte mit Waffengewalt ausgetragen wer-den. An die Kollegen der Linken: Es sind nicht wir, es istnicht der Westen, der den Menschen im Osten derUkraine und auf der Krim seine Regierungsform und dierussische Lebensart aufzwingen will. Ich habe manch-mal den Eindruck, Sie glauben immer noch, Russlandhabe ein linkes Regime. Nein, es ist ein autokratisches,nationalistisches Regime.
Was Sie mit dem zu tun haben wollen, das verstehe ichwirklich nicht.Wir wissen gleichzeitig alle in diesem Haus, dass mi-litärische Einsätze die meisten Konflikte nicht lösenwerden. Militär wird an der einen oder anderen Stelleaber gebraucht, um sich schützend vor Menschen zustellen, um Zeitfenster für diplomatische Lösungen zuöffnen und um Zeitfenster für humanitäre Hilfe und fürdie Eindämmung von Terror offenzuhalten. Das alles isthäufig notwendig.Deutschland redet immer über militärische Zurück-haltung.
Das Gegenteil von militärischer Zurückhaltung wärenmilitärisches Vorpreschen und militärische Abenteuer.Ich glaube, kein vernünftiger Mensch in einer Demokra-tie wird dies wollen. Ich sage das deshalb, weil die deut-sche militärische Zurückhaltung nicht mit einem mögli-chen Sonderweg Deutschlands innerhalb der Bündnisseverwechselt werden darf. Wir alle wissen: Unsere Si-cherheit basiert darauf, dass dieses große Land in Europamit leistungsfähigen Streitkräften ein verlässlicher Part-ner ist.
Die NATO-Tagung in Wales hat dies sehr deutlich ge-macht. Ich bin der Bundesregierung außerordentlichdankbar dafür, wie besonnen sie auf der NATO-Tagungdie deutschen Ziele erreicht hat. Es ist nicht einfach, Ver-ständnis für die Sorgen unserer Partner in Osteuropa auf-zubringen, ein verlässlicher Partner zu sein, wenn esdarum geht, Fähigkeiten zu erweitern – ich glaube, dieSchritte, die Deutschland hier mitträgt, vor allen Dingenin Polen, in Stettin, sind richtig und notwendig –, undgleichzeitig mit dafür zu sorgen, dass die Tür zum Dia-log mit Russland bei allen Schwierigkeiten offen bleibt.Es ist mit ein Verdienst der Bundesregierung, dass dieNATO-Tagung dies erreicht hat.
Zu dieser Debatte gehört am Ende natürlich auch dieDebatte über die Frage: Welche Rolle und welche Ver-antwortung hat Deutschland in der Welt? Klar ist eines:Die negativen, die schlimmen Veränderungen in denletzten Monaten werden auch Auswirkungen auf dieGestaltung der Streitkräfte der Bundeswehr haben. Poli-tiker, die dies thematisieren, sind alles andere als Kriegs-hetzer, wie die Linken behaupten,
sondern sind Politiker, die schlichtweg der Realität, derWirklichkeit ins Auge schauen.Einige, sowohl in der NATO als auch in Deutschland,glauben, die Gunst der Stunde nutzen zu müssen, umeine Debatte über mehr Geld – auf Basis eines schlichtenMechanismus – zu führen. Das meine ich nicht. Ichglaube, man hilft den Soldaten überhaupt nicht, wennman in dieser Richtung falsche Erwartungen weckt. DieSoldaten sind Klarheit gewohnt.Für unsere Fraktion möchte ich aber noch einmalbetonen – wir reden über den Haushalt –: Es ist dochlogisch: Solange jedes Jahr über 1 Milliarde Euro an denFinanzminister zurückfließen, weil die Bundeswehr dasGeld nicht ausgeben kann, kann niemand ernsthaft sa-gen: Herr Schäuble, wir brauchen mehr Geld. – Dieswird nicht funktionieren.Dass dieses Geld zurückfließt, ist – das muss manauch klar sehen – ein Erbe der alten Bundesregierung.Dort lag die Verantwortung für dieses Vorgehen. Aberrichtig bleibt auch: Am Ende des Jahres 2015 wirdweder die Verteidigungsministerin noch werden wir alsKoalitionäre – wir sind hier mit im Boot – sagen können:Die Ursachen liegen in der Vergangenheit.
Wir müssen alles tun, dass diese Entwicklung umgekehrtwird.Wenn die alten Vorhaben geordnet sind – in diesemBereich ist viel Zeit verloren worden; Sie haben unsereUnterstützung bei dem Prozess, um das alles zu überprü-fen –, dann muss die Phase des Geldrückflusses beendetsein. Am liebsten wäre es uns, das würde auch im Haus-halt einmal deutlich vermerkt werden. Wenn die Jahrekommen, in denen die Großgeräte geliefert werden, pa-rallel und in hoher Stückzahl, dann muss sichergestelltsein, dass die Mittel dafür auf den Verteidigungsetat ver-lässlich obendrauf kommen. Wenn dies nicht gelingt,dann werden wir ein Problem bei der Attraktivität haben– die hat etwas mit der Zukunftsfähigkeit der Bundes-wehr zu tun –, und dann werden wir ein ganz großes Pro-blem bei neuen Investitionen, bei der Modernisierungund Instandhaltung des Geräts haben.
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Rainer Arnold
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Für die Zeit, wenn kein Geld mehr zurückfließt, wirdauch gelten: Wenn die Bundeswehr Ausstattungshilfe inRegionen leistet, in denen wir dafür sorgen wollen, dassStaatlichkeit gegen Terror durchgesetzt werden kann– ich will nicht ausschließen, dass das mehr wird; zu derEinschätzung komme ich, wenn ich auf den afrikani-schen Kontinent schaue –, und sie die Ausstattung wie-der neu kaufen muss, dann muss sichergestellt sein, dassdas Geld dafür aus dem allgemeinen Etat, aus dem Ein-zelplan 60, kommt und nicht aus dem Verteidigungsbe-reich. Dies heißt, neben dem, was die Ministerin schongesagt hat – es sind keine weiteren Kürzungen mehrmöglich –, muss auch sichergestellt sein, dass solche zu-sätzlichen Aufgaben, die uns alle gemeinsam berühren,aus dem allgemeinen Etat finanziert werden.Darüber hinaus: Natürlich müssen wir mittelfristig fürsteigende Betriebs- und Personalkosten Mittel obendraufbekommen.Unter diesen Voraussetzungen ist es nicht notwendig,dass der Bundeswehretat ein breiteres Stück vom Ge-samtkuchen des Etats bekommt. Aber er muss sich sei-nen Anteil an diesem Kuchen sichern.Damit ist auch klar: Das 2-Prozent-Ziel, das dieNATO wieder beschlossen hat, wird für Deutschlandnicht machbar sein. Stellen Sie sich das einmal vor: Wirmüssten dann 52 Milliarden Euro aufbringen. Ich weißgar nicht, ob es politisch überhaupt gewollt wäre, dassDeutschland ein so großer Zahler wäre und so vieleStreitkräfte hätte, vor allem in Relation zu Großbritan-nien und zu Frankreich. Ich glaube, wir sind gut aufge-hoben, wenn wir uns an diesen beiden Mittelmächten inEuropa orientieren. Das tun wir im Augenblick mit unse-rem Etat. Deshalb ist es auch vernünftig, was hier vorge-schlagen worden ist.Das Entscheidende bei der Debatte um Geld ist nichtdas Geld, sondern Intelligenz. Es muss endlich gelingen,die knappen Mittel in der NATO und in der Europäi-schen Union klüger auszugeben. Die Themen liegen aufder Hand; sie sind allesamt bekannt. Wir brauchen eineengere Verzahnung. Da Deutschland klar sagt, dass das2-Prozent-Ziel für Deutschland mit seiner starken Volks-wirtschaft nicht umsetzbar ist, hat Deutschland im Um-kehrschluss eine besondere Verantwortung dafür, in Eu-ropa und innerhalb des Bündnisses die Prozesse in einervertieften Sicherheitspolitik voranzubringen und Motorhierfür zu werden. Wir würden der Bundesregierungschon raten, dass, abgestimmt zwischen Verteidigungs-ministerium und Auswärtigem Amt, eine Stelle, einhochrangig Beauftragter eingerichtet wird, der durch dieHauptstädte zieht, die Projekte identifiziert und zusam-menführt. Zu diesen Themen ist in Europa und derNATO genug Papier beschrieben worden. Wir müssensie jetzt realisieren.Deutschland wird dann bestimmte Kernfähigkeiteneinbringen können. Dazu gehört sicherlich Luftbetan-kung, also Dinge, die in der NATO fehlen. Dazu gehörenAufklärungsdrohnen. Dazu gehört unsere dann gute Ka-pazität im Bereich des Lufttransportes. Wenn wir dieHubschrauber auch abnehmen, wie wir es gerne hätten,gilt dies auch bei den mittleren Hubschraubern. Dazu ge-hören der Sanitätsdienst, wo Deutschland wirklich Mus-tergültiges leistet, die bodengebundene Luftverteidi-gung, die Fregatte, ein sicheres Tankschiff, das heutigenSicherheitsanforderungen genügt, und manches anderemehr.Wenn wir dies in diesem Herbst schnell aufs Gleissetzen – Sie haben unsere Unterstützung; wir möchten,dass es schnell diskutiert wird –, dann helfen wir derRüstungswirtschaft mit ihren Problemen viel mehr, alswenn wir andauernd lamentieren, dass Deutschlandplötzlich die Exportrichtlinien einhalten soll. NeueIdeen, neue Projekte sichern Ingenieurwissen inDeutschland. Wir sollten nicht alte Produkte in Länderverkaufen, wo wir sie gar nicht haben wollen.
Das ist der richtige Weg, und dabei haben Sie unsere Un-terstützung.
Herr Kollege, Sie denken an die vereinbarte Rede-
zeit?
Das tue ich grundsätzlich. Ich versuche, zum Ende zu
kommen.
Lassen Sie mich noch einen Punkt ganz kurz anspre-
chen. Wenn wir den Weg, den die NATO jetzt diskutiert
hat, gehen, werden wir priorisieren müssen. Es wird
nicht mehr so weitergehen, dass wir glauben, wir können
alles, aber von allem nur ein bisschen. Ich habe den Ein-
druck, dass sich etwas im Ministerium und beim Koali-
tionspartner bewegt. Das finde ich gut.
Wir wollen die Debatte darüber führen und sollten da-
bei nicht vergessen, dass das Wichtigste für die Streit-
kräfte und das Wichtigste für die Fähigkeit, ein Land zu
verteidigen, nicht Technik, nicht Waffen, nicht Geld al-
lein sind, sondern die Menschen, die diesen ganz beson-
deren Beruf ausüben. Vor allem bei denjenigen, die auch
bei widrigen Umständen motoviert und engagiert ihren
Dienst tun, möchte ich mich ganz besonders bedanken.
Auf sie kommt es am Ende an. Sie haben aber auch An-
spruch darauf, dass wir alles tun, um den Soldatenberuf
attraktiv zu halten, dass sie angemessen bezahlt werden,
dass ihnen Verlässlichkeit geboten wird und sie eine Per-
spektive haben.
So, jetzt müssen wir trotzdem zum Schluss kommen.
Ich bedanke mich für Ihre Geduld und für Ihre durch-
aus vorhandene Nachsicht. – Entschuldigung.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Tobias Lindner,Bündnis 90/Die Grünen.
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4624 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 50. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2014
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Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In dieserHaushaltsdebatte ist die eine oder andere Zahl genanntworden. Ich will eine weitere Zahl nennen: 267 Tage.Ich weiß nicht, Frau Ministerin, ob Ihnen diese Zahl– 267 Tage – etwas sagt. Es ist die Zeit, in der Sie jetztim Amt sind. Sie legen dem Hohen Haus den zweitenHaushaltsentwurf vor. Wenn man über die Rahmenbe-dingungen redet, über die wir heute diskutieren, von de-nen der Kollege Arnold zu Recht sagt, dass Ausgaben inHöhe von 2 Prozent des BIP für Verteidigung eine ab-surde Vorstellung sind, und ich aus der Union Rufe nachmehr Geld wahrnehme, dann muss man sich Folgendesklarmachen: Ich habe bisher niemanden aus der Unionvernommen, der gesagt hätte: Karl-Theodor zu Gutten-bergs Bundeswehrreform ist ein Fehlgriff gewesen.
Wenn man der zu-Guttenberg’schen Reform glaubt,dann hätten Sie, Frau von der Leyen, uns heute einenEtatentwurf vorlegen müssen, der sich zwischen 27 und28 Milliarden Euro bewegt. Stattdessen haben Sie be-reits heute 5 Milliarden Euro mehr erhalten, im Jahr2013 rund 1,5 Milliarden Euro nicht ausgegeben
und von Ihrer eigenen Koalition mit dem Haushalt 2014eine globale Minderausgabe von 400 Millionen Euroauferlegt bekommen. Das, meine Damen und Herren,sind die Rahmenbedingungen, unter denen wir diesenVerteidigungshaushalt diskutieren müssen.Ich will Ihnen eine weitere Zahl nennen: 203 Tage.Vor 203 Tagen haben Sie Ihren Staatssekretär entlassenund 15 Projektstatusberichte, die zur Information desParlaments gedacht waren, nicht gebilligt. Seitdem istein halbes Jahr ins Land gegangen. Eigentlich wolltenSie alle sechs Monate das Parlament informieren. Nununtersucht eine Unternehmensberatung 9 der 15 Pro-jekte. Sie haben jetzt für Oktober einen Bericht angekün-digt. Ich persönlich frage mich: Was ist eigentlich mitden restlichen sechs Projekten? Haben Sie die Berichtein die Tonne getreten? Haben sie sich von allein gesund-geschrieben? Wann werden wir da die Informationen er-halten? Frau von der Leyen, das, was Sie hier tun, ist dasGegenteil von Transparenz, wie Sie dies immer gegen-über dem Parlament predigen, und das muss ein Endehaben.
Sie sprechen gern davon, dass Sie sich ein Vollbildder Lage im Rüstungsbereich machen wollen. Ich habeIhr Haus in meiner jugendlichen Naivität am 9. Januarum eine Übersicht aller laufenden Rüstungsprojekte miteinem Volumen oberhalb von 25 Millionen Euro gebe-ten, 93 an der Zahl. Ich wollte wissen: Wie hoch sind dieKostensteigerungen? Wie viel Geld ist verausgabt wor-den? Was sind die Nachweisfristen? Wann soll geliefertwerden? Es dauerte über sieben Monate – ich habemehrfach nachgefragt; eigentlich habe ich gar nichtmehr damit gerechnet, dass noch irgendeine Antwortkommt –, bis zum 14. August, als plötzlich die Antworteingetroffen ist. Die Realität lautet: Die Rüstungspro-jekte haben sich um 4,3 Milliarden Euro verteuert, es ha-ben sich über 1 300 Verspätungsmonate angehäuft. Das,Frau Ministerin, ist das Vollbild der Lage, von dem Sieimmer gerne sprechen. Diese beiden Zahlen sind ein Ar-mutszeugnis für das Management in Ihrem Hause.Um eines klarzumachen: Die Antwort auf die Frage,in welche Projekte das Geld abfließt und was die Haupt-kostentreiber sind, ist nichts, wofür man eine Unterneh-mensberatung braucht, sondern etwas, was Ihnen dieBuchhaltung jedes mittelständischen Unternehmens inDeutschland per Knopfdruck liefern kann.In den letzten Tagen – es ist heute schon mehrfach er-wähnt worden – fiel noch ein Punkt stark auf: Es gibt ne-ben der Verteidigungspolitik kaum ein Politikfeld – mirfällt sonst nur die Maut ein, aber die Diskussion in derGroßen Koalition darüber läuft außer Konkurrenz –, indem die Lage bei den Koalitionspartnern so diffus ist.„Breite vor Tiefe“ bekommt in Bezug auf die Meinun-gen eine ganz neue Bedeutung. Da haben wir die Kolle-gen Otte und Hahn, die für höhere Verteidigungsausga-ben eintreten. Da haben wir den Kollegen Gädechens,der uns in jeder Debatte erklärt, wie wichtig die Marineist. Da haben wir den Kollegen Rainer Arnold, der beimGrundsatz „Breite vor Tiefe“, was Fähigkeiten betrifft,eine ganz andere Meinung hat und die Standortentschei-dungen, zu denen Sie von der Union sich ausdrücklichbekennen, wiederum in Zweifel zieht. Liebe Kollegin-nen und Kollegen, in der Verteidigungspolitik streitenSie sich wie die Kesselflicker.
Das Ganze wird noch getoppt, zum einen vom Vize-kanzler, der sich Gedanken darüber macht, in welcherKörperhaltung wohl die Ministerin am Fotokopierersteht – Frau von der Leyen, ich weiß nicht, ob Sie selbstkopieren, aber ich habe zumindest diese Debatte wahrge-nommen –, zum anderen vom geschätzten KollegenJohannes Kahrs, der dankenswerterweise im Plenarsaalanwesend ist
und in einem Interview im Spiegel dieser Woche davonspricht, dass die Ministerin die Kontrolle über das Hausverloren habe. Jetzt kenne ich den Kollegen JohannesKahrs nicht unbedingt als Hinterbänkler hier in diesemHause. Im Gegenteil: Er ist der haushaltspolitische Spre-cher der SPD-Bundestagsfraktion. Ich finde, es ist schonein Ausdruck des Misstrauens, wenn sich der Koalitions-partner im Spiegel so über die Ministerin äußert – auchwenn ich die Äußerungen inhaltlich teile.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 50. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2014 4625
Dr. Tobias Lindner
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in diesenHaushaltsberatungen viel über das Thema Sicherheits-politik gesprochen. Ich habe dabei folgenden Eindruckgewonnen: Die größte Gefahr für die Bundesverteidi-gungsministerin, die größte Bedrohung dieser Verteidi-gungspolitik geht im Moment von der Rückkehr der Gur-kentruppe unter ihrem Kommandeur Oberst JohannesKahrs aus.Ich danke Ihnen.
Nächster Redner ist der Kollege Henning Otte, CDU/
CSU.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Lieber Kollege Dr. Lindner, Gurken sindgrün, glaube ich. Das war eine grüne Rede.
Heute beraten wir den Verteidigungshaushalt für dasJahr 2015 – in einer Zeit überraschender Änderungenhinsichtlich der Sicherheitslage, auf die wir reagierenmüssen, an einem Tag, an dem wir in einer sehr bewe-genden Gedenkstunde dem Ausbruch des Zweiten Welt-krieges gedacht haben, in einer Zeit, in der wir zusam-men den Auftrag haben, dem Frieden in der Welt zudienen und die Integrität Deutschlands, seiner Partnerund Europas zu jeder Zeit zu verteidigen.Herr Dr. Neu, wie Sie hier heute die russischen Inte-ressen dargestellt haben, ist eine Verunglimpfung derGefühle Polens und kommt schon einer Geschichtsfäl-schung gleich.
In Artikel 87 a des Grundgesetzes heißt es:Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf.Ihre zahlenmäßige Stärke und die Grundzüge ihrerOrganisation müssen sich aus dem Haushaltsplanergeben.Das heißt auch: Der Verteidigungshaushalt muss dieVerteidigungsbereitschaft unseres Landes sicherstellen.Wenn man sich die sicherheitspolitische Diskussion inden letzten Wochen anschaut, muss man feststellen, dasssich die Konfliktlage vehement zugespitzt hat. Nebenden laufenden Einsätzen der Vereinten Nationen, derNATO und der Europäischen Union, an denen Deutsch-land beteiligt ist, tragen dazu die Konflikte im Nordirak,in Syrien, im Jemen, in Mali, im Norden Afrikas, abervor allem auch die islamistischen Strukturen um al-Qaida, Boko Haram und vor allem auch des IS bei.Aber auch das militärische Vorgehen Russlands zurLandnahme der Krim und – zumindest – zur Destabili-sierung der Ostukraine tragen dazu bei. Dieses VerhaltenRusslands hatte die NATO als solches nicht auf demSchirm. Sie hat es erst jetzt, auf dem NATO-Gipfel inder letzten Woche in Wales, zum Anlass für eine strate-gische Strukturanpassung genommen. Der NATO-Gipfelhat ergeben und damit Deutschland den Auftrag erteilt,die Reaktionszeiten der NATO zu beschleunigen,schnelle Kräfte als sogenannte Speerspitzen einzusetzenund sich hinsichtlich der Führungsstrukturen, der Manö-verbewegungen und der Luftraumüberwachungen dauer-haft noch stärker zu beteiligen.Meine Damen und Herren, wir müssen uns vergewis-sern, was das für die Bundeswehr bedeutet. Neben demnormalen Grundbetrieb, der Abrufbereitschaft bei Kata-strophenfällen, zum Beispiel in Zusammenarbeit mit denFeuerwehren – ich begrüße hier eine Abordnung derFeuerwehr aus Uelzen –, muss die normale Verteidi-gungsbereitschaft aufrechterhalten werden. Die Moder-nisierung der Großprojekte Puma, A400M, Fregatten-hubschrauber NH90 und Tiger muss vorankommen; dasist schon dargestellt worden. Die mandatierten Einsätzemüssen absolviert werden. Ausrüstungsgegenständewerden aus dem Bestand und damit aus dem Betrieb he-raus zur Verfügung gestellt. Für die Logistik bei humani-tären Maßnahmen ist die Bundeswehr zuständig. Zusätz-lich werden wir beauftragt, als Rahmennation tätig zuwerden, um als viertgrößte Industrienation einen verant-wortungsvollen Beitrag zu leisten.Hinzu kommen die Ergebnisses des NATO-Gipfels:die dauerhaften Beteiligungen an einzelnen Aufgabenwie auch an den schnellen Einsatzstrukturen und Füh-rungsstrukturen. Das alles muss gemeistert werden mit-ten in der größten Reform der Bundeswehr seit ihremBestehen. Die Bundeswehr ist eine Einsatzarmee. Siemuss genügend attraktiv sein. Deshalb brauchen wirauch noch eine Attraktivitätsoffensive, die wir kraftvollangehen; Frau Bundesverteidigungsministerin hat da-rüber berichtet.Es ist also viel los in der Truppe, und das bei laufen-dem Betrieb, bei gefährlichen Auslandseinsätzen und ei-ner brisanten Sicherheitslage. Die jetzigen Belastungenund die zukünftig steigenden Erwartungen an die Bun-deswehr sind enorm. Wir als Parlamentarier sind aufge-fordert, dafür die notwendigen finanziellen Mittel zurVerfügung zu stellen und sie gegebenenfalls anzupassen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist vielfach ge-sagt worden: Die Zeit der sogenannten Friedensdivi-dende ist vorbei.
Die Zeit ist vorbei, in der aus dem Verteidigungsetat im-mer noch ein Stück herausgenommen werden konnte,um den allgemeinen Haushalt zu stärken. Denn Sicher-heit ist die Grundlage unseres Handelns. Ohne Sicher-heit keine Freiheit! Zur Verteidigung unserer Werte wieMenschenwürde, Rechtsstaatlichkeit, territorialer Inte-
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4626 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 50. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2014
Henning Otte
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grität und zur Verbesserung der Situation im Hinblickauf den Weltfrieden darf es uns an Entschlossenheitnicht fehlen.
Oder wie es der polnische Präsident Komorowski heutein seiner sehr beeindruckenden Rede genau an dieserStelle gesagt hat: Als Antwort der Verantwortungsge-meinschaft müssen wir in Stabilität und damit in die Zu-kunft investieren. Wir brauchen ein sicheres Europa unddie transatlantischen Verbindungen, die Stärkung derOstflanke der NATO durch Präsenzen und schnelle Spit-zen wie auch multinationale Einheiten in Europa.
– Wie bitte? Wie haben Sie den polnischen Präsidenteneben genannt?
– Kriegskurs. Na ja.Noch haben wir ein Zeitfenster, in dem wir bei derNeuausrichtung der Bundeswehr Anpassungen ohnegroße personelle oder auch finanzielle Anstrengungenvornehmen können. Denn Streitkräfte sind keine Institu-tion, die man nach Belieben rauf- oder runterfahrenkann; sie bedürfen einer langfristigen Planung.Das war auch der Grund, warum wir an dem Prinzip„Breite vor Tiefe“ so bestimmt festgehalten haben. Es istnämlich wie in der Wirtschaft: Gehen Fähigkeiten ersteinmal verloren, benötigt man umso mehr Geld, Kraftund Anstrengungen, um diese wieder aufzubauen. Hierwaren wir vorausschauend. Wir können nun auf Fähig-keitskerne zurückgreifen, die gegebenenfalls, je nachLage, auch wieder aufwachsen können. Diese Maßnah-men treffen wir nicht, weil wir eine größere Armee ha-ben wollen, sondern diese Maßnahmen treffen wir, weilwir eine Armee brauchen, die stets die richtigen Antwor-ten auf die jeweilige Sicherheitslage geben muss.Mit der Neuausrichtung der Bundeswehr wollen wirzwei besondere Punkte abbilden: Zum einen wollen wirdie Bundeswehr so aufstellen, dass wir den jeweiligenaktuellen sicherheitspolitischen Anforderungen optimalbegegnen können, und zum anderen wollen wir die Bun-deswehr so breit aufstellen, dass wir uns immer flexibelauf veränderte Lagen einstellen können. Auf das aggres-sive Vorgehen Putins in der Ukraine, wo auch mit Solda-ten und auch gepanzerten Fahrzeugen der Westen unddas Land erpresst werden sollen, müssen wir eine ent-schlossene Antwort haben, die glaubhaft untermauert ist.Denn nur eine glaubhafte, entschlossene Stärke ermög-licht den Verhandlungsraum für diplomatische Lösun-gen.
