Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Liebe Kolleginnen und Kolle-gen, bitte bleiben Sie einen Augenblick stehen .Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen undHerren! Am 24 . August verstarb in Bad Krozingen Bun-despräsident Walter Scheel im bemerkenswerten Altervon 97 Jahren . Wir gedenken mit großem Respekt undmit Dankbarkeit des überzeugten Liberalen, des ge-schätzten Ministers und des beliebten Bundespräsiden-ten und hier im Bundestag insbesondere des überzeugtenParlamentariers .Sein politischer Lebensweg führte über alle parlamen-tarischen Ebenen: von der Kommunalvertretung und derLandesebene in den Bundestag und als Abgeordneterschließlich auch in das Europäische Parlament . In denBundestag zog er 1953 erstmals ein und verließ ihn erst1974 wieder, um sein Amt als Staatsoberhaupt in der Vil-la Hammerschmidt anzutreten .In den Jahren der ersten Großen Koalition, in denenes naturgemäß auch darum ging, die parlamentarischenRechte der Minderheit zu wahren, nicht zuletzt ange-sichts einer damals lautstarken außerparlamentarischenOpposition, amtierte er als Vizepräsident des Bundes-tages . In der Sitzungsleitung bewies Walter Scheel, wasspäter auch seine Präsidentschaft auszeichnete: Libe-ralität, Ausgewogenheit und Durchsetzungsvermögen .Walter Scheel prägte die zutiefst demokratische Maxime:„Opposition ist das Salz in der Suppe der Demokratie .“Wer von Ihnen, von uns, alt genug ist, sich Bildervon Begegnungen mit Walter Scheel vor Augen zu füh-ren – soweit ich sehe, wird das hier im Hause nur derKollege Schäuble können, der als Parlamentsneuling ab1972 Walter Scheel auf der Bonner Regierungsbank be-obachten konnte –, wer Fernsehbilder von Walter Scheelvor Augen oder seine Stimme im Ohr hat, wird sich derheiteren Selbstgewissheit entsinnen, die Walter Scheelauszustrahlen vermochte .Es verwundert indes nicht, dass die von Hans-DietrichGenscher herausgegebenen Reden Scheels sehr bewusstden Titel Heiterkeit und Härte tragen . Denn die noch jun-ge Bundesrepublik war in den Jahren, in denen WalterScheel sie als Vizekanzler und Außenminister entschei-dend mit geprägt hat, bemerkenswerten politischen Rich-tungswechseln und Turbulenzen ausgesetzt, nicht zuletztdem Terror der sogenannten Roten-Armee-Fraktion .Ausgesprochen harte Auseinandersetzungen, auchund gerade im Parlament, wurden um die neue, auf eineVerständigung zwischen Ost und West ausgerichteteOstpolitik geführt, in denen Walter Scheel eine bedeu-tende Rolle einnahm – und die es ohne ihn und seine alsParteivorsitzender der FDP damals geradezu tollkühneEntscheidung, nach einer spektakulären Wahlniederlageseiner Partei eine Koalition mit der SPD unter FührungWilly Brandts einzugehen, so gar nicht gegeben hätte .Dem erbitterten wie sachgerechten Streit zum Trotzstrahlte die Persönlichkeit Scheels – dank seiner Prinzipi-enfestigkeit, seinem Mut zur Modernisierung und seinerZielstrebigkeit – Zuversicht und Lebensfreude aus: eineimponierende Grundhaltung .Der Deutsche Bundestag wird Walter Scheel, der sichum unser Land und unsere Demokratie verdient gemachthat, ein ehrendes Andenken bewahren . Unsere Gedankensind bei seiner Witwe und seinen Kindern . Wir sprechenallen Angehörigen des ehemaligen Bundespräsidentenunser tief empfundenes Mitgefühl aus .Ich danke Ihnen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie daranerinnern, dass heute um 14 Uhr der Staatsakt für WalterScheel im Kammermusiksaal der Philharmonie beginnt,für den wir die Haushaltsberatungen unterbrechen wer-den . Für diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die da-ran teilnehmen können und wollen, stehen ab 13 Uhr vordem Nordeingang des Paul-Löbe-Hauses Busse zur Ver-fügung, die auch sicherstellen, dass man in gestaffeltenAbfahrtzeiten nach Beendigung des Staatsaktes das Ple-num zum gewünschten Zeitpunkt wieder erreichen kann .Bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten und dieHaushaltsdebatte wieder aufnehmen, möchte ich auf derBesuchertribüne einen Gast besonders begrüßen . Stell-
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 186 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 7 . September 201618408
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vertretend für alle unsere Olympiateilnehmer in Rio deJaneiro begrüße ich den Kunstturner Andreas Toba,
der trotz seiner schweren, äußerst schmerzhaften Verlet-zung mit beispielhaftem persönlichen Einsatz die deut-sche Mehrkampfmannschaft im Wettbewerb gehaltenhat .Lieber Herr Toba, für viele Sportfreunde verkörpernSie mit Ihrem Einsatz den wahrhaft olympischen Geist,der an mancher Stelle verloren zu gehen droht
und der sich gewiss nicht und schon gar nicht nur in Me-daillen ausdrückt . Für viele, mich jedenfalls, sind Sie derSportler des Jahres .Lieber Herr Toba, wir wünschen Ihnen nach der er-folgreichen Operation eine möglichst schnelle und voll-ständige Genesung und alles erdenklich Gute – sowohlpersönlich als auch sportlich – für die Zukunft .
Wir setzen die Haushaltsberatungen – Tagesordnungs-punkt 1 – fort:a) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über dieFeststellung des Bundeshaushaltsplans für dasHaushaltsjahr 2017
Drucksache 18/9200Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschussb) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungFinanzplan des Bundes 2016 bis 2020Drucksache 18/9201Überweisungsvorschlag: HaushaltsausschussFür die heutige Aussprache haben wir gestern eine Re-dezeit von insgesamt achteinhalb Stunden beschlossen .Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich der Bun-deskanzlerin und des Bundeskanzleramtes, Einzel-plan 04.Ich erteile das Wort dem Kollegen Dietmar Bartschfür die Fraktion Die Linke .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir be-handeln heute den letzten Haushalt in dieser Legislaturbzw . den letzten Haushalt der Großen Koalition, und wirhaben, glaube ich, in einer Frage einen ganz großen Kon-sens: Jeder hier im Haus will, dass diese Große Koaliti-on möglichst beendet wird. Ich finde, das ist ein soliderAusgangspunkt .
Am Sonntag hat Mecklenburg-Vorpommern gewählt .Es gibt ein Signal: Berlin, wir haben ein Problem! Ichglaube, meine Damen und Herren, wir alle hier im Haushaben ein Problem, und niemand sollte versuchen, dasanderen zuzuschieben .
Wenn einer in besonderer Weise hier Verantwortung hat,dann ist das jemand, der nicht dem Parlament angehört,nämlich Horst Seehofer . Er hat zu diesem Ergebnis inMecklenburg-Vorpommern wirklich sehr viel beigetra-gen .
Meine Damen und Herren, ich habe gestern viel darü-ber gehört, wie gut es uns geht, und ich habe viel von dentollen Taten der Großen Koalition gehört .
Ja, uns geht es gut, gar keine Frage . Aber eines ist auchklar: Die Verunsicherung in unserem Land war noch nieso groß . Jahrzehntelang war es völlig normal, dass derSatz galt: Unseren Kindern soll und wird es einmal bes-ser gehen . – Jetzt haben wir eine andere Situation .„Ganze Gruppen, ganze Regionen interessiereneuch nicht“, habe ich in meinem Heimatland Mecklen-burg-Vorpommern gehört . Und: „Ihr hört uns nicht mehrzu .“ Der soziale Zusammenhalt in unserem Land, meineDamen und Herren, ist gefährdet . Das hat auch mit Ih-rer Politik zu tun . Sie haben den sozialen Zusammenhalteben nicht im Blick . Sie regieren hier visionslos . Wennich mir nur das anschaue, was im letzten Sommerkinoabgelaufen ist, könnte ich die gesamte Redezeit damitverbringen, darüber zu berichten .
Und es geht ja aktuell weiter . Herr Gabriel sagt, dassTTIP gescheitert ist . Die Kanzlerin sagt, dass TTIP wun-derbar ist . Minister Schäuble fordert den Rücktritt einesanderen Ministers, nämlich den von Herrn Maas .
Was ist denn das für eine Koalition? Frau Merkel, michwürde einmal interessieren, ob Sie wirklich diese Koa-lition zu Ende bringen wollen . Das können Sie hier alsnächste Rednerin nach mir ja sagen . Sie haben die Ver-unsicherung verstärkt . Auf der anderen Seite sagen vieleMenschen: Es ändert sich ja nichts . – Deutschland wirdnicht von Zuversicht, sondern von Angst regiert, meineDamen und Herren .
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Es gibt kein einziges wirkliches Reformvorhaben für dasnächste Jahr . Sie verwalten und gestalten nicht, meineDamen und Herren .
Aber demokratische Politik muss Chancen erhöhen . Die-se Koalition schafft genau das nicht.
Es ist zweifelsfrei so, dass wir große Herausforderun-gen haben: das Drama des Syrien-Krieges, die Flücht-linge, den Terror des IS, zerfallende Staaten im NahenOsten, den Brexit, die Euro-Krise, die Ukraine-Krise, dieAttentate des Sommers, Globalisierung und Digitalisie-rung, die ungeheuer schnellen Veränderungen . Das sindRiesenherausforderungen . Wir haben auf der anderenSeite aber auch das Engagement von ganz vielen in unse-rem Land . Und diese brüskieren Sie mit einer Politik, dieÄngstlichkeit ausstrahlt . Wo Geradlinigkeit, Besonnen-heit und Sachlichkeit notwendig sind, herrscht bei IhnenPanikmache und teilweise eben Hetze . Wo ist denn derUnterschied, wenn Herr Gauland Herrn Boateng nichtals Nachbarn haben will und Herr Söder sagt, Özil sollekeinen Elfmeter mehr schießen? Erklären Sie mir einmalden Unterschied .
Wir alle haben gesehen, dass die Flüchtlinge das The-ma waren . Aber mit Ihrem Hin und Her auf diesem Ge-biet, wo Haltung gefragt ist, verunsichern Sie die Men-schen . Der Grundsatz muss doch sein: Flüchtlinge sinddie Botschafter der Kriege und des Elends dieser Welt . –Es darf einfach nicht sein, dass die Überschrift „Flucht-ursachen bekämpfen“ zu einer Farce wird . Ich habe heu-te früh gelesen, dass UNICEF sagt, 28 Millionen Kinderseien auf der Flucht, meine Damen und Herren . Jederzweite Flüchtling ist ein Kind . Das muss uns doch allebeunruhigen . Dies ist doch eine Aufgabe für uns .Und was machen Sie? Sie exportieren weiter Waf-fen in hoher Größenordnung . Die Rüstungsexporte sindvon 2014 bis 2015 auf 7,86 Milliarden Euro verdoppeltworden . 2015 wurden mehr Genehmigungen erteilt . Dasbetraf auch Länder wie Katar – dabei ging es um Kampf-panzer –, Saudi-Arabien und ähnliche . Deutschland lie-fert sogar Waffen in akute Kriege.
Unter den größten Kunden befinden sich Golfstaaten, dieseit über einem Jahr einen blutigen Krieg im Jemen füh-ren . Sie machen sich damit mitschuldig . Sie produzierenneue Flüchtlingsströme . Es ist blutiges Geld, das da ver-dient wird, meine Damen und Herren .
Ich nenne Ihnen zu Fluchtursachen ein einfaches Bei-spiel: In meinem Bundesland Mecklenburg-Vorpom-mern gibt es relativ viele Bauern . Der Milchpreis wirddort runtergepresst . Die Bauern können dort kaum da-von leben . Deutschland aber exportiert Milchpulver nachAfrika . Wir machen die Lebensgrundlagen der Menschendort kaputt und wundern uns, dass sie dann ihre Länderverlassen . Wir müssen eine andere Ordnung der Welt-wirtschaft erreichen, meine Damen und Herren .
Es ist ja gut, dass die Ausgaben im Entwicklungs etatsteigen . Ja, das ist eine richtige Entscheidung . Es ist aberzu spät, es ist zu wenig und immer noch weit weg vondem Ziel, 0,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes fürEntwicklungspolitik auszugeben .Das Allerschlimmste auf diesem Feld ist allerdings,dass Sie sich mit dem Flüchtlingsdeal in Abhängigkeitvon Herrn Erdogan begeben haben . Spätestens nach demMilitärputsch wurden in der Türkei Demokratie undRechtsstaat faktisch abgeschafft. Pressefreiheit? In Re-daktionen wurde regelrecht einmarschiert . Journalistenwurden willkürlich verhaftet . Reaktion? Nahezu null!Die Frauenrechte werden mit Füßen getreten . Reaktion?Nahezu null! Die Türkei war über Jahre ein Transitlanddes Terrorismus, hat mit dem IS Geschäfte gemacht undtut das vielleicht noch heute . Reaktion? Nahezu null!Aktuell überschreiten türkische Panzer die syrischeGrenze und agieren dort brutal gegen Kurdinnen undKurden . Der IS hatte sich im Übrigen zuvor zurückge-zogen . Seltsam, dass der IS das gewusst hat . Dabei wirdgegen die Kurden von YPG vorgegangen, die den Mas-senmord an den Jesiden verhindert haben . Reaktion? Na-hezu null! Das kann doch nicht wahr sein . Ein Wort derKritik? Fehlanzeige! Das geht doch nicht, meine Damenund Herren .
Nun gibt es einen handfesten Skandal, bei dem auchum Menschenrechte geschachert wird . Wir haben hiereine Armenien-Resolution verabschiedet – ich bedankemich ausdrücklich bei den mutigen elf türkischstämmi-gen Abgeordneten aus allen Fraktionen –, und dann wirddiese von der Bundesregierung relativiert .
Es gibt ein planmäßiges Herumeiern des Regierungs-sprechers . Die Formulierungen sind mit der Türkei abge-stimmt. Das ist doch offensichtlich ein Deal. Die Türkeibegrüßt das . Wir dürfen dann noch einmal niederknien .Nun dürfen sogar Abgeordnete nach Incirlik fahren .
Das ist ein demokratischer Offenbarungseid.
Dr. Dietmar Bartsch
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Im Kern geht es doch um etwas ganz anderes . Es gehtum ein neues Bundeswehrmandat für AWACS . Wir for-dern: Ziehen Sie die Soldaten aus der Türkei ab! Daswäre eine richtige Maßnahme .
Mit dem Flüchtlingsdeal und den Kniefällen vor HerrnErdogan haben Sie sich erpressbar gemacht, hat sichDeutschland erpressbar gemacht, hat sich Europa er-pressbar gemacht . Frau Merkel, Ihnen ist der politischeKompass abhandengekommen . Es kann doch nicht sein,dass deutsche Außenpolitik Menschenrechte zur Ver-handlung stellt . Das geht nicht .
Ich will Ihnen ein anderes Beispiel, ein regelrechtesParadebeispiel für Ihre Politik nennen . Das ist Ihr Agie-ren beim Katastrophenschutz . Es ist völlig klar: Für denKatastrophenfall müssen praktikable und effektive Plänegriffbereit sein. Für Cyberangriffe und Naturkatastro-phen ist ein Zivilschutzkonzept richtig und notwendig .Mehr Verantwortung beim Bund und ein höheres Maßan Sicherheit, auch das ist richtig, gar keine Frage . Wirstimmen dem zu . Das ist übrigens auf Drängen des Par-laments geschehen . Ich habe damals an der entsprechen-den Sitzung des Haushaltsausschusses teilgenommen,in der wir das fraktionsübergreifend in Auftrag gegebenhaben . Aber das Falscheste ist, Hysterie an den Tag zulegen und Horrorszenarien eines bevorstehenden Kriegesaufzuzeigen . Besonnenheit und kühler Kopf sind gefragt .Sie produzieren aber die Überschrift: Bundesregierungfordert die Menschen zu Hamsterkäufen auf . – Das istunverantwortlich .
Danach haben noch Fachkräfte aus der Union dieWiedereinführung der Wehrpflicht gefordert. Dann wirdpermanent der Einsatz der Bundeswehr im Inneren the-matisiert . Es darf aber keine Militarisierung des Katastro-phenschutzes geben . Sie verunsichern die Menschen .Seit Jahren leisten ehrenamtlich und hauptberuflich täti-ge Kräfte bei Feuerwehren und THW bewundernswerteArbeit . Wir sollten diese Menschen würdigen und unter-stützen und ihnen nicht in den Rücken fallen . Aber genaudas machen Sie .
Die Union betreibt Politik bei der inneren Sicherheitnach dem Motto: Verschärfung, Verschärfung und nocheinmal Verschärfung! Dieses Motto entspricht genaudem, was Herr de Maizière nach den schrecklichen An-schlägen in Paris gesagt hat, nämlich dass ein Teil derAntworten die Bevölkerung verunsichern könne . Ja, Siehaben im Sommerloch die Bevölkerung verunsichert, ge-nauso wie Herr Caffier und Herr Henkel mit Forderungennach Abschaffung des Doppelpasses, nach Burkaverbot,Rucksackverbot und mehr Videoüberwachung . Jede Wo-che wurde eine neue Sau durchs Dorf getrieben . Das isteine Angstmacherkoalition . Wir brauchen aber etwasvöllig anderes . Es darf keine Beschränkung unserer frei-heitlichen Ordnung geben . Wir müssen das Signal aus-senden: Wir lassen uns unser Leben von den Terroristennicht kaputtmachen . – Das ist das richtige Signal .
Wir brauchen nicht mehr Videoüberwachung und kei-ne schärfere Vorratsdatenspeicherung – obwohl es das al-les in Frankreich gibt, hat es nichts verhindert –, sonderneinen handlungsfähigen Staat . Dazu gehört gut ausgebil-detes und ausgestattetes Personal im öffentlichen Dienst,insbesondere bei der Polizei .Herr Schäuble hat gestern den schönen Satz gesagt:„Es gab und gibt keinen Sparkurs in der inneren Sicher-heit .“ Frau Merkel, Sie haben gleich die Gelegenheit, daswirklich klarzustellen . Seit 1998 wurden 17 000 Stellenbei der Polizei abgebaut – und das bei mehr und größerenAufgaben . Sie haben eine verfehlte Personal- und Spar-politik zu verantworten,
in den Ländern und im Bund, meine Damen und Herren .
– In dem einen oder anderen Land regieren Sie doch auchnoch, oder nicht? Sie können aufhören, aber noch ist esso .
Die Deutsche Polizeigewerkschaft sagt: „Die Politikhat die Polizei geschwächt, gedemütigt und vernachläs-sigt .“ In den vergangenen 15 Jahren ist die Polizei zumSparopfer geworden .
– Das ist die Wahrheit. – Sie haben den öffentlichenDienst kaputtgespart . Ich habe doch den Einzelplan 06über viele Jahre hinweg mitberaten . Es war doch die Op-position, die mehr Polizisten gefordert hat .
– So ist es . Das ist schlicht die Wahrheit . – Herr deMaizière hat das wegen des Diktats der schwarzen Nullabgelehnt . Das ist die Realität . Dafür gibt es Zeugen .
Heute stellt sich Herr Gabriel hin und sagt: Wir habendas durchgesetzt . – Auch das stimmt nicht . Die Bundes-regierung hat einen Entwurf vorgelegt, und die Parla-mentarier haben ihn verändert . Das ist doch die Realität .Das eigentliche Problem ist aber doch ein anderes .Auch bei der inneren Sicherheit gilt das Diktat der schwar-zen Null . Die Fixierung auf das Dogma der schwarzenDr. Dietmar Bartsch
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 186 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 7 . September 2016 18411
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Null ist falsch . Ich will Hans-Helmut Kotz zitieren – derwar immerhin im Vorstand der Bundesbank und ist heuteWirtschaftsprofessor an der Harvard-Universität –: DerFetisch der schwarzen Null schädigt Deutschland . – DerMann hat schlicht recht .
Ich will zwei Aspekte dazu sagen . Der erste Aspektist: Sie reden von Investitionen und haben wieder voll-mundig angekündigt, was Sie alles machen werden . Ichmeine, das ist das Geld der Steuerzahlerinnen und Steu-erzahler . Aber ich will Ihre eigenen Zahlen noch einmalvortragen .
Vor zwei Jahren lagen die Investitionen bei 9,9 Pro-zent der Gesamtausgaben . In Ihrem Finanzplan für 2020stehen 8,8 Prozent . Der Anteil der Investitionen sinkt .Sie streuen den Leuten Sand in die Augen . Was ist dasErgebnis? Wir hinken beim Ausbau des digitalen Netzeshinterher . Da muss übrigens auch einmal auf dem Landendlich etwas getan werden . Ich weiß, wovon ich rede .