Wenn wir die umfangreichen russischen Streitkräftebetrachten, müssen wir feststellen, dass wir wohl dochmehr gepanzerte Fähigkeiten im Heer vorhalten solltenals gedacht. Denn die Abwehrfähigkeit der NATO istimmer der Grundpfeiler gewesen. Russland hat in derVergangenheit offensichtlich nicht abgerüstet, sonderneher modernisiert und ist damit auch in der Lage, mitGroßverbänden aktiv zu werden. Das Gleiche gilt übri-gens für die Marine wie auch für die Luftstreitkräfte.Die Steigerung unserer eigenen Fähigkeiten ist zu die-sem Zeitpunkt auch deswegen noch möglich, da die neueStruktur noch nicht in allen Teilen eingenommen ist. Wirwollen eigene Fähigkeiten in das europäische Konzerteingeben, aber ohne dass wir sie national aufgeben. Dasheißt, wir wollen ein Zusammenwirken der Streitkräftein Europa durch Zurverfügungstellung von einzelnen ab-gestimmten Fähigkeiten, also eine Stärkung der europäi-schen Komponente durch einzeln bereitgestellte Kernfä-higkeiten. Das bedeutet aber auf keinen Fall, dass wir imSinne einer noch weit entfernten europäischen Armeeeinzelne Fähigkeiten in Deutschland aufgeben könnenoder dürfen oder uns in Abhängigkeit anderer Nationenbegeben. Zumindest bis zum jetzigen Zeitpunkt hat auchnoch kein Partnerland ein konkretes Angebot gemacht,entsprechende Fähigkeiten von uns zu übernehmen. Hierist eine klare Realpolitik gefragt.Wenn man sich ansieht, wer heute die modernstenKampfpanzer hat, stellt man fest: Es sind die Griechen.Ich bin der Meinung, dass Deutschland selbst diese Fä-higkeit und diese Komponente behalten muss. Das giltauch für andere Fähigkeiten wie zum Beispiel die Luft-und Seeraumüberwachung und die ABC-Abwehr. Jegli-che Stärkung – das sei gesagt – ist dabei gut, jeglicheSchwächung dagegen nicht zu verantworten, zumindestnicht für die Union.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen dasKonzept der Neuausrichtung voranbringen. Wir werdenes erfolgreich praktizieren, weil es sich auch in den Ein-sätzen als die richtige Variante darstellt. Wir werden abernicht darum herumkommen, die Streitkräfte in einzelnenBereichen so anzupassen, dass wir die innere und äußereSicherheit gewährleisten können. Das wird vielleichtnicht günstiger, vielleicht nicht angenehmer. Aber ichwill nicht, dass die Scharia-Polizei bzw. Ableger des ISin Deutschland unterwegs sind und dass wir Anschlägeerleiden müssen. Deshalb muss es uns gelingen, Krisen-herde dort einzudämmen, wo sie entstehen.
Mit der Bundeswehr muss Deutschland innerhalb desBündnisses in der Lage sein, unsere Sicherheitsbedürf-nisse durchzusetzen, damit das Recht dem Unrecht nichtweichen muss, weil sonst die Probleme auf uns zukom-men. Der beschriebene Terrorismus ist expansiv undmissionarisch ausgerichtet. Nur die Bundeswehr ist inder Lage, schnell und umfassend auch in umkämpftenGebieten Menschen zu helfen. Dafür brauchen wir dasgesamte Spektrum der Fähigkeiten. Wir müssen imQuerschnitt modern ausgerüstet sein. Es kann nicht sein,dass wir erst bei Einsätzen anfangen, die notwendige
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Henning Otte
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Modernisierung umzusetzen. Hier ist im investiven Be-reich des Etats zumindest in 2016 nachzubessern.In diesem Zusammenhang sollten wir auch dafür sor-gen, dass die Fähigkeiten, die wir abbilden, zu 100 Pro-zent zur Verfügung stehen. Ein Zustand, in dem wirTruppenteile haben, die nicht über das notwendige Gerätverfügen, oder in dem Teile in Deutschland unterwegssind, die wir bei einer Bedrohungslage erst zusammenfü-gen müssen, kann nicht verantwortungsvoll sein.Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Verteidigungs-etat hat nach der deutschen Einheit stets einen wesentli-chen Beitrag zum allgemeinen Haushalt geleistet. Alleinseit 2004 sind 3 Milliarden Euro weniger Investitionengetätigt worden, weil geplante Vorhaben nicht durchge-führt wurden und stattdessen als Beitrag zu den laufen-den Einsätzen herhalten mussten. Auf die Dauer ist dasfür die Substanz der Streitkräfte nicht gut. Hierauf müs-sen wir eine Antwort finden, um die Abwehr- und Bünd-nisfähigkeit aufrechtzuerhalten und damit die Abwehr-bereitschaft zu erhöhen.Was der Einzelplan 14 braucht, ist keine Kürzung inder Zielgeraden, sondern Planungssicherheit und dieMöglichkeit, in allen Bereichen genügend Mittel zurVerfügung zu haben.
Das Wichtigste ist das Personal. Wir dürfen nicht verges-sen, dass hinter allen Einsätzen Soldatinnen und Solda-ten, Beamtinnen und Beamte und vor allem deren Fami-lien stehen. Sicherlich ist die Modernität des Geräts einMotivationsfaktor. Gutes Material mildert aber auch dieFolgen der Einsätze ab und schützt. Auch hier müssenwir nachhaltig investieren, auch in die Attraktivität. DieBedrohung ist grundlegend anders als noch vor einemJahr. Lassen Sie uns bei alldem beachten: Hinter all denZahlen stehen Menschen, die schützen und die geschütztwerden müssen.Herzlichen Dank.
Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke die
Kollegin Inge Höger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LetzteWoche traf sich die NATO in Wales zu ihrem Kriegsrat.Ich habe mit Aktivistinnen und Aktivisten der britischenund der internationalen Friedensbewegung an den Pro-testen gegen diese Konferenz teilgenommen.
Leider gab es sehr viele Gründe für Protest. Denn nebendem verbalen Säbelrasseln – das kennen wir ja schon –gab es konkrete Verabredungen für eine weitere Aufrüs-tung des Bündnisses.
Allein die Vorgabe, dass die Mitgliedstaaten 2 Pro-zent des Bruttoinlandsprodukts fürs Militär ausgebensollen, ist völlig inakzeptabel.
Das würde für Deutschland eine Aufstockung der Aus-gaben von zurzeit etwa 32 Milliarden Euro auf 56 Mil-liarden Euro bedeuten. Das wäre eine haushaltspoliti-sche Katastrophe. Aber ein lautes und deutliches Neinder Bundesregierung oder auch von Frau von der Leyengegen diese Zumutung habe ich bisher nicht gehört.Ebenfalls nicht gehört habe ich ein Nein zur Atom-aufrüstung. Die geplante Modernisierung der Atomwaf-fen wird auch von Deutschland mitbezahlt. Die in Bü-chel stationierten US-Atombomben müssen abgezogenund entsorgt werden.
Einen Ersatz durch neue, moderne Massenvernichtungs-waffen darf es nicht geben.Der renommierte US-Politikwissenschaftler JohnMearsheimer machte vor kurzem klar, dass die Darstel-lung, Russland sei der maßgebliche Verursacher derUkraine-Krise, schlicht falsch ist.
Er wies auf die NATO-Osterweiterung als Wurzel desKonfliktes hin. Diese verfehlte Ostpolitik setzt dieNATO mit ihren Beschlüssen von Wales fort. Sicherheitlässt sich nicht gegen, sondern nur mit Russland herstel-len.
Säbelrasseln und Aufmärsche helfen dabei nicht weiter.
Denken Sie nun nicht, ich sei blind gegenüber der rus-sischen Politik. Als Abrüstungspolitikerin halte ich dieSezession der Krim für mehr als bedenklich.
Aber man muss immer beide Seiten sehen, um das beur-teilen zu können. Und die Politik der NATO eröffnetkeine gemeinsame Friedensperspektive. Sie verstärkteine neue Blockkonfrontation. Ein Zurück zu einem Ent-spannungsprozess geht nicht mit dem Ausbau von neuenMilitärbasen im Osten.
Aber das wurde nun von der NATO beschlossen. Das istein völlig falsches Signal.Lassen Sie es mich deutlich sagen: In Wales wurdeder Bruch der NATO-Russland-Akte vorbereitet oder zu-mindest perspektivisch ermöglicht. Die neuen Militärba-sen sollen zwar dauerhaft nur mit einer überschaubarenAnzahl von einigen Hundert Militärangehörigen besetztwerden, aber sie sollen die Infrastruktur und die Aus-rüstung für wesentlich größere Einheiten bereithalten.Damit schafft sich die NATO die Möglichkeit, größere
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Inge Höger
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Einheiten nach Osten zu verlegen. Anstatt neue Militär-basen auszubauen, sollte sie besser die bereits existieren-den schließen.
Auch die geplante neue und angeblich superschnelleEingreiftruppe ist garantiert kein Schritt zur Deeskala-tion. 4 000 bis 5 000 Soldatinnen und Soldaten sollen indieser neuen Speerspitze für Interventionen zusammen-gefasst werden, und sie sollen innerhalb weniger Tageeinsatzbereit sein. Wie das mit dem Parlamentsbeteili-gungsgesetz übereinstimmen kann, frage ich mich. DieLinke spricht sich gegen jede Kriegsvorbereitung undgegen die Einschränkung der Rechte des Parlaments aus.
Lassen Sie mich zum Abschluss noch zum ThemaDrohnen kommen. Frau Ministerin, Sie haben zu Beginndes Sommers gegenüber den Medien erklärt, dass Sieder Überzeugung seien – Zitat –,dass wir in die Entwicklung einer europäischen be-waffnungsfähigen Drohne einsteigen müssen.
Es wundert Sie sicherlich nicht, dass ich diese Überzeu-gung nicht teile. Weltweit sind schon 80 Staaten im Be-sitz von Drohnen. Viele davon erwägen die Entwicklungvon Kampfdrohnen oder haben bereits damit begonnen.Die New York Times warnte vor kurzem vor einem Rüs-tungswettlauf in diesem Bereich. Glaubt hier wirklich je-mand, dass die Existenz von noch mehr Kampfdrohnendazu führt, dass das Völkerrecht besser geachtet wirdoder dass diese Tötungsmaschinen dann seltener undverantwortungsvoller eingesetzt werden? – Sie wissen,dass damit nicht zu rechnen ist. Im Gegenteil, dieSchwellen in einen Krieg werden so immer weiter ge-senkt. Wer wirklich die Zivilisation gegen die Barbareiverteidigen will, der muss sich für einen sofortigen Aus-stieg aus dieser Technologie einsetzen.
Wir brauchen eine globale und völkerrechtlich bin-dende Ächtung von Kampfdrohnen. Ich möchte alle die-jenigen, die sich gegen Drohnen und für Frieden einset-zen wollen, auffordern, sich am 4. Oktober am GlobalenAktionstag gegen Kampf- und Überwachungsdrohnenzu beteiligen.
Die zentrale Lehre aus dem Grauen des Ersten unddes Zweiten Weltkrieges ist und bleibt die Forderung:Nie wieder Krieg!
Als nächste Rednerin, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, hat die Kollegin Karin Evers-Meyer von der SPD
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir sind uns in der Koalition einig: Wir wollen 2015keine neuen Schulden machen. Wir wollen, dassDeutschland in schwierigen Zeiten ein Stabilitätsankerin Europa bleibt. Und wir wollen keine neuen Schuldenzulasten unserer Kinder und Enkel. Wir wollen natürlichauch deswegen keine neuen Schulden machen, weil wiruns für die Zukunft Handlungsspielräume erhalten wol-len, die wir sicherlich auch im Verteidigungsetat nochbrauchen. Wir haben uns also in der Koalition auf einenKeine-neue-Schulden-Pakt verständigt. Selbstverständ-lich wird auch der Verteidigungsetat dazu seinen Beitragleisten. Das nur einmal vorweg, liebe Kolleginnen undKollegen.Das bedeutet aber nicht, dass wir vor den bestehendenund künftigen finanziellen Notwendigkeiten im Verteidi-gungsetat die Augen verschließen. Ganz im Gegenteil,der vorliegende Haushaltsentwurf bietet auch heuteschon Spielraum dafür, Dinge besser zu machen: für dieBundeswehr genauso wie für die Soldatinnen und Solda-ten und die Zivilbeschäftigten, die ihren Dienst dortversehen. Dass viele Dinge besser werden müssen, da-rüber sind wir uns mit den Kollegen aus dem Fachressortweitgehend einig.Es muss investiert werden in die Bundeswehr: in dieBeschäftigten – Stichwort: Attraktivität – und natürlichauch dringend ins Material. Das geht los bei Zulagen,Beförderungsmöglichkeiten und Ruhestandsbezügen, esgeht weiter bei der persönlichen Ausrüstung, zieht sichhin über den zum Teil wirklich erbärmlichen Zustandvon Kasernen und anderen Liegenschaften und landetschließlich bei großen Beschaffungsprojekten. Wir sinduns über den Bedarf in diesen Bereichen, jedenfalls imGrundsatz, einig, auch über die Regierungskoalitionhinaus.Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, die meistenvon uns sind lange genug im Verteidigungsressort unter-wegs, um zu wissen, dass wir da nicht nur und auchnicht in erster Linie über Probleme sprechen, die manmit mehr Geld allein lösen kann. Aus diesem Grund er-warte ich zumindest von denjenigen, die sich intensivermit Verteidigungspolitik beschäftigen, dass sie das auchso klar und differenziert in der Öffentlichkeit sagen.Mehr Geld allein wird die zum Teil gravierenden Pro-bleme im Verteidigungsbereich nicht lösen. Wer heutenach dem Motto „Wir nutzen jetzt einmal die Gunst derStunde, um eine Schippe draufzulegen“ argumentiert,der macht es sich nicht nur viel zu einfach, sondernverplempert schlicht und ergreifend das Geld der Steuer-zahler, verehrte Kollegen.
Wenn Soldatinnen und Soldaten heute völlig zu Rechtihr Leid klagen, weil irgendein Ausrüstungsgegenstandnicht zur rechten Zeit am rechten Ort verfügbar ist, dannist das Problem nicht immer nur darin zu suchen, dass
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Karin Evers-Meyer
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kein Geld da ist. Das Problem ist oft genug, dass entwe-der der Beschaffungsprozess wilde Blüten treibt oder dasbenötigte Teil gerade genau da ist, wo es gerade nichtgebraucht wird. Die heruntergekommenen Liegenschaf-ten, in denen hochmoderne U-Boote für 500 MillionenEuro das Stück liegen, sind ein Trauerspiel, aber ebenkeines, das sich nur ums Geld dreht. Die Frage ist viel-mehr, warum vorhandenes Geld nicht abgerufen wirdund die notwendigen Aufträge nicht endlich rausgehen.Damit komme ich quasi nahtlos zum größten Bro-cken, nämlich zu den großen Beschaffungsprojekten un-serer Zeit. Da muss ich einmal aus einem Rahmenerlasszur Neuordnung des Rüstungsbereiches zitieren, denVerteidigungsminister Helmut Schmidt Anfang der 70er-Jahre in Kraft gesetzt hat – ich finde das wirklich sehrspannend –:Bei einer Reihe von Rüstungsprojekten … warenerhebliche Verzögerungen, unangenehme Kosten-steigerungen und beachtliche technische Fehlleis-tungen aufgetreten.Meine sehr geehrten Damen und Herren, man kanneigentlich nur sagen: Willkommen zurück in der Gegen-wart! Aus dem Haushalt 2013 war über 1 Milliarde Euronicht abgeflossen, aus dem Haushalt 2014 wird voraus-sichtlich knapp 1 Milliarde Euro nicht abfließen, undman braucht kein Prophet zu sein, um für 2015 fast dasGleiche zu prognostizieren. Der Grund dafür ist: Be-stellte Rüstungsgüter werden nicht oder nicht pünktlichoder nicht so, wie bestellt, ausgeliefert.Bei allem Verständnis für die Komplexität des Pro-blems: Wie soll der Haushaltsausschuss des DeutschenBundestages denn mit so etwas umgehen? Wie sollenwir damit umgehen, dass solche Summen einfach nur soumherschwirren? – Das kann man nicht akzeptieren.Deswegen gilt: Bevor wir über Geld sprechen, und erstrecht, bevor wir über mehr Geld sprechen, muss aufge-räumt werden. Es gibt Probleme im System, und da nütztes nichts, mehr Geld obendrauf zu schütten.
Voraussetzung für Wahrheit und Klarheit im Verteidi-gungshaushalt ist heute vor allem Wahrheit und Klarheitinnerhalb der Beschaffungsprozesse im BMVg. DasBundesministerium der Verteidigung hat angekündigt,dass genau dafür gesorgt werden soll. Das ist sehr gut,und wir unterstützen das. Wir erwarten also in Kürze ei-nen Bericht zur Klarlage. Dann wissen wir, was an Gerätda ist und was davon einsatzbereit ist. Wir erwarten inKürze auch den Bericht des von der Ministerin einge-setzten Prüfkonsortiums. Dann müssen endlich Ent-scheidungen auf den Tisch. Es muss dann ein klarerFahrplan auf den Tisch, in dem steht, was beschafft wer-den soll, was wir brauchen und wofür, wie beschafftwerden soll und mit wem wir das vielleicht gemeinsambeschaffen können. Insofern gibt es tatsächlich eineGunst der Stunde. Es ist aber nicht die Stunde des finan-ziellen Aufwuchses – die Ministerin hat das ja eben auchsehr deutlich gesagt –, es ist vielmehr die Stunde saube-rer Grundlagenarbeit.Sie, Frau Ministerin, haben die Chance, nach vielenvertanen Jahren, für die Sie natürlich nicht haften, ver-nünftige, transparente Prozesse zu etablieren, damit dasGeld, das da ist, intelligent und effizient investiert wer-den kann. Sie haben jetzt die Chance, mit der Industrieein offenes Wort über Kosten, über die Einhaltung vonFristen und natürlich auch über die Einhaltung von tech-nischen Anforderungen zu sprechen; denn natürlich istauch die Industrie ein Teil des Problems. Sie haben jetztauch die große Chance – auch vor dem Hintergrund desNATO-Gipfels in Wales –, sich die richtigen Partner zusuchen, mit denen wir Beschaffungsprojekte vielleichtgemeinsam stemmen können.Ich erwarte vom angekündigten Beschaffungskonzeptdes Ministeriums mehr als Ideen für ein Framework. Wirwollen klare europäische und internationale Optionen.Geben Sie den Startschuss für echte europäische Be-schaffungsszenarien! In diesem Zusammenhang dankeich dem Wirtschaftsminister dafür, dass er gerade dasThema „Europäische Perspektiven der Rüstungsindus-trie“ auch von seiner Seite aus anpackt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zumSchluss noch ein paar Worte direkt an die Soldatinnenund Soldaten richten. Ich betreibe schon lange Verteidi-gungspolitik und weiß aus unzähligen Gesprächen, woDinge schieflaufen und wo Ihnen die Sorgen unter denNägeln brennen. Das Gleiche gilt für meine Kolleginnenund Kollegen im Haushalts- und im Verteidigungsaus-schuss. Seien Sie sicher: Wir gehen nach bestem Wissenund Gewissen und mit hoher Verantwortung mit IhrenSorgen um. Wir haben die feste Absicht, auch im Rah-men der Haushaltsverhandlungen für den Haushalt 2015,dafür zu sorgen, dass Sie weiterhin einen guten Job ma-chen können und dass sich Ihre Arbeit für Sie und IhreFamilien auszahlt. Wir sind stolz auf unsere Parlaments-armee, und wir sind stolz auf die Bundeswehr und auf dieArbeit, die Sie dort jeden Tag an vielen Orten der Weltleisten. Dafür danke ich Ihnen auch heute wieder.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächste Redne-rin hat die Kollegin Agnieszka Brugger von der FraktionBündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es er-greifen uns große Bestürzung und Erschütterung ange-sichts der zahlreichen eskalierenden Konflikte und bluti-gen Kriege im Irak und in Syrien, im Nahen Osten, inder Ukraine, aber auch in der ZentralafrikanischenRepublik und im Südsudan, auch wenn wir davon heutenicht mehr so viel in den Medien lesen wie noch vor einpaar Monaten. Und auch die Entwicklungen in Staatenwie Mali und Afghanistan geben großen Anlass zurSorge. Diese Krisen stellen die Weltgemeinschaft, dieVereinten Nationen, die Europäische Union und natür-lich auch Deutschland vor schwierige Fragen: Was
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4630 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 50. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2014
Agnieszka Brugger
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können und was müssen wir tun, um Leid zu mindern,die Zivilbevölkerung zu schützen und Gewalt einzudäm-men?Es gibt keine schnellen und keine einfachen Antwor-ten und auch kein Patentrezept, das für jede Krise passt.Ich glaube, vieles muss auch neu und ernsthaft diskutiertwerden. Wo und mit welcher politischen Gesamtstrate-gie, mit welchen Zielen und Mitteln engagiert man sich,auch rückblickend und auf Basis einer kritischen Evalua-tion der Einsätze der letzten Jahre? Welche Rolle kommtin diesen Strategien der Bundeswehr zu? Wo und unterwelchen eng begrenzten Bedingungen ist militärischesEingreifen erforderlich und sinnvoll, wo ist es kontra-produktiv, wo sind die Grenzen und Risiken? Was heißtdas für den Fortgang der Bundeswehrreform? Überwelche Fähigkeiten muss die Bundeswehr in welchemAusmaß verfügen, und auf welche muss sie deshalb viel-leicht verzichten?Diese vielen Fragen sollten eigentlich das Fundamentfür den Haushalt, den wir heute hier diskutieren, bilden.Angesichts des Verlaufs der bisherigen Debatte habe ichnicht das Gefühl, dass wir diesen Fragen in ausreichen-der Form gerecht geworden sind. Ich stelle auch sehrunterschiedliche Meinungsäußerungen aus der Koalitionfest. Sie zerlegen sich gerade, statt hier um ernsthafteAntworten zu ringen. Ich glaube, das wird der dramati-schen Lage nicht gerecht und ist unverantwortlich.
Herr Otte und Herr Hahn von der Union fordern jetztmehr Panzer und eine Erhöhung des Verteidigungsetats,dessen Volumen schon jetzt bei über 30 Milliarden Euroliegt. Sie verabschieden sich damit nicht nur von demHaushalt, den Ihre eigene Bundesregierung vorgelegthat, sondern auch von der Bundeswehrreform der letztenJahre. Sie wissen doch sehr genau, dass auch im letztenJahr über 1 Milliarde Euro wegen der riesigen Problemeim Beschaffungsbereich nicht ausgegeben wurden unddass wir noch weit davon entfernt sind, diese Problemeals gelöst zu bezeichnen.
Gleichzeitig glauben Sie, Herr Otte, doch nicht ernst-haft das, was Sie gerade hier vorgetragen haben, dassnämlich der Rückfall in die Kalte-Kriegs-Logik in ir-gendeiner Art und Weise einen Beitrag zur Lösung desKonfliktes und der Krise in der Ukraine ist.
Das, was Sie hier fordern, ist finanzpolitisch und sicher-heitspolitisch schlicht und ergreifend irrsinnig.
Auch die Kanzlerin und der Koalitionspartner SPDwidersprechen Ihnen hinsichtlich der Forderung nachErhöhung des Einzelplanetats. Auch die zuständige Ver-teidigungsministerin kommentierte ihren eigenen Haus-halt am Wochenende mit einem „vielleicht“. Man müssejetzt erst einmal schauen, wie viel eigentlich all daskoste, dem man beim NATO-Gipfel in Wales schon zu-gestimmt habe.Meine Damen und Herren, statt einer ernsthaftenDebatte offenbart mir diese chaotische Diskussion, dassSie eben kein Konzept und keine durchdachte und klugeSicherheitspolitik haben.