Wir haben marode Brücken, die für große Lasten ge-sperrt werden müssen . Wir haben ein Bildungssystem,das unterfinanziert ist und noch im 19. Jahrhundert fest-steckt. Kluge öffentliche Investitionen führen im Übri-gen dazu, dass das Wirtschaftswachstum steigt . Wir ha-ben ein Wirtschaftswachstum von 1 Prozent . Das kanndoch nicht zufriedenstellen .Hinzu kommt, dass wir aktuell einen Überschuss von18,5 Milliarden Euro haben . Nun weiß ich, dass dieserÜberschuss von Bund, Ländern, Kommunen und Sozi-alversicherungen erwirtschaftet wird . Das ist mir schonklar . Aber erklären Sie das einmal den Menschen in Vor-pommern, wenn sie von einem Überschuss von 18,5 Mil-liarden Euro lesen, aber bei ihnen kein Bus mehr fährt .Das ist nicht erklärbar . Lösen Sie endlich den Investiti-onsstau auf .
Wir fordern eine soziale Investitionsoffensive. Ma-chen Sie das Land sozial und kulturell fit. Zeigen Sie, dasssich die Lebensqualität der Menschen vor Ort verbessert .Das ist Aufgabe von Politik . Es müssen endlich wiederBusse über die Dörfer fahren . Dann sind die Menschenauch politischen Problemen gegenüber aufgeschlossener .
Sie spielen aktuell doch die Schwachen gegen dieSchwächsten aus . Ich will nur ein Beispiel sagen: dersoziale Wohnungsbau . Bezahlbarer Wohnraum für allewäre notwendig . Deswegen müssten Sie in dem Haus-haltsplan eine deutliche Erhöhung der Mittel für den so-zialen Wohnungsbau vornehmen . Sie müssten die Städ-tebaufördermittel für zehn Jahre auf 2 Milliarden Eurofestschreiben und, und, und . Es gibt doch Möglichkeiten,und es gibt vor allem Notwendigkeiten .
Der zweite Aspekt . Wir brauchen endlich eine großeSteuerreform . Die Schere zwischen Arm und Reich beiEinkommen und Vermögen geht immer weiter auseinan-der . Sie zwingen die Südländer zu Strukturreformen ein-schließlich Steuerreformen, aber in Deutschland: kom-plette Fehlanzeige . Die hohe Ungleichheit ist schädlichfür das soziale Gefüge .
Es ist doch nicht zu akzeptieren, dass die 500 Reichs-ten in Deutschland ein Vermögen von 723 MilliardenEuro haben . Das ist obszön, meine Damen und Herren .
Hinzu kommt, dass deren Vermögen im letzten Jahr um58 Milliarden Euro gestiegen ist . Das sind 8,7 Prozent .Sagen Sie das einmal denjenigen, die unter großen Mü-hen etwas Geld für die Ausbildung ihrer Kinder abge-knapst haben, die das Geld auf dem Sparbuch haben und0,01 Prozent Zinsen bekommen . Da läuft doch etwasschief, wenn bei den Vermögenden solche Summen hin-zukommen . Ich sage es noch einmal: 58 Milliarden Euro .Der Landeshaushalt von Mecklenburg-Vorpommern hat7 Milliarden Euro . Da ist doch etwas schief .Die 14 reichsten Großfamilien verfügen über ein Ver-mögen von 138 Milliarden Euro . Es gibt jedes Jahr mehrMilliardäre, und Milliardär zu sein, ist nicht normal . Siespielen auf der anderen Seite die Schwachen gegen dieSchwächsten aus und erhöhen den Hartz-IV-Regelsatzum 5 Euro . Da ist doch etwas schief in unserer Gesell-schaft .
Es ist Aufgabe des Staates, hier zu steuern .Es muss endlich das Kapital mehr beteiligt werden .Schaffen Sie die Abgeltungsteuer ab. Wir brauchen dieWiedererhebung der Vermögensteuer als Millionärssteu-er . Was ist eigentlich aus der in Ihrem Koalitionsvertragvereinbarten Einführung einer Finanztransaktionsteuergeworden?Im Übrigen ist doch das, was bei der Erbschaftsteu-er passiert, ein Stück aus dem Tollhaus . Ich will daranerinnern: 2014 hat das Bundesverfassungsgericht diedamals geltende Regelung als verfassungswidrig er-klärt – 2014! –, und es hat Sie aufgefordert – und zwareinstimmig –, bis Juni 2016 eine veränderte Regelungvorzulegen . Es gab dann ein peinliches Gezerre, insbe-sondere mit Herrn Seehofer . Jetzt haben Sie die Fristverstreichen lassen . Nun ist der Vermittlungsausschussangerufen worden . Jeder, der zehn Minuten zu lange imHalteverbot steht, bekommt ein Knöllchen, und Sie las-sen eine solche Frist, die das Bundesverfassungsgerichtgesetzt hat, verstreichen . Sie verspielen Vertrauen in denRechtsstaat, wenn Sie nicht einmal einen Beschluss desDr. Dietmar Bartsch
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 186 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 7 . September 201618412
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Bundesverfassungsgerichts akzeptieren . Das geht sonicht .
Zur Sache selbst will ich nur feststellen: Das, was Sieda machen, ist keine Reform; das ist maximal ein Re-förmchen . In den nächsten zehn Jahren werden 3,1 Billi-onen Euro vererbt . Nehmen Sie doch wegen meiner dieVereinigten Staaten oder Großbritannien oder Frankreichoder wen auch immer zum Vorbild, was deren Regelungzu Erbschaftsteuer angeht . Dann hätten wir deutlich hö-here Einnahmen; sie lägen um das Fünffache, das Sechs-fache oder das Zehnfache höher .
Das ist die Realität .
Wenn Sie jetzt von Steuerreformen reden, sagen wirals Linke: Ja, Sie haben uns an Ihrer Seite . Auch wir wol-len die kleinen und mittleren Einkommen entlasten . Ichdenke an Handwerker sowie kleine und mittlere Unter-nehmen . Vielleicht kann man die Freibeträge anheben .Die Arbeit zu entlasten, das wäre wirklich einmal einegute Idee. Ich hoffe, dass Ihre Worte nicht wieder nurWahlkampfgetöse sind . Aber erst wenn Sie vor allenDingen die Steuerkriminellen aufspüren und bestrafen –dazu will ich Sie dringend auffordern –, dann ist auchbei höheren Investitionen ein ausgeglichener Haushaltmöglich .Es ist im Übrigen grotesk: Apple soll 13 MilliardenEuro nachzahlen,
und Irland wehrt sich dagegen . Das kann ja nicht sein .Dieses Geschäftsmodell können wir doch nicht akzep-tieren . Gleichzeitig spricht sich eine Fachkraft wie derbayerische Finanzminister, Herr Söder, gegen dieseNachzahlung aus, nur weil Apple seinen Firmensitz inMünchen hat . Na, wo leben wir denn? Das kann dochwohl nicht wahr sein .
Ich bleibe dabei: Die teuersten Flüchtlinge sind die Steu-erflüchtlinge.
Was ist eigentlich nach Panama-Leaks passiert? Zu-nächst gab es eine Ankündigungswelle, und jetzt brem-sen Sie, Herr Schäuble, sogar beim Engagement derOECD . Es muss endlich ein weltweiter Datenaustauschder Banken und Steuerbehörden sichergestellt werden,um diesen Kriminellen das Handwerk zu legen; das wärenotwendig . Da bremsen Sie . Sie haben doch Druck aufdie Krisenländer ausgeübt . Üben Sie doch einmal daDruck aus, wo wirklich Kriminelle am Werk sind .Ein weiterer Punkt . Ihre Politik hat in vielen Krisen-ländern das System zum Wanken gebracht . Schauen Siesich doch einmal die Lage in Spanien, in Italien an . DieJugendarbeitslosigkeit ist dort weiter verheerend, auch inGriechenland . Vielen jungen Menschen Europas werdendie Lebensperspektiven geraubt . Aber gerade diese Ge-neration brauchen wir doch, um die ursprünglichen Wer-te Europas wieder mit Leben zu erfüllen .Ich will einmal die Frage stellen: Was ist eigentlichaus den in Ihrem Koalitionsvertrag vereinbarten Vorha-ben geworden? Es gibt eine lange Liste der Versäumnis-se . Die Finanztransaktionsteuer habe ich schon erwähnt .Das Betreuungsgeld hat sich als verfassungswidrig he-rausgestellt . Stichwort „Bundesteilhabegesetz“: Im Ko-alitionsvertrag steht, die Kommunen sollten um 5 Mil-liarden Euro entlastet werden . Die Entlastung, die jetzteintritt, liegt bei 11,5 Millionen Euro .
Das entspricht nicht dem, was in Ihrem Koalitionsvertragsteht . Was Sie bei der Überprüfung von Leiharbeit undWerkverträgen vorgelegt haben, entspricht nicht einmalIhren dünnen Vorgaben im Koalitionsvertrag . Das führtsogar zu Verschlechterungen für Leiharbeitskräfte undfür Stammbeschäftigte . Sie zementieren die Zweiklas-senbelegschaften .
Betriebs- und Personalräte müssen doch wenigstens einzwingendes Mitspracherecht haben . Das ist original sozi-aldemokratisch; mehr ist das doch gar nicht .Ein in Ihrem Koalitionsvertrag formuliertes Ziel ha-ben Sie wirklich erreicht; das ist gut . Frau Merkel hat ge-sagt: Die Maut wird es mit mir nicht geben . – Das habenSie zustande gebracht – wunderbar, Glückwunsch!
Eine andere Sache will ich hier dann auch noch benen-nen; das ist die Rentenangleichung Ost .
– Für Sie, Herr Kauder; das ist auch für Baden-Württem-berg wichtig .
Erst einmal ist festzuhalten, dass es da keine Lösunggibt . 26 Jahre nach der deutschen Einheit unterschiedli-che Rentenwerte – erzählen Sie das den Menschen; dasversteht niemand; das akzeptiert auch niemand .Im Übrigen will ich darauf hinweisen: Frau Merkel,Sie haben 2005 gesagt: In dieser Legislatur klären wirdas . – 2005! Das ist schon ein bisschen her .Jetzt passiert im Wahlkampf Folgendes: Frau Nahlesund Herr Sellering erklären in Schwerin: Wir lösen dasProblem . – Viele Menschen, ich auch, haben gedacht:Dr. Dietmar Bartsch
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Oh, Mensch, das ist jetzt einmal eine gute Maßnahme,das gucke ich mir in der Sache an . – Da gibt es mancheszu kritisieren, vor allen Dingen dass die Höherwertungwegfallen soll .
Das geht natürlich nicht,
solange die Löhne im Osten niedriger sind . Aber das ei-gentliche Problem ist: Im Haushalt: Fehlanzeige! Das,was Sie da gemacht haben, ist letztlich Folgendes: Siehaben den Menschen Sand in die Augen gestreut .
Es wird nichts geben . Es war eine reine Wahlkampfmaß-nahme . Meine Damen und Herren, es ist unfassbar, wieSie die Leute dort in Schwerin verklapst haben; nichtsanderes ist da passiert .
Wir brauchen eine solide Rentenreform,
die lebensstandardsichernd im Alter ist, die Altersarmutverhindert . Die ist möglich, und die ist auch notwendig .Aber dazu muss das Rentenniveau angehoben werdenund darf nicht weiter sinken .
Meine Damen und Herren, ich habe schon über dasgewaltige Vermögen in unserer Gesellschaft geredet; im-mer noch unfassbar .
– Herr Kauder, man merkt, dass Sie aus dem vorigenJahrhundert sind; man merkt es deutlich .
Ich habe schon über das Vermögen der 500 Reichstenberichtet:
723 Milliarden Euro . Auf der anderen Seite haben wir –das sollte auch Sie beunruhigen – 2 Millionen Kinder, diein Armut leben .
Jedes siebte Kind unter 15 Jahren ist abhängig vonHartz IV und vom Jobcenter . Kinderarmut, wie Sie wis-sen, bringt häufig weitere gesellschaftliche Kosten. Ar-mut darf nicht vererbt werden; da sind wir uns doch hof-fentlich einig. Sie trifft im Übrigen in besonderer WeiseAlleinerziehende, 90 Prozent davon Frauen, und kinder-reiche Familien und Familien mit Migrationshintergrund .Das alles hat dann Auswirkungen auf die Gesundheit, aufdie Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe und, und,und .Ihr Bildungs- und Teilhabepaket ist aber ein büro-kratisches Monster, und Sie haben das Hartz-IV-Systemjetzt noch einmal repressiver gestaltet, meine Damenund Herren . Was wir brauchen, ist ein Aktionsplan gegenKinderarmut – mehrjährig, mehrdimensional und finan-ziell gut ausgestattet .
In einer Demokratie darf Herkunft kein Schicksal sein,meine Damen und Herren .
Ich stelle fest, dass die Koalition ein Jahr vor der Wahlde facto am Ende ist . Die drei Parteien arbeiten nichtmehr fürs Land und nicht mehr für Europa, sondern siearbeiten allesamt zuerst auf eigene Rechnung . Das ist an-gesichts der komplizierten gesellschaftlichen Situation,angesichts der riesigen Herausforderungen, vor denenwir stehen, wirklich nicht zu akzeptieren, und das solltewirklich zügig beendet werden . So, meine Damen undHerren, kann es nicht weitergehen .
Wir brauchen in der zentralen Industriemacht Europaseinen Politikwechsel, damit das Land nicht weiter ge-spalten wird, meine Damen und Herren,
damit die große Idee „Europa als Friedensprojekt“ erhal-ten bleibt und ausgebaut wird . Dieses große, auch kultu-relle Projekt darf doch nicht zerstört werden .Nie war die Krise Europas größer als heute . Es ist dochnicht nur der Brexit . Schauen Sie sich an, wie die Lage inden Ländern ist! Es ist, glaube ich, die größte Krise, dieEuropa jemals hatte . Deswegen brauchen wir einen Po-litikwechsel hier in Deutschland . Meine lieben Sozialde-mokraten, insbesondere Herr Gabriel: Ja, die Linke willdiesen Politikwechsel auch in Regierungsverantwortungübernehmen . Dass das ein für alle Mal klar ist!
Wenn es die Wiederherstellung des Sozialstaats gibt,wenn es eine friedliche Außenpolitik gibt und wenn jedesKind die gleichen Möglichkeiten zur Entwicklung hat,Dr. Dietmar Bartsch
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dann sind wir selbstverständlich dazu bereit, und zwarwir alle .
Eines ist klar: Das, was Sie hier für das letzte Jahr an-geboten haben, meine Damen und Herren, gefährdet densozialen Zusammenhalt in unserem Land, das gefährdetEuropa, und das strahlt vor allen Dingen keinerlei Zuver-sicht aus, geschweige denn eine Vision .Herzlichen Dank .
Das Wort erhält nun die Bundeskanzlerin .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren! Erinnern wir unsan die Generaldebatte vor einem Jahr: Sie stand damalsganz im Zeichen einer großen Fluchtbewegung nach Eu-ropa . Bis August des letzten Jahres waren bereits über400 000 Flüchtlinge in Deutschland angekommen, undam 19 . August gab der Bundesinnenminister eine Prog-nose ab, dass bis Ende des Jahres rund 800 000 Flücht-linge kommen werden .In meiner Rede vor einem Jahr habe ich gesagt: Wirkönnen nicht einfach so weitermachen wie bisher . Wirmüssen Regelungen überdenken, Abläufe verbessern,Entscheidungen schneller fällen, national, europäischund international .Hinter uns liegt ein Jahr, in dem uns vieles abverlangtwurde, in dem viele mit angepackt haben und viele übersich hinausgewachsen sind . Deshalb möchte ich als Ers-tes den vielen Haupt- und Ehrenamtlichen danken, diesich so eingesetzt haben, dass wir diese Situation bewäl-tigen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, hinter uns liegt einJahr voller Entscheidungen . Wir haben Regelungen ge-troffen, um die Situation zu steuern, zu ordnen und so dieFlüchtlingszahlen auf Dauer zu reduzieren . Wir habengrundlegende Abläufe im Bundesamt für Migration undFlüchtlinge verändert,
Entscheidungen werden schneller gefällt, wir haben einebessere Asylgesetzgebung, Stichworte sind: Asylge-setzpakete I und II . Wir haben das Ganze als nationaleKraftanstrengung bezeichnet, und wir haben mit Kom-munen und Ländern gemeinsam Lösungen gefunden, beidenen der Bund die Kosten der Unterkunft für Flüchtlin-ge übernimmt, eine jährliche Integrationspauschale von2 Milliarden Euro für drei Jahre zahlt . Wir geben mehrfür den Wohnungsbau aus, mehr für Kindertagesstätten –im Übrigen für alle Menschen in Deutschland, nicht nurfür Flüchtlinge .
Wir haben zum ersten Mal ein Bundesintegrationsge-setz . Dabei geht es um das Erlernen der Sprache, um dasKennenlernen der Rechtsordnung und der Kultur unseresLandes . Es gibt Integrationskurse für Asylbewerber mitguter Bleibeperspektive . Es gibt Angebote für alle, undes gibt auch Sanktionen, wenn diese Angebote nicht ge-nutzt werden .Wir haben darüber hinaus für die Aufrechterhaltungder inneren Sicherheit vieles verbessert und die Sicher-heitsstrukturen gestärkt . Damit hatten wir schon vorden Anschlägen von Ansbach und Würzburg begonnen .Terrorismus ist kein neues Problem, das erst mit denFlüchtlingen gekommen ist . Weil aber auch nicht jederFlüchtling in guter Absicht kommt, werden wir weitereMaßnahmen ergreifen, um die öffentliche Sicherheit inDeutschland zu stärken . Die Menschen dürfen von unsverlangen, dass wir das Menschenmögliche tun, um ihreSicherheit zu gewährleisten .
Wir werden bis 2018 rund 4 200 zusätzliche Stellenbei der Bundespolizei sowie 1 000 neue Stellen für dieSicherheitsbehörden des Bundes schaffen, zusätzlicheMittel für eine vernünftige Ausstattung, zeitgemäßeTechnik und eine moderne materielle Ausstattung ausge-ben, und wir werden noch in diesem Herbst eine neueCybersicherheitsstrategie bis 2020 verabschieden .Dies alles sind sehr wichtige Schritte, und die Situati-on heute ist um ein Vielfaches besser als vor einem Jahr,und zwar für alle . Aber es bleibt natürlich viel zu tun .Ein großes Problem sind die Rückführungen, der Vollzugder Ausreisepflicht für Menschen, die nicht hier bei unsbleiben können . Und mit Recht erwarten die Bürgerin-nen und Bürger von uns, dass wir denen helfen, die Hilfebrauchen, dass wir aber auch denen, die kein Bleiberechthaben, sagen: Ihr müsst unser Land wieder verlassen,sonst können wir die Aufgabe nicht bewältigen . Und na-türlich sind die Herausforderungen der Integration nochnicht abgeschlossen: Integration, was Sprache anbelangt,aber auch Integration in den Arbeitsmarkt . Hier ist vielesauf den Weg gekommen, aber hier bleibt auch noch vielzu tun .
Wir haben uns bei dem, was wir getan haben, nicht nurauf die nationale Ebene konzentriert, sondern haben aucheuropäisch und international viel bewegt . Ja, es ist rich-tig: Die Solidarität innerhalb Europas lässt zu wünschenübrig . Hieran müssen wir weiter arbeiten .
Aber es ist auch richtig, dass wir heute einen sehr vielbesseren Schutz der EU-Außengrenzen haben als vor ei-nem Jahr, indem wir Frontex vollkommen neu aufgestelltDr. Dietmar Bartsch
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haben; es ist jetzt wirklich eine europäische Grenzagen-tur . Auch Deutschland hat hier seine Position verändert .Wir haben eine NATO-Mission in der Ägäis, und ja,wir haben ein Abkommen mit der Türkei verabschiedet,ein Abkommen zwischen der Europäischen Union, also28 Mitgliedstaaten, und der Türkei .
Ich will es noch einmal ganz deutlich sagen: Wenn dieTürkei Menschenrechte verletzt, dann wird das beim Na-men genannt .
Wenn in der Türkei ein Militärputsch scheitert, dann sa-gen wir, dass es gut ist, dass der gescheitert ist, und dasses richtig war, dass die Menschen auf die Straße gegan-gen sind .
Aber ich plädiere hier dafür, dass wir über die Frage, mei-ne Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,wie wir den Schutz unserer Außengrenzen und damit dieFreizügigkeit innerhalb der Europäischen Union sicher-stellen, Einigkeit erreichen, wenn wir auch die Menschendraußen überzeugen wollen . Bei maritimen Grenzen, beiSeegrenzen, geht es nicht anders, als dass man mit demNachbarn spricht, wenn man die Menschen nicht ertrin-ken lassen will und den Schleppern nicht die Hoheit überdie Geschäfte lassen will . Und das dürfen wir nicht .
Das EU-Türkei-Abkommen ist in beiderseitigem In-teresse . Es ist gut für viele Flüchtlinge, wenn sie in derNähe ihrer Heimat bleiben können . Es ist richtig, dasswir Geld für die Beschulung und das Leben der Flücht-linge an der türkisch-syrischen Grenze ausgeben . Und esist richtig, dass wir auch die Illegalität bekämpfen, weilSchlepper und Schleuser mit den Menschen ein unglaub-liches Spiel spielen . Und es ist, seitdem wir dieses Ab-kommen haben, so gut wie niemand mehr in der Ägäisertrunken, während das in den ersten zwei Monaten nochHunderte Menschen waren, Frauen und Kinder . Da kannman doch nicht zugucken, da muss man doch mit demanderen Land eine Regelung finden.
Deshalb ist das Abkommen mit der Türkei ein Modellfür weitere solcher Abkommen, mit Ägypten, mit Liby-en, wenn es eines Tages einmal eine vernünftige Regie-rung haben sollte, mit Tunesien und anderen Ländern,wo immer das notwendig ist, damit nicht Schlepper undSchleuser sozusagen über uns befinden können.
Meine Damen und Herren, natürlich haben wir auchviel auf den Weg gebracht – aber noch längst nicht ge-nug – in unserer Kooperation mit Afrika . Der gestiegeneEntwicklungshaushalt spricht dafür . Wir haben den Val-letta-Aktionsplan . Jetzt heißt es aber auch für die Euro-päische Union, das Ganze umzusetzen . Wenn wir überEuropa sprechen, müssen wir vielleicht sowieso nichtso viel neu erfinden, sondern einfach das, was wir schoneinmal beschlossen haben, umsetzen, und zwar schnellerals bisher . Dann ist schon viel gewonnen für Akzeptanzfür Europa .
Deutschland hat sich bereit erklärt, zusammen mitFrankreich und Italien und der Europäischen Kommis-sion eine Migrationspartnerschaft für Niger und Malizu übernehmen . Durch Niger kommen 90 Prozent derFlüchtlinge, die dann in Libyen in See stechen . Deshalbist das ein sehr sinnvoller Schritt . Wir haben bei der Lon-doner Konferenz endlich dafür gesorgt, dass die Flücht-linge in Jordanien, im Libanon besser verpflegt werden,dass die Welternährungsorganisation ausreichende Mittelfür dieses Jahr hat, und wir werden das für nächstes Jahrwieder sicherstellen .Natürlich ist noch viel zu tun . In Libyen ist die Lageabsolut unzufriedenstellend . Der schreckliche Bürger-krieg und der Kampf gegen den IS in Syrien fordern soviele Opfer . Es ist eine grauenvolle Lage . Ich kann nurhoffen, dass Russland und die Vereinigten Staaten vonAmerika vorankommen bei der Einigung über einenWaffenstillstand, dass es aufhört, dass Krankenhäuserbombardiert werden, Ärzte zu Schaden kommen und dieMenschen in Aleppo so schrecklich leiden . Das ist einunhaltbarer Zustand .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, insgesamt habenwir heute eine ganz andere Situation als zu der Zeit derDebatte vor genau einem Jahr . Sie ist geordneter, Rege-lungen wurden überdacht, Abläufe verbessert, Entschei-dungen schneller getroffen. Wir haben die Ordnung undSteuerung der Flüchtlingsbewegung in Deutschland er-reicht . Wir haben die Zahl der bei uns ankommendenFlüchtlinge deutlich reduziert . Wir kommen gleichzeitignational und international unserer humanitären Verant-wortung nach, und das nicht nur in Sonntagsreden .Wir haben heute im Übrigen auch einen anderen Zu-stand, als wir ihn Mitte März hatten, als in Baden-Würt-temberg, Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz gewähltwurde . Die Wahlen vor drei Tagen in Mecklenburg-Vor-pommern und die Wahlen, die in zehn Tagen in Berlinstattfinden, finden unter anderen Voraussetzungen stattals die Wahlen im März . Und dennoch mussten wir vordrei Tagen einen Wahlsonntag erleben, an dem letztlichnur die AfD gewonnen hat, und zwar zweistellig . Sie hatallen anderen Parteien Prozente abgenommen, gar nichtso sehr in absoluten Stimmzahlen, indem sie vor allemauch Nichtwähler mobilisiert hat . Das hat dazu geführt,dass die Christlich Demokratische Union im Landtaghinter der AfD liegt . Uns alle treibt die Frage um: Wiegehen wir mit einer solchen Situation um?Wählerbeschimpfungen bringen gar nichts . Das istauch nicht angebracht . Ich habe das noch nie richtig ge-Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
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funden . Politiker, die wie wir Verantwortung tragen, soll-ten sich sowieso in ihrer Sprache mäßigen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn auch wir anfan-gen, in unserer Sprache zu eskalieren, gewinnen nur die,die es immer noch einfacher und noch klarer ausdrückenkönnen .
Wenn wir anfangen, dabei mitzumachen, dass Faktenbeiseitegewischt oder ignoriert werden können, dannsind verantwortbare und konstruktive Antworten in derSache nicht mehr möglich . Wenn wir anfangen, unssprachlich und tatsächlich an denen zu orientieren, die anLösungen nicht interessiert sind, verlieren am Ende wirdie Orientierung .
Jeder von uns muss sich nach Wahlabenden wie demvom Sonntag an die eigene Nase fassen, selbstkritischschauen, was in Zukunft anders und besser gemacht wer-den kann . Das versteht sich von selbst, und es gibt ja auchnoch genug Probleme zu lösen . Es versteht sich auch vonselbst, dass Sorgen, ob nun begründet oder unbegründet,ernst zu nehmen sind, auch indem wir zeigen, dass dasErnstnehmen von Sorgen und das Erläutern von Faktenzwei Seiten ein und derselben Medaille sind,
indem wir alle gemeinsam gut daran tun, zu erkennen,dass eine Partei wie die AfD nicht nur eine Herausforde-rung für die Christlich Demokratische Union ist – auchwenn deren Protagonisten das munter verbreiten undandere es mehr oder weniger gerne aufgreifen, zum Teilwider besseres Wissen –, sie vielmehr eine Herausforde-rung für uns alle in diesem Hause ist, meine Damen undHerren .
Wenn wir untereinander nur den kleinen Vorteil su-chen, um zum Beispiel irgendwie mit einem blauen Augeüber einen Wahlsonntag zu kommen, gewinnen nur die,die auf Parolen und scheinbar einfache Antworten setzen .
Ich bin ganz sicher: Wenn wir uns das verkneifen und beider Wahrheit bleiben, dann gewinnen wir . Wir gewinnendann so das Wichtigste zurück, was wir brauchen: Ver-trauen der Menschen,
und zwar indem wir uns über die eine Frage – ich haltesie für die zentrale – klar werden, im besten Sinne auchstreiten und die besten Antworten suchen . Sie lautet: Wel-ches Land wollen wir heute, im 21 . Jahrhundert, sein?Welches Land wollen wir als größte Volkswirtschaft inder Europäischen Union sein? Welche Rolle wollen wirinternational spielen? Wie dienen wir unserem Land indiesen Zeiten der Globalisierung am besten? Wie er-halten wir unseren Wohlstand und arbeiten an einer gu-ten Zukunft für Deutschland? Und wie geben wir denMenschen Halt und Orientierung und geben dem Druckzu vermeintlich einfachen Lösungen, die bestenfallsScheinlösungen sind, gleichzeitig nicht nach? Und das ineiner Zeit des demografischen Wandels, in einer Zeit, inder es so viele Flüchtlinge gibt, wie es seit dem ZweitenWeltkrieg noch nie der Fall war, in Zeiten der Bedrohungdurch den internationalen Terrorismus, in Zeiten, in de-nen die territoriale Unversehrtheit auch in Europa keineSelbstverständlichkeit mehr ist, wie wir es im Fall derUkraine erlebt haben, in Zeiten, in denen das Austritts-referendum Großbritanniens ein tiefer Einschnitt für dieEuropäische Union ist, in Zeiten, in denen einige Konti-nente ein Freihandelsabkommen nach dem anderen ab-schließen und wir zögern, ob es CETA oder TTIP ist, inZeiten, in denen viele Länder gerade von Deutschlandeine wichtige Rolle erwarten, wie wir es jetzt wieder beiG 20 mit Händen greifen konnten .Deutschland ist wirtschaftlich stark und stabil .Deutschland hat trotz aller Probleme einen großen sozi-alen Zusammenhalt, und dieser soziale Zusammenhaltist unser größtes Pfund . Meine Antwort auf die von mirgestellte Frage lautet: Wir dienen unserem Land in die-sen Zeiten der Globalisierung am besten, wenn wir unsan unseren Werten orientieren, die uns zu dem gemachthaben, was wir heute sind – das ist Freiheit, das ist Si-cherheit, das ist Gerechtigkeit und das ist Solidarität –,
wenn wir den Menschen eine gute wirtschaftliche undsoziale Perspektive geben, wenn wir die wirtschaftlicheund soziale Stärke unseres Landes weiter ausbauen . Esist jede Mühe wert, sich dafür mit ganzer Kraft einzu-setzen .Die Ausgangslage dafür ist gut, und der Haushalt fürdas Jahr 2017 spiegelt genau das wider . Es ist ein Gestal-tungshaushalt, in dem die Schwerpunkte so gesetzt sind,dass wir damit Antworten auf die Probleme unserer Zeitgeben können . Dazu gehört, dass es zum dritten Mal einHaushalt ist, der ohne Neuverschuldung auskommt . Undwir wissen: Es ist nicht die schwarze Null, von der im-mer geredet wird, sie hat nicht die Bedeutung, sondern esgeht um die Tatsache, dass wir denen, die nach uns Haus-halte aufstellen werden, Freiräume eröffnen und nicht dieSchulden ansteigen lassen .Wir haben eine gute Wirtschaftslage . Der private Kon-sum ist im Übrigen der Treiber unseres Wachstums . Daszeigt: Die Menschen haben Vertrauen in die wirtschaftli-che Entwicklung . Der Arbeitsmarkt ist in sehr guter Ver-fassung . Die Zahl der Arbeitslosen ist im August 2016Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
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die geringste seit 25 Jahren . Die Zahl der Erwerbstätigenentwickelt sich positiv; inzwischen sind es 43,7 Millio-nen Menschen. Immer mehr Menschen finden eine Ar-beitsstelle und haben teil am gesellschaftlichen Erfolg .Die Kaufkraft der deutschen Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer ist 2016 genauso wie 2015 gestiegen . Esgibt kräftige Reallohnzuwächse . Das spiegelt sich auchin dem Anstieg der Renten wider: Wir hatten die höchsteAnpassung der Renten seit 23 Jahren .
Das BAföG ist zum 1 . August um 7 Prozent gestiegen,mit dem Wohnzuschlag addiert sogar um fast 10 Prozent .Wir haben die guten Einnahmen genutzt, um die sozia-le Sicherheit zu stärken, und die Sozialausgaben steigenerheblich, von 171 Milliarden Euro im Jahre 2017 auf187 Milliarden Euro im Jahre 2020 . Das alles ist keineSelbstverständlichkeit .
Das alles spiegelt sich in Maßnahmen wider: Maßnah-men für Langzeitarbeitslose, Verbesserungen im Ärzte-und Krankenhausbereich, in der Pflege, in der Rentenver-sicherung . Wir werden im Herbst noch weitere Schritte inder Koalition diskutieren .Aber eines geht nicht, Herr Bartsch, nämlich dass mansagt: Okay, wir gleichen die Renten derjenigen an, diein den neuen Bundesländern Renten beziehen, aber wirnehmen keine Angleichung bei denen vor, die heute Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind . –
Wem wollen Sie eigentlich in den alten Bundesländernerklären, dass die Arbeitsstunde in den neuen Ländernhöher bewertet wird als in den alten Ländern, aber dieRentner in den neuen Ländern genau dieselbe Rente be-kommen wie in den alten? Das wird nicht klappen; dasist Spaltung .
Damit zeigen Sie, dass Sie eben nicht Gesamtdeutsch-land im Blick haben . So kann man die Einheit nicht ge-stalten . Im Osten etwas versprechen und im Westen danndamit nicht auftreten, das geht auf gar keinen Fall .
Meine Damen und Herren, wir investieren in die Zu-kunft unseres Wirtschaftsstandorts, weil wir wissen, dassder Rest der Welt auch nicht schläft . Wir investieren inBildung und Forschung . Die Ausgaben hierfür steigenvon 21,1 Milliarden Euro auf 22,7 Milliarden Euro . Seit2005 haben wir die Forschungsausgaben nahezu verdop-pelt . Wir haben die Exzellenzinitiative neu aufgelegt .Wir investieren in Infrastruktur und Verkehr jedes Jahr2 Milliarden Euro mehr . Wir treiben den Breitbandaus-bau voran . Hier haben wir erhebliche Mittel ausgegeben:1,3 Milliarden Euro für schnelles Internet . Wir investie-ren in strategisch wichtige Industriebereiche, zum Bei-spiel gemeinsam mit anderen europäischen Ländern indie Mikroelektronik . Das ist eine ganz wichtige strategi-sche Investition für die Zukunft .Wir konzentrieren uns auf zwei große Herausforde-rungen . Das eine ist die Digitalisierung, Industrie 4 .0, dieDigitale Agenda der Bundesregierung . Wo immer man inEuropa hinguckt, merkt man: Das wird sehr genau ver-folgt und auch für absolut notwendig gehalten . Wenn esdarum geht: „Wo muss Europa besser werden?“, wirddiese digitale Entwicklung ein Kernbereich sein .Die Bundesregierung wird ein Open-Data-Gesetz vor-legen, mit dem wir zeigen, dass der Rohstoff der ZukunftDaten sind und daher das 21 . Jahrhundert entsprechendgestaltet werden muss . Wir müssen in den nächsten Jah-ren im Übrigen die Digitalisierung unserer gesamtenstaatlichen Aktivitäten voranbringen . Wir haben heuteeinen Zustand, dass wir es geschafft haben, innerhalbeines Jahres alle föderalen Ebenen zu vernetzen, wennes um das Kerndatensystem für Flüchtlinge geht . Abervon einem Kerndatensystem für Bürgerinnen und Bür-ger in Deutschland sind wir noch weit entfernt . Das mussschnellstmöglich nachgeholt werden . E-Governance isteine der ganz wichtigen Aufgaben .
Ich würde gerne im Zusammenhang mit den Gesprä-chen über einen Bund-Länder-Finanzausgleich auch da-rüber sprechen, wie viel Kooperation wir brauchen; dennder Bürger in Deutschland interessiert sich nicht dafür,welche Ebene gerade zuständig ist, sondern er will einenZugang für sich haben, um alles digital erledigen zu kön-nen, was man früher eben nicht konnte .Meine Damen und Herren, wir werden in die zukünf-tigen Strukturen investieren müssen, zum Beispiel in den5G-Mobilfunkstandard, und das nicht nur in Deutsch-land, sondern in ganz Europa; denn davon wird abhän-gen, ob das autonome Fahren und viele andere Anwen-dungen wie die Telemedizin überhaupt möglich sind .Der zweite große Bereich, in dem wir weiterarbeitenmüssen, aber auch vieles geschafft haben, ist das Lang-fristprojekt der Energiewende . Dazu gehört natürlich derKlimaschutzplan, an dem wir arbeiten . Aber es muss einKlimaschutzplan sein, bei dem wir es schaffen, Arbeits-plätze und die Sorge um das Klima in einen vernünftigenEinklang zu bringen .
Wir haben eine gewaltige Novelle zum Erneuerba-re-Energien-Gesetz auf den Weg gebracht, und wir wer-den diesen Weg weiter beschreiten .Wir haben natürlich noch einiges zu tun: das Entgelt-gleichheitsgesetz, die Fragen der Rente – das habe ichangesprochen –, die Reform der Erbschaftsteuer . Ich bittenur darum, dass man im Bundesrat nicht blockiert, mei-ne Damen und Herren . Die Verschonungsregel bei derErbschaftsteuer ist eine Regel für die Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer und für die Zukunft des Mittelstandes,Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
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für Familienunternehmen, die ein ganz wichtiger Bau-stein deutschen Erfolgs sind, die eben nicht von einemTag auf den anderen denken, sondern langfristig . Das istgenau das, was der globalen Wirtschaft heute fehlt . Des-halb müssen Familienunternehmer gestärkt werden .
Wir haben also vieles zu tun und vieles vor uns, so-wohl in der Außenpolitik als auch in der Innenpolitik .Wir wissen, dass sich die Welt in einem kritischen Zu-stand befindet. Wir brauchen auch nichts schöner zu ma-len, als es ist . Aber wir dürfen den Menschen in unseremLand auch sagen: Unsere Finanzen sind geordnet, dieWirtschaft ist stark, wir haben einen guten gesellschaftli-chen Zusammenhalt, und wir zeigen Menschlichkeit undHilfsbereitschaft .
Das alles ist unverzichtbar, um unsere Interessen undWerte auch angesichts der Globalisierung behaupten zukönnen und den Menschen in unserem Land Halt undPerspektive zu geben, und das gerade in Zeiten so gewal-tiger und schnell ablaufender Veränderungen .Deutschland hat sich seit der Gründung der Bundes-republik immer wieder verändert . Veränderung ist nichtsSchlechtes . Gerade wir – wenn ich zum Beispiel michnehme –, die wir die deutsche Einheit erlebt haben, ha-ben gesehen, wie Veränderung zum Besseren möglich ist .Veränderung ist auch ein notwendiger Teil unseres Le-bens . Dass unser Land dabei immer stark war und auchweiter stark sein wird, das beruht auf Voraussetzungen .Diese Voraussetzungen spiegeln sich wider in unserer Li-beralität, in unserer Demokratie, in unserem Rechtsstaat,in unserem überwältigenden Grundbekenntnis zur sozi-alen Marktwirtschaft, einer Ordnung also, die mit wirt-schaftlicher Stärke die Schwächsten in unserem Landeauffängt. Das alles, das, was ich gerade genannt habe, daswird sich nicht ändern .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland wirdDeutschland bleiben, mit allem, was uns daran lieb undteuer ist .Herzlichen Dank .
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen erhält nunKatrin Göring-Eckardt das Wort .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und liebe Kolle-gen! Ja, das war ein bitteres Wochenende für viele vonuns . Der Aufstieg der AfD nach Sachsen-Anhalt nunauch in Mecklenburg-Vorpommern kann uns nicht egalsein . Er hat zu Verunsicherungen geführt, auch bei denpolitischen Parteien . Trotzdem muss man vielleicht ein-mal das Gegenbild aufmachen und auf die Stimmung derBevölkerung schauen: 90 Prozent der Deutschen sindmit ihrem Leben zufrieden, knapp 80 Prozent mit unsererDemokratie . Sowie unsere Gesellschaft bunter gewordenist, durch Migration und vielfältige Lebensformen, sosind die Menschen mit diesem Land zufrieden . Deswe-gen müssen wir unsere Demokratie mit ihrer Offenheit,mit ihrer Vielfalt verteidigen . Darauf kommt es jetzt an .
Es ist falsch und eine Verzerrung der Wirklichkeit,davon zu sprechen, wir hätten ein von den Flüchtlingenüberfordertes Volk, wie es CSU und AfD im Gleichklangtun . Nicht das Volk, nicht die Menschen in unserem Landsind überfordert, meine Damen und Herren, sondern Siemit Ihrer chaotischen Regierung sind es . Das ist das Pro-blem, und darüber muss geredet werden .
Ja, es gibt Menschen, die sich abgehängt fühlen, ob-wohl ihre wirtschaftliche Situation gar nicht so schlechtist, und es gibt Menschen, die Gewalt akzeptieren, dieimmer mehr extreme Einstellungen akzeptieren . Das Ni-veau sinkt genauso wie die Schwelle, solches öffentlichzu sagen . Sie sind eine Minderheit! – Das müssen wir ih-nen sagen . Wir müssen der Mehrheit in diesem Land, diefür Demokratie und Offenheit steht, eine Stimme geben.Darauf kommt es an .
Da hilft es überhaupt nichts, wie es einige von Ihnenin der Union und auch der Linkspartei tun, ein Schre-ckensbild von Deutschland als Opfer der Globalisierungzu zeichnen. Sie schaffen dadurch erst die Angst, derenLinderung Ihre eigentliche Aufgabe wäre,
frei nach dem Motto: Erst ich, dann die Partei und danndas Land . – Diese Koalition ist eine Koalition des Cha-os: Jeder gegen jeden . Das Vertrauen verspielen Sie dochselbst . Sie sind gerade dabei, das letzte bisschen Vertrau-en zu verspielen .Frau Merkel, man fragt sich nach Ihrer Rede überWerte, für die Sie hier kämpfen wollen, über Klarheitund über Ansagen: Die Chefin welcher Regierung sindSie eigentlich? Ich kann die Regierung, für die Sie hierscheinbar geredet haben, jedenfalls nicht erkennen .