Frau Ministerin, man kann Ihnen eines sicherlichnicht vorwerfen, nämlich dass Sie seit Ihrem Amtsantrittuntätig geblieben seien. Im Gegenteil: Sie haben wirk-lich sehr viele Meldungen und Auftritte in den Medienproduziert. Unterm Strich stellt sich dabei aber immerwieder die Frage: Was ist dabei herausgekommen? Folgtder Show dann auch Substanz?Nehmen wir das Beispiel Waffenlieferungen. Nachwie vor schulden Sie uns eine Antwort auf die Frage,welcher Großverband der Peschmerga genau die Waffenbekommen soll, die Sie dorthin liefern wollen. Wirhaben auch nicht erfahren, was andere Nationen liefern.Das ist eine wichtige Information, um zum Beispiel dasProliferationsrisiko einzuschätzen.Wir erfahren aus den Medien, dass Deutschland jetztTeil einer Koalition ist, die die USA angestoßen hat unddie ISIS bekämpfen soll. Bis heute wissen wir abernicht: Was ist unser genauer Beitrag? Welcher Strategiefolgt das Ganze? Welche Rolle spielen dabei die Nach-barstaaten in der Region, die ganz wichtig sind, wennman nur in irgendeiner Art und Weise zur Lösung diesesKonflikts beitragen will?All diese Fragen müssen geklärt und beantwortet wer-den. Stattdessen haben Sie sich eher als tatkräftigeMinisterin dargestellt, der es vor allem darum geht, einTabu zu brechen.
Wir erinnern uns auch alle an den großen Medienrum-mel um das Thema Vereinbarkeit von Familie undDienst bei der Bundeswehr. Nach wie vor bleiben Sieuns hier viele Antworten schuldig. Wir haben erheblicheZweifel, ob es am Ende wirklich gelingt, die Vereinbar-keit von Familie und Dienst zu verbessern, ob das auchfinanziell unterlegt ist. Aber die Hochglanzbroschüremit dem Titel „Aktiv. Attraktiv. Anders.“ ist schon langeentworfen und verteilt. Nur auf das Artikelgesetz zumAttraktivitätsprogramm warten wir seit Monaten.Eine ähnliche Geschichte gab es in der Frage der Rüs-tungsdesaster. Wutentbrannt über das Chaos in IhremHaus haben Sie einen Staatssekretär und den zuständi-gen Abteilungsleiter verabschiedet und 15 Projektstatus-berichte in Bausch und Bogen abgelehnt. Sie haben danneinen Auftrag an eine Unternehmensberatung vergeben.Diese sollte Ihnen dabei helfen, diese 15 kritischenRüstungsprojekte und die Strukturen im Ministeriumgrundsätzlich zu durchleuchten. Dann aber räumt IhrMinisterium kleinlaut ein, dass wegen des zeitlichen undfinanziellen Umfangs des Auftrages völlig willkürlichnur noch neun Projekte geprüft werden. Frau Ministerin,es sieht auch hier nicht danach aus, dass Sie es schaffen,
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Agnieszka Brugger
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Ihre Versprechen umzusetzen. Es muss aber endlichSchluss sein damit, dass im VerteidigungsbereichSteuergeld in dieser Form dermaßen verschleudert undverschwendet wird.
Ich möchte noch ein viertes Beispiel anführen: Einpaar Monate später sind Sie in die USA gereist und ha-ben dort die Vereinten Nationen besucht. Sie haben einstärkeres deutsches Engagement innerhalb der VereintenNationen angekündigt. Aber bis heute haben wir nichteinen einzigen konkreten Vorschlag dazu gesehen, wiedas eigentlich umgesetzt werden soll. Alles was passiertist, ist, dass wir uns weniger stark an der UN-Mission inMali beteiligen. Ich muss Ihnen sagen: Das ist ja einrichtiger Gedanke, aber wir erwarten, dass Ihren Ankün-digungen an dieser Stelle auch Taten folgen.Frau von der Leyen, allzu oft schrumpfen die Ankün-digungen, die Sie im Scheinwerferlicht machen, bei Ta-geslicht dann doch auf sehr mickrige Ergebnisse zusam-men.Meine Damen und Herren, wir von der Oppositionwürden wirklich gerne mit Ihnen über die schwierigenFragen und die Herausforderungen für die deutsche Au-ßen- und Sicherheitspolitik diskutieren. Aber dazu soll-ten Sie erst einmal dieses koalitionäre Gezänk beenden,einen soliden Haushalt vorlegen und die Substanz vordie Show stellen. Denn die Krisen auf dieser Welt erfor-dern kluge und durchdachte Antworten.Vielen Dank.
Als nächster Redner hat der Kollege Ingo Gädechens
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vorder sitzungsfreien Zeit hatten wir eine angeregte Haus-haltsdebatte für das jetzige Haushaltsjahr, und heutefolgt – fast nahtlos daran anschließend – die Haushalts-debatte für das kommende Jahre 2015.Wer noch einmal aufmerksam die Reden, die hier indiesem Haus vor wenigen Wochen gehalten wurden,liest, stellt fest, wie schnelllebig die Zeit ist, wie fragilsicher geglaubte Strukturen sind und wie labil sich ak-tuell die Sicherheitslage in der Welt zeigt.Traditionell geht es heute in der ersten Lesung um denHaushalt für das kommende Jahr. Aber die Sondersit-zung in der vergangenen Woche hat uns bereits deutlichvor Augen geführt: Überall auf der Welt lodern Krisen-herde auf. Nicht nur die bedrückende Situation in derUkraine treibt uns mit Sorge um und veranlasst die Re-gierung der freien Völker zum Handeln, sondern mitgroßer Sorge blicken wir auch wieder Richtung Gaza-streifen und auf die Sicherheit Israels. Fassungslos bli-cken wir auf islamistischen Terror und Hass, der sich inTeilens des Iraks und Syriens breit gemacht hat. Wirschauen auch auf Libyen und auf das humanitäre Elendin Afrika.Wer von uns, meine Damen und Herren, hätte ge-dacht, dass wir in einem Glaubenskrieg Gräueltaten se-hen, die mehr an das Mittelalter erinnern als an das21. Jahrhundert? Wir alle sind gezwungen, mehrere Kri-senherde gleichzeitig zu bewerten, um diese gemeinsammit unseren Verbündeten einzudämmen und ihnen entge-genzuwirken.Wir dürfen nicht darauf hoffen – leider nicht –, dassdie Vernunft mehr und mehr um sich greift und die Men-schen überall auf der Welt endlich auf Krieg und Gewaltverzichten. Dies wäre nicht nur politisch naiv, sondernwürde die gegenwärtige Realität in der Welt ignorieren.Der NATO-Generalsekretär – nur noch wenige Tage imAmt – hat die prekäre Situation beim Gipfeltreffen wiefolgt beschrieben:Unsere Allianz ist eine kleine sichere, stabile undgedeihende Insel, die von Krisen umgeben ist.Natürlich machen die Krisen deutlich, wie hoch dereigentliche Stellenwert des Nordatlantischen Bündnissesist. Auf dem NATO-Gipfel in Wales wurden die derzei-tige Lage und die künftigen Herausforderungen klar be-nannt: Bündnisverteidigung rückt somit nach Jahren ei-ner gewissen Vernachlässigung wieder stärker in denMittelpunkt des Handelns. Genauso wichtig ist in derjetzigen Lage, dass wir alle im Kopf ein gut Stück auf-wachen und konsequent handeln. Niemand, meine sehrverehrten Damen und Herren, wünscht sich kriegerischeEskalation, aber Deutschland darf nicht wegschauen,wenn an Europas Grenzen Völkerrechtsbruch, Krieg undVölkermord geschehen.
Aus diesem Grund begrüße ich die aktuelle Entschei-dung, entgegen bisheriger Normen in begrenzter Formauch Waffenlieferungen in Krisengebiete zu erlauben.Dies wird sicherlich die Ausnahme bleiben, und ausmeiner Sicht bleibt eine gute Diplomatie die wichtigsteWaffe, um Krisenherde in der Welt einzudämmen.Auch hierfür gebühren den Handelnden in der Regie-rung, der Bundeskanzlerin und dem Außenminister, aberinsbesondere unserer Verteidigungsministerin – sie kannnicht alles allein machen – ein herzliches Dankeschönund ein großes Lob für all ihre deeskalierenden Gesprä-che mit den Bündnispartnern, um die Krisenherde in derWelt einzudämmen.
Deutschland sieht nicht tatenlos zu, wenn an EuropasGrenzen Gräueltaten geschehen. Ebenso begrüße ich diein Wales getroffene Entscheidung, eine NATO-Eingreif-truppe mit hoher Einsatzbereitschaft und einem Haupt-quartier in Osteuropa aufzustellen. Wir brauchen alsAntwort auf die um sich greifende Aggression eine ver-
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Ingo Gädechens
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besserte Reaktionsfähigkeit der NATO. Auch diese Maß-nahme wird Geld kosten. Darauf sollten wir uns jetztschon einstellen.
Meine Damen und Herren, jede Krise erfordert einabgestimmtes, kluges und gerade jetzt auch ein ent-schlossenes Vorgehen. Sie aber grummeln jetzt herum,und Sie, Frau Höger, haben gerade gesagt, man müsseRussland mit anderen Augen betrachten und man müssebeide Seiten sehen.
Zum jetzigen Zeitpunkt werden Atomtests durchgeführt,und zwar nicht von der NATO und nicht von Amerika,sondern in Russland, und weitere sind geplant. Das sindAggressionen, und das sind Zeichen, die nicht auf Frie-den hindeuten. Das sollten Sie lieber registrieren, statthier vom Rande aus herumzugrummeln.
Meine Damen und Herren, jede Krise erfordert einabgestimmtes, kluges und gerade jetzt auch ein ent-schlossenes Vorgehen. Die Sanktionen gegen Russlandwaren Gegenstand kritischer Diskussion. Denn Sanktio-nen erzeugen oftmals Gegensanktionen, und Handelsbe-schränkungen treffen gerade auch unsere exportabhän-gige Wirtschaft in besonderer Weise. Dennoch dürfenwir nicht den Fehler begehen, uns nur an ökonomischenFakten zu orientieren. Die Bundesregierung handelt be-sonnen und mit Bedacht. Das Handeln Russlands in derKrise ist hingegen absolut inakzeptabel. Russland, insbe-sondere Präsident Putin, hat den Schalthebel zur Kon-fliktbewältigung in der Ukraine in den Händen. Solangedieser Schalthebel nicht auf Deeskalation gestellt wird,ist zunehmender Druck auf Russland notwendig.Auch und gerade vor dem Hintergrund dieser weltpo-litischen Lage ist der Einzelplan 14 zu bewerten. Im Ver-teidigungsetat geht es einmal mehr um die finanzielleAusstattung. Es geht um das Geld, das wir der Bundes-wehr, den Soldatinnen und Soldaten, aber auch den zivi-len Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zur Verfügungstellen wollen bzw. können. Es geht um attraktivitätsstei-gernde Maßnahmen, um Wartung und Instandsetzung,aber es geht auch um viel Geld, das wir für modernesGerät und für den Schutz und die Sicherheit unserer Sol-daten investieren müssen.Nahezu alle Redner haben in dieser laufenden Haus-haltsdebatte das große Ziel beschrieben, das wir gemein-sam erreichen wollen: Wir wollen auf jegliche neueSchulden im Haushaltsjahr 2015 verzichten. Ich bin zu-versichtlich, dass wir dieses Ziel nach 45 Jahren endlicherreichen werden. Aber der Weg dahin ist so fragil wiedie derzeitige Sicherheitslage in der Welt.Meine Damen und Herren, die Basis für jede wirt-schaftliche Entwicklung und soziale Stabilität ist innereund äußere Sicherheit. Wir sollten das bei all den berech-tigten Forderungen, die andere Fachbereiche an denBundeshaushalt stellen, stets im Blick behalten. Unsereinnere und äußere Sicherheit und der Schutz der Souve-ränität und Integrität Deutschlands und seiner Verbünde-ten sind ein enorm hohes Gut.Wir Verteidigungspolitiker haben sicherlich die bes-ten Argumente, um mehr Geld für den Einzeletat zu for-dern. Wir tun das nicht – ich sage leise: wir tun das nochnicht, liebe Frau Höger –, weil wir der Überzeugungsind, dass wir im Haushaltsjahr 2015 mit dem zugewie-senen Etat von 32,2 Milliarden Euro auskommen wer-den. Aber ich sage auch sehr deutlich: Wir stoßen bereitsjetzt an Schmerzgrenzen. Der Verteidigungshaushalt istauf Kante genäht. Finanzielle Spielräume sind nichtmehr vorhanden. Neue Aufgaben neben den derzeitigenAufträgen kann unsere Bundeswehr nicht mehr verkraf-ten. Denn – auch daran sei noch einmal erinnert – dieBundeswehr befindet sich neben den Einsätzen in einerNeuausrichtung, die oft als Operation am offenen Her-zen beschrieben wurde – nur mit dem Unterschied, dassder Patient nicht im OP liegt, sondern auf dem Gehwegläuft.Unsere Soldatinnen und Soldaten leisten in dieser Um-bruchphase in zahlreichen Einsätzen im In- und Auslandwirklich Außerordentliches. Ihnen gilt daher unser ganzbesonderer Dank.
Trotz Abzug großer Kontingente aus Afghanistan undder erhofften Entlastung der Truppe haben wir bereitsneue Aufgaben und Herausforderungen zu bewältigen.Ich nenne hier beispielsweise die Operation ActiveFence in der Türkei oder das Air Policing im Baltikum.Die Zahl der Einsätze wird also absehbar nicht geringer,genauso wenig wie die Belastungen für Soldaten undMaterial. Der Verteidigungshaushalt wird sich – das istmeine feste Überzeugung – dieser Entwicklung mittel-fristig anpassen müssen.Frau Präsidentin, ich weiß, dass Sie das nicht so gernemögen. Aber Henning Otte hat die Latte so hochgelegt,als er die Feuerwehrleute aus Uelzen persönlich begrüßthat, dass ich noch sagen möchte: Ich freue mich, dass derKreisfeuerwehrverband Ostholstein ebenfalls auf derTribüne zugegen ist.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Die Feuerwehr dürfen Sie immer begrüßen. Auf diesind wir schließlich angewiesen. Ich mag es aber nicht,wenn die Redezeit zu sehr überschritten wird, HerrGädechens.Liebe Kollegen, als nächste Rednerin hat jetzt dieKollegin Gabi Weber das Wort.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Heute wurde bereits einiges zur Bundeswehr, ih-ren Aufgaben und ihrer Ausrichtung gesagt. Besondersdie Konflikte in der Ukraine und im Nahen Osten verlan-gen unsere Aufmerksamkeit. Darauf werde ich aber andieser Stelle nicht näher eingehen. Vielmehr möchte ichdarauf hinweisen, dass die Menschen, die alles umsetzensollen, was wir von ihnen verlangen, unsere besondereAufmerksamkeit verdienen.Damit komme ich zu dem Thema Attraktivität derBundeswehr, das unser aller Anliegen werden muss.Wenn wir die Attraktivität der Bundeswehr nicht stei-gern, wird die Bundeswehr auf Dauer nicht in der Lagesein, das zu tun, was wir von ihr verlangen. Frau Minis-terin, seit Beginn Ihrer Amtszeit steht das Thema Attrak-tivität neben dem Beschaffungswesen ganz oben auf Ih-rer Agenda. Das ist richtig so; denn die Bundeswehr istin hohem Maße davon abhängig, gut ausgebildete undzufriedene Menschen für den Dienst zu gewinnen undvor allen Dingen auch zu halten. Bereits im Frühjahr ha-ben Sie dazu eine Debatte angestoßen und erste Schritteunternommen. Der Haushalt 2015 sieht nun weitereMaßnahmen auf diesem Gebiet vor. Wir sind willens,Sie bei Ihrem Vorhaben weiterhin konstruktiv zu unter-stützen.Die Vereinbarkeit von Familie und Dienst in der Bun-deswehr ist ein Anliegen, das wir als SPD schon längerverfolgen, nicht nur für die Zivilbeschäftigten, sondernauch für die Soldatinnen und Soldaten. Die Ministerinhat dazu in den verschiedenen Kapiteln des Verteidi-gungshaushalts Vorsorge getroffen und stellt finanzielleMittel zur Verfügung. Mit diesen sollen unter anderemeine eigene Beauftragte für die Vereinbarkeit von Fami-lie und Dienst finanziert und Verbesserungen bei der Be-treuung von Familien und Kindern erreicht werden. DerAnsatz von 19,5 Millionen Euro für diesen Zweck ist einerster Schritt hin zur Vereinbarkeit. Aber an dieser Stellemuss noch mehr folgen.
Es lohnt sich, hinzusehen, was wo in der Bundeswehrbereits gemacht wurde, welche Best-Practice-Beispielees gibt, die Orientierung bieten. Da fällt mir als Erstesein, dass die Bundeswehr einen großen Anteil Zivilbe-schäftigter hat, deren Arbeitszeit ordentlich geregelt ist.Eine moderne Dienstzeitregelung auch für Soldatinnenund Soldaten, die ihren Dienst im Grundbetrieb leisten,inklusive einer Regelung für geleistete Überstunden istlange überfällig.
Wenn wir schon von einer Dienstzeitregelung sprechen,gehören dazu sicherlich auch Möglichkeiten zur Teilzeit-arbeit für Soldaten. Wer glaubt, dass nun die alte Hämevom Teilzeitkrieger oder von Einsätzen, die nur nochvormittags stattfinden können, angebracht sei, denmöchte ich mit einem Rechenbeispiel nachdenklichstimmen.In einer Zielstruktur von 185 000 Soldaten sollen30 000 jeweils zu einem Zeitpunkt entweder im Einsatzoder in der Vor- oder Nachbereitung sein können. Alsoarbeiten immerhin 150 000 im normalen Grundbetrieb.Dort ist Teilzeit durchaus möglich.
Teilzeitarbeit ist auch deswegen wichtig, um Mög-lichkeiten zu schaffen, die Zeit nach dem persönlichenBedarf einteilen zu können – und natürlich auch für dieFamilie. Die Menschen von heute wollen mehr Flexibili-tät und Freiräume, und wenn die Bundeswehr dies anbie-ten kann, steigert das die Attraktivität des Dienstes unddamit auch die Zufriedenheit unserer Soldatinnen undSoldaten.Nicht auf der Strecke bleiben dürfen bei diesem Mo-dell die Aufstiegsmöglichkeiten auch für Teilzeitbe-schäftigte. Machen wir uns nichts vor: Auch in Teilzeitwill und kann Mensch Karriere machen. Aber gerade dieMänner sind es, die bei den Teilzeitbeschäftigten zurzeitnoch deutlich in der Minderheit sind, nicht zuletzt ausAngst davor, dass ihre Leistungen auf dem Weg nachoben gegenüber den Vollzeitkollegen nicht vergleichbarberücksichtigt werden.Zur Attraktivität zählen aber nicht nur die genanntenzentralen Punkte Familie und Dienst, sondern, beimThema Karriere, auch ein vernünftiges Berufsbildungs-und Personalentwicklungskonzept für Soldaten und zi-vile Mitarbeiter. Ein solches würde auf beiden Seiten fürhöhere Planungssicherheit und größere Transparenz beiPersonalentscheidungen sorgen. Im Wettbewerb mit derfreien Wirtschaft um die besten Köpfe ist ein solchesKonzept dringend notwendig. Leider vermisse ich eineentsprechende Regelung in Ihrem für den Herbst geplan-ten Artikelgesetz. Unsere Unterstützung hätten Sie andieser Stelle, Frau Ministerin.
Es gibt eine Reihe von Punkten, die ich hier nichtmehr ausführen kann, wie Homeoffice, Innere Führungsowie Offenheit gegenüber neuen Technologien. Sosollte WLAN auf Schiffen mittlerweile zur Grundaus-stattung gehören;
denn Marinesoldaten leisten dort rund um die Uhr fernabihrer Familien einen intensiven Dienst. Skype sollteebenso selbstverständlich sein.
Das Thema Infrastruktur hat meine Kollegin vorhinschon angerissen. Hier ist noch einiges nachzuholen.Das Geld ist vorhanden, aber es muss schneller abflie-ßen, damit auch an dieser Stelle die Attraktivität derBundeswehr steigt.Zwei Dinge möchte ich zum Abschluss noch sagen.Attraktivität kostet Geld. Deshalb müssen entsprechendeMaßnahmen seriös im Haushalt abgebildet werden. Und:Die Bundeswehr soll attraktiv für Ältere und Jüngeresein, nach außen und innen, für bestehendes Personalund für neue Bewerberinnen und Bewerber. Dabei darfes aber keine Schlechterstellungen für diejenigen geben,die bereits bei der Bundeswehr sind.
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Gabi Weber
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Ein letzter Satz. Es werden gut ausgebildete und zu-friedene Leute gesucht. Die kommen aber nicht einfachso. Wenn uns am Ende die Leute fehlen, dann brauchenwir auch nicht über neue und komplizierte Waffensys-teme nachzudenken; denn dann haben wir niemanden,der diese bedienen kann.
Als nächster Redner hat der Kollege Bartholomäus
Kalb das Wort.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Der Verteidigungsetat – das wurde gesagt –ist der zweitgrößte Einzelplan im Bundeshaushalt unddamit natürlich von ganz besonderer Bedeutung. Vor derSommerpause haben wir auch hier über die Aussagendes Herrn Bundespräsidenten, aber auch der Frau Bun-desverteidigungsministerin bei der Münchener Sicher-heitskonferenz über die gestiegene Verantwortung disku-tiert. Es gab außerhalb dieses Kreises eine unschöneEntwicklung auf der Seite der Linken, als ein Parlamen-tarier aus Potsdam gemeint hat, den Herrn Bundespräsi-denten in unsäglicher Weise diffamieren zu müssen.Heute früh hat uns der polnische Staatspräsident sehreindringlich gesagt, dass es um eine gemeinsame Verant-wortung geht. Wenn man von Verantwortung spricht,dann muss man auch in der Lage sein, diese Verantwor-tung wahrzunehmen.
Wir alle sind weit davon entfernt – auch die Bundes-ministerin hat es vorhin gesagt –, zu meinen, man wärenur mit Verteidigungspolitik und nur mit militärischenMitteln in der Lage, diese Verantwortung wahrzunehmen.Ganz im Gegenteil: Wir in der Koalition sind dankbar,dass der Außenminister und der Minister für wirtschaftli-che Zusammenarbeit auf Diplomatie setzen. Diese unddie humanitäre Hilfe sind Elemente einer Politik, die wirgemeinsam mit den Möglichkeiten, die wir im Verteidi-gungsbereich haben, bereitstellen müssen, um dieserVerantwortung gerecht werden zu können.Es ist von allen Rednern schon gesagt worden, wiesehr sich für uns alle die Welt geändert hat, deshalb willich mich gar nicht länger damit befassen. Wir konntenuns doch bis vor wenigen Monaten überhaupt nicht vor-stellen, dass eine Art militärische Auseinandersetzungauf dem europäischen Kontinent in dieser Weise stattfin-den könnte. Es gab zuvor den Balkankonflikt, und wirmeinten, wenn er beendet sei, dann seien die größtenProbleme in Europa gelöst. Jetzt stehen wir vor völligneuen Herausforderungen. Schon gestern sind die He-rausforderungen beschrieben worden, die sich für unsdurch den sogenannten arabischen Krisenbogen ergeben.Wir können uns da nicht aus unserer Verantwortungstehlen.Vorhin hat ein Abgeordneter – ich glaube, es war HerrArnold – auf die derzeit 17 Auslandsmissionen der Bun-deswehr hingewiesen. Über diese Einsätze reden wir imMoment schon gar nicht mehr; aber sie sind natürlicheine besondere Herausforderung für die Angehörigender Bundeswehr, aber auch für uns. Ich sage heute nocheinmal, weil es mir sehr wichtig ist – ich glaube, dieKollegin Karin Evers-Meyer denkt auch so –: Wir wol-len auch in der Zukunft eine Parlamentsarmee haben.Das heißt, dass wir uns als Parlamentarier selbst in derVerantwortung sehen, sodass wir unter Umständen nachschwierigen Abwägungs- und Diskussionsprozessen ent-scheiden müssen, was wir den Angehörigen der Bundes-wehr an Einsatzaufträgen zumuten.Dass die Bundeswehr eine Parlamentsarmee ist, ga-rantiert, dass unsere Armee nicht am Rande der Gesell-schaft steht, sondern in ihrer Mitte angesiedelt ist. Ichdenke, das ist wichtig. Die Soldatinnen und Soldatenmüssen, wenn es Einsatzaufträge gibt, immer wissen,dass das Parlament zu ihnen steht, auch wenn es für unsAbgeordnete manchmal durchaus schwierig ist, die ent-sprechenden Entscheidungen zu treffen.