Gegen Populismus hilft nur Vernunft . Frau Merkel, Siehaben gerade etwas Ähnliches gesagt . Wissen Sie, wasich an dieser Passage Ihrer Rede spannend fand? Denmeisten Beifall dafür haben Sie vom Bündnis 90/DieBundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
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Grünen bekommen und den wenigsten von der CSU . Dassollte Ihnen zu denken geben .
Die Union legte innerhalb einer Woche drei Papierezur inneren Sicherheit vor . In diesen ging es vor allenDingen um Burkas und den Doppelpass . Als ob damit ir-gendjemand in Deutschland sicherer leben würde . Rich-tig ist doch: Gewalt gegen Flüchtlinge ist ein Problem .Es gab 705 Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte allein indiesem Jahr . Das ist eine Schande . Das ist ein Sicher-heitsproblem, um das wir uns kümmern müssen .
Seit elf Jahren sind Sie als Union für die innere Si-cherheit zuständig . Es sind Ihre Behörden, die beim NSUversagt haben, die die Warnhinweise zur Terrorismusge-fahr verstolpert haben und die auch für das Personalde-fizit bei der Bundespolizei verantwortlich sind, das Siejetzt mühsam wieder schließen wollen . Sie selbst sinddafür zuständig . Sie können nicht noch mehr zur Verun-sicherung beitragen . Es wäre Zeit, endlich einmal Sicher-heitskonzepte vorzulegen .
Gibt es überhaupt steigende Kriminalitätsraten? Nichtbei Flüchtlingen . Alle Kriminalitätsraten bis auf eine sin-ken . Ja, die Zahl der Einbrüche steigt massiv an . ReicheLeute haben es da einfach . Sie legen sich Zäune undAlarmanlagen zu . Gelackmeiert sind die, die sich dasnicht leisten können . Das ließe sich mit einem einfa-chen ordentlichen Programm beheben . Das wäre gut fürHandwerker, und das wäre schlecht für Einbrecher . Siekönnten einmal real für mehr Sicherheit in diesem Landsorgen .
Sie sind getrieben von Stimmungen, von Meinungs-umfragen und von Eilmeldungen . Sie führen Symbolde-batten um Hamsterkäufe und Bekleidungsverbote, stattzu tun, was zu tun ist . Zehn Dosen Ravioli statt Politik –Sie sind doch auf den Hund gekommen . Das erkenntman, wenn man sich das anschaut .
Nehmen wir die Flüchtlingspolitik . Alles verengte sichauf den einen Satz: Wir schaffen das. Im Herbst 2015 hatdieser Satz uns alle hier geeint . In einem Interview mitder Süddeutschen Zeitung erklären Sie, Frau Merkel, die-ser Tage, warum Sie an diesem Satz nichts ändern . Unterdem Strich vollziehen Sie allerdings, und zwar nicht erstseit Sie sich mit dem Türkei-Deal Herrn Erdogan aus-geliefert haben, nicht weniger als eine fast vollständigeKurskorrektur in der Flüchtlingsfrage . Sie nennen es nurnicht so . Sichere Herkunftsländer, Einschränkung desFamiliennachzugs, Einführung von Sachleistungen – esgibt fast nichts, was Sie nicht schon abgeräumt hätten .
Herr Gabriel saß hier in diesem Haus mit dem großen Re-fugees-Welcome-Button der Bild-Zeitung . Heute forderter Obergrenzen . Heute setzt Herr Gabriel ein korruptesBankensystem gleich mit Flüchtlingen, die aus Kriegs-und Krisengebieten kommen, um eine neue Neiddebat-te anzuzetteln . So geht Zusammenhalt in diesem Landnicht . Das spaltet, und das können wir uns nicht leisten .
Dabei ist es so, dass viele Menschen tatsächlichviel geschafft haben. Etwa 1 Million Geflüchtete, dieDeutschland in kurzer Zeit aufgenommen hat, sind hier .Das war anstrengend . Das ging nicht ohne Reibungen . Esgab übersteigerte Erwartungen einiger, es gab Fehlver-halten, und ja, es gab Köln . Aber am Ende gibt es heutekaum noch eine Unterbringung in Turnhallen . Im Ge-genteil: Etliche Aufnahmeeinrichtungen stehen leer, undetliche kommunalpolitisch Verantwortliche sagen schonheute: Wir haben doch die Kapazitäten . Warum holen Sienicht endlich die Familienangehörigen her? Die jungenMänner, die hier sind, werden verrückt, wenn sie wissen,dass ihre Kinder und ihre Frauen noch in Aleppo oderanderen Kriegsregionen sind . – Das ist eine der schänd-lichsten Entscheidungen, die Sie getroffen haben. Jetztkönnen wir es . Dann tun Sie es endlich . Der Familien-nachzug muss wieder möglich sein .
Die Sprach- und Integrationskurse sind gefragt wienie . Zehntausende Menschen engagieren sich . Die Arbeitallerdings wird in den Ländern und Kommunen erledigt,übrigens auch von sehr vielen engagierten Kommunal-politikerinnen und Kommunalpolitikern in Bayern . Ichverstehe bis heute nicht, warum Herr Seehofer und HerrSöder nicht einfach stolz auf sie sind und in diesem Landstattdessen mit Dauerrepression und Defätismus agieren .
Aber natürlich gab es vor allem die Hilfsbereitschaftin der Zivilgesellschaft . Es waren Menschen da, die ge-sagt haben: Wir machen das jetzt . – Ihnen muss man dan-ken . Ihnen danke ich auch heute noch einmal; denn siehaben durchgehalten und haben sich nicht verunsichernlassen . Sie tun einfach, was zu tun ist . Anders als Siewollen sie nicht Abschottung und Ausgrenzung, sondern,dass Menschen hier wirklich ankommen, meine Damenund Herren .
Es gibt deutlich mehr Leute, die helfen und anpacken,als solche, die auf meiner oder anderen Facebook-SeitenHasskommentare hinschmieren . Deswegen sollte sichunsere Politik an genau diese Menschen richten: an dieMehrheit, die dieses Land liebt, die ihre Heimat nicht nurverteidigt, sondern auch selbstverständlich teilt und offenist .Katrin Göring-Eckardt
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An der Stimmung im Hinblick auf die Hilfsbereit-schaft in unserem Land hat sich seit dem letzten Jahr üb-rigens wenig geändert. Ich finde ganz interessant, dasses die Evangelische Kirche in Deutschland sein muss-te, die die Menschen seit August letzten Jahres immerwieder befragt hat, wie sie die Aufnahmebereitschaftund die Flüchtlingssituation beurteilen . Das Ergebnis istpositiv geblieben . Vielleicht hätten auch Sie einmal einesolche Umfrage in Auftrag geben und weniger auf HerrnSeehofer oder andere hören sollen . Dann wüssten Sienämlich, wie die Lage im Land wirklich ist .
Ihre Bilanz ist: Die Asylverfahren dauern mittlerweileim Schnitt wieder 7,3 Monate; das sind fast zwei Mona-te mehr als Anfang des Jahres . Das liegt nicht etwa da-ran, dass wieder mehr Leute gekommen sind – es sindja weniger gekommen –, sondern das liegt ganz einfachan Ihrer Politik . Inzwischen muss nämlich jeder syrischeFlüchtling wieder zu einem Anhörungsverfahren kom-men .
Außerdem haben Sie die Altfälle immer noch nicht gere-gelt . Daran liegt das . Das ist Ihr eigenes Versagen . Damitschieben Sie weiterhin einen Berg vor sich her und sor-gen dafür, dass die Leute nicht integriert werden können,dass sie weiter herumsitzen, dass sie warten, warten undwarten, dass die Kinder nicht zur Schule gehen könnenund dass die Menschen nicht in Arbeit kommen . Das istein Versagen, ein Verstolpern und ein Hinauszögern einerSituation, was wir uns nicht leisten können . Deswegen:Ändern Sie das endlich!
Sie haben ein Integrationsgesetz auf den Weg ge-bracht, für das Sie sich immer noch feiern . Mir wird ganzschwummerig, wenn ich lese, was da drinsteht, und wennich mir vor Augen führe, was Sie damit bezwecken wol-len .
Es ist nicht von dem Gedanken getrieben, dass Sie In-tegration und Zusammenleben verbessern wollen . Es istdavon getrieben, dass Sie so tun, als ob die Geflüchtetengar nicht integriert werden wollen . Das Gegenteil ist derFall: Sie wollen, und zwar in ihrer ganz großen Mehrheit .Dafür muss man auch sorgen . Diese Chance müssen wirergreifen . Wir dürfen den Menschen nicht mit Argwohnund Misstrauen begegnen .
Das alles ist nicht einfach . Deswegen haben wir mitunserem Vorschlag „Fast and fair“ ein Modell vorgelegt,wie man schnelle Verfahren und, ja, auch schnelle Rück-führungen organisieren kann . Das tut auch uns weh . Damussten wir umdenken; aber das gehört dazu . Man kanndas allerdings machen, und zwar schnell, rechtsstaatlichund so, dass es funktioniert . Was Sie wollen, ist, Algeri-en, Marokko und Tunesien zu sicheren Herkunftsländernzu erklären,
trotz Folter und trotz Verfolgung der Minderheiten indiesen Staaten . Man kann sich ja darüber streiten, wieman das findet. Wenn uns die Einhaltung der Menschen-rechte dort wichtiger ist als Ihnen – bitte schön . Aber esfehlt doch nicht an der Regelung, dass diese Länder si-chere Herkunftsstaaten sind, sondern es fehlt vor alleman Rückkehrmöglichkeiten, weil diese Staaten die Leutenicht zurücknehmen .
Daran zu arbeiten, das wäre Ihr Job . Sie sollten aber kei-ne Symboldebatten führen, meine Damen und Herren .
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben sich im fernen Chi-na gefragt, welchen Anteil Sie an dem Wahlergebnis inMecklenburg-Vorpommern haben, sicher auch nach denWahlergebnissen Ihrer Partei in Baden-Württemberg undRheinland-Pfalz . Ich bin sicher, dass es nicht an IhremSatz: „Wir schaffen das“ von damals lag, sondern an demEindruck, den Ihre eigenen Spitzenleute immer wiedererwecken, die nach dem Motto verfahren: Wir könnendas nicht schaffen. – Dieses Hin und Her, diese Unklar-heit führt zu Verunsicherung und dazu, dass die AfD ihrGeschäft gar nicht mehr selbst betreiben muss, weil Ihreeigenen Leute das schon machen .
Wer jeden Blödsinn der Populisten nachplappert, dermuss sich nicht wundern, wenn sie dann gewählt werden .Und an die CSU und Herrn Seehofer der einfache Satz:Wer die AfD stärken will, macht es einfach weiter wieHerr Seehofer . Das geht eins zu eins . – Ich kann es Ihnenjedoch nicht empfehlen .
Aber es gibt noch etwas, was mit Sicherheit zu demWahlergebnis beigetragen hat: Ihr Kriechen vor HerrnErdogan und die Willfährigkeit, mit der Sie versuchthaben, eine Entscheidung dieses Parlaments zu relativie-ren. Ich hoffe sehr, dass dieses ganze Haus nicht nur zuder Resolution steht, sondern dass wir klar und deutlichweiterhin sagen: Ja, das war ein Völkermord . Und ja,Deutschland hat hier eine Mitverantwortung .
Meine Damen und Herren, daran gibt es nichts zu deu-teln, nichts zu relativieren, und daraus gibt es keine fal-schen Schlussfolgerungen zu ziehen .
Katrin Göring-Eckardt
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Die Voraussetzungen, um Großes zu erreichen, kön-nen eigentlich nicht besser sein: Wir haben eine niedrigeArbeitslosenquote . Wir haben ein stabiles Wachstum .
Allein im letzten Halbjahr wurde in Deutschland einSteuerplus von 18 Milliarden Euro erwirtschaftet . Ichfinde, angesichts der Einnahmen und der Dringlichkeitvon Investitionen, deren Fehlen wir ja hoch und runteralle beklagt haben, was die Infrastruktur angeht, kannman gerne auch von Entlastungen reden, aber, HerrSchäuble, bitte nicht wieder nach dem Motto „alles füralle“, sondern bitte genau dort, wo es notwendig ist, beiden Geringverdienern, bei den Familien, bei den Rent-nern mit kleinen Einkommen, nicht nach dem Motto: Wirverteilen wieder Wahlgeschenke .
Wenn man die Menschen draußen fragt, hier in Ber-lin zum Beispiel, was sie vom Staat erwarten, der geradeeinen solchen Überschuss hat, dann sagen die wenigs-ten: ein paar Euro weniger Steuern im Jahr . Die meistensagen: Tun Sie endlich etwas gegen die steigende Mieteund gegen die Verdrängung im Kiez! – Und das ist nichtallein in Berlin so . Es gibt zig Städte in Deutschland, woman heute ein Drittel des Nettoeinkommens nur für dieMiete aufbringen muss .
– Nein, da wird eben nichts gemacht .
– Herr Kahrs, Sie haben ja etwas Tolles eingeführt . Siewaren der Meinung, man könnte die Menschen, die dadraußen jeden Monat Miete bezahlen, ein bisschen ver-arschen .
Sie haben eine Mietpreisbremse eingeführt, die über-haupt nichts bringt . Jetzt, kurz von den Wahlen in Berlin,wundern Sie sich, dass es sogar dem Regierenden Bür-germeister von Berlin auffällt, dass die Maßnahme nichtwirkt, und sagen: Oh, jetzt machen wir aber eine richtigeMietpreisbremse . – Was glauben Sie, wie viel VertrauenSie da verspielt haben?
Wer ist eigentlich zuständig für den Wohnungsbau?Das sind einerseits in der Tat die Länder; andererseits istes inzwischen aber eine nationale Aufgabe . Es ist ebennicht der Job, hier Konkurrenzen zu formulieren und dieeinen gegen die anderen auszuspielen, wenn es um Woh-nungen geht .
– Doch, ich habe heute Morgen im Radio gehört, dass IhrParteichef das wieder einmal versucht . – Wer ist eigent-lich zuständig für den Wohnungsbau in diesem Kabinett?Wenn ich es richtig weiß, ist es Frau Hendricks .
Frau Hendricks ergeht sich in falschen Mietpreisbrem-sen und in Ankündigungen . Sie könnten längst etwas tun .Stellen Sie doch die Wohngemeinnützigkeit wieder her!Dann bräuchten Sie keine Grundgesetzänderung .
Dann könnten wir in den Wohnungsbau investieren . Hö-ren Sie doch auf, so verdruckst zu tun . Der SchwarzePeter liegt doch bei Ihnen . 1 Million Wohnungen in zehnJahren, das wäre einmal eine Ansage . Das könnten wirfinanzieren, und damit könnten wir auch zeigen, dass wirwissen, wo der Schuh drückt .Wenn man nach Berlin schaut, dann freut man sich be-sonders über die wichtigste Baustelle der Hauptstadt, denBER . Sie hat jetzt gerade ihr zehnjähriges Jubiläum, diekaputte Visitenkarte einer Weltstadt, die auf Kreisniveauregiert wird . – Nein, das ist eigentlich nicht richtig; dennin vielen Kreisen wird wirklich gut regiert .
Sie wird unter diesem Niveau regiert . – Wowereit undPlatzeck sind längst von Bord gegangen . Der Bund istimmer noch in der Verantwortung . Der BER ist ein Sym-bol geworden für Planlosigkeit, Überheblichkeit undVerschwendung einer Großen Koalition hier in Berlin .Meine Damen und Herren, das muss ein Ende haben, undzwar sehr schnell .
Wer so unverantwortlich mit Mitteln und Planungen um-geht, der hat es nicht verdient, weiter zu regieren .
Vor einem Jahr – Frau Merkel, Sie haben darauf hin-gewiesen – hat die Welt in Paris beschlossen, sich selbstretten zu wollen, und beim G 7-Gipfel in Elmau habenSie sogar die totale Dekarbonisierung unserer Wirtschaftversprochen . Das ist eine Ankündigung zur Revolution,die komplett verpufft ist. Der Verkehr ist das große Sor-genkind . Sie beschäftigen in Ihrem Kabinett seit Jahrenimmer wieder Verkehrsminister, die anscheinend vorallen Dingen nach einem Kriterium ausgesucht werden,nämlich danach, welchem Underperformer Sie das Mi-nisterium geben, die man nur braucht, weil man eineQuote erfüllen muss . Sie planen eine Maut, die niemandwill und die niemals kommt, während der Abgasskandalder deutschen Automobilindustrie richtig ins Herz trifft.Sie wollten Deutschland zum Vorreiter der Elektromobi-lität machen . Ihre Kaufprämie für Elektroautos ist aberein totaler Rohrkrepierer . Bis 2020 wollten Sie die Zahlvon 1 Million Elektroautos erreichen, gerade einmal3 000 Anträge wurden gestellt . Aber was machen Sie?Katrin Göring-Eckardt
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Sie verändern einfach das Ziel . So kann man das natür-lich auch machen . Im Sozialismus hat man das übrigensauch so gemacht . Man hat das Ziel verändert, damit manes erreichen kann . So weit sind wir jetzt schon .
Nur zum Vergleich: Norwegen und die Niederlandesteigen bis 2025 aus der Technologie Verbrennungsmotoraus, und in anderen Ländern entstehen Batteriefa briken .Wir subventionieren weiterhin fossile Kraftstoffe undSpritschlucker . Wenn Sie bei diesem Kurs bleiben, dannwird die Aktie von VW nicht die einzige bleiben, dieeinbricht . Unser Kohleausstiegsplan liegt auf dem Tisch .Bedienen Sie sich gerne .
Dann würde es nämlich nach vorne gehen und nicht wei-ter nach hinten in die schwarze Vergangenheit .
Gestern hat die Umweltministerin eine kompletteBankrotterklärung abgegeben . Die Überschrift ist fastdas Einzige, was geblieben ist; „Klimaschutzplan“ solles heißen . Die Klimaziele in den Bereichen Industrie,Gebäude, Verkehr, Landwirtschaft und Kohle wurdenschon von Gabriel gestrichen; den Rest hat das Kanz-leramt gekippt – ganz nach dem Motto: Die Welt sollenjetzt einmal die anderen retten, wir schützen unsere Kli-entel . – Das hilft dem Klimaschutz und den kommendenGenerationen nicht, und das wird uns auch wirtschaftlichzurückwerfen; denn wenn man in die Zukunft investie-ren will, dann geht das nicht ohne Klimaschutz und ohneklare Vorgaben .
Meine Damen und Herren, ich habe vor einem Jahreinen Satz gesagt, der mir gerne vorgeworfen wird . Ichhabe gesagt:Unser Land wird sich ändern, und zwar drastisch .Und ich freue mich drauf!Diese Aussage steht . Der Wandel ist so sicher wie dernächste Winter . Wir können uns entscheiden, ihn zu ge-stalten oder uns auszuliefern . Frau Merkel hat es heutegesagt, gestern hat es auch Herr Schäuble gesagt: Es hilftalles nichts; unser Land verändert sich . – Das Dümmste,was wir tun könnten, wäre aber, aus Angst vor Verände-rung das infrage zu stellen, was uns ausmacht und wasübrigens auch der Grund ist, weswegen die Menschen zuuns kommen . Sie kommen zu uns, weil wir ein Land derFreiheit, der Demokratie und des Zusammenhalts sind .
Unsere Antworten sind nicht Mauern, Abschottung undAusgrenzung . Die Vorstellung, Deutschland in der Mit-te Europas mit seiner Geschichte und seiner wirtschaft-lichen Verflochtenheit in der Globalisierung habe dieChance, alle Vorteile zu genießen und die Nachteile aus-zublenden, ist naiv und gefährlich . Genau das müssen Siesehr schnell ändern .
Wir leben in einer permanenten Umbruchsituation,und ich kann die Unsicherheit, die dies nach sich zieht,nachvollziehen: die Furcht vor Jobverlust, sozialem Ab-stieg, fehlenden Aufstiegschancen für Kinder, Terroran-schlägen usw . Aber waren wir in der Vergangenheit ei-gentlich jemals sicher? Haben wir nicht über Jahrzehntegelernt, auf eigenen Füßen zu stehen und Verantwortungzu übernehmen? Das geteilte Deutschland in Zeiten dernuklearen Bedrohung mitten im gesellschaftlichen undsozialen Wandel der 68er, herausgefordert durch Wald-sterben und sauren Regen, umgeben von einem Europa,in dem es mehrere Diktaturen gab, das war doch keinidyllischer Ort . Dass die Schwierigkeiten erfolgreichüberwunden wurden, lag nicht daran, dass die Bedingun-gen damals besser waren, sondern daran, dass wir alleWillfährigkeiten und Widrigkeiten in einer Demokratiegemeinsam bestanden haben . Wenn die ostdeutsche Be-völkerung nicht den Mut aufgebracht hätte, ihre Debattenin den Küchen und Kirchen in den Protest auf Plätzenund Straßen zu verwandeln, wo wären wir dann heute?War das einfach? Nein, es war nicht einfach . Es war eineder schwierigsten Zeiten .Es gibt ein Erfolgsrezept, das wir mitnehmen müs-sen, wenn wir die anstehenden Veränderungen gestaltenwollen: Wir sind eine offene, eine plurale Gesellschaftmitten in Europa. Wir streiten uns sachlich und findenauch Kompromisse . Wenn es bei einer Institution kriselt,dann fangen die anderen sie auf . Wir machen das ein-fach . Das ist unser Land, und das ist auch das Land, inder 80 Prozent der Bevölkerung unsere Demokratie undunsere freie Gesellschaft gut finden.
Das ist unser Land, und wir haben es zu verteidigen . Esist ein Land, das es verdient hat, gut regiert zu werden,nicht chaotisch, nicht indem jemand, der nicht am Kabi-nettstisch sitzt, aber Teil der Regierung ist, Herr Seehofer,das Geschäft der Rechtspopulisten macht, nicht in Ver-antwortungslosigkeit, sondern in Planbarkeit . Der Satz„Wir schaffen das“ war nicht falsch; aber es hat gefehlt,zu sagen, wie wir das schaffen, zu sagen: Wir machen dasjetzt, weil wir es können und weil wir das Land zusam-menhalten wollen .
Thomas Oppermann spricht nun für die SPD-Fraktion .
Katrin Göring-Eckardt
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mir ist
aufgefallen, dass sowohl Frau Göring-Eckardt als auch
Herr Bartsch in drastischen Worten über unser Verhältnis
zur Türkei geredet haben und dabei auch immer wieder
Formulierungen wie „Die Große Koalition kniet nieder
vor Herrn Erdogan“
und „Sie handelt ausschließlich opportunistisch“ benutzt
haben. Ich finde, Sie müssen aufpassen, dass Sie mit
solchen Formulierungen – ganz ungewollt, da bin ich si-
cher – nicht antitürkische Ressentiments in diesem Lande
mobilisieren,
die von ganz rechts und manchmal auch von ganz links
vertreten werden . Das halte ich für falsch .
Ich glaube, wir sollten mit der Türkei sehr differenziert
umgehen .
Ich bin Cem Özdemir dankbar, dass er klargestellt
hat – da sind wir alle einer Meinung –: Die Resolution
zu Armenien, die wir hier verfasst haben, gilt ohne Wenn
und Aber . Da gibt es keine Relativierungen, und da gibt
es schon gar nichts zurückzunehmen .
Wenn Präsident Erdogan jetzt einen Weg sucht, gesichts-
wahrend aus dem unmöglichen Verbot für uns Abgeord-
nete herauszukommen, unsere Soldaten zu besuchen,
dann ist das die eine Sicht . Wie man das politisch inter-
pretiert, ist die andere Sicht. Ich finde, wir sollten die
Dinge auseinanderhalten .
Dazu gehört auch das Flüchtlingsabkommen mit der
Türkei . Viele sagen: Das muss wegen des Putsches ge-
kündigt werden. – Ich finde, die Dinge haben erst einmal
nichts miteinander zu tun . Der Putsch in der Türkei war
nicht nur ein Angriff auf Erdogan und die AKP. Das war
ein Angriff auf die Demokratie insgesamt. Ich bin froh
darüber, dass die Türken diesen Putsch mutig abgewehrt
haben .
Aber was jetzt gemacht wird, ist nicht die Verteidigung
der Demokratie; das geht weit darüber hinaus . Wenn
Zehntausende Beamte, Lehrer und Richter festgenom-
men werden, die erkennbar nichts mit dem Putsch zu tun
haben, dann ist das ein Angriff auf den Rechtsstaat. Dazu
dürfen wir nicht schweigen, meine Damen und Herren .
Auch Sie, Frau Wagenknecht, haben gesagt: Wir ver-
kaufen unsere Werte, wenn wir mit der Türkei ein sol-
ches Flüchtlingsabkommen machen . – Dazu kann ich
nur sagen: Was ist das denn für ein Abkommen? Das
Abkommen hilft den Flüchtlingen in der Türkei . Da sind
2,5 Millionen Flüchtlinge, die jahrelang keinen Zugang
zu Gesundheitsleistungen oder zu Bildungseinrichtungen
hatten und die nicht arbeiten durften . All das wird jetzt
geändert . Wir können doch nicht, nur weil Herr Erdogan
eine falsche Politik macht, ein Abkommen kündigen, das
allen nützt: den Flüchtlingen, der Türkei
und Europa . Es nützt am Ende auch Deutschland . Ich bin
dafür, dass dieses Abkommen Bestand haben muss .
Herr Kollege Oppermann, lassen Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Volker Beck zu?
Ja .
Bitte schön, Herr Kollege .
Herr Kollege Oppermann, wir haben heute im Innen-ausschuss in eingestufter Sitzung über die Sicherheitssitu-ation und die Einschätzung unserer Dienste bezüglich derTürkei diskutiert . Ich kann aus der Sitzung nicht berich-ten, weil sie eingestuft war, aber ich möchte Sie fragen:Welche Rolle spielt in Ihren Erwägungen zum Festhaltenan dem Flüchtlingsdeal mit der Türkei die Einschätzungunserer Sicherheitsbehörden, dass die Türkei eine Akti-onsplattform für terroristische Aktivitäten im Nahen undMittleren Osten ist, und dass, wie wir wissen, über tür-kische Organisationen wie die UETD und die DITIB inDeutschland ein Klima erzeugt wird, in dem Druck aufMenschen ausgeübt wird, die sich kritisch mit der tür-kischen Regierungspolitik auseinandersetzen und derenFamilien aus diesem Land stammen? Meinen Sie nichtauch, dass diese Erkenntnisse unserer Sicherheitsbehör-den einen dringenden Kurswechsel der Bundesregierungund der Koalition sowohl in der Frage der Zusammenar-beit unserer Geheimdienste und Sicherheitsbehörden mitder Türkei als auch in der Frage, ob man Flüchtlinge, diees in die Europäische Union geschafft haben, in die Tür-kei zurückschicken soll, erfordern?
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Lieber Herr Beck, diese angeblich neuen Erkenntnisseunserer Nachrichtendienste sind mehrere Jahre alt .
Wir wissen seit Anfang des Jahrzehnts, dass die türkischeRegierung enge Kontakte mit der Hamas und den Mus-limbrüdern pflegt. Das ist nichts Neues. Inzwischen hatsich aber auch vieles wieder geändert . Die Türkei hat sichinzwischen beispielsweise mit Israel wieder ausgesöhntund pflegt wieder intakte diplomatische Beziehungen.Ich glaube, dass uns mit solchen Berichten, wie sieda lanciert worden sind, überhaupt nicht geholfen wird .Wir müssen aber selbstverständlich immer kritisch sein,wenn es um Fragen von Freiheit und Rechtsstaatlichkeitgeht . Denn wir sind mit der Türkei in der NATO ver-bunden, und die NATO hat den Auftrag, die Werte vonFreiheit, Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit insgesamtzu verteidigen . Daran muss man die Türkei auch immerwieder erinnern .
Ich möchte gerne zur Situation im Lande kommen .Wir haben am Sonntag einen Wahltag erlebt, an demalle in diesem Haus vertretenen Parteien verloren haben .Ich bin froh, dass wir in der jetzigen Debatte nicht denüblichen Streit darüber führen, wer am meisten oder amwenigsten verloren hat . Denn Verlierer dieser Entwick-lung werden nicht einzelne demokratische Parteien sein,sondern allenfalls die Demokratie insgesamt .Eine Demokratie kann nur funktionieren, wenn dieMenschen mit Respekt zueinander zusammenleben undder Staat den inneren Frieden garantiert . Wenn eine Par-tei wie die AfD, die gezielt Stimmung gegen Flüchtlingeund Einwanderer bzw . gegen Ausländer macht, nunmehrschon zum zweiten Mal mit über 20 Prozent bei einerLandtagswahl in ein Parlament einzieht, dann ist das eineGefahr für das friedliche Zusammenleben der Menschenin unserem Land .Ich sage ganz klar: Wir wollen eine offene, hilfsbe-reite und tolerante Gesellschaft . Aber das geht nur ineinem Staat, der verbindliche Regeln setzt, die für allegelten und die er auch durchsetzt. Ich finde, wir könnenden Rechtspopulisten das Wasser am schnellsten und ambesten dadurch abgraben, dass wir mit einem handlungs-fähigen starken Staat für soziale Sicherheit und für öf-fentliche Sicherheit sorgen .
Das Sicherheitsgefühl der Bürger hat sich in diesemSommer grundlegend geändert . Die Anschläge vonWürzburg, München und Ansbach haben uns im deut-schen Alltag getroffen. Diese Anschläge, egal ob sie vonislamistischen oder rechtsextremen Ideologien motiviertwaren, haben uns alle tief erschüttert . Aber die Antwor-ten auf diese sehr unterschiedlichen Ereignisse habengezeigt, dass wir in der Lage sind, richtig zu handeln . Ineiner Situation, in der Panik und Chaos erzeugt werdensollten, haben unsere Sicherheitskräfte mit Ruhe und Ge-wissenhaftigkeit reagiert . Dafür möchte ich den Polizis-tinnen und Polizisten in unserem Land von dieser Seiteaus ganz herzlich danken .
Bei Dank aber darf es nicht bleiben . Bereits bei derBeratung des vergangenen Haushaltes haben wir unserfolgreich für die Aufstockung der Bundespolizei um3 000 Stellen eingesetzt . Das war ein richtiger ersterSchritt . Jetzt wollen wir weitere 3 000 Stellen im Haus-halt verankern. Mehr Polizeipräsenz im öffentlichenRaum stärkt nicht nur das Sicherheitsgefühl der Bürge-rinnen und Bürger, sondern sie verbessert auch entschie-den die Möglichkeit, Gefahren abzuwehren, Straftatenaufzuklären und Verbrecher dingfest zu machen . DieBekämpfung von Kriminalität, Gewalt und Terror gehörtin die Hände einer professionell ausgebildeten und gutausgestatteten Polizei .
Auch wenn asymmetrische Kriege innere und äußereSicherheit immer stärker miteinander verweben, sollteman daraus keine falschen Schlüsse ziehen . Wir haben inDeutschland eine klare Aufgabenteilung . Die Polizei istzuständig für die innere Sicherheit, die Bundeswehr fürdie äußere Sicherheit . Schon deshalb, weil die Soldatenganz anders ausgebildet werden, ist die Bundeswehr kei-ne polizeiliche Reservearmee .
Das Grundgesetz lässt bereits heute zu, dass die Bun-deswehr bei besonders schweren Unglücksfällen undterroristischen Großlagen eingesetzt werden kann . DieseMöglichkeit in besonderen Ausnahmefällen ist sinnvoll .Darüber gibt es auch gar keinen Dissens . Dazu brauchenwir aber nicht die Ausweitung der Befugnisse der Bun-deswehr und auch keine Änderung der Verfassung .Die Aufgaben, die vor uns liegen, sind wahrhaftiggroß . Deshalb habe ich die herzliche Bitte, dass wir unsvoll darauf konzentrieren und dass nicht immer wiederAblenkungsdebatten geführt werden . Wenn wir eine star-ke Gesellschaft wollen, dann dürfen wir keine schwa-chen Diskussionen führen, die an den realen Problemenvorbeigehen .
Ich bin Ihnen, Herr Bundesinnenminister de Maizière,dankbar dafür, dass Sie eine weitere Phantomdiskussiongestoppt haben und vor allem den Berliner InnensenatorHenkel bei der unseligen Debatte über das Burkaverbotin die Schranken gewiesen haben .
Wir können in der Tat nicht alles, was wir ablehnen, auchverbieten . Natürlich muss man dazu eine Position haben .Und natürlich lehnen wir alle hier die Burka ab . Das ist
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nicht vereinbar mit den Werten einer offenen Gesell-schaft und mit der Gleichberechtigung von Männern undFrauen . Aber auch wenn es gute Gründe gibt, die Burkaabzulehnen, so spüren die Menschen doch ganz genau:Mit innerer Sicherheit hat das weiß Gott nichts, aber auchgar nichts zu tun . Und deshalb sollte man das auch nichtin solche Zusammenhänge stellen .
Wer solche Diskussionen hochzieht, die Angst ma-chen, und wer Probleme definiert, für die er anschlie-ßend keine Lösungen bringen kann, der trägt dazu bei,dass sich Angst und Unsicherheit in dieser Gesellschaftverstärken . Der arbeitet am Ende der AfD direkt in dieHände .
Das sollten wir unterbinden .Ich war letzte Woche hier in Berlin auf dem Alexander-platz . Von dort gibt es ja immer wieder auch Beschwer-den bezüglich der inneren Sicherheit bzw . über Übergrif-fe . Ich habe mit Gewerbetreibenden dort gesprochen, dieselber schon Opfer von Kriminalität geworden sind . Diehaben einen ganz einfachen dringenden Wunsch, dassnämlich nach dem Vorbild der Davidwache in Hamburgauf dem Alex eine Kombiwache eingerichtet wird, in derdie Bundespolizei – die wegen des Bahnhofs sowiesodort sein muss – und die Landespolizei zusammenarbei-ten . Ich frage mich: Warum können in diesem Land soeinfache, verständliche und richtige Wünsche von Ge-werbetreibenden nicht schnell umgesetzt werden?
Ich fasse noch einmal zusammen: Es darf keine Phan-tomdebatten mehr geben . Wir brauchen mehr Polizei aufDeutschlands Straßen und Plätzen . Wir brauchen einebessere Ausstattung der Polizei und der Nachrichten-dienste sowie einen schnelleren und gezielteren Informa-tionsaustausch zwischen den Sicherheitsbehörden; daransollten wir gemeinsam arbeiten .
Auch wenn es keine absolute Sicherheit und keinenperfekten Schutz vor Terroranschlägen und Amokläufengibt, müssen wir sehr viel mehr für Prävention und densozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft tun . Dennwahr ist – auch wenn Ausnahmen die Regel bestätigen –:Menschen, die eine Zukunft für ihr Leben und das Le-ben ihrer Kinder sehen, sind weniger anfällig für Extre-mismus sowie für Hass und Gewalt . Ein guter Schulab-schluss, echte Aufstiegschancen und eine Perspektive inder Mitte der Gesellschaft gehören deshalb ebenfalls zueiner richtig verstandenen Sicherheitspolitik .
Auch deshalb sind Ausstiegsprogramme und Projekte zurReintegration in die Gesellschaft so wichtig . ManuelaSchwesig hat im vergangenen Jahr mit dem Programm„Demokratie leben!“ einen Ansatz gegen Rechtsextre-mismus, Gewalt und Menschenfeindlichkeit geschaffen.Wir werden nun die Mittel auf 100 Millionen Euro ver-doppeln . Das ist eine gute Investition in die Sicherheitunserer Gesellschaft .
Ich bin davon überzeugt, dass weniger Menschenfür Hassbotschaften empfänglich werden, wenn es unsgelingt, die Aufnahme von Flüchtlingen in geordneteBahnen zu lenken und die Flüchtlinge mit Bleiberechtmöglichst schnell und gut zu integrieren . Wir haben mitunserem Integrationsgesetz einen großen Schritt nachvorn gemacht . Wir haben erstmals verbindliche Regelnfür die Integration in Deutschland geschaffen. DerenEinhaltung müssen wir aber auch einfordern . Fördernund Fordern gehören zusammen . Nur wenn beides zu-sammengeht, kann Integration funktionieren . Bei För-derprogrammen betreffend Wohnraum, Kinderbetreuungund Arbeitsplätzen müssen wir genau darauf achten, dassFlüchtlinge und Deutsche gleichermaßen davon profitie-ren, dass Flüchtlinge und Deutsche nicht gegeneinanderausgespielt werden .
Wir sind eines der wenigen Länder mit enormen Steu-erüberschüssen; der Bundesfinanzminister hat gesterndarüber gesprochen . Aber gleichzeitig haben wir einenriesigen Nachholbedarf in unserem Bildungssystem .Wenn wir nun für die Bildung von Flüchtlingen vieltun, müssen wir die Gelegenheit nutzen, auch gezielt dieMängel unseres Bildungssystems anzugehen, Mängel,die dazu führen, dass viele Menschen in unserem LandNachteile haben . Auf jede Schule, die gut in Schuss ist,kommt eine, die dringend sanierungsbedürftig ist . Hierbröckelt wortwörtlich das Fundament . Ich kann nur sa-gen: Haushaltsüberschüsse auf der einen Seite und sanie-rungsbedürftige Schulen auf der anderen Seite, das passtnicht zusammen .
Die Bildungschancen sind ebenfalls sehr unterschied-lich verteilt . Während drei von vier Akademikerkindernstudieren, schafft nur jedes vierte Arbeiterkind eineHochschulzulassung . Es geht nicht darum, dass alle stu-dieren . Wir brauchen noch dringender gut ausgebildeteFachkräfte im Rahmen des dualen Systems . Aber fürviele Berufe ist heute das Abitur die Ausbildungsvoraus-setzung . Wenn es für Sozialdemokraten eine Grundüber-zeugung gibt, dann ist es diese: Wenn jemand Bildungsucht, wenn jemand Chancen nutzen will, wenn jemandeinen Abschluss erreichen will, dann darf es keine Rollespielen, woher er kommt .
Einen Bildungs- oder Ausbildungsabschluss gibt es nichtohne eigene Anstrengungen . Aber jeder, der sich an-strengt, muss eine Chance haben . Dies muss der StaatThomas Oppermann
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garantieren . Deshalb: Lassen Sie uns endlich das Koope-rationsverbot im Grundgesetz aufheben und gemeinsamanfangen .
Wir haben in der Großen Koalition vieles für die Men-schen in unserem Lande
erreicht . Der Mindestlohn hat zur größten Lohnsteige-rung in der jüngeren Geschichte geführt . Mit dem Inte-grationsgesetz haben wir die Gesellschaft in schwierigenZeiten zusammengehalten . Wir haben die Frauenquoteund das Elterngeld Plus eingeführt. Mit einer Pflegere-form haben wir enorme Leistungsverbesserungen aufden Weg gebracht . Wir haben Milliardenentlastungen fürStädte und Gemeinden durchgesetzt .Übrigens, Kollege Bartsch, im Haushalt stehen nichtEntlastungen in Höhe von 600 oder 700 Millionen Euro,sondern von 2,5 Milliarden Euro für 2017 . In der mittel-fristigen Planung für 2018 sind es Gesamtentlastungen inHöhe von 5 Milliarden Euro . Da haben Sie, glaube ich,den Haushaltsentwurf nicht richtig gelesen . Ich muss dasan dieser Stelle richtigstellen .
Wir haben mit all diesen Maßnahmen das Leben fürviele Menschen in Deutschland spürbar verbessert . Wirwerden auch in den letzten zwölf Monaten dieser Koali-tion daran arbeiten, dass wir in Deutschland eine starkeWirtschaft und dass wir ein soziales Land haben werden .
Gestern hat Bundesfinanzminister Schäuble erfreuli-cherweise die Feststellung treffen können, dass die er-heblichen Haushaltsüberschüsse, die wir haben, Raumfür eine Steuerentlastung geben . Ich habe noch nichtüberprüfen können, ob es tatsächlich 15 Milliarden Eurosind, die zur Verfügung stehen .
Wir wissen noch nicht, wie es mit dem Soli weiter-geht . Wir wissen auch noch nicht, welche Belastungenauf den Bund im Rahmen der Bund-Länder-Finanzbezie-hungen noch zukommen . Aber es wird Spielraum geben .Ich denke, das ist eine Situation, die wir nutzen könnenund nutzen wollen, um kleine und mittlere Einkommenin diesem Lande zu entlasten .
Ich bin nicht dafür, dass wir das in dem üblichen Ver-fahren machen, mit einer großen Gießkanne, unabhän-gig davon, wie groß die Einkommen oder die Vermögensind . Wir wollen Arbeitnehmer entlasten . Dann darf mannicht nur auf die Steuern schauen; denn viele im unterenund mittleren Einkommensbereich zahlen relativ wenigSteuern, aber sie sind durch die Sozialabgaben hoch be-lastet . Schon vom ersten Euro an müssen sie 20 ProzentSozialabgaben zahlen . Also müssen wir schauen, ob wireine effektive, zielgenaue Entlastung für Arbeitnehmerim unteren und mittleren Einkommensbereich über Ab-gaben hinbekommen . Das wäre der richtige Weg für dieSPD .