Wir können allen Angehörigen der Bundeswehr, obzu Hause oder in Einsatzgebieten tätig, nur sehr dankbarsein, dass sie bereit sind, diese Aufgaben wahrzuneh-men, und dass sie bereit sind, für uns alle ein hohesRisiko einzugehen und eine hohe Verantwortung zuübernehmen. Ich bin aber auch der Meinung, dass dieRückbindung der Bundeswehr an das Parlament – imBegriff „Parlamentsarmee“ kommt die Parlamentszu-ständigkeit zum Ausdruck – geradezu ein Markenzei-chen und ein Qualitätsmerkmal für die deutsche Sicher-heitspolitik darstellt.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich willnoch ein paar andere Dinge ansprechen. Die demografi-sche Entwicklung allgemeiner Art und die Gott sei Dankgute konjunkturelle Lage, die wir in unserem Land ha-ben, stellen uns in der Frage der Nachwuchsgewinnungnatürlich vor völlig neue Herausforderungen; wir habenja nicht mehr die allgemeine Wehrpflicht. Ich denke,dass Wehrdienstleistende leichter für einen längerenDienst bei der Bundeswehr zu gewinnen waren. NachAbschaffung der Wehrpflicht stehen wir heute in Kon-kurrenz mit anderen Berufstätigkeiten, mit anderenBranchen. Wir befinden uns in einem Wettbewerb umdie guten, tüchtigen und klugen Köpfe in der jungen Ge-neration, die die Bundeswehr in besonderer Weisebraucht.Ich bin schon befremdet, wenn ich höre, dass irgend-welche Lehrer der Meinung sind, Jugendoffiziere dürf-ten an Schulen ihren Beruf nicht vorstellen und keineGespräche führen. Wenn wir den Bundeswehrangehöri-gen die gleichen Chancen bieten wollen, dann müssenauch die Nachwuchswerber der Bundeswehr die Chancehaben, junge Menschen über Möglichkeiten, über Risi-ken und über Bedingungen aufzuklären. Ob das inSchulklassen oder auf Ausbildungsmessen geschieht, seidahingestellt. Es gehört nun einmal dazu, dass über dasAufgabenspektrum, das sich hier bietet, informiert wird.
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Bartholomäus Kalb
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, wie bereitsangesprochen worden ist, ist es wichtig, dass die Attrak-tivität des Dienstes in der Bundeswehr gesteigert wird.Entsprechende Maßnahmen sind auch im aktuellenHaushaltsentwurf vorgesehen. Daran muss sicher nochweitergearbeitet werden; keine Frage.Wichtig ist auch eine Idee, die die Frau Bundesminis-terin entwickelt hat und die wir nur unterstreichen kön-nen, nämlich die interne Weiterqualifikation insbeson-dere derer, die zeitlich befristet einen Dienst bei derBundeswehr leisten, damit dann auch der Übergang ineinen Zivilberuf leichter möglich ist. Das ist ebenfallseine wichtige Maßnahme für unsere jungen Leute, diesich zunächst für den Dienst in der Bundeswehr ent-scheiden.Das Thema Familienfreundlichkeit ist vorhin schonangesprochen worden. Keine Frage, dass hier alles getanwerden muss, was möglich ist. Nur: Wir müssen bei al-len diesen Bemühungen ehrlich genug sein, zu sagen:Der Dienst in der Bundeswehr bringt besondere Heraus-forderungen mit sich.Meine sehr geehrten Damen und Herren, es geht umAusrüstung, Geräte, Großprojekte und Vorhaben. Das al-les ist stichwortartig schon genannt worden. Ich kannmich damit nicht länger aufhalten. Es ist natürlich wich-tig, dass wir die nötige Ausrüstung und das nötige Gerätzur Verfügung stellen können.Wir müssen auch schauen, welche militärischen Fä-higkeiten und Kompetenzen wir in der Zukunft habenwerden. Ich bin erstaunt, wenn ich in Magazinen dazuetwas mit dem Unterton lese, es sei ja völlig unmöglich,dass Politik und Ministerien und Industrie miteinanderredeten. Was denn sonst? Natürlich muss man über dieseFragen miteinander reden. Das ist geradezu geboten undschon gar nicht unanständig.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir Haus-hälter haben den Appell der Bundesministerin und derFachkollegen schon gehört. Es geht darum, was am Endevon Haushaltsberatungen gelegentlich drohen kann, abernicht drohen sollte. Es war eine ziemlich imperativ vor-getragene Bitte, Frau Bundesministerin. Ich kann Ihnensagen: Wir Berichterstatter werden die Beratungen na-türlich sehr ernsthaft führen. Wir werden sehr ernsthaftversuchen, auf die drängenden Probleme einzugehen, diedrängenden Probleme zu berücksichtigen. Herr Arnoldhat es angesprochen: Es ist in der mittelfristigen Planungvorgesehen, dass die Kürzungen, die jetzt im Einzelplan 60für das sogenannte Überhangpersonal vorgenommenwerden –
Herr Kollege Kalb, ich muss Sie bitten, zum Schluss
zu kommen.
– ich bin sofort am Ende, Frau Präsidentin –, zeitnah,
ab 2016 wieder zurückgenommen werden.
Frau Präsidentin, wenn Sie erlauben, will ich auch im
Namen der übrigen Berichterstatter zum Einzelplan 14
die Kollegin Karin Evers-Meyer als Mitberichterstatterin
ansprechen. Ich glaube, es ist ein Beispiel für Pflichtbe-
wusstsein, wenn man an einem bedeutenden Geburtstag,
wie sie ihn heute begehen kann, hier seine Pflicht tut,
den ganzen Tag hindurch. Herzlichen Glückwunsch zu
dem bedeutenden Geburtstag!
Herzlichen Dank.
Diesen Glückwünschen schließen wir uns als ganzes
Haus ausdrücklich an. – Als nächster Redner hat der
Kollege Karl-Heinz Brunner das Wort.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen undKollegen! Dem letzten Redner zu einer Tagesordnunghat der Münchner Volkssänger Karl Valentin einmalempfohlen, er möge damit beginnen, zu sagen: „Es istschon alles gesagt, aber noch nicht in dieser Deutlichkeit
und noch nicht von mir“, er möge dann sofort in seinManuskript schauen und kurz entschlossen dieses ver-wenden.Meine Kolleginnen und Kollegen, meine sehr geehr-ten Damen und Herren, das möchte ich am Ende dieserRednerliste nicht tun, möchte aber doch noch in der ge-botenen Kürze einige Aspekte gern ansprechen. Ichhoffe, dass ich dafür noch ein bisschen Aufmerksamkeiterhalte.
Gern, meine sehr verehrten Damen und Herren, wer-den Haushaltsberatungen als die höchste Disziplin derparlamentarischen Demokratie bezeichnet. Das mögensie sein. Ich sage: Ja, sie sind es, aber sie sind nichtSelbstzweck, sondern sie sind Mittel zum Zweck, unddieser Zweck ist letztendlich die Befriedigung der Be-dürfnisse der Menschen unseres Landes, der Menschender heutigen Generation und der Menschen der kom-menden Generationen. Deshalb sage ich hier ganzunverhohlen: Es fühlt sich richtig gut an, heute einenHaushaltsentwurf ohne Neuverschuldung in Händen zuhalten. Ich finde das gut, ich finde das schön, und ichfreue mich darüber.
Meine sehr verehrten Damen, meine sehr verehrtenHerren, liebe Kolleginnen und Kollegen, noch besserwird aber das Gefühl, wenn man sich sicher sein kann,dass die im Haushaltsplan vorgesehenen Mittel auch soeingesetzt werden, dass sie dort ankommen, wo sie hin-
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4636 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 50. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2014
Dr. Karl-Heinz Brunner
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gehören. Das bedeutet bei der Beratung des Verteidi-gungsetats, dass die Mittel bei denen ankommen, diedem Schutz unserer Bürgerinnen und Bürger, demSchutz unserer Freiheit und dem Schutz unseres Werte-systems dienen, also bei unseren Soldatinnen und Solda-ten und, nicht zu vergessen, den zivilen Mitarbeiterinnenund Mitarbeitern.Meine sehr verehrten Damen und Herren, hier gibt esnoch einiges zu tun. Den Komplex „Attraktivität“ hat dieKollegin Gabi Weber schon beleuchtet. Es ist aber nochmehr. Um ihrer Aufgabe gerecht zu werden, verdienenes die Soldatinnen und Soldaten, bestmöglich ausgebil-det – das ist der Fall – und bestmöglich ausgerüstet zusein. Schlichtweg: Sie haben Anspruch darauf, einen gu-ten, nein, einen hervorragenden Arbeitsplatz zu bekom-men.Sehr verehrte Frau Ministerin, vor etwa sechs Mona-ten haben Sie für die Bundeswehr das Bild von einemUnternehmen mit etwa 200 000 Beschäftigten gebrauchtund als Ziel bezeichnet, dass die Bundeswehr künftigwie ein Unternehmen geführt wird. Das hat mir ausge-sprochen gut gefallen. Ich werde dies gerne unterstützen.Aber wir sind erst ein kleines Stück auf diesem Weg vo-rangekommen; denn es passt noch nicht in das Bild einermodernen Armee, wenn ich beispielsweise bei Truppen-besuchen feststelle, dass die Soldatinnen und Soldatenmanchmal Ausrüstungsgegenstände aus eigener Taschebezahlen und beschaffen, weil sie im täglichen Dienstspüren, dass die Beschaffung von Material auf einemlangen und zähen Weg erfolgt. Können wir uns einenKfz-Mechaniker vorstellen, der zum Üben ein Fahrzeuglangfristig vorbestellen muss? Nein.Ein Kollege hat gestern gesagt: Warum kann man bei-spielsweise bei Amazon garantieren, dass was heute be-stellt wird, morgen geliefert wird? Geht dies nicht auchbei der Bundeswehr? Ich glaube, darin liegt ein Körn-chen Wahrheit. Die Truppenbesuche zeigen: Die Solda-ten wollen keine Plüschtiere und Plüschteppiche, siewollen vernünftiges Arbeitsmaterial, und sie wollen vorallen Dingen die Unterstützung ihres Auftraggebers, un-seres Hohen Hauses, des Deutschen Bundestages. Hörenwir doch auf die Menschen in den Kasernen, die für unsDienst tun, und sorgen wir dafür, dass es dann auch inso-weit klappt. Wir müssen sie dafür rüsten, hier und imEinsatz bereit zu sein, damit sie ihren Auftrag erledigenkönnen. Ich bin davon überzeugt, dass sie für das vieleKlein-Klein keine Zeit haben.Der jüngste NATO-Gipfel in Wales hat gezeigt, wel-che Aufgaben und welche Verantwortung auf uns zu-kommen: beispielsweise mit der Verabschiedung desReadiness Action Plan, dem verstärkten Baltic Air Poli-cing, den AWACS-Flügen, der Marinepräsenz in derOstsee und im Schwarzen Meer, der Erhöhung der Be-reitschaft und der Reaktionsfähigkeit durch die Schaf-fung einer Einheit für höchste Bereitschaft. Deutschlandist Pflichten eingegangen und hat Verantwortung über-nommen. Dem müssen wir gerecht werden.Sehen wir den Druck der aktuellen Krise doch alsChance, unseren Standpunkt, unsere Verantwortung, un-sere Politik in der Welt und der Wertegemeinschaft in ei-nem gemeinsamen Europa und in der NATO mit mehrGewicht einzubringen. Sehen wir es als Chance, endlichüber unsere Rolle in der Welt auch hier in diesem Hauseganz offen zu sprechen, eine Rolle im Gleichklang vonDiplomatie, wirtschaftlicher Zusammenarbeit und Ent-wicklung sowie effektiver Verteidigung. Nur wenn alledrei Teile zusammenpassen, kann es auch gelingen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, verehrteKolleginnen und Kollegen, ich sehe das Licht hier blin-ken, aber ich habe keinen Nachredner, dem ich etwas ab-ziehe.
Ich komme zum Ende.
Also, lieber Kollege, so geht es nicht. Wir haben noch
eine Runde vor uns. Deshalb muss ich Sie bitten, zum
Schluss zu kommen. Es geht nicht anders. Es tut mir
leid.
Ich will Ihrer Mahnung, sehr verehrte Frau Präsiden-
tin, Rechnung tragen. – Die Ausrüstung ist entscheidend,
bis hin zur erhöhten Reaktionsfähigkeit im östlichen
NATO-Bündnisgebiet, sonst funktioniert unser Fähig-
keitscluster mit den gemeinsamen Expeditionskräften
nicht.
Deshalb: Haushaltsmittel sind nicht nur selbststän-
dige Zahlen, nicht selbstgefällige Zahlen, sondern sie ha-
ben für über 200 000 Menschen, nein, für die über
80 Millionen Menschen dieses Landes, für die Bürgerin-
nen und Bürger, eine große Bedeutung. Ich freue mich
auf die Beratungen in den Ausschüssen und eine gute,
anregende Diskussion.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ichdie Beratungen zum Einzelplan 14, da mir keine weite-ren Wortmeldungen vorliegen.Wir kommen jetzt zum Einzelplan 23, Bundesminis-terium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-wicklung.Sobald die Kolleginnen und Kollegen die Plätze ge-wechselt haben, werden wir unsere Beratungen fortset-zen.Die vereinbarte Redezeit für die Aussprache beträgt96 Minuten.Als erster Redner hat Bundesminister Dr. GerdMüller das Wort.
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Dr. Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftlicheZusammenarbeit und Entwicklung:Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es istnicht nur ein spannender Abend, sondern auch einespannende Zeit, in der wir leben, voller Dynamik undEntwicklungen.Die Bevölkerung Afrikas wird sich in diesem Jahr-hundert verdoppeln. Die Bevölkerung eines Landes wieNigeria, in dem ich vor kurzem war, wird in diesemJahrhundert auf 400 Millionen Menschen wachsen. DieBevölkerung Deutschlands macht noch 1 Prozent derWeltbevölkerung aus. Das heißt, lieber Barthl Kalb, in99 Prozent der Fälle sind wir Ausländer. Deshalb ist esgut, einen Blick über das eigene Land hinaus zu werfen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, was bedeutet dieseBevölkerungsdynamik? Jeden Tag kommen auf unseremPlaneten 250 000 Menschen hinzu. Das bedeutet, dasswir bis 2030 – so weit wollen wir einmal vorausschauen;ich richte mich auch an die jungen Leute da oben auf derBesuchertribüne – 30 Prozent mehr Wasser, 40 Prozentmehr Energie und 50 Prozent mehr Nahrung benötigen.Das sind die Überlebensfragen der Menschheit: Wasser– ohne Wasser kann man keine Woche leben –, Nahrung– ohne Nahrung überlebt man vielleicht vier Wochen –,Energie – wenn wir den Stecker ziehen würden und Berlineine Woche ohne Strom wäre, hätten wir Bürgerkrieg –,Klima und Umwelt.Das sind die Überlebensfragen der Menschheit. Dasspannendste Ressort, die Entwicklungspolitik, sucht undgibt Antworten darauf, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Wir sind ein internationales Haus und befinden unsmit 70 Ländern der Welt in einer langfristigen Partner-schaft. Wir müssen Lösungen für diese Herausforderungfinden:Das Ressourcenproblem. 20 Prozent der Menschheit– nämlich wir hier in Berlin, in Deutschland, in den In-dustriestaaten – beanspruchen für sich, 80 Prozent derRessourcen des Planeten zu verbrauchen.Zweitens: das Gerechtigkeitsproblem. 20 Prozent derMenschheit – wir hier in Deutschland, in Europa, in denreichen Ländern – besitzen und beanspruchen 90 Pro-zent des Vermögens. Glauben Sie nicht, dass wir einfachnur eine Mauer um die Wohlstandsinseln bauen und dieZäune höher machen können, damit wir unser Vermögenund unseren Reichtum bewahren können. Nein, meineDamen und Herren, wir Entwicklungspolitiker und vielemehr sind sicher: Frieden auf der Welt wird es nur ge-ben, wenn Ressourcen, Einkommen und Lebenschancenauch global einigermaßen fair verteilt sind.
Da die Verteidigungsministerin noch im Saal ist undeben der Verteidigungshaushalt und der auswärtigeHaushalt diskutiert wurden, sage ich: Wir brauchen ei-nen vernetzten Ansatz für die Bewältigung dieser He-rausforderungen, und das nicht nur auf dem viel be-schworenen Papier, sondern auch in der Realität, meineDamen und Herren.
Ich könnte jetzt auf viele Krisenherde der Welt einge-hen, Stichwort Irak. Meine Damen und Herren, dieseKriege und Krisen haben immer ein Davor – dann don-nert es – und ein Danach. Deshalb brauchen wir einenvernetzten Ansatz, um Krisen und Kriege durch Präven-tion und Friedensarbeit zu verhindern. Das ist unsereAufgabe in der Entwicklungspolitik.
Es könnten viele Auseinandersetzungen verhindert wer-den. Natürlich muss man Not und Elend bekämpfen unddie Infrastruktur für ein Danach schaffen.2015 ist das Jahr der Entwicklung. Wir brauchen ei-nen neuen Aufbruch. Wir brauchen neues Denken, eineneue Partnerschaft im globalen Miteinander. Dazu sageich: Nachhaltigkeit muss über allem stehen; sie muss dasPrinzip aller Entwicklung sein. Auf der Tribüne sitzenvornehmlich junge Leute. Meine Damen und Herren, wirsind dem Erhalt der Schöpfung und der Zukunft ver-pflichtet. Wir, die heutige Generation, sind nur für einenkurzen Flügelschlag hier auf diesem Planeten. Wir ste-hen in der Verantwortung, diese Schöpfung, diesen Pla-neten, weiterzugeben an kommende Generationen. Darinmüssen wir uns bewähren.Das bedeutet ökonomisch, dass wir doppelte Zurück-haltung walten lassen müssen: Wir müssen erstens Wirt-schaftswachstum und Ressourcenverbrauch entkoppeln,und wir müssen zweitens – das kann ich aufgrund derKürze meiner Redezeit nicht detailliert ausführen – dasNord-Süd-Gefälle – das heutige Verhältnis von 80 : 20wurde eben beschrieben – zu einem fairen Verhältnisweiterentwickeln, und zwar durch eine Verstärkung un-seres Entwicklungsengagements und eine neue Wachs-tums- und Verteilungsphilosophie.Der Klimaschutz wird im nächsten Jahr aufgrund desPariser Gipfels von zentraler Bedeutung für die politi-sche Agenda sein. Das Erreichen des 2-Prozent-Ziels istin der Tat eine Überlebensfrage für viele, für uns alle –vielleicht nicht für den Planeten. Vielleicht wird es auchdann noch Leben geben, wenn wir eine Erwärmung um2 oder 4 Prozent haben. Ob der Mensch dann noch Platzhat und eine Lebensgrundlage findet, das ist eine andereFrage. Wir müssen zu klaren, neuen, verbindlichen Fest-legungen kommen. Deshalb hat der Klimaschutz auch inunserem Haushalt einen hohen Stellenwert. Wir investie-ren 1,6 Milliarden Euro in Maßnahmen zum Ausbau desKlimaschutzes. Dabei geht es beispielsweise auch da-rum, in Indien neue und nachhaltige erneuerbare Ener-gieformen zu nutzen. Es kann nicht sein, dass wir denEnergiehunger dieser Länder, dieser Kontinente mitBraunkohle, durch Kohleverkoksung befriedigen.
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4638 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 50. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2014
Bundesminister Dr. Gerd Müller
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Dazu habe ich gestern eine Festlegung getroffen, diewir gemeinsam umsetzen müssen. Wir sagen 750 Millio-nen Euro für den Grünen Klimafonds zu. Ich sage:Deutschland muss bei allen Maßnahmen Vorbild sein; esmuss auf internationaler Ebene der Taktgeber für denKlimaprozess sein. Wir sind diesbezüglich zusammenmit dem Bundesumweltministerium federführend.Wir setzen uns aber auch für weltweit verbindlicheökologische und soziale Standards ein. Ich war vor kur-zem im Textilmuseum in Augsburg. Die Dokumentationder Geschichte der Textilproduktion, die vor 150 Jahrenbegann, ist hochspannend und interessant. Vor 150 Jah-ren begann die Industrialisierung der Textilproduktionund damit die Versklavung und Kasernierung der Textil-arbeiter. Die Menschen im ausgehenden 19. Jahrhundertmussten sechs Tage die Woche 16 Stunden am Tag arbei-ten, ohne sozialen Grundschutz. Wenn die Frauenschwanger wurden, wurden sie entlassen. Die Menschenarbeiteten ohne Mindestlöhne und hatten keine anständi-gen Wohnungen. Das ist der Gründungshintergrund derSPD. Denken Sie an Ferdinand Lassalle. Die Gewerk-schaften und Frauenverbände haben sich damals entwi-ckelt. Die SPD wurde gegründet.
– Ich weiß um dieses historische Verdienst.Seitdem sind 150 Jahre vergangen. Mit Schrecken er-leben wir dieses Modell der Ausbeutung, dieses Modelldes Kapitalismus ohne Grenzen heute in Bangladesch, inVietnam, aber auch in Afrika. Das ist eine Folge der In-ternationalisierung. Deshalb sage ich: Wir brauchenweltweit – ich betone: weltweit – verbindliche ökologi-sche und soziale Mindeststandards. Auch die Näherin inBangladesch muss einen Lohn bekommen, von dem sieleben kann.
Gestern habe ich ein Referat darüber gehalten. Ichrufe nicht zu Boykotten auf – dieses Wort nehme ichüberhaupt nicht in den Mund –, sondern zu Nachhaltig-keit und zu Verantwortlichkeit. Ich bin sicher, dass diejungen Leute auf der Tribüne, wenn sie wüssten, wieihre T-Shirts hergestellt werden und welchen Hunger-lohn die Näherinnen bekommen, anders handeln wür-den. Deshalb werden wir gerade im Textilbereich Trans-parenz durch ein Textilbündnis schaffen. Wir sind hierauf gutem Weg.
Aber das ist nur ein Ansatz. Wir müssen – da habenwir über alle Parteien hinweg, glaube ich, eine grundle-gende Übereinkunft – die ILO-Standards und UNEP-Standards nicht neu erfinden – sie wurden bereits erfun-den –, aber was wir tun müssen, ist, sie mit dem WTO-Abkommen verbinden. Der unbegrenzte Freihandelkann nicht unsere Vision im 21. Jahrhundert sein.
Die Multis müssen verpflichtend daran gebunden wer-den. Die Märkte brauchen weltweit Grenzen und Regeln.Das gilt auch gerade beim TTIP-Abkommen. Wir wer-den in unserem Ministerium an verbindlichen Standardsfesthalten und in die Diskussionen und Verhandlungenauch die Sicht der Entwicklungsländer einbringen. Ichwerde dazu eine eigene Anhörung im Haus durchführen.Unsere Entwicklungspolitik ist wertegebunden. Dasheißt, jeder Mensch hat ein Recht auf Leben in Würde.Wir stehen für die Einhaltung der Menschenrechte,Gleichberechtigung und insbesondere auch die Durch-setzung der Frauenrechte. Diese stehen beispielsweise inIndien heute in der Verfassung, aber sie werden in derPraxis nicht durchgesetzt. Dafür müssen wir uns welt-weit starkmachen.Wir setzen im Haushalt wichtige Schwerpunkte. Vie-len Dank allen Haushaltspolitikerinnen und Haushalts-politikern! Die Mittel für die Sonderinitiative „Eine Weltohne Hunger“ werden jetzt auf rund 1,4 Milliarden Euroaufgestockt. Unsere Vision – es ist nicht nur meine – ist,bis 2030 eine Welt ohne Hunger zu haben. Dies istmachbar. Der größte Skandal ist, dass heute noch850 Millionen Menschen unterernährt sind und hungernund täglich 20 000 Kinder an Hunger sterben, obwohldies nicht so sein muss; denn der Planet bietet für 10Milliarden Menschen die Ernährungsgrundlage.
Deshalb investieren wir hier.Thema Gesundheit. Das ist vielen Kolleginnen undKollegen sehr wichtig. Wir bekämpfen Krankheiten undSeuchen. Ich bin ein Stück weit begeistert. Denn wennman gefragt wird: „Was nutzt denn Entwicklungspolitik,und welche Erfolge habt ihr?“, kann man auf die Ge-sundheitspolitik verweisen, in der dies anschaulich deut-lich wird. Zu meiner Schulzeit war in meiner Klasse einMädchen aus der Nachbarschaft, das an Kinderlähmung,an Polio, erkrankt war. Sie hat den Fuß dann ein Lebenlang nachgezogen. Polio ist heute durch die Impfung von450 Millionen Kindern in den letzten 20 Jahren praktischkein Thema mehr, ebenso Masern. Bei HIV und Tbc istnoch einiges zu tun.Wir setzen natürlich den aktuellen Schwerpunkt aufKriegs- und Flüchtlingselend. Ich habe das jetzt nicht anden Schluss gesetzt, weil es unwichtig ist. Vielmehr istes im Augenblick der wichtigste Punkt, aber er hat auchschon in den anderen Diskussionen eine ganz erheblicheRolle gespielt. Es ist die größte Herausforderung vonheute und der nächsten Jahre. Dazu setzen wir alle ver-fügbaren Mittel ein. Ich habe dazu eine Sonderinitiativefür Flüchtlinge mit 190 Millionen Euro aufgelegt, umbei der größten humanitären Katastrophe wirksam ein-greifen zu können. Diese spielt sich im Augenblick inSyrien und im Irak ab.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 50. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2014 4639
Bundesminister Dr. Gerd Müller
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Aber ich sage auch – das ist mir wichtig –: Wir dürfennicht nur dahin blicken, wo die Bilder herkommen.Wenn wir Kameras in den Südsudan – einige Kollegenbzw. Kolleginnen waren dabei – oder in die Zentralafri-kanische Republik mitnehmen, dann kann auch dort dasKopfabschlagen gefilmt werden. Deshalb dürfen wirauch diese Länder nicht vergessen.
Ich lade morgen zu einem großen Afrika-Tag ein, denunser Haus veranstaltet. Unter anderem wird der Minis-terpräsident aus dem Kongo anwesend sein – ein Landmit Licht und Schatten, aber mit allem, was Afrika zubieten hat.Wir sind in Gaza, in Palästina und in Afghanistan er-heblich gefordert. Das muss eine eigene Debatte werden.Wie reagieren wir in Afghanistan? ISAF zieht ab; wir,die Entwicklungspolitik, bleiben dort. Machen wir bittenicht dieselben Fehler wie vor drei Jahren im Irak, umdann drei Jahre später bestraft zu werden. Die Taliban-Fahne im ehemaligen Bundeswehrcamp Kunduz soll unseine Warnung sein. Wir brauchen hier ein stärkeres ent-wicklungspolitisches Engagement.Wir haben die Mittel für die Ukraine verdoppelt. In Sy-rien und im Irak – das sage ich hier ganz klar – ist der Be-darf jetzt am größten. Der Winter steht bevor. LieberBarthl Kalb – stellvertretend für alle Haushaltspolitiker –:Wir, das BMZ, bauen mit unseren Partnern Infrastrukturund können das umsetzen. Humanitäre Hilfe bestehtnicht nur aus Erstversorgung, EPas und dem Verteilenvon Mullbinden und Wolldecken. Im Lager in Satari sit-zen 130 000 Menschen in der Wüste, und das seit zweibzw. zweieinhalb Jahren. 50 Prozent von ihnen sind Kin-der und Jugendliche. Sie brauchen Toiletten, Strom,Wasser, Schulen, Ausbildung. Das geht weit über huma-nitäre Hilfe hinaus. Dieses Problem kann unser Haushaltmit dieser Ausstattung nicht zufriedenstellend lösen.
2014/2015 ist für uns kein normales Jahr; ich habe dieHerausforderungen dargestellt. Ich warne vor einem dra-matischen Winter.Herr Präsident, ich bin gleich am Ende.
– Frau Präsidentin. Hier leuchtet aber „Präsident“ auf.Das muss man ändern. Es sollte „Präsident/Präsidentin“heißen. Das ist Gender-Politik.
Wir müssen jetzt handeln. Ich bitte die Fraktionen nurum eines: um die Einlösung der von allen Seiten in derSondersitzung gegebenen Versprechen. Wir müssen unsjetzt um Winterquartiere und Infrastruktur für MillionenMenschen kümmern. Dazu habe ich im Haushalt100 Millionen Euro überplanmäßige Ausgaben bean-tragt. Deutschland leistet viel. Aber ich sage noch einmalganz klar: Wir brauchen jetzt grünes Licht für die Win-terhilfe, um tätig werden zu können. Das sage ich auchin Richtung der Europäischen Union. Die Sondermilli-arde muss jetzt kommen. Die neue Kommission steht.Leider gibt es keinen Sonderbeauftragten für Flücht-lingsfragen. Ich bedaure es außerordentlich, dass dieseAufgabe wieder auf vier Kommissare verteilt wurde.Diese Verteilung der Zuständigkeiten macht wenig Sinn.Wir müssen jetzt effektiv handeln. Ich bin überzeugt,dass wir dafür auch die Unterstützung des Parlamentsbekommen.Herzlichen Dank.
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Heike Hänsel
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrter Herr Minister Müller, Sie haben die globa-len Herausforderungen und die großen Krisen, mit denenwir derzeit konfrontiert sind, angesprochen. Sie bildensich aber leider überhaupt nicht in diesem Haushaltsent-wurf ab; Sie selbst haben das erwähnt. Ich denke, Siekönnen mit diesem Haushalt überhaupt nicht zufriedensein. Alle, die sich für Entwicklung einsetzen, müssendiesen Haushaltsentwurf eigentlich ablehnen.
Ich muss dazusagen: Es klingt in unseren Ohrenschon fast wie blanker Hohn, wie Herr Schäuble dieschwarze Null gepriesen hat. Sie sei kein Selbstzweck,sondern ein Zeichen der Verlässlichkeit, sagte er undfügte hinzu: Wir halten unsere Versprechen. – Da frageich mich natürlich: Welche Versprechen hält er denn?Vielleicht hält er das Versprechen der Haushaltsdiszi-plin. Aber das jahrzehntelange Versprechen, endlich0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens – das istwahrlich nicht viel – für Entwicklung auszugeben, habenwir wieder deutlich verfehlt; ich finde, das ist beschä-mend.
Wir sind mit ungefähr 0,38 Prozent meilenweit davonentfernt. Da der Aufwuchs fast null beträgt, wird dieODA-Quote sogar zurückgehen. Haushaltsdisziplin wirdalso sowohl in Deutschland als auch weltweit auf Kosten
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4640 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 50. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2014
Heike Hänsel
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der sozialen Gerechtigkeit durchgesetzt. Die schwarzeNull steht über allem. Das lehnen wir ab.
Natürlich muss ich in diesem Zusammenhang auchneue Versprechen, die gemacht werden, erwähnen; auchdas war heute schon Thema. Die NATO-Mitgliedstaatenhaben sich auf Rüstungsausgaben in Höhe von 2 Prozentdes Bruttonationaleinkommens geeinigt. Das ist dannnatürlich der Gipfel. Frau von der Leyen sagt ja: So vielGeld wollen wir insgesamt nicht ausgeben. – Aber essteht fest: Es wird deutlich mehr Geld für Rüstung gebenund viel zu wenig Geld für Entwicklung. Diese Politikunterstützen wir nicht.
Denn sie ist auch mit einer weiteren Militarisierung ver-bunden, mit Aufrüstung.Wir erleben ja – das war heute auch Thema –, wie dieNATO auch im Ukraine-Konflikt agiert. Für uns ist daseine Politik der Eskalation. Man muss sich vorstellen,dass derzeit ein breit angelegtes NATO-Manöver auch inder Ukraine stattfindet, in einem Land, in dem Kriegherrscht und wo wir Zeichen des Dialogs bräuchten undkeine Zeichen militärischer Stärke.Es soll eine neue Eingreiftruppe mit erhöhter Einsatz-bereitschaft eingerichtet werden, die Präsenz der NATO-Truppen in den osteuropäischen Ländern soll ausgebautwerden usw.Aus gutem Grund fordert die Linke die Auflösung derNATO – genauso, wie der Warschauer Pakt aufgelöstwurde. Wir brauchen zivile Sicherheitsstrukturen, diegegenseitiges Vertrauen, den Interessenausgleich för-dern, um gemeinsam die Probleme, die Sie, Herr Müller,hier angesprochen haben, zu bewältigen. Das ist in unse-ren Augen die große Zukunftsaufgabe: dass wir dieNATO überwinden
und diese Politik der Militarisierung.Konfliktursachen können nur zivil bekämpft werden.1 Billion Dollar geben die NATO-Mitgliedstaatenderzeit für Rüstung aus. Wenn wir gleichzeitig – das istauch eine Kritik an Ihrem Haus – die Ausbreitung desEbola-Virus sehen – über 4 000 Menschen sind infiziert,2 300 bereits gestorben – und wenn ich lese, dass Sie da-für derzeit gerade einmal 1,4 Millionen Euro zur Verfü-gung stellen, dann meine ich: Das ist völlig inakzeptabel –zumal Sie hier vor ein paar Tagen in einer Sondersitzung70 Millionen Euro für Waffenlieferungen beschlossenhaben. Es geht dabei auch in Afrika um Menschenleben,darum, dass diese Menschen vor diesem tödlichenEbola-Virus gerettet werden. Da könnte man sehr vielmachen. Da erwarte ich auch von Ihnen, Herr Müller,dass Sie sich viel mehr einsetzen.Sie haben sich – das muss ich auch sagen – kritischgegenüber den Waffenlieferungen geäußert. Darin habenSie unsere Unterstützung. Wir appellieren an Sie, dassSie den Mut aufbringen, beim nächsten Mal im Bundes-sicherheitsrat dagegen zu stimmen. Wir würden das sehrunterstützen. Die Linke setzt sich für ein Verbot vonRüstungsexporten ein. Auch das wäre ein wichtiger Bei-trag für Entwicklung.
Es gibt übrigens viele andere Bereiche, die zur ODAzählen, in denen auch gekürzt wird. Da werden zum Bei-spiel die Mittel für humanitäre Hilfe im Etat des Aus-wärtigen Amtes um 38 Prozent gekürzt. Das muss mansich vorstellen!Die Mittel für Krisenprävention und für den zivilenFriedensdienst stagnieren.All das geschieht in einer Zeit, in der wir mit Krisenkonfrontiert werden, für die wir neue zivile Instrumentebenötigen, die ausgebaut werden müssen, die aber leiderseit Jahren, mittlerweile seit Jahrzehnten, ein Schatten-dasein führen. Wir fordern eine Stärkung dieser zivilenInstrumente. Für uns ist das ein starkes Zeichen für einefriedliche Außenpolitik.Zum Schluss möchte ich noch etwas zur Situation imNahen Osten sagen, was in meinen Augen bisher in derheutigen Debatte zu kurz kam. Wir haben alle die massi-ven Bombardierungen des Gazastreifens erlebt mit über2 000 toten Palästinensern und 68 Toten auf israelischerSeite; der Gazastreifen ist nach wie vor abgeriegelt. Sehrviel Infrastruktur wurde zerstört. Dazu haben wir eineAnfrage gestellt: 6 Milliarden Euro soll der Wiederauf-bau kosten. Wer zahlt das eigentlich? Dabei ist das nichtdas erste Mal. Wir erleben diese Zerstörungen jetzt zumdritten Mal. Immer wieder werden von der internationa-len Gemeinschaft diese Entwicklungsprojekte und dieUN-Einrichtungen mit Steuergeldern wieder aufgebaut.In unseren Augen kann das nicht sein. Man muss auchdie israelische Regierung zur Verantwortung ziehen. Eskann nicht sein, dass wir immer wieder aufbauen, unddann wird immer wieder zerstört.
Weiter brauchen wir eine neue Ausrichtung in derNahostpolitik. Dazu gehört auch, dass die Besatzungendlich beendet wird. Dabei spielt auch die Entwick-lungszusammenarbeit eine wichtige Rolle, Herr Müller,nämlich insofern, ob sie mit ihren Projekten diese Besat-zung stabilisiert oder ob sie dazu beiträgt, dass der zivileWiderstand gegen die Besatzung gestärkt wird. Das ist inunseren Augen ein wichtiger Beitrag für einen gerechtenFrieden im Nahen Osten.Abschließend möchte ich sagen – –
Nein, Frau Kollegin, Sie haben Ihre Redezeit jetzt um
eine Minute überschritten. Deshalb bitte ich, jetzt wirk-
lich zu schließen.
Ja, ich schließe. Für uns ist eine aktive Friedenspolitikder beste Beitrag für Entwicklung.Danke schön.
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Ich bitte die anderen Kolleginnen und Kollegen ange-
sichts der fortgeschrittenen Zeit, die Redezeit einzuhal-
ten.
Jetzt hat als nächste Rednerin Frau Steffen das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! In diesenTagen ist sehr viel von der neuen Dimension die Rede;das war ein Schlüsselwort in fast allen heutigen Debat-ten. Wir erleben Kriege und Katastrophen, die wir nochvor kurzer Zeit für undenkbar gehalten haben: Kriege inEuropa und im Nahen und Mittleren Osten und eineEbola-Seuche, die außer Kontrolle geraten ist. Wir ha-ben große Probleme, die richtigen Worte für all dieseBedrohungen zu finden, und wählen deshalb so oft denAusdruck „neue Dimension“.Viele, auch hier im Deutschen Bundestag, meinen da-mit vor allem die neue Dimension in der Außen- undSicherheitspolitik. Wir sprechen von Gegnern und Bünd-nissen, von Waffen und Boykotten. Von Entwicklungs-zusammenarbeit sprechen wir nicht oder allenfalls amRande, und das ist falsch.
Die neue Dimension, von der wir hier so oft sprechen,gilt zuallererst für die Entwicklungszusammenarbeit.Im Mittleren Osten, vor allem im Irak und in Syrien,aber auch im Südsudan und in der ZentralafrikanischenRepublik sind Millionen Menschen auf der Flucht.Staatsministerin Özoğuz hat heute Morgen die erschre-ckenden aktuellen Zahlen genannt. Man geht derzeit von51 Millionen Flüchtlingen weltweit aus. Ihre oft einzigeHoffnung ist die Hoffnung auf Erste Hilfe von außen,Erste Hilfe auch von uns. Das ist ihre Hoffnung, viel-leicht sogar ihre einzige Chance. Auch die von derEbola-Seuche bedrohten Menschen in Westafrika setzenauf uns, auf unsere Erste Hilfe.Wir müssen über diese Erste Hilfe hinausdenken.Nachhaltigkeit ist gefragt, Herr Minister; ich gebe Ihnenvöllig recht. Wir müssen überlegen, was wir tun können,um Flüchtlingen langfristig zu helfen. Wir brauchen Pro-gramme, um Flüchtlinge wiedereinzugliedern. Auf langeSicht müssen wir darangehen, Fluchtursachen wirksamzu bekämpfen. Deshalb bin ich sehr froh und dankbar,dass Sie im letzten Haushalt eine Sonderinitiative aufge-legt haben mit dem Titel „Fluchtursachen bekämpfen –Flüchtlinge reintegrieren“, eine, wie ich finde, richtiggute Initiative. Sie hilft den Ländern, die unter derFlüchtlingskrise besonders leiden, wie etwa Jordanienund dem Libanon.Für 2015 sind Barmittel im Wert von 60 MillionenEuro geplant. Reicht das? Wenn ich Ihren Worten folge,muss ich sagen: Das reicht nicht; das ist nicht die rich-tige Antwort auf die neue Dimension, mit der wir es zutun haben.
Wer sich das Elend in diesen Ländern vor Augen führt,weiß: Deutschland muss mehr tun, wir müssen mehr tun.Vielleicht müssen wir auch umschichten. Klar musssein: Flüchtlingshilfe hat Priorität.„Eine Welt ohne Hunger“ lautet der Titel eines weite-ren Programms, das der Minister auf den Weg gebrachthat. Der Name ist gut gewählt. Hunger ist und bleibt eineder größten Herausforderungen der Entwicklungszusam-menarbeit. Die entscheidenden Fragen sind jedoch: Wel-chen Beitrag kann dieses Programm leisten? Wie vieleMittel stehen dafür bereit? Und vor allem: Wie und wo-hin werden die Mittel verteilt? Wir alle wünschen uns,dass wir bis 2030 das Ziel, das Sie genannt haben, errei-chen, dass wir dann tatsächlich eine Welt ohne Hungerhaben werden. Ich bin sehr gespannt, ob uns das gelingt.Auch für diese Initiative gilt: Wir müssen in langen Li-nien denken, wir müssen nachhaltige Lösungen finden,um den chronischen Mangel zu bekämpfen. Die Men-schen müssen selbstständig werden, ihr Überleben auseigener Kraft sichern können. Das ist hier die zweiteAufgabe, nach dem Bekämpfen der akuten Hungersnöte.Meine Damen und Herren, in der letzten Woche habeich Plan International in Hamburg besucht. Das Ge-spräch dort hat mich wirklich tief bewegt. Die Mitarbei-terinnen von Plan haben mir erzählt: Wo Ebola wütet,bricht das Leben zusammen. Ebola beherrscht den All-tag. Die Menschen arbeiten nicht mehr auf den Feldern.Schulen und öffentliche Einrichtungen sind geschlossen.Die Behörden versuchen, Ebola Herr zu werden, indemsie Slums räumen oder sogar einzäunen. Wir kennen diedramatischen Bilder in den Medien. Hilflosigkeit, Hoff-nungslosigkeit und Angst sprechen aus den Gesichternder Menschen.Auch Helfer und Ärzte aus der Ersten Welt haben sichbereits angesteckt; Frau Hänsel hat darauf hingewiesen.Derzeit gibt es knapp 2 300 Todesopfer und viele wei-tere Ansteckungen. Erst heute wurde bekannt, dass sicherneut ein WHO-Arzt angesteckt hat. Diese Menschenriskieren ihr Leben, um den Hilfslosen zu helfen, und da-für gebührt ihnen großer Respekt.
Wir müssen leider fürchten, dass sich Ebola weiterausbreitet. In Worte fassen können wir die Katastrophenicht; die Dimension ist einfach zu groß. Wir müssen dierichtigen Antworten finden, Antworten, die der neuenDimension, mit der wir es zu tun haben, gerecht werden.Krankheiten und Hunger gehören traurigerweise im-mer zusammen. Wo Hunger herrscht, sind Krankheitennicht weit. Sie lähmen die Zivilgesellschaft, hemmenund verhindern Entwicklung. Wir müssen die Faktoren,die Krankheiten auslösen, zurückdrängen. Entscheidendist der Zugang zu Medikamenten. Entscheidend ist aber
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4642 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 50. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2014
Sonja Steffen
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auch, dass wir möglichst viele Menschen erreichen, umKrankheiten durch Impfungen und weitere Präventions-maßnahmen zu verhindern.Gesundheitsversorgung und Vorbeugung sind Schlüs-selthemen der Entwicklungszusammenarbeit. Hier gehtes nicht nur um Ebola, sondern auch um viele andereKrankheiten, die gerade nicht im grellen Scheinwerfer-licht der Medien stehen, deren Ausbruch jetzt jedochdurch Ebola wieder verstärkt wird: Tuberkulose, Polio,Aids, Malaria. Das alles sind gefährliche und oft tödlicheKrankheiten, die bekämpft werden müssen, vor allemmit Impfprogrammen.Herr Minister, 2015 ist für die Entwicklungszusam-menarbeit in der Tat ein entscheidendes Jahr. Wie Siewissen, richtet Deutschland 2015 die Konferenz zurWiederauffüllung der Globalen Impfallianz, GAVI, aus.Impfen bedeutet, lebensbedrohliche Krankheiten zu-rückzudrängen und Leben zu retten, vor allem das Lebenvon Kindern. Die Bundesregierung sollte diese Konfe-renz nutzen und deutlich machen, wie sehr sie diesesProgramm unterstützt.
Meine Redezeit ist fast zu Ende. Ich will aber nochganz kurz erwähnen, dass auch ich persönlich den Be-reich „Friedensdienst, private Träger, Kirchen und Stif-tungen“ für sehr wichtig halte. Hier geht es nicht nur da-rum, dass wir die Kräfte der Zivilgesellschaft stärken.Für uns ist es auch wichtig, vor Ort von diesen Organisa-tionen zu hören, wie die Situation tatsächlich ist; denndie Medien – kein Medium! – können die persönlicheAnschauung hier nicht ersetzen.Zuallerletzt kann ich nicht umhin, ein unerfreulichesKapitel kurz anzusprechen, nämlich die ODA-Mittel undden ODA-Stufenplan. Wir hatten uns einmal verpflich-tet, bis 2015 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommensfür Entwicklungsleistungen einzusetzen. Hier könnenwir in der Tat nur verschämt feststellen: Wir haben dasZiel nicht erreicht; wir sind weit von den 0,7 Prozententfernt.
Meine Damen und Herren, ich habe anfangs von derneuen Dimension und von den neuen Bedrohungen ge-sprochen. Diese neue Dimension muss sich auch in un-serem Etat abbilden.
Frau Steffen, ich möchte auch Sie bitten, zum Schluss
zu kommen.
Ja. – Es muss sichtbar werden, dass wir unseren ge-
rechten finanziellen Beitrag leisten, um Armut zu be-
kämpfen und eine nachhaltige Entwicklung in Gang zu
setzen. Ich freue mich daher sehr auf die anstehenden
Haushaltsberatungen.
Vielen Dank.
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Anja Hajduk
das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Man muss leider feststellen, dass dieser Haus-halt – gerade auch Ihr Etat, Herr Müller – keine ausrei-chenden Antworten auf die Dramatik der außenpoliti-schen Entwicklungen gibt.
Ich finde, es zeugt schon von einer bemerkenswerten Of-fenheit, dass Sie das im Grunde ja auch selber sagen, in-dem Sie um die Unterstützung des Haushaltsausschussesbzw. des Parlamentes bitten; Sie haben von 100 Millio-nen Euro gesprochen. Ich will dazu nur sagen: Wir wer-den Sie unterstützen, soweit es in unseren Möglichkeitenals Opposition liegt. Aber ich muss auch kritisch sagen:Sie als Minister haben im Kabinett selber die Möglich-keit, zum Beispiel über Nachtragshaushaltsentscheidun-gen die entsprechenden Mittel einzuwerben.
Wir leisten hier gerne unseren Beitrag. Aber es kannnicht sein, dass der zuständige Minister hier zwar dierichtigen Worte findet, aber uns im Grunde nur zeigt,dass er nicht das ausreichende Backing von der Kanzle-rin hat, die in ihrer heutigen Rede zum Ausdruck ge-bracht hat, dass sie die Zeichen der Zeit in der Außen-politik erkannt haben will. Das passt nicht zusammen.Arbeiten Sie am Kabinettstisch! Wir arbeiten gerne pa-rallel dazu im Ausschuss!
Ich will auf die von Ihnen genannte Forderung zusprechen kommen, die europäische Ebene solle mehrtun. Ich habe das im Sommer aufmerksam verfolgt: Siefordern von der EU 1 Milliarde Euro für die Flüchtlings-hilfe. Sie haben aber als Minister die Verantwortung,diese Forderung mit Substanz zu unterlegen, weil unsereStimme auf der europäischen Ebene schließlich Gewichthat, und zwar ein nicht geringes.
Wenn ich dazu Ihrem Haus eine Frage stelle und AnfangAugust die Antwort bekomme, es sei möglich, der For-derung nach 1 Milliarde Euro durch den Einsatz vonMitteln aus Programmen wie dem Europäischen Ent-wicklungsfonds nachzukommen, dann stelle ich fest,dass das mit Blick auf die Krisenregion Nahost gar nichtpasst, weil die Mittel aus dem Entwicklungsfonds in diesüdlich der Sahara gelegenen Staaten und in die anderen
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 50. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2014 4643
Anja Hajduk
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AKP-Staaten fließen. Ich erwarte ein substanziellesAgieren von Ihnen, wenn es darum geht, wie die euro-päische Ebene hier vorgehen kann. Wir wollen bei soernsten Themen nicht nur heiße Luft. Wir wollen neueVorschläge.
Man muss sich auch einmal auf den eigenen Hand-lungsrahmen der Bundesregierung besinnen. MeineFraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt hat heuteMorgen ein Beispiel genannt: Es ist ein Ungleichge-wicht, dass die beschlossenen Waffenlieferungen einenWert von 70 Millionen Euro haben, aber der Wert derhumanitären Hilfe bei 50 Millionen Euro liegt. Sie habenjetzt im Rahmen der humanitären Hilfe von zusätzlichen100 Millionen Euro gesprochen.Sehen wir die Mittel der humanitären Hilfe nichtmehr aufgeteilt zwischen Auswärtigem Amt und BMZ,sondern integriert. Im Sommer dieses Jahres, als es umden Beschluss zum Haushalt 2015 ging, ist sage undschreibe ein gutes Drittel der Mittel der humanitärenHilfe im Etat für das Auswärtige Amt gekürzt worden.Das sind 116 Millionen weniger. Das kann man dochüberhaupt nicht verstehen, wenn man weiß, dass schonim Juli 2014 klar war, welcher Druck sich durch die in-ternationalen Krisen aufbauen würde. Ich könnte jetztsagen: Das bezieht sich nur auf Herrn Steinmeier. Abernein, auch in Ihrem Haus ist das so. Wenn wir nicht diekurzfristigen Maßnahmen der humanitären Hilfe be-trachten, sondern die mittelfristigen Mittel für die ent-wicklungsfördernden und die strukturbildenden Über-gangshilfen, dann stellt man fest: Sie treten mit Ihren49 Millionen Euro auf der Stelle. Nichts kommt dazu.Ich muss ganz ehrlich sagen: Da reicht der Hinweis aufdie Sonderinitiative „Fluchtursachen bekämpfen“ ein-fach nicht mehr aus.