Wir haben uns jetzt noch einiges sehr konkret vorge-nommen . Wir haben eine erste Rentenreform mit der Ver-besserung der Erwerbsminderungsrente, der Mütterrenteund der abschlagsfreien Rente nach 45 Beschäftigungs-jahren gemacht . Jetzt kommt der zweite Teil der Ren-tenreform . Die Betriebsrente wollen wir stärken . 40 Pro-zent der Arbeitnehmer bekommen keine betrieblicheAltersversorgung . Deshalb freue ich mich, dass AndreaNahles und auch Finanzminister Schäuble ein Konzepterarbeiten, mit dem die Betriebsrente auch für kleine undmittelständische Unternehmen attraktiv gemacht wird .
Wir sind uns im Grundsatz einig, dass mehr als 25 Jah-re nach der deutschen Einheit auch die Angleichung derRenten überfällig ist . Mein lieber Kollege Bartsch, wasSie da zum Besten gegeben haben, zeigt mir doch, dassSie trotz Ihrer am Ende Ihrer Rede zum Ausdruck ge-brachten Bereitschaft, Regierungsverantwortung zuübernehmen, davon noch ein Stück weit entfernt sind .Das betrifft nicht nur die Außenpolitik.
Das ist ein klassisches Beispiel . Wir wollen die Anglei-chung der Ostrente an die Westrente bei der Rentenhöhe .Da sind wir hundertprozentig einer Meinung .
Aber eine Angleichung bedeutet auch, dass die renten-rechtliche Aufwertung von Arbeitnehmereinkommen zuEnde gehen muss .
– „Warum?“ Weil es überall in Deutschland Arbeitneh-mer gibt, die diese Aufwertung auch gerne hätten . Siehingegen wollen, dass dies das Privileg einer bestimmtenGruppe bleibt . Damit bringen Sie eben keine Gesamtver-antwortung für Deutschland zum Ausdruck .
Andererseits bin ich entschieden der Auffassung, dassdie Rentenangleichung nicht von den Arbeitnehmern undden Beitragszahlern finanziert werden darf, sondern siemuss selbstverständlich aus Steuermitteln finanziert wer-den .
Herr Schäuble, diese Mittel sind ja nach dem, was Siegestern vorgetragen haben, offenkundig auch vorhanden.Thomas Oppermann
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Ich verstehe nicht, warum eine solche Finanzierung nochein Problem ist .
Zur Lebensleistungsrente . Für mich ist klar, dass, werjahrzehntelang gearbeitet und Rentenversicherungsbei-träge gezahlt hat, im Alter mehr haben muss als jemand,der gar nicht gearbeitet hat . So haben wir es im Koaliti-onsvertrag vereinbart . Deshalb gehe ich davon aus, dasssich alle Regierungsparteien daran halten .Zu sozialer Sicherheit gehört für mich auch, dass wirMenschen mit Behinderungen stärken . Das Bundesteil-habegesetz ist eine der großen sozialpolitischen Refor-men in dieser Legislaturperiode . Behinderung darf keineArmutsfalle sein, nicht für die Menschen mit Behinde-rungen, aber auch nicht für ihre Familien .
Auch wenn es nicht im Koalitionsvertrag vereinbartist, kann ich mir vorstellen, dass wir uns noch einmalvornehmen, die Situation von 1,6 Millionen Alleinerzie-henden, von denen viele nur für einen kurzen ZeitraumUnterhaltszahlungen bekommen, zu verbessern. Ich fin-de, dass sich Alleinerziehende in Deutschland, von denenübrigens die meisten erwerbstätig sind, darauf verlassenkönnen müssen, dass sie jeden Monat bis zur Volljährig-keit tatsächlich einen Unterhaltsvorschuss bekommen .Wenn der Staat ihn leistet, muss er ihn hinterher bei denZahlungspflichtigen wieder eintreiben.
Nachdem wir schon erhebliche Mittel in den sozialenWohnungsbau gesteckt haben, nachdem wir die Mitteldafür mehr als verdoppelt haben, müssen wir uns trotz-dem noch einmal mit dem Thema „Mieten und Wohnen“beschäftigen . Wir haben einen übergroßen Wohnungsbe-darf in Deutschlands Ballungszentren . Viele Menschenin unseren Großstädten haben Angst davor, dass siedurch explodierende Mieten aus ihren Vierteln und Kie-zen verdrängt werden . In einer sozialen Marktwirtschaftist es die Aufgabe des Staates, dafür zu sorgen, dass esbezahlbaren Wohnraum gibt und dass Mieter und Mie-terinnen Sicherheit haben und sich nicht solche Sorgenmachen müssen .
Wir unterstützen Städte wie Hamburg und Berlin nachKräften . Gerade hier in Berlin haben wir mit dem Dra-goner-Areal ein Gelände, das von der BImA nach demPrinzip „Wer den höchsten Preis zahlt, der bekommtauch diese innerstädtischen Filetstücke“ bebaut wird .Ein Investor hat das Doppelte des Verkehrswertes von18 Millionen Euro gezahlt . Das ist der falsche Weg .
Die BImA muss endlich vom Prinzip des Verkaufs zumhöchsten Preis abkehren, damit kommunale Wohnungs-bauprojekte nicht jedes Mal gegen Spekulanten den Kür-zeren ziehen .
Meine Damen und Herren, auch ich möchte, dass inZukunft alle gesellschaftlichen Gruppen in unseren Städ-ten einen Platz haben und dass die Mittelschichten nichtdurch Luxussanierungen aus den Innenstädten verdrängtwerden .Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Das Wort erhält nun der Kollege Volker Kauder für die
CDU/CSU-Fraktion .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Die Haushaltsdebatte am Mittwoch einer Haushaltswo-che ist der Ort, wo über grundsätzliche politische Aufga-ben, Herausforderungen, unterschiedliche Auffassungendiskutiert und im besten Sinne des Wortes auch gestrittenwird . Aber natürlich sollte sich die Debatte in der Haus-haltswoche von anderen Debatten dadurch unterschei-den, dass immer wieder auch der Blick auf den Haushaltgeworfen wird und die Frage gestellt wird: Reicht das,was wir im Haushaltsentwurf vorlegen, um die zentra-len großen Aufgaben auch lösen zu können? WolfgangSchäuble hat dazu gestern in seiner Einbringungsrede ei-nige wirklich bedeutende Hinweise gegeben .Ich möchte weiter an dieser Linie nachvollziehen:Welche Herausforderungen haben wir? Welche Instru-mente stellen wir dafür zur Verfügung? Reicht das Ganzeauch? Welchen Beitrag muss der Deutsche Bundestagund – darüber wurde bisher gar nicht gesprochen – wel-chen Beitrag muss dazu auch der Bundesrat leisten, mei-ne sehr verehrten Damen und Herren?
Denn an der Bundesgesetzgebung wirkt der Bundesratals Verfassungsorgan mit . Dass wir die eine oder ande-re Aufgabe nur deswegen nicht lösen, weil wir es nichtwollen, stimmt ja nicht; wir können sie deswegen nichtlösen, weil es im Bundesrat eine andere Mehrheit gibt .
Da, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ha-ben wir nachher noch einiges miteinander zu besprechen;darauf komme ich schon noch zurück .
Wenn wir die Situation in unserem Land anschauen,erkennen wir: Sie ist natürlich geprägt durch die Diskus-sion über Flüchtlinge, über Zuwanderung und über In-tegration . Dies hat neben anderen Punkten – ich betoneThomas Oppermann
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dies ausdrücklich – auch am vergangenen Sonntag beider Wahlentscheidung eine Rolle gespielt . Ich bin sehrfroh darüber, dass alle in diesem Hause erklärt haben,dass alle im Deutschen Bundestag vertretenen Parteiennachzudenken haben und sich ihre Gedanken darüber zumachen haben: Was ist da geschehen?Aber es reicht nicht aus, sich darüber nur Gedanken zumachen . Ich habe eine Erfahrung als Generalsekretär derCDU in Baden-Württemberg gemacht, als es darum ging,auch nach hohen Zahlen von Asylbewerbern, die Repu-blikaner wieder aus dem aktiven politischen Geschehenherauszubringen . Es ist eine Erfahrung, die mich, wennich die Wirklichkeit jetzt anschaue, schon etwas beschäf-tigt: Es wird nur dann gelingen, wenn wir in der Sachebei unterschiedlichen Auffassungen miteinander um denbesten Weg ringen; aber es wird nicht gelingen, wennwir uns gegenseitig Vorhaltungen machen, die nicht derWirklichkeit entsprechen .
Wenn man, nur um einen kleinen Punktgewinn zu erzie-len, dem anderen etwas unterstellt, von dem man hun-dertprozentig weiß, dass es nicht stimmt,
ist dies nicht in Ordnung, um das mal klar zu sagen .
Wenn ich mir da den Wahlkampf in Mecklenburg-Vor-pommern anschaue, muss ich sagen: Da muss sich man-cher überlegen, ob da nicht schon das Ergebnis seinmuss, so nicht weiterzumachen .Herr Bartsch, zunächst einmal haben Sie in einemPunkt recht . Wir beide stammen aus dem letzten Jahr-hundert . Sie sind 1958 geboren, ich bin 1949 geboren .
Das ist aber – das kann ich nach Ihrer Rede feststellen –die einzige Gemeinsamkeit, die wir haben .
Jetzt will ich sagen: Es ist nicht redlich, einfach davonzu reden, es sei bei der inneren Sicherheit nichts gesche-hen, es sei bei der inneren Sicherheit gespart worden .
Es ist Fakt – ich habe die Zahlen vorliegen –, dass esvon 1998 an sowohl beim BKA als auch bei der Bun-despolizei an Stellen einen Zuwachs gegeben hat . Es istnicht so, dass dort gespart worden ist . Von 1998 bis 2016sind allein bei der Bundespolizei 2 001 Stellen neuge-schaffen und besetzt, also nicht nur ausgebracht worden,und beim BKA sind 665 neue Stellen nicht nur ausge-bracht, sondern besetzt worden .Wenn man sich dann aber an dieses Pult stellt undsagt, dort sei eingespart worden, dann wird man dabeierwischt, dass man etwas Unwahres sagt . Ich kann dazunur sagen: Ich habe den Verdacht, dass vieles von dem,was Sie sagen, nicht wahr ist, lieber Herr Dr . Bartsch .Darauf muss ich großen Wert legen .
Die Erkenntnis vom letzten Sonntag ist: in der Sache hartstreiten, aber nicht mit Unterstellungen arbeiten .Nun komme ich zum zweiten Punkt, der die Men-schen natürlich bewegt hat . Wir wissen sehr wohl, dassauch im Zusammenhang mit der Diskussion um Flücht-linge in unserer Bevölkerung Fragen zur Türkei gestelltwerden, und wir wissen sehr genau, dass es hier kritischeNachfragen und auch Sorgen gibt . Dabei haben wir alsAbgeordnete im Deutschen Bundestag bei der Armeni-en-Resolution völlig selbstbewusst nur auf uns zu schau-en . Ich habe, Herr Dr . Bartsch und Frau Göring-Eckardt,nirgendwo aus dem Deutschen Bundestag gehört, dasswir unsere Armenien-Resolution infrage stellen, über-haupt nicht . Auch die Bundeskanzlerin hat erklärt, dasssie ebenfalls zugestimmt hat und sie ebenfalls nicht in-frage stellt .
Was sollen dann solche Diskussionen, die die Menschennur irritieren und nicht auf der Wahrheit beruhen?
Dazu kann ich nur sagen: Mit dem wahrheitsgemäßenUmgang können wir auch jene isolieren, die am letztenWahlsonntag über 20 Prozent bekommen haben, die abermit den Dingen, wie sie wirklich sind, nicht so umgehenwie notwendig, sondern Behauptungen aufstellen undÄngste schüren, die nicht der Wirklichkeit entsprechen .Das sollten wir in der Auseinandersetzung in diesemHause nicht fortsetzen .Meine sehr verehrten Damen und Herren, ja, im letz-ten Jahr sind viele Menschen gekommen . Aber wir ha-ben darauf reagiert . Im letzten Monat, im August, sind80 Prozent weniger Flüchtlinge nach Deutschland ge-kommen als im August des letzten Jahres .
Wir haben eine ganze Reihe von Maßnahmen auf denWeg gebracht . Es ist nicht so, als hätten wir nichts getanund nur gewartet . Auch aus unserer Koalition war dereine oder andere Satz dazu zu hören . Nein, wir habenmiteinander etwas getan, und das sollten wir auch sagen .Wir haben ein Integrationsgesetz auf den Weg gebracht,das fordert und fördert . Wir haben zwei Asylpakete be-schlossen und damit dafür gesorgt, dass sich in diesemLand etwas verändert, und wir haben vor allem mit derEinstufung der Balkanstaaten als sichere Herkunftslän-der dafür gesorgt, dass sich Menschen vom Balkan – siehaben im letzten Jahr ein großes Kontingent von Zuwan-Volker Kauder
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derern gestellt –, nicht mehr auf den Weg machen, weilsie sich sagen: Wir kommen aus einem sicheren Her-kunftsland, deshalb lohnt es sich überhaupt nicht, dasswir Schleppern Geld in die Hand geben . Wir machen unsdaher gar nicht erst auf den Weg .Was heißt „sicheres Herkunftsland“? Frau Göring-Eckardt, dabei geht es nicht in erster Linie darum, dieMenschen dorthin zurückzubringen, vielmehr geht es da-rum – das ist eine zutiefst menschliche Aktion –, Men-schen davor zu bewahren, sich Schleppern in die Hand zubegeben, die letzten Ersparnisse auszugeben, um in einLand zu kommen, in dem ihnen nachher gesagt wird: Eswar alles umsonst, ihr könnt hier nicht bleiben .
Deshalb ist es notwendig, die Botschaft vom sicherenHerkunftsland auszugeben . Es ist notwendig, damit sichdie Menschen nicht in eine Falle von anderen begeben,die, wie mir inzwischen gesagt wurde, durch den Handelmit Menschen mehr Ertrag machen als durch den Handelmit Drogen .Dies, liebe Kolleginnen und Kollegen, dürfen wir aufkeinen Fall zulassen . Deswegen muss Schlepperbandenaus Ländern, die wir zu sicheren Herkunftsländern erklä-ren können, das Handwerk gelegt werden .
Wie Sie wissen, bin ich ja mit einer ganzen Reihe vonKolleginnen und Kollegen aus der Fraktion der Grünenin Punkten, wo es um Menschenrechte, Religionsfreiheitund verfolgte Christen geht, durchaus einig . Frau Rothund ich kreuzen immer wieder einmal unsere Wege insolchen Regionen, wo wir gemeinsame Ziele verfolgen .
– Ja, es ist doch nichts Schlechtes, wenn viele aus demDeutschen Bundestag in den Regionen unterwegs sind,wo es wirklich um Menschenrechte geht bzw . darum,sich tatsächlich für Religionsfreiheit einzusetzen .
Aber dann muss auch die Konsequenz gezogen werden,dass wir alles tun, um denen das Handwerk zu legen,die diesen Menschen, die uns besonders wichtig sind,übel mitspielen . Deswegen meine ich schon, dass IhrePartei jetzt im Bundesrat dem Ministerpräsidenten vonBaden-Württemberg folgen sollte und ihre Zustimmunggeben sollte, dass die Maghreb-Staaten zu sicheren Her-kunftsländern erklärt werden .
Das würde sehr helfen, um noch einen weiteren Schrittzu machen auf dem Weg hin zu den Zielen, die wir errei-chen wollen .Die Sozialdemokraten, unser Koalitionspartner,mit dem wir, wie ich finde, bei allen unterschiedlichenAuffassungen und manchem Wahlkampfgeplänkel, dasschon stattfindet, dem Land eine gute Regierung stellen –unter unserer Führung – –
– Herr Kahrs, Sie müssen zugeben, dass ich Ihnen dain nichts nachstehe . Von daher gesehen ist das auch inOrdnung . – Ich meine also schon, dass man sich alsSPD-Führungsspitze da nicht hinstellen und herumphi-losophieren kann, was noch alles gemacht werden muss .Die SPD trägt ja Verantwortung in Bundesländern, dieim Bundesrat dem nicht zustimmen . Da würde ich mireinmal wünschen, dass der SPD-Parteivorsitzende mal inseiner Partei darüber redet,
was notwendig ist, um die Ziele zu erreichen, die auch erformuliert hat . Das heißt in diesem Fall, im Bundesrat dieZustimmung dazu zu geben, weitere Länder zu sicherenHerkunftsländern zu erklären .
Herr Kollege Oppermann lächelt mir zu, weil er weiß,dass ich recht habe .
Insofern wird das natürlich auch vorangebracht werden .Meine sehr verehrten Damen und Herren, das heißtalso: Wir haben doch etwas erreicht . Darauf, was Men-schen beunruhigt, was Menschen verunsichert, gebenwir die Antwort: Ja, das wissen wir, und das nehmenwir ernst . – Da sind wir auf dem Weg und haben bereitseinige Erfolge erzielt . Die Zahl der Abschiebungen istdeutlich erhöht worden, die freiwilligen Rückführungenfunktionieren .
Da ist noch manches zu tun, aber wir sind auf dem Weg .Wir haben natürlich auch, wenn wir an den Haushaltdenken, dafür die Voraussetzungen geschaffen, sowohlfür Integration als auch für all das, was mit dem ThemaSicherheit zusammenhängt . Wir haben aber im Zusam-menhang mit dem Bundeshaushalt auch eine Aufgabe voruns, die für die Bevölkerung jetzt keinen großen Charmehat und die auch keine große Begeisterung oder Anteil-nahme auslöst, die aber für die Zukunft von entscheiden-der Bedeutung ist . Das ist die Frage der Bund-Länder-Fi-nanzbeziehungen, die wir ja in dieser Legislaturperiode,wenn es irgend geht, auch noch lösen wollen .
Volker Kauder
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In diesem Zusammenhang will ich einmal sagen: Ja, dazusind wir bereit. Aber zwei Dinge, finde ich, müssen schoneinmal klargestellt werden:Erst einmal muss klar sein, welche Aufgaben jederhat . Lieber Kollege Oppermann, ich habe ja sehr vielVerständnis für die Analyse, was in den Schulen allesnicht stimmt, aber – das muss ich einmal sagen – dasist nach der Verfassung in erster Linie Aufgabe unsererBundesländer und nicht des Deutschen Bundestages unddamit auch nicht des Bundeshaushaltes .
Jetzt zu sagen, Schäuble, dieser Wahnsinnstyp, kassiertSteuern ein und nur er hat Überschüsse und die Länderund Kommunen nicht, entspricht doch nicht der Wahr-heit . Mehr als die Hälfte dieser Steuereinnahmen geht andie Länder und an die Kommunen . Sie sollen ihre Haus-aufgaben machen und nicht immer nur beim Bund antre-ten und sagen: Wir wollen Geld .
Aber jetzt kommen die Bund-Länder-Finanzbeziehun-gen . Wir werden darüber reden . Eines will ich vorwegsagen: Ich will nicht, dass jeder Wettbewerbsgedanke beidiesen Bund-Länder-Finanzverhandlungen untergeht .Der Wettbewerbsföderalismus hat auch seine Bedeutung .Nur zu glauben, die Lösung liege darin, dass der Bundalles bezahlt und die Bundesländer dann zufrieden sind,hat mit Wettbewerbsföderalismus nichts zu tun . Diesenwill ich erhalten, liebe Kolleginnen und Kollegen .
Zweitens – hier komme ich auf den richtigen Hin-weis, lieber Kollege Oppermann –: Ja, wir sind bereit,mit den Ländern darüber zu reden, wo noch etwas getanwerden muss . Diese Bundesregierung hat so viel Geld andie Kommunen gegeben wie noch keine andere Bundes-regierung: Milliardenbeträge . Wir haben zum Teil etwaskorrigiert, was ihr unter Rot-Grün den Kommunen aufsAuge gedrückt habt: die Grundsicherung . Das haben wirkorrigiert . Wir haben die vollständige Finanzierung desBAföG übernommen .
– Augenblick . Die Grundsicherung haben Sie eingeführt .Die Hälfte haben die Kommunen zahlen müssen, unddiese Hälfte haben wir jetzt übernommen . Das ist dieWahrheit und nichts anderes .
Wir haben auch beim BAföG den Anteil übernom-men, den die Länder bisher gezahlt haben: Milliardenbe-träge . Dann haben wir uns darauf verständigt, dass diesesGeld wieder in die Hochschulen, aber mindestens in dieBildungspolitik zurückfließt. Einige Bundesländer habengesagt, dass es sie gar nicht interessiere, was vereinbartwurde, und haben das Geld für Kitas und anderes zurVerfügung gestellt . Deswegen sage ich: Es muss ein Zielbei den Bund-Länder-Finanzverhandlungen sein, dasswir auch kontrollieren können, ob das Geld, das wir vomBund geben, so eingesetzt wird, wie es vereinbart war . Esdarf nicht jeder einfach machen, was er will . So könnenwir nicht arbeiten .