Wir haben Ihnen in diesem Sommer, Ende Juni, An-träge vorgelegt, sowohl zur Übergangshilfe – wir habeneine Erhöhung um 100 Millionen Euro gefordert – alsauch zur humanitären Hilfe, bei der wir eine Aufsto-ckung um 350 Millionen Euro verlangt haben. Ich sageIhnen ganz ehrlich: Meine Fraktion ist wirklich nichtglücklich darüber, dass wir bei diesem Thema so schnellrecht behalten haben – man hätte diese Anträge beschlie-ßen müssen – und Sie uns jetzt bitten: Helfen Sie mir,diese Forderungen durchzusetzen. – Dahinter steht einetragische Entwicklung. Aber jetzt haben wir die Verant-wortung, endlich zu handeln.
Ich möchte noch auf einen anderen Bereich zu spre-chen kommen. Im Jahr 2015 wird es entscheidende, auchlangfristig angelegte Zusammenkünfte internationalerArt geben, um die zukünftigen internationalen Heraus-forderungen anzugehen. Die neue Entwicklungs- undUmweltagenda wird in New York im Juli 2015 festge-legt. Auch hier, Herr Müller, äußern Sie sich zu den Ent-würfen positiv. Ich finde aber keine entsprechende finan-zielle Unterlegung in Ihrem Etat dazu für das Jahr 2015.Es ist wichtig, dass die Mittel für wirksame Vorhabenwie im Rahmen des Globalen Fonds zur Bekämpfungvon Aids, Tuberkulose und Malaria nicht gekürzt, son-dern aufgestockt werden. Auch dort müssen wir in eineganz andere Richtung arbeiten.Ich will auf das Thema ODA-Quote nicht eigens ein-gehen, weil das meine Vorrednerin Frau Hänsel schongetan hat. Aber es ist natürlich keine Antwort auf inter-nationalem Terrain, wenn noch nicht einmal ein Pro-gramm oder ein Plan zu der Frage vorgelegt wird, wiewir die Erfüllung des 0,7-Prozent-Versprechens, das wirbisher nicht halten konnten, neu angehen wollen.Sprachlosigkeit schwächt uns in diesem Kontext. Das istauch nicht zu verantworten.
Ein weiterer Punkt ist der Klimagipfel in Paris imJahr 2015. Er ist sehr entscheidend für die Zukunft unse-res Planeten und insbesondere für die Regionen in derWelt, die schon mächtig unter den ersten Folgen desKlimawandels zu leiden haben. Auch hier sehe ich nicht,dass wir als Industrieland das Versprechen, das wir inKopenhagen gegeben haben – bis 2020 wollen die In-dustrieländer zusammen 100 Milliarden Euro für denKlimaschutz bereitstellen –, erfüllen können. Einenentsprechenden Aufwuchspfad in Ihrem Haus kann ichjedenfalls nicht erkennen.Ich will jetzt gar nichts dazu sagen, dass Frau Merkelim Moment hier mit Abwesenheit glänzt, auch wenn ichdas bedauerlich finde. Herr Müller, Sie fahren zwar mitFrau Hendricks im September zum Klimagipfel nachNew York; aber dass unsere Kanzlerin trotz der Anwe-senheit von Herrn Obama, Herrn Hollande und auch derchinesischen Regierungsspitze ihren Platz leer lässt, istein ganz schlechtes Zeichen. An dieser Stelle müsstenSie umkehren und Substanz liefern.
Ich komme zum Schluss. Dieser Etat ist sehr mager;Ihre richtigen Worte fangen das nicht auf. Einen weite-ren Punkt werden wir in den Haushaltsberatungen zuüberprüfen haben: eine kritische Evaluation der eigenenEntwicklungsprogramme. Ich hoffe sehr, dass Sie sicheiner kritischen Aufsicht nicht entledigen, sondern einekritische Aufsicht stärken. Darüber sprechen wir aller-spätestens – vielleicht sogar schon früher – im Novem-ber.Schönen Dank.
Als nächster Redner hat der Kollege Jürgen Klimkedas Wort.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Die von der Opposition formulierte Kritik – manch-mal waren die Reden ja auch mit etwas Lob versehen –kann ich beim besten Willen nicht nachvollziehen.
Noch vor einem knappen Jahr haben Sie die Arbeit desMinisters hier sehr wohlwollend kommentiert, und ichsehe überhaupt keinen Bereich, den der Minister ver-nachlässigt hätte. Im Gegenteil: Er greift mit frischenpolitischen, wirtschaftlichen, sozialen und ökologischenAnsätzen die drängenden Fragen dieser Zeit auf, und dasvor allen Dingen ohne Dogmen. Das ist das Entschei-dende.
Frau Hajduk, die Arbeit des Ministers ist keine heißeLuft. Ihre Kritik ist heiße Luft; das ist das Entschei-dende.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch eini-ges zu den wirklich grundsätzlichen Problemen sagen.Wir erleben derzeit eine Gleichzeitigkeit von bewaffne-ten Konflikten in dieser Welt, die wir alle in der jüngstenVergangenheit nicht erlebt, nicht gekannt haben. Das giltinsbesondere für die Verbrechen gegen die Menschlich-keit in Syrien und im Irak, verübt von der terroristischenVereinigung „Islamischer Staat“. Sie erschüttern unsdurch ihre Brutalität. Die Folge ist ein sprunghafterAnstieg der Anzahl der Menschen auf der Flucht.Schnelle humanitäre Hilfe und eine starke, auch militäri-sche Antwort auf die Gräueltaten des IS-Terrorismus er-fordern große Anstrengungen von uns.Laut UNHCR-Report gibt es seit dem letzten Jahrerstmals mehr als 50 Millionen Flüchtlinge, Asyl-suchende und Binnenvertriebene weltweit. So zählen wirin den genannten Ländern Syrien und Irak circa 7,5 Mil-lionen Binnenflüchtlinge, die vor Ort mit elementarenHilfsgütern unterstützt werden müssen. Von Flüchtlings-strömen sind auch andere Krisenregionen betroffen. DieNachbarstaaten, vor allen Dingen Libanon und Jorda-nien, haben die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit er-reicht.Aus diesem Grunde bin ich Minister Müller außeror-dentlich dankbar, dass er im Rahmen von Sofortmaßnah-men in den aktuellen Krisenregionen im Irak und inGaza zusätzlich jeweils 20 Millionen Euro bereitgestellthat. Auch die Entscheidung von Innenminister Thomasde Maizière und seinen Länderkollegen, das bisherigeAufnahmekontingent für syrische Bürgerkriegsflücht-linge um 10 000 auf nunmehr 20 000 zu erweitern, be-grüßen wir ausdrücklich.
Meine Damen und Herren, ich bin davon überzeugt,dass unsere wirtschaftliche Entwicklungszusammen-arbeit nur dann erfolgreich und nachhaltig wirken kann,wenn wir Fluchtursachen weltweit gezielter bekämpfen.Gerade in Regionen mit fragilen Staaten stehen wir vorbesonders großen Herausforderungen. Betroffene Staa-ten – ich nenne beispielhaft die EZ-Partner Pakistan,Südsudan und Nigeria – stellen aus unterschiedlichenGründen nicht nur ein regionales, sondern auch ein glo-bales Sicherheitsrisiko dar.Die internationale Staatengemeinschaft muss dort mitentwicklungspolitischen Instrumenten auf eine Verbes-serung der Lage hinwirken. Das ist nicht nur unsere Auf-gabe, die Aufgabe der EU oder der westlichen Länder,sondern es ist meines Erachtens auch eine wichtigeFunktion der Vereinten Nationen, in diesem Bereich tä-tig zu sein. Deshalb unterstützen wir diese Institution imkommenden Jahr – auch das muss man ansprechen,wenn wir über Entwicklungszusammenarbeit reden –mit 140 Millionen Euro Barmitteln und 128 MillionenEuro an Verpflichtungsermächtigungen bei ihrer Arbeit.Das ist in beiden Fällen ein finanzieller Aufwuchs undaus meiner Sicht ein essenzieller Beitrag zur Bekämp-fung von Armut, Hunger und Vertreibung in der Welt.Wie meine kurze Einführung zeigt, haben aktuellepolitische Entwicklungen großen Einfluss auf die Haus-haltsplanungen. Die Herausforderung besteht darin,darauf zu reagieren, und das tun wir. Das ist das Ent-scheidende, auch wenn die Kritik am Haushalt zum Teildurchaus nachvollziehbar ist. Die Not der Menschen imNahen Osten, aber auch in der Ostukraine und anderenKonfliktregionen stellt die finanzielle Ausrichtung deut-scher Entwicklungspolitik vor neue Aufgaben. Dabeigeht es nicht darum, verschiedene Aufgabengebiete ge-geneinander auszuspielen, sondern darum, langfristigeAntworten auf drängende Fragen zu geben.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich ein ande-res Thema ansprechen, das Sie sicherlich auch kennen.In Gesprächen mit den Bürgerinnen und Bürgern werdenwir immer wieder gefragt, wie finanzielle Mittel in derEZ eingesetzt werden und ob das Geld auch vor Ort an-kommt. An dieser Stelle verweise ich gerne auf das nochjunge Deutsche Evaluierungsinstitut der Entwicklungs-zusammenarbeit, kurz: DEval. Das Institut unterstütztdas BMZ, unsere Durchführungsorganisationen wie dieGIZ und die KfW sowie nichtstaatliche Einrichtungendabei, ihre Entwicklungsprojekte auszuwerten und dieErgebnisse vor allen Dingen auch für den Bürger trans-parenter darzustellen.Was erreichen wir damit? Folgeprojekte können aufeinen Erfahrungspool zurückgreifen, und finanzielleoder personelle Mittel für zukünftige Projekte könnennoch gezielter eingesetzt werden. Damit ist das DEvalein gutes Beispiel, um die effizientere Herangehens-weise deutscher Entwicklungspolitik unseren Bürgerin-nen und Bürgern aufzuzeigen. Es wird nicht nur dieUmsetzung von Maßnahmen evaluiert, sondern damitauch intensiver geprüft, ob der erhoffte entwicklungs-politische Nutzen eingetreten ist und die eingesetztenMittel einen Beitrag zur Verbesserung der Situation vor
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 50. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2014 4645
Jürgen Klimke
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Ort geleistet haben. Aus diesem Grunde begrüße ich aus-drücklich den Aufwuchs im Haushaltsjahr 2015 um378 000 Euro Barmittel auf 7,4 Millionen Euro für dasDEval.Meine Damen und Herren, wir debattieren hier ge-meinsam den Einzelplan 23. Die Mittel im Haushalt desBMZ wurden nicht zurückgefahren; der Haushalt bleibtstabil. Aber das 0,7-Prozent-Ziel ist sicherlich mit einemgroßen Fragezeichen zu sehen. Wir geben es aber nichtauf – das müssen wir festhalten –,
und wir arbeiten unter dieser Regierung daran, vernünf-tig voranzukommen. Unter anderen Regierungen war esim Übrigen sehr viel schlechter.Den Kritikern sei an dieser Stelle einmal mehr derBlick auf die Entwicklung des BMZ-Haushaltes nahe-gelegt. Während im Jahr 2005 für die Entwicklungs-zusammenarbeit weniger als 4 Milliarden Euro zur Ver-fügung gestanden haben, haben wir heute ein Volumenvon knapp 6,5 Milliarden Euro. Das ist ein großer Schrittnach oben, den wir trotz der Euro-Krise und der notwen-digen Konsolidierung des Haushaltes für zukünftige Ge-nerationen gegangen sind.Ich darf auf einen weiteren Punkt eingehen. Denmessbaren Erfolg in der Entwicklungszusammenarbeitsteigern wir nur im Einklang mit anderen Ressorts undzivilen Akteuren. Ich bekräftige ganz ausdrücklich dasBekenntnis der CDU/CSU zu einer verstärkten Zusam-menarbeit mit der Wirtschaft gerade im Entwicklungs-bereich. Um die wirtschaftliche Zusammenarbeit mitEntwicklungs- und Schwellenländern zu stärken, ist mirin diesem Kontext die Weiterentwicklung von Rohstoff-partnerschaften ein wichtiges Anliegen. Hier müssen wirideologische Ängste in unserem Land abbauen, dass sol-che Partnerschaften ausschließlich zur Ausbeutung inden Zielländern führen. Dies gelingt insbesondere durchmehr Transparenz. Rohstoffeinnahmen können, wenn sierichtig verwaltet werden, in den Entwicklungsländernzur Wohlstandsentwicklung beitragen; das stellen wirsicher. Zudem müssen alle betroffenen Akteure gehörtwerden. Es gibt aber keinen Grund, mit Schaum vor demMund die Weiterentwicklung solcher Projekte zu be-kämpfen. Maßgeblich für den Erfolg sind gute Regie-rungsführung, ein verantwortlicher Umgang mit denSteuereinnahmen und begleitende Antikorruptionsmaß-nahmen in den Herkunftsländern.
Wir stellen fest: Die Entwicklungszusammenarbeit istauf dem richtigen Weg. Minister Müller hat mit diesemHaushaltsentwurf erneut unter Beweis gestellt, dass erauf aktuelle Entwicklungen reagiert und dabei nicht denGesamtkontext aus den Augen verliert. Wir werden ihndabei tatkräftig unterstützen.Herzlichen Dank.
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Annette Groth
das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Ich freue mich, Minister Müller, dass Sie den Weltagrar-bericht von 2008 zumindest erwähnt haben, der sonstimmer in Schubladen verschwindet. Dieser Berichtbesagt, dass man auf diesem Planeten 12 MilliardenMenschen problemlos ernähren kann, und zwar alleinauf ökologisch-nachhaltiger Basis, ohne Gentechnik; dasmuss man immer wieder betonen. Wir haben eigentlichdie Tools. Wir müssen sie nur nutzen.
Ich möchte an Sie appellieren – dazu wurde schonviel gesagt –: Setzen Sie sich für eine nachhaltige Ent-wicklung ein! Setzen Sie sich für höhere Ausgaben fürEntwicklung und humanitäre Hilfe ein! Der Bedarf anhumanitärer Hilfe und Entwicklungsleistungen ist sogroß wie nie. 81 Millionen Menschen benötigen indiesem Jahr humanitäre Hilfe. Um diese Menschenangemessen zu versorgen, werden 17 Milliarden US-Dollar benötigt. Gedeckt sind davon bisher 39 Prozent.Ich will nicht noch einmal an die katastrophale Situa-tion im Nahen Osten, in Syrien, im Jemen, in Nigeriaoder Mali erinnern; das alles ist uns bekannt. Wir habengestern im Auswärtigen Amt ein Gespräch mit der stell-vertretenden Generalsekretärin von OCHA, dem UN-Büro für humanitäre Hilfe, geführt. Sie sagte, dass allein4 Millionen Menschen im Sudan in den nächsten zweiMonaten von Hunger bedroht sind. Sie beklagte diekatastrophale Situation in Gaza, wo dringend Trinkwas-ser, Nahrungsmittel, Baumaterialien sowie medizini-sche Geräte wie Rollstühle und Medikamente benötigtwerden. Waren im Werte von 100 Millionen Dollar war-ten derzeit auf Erlaubnis der israelischen Regierung, inden Gazastreifen eingeführt zu werden. In diesem Zu-sammenhang fordert OCHA das Ende der völkerrechts-widrigen Blockade von Gaza,
da durch diese Blockade die dringend benötigten Warennicht reinkommen und die Schwerverletzten nicht raus-kommen, die dringend einer medizinischen Behandlungbedürfen. Es wird höchste Zeit, dass die Bundesregie-rung den 2010 vom Bundestag gefassten Beschluss, dassdie Blockade aufgehoben werden muss, umsetzt. Daranmöchte ich uns alle erinnern.
Wir haben so viele Flüchtlinge wie noch nie. Daswurde schon von einigen erwähnt. Es sind mehr als50 Millionen. Die meisten dieser Flüchtlinge sind Kriegs-flüchtlinge. Mit den Kriegen gegen den Irak, Afghanis-tan, Libyen, aber auch mit den Waffenlieferungen an dieGolf-Diktaturen und oppositionelle Gruppen in Syriensind Waffen in die Region gepumpt worden, die heute
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4646 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 50. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2014
Annette Groth
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von den Terroristen des „Islamischen Staats“ eingesetztwerden.Auch die Bundesregierung geht mit ihren Waffenlie-ferungen an die irakischen Kurden ein hohes Risiko ein.Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Waffen morgen in ei-nem blutigen Konflikt um einen kurdischen Staat einge-setzt werden, ist groß. Vor allem können diese Waffenauch in die Hände der Dschihadisten gelangen.Seit nunmehr zwei Jahren verüben Islamisten im Nor-den Syriens Massaker, insbesondere an religiösen Min-derheiten. Interessiert hat sich allerdings im Westenkaum jemand dafür. Erst als sich der „Islamische Staat“den großen Ölfeldern im Irak näherte, wurde er plötzlichals Gefahr wahrgenommen.
Der Westen hat mit der Irak-Invasion 2003 und mit sei-ner einseitigen Syrien-Politik den Nährboden für das Er-starken des ISIS erst geschaffen.
Bis heute verschließen die USA und die EU-Mitglied-staaten weitgehend die Augen vor der vielfältigen Unter-stützung des „Islamischen Staats“ insbesondere durchden NATO-Partner Türkei und auch durch Katar.Die westlichen Staaten müssen endlich angemessenauf die humanitäre Katastrophe in der Region reagieren.Die Hälfte der syrischen Bevölkerung ist inzwischen aufder Flucht, 3 Millionen Menschen haben ihr Land ver-lassen. Im Irak sind seit Beginn dieses Jahres 1,6 Millio-nen Menschen geflüchtet. Wir wissen alle, dass die gro-ßen Aufnahmeländer in der Region, insbesondere derLibanon und Jordanien, schon lange nicht mehr in derLage sind, neue Flüchtlinge aufzunehmen und die be-reits angekommenen angemessen zu versorgen.Flüchtlinge brauchen eine Möglichkeit, legal in dieEU zu kommen.
Dazu gehören sichere Fluchtwege ohne Frontex sowieeine geregelte EU-Aufnahmepolitik. Volker Kauder, derleider nicht hier ist, sagte vor einigen Wochen, Deutsch-land könne keine weiteren Flüchtlinge aufnehmen, da esangeblich nicht möglich sei, sie hier gut unterzubringen.
Angesichts der Lage in den Flüchtlingslagern in der Re-gion, ohne ausreichend Trinkwasser, ohne sanitäre Ein-richtungen und Medikamente, ist das eigentlich der reineHohn.
Ich fürchte aber, sehr geehrter Herr Minister, verehrteDamen und Herren, dass demnächst noch viel mehrMenschen zur Flucht gezwungen werden. Durch die zu-nehmende Vergiftung des Wassers und der Böden wirdin vielen Regionen der Welt die Produktion von Lebens-mitteln drastisch abnehmen. Das wird noch eine echteHerausforderung für die Entwicklungszusammenarbeitund die humanitäre Hilfe. Darum müssen wir endlicheine nachhaltige Entwicklungspolitik und eine nachhal-tige Umweltpolitik auf nationaler und internationalerEbene durchsetzen. Sonst geht der Planet flöten oder vordie Hunde. Das haben auch Sie mit anderen Worten ebenangedeutet.Noch einmal meine Bitte an Sie, Herr Minister – Siehaben ein paar kritische Worte zu dem Freihandelsab-kommen gesagt –: Setzen Sie sich bitte dafür ein, dassTTIP und CETA von der Tagesordnung verschwinden.
NAFTA – das ist das Freihandelsabkommen zwischenden USA und Mexiko – tötet. Das sagt jeder. Der Papstsagt: Kapitalismus tötet. – Das Wirtschaftssystem, dastötet, gehört abgeschafft.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Bärbel
Kofler das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Herr Minis-ter, Sie haben sehr richtige Worte zur Beschreibung derSituation auf unserem Planeten gefunden. Sie haben denSatz gesagt – so habe ich es mir aufgeschrieben –: Esgeht bei den Fragen, die wir in der Entwicklungszusam-menarbeit bearbeiten, um die Überlebensfrage derMenschheit. – Ich bin da ganz bei Ihnen. Ich bin nur lei-der enttäuscht, dass sich dies nicht in diesem Haushaltwiederfindet und dass es in der Höhe der Haushaltsmittelnicht abgebildet wird.
Ich habe den Aufruf sehr wohl verstanden, dass wiralle hier in dieser Debatte einen Beitrag leisten sollenund müssen, die Haushaltsmittel zu erhöhen. Ich findedas auch ganz wichtig und ganz nötig. Trotzdem ist esfür mich persönlich sehr enttäuschend, dass wir mit die-sem Haushalt nicht konkreter werden können, sonderndieser Haushaltsentwurf eigentlich nur den Haushalt für2014 fortschreibt.
Jetzt weiß ich natürlich, dass von der Vorgängerregie-rung eine Absenkung geplant gewesen ist, und zwar eineganz erhebliche: Das ist die sogenannte Niebel-Delle,über die man in diesem Zusammenhang so gerne redet.Ich bedauere sehr, dass aus der Niebel-Delle keineMüller-Welle geworden ist; denn genau die hätten wir indiesem Fall gebraucht.
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Dr. Bärbel Kofler
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Warum das Ganze? Auch bei meiner Rede zum Haus-halt 2014 habe ich betont: Es ist kein Selbstzweck. –Alle Vorredner haben es angesprochen: In den letztenWochen und Monaten ist die Entwicklungszusammenar-beit mehr in den Fokus der Öffentlichkeit geraten, weildie aktuellen Krisen einfach deutlich machen, wo überallUnterstützung nötig und auch machbar wäre. Allerdingsgeht es nicht nur um Nothilfe; es geht in der Entwick-lungszusammenarbeit um ein kontinuierliches Arbeitendaran, Länder aufzubauen, Krisen vorzubeugen, präven-tiv zu wirken. Ordentliche Entwicklungszusammenar-beit ist immer Krisenprävention und damit Friedenspoli-tik, und dazu müssen wir einen größeren Beitrag leisten.
Zurzeit findet auf der UN-Ebene, aber auch in ver-schiedensten zivilgesellschaftlichen Organisationen, inden Ministerien, in den verschiedensten Ländern eineDebatte darüber statt, wie nachhaltige Entwicklung inden nächsten Jahren überhaupt organisiert werden soll.Es geht um die großen Herausforderungen, nicht nur inden Entwicklungsländern, sondern auch bei uns. DreiFinger der eigenen Hand zeigen immer auf uns und un-ser Verhalten zurück, wenn wir auf andere zeigen. Wirstehen vor der Bewältigung von Herausforderungen imBereich ökologischer Fragen sowie den Bereichen Ar-beitsbedingungen und faire Handelsbedingungen. Siehaben das Thema Wertschöpfungsketten angesprochen.Ich freue mich im Übrigen, dass Sie dieses Mal das Wort„Verbindlichkeit“ in den Mund genommen haben, HerrMinister; ich habe das sehr wohl gehört. Ich möchte andieser Stelle noch einmal unterstreichen: Wir brauchenverbindliche Standards und verbindliche Regeln inpuncto Arbeitsbedingungen auf diesem Planeten.
An dieser Stelle ein kleines Beispiel dafür, warumFreiwilligkeit der falsche Weg ist und wir damit nichtweiterkommen: Wie wir alle wissen, fand vor etwa an-derthalb Jahren, am 24. April 2013, in Dhaka in Bangla-desch mit dem Einsturz des Fabrik- und BürohausesRana Plaza ein schreckliches Unglück mit mehr als1 000 Toten und mehr als 2 000 Verletzten statt. Jetzt,Ende September 2014, immerhin etwa anderthalb Jahrespäter, sollten die Entschädigungen an die überlebendenOpfer und an die Angehörigen der verstorbenen Opfergezahlt werden. Die ILO, die Internationale Arbeitsorga-nisation, hat ausgerechnet, dass die Summe von 40 Mil-lionen US-Dollar zur Verfügung gestellt werden sollte.Leider sind von den Unternehmen, die dort produzierenließen und die somit auch Verantwortung tragen, nur18 Millionen US-Dollar einbezahlt worden. Das kann sonicht sein. Dieser Umgang mit den Opfern ist beschä-mend. Vielleicht kann das Ministerium hier noch einmaltätig werden.
Eine wichtige Frage ist: Wie können wir das Haus-haltsvolumen erhöhen? Ich habe vorhin von dem von derUN-Kommission für Nachhaltige Entwicklung ausge-henden Prozess gesprochen. Diese Expertengruppe hateinen Bericht vorgelegt, in dem verschiedene Dingedeutlich gemacht worden sind: Wir müssen uns um dieEinnahmesituation in den Entwicklungsländern selberkümmern. Das hat viel mit der Verhinderung von Steuer-flucht, mit Aufbau von Staatlichkeit, mit Steuereinnah-mesystemen und mit der Möglichkeit, hier unterstützendtätig zu sein, zu tun. Diese Seite ist ganz wichtig. DieseExpertengruppe hat aber auch gesagt – das darf manebenfalls nicht vergessen –: Wir müssen unsere interna-tionalen Verpflichtungen einhalten. Das bezieht sich aufdie ODA-Quote und den Klimaschutz. Ich glaube, hiermüssen wir noch dringend nachlegen.
Wichtig ist auch, dass wir miteinander noch einmaldie eine oder andere konkrete Verwendung von Haus-haltsmitteln besprechen. Ich setze da sehr wohl auf dieBeratung. Ich habe ein paar Dinge durch die Blume ge-hört, und ich hoffe, ich interpretiere das richtig.Sie haben zu Recht über das Thema Friedenssiche-rung und über die Bedeutung des Zivilen Friedensdiens-tes geredet. Wir als Koalition haben im letzten Haushalthier einen Aufwuchs beantragt und uns auch für die zu-künftige Entwicklung – das betrifft die sogenannten VEsfür die langjährige Planung – für eine deutliche Steige-rung ausgesprochen. Ich sage es jetzt einmal vorsichtig:Ich finde das im Regierungsentwurf nur bedingt wieder,vor allem was die zukünftige Planung anbelangt. Im Ge-gensatz zu unserem Antrag sind die VEs leider wiederabgesenkt worden. Ich hoffe – ich bitte darum –, dasswir das in den nächsten Wochen in den Beratungen nochkorrigieren können.
Es ist gesagt worden: Es geht darum, dass wir einenBeitrag dazu leisten, insbesondere in Ländern mit fragi-len Staatlichkeiten Konflikte aufzuarbeiten und weiterenKonflikten vorzubeugen, zu verhindern, dass sie über-haupt entstehen und ausbrechen. Es ist leider Tatsache,dass es viele Projekte gäbe, die man hier noch anschie-ben könnte, wenn denn nur die Mittel da wären. Wirmüssen hier für einen kontinuierlichen Aufbau sorgen.Ich war am Montag mit vielen Kollegen, die auch hierversammelt sind, bei einer Initiative, bei der es um früh-kindliche Bildung in der Entwicklungszusammenarbeitgeht. Das ist ein wichtiger Punkt, den wir auch im Koali-tionsvertrag gemeinsam als einen unserer Schwerpunktebeschlossen haben: Bildungsfragen in der Entwicklungs-zusammenarbeit.Ich möchte daran erinnern, dass es eine Initiative gibt,die in diesem Jahr eine Wiederauffüllungskonferenz ver-anstaltet hat und weltweit tätig ist; das ist die sogenannteGlobal Partnership for Education. Diese Initiative sam-melt weltweit Mittel ein, um Bildung auf allen Ebenenvoranzubringen. Angestrebt sind 3,5 Milliarden US-Dol-lar bis 2018. Leider sind bisher nur 2,1 Milliarden US-
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Dr. Bärbel Kofler
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Dollar erreicht worden. Ich bin, ehrlich gesagt, nicht da-von überzeugt, dass die 7 Millionen Euro, die wir imHaushalt dafür vorgesehen haben, ein so üppiger Beitragsind, dass wir hier nicht noch besser werden könnten.
Das Thema Gesundheit, das vielen Kolleginnen, soauch mir, ganz besonders am Herzen liegt, ist schon ver-schiedentlich angesprochen worden, auch von Ihnen,Herr Minister. Die Impfinitiative halte ich für extremwichtig. Heute Morgen hatten verschiedene Kollegen dieGelegenheit, das mit der Initiative selbst, mit GAVI, zubesprechen. Eines ist klar geworden: Alles, was hier anMitteln eingesetzt wird, wird von den Entwicklungslän-dern in einem deutlichen Maße mit eigenen Mitteln auf-gestockt. Jeder Euro, den wir einsetzen, bringt alsodurch das Engagement der Länder des Südens selbst ei-nen Mehrwert. Wir haben im nächsten Jahr die Wieder-auffüllungskonferenz. Die Länder des Südens haben ihreMittel für Impfstoffe um 250 Prozent gesteigert; so ha-ben wir heute Morgen gelernt. Das heißt aber: Auch wirmüssen deutlich erhöhen. Die Verpflichtungsermächti-gungen für GAVI – es tut mir leid, das sagen zu müs-sen – in diesem Haushalt geben das noch nicht her. Wirwissen, dass wir einen Betrag in Höhe von ungefähr100 Millionen Euro erreichen müssen.Ich habe alle diese Dinge nur anreißen können. Esgibt noch viele andere Punkte, über die wir noch einmalsprechen müssen, auch über den Globalen Fonds. Ichhoffe sehr, dass wir miteinander in den Haushaltsbera-tungen einen Beitrag dazu leisten, dass die Mittel erhöhtwerden, und auch noch einen Beitrag dazu leisten, dassein paar Akzente gesetzt werden. Darüber würde ichmich sehr freuen.Danke.
Als nächster Redner hat der Kollege Uwe Kekeritz
das Wort.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Das Motto meines Vortrags heißt: Folgt der Show auchdie Substanz?Herr Minister Müller, Sie werfen der EU meines Er-achtens zu Recht vor, dass sie humanitär versagt hat. Siefordern deshalb 1 Milliarde Euro von der EU für Flücht-lingshilfe. Auch wenn ich diesen Betrag noch für zuklein halte, bin ich da völlig auf Ihrer Seite.Aber wie schaut es denn mit dem BMZ-Etat aus? DieSonderinitiative „Fluchtursachen“ ist bereits zwei- oderdreimal erwähnt worden. Es ist doch erstaunlich: Sie istpositiv erwähnt worden, obwohl Sie die Mittel für dieseInitiative um 10 Millionen Euro kürzen. Es ist doch gro-tesk, die ohnehin viel zu geringen Anstrengungen bezüg-lich der Bekämpfung der Fluchtursachen noch weiter zureduzieren.
Gerade in Bayern schürt Ihre Partei mit der SpeerspitzeHerrmann die Ressentiments gegenüber den Menschenin Not, und hier kürzen Sie die Mittel zur Bekämpfungder Fluchtursachen. Glaubwürdigkeit schaut etwas an-ders aus.
Wir wissen, dass Sie es im Kabinett sehr schwer ha-ben. Was war es für ein herrliches Possenspiel um dieWaffenlieferungen. Sie haben sich dagegen ausgespro-chen, völlig zu Recht. Hier sind wir auf Ihrer Seite. Aberals es dann um die Abstimmung ging, wurden Sieschlicht ausgesperrt. Diese Sache hat mich völlig irri-tiert. Das ist für mich aber auch ein Zeichen, dass derAußenminister und die Kanzlerin den Minister für wirt-schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung nichternst nehmen. Das war für mich ein sehr schlechtes Si-gnal an die deutsche Öffentlichkeit; denn eigentlich sindSie dafür zuständig. Sie sind Mitglied im Bundessicher-heitsrat, aber dies war keine Entscheidung des Bundessi-cherheitsrates. Wenn es eine gewesen wäre, dann hätteman auch den Minister zulassen müssen. Man hat dieEntscheidung aber einfach aus der Zuständigkeit desBundessicherheitsrates herausgenommen und dann imBundestag darüber abgestimmt.Waffenlieferungen – da bin ich auf Ihrer Seite – sindnicht hilfreich. Völlig indiskutabel ist aber das Verhält-nis von humanitärer Hilfe – 50 Millionen Euro – zu Waf-fenlieferungen – 70 Millionen Euro.
Wenn diese Regierung vorgibt, dass die humanitäreSituation die Ursache ihres Handelns ist, dann mussHilfe in den Bereichen Ernährung, Gesundheit und Un-terbringung der Menschen, also Hilfe zum Erhalt derMenschenwürde, zur obersten politischen Leitmaximedieser Regierung werden. Waffenlieferungen helfen dakaum.Das Thema „Ebola“ wurde heute auch schon ange-sprochen: über 2 000 Tote, bald 20 000 Infizierte. Wirhaben hier eine humanitäre Katastrophe. Wir stehennicht davor, sie ist bereits da, und Deutschland stellt we-niger als 3 Millionen Euro zur Verfügung. Auch wenn inletzter Zeit versprochen wurde, dass wir Fachkräfte undAusstattungsmaterial schicken, so kommt dies sehr, sehrspät. Die Ebolakrise, Herr Minister, offenbart aberschmerzlich, dass der Aufbau von Gesundheitssystemensträflich vernachlässigt wurde und wird. Herr Müller,setzen Sie das Thema „soziale Sicherung“ endlich wie-der auf die politische Agenda; denn wir brauchen nach-haltige Strukturen. Diese wirken in Ruanda. Dort gab es,was vielleicht nicht so bekannt ist, in den letzten Jahrenvier Ausbrüche von Ebolaepidemien. In Ruanda gibt esaber funktionierende soziale Strukturen, insbesondereein funktionierendes Gesundheitssystem. Deswegen hatdie Regierung dort diese vier Ausbrüche sehr schnell
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Uwe Kekeritz
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wieder unter Kontrolle bekommen. Wir in Europa habendavon überhaupt nichts mitbekommen.Werte Kolleginnen und Kollegen, können Sie mir ei-gentlich sagen, warum die Maut kommt? Nein, es hatnichts mit kabarettistischen Leistungen im Haus zu tun.Die Maut kommt deshalb, weil die Kanzlerin festgestellthat, dass die Maut im Koalitionsvertrag steht. Lesen Siebitte einmal den Koalitionsvertrag genauer durch. DerKoalitionsvertrag hebt beim Thema „Global Fund“ her-vor, dass der Global Fund eine herausragende Bedeutunghat und dass diese Regierung ihn stärken wird. Aller-dings wundere ich mich schon, was diese Regierung un-ter „stärken“ versteht.
– Nein, nein, nein. Die Maut wird ein Draufzahlgeschäft.Die brauchen wir hier nicht.
Also, Sie kürzen den Betrag um 45 Millionen Euro.Stärken schaut anders aus.
Das ist vielleicht ein Hinweis für die SPD: Wenn alsomit dem Koalitionsvertrag argumentiert wird, dannkönnt ihr doch in Zukunft auch sagen: Koalitionsvertrag,Global Fund.
Herr Minister, wir begrüßen, dass Sie sich des The-mas „Arbeitsbedingungen in der Textilbranche“ anneh-men. Ich freue mich natürlich auch, dass Sie heute zumersten Mal tatsächlich gesagt haben, Sie wollen verbind-liche Standards. Gut so. Jetzt würde es mich natürlich in-teressieren, was Sie innerhalb des Kabinetts dafür tunund wie Sie auf europäischer Ebene argumentieren unddie Maschinerie in Richtung Verbindlichkeit bewegenwollen; denn die Signale, die wir momentan aus Europabekommen, sind nicht gerade sehr aufmunternd. Aberich bin davon überzeugt, Sie schaffen das noch.Die Frau Präsidentin blinkt schon.
Das 0,7-Prozent-Ziel wurde angesprochen. Es ist vorhinkritisiert worden, dass der Aufholplan nicht richtig funk-tioniert. Es gibt doch gar keinen mehr. Seien Sie dochendlich so ehrlich und stehen Sie dazu, dass Sie diesbe-züglich nichts machen wollen oder nichts machen kön-nen, aber erklären Sie den Menschen in diesem Landauch, wie Sie den kommenden SDG-Prozess finanzierenwerden.
Also, jetzt fängt die Präsidentin bald wirklich an zu
blinken.
Frau Präsidentin, ich bedanke mich bei Ihnen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nun spricht
Johannes Selle.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Deutschlandwird in der Entwicklungszusammenarbeit sehr gut wahr-genommen. Zu dem ausgesprochen positiven Bild ist esdurch Bundesminister Müller und seine Führungsmann-schaft gekommen, die seit dem Amtsantritt mit Leiden-schaft arbeiten – wir haben es heute selbst wieder erlebt.
Deutschland ist preis- und wechselkursbereinigtzweitgrößter Geber nach den USA, und wir bleiben mitdiesem Haushalt führend. Wir wissen, dass wir nichtnachlassen dürfen, und Deutschland ist sich seiner Ver-pflichtung in Sachen Mitmenschlichkeit bewusst.Mehrfach wurde heute die Ausnahmestellung diesesHaushaltes, der ohne neue Schulden auskommt, hervor-gehoben; ich will das auch tun. Als Entwicklungspoliti-ker und als Mitglied der Regierungskoalition kann ichnur daran interessiert sein, dass die LeistungskraftDeutschlands erhalten bleibt. Es gibt nämlich nicht sehrviele Partner, die noch wirksam helfen können. Deshalbist das Betreten des Weges ohne neue Schulden auch füruns ein gutes Signal, und wir tragen es mit.Der Einzelplan 23 für das Jahr 2015 ist ein Bekennt-nis der Bundesregierung zur herausgehobenen Bedeu-tung der Entwicklungszusammenarbeit. Wir können un-sere starke Präsenz fortführen und unsere weltweitenVerpflichtungen erfüllen. In der Finanzplanung ist einweiterer, stärkerer Aufwuchs im Jahr 2016 vorgesehen,und dieser Kurs – das möchte ich schon andeuten –muss auch fortgesetzt werden, nicht nur, weil wir alsFachpolitiker es uns wünschen, sondern auch, weil wirdas 0,7-Prozent-Ziel nicht aufgeben.Die Herausforderungen an die Entwicklungspolitiksind im letzten Jahr sprunghaft gestiegen. Das Umfeldnimmt an Fragilität zu. Das Heidelberger Institut für In-ternationale Konfliktforschung listet für das Jahr 2013über 200 gewaltsame Konflikte auf. Davon sind 45 alsKriege klassifiziert. Auf diese Krisen hat Deutschlandmit seinem entwicklungspolitischen Instrumentariumschnell reagiert; ich denke da nicht nur an die sehr prä-senten Konflikte im Irak, in Syrien und im Gazastreifen,sondern auch an die weniger beachteten, aber nicht we-niger grausamen Konflikte im Südsudan und in der Zen-tralafrikanischen Republik. Das hat uns weltweit Aner-kennung verschafft.
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4650 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 50. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2014
Johannes Selle
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Im Übrigen hat es auch zu einer Priorisierung der He-rausforderungen in der Entwicklungszusammenarbeitgeführt. Mit Sonderinitiativen zu Flüchtlingsfragen undzu Verbesserungen der landwirtschaftlichen Produk-tionskapazitäten werden entscheidende Themen ange-gangen; diese Bereiche werden verstärkt mit Mittelnausgestattet. Dabei geht es nicht nur um Unterstützungfür die Flüchtlinge selbst, sondern auch um Hilfe für dieAufnahmeregionen. Vielerorts ist die ohnehin schon un-zureichende Infrastruktur dem Ansturm der Flüchtlingenicht mehr gewachsen, und neben das Problem der Ver-sorgung der Flüchtlinge tritt die Gefährdung der sozialenund ökonomischen Entwicklung der Aufnahmeregionenselbst, zum Beispiel in Jordanien und im Libanon, wie esdie Kollegen schon ausgeführt haben.Menschen wollen nicht entwurzelt werden. Deshalbist die heimatnahe Unterbringung, wenn sie möglich ist,von Vorteil, insbesondere dann, wenn wir darauf achten,dass die Aufnahmeregionen entwicklungspolitisch eben-falls von ihrer Bereitschaft profitieren. Dies kann überdie Sonderinitiative zur Flüchtlingsproblematik gut un-terstützt werden.
In der Sonderinitiative zur Entwicklung der landwirt-schaftlichen Produktionskapazitäten liegt ein Schlüsselzu einer erfolgreichen Reintegration von Flüchtlingen.Die Rückkehrbereitschaft des Einzelnen hängt maßgeb-lich von seinen ökonomischen Perspektiven ab. Es be-darf nicht nur politischer Stabilität; es muss auch gelin-gen, bestehende Potenziale zu nutzen. Wir müssenModelle etablieren, die sich ohne unsere Zuschüsse tra-gen können. Dieses Potenzial im landwirtschaftlichenBereich ist – gerade wenn wir an Afrika denken – ohneZweifel vorhanden. Dies kann über die Sonderinitiativezur Landwirtschaft ebenfalls gut unterstützt werden.
Infrastrukturinvestitionen sind eine wesentliche Vo-raussetzung für soziale und ökonomische Entwicklung.Als Berichterstatter für die Finanzielle Zusammenarbeithalte ich den in diesem Bereich erzielten Barmittelauf-wuchs von 34 Millionen Euro und die erhebliche Anhe-bung der Verpflichtungsermächtigungen auf gut 2,4 Mil-liarden Euro daher für besonders wichtig und erfreulich.Die KfW als Durchführungsorganisation der deutschenFinanziellen Zusammenarbeit genießt weltweit einenausgezeichneten Ruf. Hervorzuheben ist dabei die Er-folgsquote von KfW-geförderten Projekten in fragilenKontexten. Fragilität wächst, wie ich bereits ausgeführthabe, im Umfeld der Entwicklungszusammenarbeit.In den kommenden Verhandlungen können wir nochden einen oder anderen Akzent setzen. Darauf freue ichmich. Insgesamt ist die deutsche Entwicklungszusam-menarbeit, wie ich finde, mit dem Haushalt 2015 gutaufgestellt.Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie Ihre Redezeit
eingehalten haben.
Jetzt hat die Kollegin Gabriela Heinrich das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen, dringen Sieeigentlich noch durch mit Ihren Themen, wenn Sie mitIhren Besuchergruppen, wenn Sie mit Ihren Wählerin-nen und Wählern aus dem Wahlkreis oder mit Schüler-gruppen reden? Müssen Sie nicht auch überall über dieKrisen reden, die wir heute schon vielfach besprochenhaben, die so viele verängstigen? Über das Blutvergie-ßen in der Ukraine, über die unzähligen Flüchtlinge inSyrien, über die unerträglichen Grausamkeiten im Nord-irak, über eine Welt, die offensichtlich völlig aus den Fu-gen geraten ist?Aktuell wird die eine Krise in rasender Geschwindig-keit von der nächsten verdrängt; der Minister erwähntees schon. Vor einigen Tagen und Wochen waren es nochder Gaza-Konflikt, die Bürgerkriege und die damit ver-bundenen drohenden Hungersnöte in Südsudan, in Zen-tralafrika, in Somalia. Wer redet heute noch von Mali?Unvorstellbare und sinnlose Gewalt.1,5 Milliarden Menschen leben derzeit in fragilenStaaten. Fragil, das bedeutet, das sind Staaten, in denendie Menschen ihren Alltag nicht mehr leben können;denn ihr Alltag besteht aus Terror, Hunger, Krieg undFlucht. Sie flüchten, und viele versuchen, irgendwie Eu-ropa zu erreichen. Was heißt „viele“, wenn aktuell mehrals 50 Millionen – das wurde auch schon erwähnt – aufder Flucht sind? In Deutschland sind in diesem Jahr bisJuli 2014 rund 97 000 angekommen. Das stellt selbst un-ser reiches Land vor enorme Herausforderungen. Andieser Stelle treffen uns diese Krisen ganz unmittelbar;denn die Flüchtlinge kommen in ihrer Mehrzahl aus alldiesen instabilen, fragilen Ländern, und sie brauchenSchutz.Es betrifft uns ebenso unmittelbar, wenn wir Angsthaben vor Anschlägen, vor Terror im eigenen Land, obvon Deutschen, die in den Dschihad gezogen sind undzurückkehren werden, oder von möglichen Schläfern.Warum, fragen wir uns, werden so viele junge Männer,auch ein paar Frauen, von einem ungeheuren Fanatismusangezogen, sodass sie bereit sind, zu morden, zu plün-dern, zu vergewaltigen, zu zerstören? Auch wenn es mitSicherheit unterschiedliche Motivationen geben mag,liegt ein Beweggrund ganz sicher im Fehlen jeder per-sönlichen Perspektive. Wer nichts zu verlieren hat, wer
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keine andere Anlaufstelle, Unterstützung oder auch nurStruktur vorfindet, wird leichter empfänglich für diePropaganda von Terrorgruppen. Diese bieten häufigStrukturen, Versorgung und vielleicht auch Anerken-nung für diejenigen, die hoffnungslos, wütend und ent-täuscht sind. Die Unterstützung vieler radikaler Gruppie-rungen, seien sie politisch oder religiös verbrämt, speistsich genau aus dieser Mischung.Damit kann der unvorstellbare Terror des IS und an-derer Mörderbanden niemals gerechtfertigt werden; abersollten wir nicht in Jahrhunderten gelernt haben, welcheAlternativen es gibt, Hass und Fanatismus den fruchtba-ren Boden zu entziehen? Die Alternativen sind Nahrung,Bildung, Arbeit, Gesundheit und nicht zuletzt Friedenund Sicherheit.
Es ist richtig und notwendig – dies wurde auch bereitsgesagt –, dass wir angesichts der aktuellen Krisen kurz-fristig schnelle Hilfe leisten. Wir dürfen es aber nichtbeim Reagieren belassen. Es geht darum, vorausschau-end zu handeln.Jetzt endlich bin ich beim Thema Entwicklungspoli-tik. Entwicklungspolitik ist Friedenspolitik. Entwick-lungspolitik ist Prävention. Der Minister hat es gesagt:Entwicklungspolitik kann und muss einen Beitrag dazuleisten, dass Konflikte entschärft werden oder gar nichterst entstehen. Denken Sie an die Kämpfe, die noch zubefürchten sind, wenn es um die Verteilung von Wassergeht.Die deutsche Entwicklungspolitik besteht aus einerVielzahl von Programmen und Projekten, die Chancenund Teilhabe fördern, sei es die Hoffnung auf Versöh-nung, für die der Zivile Friedensdienst steht, die Chanceauf Bildung und damit eine Chance auf Aufstieg, die wirmit Bildungsprojekten, Ausbildungspartnerschaften unddem Deutschen Akademischen Austauschdienst unter-stützen, die Stärkung der kleinbäuerlichen Landwirt-schaft, um den Hunger zu bekämpfen, und die vielfacherwähnte Sonderinitiative „Eine Welt ohne Hunger“.Zugunsten besserer Chancen auf Arbeit und für wirt-schaftliches Wachstum fördern wir Wirtschaftspartner-schaften und wichtige Infrastrukturprojekte von derTrinkwasserversorgung bis zum Krankenhaus. UnsereEntwicklungspolitik unterstützt Maßnahmen gegen Müt-ter- und Kindersterblichkeit und stärkt die sexuellen undreproduktiven Rechte. Wir stärken gute Regierungsfüh-rung in Entwicklungsländern und finanzieren Beratungfür wichtige Strukturreformen in unseren Partnerländern.Dabei machen wir uns für Umwelt und Klimaschutz,aber auch für die Menschenrechte, für Gleichberechti-gung, Frauenförderung und letztlich für die Demokratiestark.Bei allem darf man nie vergessen, dass es nicht nurum den Staat, sondern auch um die Zivilgesellschaftgeht. Sonja Steffen hat es bereits sehr eindrücklich be-schrieben. Gerade weil viele Länder ihren Bürgern keineausreichende Sicherheit geben, gerade weil Machtelitenhäufig eben nur auf den eigenen Vorteil bedacht sind, istes aus unserer Sicht wichtig, dass wir die Zivilgesell-schaft, die politischen Stiftungen und die Kirchenstärken und auch die privaten Träger unterstützen. Daswerden wir bei den kommenden Haushaltsberatungendeutlich machen.
Wir wollen und wir müssen unsere Partnerländer da-bei unterstützen, ein tragendes Fundament aufzubauen.Ein solches Fundament ist die beste Prävention dafür,Fluchtursachen zu bekämpfen, den Zulauf zu Terroris-mus zu senken und die Krisen von morgen zu vermei-den.Alles, was ich beschrieben habe, wollen alle hier; dasweiß ich. Das ist nicht mein Vorrecht. Ich meine aber,dass der vorgelegte Haushaltsentwurf in Bezug auf denEtat für das BMZ noch deutlich Luft nach oben hat, ge-rade auch angesichts der Verpflichtungen und Zusagender Bundesregierung auf internationaler Ebene. Dennwer Vorreiter sein will, muss diese Rolle auch kontinu-ierlich ausfüllen.
Herr Minister, wir werden Sie dabei unterstützen. Ichbin sicher, dass auch die CDU/CSU Sie dabei unterstüt-zen wird.
Ich bin auch überzeugt, dass die Vermeidung und Ent-schärfung von Konflikten nicht nur klüger und menschli-cher ist, sondern langfristig auch kostengünstiger. Wennwir mehr wollen, als nur zu reagieren, dann werden wirstärker in die Prävention von Krisen investieren müssen.Ich danke Ihnen.