Von der SPD wird verlangt: Schafft das Kooperations-verbot in der Bildung ab . Daraufhin sagen alle: Jawohl,wunderbar. Dann kommt der Ruf an den Bundesfinanz-minister: Dafür wollen wir Mehrwertsteuerpunkte . – Ichbin mir ganz sicher, bei der nächsten Haushaltsdebattekommen Sie und sagen: Jetzt brauchen wir dringend nochGeld für die Ausstattung der Grundschulen, der Universi-täten . – Da das nicht geht, können wir diesen Weg nichtgehen . Wir sind bereit, zu reden . Aber dann muss klarsein, dass die Vereinbarung, wofür Geld eingesetzt wird,auch gilt, liebe Kolleginnen und Kollegen .
Das ist eine Strukturveränderung, die wir umsetzen müs-sen .Natürlich bleibt die Integration das große Thema . Hiermachen Menschen Erfahrungen in ihrem engsten Um-feld . Da mag das eine übertrieben sein, und da mag das,was erzählt wird – auch bei uns in den Bürgersprechstun-den –, nicht immer repräsentativ sein, aber die Menschenmachen die Erfahrungen, dass bei der Integration nichtalles so richtig funktioniert. Ich finde, dass wir nicht zu-erst darauf schauen müssen, was die anderen zu erfüllenhaben, vielmehr müssen wir selbstbewusst formulieren,was wir wollen, was in unserem Land gelten soll, wieunser Land aussehen soll . Dann sagen wir: Das müssenauch diejenigen erfüllen, die zu uns kommen .
Hier höre ich Gott sei Dank Töne, die früher, wenn ichsie geäußert hätte, wahrscheinlich Anlass zu ernsten Dis-kussionen gegeben hätten . Mit Genehmigung des Präsi-denten – – Oh, der Präsident, der mich gestern gerügt hat,ist nicht da .
Mit Genehmigung der Präsidentin bringe ich jetzt einZitat:Wir sprechen von einer Wertegemeinschaft, nichtvon einer Gesinnungsgemeinschaft . Doch wennman dieses Land verachtet oder für moralisch min-derwertig hält: Warum sollte man dann hier lebenwollen? Das Zusammenleben von Menschen ver-schiedener Herkunft, Religion und Kultur verlangtallen Anpassungsleistungen ab … Wenn wir errei-chen wollen, dass problematische Haltungen undVerhaltensweisen hinterfragt werden, dann müssenwir unseren Standpunkt begründen und dies auchden Kindern in Schule und Alltag pädagogisch ver-mitteln . Dazu gehört auch, die Grenzen der Reli-gionsfreiheit anzuerkennen, etwa wenn es um denVorrang des staatlichen Bildungsauftrags und dieTeilnahme aller Kinder am Schwimmunterrichtgeht .Volker Kauder
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Cem Özdemir im August in der Frankfurter AllgemeinenSonntagszeitung.Genau dies verlangen wir immer wieder . Nach diesemBeitrag erwarte ich Unterstützung für unsere Auffassung,dass es in unseren Schulen nur ein einziges Recht gibt,und zwar für alle . Und das muss nicht vom DeutschenBundestag, sondern von den Schulbehörden der Länderumgesetzt werden, liebe Kolleginnen und Kollegen .
Es muss also klar sein, dass Anpassungsleistungen not-wendig sind . Ich stimme da Cem Özdemir voll zu .Es ist offenbar schon ein bisschen hilfreich, in Regie-rungsverantwortung zu stehen und zu merken, was mantun muss . Ich erwarte, dass dies in Baden-Württembergjetzt auch zügig vorangeht . Ich erwarte auch ganz klar,dass Religionsfreiheit in unserem Land gilt, dass sie abernatürlich auch unter dem Grundgesetz steht . Das gilt füralle . Wir sind kein Gottesstaat und wollen es auch nichtwerden .
Deutschland – so hat es das Bundesverfassungsgerichtformuliert – ist ein weltanschaulich neutraler Staat . Erist nicht wertneutral – die Werte kommen aus der christ-lich-jüdischen Tradition und dem Grundgesetz –, aber erist weltanschaulich neutral . Weil er weltanschaulich neu-tral ist, werden Urteile im Namen des Volkes verkündet .Deswegen sind diejenigen, die diesen weltanschaulichneutralen Staat vertreten – als Persönlichkeiten im Ge-richtssaal, an Schulen –, gehalten, diese Neutralität zuzeigen, deswegen haben in solchen Funktionen Kopftuchund andere Religionsbezeugungen keinen Platz, meinesehr verehrten Damen und Herren .
Punkt, aus, Ende . Das hat mit dem weltanschaulich – –Ja, ja, Frau Roth, ich sehe schon, wie Sie sich ob dieserAussage schon wieder leicht erregen . Da kann ich nursagen: Reden Sie mit Ihrem Kollegen Cem Özdemir, derrecht hat, wenn er sagt, Religionsfreiheit muss sich dann,wenn es einen staatlichen Grund gibt, unterordnen . Dasist ein wichtiger Punkt, und deswegen sage ich, das mussdurchgesetzt werden .Wir müssen nicht ständig darüber reden, was alles ge-macht werden muss . Vielmehr müssen die Dinge, überdie man sich nach dem Beitrag von Cem Özdemir einigist, jetzt mal kommen – damit die Menschen in ihremAlltag erleben: Da tut sich etwas, da lässt man nicht ein-fach nur alles laufen .
Dafür, dass sich etwas tut, haben wir in dieser Koalitiongute Beispiele gegeben; es wird weitergehen . Ich erwartenun, dass sich da auch im Bundesrat etwas tut .
– Herr Kretschmann wird sicherlich mit seinen Grünenreden . Das ist ja auch seine Aufgabe als Ministerpräsi-dent dieses großen Landes Baden-Württemberg . Ich binmir in der Frage, was im Bundesrat passieren muss, mitHerrn Kretschmann völlig einig, muss ich sagen .
– Ja gut, Frau Kollegin, Sie waren sich mit ihm ja auchso lange einig, bis Sie in die Opposition gehen mussten .Deswegen sollten Sie jetzt hier nicht so eine Diskussionführen . Das ist ein klarer Fall .Ich komme noch ganz kurz zur Erbschaftsteuer, weilsie für die Wirtschaftskraft unseres Landes ein ganzwichtiger Punkt ist . Herr Bartsch,
Sie haben hier erklärt, wir sollten uns mal die Erbschaft-steuer aus Amerika anschauen .
– Ja, ja . Ich sage Ihnen jetzt, was man hier lernen kann . –Die Erbschaftsteuerregelung in den Vereinigten Staatenhat dazu geführt, dass es dort keine familiengeführtenmittelständischen Unternehmen mehr gibt . Das ist dasErgebnis der dortigen Erbschaftsteuerregelung; denndort wird alles wegbesteuert, was in einem Familienbe-trieb gebraucht wird .
Deswegen ist Ihr Hinweis völlig daneben . Nein, wirbrauchen eine Erbschaftsteuer – ich hoffe, dass das dieGrünen mittragen –,
die einen Teil des Geldes in den Betrieben lässt, damit sieArbeitsplätze schaffen und sich dem Wettbewerb stellenkönnen . Dieses Geld soll anders behandelt werden alsdas, was herausgenommen wird, um sich beispielsweiseeine Segelyacht zu kaufen .
Das ist der Punkt . Darum muss es gehen, und da sindwir uns doch auch einig . Deshalb sollten wir jetzt schnelleine Lösung finden.Ich kann nur den Hinweis geben: Ich mache mir großeSorgen, dass, wenn wir jetzt im Bundesrat nichts hinkrie-gen, sich dann das Bundesverfassungsgericht aufgerufenfühlt, eine Lösung zu finden.
Das wäre allemal schlechter als das, was wir hier machenkönnen . Es liegt doch nicht an uns!
Wir haben im Deutschen Bundestag eine Lösung gefun-den . Wir haben ein Gesetz beschlossen . Stimmen SieVolker Kauder
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dem im Bundesrat doch einfach zu, dann ist alles in Ord-nung . So einfach ist die Sache . Sie im Bundesrat sind dasProblem, nicht der Deutsche Bundestag .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Vorgänge vomvergangenen Wochenende in Mecklenburg-Vorpommernhaben uns alle bewegt . Wenn wir daraus die richtigenSchlüsse ziehen, werden wir auch wieder andere Er-gebnisse erzielen, was gut für die Menschen in unseremLand wäre .Uns, der Großen Koalition, rate ich, dass wir im letz-ten Jahr dieser Großen Koalition den Beweis dafür er-bringen,
dass wir in der Lage sind, unserem Land eine gute Regie-rung zu stellen, dass wir die Arbeit machen, die von unsverlangt wird und die wir uns vorgenommen haben,
dass wir nicht Anlass geben, dass draußen in unseremLand die Menschen sagen: Die leisten sich nur noch Dis-kussionen . – Denn dadurch geht unter, was wir machen:eine gute Arbeit, um unser Land voranzubringen .
Dieser Bundeshaushalt ist dafür ein beredtes Beispiel .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächster Redner
hat Johannes Kahrs von der SPD-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Wir haben zwei Fraktionsvorsitzendeder Großen Koalition gehört . Wir haben gesehen: Beidekommen aus unterschiedlichen Parteien. Ich finde das inOrdnung, so muss das sein . Wir stehen ja nicht als Koali-tion auf dem Wahlzettel . Gleichzeitig hat man aber auchgehört, dass diese Koalition viel geschafft hat und nochviel schaffen wird. Herr Kauder, Sie haben vollkommenrecht: Kein Mensch braucht ein Jahr Wahlkampf in die-sem Land . Keiner von uns hat das vor .
Ich glaube, das, was wir gezeigt haben, das, was wir ge-macht haben, spricht für diese Große Koalition .
Ich habe mir angehört, was Herr Bartsch und FrauGöring-Eckardt hier so zum Besten gegeben haben . Siehaben gemahnt, diese Koalition möge sich weniger strei-ten, möge mehr arbeiten, möge nicht so viel Randale ma-chen .
Ehrlich gesagt: Ich kann mich noch an die Zeit von Rot-Grün erinnern . Das ist vielleicht der Nachteil, wenn manlänger dabei ist . Ich habe mich auch daran erinnert, wiewir mit den Grünen zusammengearbeitet haben . Ehrli-cherweise kann ich nicht behaupten, dass es da wenigerStreit gegeben hat .
Ich kann nicht behaupten, dass es weniger unterhaltsamgewesen ist; über Herrn Bartsch möchte ich da nicht all-zu viel sagen . Es ist doch einfach so, dass Streit in einerKoalition dazugehört .
Wesentlich ist, was am Ende an Sachpolitik heraus-kommt .
Und wenn man sich das anguckt, stellt man fest, dassdas beachtlich ist: Wir haben zusammen mit der CDU/CSU einen Mindestlohn in diesem Land beschlossen; ichglaube, das ist eine gute Sache . Wir haben das ElterngeldPlus, die Familienpflegezeit, eine Frauenquote und mehrGeld für Bildung beschlossen . Wir haben mehr Geld fürBAföG ausgegeben . Wir haben im Bereich Wohnen dieMietpreisbremse durchgesetzt, ein höheres Wohngeldund mehr Mittel für die Städtebauförderung beschlossen .Die Mittel für das Programm „Soziale Stadt“ haben wirverdoppelt und verdreifacht . Wir haben ein Rentenpaketdurchgesetzt: Rente mit 63, Mütterrente und Verbesse-rungen bei der Erwerbsminderungsrente . Wir habendie Kommunen um viele Milliarden entlastet – wir ha-ben das heute schon angesprochen –: Für den Bau undBetrieb von Kitas stellen wir 750 Millionen Euro mehrzur Verfügung; es gibt 140 Millionen Euro für die Sa-nierung kommunaler Einrichtungen in den BereichenSport, Jugend und Kultur; wir haben einen kommunalenInvestitionsfonds aufgelegt . Im Bereich Flüchtlinge ha-ben wir zur Bekämpfung von Fluchtursachen viel Geldausgegeben, auch für Integrationskurse und Sprachkurse,damit die Sprachlehrer anständig bezahlt werden . Wirhaben 10 000 neue Stellen im Bundesfreiwilligendienstgeschaffen. Wir haben Geld ausgegeben für Krisenprä-vention und humanitäre Hilfe . Wir haben 3 000 neueStellen für die Bundespolizei beschlossen, und wir habenein 10-Milliarden-Euro-Paket für ZukunftsinvestitionenVolker Kauder
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und 5 Milliarden Euro für zusätzliche Investitionen in dieVerkehrsinfrastruktur beschlossen .Ernsthaft, nennen Sie mir eine andere Koalition in denletzten 30 Jahren, die mehr beschlossen hätte .
Wir haben das hier als Große Koalition hingekriegt . Esist immer so, dass es dann auch einmal rumst, kracht unddonnert – ich bin da auch nicht schüchtern –;
aber dort, wo gearbeitet wird, in den Ausschüssen undin den Fraktionen – da kann ich den Kollegen EckhardtRehberg nicht genug loben; ich weiß nicht, ob dir dasin der CDU nützt oder schadet; da bin ich mir nicht si-cher –, arbeiten wir im Endeffekt wunderbar zusammen.Es ist eine helle Freude für Herrn Schäuble, dass dieserAusschuss so wunderbar mit ihm zusammenarbeitet . Dasheißt, wir haben drei Jahre lang eine saubere, eine guteSacharbeit abgeliefert . Das ist gut für die Menschen indiesem Land .
Herr Kauder hat ja gesagt, wir sollen jetzt nicht einJahr lang Wahlkampf machen . Ehrlicherweise muss ichsagen: Auch ich bin dieser Meinung . Wir haben zum Bei-spiel noch das Bundesteilhabegesetz: Die parlamentari-schen Beratungen stehen vor der Tür . In der Ausbaustufehaben wir 700 Millionen Euro vorgesehen . Das gefälltnicht allen, weil das nicht reicht. Ich finde, wir können danoch eine Schippe drauflegen.
Wir haben ja gerade gehört, wie die finanzielle Lageaussieht. Ich würde es gut finden, wenn wir dieses Bun-desteilhabegesetz, dessen Beschluss wir verabredet ha-ben, durchsetzten .Zur Rentenangleichung Ost und West: Es ist eben kri-tisiert worden, dass sie nicht kommt . Wenn sie kommt,dann soll aber nur der Teil kommen, der gut ist, und der,der nicht so gut ist, vielleicht lieber nicht . Die Frau Bun-deskanzlerin hat eben sehr klar und sehr deutlich gesagt,dass sie das nicht in Ordnung findet, dass sie die Anglei-chung haben will . Ernsthaft gesagt: Dann soll sie sie krie-gen .
Ich glaube, die Angleichung der Renten in Ost und Westmuss kommen . Das wollen wir, und wir werden das auchumsetzen .
Zur solidarischen Lebensleistungsrente: Wir habendas in der Koalition abgesprochen . Sie soll kommen . Daswird umgesetzt .Zum Gesetz gegen Missbrauch von Leiharbeit undWerkverträgen laufen die parlamentarischen Beratungen .Wir gehen davon aus: Es kommt .
Wenn man sich den ganzen Bereich der Erbschaft-steuer und der Bund-Länder-Finanzbeziehungen an-schaut, muss man sagen: Natürlich ist das schwierig .Herr Kauder hat das ja eben durchdekliniert und gezeigt,warum so etwas schwierig sein kann . Die Länder habenInteressen . Was für ein Wunder! Hessen hat ein paar In-teressen, Baden-Württemberg auch; wir Hamburger sindnatürlich selbstlos .
Es ist also nur natürlich, dass es Interessen gibt . Ich binmir aber sicher: Man wird sich einigen . Im Kern wollenwir nämlich alle, dass die Reform kommt . Man muss nuraufpassen, dass es keine artfremden Koppelungsgeschäf-te – Bundesfernstraßengesellschaft und anderes – gibt .Jedenfalls brauchen wir am Ende eine Einigung . Wir ha-ben morgen ja ein entsprechendes Treffen mit den Län-dern, und nach der Rede von Herrn Kauder sind sie guteingestimmt .Die bessere Ausstattung der Bundespolizei undder Sicherheitsbehörden ist hier angekündigt worden .3 000 Stellen haben wir beschlossen . Ich gehe davon aus,dass 3 000 weitere kommen, vielleicht sogar noch mehr .Ich glaube, dass man in dem Bereich viel tun muss . Es istwichtig, dass die Polizei, die Bundespolizei, das Bundes-kriminalamt und der Zoll gestärkt werden . Man muss inbestimmten Bereichen klare Kante zeigen: gegen rechteGewalt, gegen linke Gewalt . Da darf man keine Unter-schiede machen . Gewalt hat in jedem Fall mit staatlicherAutorität beantwortet zu werden .
Andrea Nahles wird im Herbst ein Reformkonzeptfür die Rente vorstellen . Wichtig für uns ist eine Stär-kung der Betriebsrenten . Wir wollen die Wirkung derMietpreisbremse und die Situation der Alleinerziehendenverbessern . Wir haben noch ein Jahr . Ehrlich gesagt, wirhaben schon verdammt viel geschafft. Wenn man sich an-schaut, dass die Opposition hier immer über Streit redet,über das Verhältnis zur Türkei und über andere Dinge,muss ich sagen: Man kann auch ablenken . Die Situationder Menschen in diesem Land, die Situation derer, diehier arbeiten und Steuern zahlen, die Situation der Un-ternehmen ist gut .
Wir haben eine grundsätzlich gute Lage in diesem Land .Wenn man sich dann mit der AfD und denen, diesie gewählt haben, auseinandersetzt, dann kommt manmit Argumenten ganz häufig nicht weit. Man kann denAfD-Wählern immer sagen: Die wollen, dass ihr bis 70arbeitet . Die wollen, dass ihr weniger Rente bekommt .Die wollen den Mindestlohn abschaffen. – Sie antwor-ten dann immer: Na ja, aber die sind auch gegen Aus-länder . – Im Kern ist es einfach so: Die AfD ist nicht aufder Sachebene unterwegs . Sie appelliert an den innerenSchweinehund, Frust, Neid, Angst, Missgunst,
Johannes Kahrs
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und all das auf einer niedrigschwelligen Ebene . Da wirdschlechte Laune geschürt . Die Situation in diesem Landist nicht so . Das Einzige, das man da tun kann, ist saubereSacharbeit, die Situation zu verbessern, die Dinge, diewir beschlossen haben, aufzuzählen .Ich würde mich freuen, wenn wir in dem verbleiben-den Jahr all das umsetzen, was ich angesprochen habe .Herr Schäuble hat angekündigt, er möchte Anfang dernächsten Legislaturperiode eine Steuerreform umsetzen .Man muss ernsthaft fragen – auch Herr Oppermann hatschon darauf hingewiesen –: Warum müssen wir immermit so etwas warten?
– Herr Kollege Kauder, Sie wissen, dass ich Sie wirklichschätze . Ich glaube auch, dass Sie ein sehr guter Frakti-onsvorsitzender sind
und dass Sie in dieser Frage recht haben . Aber es gehtauch anders . Hätten Sie meinem Fraktionsvorsitzendenzugehört, dann wäre Ihnen aufgefallen, dass wir, obwohldie Länder da Probleme machen, vielleicht eine Steuerre-form hinbekommen, indem wir über Freibeträge gehen .Wenn wir über Freibeträge bei den Sozialabgaben gehen,dann brauchen wir die Länder da weniger . Deswegen istdas durchaus möglich .Lassen Sie uns das Thema einfach angehen . Warummüssen wir immer warten? Die CDU/CSU hat schonviele Legislaturperioden lang eine Steuerreform ange-kündigt . Die Einzigen, die eine Steuerreform umgesetzthaben, waren Rot-Grün, Gerhard Schröder mit Hans Eichel .
Wenn wir so etwas auch nur zur Hälfte hinbekommen,würde man uns in diesem Land feiern .Zum Abschluss eine Bitte, Frau Merkel . Es gibt soviele Dinge, die wir schaffen. Wir reden immer darüber,dass die Menschen nicht in ein reiches Land einwandern,sondern in eine Wertegesellschaft . Auch Herr Kauder hatheute von Werten gesprochen, die es wert sind, durch-gesetzt zu werden . Einer der Kandidaten für die Spit-zenkandidatur bei den Grünen hat Ähnliches formuliert,auch wenn die Grünen da nicht klatschen wollten . Ichglaube, man muss diese Werte in diesem Land auch um-setzen . Deswegen wäre es für mich wichtig, dass wir dieÖffnung der Ehe in dieser Legislaturperiode hinbekom-men .
Ich würde das gerne mit Ihnen machen . Ich glaube, dassdas richtig und gut wäre . Dann stehen wir zu den Werten,die wir immer verkünden . Uns hätten Sie an Ihrer Seite,Frau Merkel .Vielen Dank .