Als nächster Redner hat der Kollege Tobias Zech das
Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Minister! MeineDamen und Herren! Ich habe heute festgestellt, dassEntwicklungspolitiker und Haushaltspolitiker vor allemeines gemeinsam haben: Lieber Volkmar Klein, wirmüssen in großen Zeiträumen denken und nachhaltigeEntscheidungen treffen. Das ist in Zeiten, in denen dieWelt von Krisen gebeutelt ist – nicht nur wir haben hierin den letzten Wochen und Monaten darüber diskutiert,sondern auch in den Medien wird es thematisiert, und esbewegt auch die Menschen in unseren Wahlkreisen –,eine große Herausforderung.Zum einen lässt sich die Zukunft nur noch schwer an-tizipieren, und zum anderen stoßen wir auf Akteure wieBoko Haram und ISIS, Akteure, die unsere zivilisatori-schen Errungenschaften, Menschenrechte, Rechtstaat-
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Tobias Zech
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lichkeit, und unser christliches Moralverständnis mitFüßen treten. In dieser Situation muss unsere Sicher-heits- und Entwicklungspolitik stärker denn je miteinan-der verzahnt werden.Wir blicken aktuell auf eine steigende Anzahl vonStaaten, die sich in einem Zerfallsprozess befindet undvon Krankheiten befallen ist, von Krankheiten wie Will-kür, Korruption oder Gewalt. Diese Krankheiten bleibennicht in diesen Ländern, sondern sie infizieren auch dieNachbarländer und ganze Regionen. Im Nordirak sind indiesem Moment, in dem wir darüber diskutieren, über10 000 traumatisierte und verängstigte Menschen auf derFlucht. Der Syrien-Konflikt ist jetzt schon die größte hu-manitäre Katastrophe in den letzten 50 Jahren in dieserRegion.Ich denke, man kann eines sagen – wir haben das vorallem heute Vormittag gehört –: Die schwarze Null istsehr wichtig. Die schwarze Null ist ein generationenge-rechter Haushalt. Ich denke, die schwarze Null ist auchwichtig, weil sie eine Vorbildfunktion für andere Länderhat. Aber angesichts der Herausforderungen, vor denenwir in der Außenpolitik und vor allem in der Entwick-lungs- und Sicherheitspolitik stehen, müssen wir dieVerteilung der Mittel zwischen den Ressorts vielleichtnoch einmal überdenken. Dafür sollten wir die nächstenWochen nutzen und dem Haushalt des BMZ noch mehrMittel zur Verfügung stellen.
Aus fragilen Staaten können schnell realpolitischeBedrohungen entstehen. Wir haben erst in der vergange-nen Woche über die Waffenlieferungen in den Nordirakdiskutiert. Ich muss sagen: Auch als Entwicklungspoliti-ker kann ich die Waffenlieferungen in den Nordirak bzw.an die Peschmerga-Truppen nur unterstützen. Denn be-vor sie Entwicklungspolitik machen können, müssen sieSicherheit herstellen können. Es ist schon zynisch, zusagen: „Waffen liefern wir euch nicht“, wenn geradeFrauen, Kinder und ganze Dörfer auf der Flucht vormordenden und hetzenden ISIS-Horden sind. Ihnenmüssen wir helfen. Sie brauchen erst einmal Sicherheit,um in diesem Land, das ihre Väter und Mütter mit auf-gebaut haben und in dem sie ihren Lebensraum haben,leben zu können. Dazu gehört, auch wenn es die UltimaRatio ist und wir uns das nicht leicht machen, auch dieLieferung von Waffen.
Denn zu dem Dreiklang aus Nothilfe, Schutz und Waffengibt es zum jetzigen Zeitpunkt keine Alternative.Herr Minister, ich glaube, Ihnen kann man stellvertre-tend für die ganze Bundesregierung schon einmal Dankefür die Soforthilfe in Höhe von 50 Millionen Euro sagen,die unbürokratisch und schnell von der Bundesregierungzur Verfügung gestellt worden ist.
Gleichzeitig müssen allerdings die sicherheitspoliti-schen Rahmenbedingungen geschaffen werden. Nebendem Schutz der bedrohten Minderheiten und der Men-schen in diesen Regionen geht es auch um den Schutzder Helfer, die nicht nur von staatlichen Organisationenkommen, sondern auch bewusst und freiwillig in dieseLänder gehen und sich einbringen, die in Vereinen undNGOs engagiert sind. Viele sind schon seit langem vorOrt; sie waren schon dort, bevor sich die Weltbevölke-rung und die Presse diesen Konflikten genähert haben.Sie versuchen, die Situation der Menschen zu verbes-sern. So helfen zum Beispiel der Menschenrechtsaktivistund Kabarettist Christian Springer mit seiner KolleginMonika Gruber aus Bayern mit ihrem Verein „Orient-hilfe“ seit mittlerweile zwei Jahren syrischen Flüchtlin-gen im Libanon dabei, Operationen von Kindern zu be-zahlen oder in den Lagern Müllautos und Krankenwagenzu organisieren, damit ein Mindestmaß an sozialer Si-cherheit gegeben ist. Diesen Menschen, die freiwillig,selbstlos und mit unglaublich viel Kraft und Vervehelfen, müssen auch wir als Parlament Dank und Aner-kennung zollen; denn die Politik allein kann diese Krisennicht bewältigen.
Es gäbe noch viel zu sagen, aber die Uhr tickt. Einesmöchte ich allerdings noch anmerken, da wir über dieMittel sprechen. Bei dem Ansatz, Herr Minister, den Siemit dem BMZ verfolgt haben und weiter verfolgen wer-den, geht es um Fördern und Fordern. Die Vergabe vonMitteln erfolgt also nicht im Rahmen pauschaler Maß-nahmen. Vielmehr fordern Sie Ergebnisse ein und nutzensie auch als Anreiz – als Beispiel nenne ich Afghanistan –,um nachhaltige Erfolge zu erzielen. Das ist der richtigeWeg, insbesondere in Staaten – lassen Sie mich kurz beiAfghanistan bleiben –, in denen wir mit Korruption zukämpfen haben. Das gilt erst recht, da es im Moment einMachtvakuum zwischen Ghani und Abdullah gibt undKarzai die letzten Jahre wirklich versäumt hat, nachhal-tige Mittel gegen die Korruption vor Ort zu finden. Es istder richtige Anreiz, den wir hier setzen. Ich denke, wirsind es nicht nur den Afghanen, sondern vor allem auchden Soldaten, die dort im Auftrag dieses Hauses ihr Le-ben riskiert und von denen manche ihr Leben leider so-gar verloren haben, schuldig, diesen Auftrag richtig zuEnde zu führen. Das macht das BMZ. Dafür wünschenwir Ihnen Kraft und sagen Ihnen die Unterstützung unse-rer kompletten Fraktion zu.Vielen Dank.
Als nächster Redner hat der Kollege Stefan Rebmann
das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrteDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
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Stefan Rebmann
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Gestern und heute haben wir hier im Plenum mehrfachgehört, wie gelungen dieser Haushaltsentwurf ist, undwir haben gestern vom Kollegen Brinkhaus die neue ma-thematische Erkenntnis vernommen, dass bei 299 Mil-liarden Euro Einnahmen und bei 299 Milliarden EuroAusgaben unter dem Strich null herauskommt. Wirhaben auch diesmal beim Entwicklungshaushalt – wieauch beim letzten Entwicklungshaushalt, den wir erstvor kurzem beschlossen haben – die magische schwarzeNull an Aufwuchs für den Etat nur ganz knapp verfehlt.Ich sage das hier ganz offen: Das lässt mich nicht froh-locken.
Ich habe es damals gesagt, und ich sage es auch heutewieder: Kaum ein Etat ist so sensibel wie der Entwick-lungsetat. Hinter all den vergleichsweise geringen Sum-men stehen Schicksale von Menschen, Familien undganzen Regionen. Ganz besonders deutlich wird das imGesundheitsbereich.Auf Dauer können wir es uns nicht leisten, gerade denEntwicklungshaushalt derart stiefmütterlich zu behan-deln.
Ich sage übrigens ganz bewusst, dass wir es uns nichtleisten können. Denn jeder von uns hier weiß, dass Ver-säumnisse von heute die Rechnungen von morgen sind.Wenn wir nachhaltige Entwicklung wollen, müssen wirin Entwicklungszusammenarbeit investieren und auchmehr für den Bereich Gesundheit und Prävention tun.Zum Beispiel die Ebola-Epidemie, mit der wir esheute zu tun haben und die ja nur wenige Flugstundenvon uns entfernt grassiert, zeigt das ganz besonders.Ich begrüße es schon sehr, wenn unser Minister dieWHO mit mehr als 1 Million Euro im Kampf gegenEbola unterstützt. Nur, das reicht nicht aus. Das ist nichtseine Schuld, denn er kann ja nur das ausgeben, was ihmim Etat zur Verfügung steht.Dass der Entwicklungsetat aber so ist, wie er ist, istauch eine Frage der Prioritätensetzung und der Wertig-keit der Entwicklungspolitik innerhalb des Gesamthaus-halts.
Was wir brauchen, ist ein Haushalt, der es uns, der esden NGOs, den Stiftungen, den Entwicklungsorganisati-onen, den Entwicklungshelferinnen und -helfern vor Ortermöglicht, in den Partnerländern ihre Arbeit zu tun.Was wir aber tatsächlich haben, ist eine Situation, in derwir zwar viel Gutes leisten können, in der wir aber auchauf viel Gutes verzichten müssen.Ich finde, die Präsidentin von Ärzte ohne Grenzen hates bei einer UN-Anhörung zu Ebola in der vergangenenWoche auf den Punkt gebracht. Ich zitiere:Die Weltgemeinschaft versagt bei ihrer Reaktionauf die bisher schlimmste Ebolaepidemie.Sie hat recht, denn die Folgen einer solchen Katastro-phe sind sehr schnell nicht mehr kontrollierbar.Im John-F.-Kennedy-Krankenhaus in Monrovia wur-den Kranke aus Angst vor Ansteckung eingesperrt undvernachlässigt, bis einige Patienten im Krankenhausnicht an Ebola gestorben sind, sondern verhungert sind.
Aus dem gesamten betroffenen Gebiet wird immerwieder berichtet, wie Kranke von Verwandten verstecktwerden. Sierra Leone will deshalb eine dreitägige Aus-gangssperre verhängen, während der dann medizinischeTeams nach Kranken suchen sollen. Viele von diesenTeams werden sehr wahrscheinlich nicht ordentlich aus-gestattet sein, weil dort viel zu wenig Hilfsgüter ankom-men.Bei einer Inkubationszeit von 8 bis 21 Tagen wird dasdie Ausbreitung des Virus nicht verhindern. Im Gegen-teil, es wird dazu führen, dass es zu einem Vertrauens-verlust gegenüber den Helferinnen und Helfern kommt.Denn danach werden wieder Menschen erkranken, wasja aller Wahrscheinlichkeit nach auch der Fall ist.Die Preise von Grundnahrungsmitteln sind bis zu150 Prozent gestiegen, und das in einer Region, wo dieMasse der Menschen quasi ihr komplettes Einkommenausgeben muss, um sich zu ernähren. Die VereintenNationen warnen schon jetzt, dass in den kommendenMonaten über 1,3 Millionen Menschen, bedingt durchdiese Epidemie, hungern werden. Das löst wieder Wan-derungsbewegungen aus.Es ist die traurige Wahrheit, aber das alles wäre zumTeil auch zu verhindern gewesen.Wir sehen hier und heute, wie Menschen sterben undFamilien zerstört werden. Wir sehen auch dabei zu, wieErfolge in der Entwicklungspolitik, wie erfolgreicheEntwicklungsprojekte nachhaltig zerstört werden.Ich sage aber auch: Unser Engagement in den armenund ärmsten Ländern ist sinnvoll, und wir haben auchErfolge vorzuweisen, gerade im Bereich Gesundheit:Zum Beispiel wurden seit 2000 durch Impfungen8,5 Million Poliofälle verhindert, und die Zahl der Neu-erkrankungen ist um 95 Prozent zurückgegangen. Wennwir an diesem Punkt so weiterkämpfen, können in dennächsten 20 Jahren allein in den Entwicklungsländernbis zu 50 Milliarden US-Dollar an Behandlungs- undFolgekosten gespart werden.Ein solcher Erfolg wäre umso wichtiger, wenn mansich vor Augen führt, welch positive gesamtgesellschaft-lichen und ökonomischen Folgen das haben kann. In denärmsten Ländern der Welt gilt nämlich: Wer krankheits-bedingt ausfällt, kann nicht arbeiten, kann seine Familienicht ernähren, kann seine Kinder nicht zur Schule schi-cken und vieles mehr nicht leisten. Dadurch werden Ent-wicklung, Lebenschancen und Perspektiven behindertoder gar verunmöglicht.
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Auch deshalb ist unser Engagement im gesamten Ge-sundheitsbereich gerade bei Impfungen, bei Aufklä-rungskampagnen, beim Aufbau von Systemen für einesoziale Grundsicherung, bei der Erforschung von ver-nachlässigten Krankheiten so wichtig. Gesundheit ist dieGrundvoraussetzung für eine funktionierende Volkswirt-schaft und für menschliche Entwicklung.
Wir haben also nicht nur eine moralische, sondern aucheine politische Pflicht, erreichbare Ziele Wirklichkeitwerden zu lassen. Das bedeutet, dass wir die Mittel fürden gesamten Gesundheitsbereich, für die Forschung,für die Impfallianz GAVI, für den Global Fund zur Be-kämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria deutlicherhöhen müssen.
600 000 Menschen sterben jährlich an Malaria. Dassich ausbreitende Dengue-Fieber hat in diesem Monaterstmals seit 70 Jahren wieder die Industrienation Japanerreicht, und zahlreich vernachlässigte Krankheiten be-hindern echte Entwicklung.Was wir jetzt an dieser Stelle an Mitteln einsetzen,dürfen wir aber nicht an anderer Stelle einsparen. Mit ei-nem Umbuchen von A nach B ist nichts gewonnen; da-mit verschieben wir nur Not und Elend und das Sterbenzeitversetzt, buchhalterisch von A nach B – um es dannbei der nächsten Katastrophe von B nach C zu verschie-ben? Ich sage dazu Nein. Ich will eine nachhaltige undvorausschauende Entwicklungspolitik. Die ist mit die-sem Haushaltsentwurf leider nur bedingt möglich.
Ich komme, meine Präsidentin, zum Schluss. Esist schon mehr als traurig, dass wir nicht einmal176 000 Euro für eine bereits im Aufbau befindlicheBrustkarzinomklinik in Afghanistan zur Verfügung stel-len können. Wir lassen die Frauen, die an Brustkrebs er-krankt sind, die zum Teil mit offenen Geschwüren lebenmüssen, allein. Diese 176 000 Euro haben wir angeblichnicht. Gleichzeitig wird aber der Etat für die Deutsch-Griechische Versammlung um 135 000 Euro erhöht. Ichfinde, wir sollten darüber noch einmal nachdenken.
Wir haben ein ganzes Stück Arbeit vor uns.
Lieber Kollege, Sie müssen jetzt zum Schluss kom-
men.
Ja, ich komme zum Schluss. – Wir haben ein ganzes
Stück Arbeit vor uns. Ich hoffe, dass der nicht überzo-
gene politische Wille der Fachpolitiker in der Bereini-
gungsrunde der Haushaltspolitiker nicht der schwarzen
Null oder einer Priorisierung der Entwicklungspolitik
unter „ferner liefen“ zum Opfer fällt; denn dann werde
ich diesem Haushalt nicht zustimmen können.
Herzlichen Dank.
Als nächster Redner hat der Kollege Volkmar Klein
das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Jetzt, am Ende dieses Tagesordnungspunktes,kann man ein Stück zurückblicken und feststellen, dassziemlich viel
zu diesem Einzelplan gesagt worden ist. Die Bewertung– das kann man auch irgendwo nachvollziehen – ist imEinzelfall sehr unterschiedlich gewesen; aber wenn mansich das einmal insgesamt anschaut, dann muss mandoch objektiv feststellen: In diesem Ministerium gibt eseinen Minister, der mit seiner Mannschaft ganz kräftiganpackt und erfolgreich und anerkannt ist.
Darüber hinaus gibt es Zahlen, die auf jeden Falldeutlich besser sind, als manche Zwischentöne, die hierzwischenzeitlich zu hören waren, glauben machen wol-len. Beides, der Minister und der deutsche Beitrag fürEntwicklungszusammenarbeit, findet international eineganz erhebliche Anerkennung.
Vielleicht liegen diese Zwischentöne ja auch ein biss-chen am deutschen Wesen, immer wieder einmal verbaleDepressiva zu verteilen, damit man nicht allzu glücklichist.
Das internationale Feedback in Bezug auf die deut-sche Entwicklungszusammenarbeit ist aber einfach an-ders. Wenn man sich die Zahlen anguckt, dann kann mandurchaus auch Positives feststellen, und dies kann mansogar an der Amtszeit von Angela Merkel festmachen.
– Ja, vorher wurde diesem Thema nämlich viel zu wenigBeachtung beigemessen. – Als Angela Merkel 2005Bundeskanzlerin wurde, hatte der Einzelplan 23 einenUmfang von 3,8 Milliarden Euro. Inzwischen ist er um
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Volkmar Klein
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70 Prozent auf 6,45 Milliarden Euro gestiegen, und dieFinanzplanung verspricht weitere deutliche Zuwächse.
Nur einmal zur Erinnerung: Der Gesamthaushalt ist indieser Zeit um gerade einmal 20 Prozent gestiegen. Dasheißt, für uns ist dieses Thema mit der Zeit immer wich-tiger geworden.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Hajduk?
Ich freue mich über jede Unterstützung.
Das war jetzt für mich nach der bisherigen Debatte
ein sehr überraschender Einstieg, aber das ist ja das
Recht des letzten Redners. – Lieber Herr Kollege Klein,
vor dem Hintergrund Ihrer Äußerung in Bezug auf die
Realität, dass Sie ein bisschen das Gefühl haben, dass es
eine für uns Deutsche typische Attitüde ist, zu Depres-
siva zu neigen, möchte ich Ihnen eine Frage stellen: Ma-
chen Sie sich im Lichte der selbstkritischen Worte des
Ministers Sorgen um seinen Gemütszustand?
Der Minister verbreitet die richtige Stimmung.
– Nein. – Es geht ihm nämlich vor allen Dingen umChancen. Das ist übrigens auch noch ein wichtigerPunkt: Wir dürfen nicht immer nur über die Länder derDritten Welt als Problemländer und über Afrika als Pro-blemkontinent reden, sondern wir müssen auch sehr vielmehr über die Chancen der Dritten Welt und über denChancenkontinent Afrika reden. Das tut der Ministersehr intensiv.
Es geht nicht nur um die generellen Zahlen, sondernauch um einzelne Bereiche. Ich will zwei Bereiche he-rausgreifen:Erstens. Die Klimafinanzierung. Für die Klimafinan-zierung – der Minister hat sie eben noch einmal heraus-gestellt, und er hat auch die Zahl genannt – stehen in un-serem Haushaltsplan 1,6 Milliarden Euro. Hier tun wirsehr viel, weil wir das für wichtig halten. Es geht um denSchutz der Schöpfung – das ist eine grundsätzliche ethi-sche Frage – und auch um unser direktes europäischesInteresse an einer vernünftigen Klimaentwicklung. Des-wegen haben wir in den laufenden Haushalt ja auch nochzusätzlich Verpflichtungsermächtigungen für den GreenClimate Fund eingebracht, und im nächsten Jahr – mitdem Haushalt 2015 – fangen wir damit an, das auch tat-sächlich zu finanzieren.Zweitens. Der Bereich Gesundheit. Der KollegeRebmann hat zu Recht auf die enorme volkswirtschaftli-che Bedeutung hingewiesen. Dort, wo Krankheiten gras-sieren, kann sich keine vernünftige wirtschaftliche Ent-wicklung ergeben. Deswegen ist auch dieser Bereich füruns sehr wichtig.GAVI wurde schon genannt. Wir sind ja nicht nurAusrichter der Konferenz zur Wiederauffüllung der Glo-balen Impfallianz, GAVI, sondern wir werden für GAVIauch deutlich mehr, nämlich 45 Millionen Euro, in denHaushaltsplan einstellen. Es gibt Wünsche, das nochweiter zu erhöhen, aber das ist ja schon einmal relativviel.Aber ich will an dieser Stelle, weil der KollegeKekeritz auf die hervorragende Entwicklung Ruandashingewiesen hat, davor warnen, Geld überzubewertenund nur über die Wirkung des von uns bereitgestelltenGeldes zu reden, sondern es geht eben auch um dieFrage von Eigenverantwortung. Ruanda ist insofern einhervorragendes Beispiel.Wir alle sind bei mehreren Gedenkveranstaltungenanlässlich des 20. Jahrestages des Genozids in Ruandagewesen. Dem Land Ruanda könnte es theoretisch mitam schlechtesten gehen. Das ist aber nicht der Fall. Auchmit unserer Hilfe – der 2014 erschienene Evaluierungs-bericht über ruandisch-deutsche Entwicklungszusam-menarbeit im Gesundheitswesen hat das noch einmal un-terstrichen –, aber Hilfe zur Selbsthilfe – wir haben uns2012 wegen der großen Eigenverantwortung der ruandi-schen Regierung zurückziehen können –, ist das Ge-sundheitssystem in Ruanda überall gut aufgestellt, eswird hoch gelobt. Zu Recht hat der Kollege Kekeritz da-rauf verwiesen, dass Ruanda für den Fall, dass dort eineEpidemie ausbrechen sollte, in der Lage wäre, die Aus-breitung der Krankheit in den Griff zu bekommen, wasin vielen anderen Ländern leider nicht der Fall ist.Eine sich selbst tragende Entwicklung muss unserZiel sein. Wir haben auch über die Nothilfe – sie ist sehrwichtig – viel diskutiert. Aber wichtiger ist es, darüberzu reden, wie wir zu sich selbst tragenden Entwicklun-gen, also zu nachhaltigen Entwicklungen, in den jeweili-gen Ländern beitragen können. Da müssen wir bestimmtnoch ein bisschen umsteuern. Wir haben relativ vielGeld in Entwicklungshilfeprojekte gesteckt, die danneben nicht den gewünschten Erfolg gebracht haben. In-sofern ist diese Diskussion gemeinsam mit dem Evaluie-rungsinstitut ganz wichtig. Ich glaube, dass die Eigen-verantwortung der Länder ein ganz wichtiger Schlüsselist.
Das habe aber nicht ich gerade erfunden, sondern das isteigentlich jedem klar.
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Volkmar Klein
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Schon im Monterrey-Consensus 2002 ist das Stich-wort „Mobilisierung nationaler finanzieller Ressour-cen“, also die Stärkung der Steuerkraft im eigenen Land,als ganz wichtiger Punkt festgehalten worden. Das heißt,wir müssen dafür sorgen, dass es mehr Jobs und mehrSteuerzahler in den entsprechenden Ländern gibt, diedann einerseits die Infrastruktur und das Gesundheitswe-sen finanzieren, auf der anderen Seite aber auch in derBürgergesellschaft dieses Landes eine starke Stimme ha-ben. Wenn jemand selber Steuern zahlt, dann fragt erdoch seine Regierung, was sie mit dem Geld macht, an-ders als jemand ohne eigene Beiträge. Deswegen ist esnicht nur für die wirtschaftliche Entwicklung wichtig,Jobs und somit auch Steuerzahler zu schaffen, sondernauch für die gesellschaftliche Entwicklung. Das istNachhaltigkeit.
Nachhaltigkeit muss dann auch für uns gelten. Des-wegen ist dieser Haushalt ein ganz großer Meilenstein.Der erste Haushalt ohne Schulden – das wurde hier undda en passant als nicht so wichtig abgetan – ist keinSelbstzweck. Es geht darum, Stabilität zu schaffen undso die Grundlage von nachhaltiger Wirtschaftskraft inDeutschland zu sichern. Das ist wiederum kein Selbst-zweck, sondern das ist die notwendige Bedingung dafür,dass Deutschland weiterhin anderen helfen kann und da-bei seine Stärke behält. Deswegen ist es wichtig, dasswir einen ausgeglichenen Haushalt haben.
Wir haben uns im Übrigen zu dieser längerfristigenHilfe verpflichtet. Es ist nicht nur so, dass wir das wol-len. Unser Haushaltsplan mit dem jetzigen Beschlussenthält 31 Milliarden Euro an Verpflichtungsermächti-gungen, die wir alle bezahlen wollen. Das muss weiter-hin die Grundlage sein: Wir brauchen stabile, finanzielleVerhältnisse in Deutschland. Dann können wir auch inZukunft gegenüber den Ländern des Südens Solidaritätzeigen. Ich glaube, dass wir im Rahmen der Haushalts-beratungen noch ausreichend Gelegenheit haben wer-den, Details dazu auszudiskutieren.Herzlichen Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, weitere Wortmel-
dungen liegen mir zu diesem Einzelplan nicht vor.
Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesord-
nung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Donnerstag, den 11. September
2014, 9 Uhr, ein.
Damit ist die Sitzung geschlossen. Ich wünsche Ihnen
einen schönen Abend.