Als nächste Rednerin spricht Gerda Hasselfeldt für die
CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wenn wir in diesen Tagen mit den Menschen reden, dannerleben wir Zweierlei: Wir erleben, dass sie sehr wohlregistrieren, dass es uns in Deutschland gut geht, dasssie sehr wohl registrieren, dass die Beschäftigungslagenoch nie so gut war wie jetzt . Die Arbeitslosigkeit ist soniedrig wie seit 25 Jahren nicht mehr . Die Preise sind sta-bil . Die Reallöhne sind gestiegen . Das alles ist nicht nurgefühlt, sondern das ist Realität in unserem Land .
Das alles ist nicht auf Pump erreicht worden, sonderndurch einen seit Jahren soliden Bundeshaushalt . Es gabnoch nie eine Bundesregierung, die während einer gan-zen Legislaturperiode keine neuen Schulden gemachthat . Diese Bundesregierung handelt danach, meine Da-men und Herren .
– So ist es, Herr Kahrs .Das Ganze ist aber kein Selbstzweck – ich sage dasnicht, damit es auf dem Papier steht –, sondern wir ma-chen das deshalb, weil wir uns unserer Verantwortung ge-genüber unseren Kindern und Enkelkindern, gegenüberdenen, die nach uns kommen, voll bewusst sind . Das istverantwortungsvolle, nachhaltige Politik, die auch diesenHaushalt prägt .
Wir erleben ein Zweites . Wir erleben die Sorgen undÄngste der Menschen, die ganz unterschiedlich, abernachvollziehbar sind: Sorgen und Ängste, die sich aufdie Globalisierung, auf Veränderungen in der Arbeits-welt, auf die Digitalisierung, auf Veränderungen nichtnur im Arbeitsbereich, sondern auch im Alltag beziehen,und Sorgen und Ängste, die sich aus den Kriegen in vie-len Teilen der Welt und aus Krisen ergeben, was in derKonsequenz dann auch in der hohen Zahl der Flüchtlingezum Ausdruck kommt .Viele Menschen stellen sich die Fragen: Wie gehenwir damit um? Wie bewältigen wir das? Können wirunsere Sicherheit und unseren Wohlstand auch künftighalten? Können wir das, was wir erarbeitet haben, an un-sere Kinder weitergeben? Können wir unsere Werte unddie Art und Weise, wie wir gewohnt sind, miteinanderJohannes Kahrs
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zu leben, weitergeben? Meistens erwarten die Menschenauf diese Fragen schnelle Antworten; viele erwarten aucheinfache Antworten . Ich denke, liebe Kolleginnen undKollegen, es liegt an uns, an den verantwortlichen Po-litikern, deutlich zu machen: Auf solche Fragen kann eskeine einfachen und schnellen Antworten geben, sonderndarüber muss ein bisschen mehr nachgedacht werden,und es muss auch ein Stück weit um die richtige Antwortgerungen werden . Aber wir müssen um die richtige Ant-wort ringen .
Das tun wir auch . Die erste Antwort lautet zweifel-los: Gerade in diesen Zeiten der Unsicherheit ist es not-wendig, dass wir unsere solide Haushaltspolitik mit ganzkonkreten Investitionen in die Zukunft fortsetzen . Dazubrauchen wir keinen Kurswechsel, sondern wir müssendas, was wir in dieser Legislaturperiode schon gemachthaben, einfach fortsetzen .Ich nenne im Hinblick auf die Investitionen nur zweiBereiche: Der erste ist der Bildungs- und Forschungssek-tor, der zweite sind die Infrastrukturinvestitionen . Wirhaben den Ansatz im Bildungs- und Forschungsbereichseit 2005 mehr als verdoppelt . Wenn ich von Bildungund Forschung rede, dann meine ich nicht nur die Ex-zellenzinitiative, die Universitäten und die Gymnasien,sondern den gesamten Bildungsbereich, beispielsweiseauch das Meister-BAföG . Denn Bildung beginnt nichterst mit dem Abitur und dem Studium, liebe Kolleginnenund Kollegen, sondern Bildung hat auch ein Hauptschü-ler, und Bildung hat auch ein Mensch mit mittlerem Bil-dungsabschluss . Das sollte nicht vergessen werden .
Der Bundesverkehrs- und -infrastrukturminister hatin dieser Legislaturperiode einen Investitionshochlaufgestartet, der heute überall spürbar ist . Es gibt viele not-wendige Baustellen . Wir haben mit der Vorlage des Bun-desverkehrswegeplans eine gute Grundlage für die wei-tere Ertüchtigung unserer Verkehrsinfrastruktur .
Ähnliches erleben wir beim Ausbau der Breitbandinfra-struktur . Das wird fortgesetzt .Ein Drittes will ich allerdings auch noch ansprechen:Nicht nur das, was notwendig ist an Unterstützung fürdie Länder und Kommunen, haben wir getan, sondernkeine Regierung, wirklich keine Bundesregierung in derVergangenheit hat so viel für die Länder und Kommunenausgegeben bzw . ihnen wieder zurückgegeben wie dieseBundesregierung, liebe Kolleginnen und Kollegen .
Es war sogar so viel, dass in manchen Bereichen, wiebeispielsweise beim Kitaausbau oder auch bei der Hilfefür die notleidenden Kommunen, das zur Verfügung ge-stellte Geld bislang überhaupt noch nicht voll abgerufenwurde und die Laufzeit verlängert werden musste, meineDamen und Herren .Dies macht deutlich, dass wir hier eine großartigeLeistung vollbracht haben . Diese ist aber nicht umsonst,sondern ich sage ganz bewusst – ich stehe auch dazu –:Unsere Kommunen müssen in die Lage versetzt wer-den, ihre Aufgaben zu erfüllen, aber sie müssen sie ih-rerseits auch erfüllen . Es kann nicht sein, dass der Bundbeispielsweise noch mehr von dem übernimmt, was dieKommunen übernehmen sollen, etwa bei der Zurverfü-gungstellung von Grundstücken für den Wohnungsbau .Man kann nicht vom Bund mehr Geld für den Wohnungs-bau fordern, wenn man vor Ort die planungsrechtlichenGrundlagen nicht liefert, um tatsächlich mehr Wohnun-gen bauen zu können .
Gute Grundlagen zu legen im wirtschaftlichen Be-reich, das hängt auch mit der Steuerentlastung zusam-men . Gott sei Dank haben wir eine Haushaltssituation, inder wir in der nächsten Legislaturperiode Steuerentlas-tungen vornehmen können . Es ist schon viel dazu gesagtworden . Ich will noch darauf hinweisen, dass neben denEntlastungen im Einkommensteuerbereich bei den mitt-leren und unteren Einkommen meines Erachtens auchder Abbau des Solidaritätszuschlags ab 2020 notwen-dig und geboten ist . Auch das gehört zu einer sinnvollenSteuerentlastung .
Genauso gehört die Erbschaftsteuer dazu . Also, an derCSU hat es nicht gelegen, das will ich schon einmal deut-lich machen; das ist vorhin ja so ein bisschen durchge-klungen . Wir haben im Deutschen Bundestag gemeinsameinen Gesetzentwurf verabschiedet . Das Gesetz ist imBundestag mit den Stimmen der Großen Koalition ver-abschiedet worden, und im Bundesrat ist es dann nichtangenommen worden .
– Wir haben sehr wohl die Verfassungsvorgaben mitbeachtet . – Meine Damen und Herren, das ist nicht einPeanut, sondern das ist eine ganz wesentliche Angele-genheit; denn unsere gute wirtschaftliche Entwicklunghängt mit der Struktur unserer Unternehmen zusammen .Wenn wir nicht so gut funktionierende große und kleineFamilienunternehmen bei uns hätten, würde die Arbeits-marktsituation ganz anders aussehen, als es der Fall ist .
Außer zu der wirtschaftlichen Entwicklung habenwir aber noch eine zweite Antwort zu geben, nämlichdie Antwort darauf: Wie gewährleisten wir die Sicher-heit unserer Bürger? Die Anschläge in Deutschland, aberauch in einigen europäischen Städten haben uns ja deut-lich gemacht, dass die Terrorgefahr nicht gebannt ist . DieMenschen erwarten zu Recht von uns, dass wir alles inunserer Macht Stehende tun, um Anschläge zu verhin-dern . Deshalb möchte ich zunächst einmal allen, die inGerda Hasselfeldt
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den Sicherheitsbehörden bzw . als Sicherheitskräfte beiuns arbeiten, großen Dank und hohe Anerkennung aus-sprechen für ihre Arbeit für uns und unsere Sicherheit .
Was ist zu tun? Wir haben die Grundlagen dafür ge-legt, und zwar nicht erst in diesem Haushalt, sondernauch schon sukzessive in den vergangenen Jahren, diePersonalausstattung der Bundessicherheitsbehörden zuverbessern, und wir tun dies mit diesem Haushalt nocheinmal zusätzlich . Es ist schon schön zu erfahren, dassdiejenigen, die sich bisher um die Polizisten und die Po-lizeistellen – in den Ländern beispielsweise – nicht nurnicht gekümmert haben, sondern die Stellen auch nochabgebaut haben, jetzt auf einmal ihre Liebe zur Polizeientdecken. Das ist ja gut; es ist erfreulich. Hoffentlichhält das, und hoffentlich trägt es auch Früchte dort, wosie in der Verantwortung sind, nämlich in den entspre-chenden Ländern .
Neben der Personalausstattung geht es aber auch umeine adäquate Sachausstattung und um entsprechendeBefugnisse der Sicherheitsbehörden .
Vielleicht müssen wir an der einen oder anderen Stelle,beispielsweise bei der Vorratsdatenspeicherung, nocheinmal überlegen, ob das, was gemacht wurde – dasmöchte ich nicht schmälern –, ausreicht oder ob wir danoch einen Nachbesserungsbedarf haben .Darüber hinaus geht es auch um eine bessere Vernet-zung der Behörden in Bund und Ländern und im euro-päischen Bereich . Wir haben keinen Mangel an Daten,aber wir haben zu wenige Verknüpfungen dieser Daten .Wenn wir die Daten schon haben, dann müssen auch alleSicherheitsbehörden in der Lage sein, mit diesen Datenzu arbeiten .
Daneben haben wir natürlich auch noch eine dergrößten Herausforderungen in diesen Jahren zu bewäl-tigen, nämlich die Flüchtlingsströme . Das ist von Ihnenja mehrfach angesprochen worden . Ich glaube, im ver-gangenen Jahr ist uns allen deutlich geworden, dass dieAufnahmekraft und die Integrationskraft unseres LandesGrenzen haben . Für uns in der CSU war von Anfang anklar und ist auch heute noch klar, dass der Dreiklang auserstens Humanität, zweitens Begrenzung und drittens In-tegration gleichwertig gilt .
Was die Humanität betrifft, haben gerade wir in Bay-ern gezeigt, wozu wir in der Lage sind .
Das war ein großartiges Beispiel von ehrenamtlichemund hauptamtlichem Engagement der Menschen .
Bei den anderen Aufgaben sind wir nicht nur weitgekommen, sondern haben auch sehr viel erreicht, undzwar gemeinsam: Die Flüchtlingszahlen sind deutlichzurückgegangen, die Zahl der freiwilligen und der staat-lichen Rückführungen ist gestiegen, Fehlanreize wurdenreduziert, das BAMF wurde deutlich besser ausgestattet,wir haben mittlerweile eine vollständige Registrierung,der Flüchtlingsausweis wurde eingeführt und vieles an-dere mehr . Nicht zu vergessen ist daneben, dass die Kom-munen und Länder auch hierfür eine deutliche finanzi-elle Unterstützung erhalten haben, wozu ich auch stehe .Das sollte man aber auch nicht verschweigen . Wir habendeutlich gemacht: Es ist die gemeinsame Aufgabe allerpolitischen Ebenen, damit zurechtzukommen .
Wir haben ein Integrationsgesetz verabschiedet . Zudiesem Integrationsgesetz gehören nicht nur Geld, Kur-se und Maßnahmen zur Integration in den Arbeitsmarkt,sondern wir müssen uns hier auch mit manchen Sorgender Menschen und der Frage auseinandersetzen, wie wirdie Integration in die Gesellschaft erreichen . Ich unter-streiche alles, was Volker Kauder zu diesem Thema –auch mit dem Zitat von Cem Özdemir – vorhin gesagthat; denn das hat deutlich gemacht, dass dies ein ganzwichtiger Teil unserer Gesellschaftspolitik sein wird, dernicht mit einem Federstrich zu erledigen ist .Ich will an einem Beispiel deutlich machen, was esbedeutet, sich in unsere Gesellschaft zu integrieren, undzwar am Beispiel der Vollverschleierung . Ich weiß sehrwohl, dass dies kein Massenphänomen ist, aber täuschenwir uns nicht: Für die Bevölkerung ist das ein ernsthaf-tes Problem . Auf die Frage, wie sie sich dazu verhalten,sagen 80 Prozent der Menschen in Deutschland: Wirwollen keine Vollverschleierung . – Da kann man nichteinfach sagen: Das interessiert uns nicht . Das ignoriereich . – Vielmehr muss man sich auch über die Gründe Ge-danken machen . Die Gründe sind: Es passt nicht in unse-re freie Gesellschaft, wenn man sich nicht in das Gesichtsehen kann .
Das widerspricht der Gleichberechtigung der Frauen .
Das passt nicht zur Integration . Im Gegenteil: Das ist einIntegrationshindernis . Das muss man doch sagen undauch entsprechende Vorschläge machen dürfen .
Die Innenminister der Union haben Vorschläge ge-macht, in begrenztem Rahmen eine Einschränkung vor-zunehmen, etwa im öffentlichen Bereich, im schulischenBereich, im Hochschulbereich und auch vor Gerichten .Ich glaube, wir sollten dies ohne Schaum vor dem MundGerda Hasselfeldt
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angehen, dabei aber auch die Sorgen der Menschen res-pektieren und das Ziel einer wirklichen Integration derMenschen anstreben .Meine Damen und Herren, nicht allein dieses Themadarf uns beschäftigen . Neben den ökonomischen Fragenund den Sicherheitsfragen, neben der großen Aufgabeder Flüchtlingsbewältigung geht es auch darum, die so-ziale Balance in unserem Land zu halten . Da haben wirin dieser Legislaturperiode schon eine ganze Menge anEntscheidungen getroffen: im Pflegebereich, im Gesund-heitsbereich, in der Integration, am Arbeitsmarkt . Wirsind jetzt dabei, im Bereich der Altersversorgung, imBereich des Bundesteilhabegesetzes – dabei geht es umLeistungen für Menschen mit Behinderungen – das Not-wendige zu tun . Da sind wir auf einem sehr guten Weg,wie ich meine .
In den nächsten Wochen und Monaten werden wir in derKoalition zu konkreten Ergebnissen kommen .Das alles zeichnet diesen Haushalt 2017 aus . DieserHaushalt ist von Stabilität und Sicherheit geprägt, vonSolidität und Solidarität . Dieser Haushalt ist geprägt vonder Verlässlichkeit über die ganze Legislaturperiode hin-weg . Er ist eine ausgezeichnete Grundlage zur Bewälti-gung der Herausforderungen, die wir aktuell haben .
Bettina Hagedorn hat als Nächste für die SPD-Frakti-
on das Wort .
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir sind hier in
der Debatte zum Etat der Bundeskanzlerin . Auch wenn
sie möglicherweise gerade gegangen ist, will ich doch
mit der Frage anfangen, die sie uns allen heute Morgen
in ihrer Rede gestellt hat: Welches Land wollen wir sein?
Diese Frage, die sie auch mit Blick auf die Ergebnisse
vergangener Landtagswahlen, die uns alle beunruhigen
und bei denen alle vier hier im Bundestag vertretenen
Parteien Verluste erlitten haben, möchte ich gerne beant-
worten .
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir müssenVertrauen zurückgewinnen . Dazu brauchen wir Ehrlich-keit . – Das stimmt . Wir brauchen gerade Linien . Darummöchte ich mit einem Zitat der Kanzlerin vom Juni 2009auf dem Deutschen Seniorentag zur Rentenangleichungbeginnen:Ich stehe dazu, dass wir eine solche Angleichungvon Ost und West brauchen . Ich würde, wenn Siemich nach dem Zeitrahmen fragen, sagen, dass dasThema in den ersten beiden Jahren der nächsten Le-gislaturperiode erledigt sein wird .Das wäre übrigens 2011 gewesen . Im Koalitionsvertragvon CDU, CSU und FDP von 2009 steht:Das gesetzliche Rentensystem hat sich auch in denNeuen Ländern bewährt . Wir führen in dieser Legis-laturperiode ein einheitliches Rentensystem in Ostund West ein .Wenn wir jetzt über verlorengegangenes Vertrauensprechen und darüber, dass wir Zeichen setzen wollen,dann möchte ich daran erinnern, dass wir in unserem Ko-alitionsvertrag uns gegenseitig in die Hand versprochenhaben, 30 Jahre nach der deutschen Einheit die Anglei-chung der Renten in Ost und West in einem Stufensystemzu erreichen. Ich finde, Frau Merkel, dieses Wort müs-sen wir halten . Als die Bundeskanzlerin und später auchThomas Oppermann Dietmar Bartsch widersprochenhaben, als es um die Höherbewertung ging, die dannselbstverständlich entfallen muss, haben Sie am Beifallder SPD und der CDU/CSU in diesem Haus gemerkt:In der Sache, wie wir das gestalten wollen, sind wir unsin dieser Großen Koalition einig . Es geht aber um eineneinzigen Punkt – darum gehört das in diese Debatte –: Esgeht um die Finanzierung .Bei dem Konzept von Andrea Nahles, zu dem sie mitdem Koalitionsvertrag beauftragt worden ist, geht es um1,8 Milliarden Euro für 2018 und ab 2020 um 3,9 Milli-arden Euro pro Jahr . Dazu hat Andrea Nahles – aus mei-ner Sicht und aus Sicht der SPD natürlich vollkommenzu Recht – gesagt: Das ist eine gesamtgesellschaftlicheAufgabe . Wir sind über alles, was diese Reform angeht,etwa das Tempo, gesprächsbereit . Aber eine Sache istnicht verhandelbar, und das ist die Frage der Finanzie-rung .Wenn das Ministerium von Herrn Schäuble, wie inder Zeitung Die Welt am 28 . Juli berichtet wird, mitteilt,daher sei die Gegenfinanzierung unmittelbar, vollständigund dauerhaft bei der gesetzlichen Rentenversicherungsicherzustellen, dann ist das, sorry, eine Unverschämt-heit . Denn es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe .Dies gehört nicht in die Rentenkasse .Die Wahrheit ist – daran möchte ich an dieser Stelleerinnern –, dass die deutsche Einheit insgesamt durchdie Weichenstellung in den 90er-Jahren – wir fanden dasimmer falsch – ganz maßgeblich zulasten der sozialenSicherungssysteme und gerade auch zulasten der Ren-tenversicherung in Deutschland finanziert worden ist.Darum ist es eine Frage der Gerechtigkeit, dass jetzt derletzte Schritt der Anpassung aus den Steuermitteln finan-ziert wird .
Die Stellungnahme aus dem Finanzministerium machtdeutlich – das ist auch gestern schon bei ein paar Red-nern angeklungen, nach dem Motto „Wir blicken besorgtauf die Sozialquote“ und Ähnliches; damit war das, den-ke ich, indirekt ein Stück weit gemeint –, dass es nichttechnokratisch um die Frage geht, ob wir es uns leistenkönnen, das aus Steuermitteln zu finanzieren. Die Fragemuss vielmehr sein: Wollen wir uns das leisten? Das hatauch etwas mit der Frage von Frau Merkel heute Morgenzu tun . Es ist nämlich eine wertebezogene Frage, und wirmüssen darauf eine wertebezogene Antwort geben: Inwelcher Welt wollen wir eigentlich leben, und wo wollenwir hin?Gerda Hasselfeldt
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Ich appelliere ganz dringend an die Große Koalition .Sie haben es gehört: Wir wollen das eigentlich alle ge-meinsam machen . Wir haben noch ein Jahr Zeit . LassenSie uns diese Zeit nutzen, um das gemeinsam hinzube-kommen und damit auch ein Stück Vertrauen bei denMenschen in den ostdeutschen Ländern zurückzugewin-nen .Zurück zu dem, was ich zur Finanzierung gesagt habe,und zu dem hohen Beitrag, den wir Jahr für Jahr ausSteuermitteln für die Rentnerinnen und Rentner ausge-ben . Herr Schäuble hat es gestern erwähnt . Er hat gesagt:Ein Drittel jedes Euros, der an Renten ausbezahlt wird,stammt aus Steuermitteln . – Ich habe mich gefragt: Waswill er mir damit sagen? Denn die Wahrheit ist: Das warvor zehn Jahren auch schon so . Dieser Aufwuchs derSteuerfinanzierung hat etwas mit der Finanzierung derdeutschen Einheit zu tun . Darum komme ich nicht um-hin, ein paar Zahlen dazu zu nennen .1991 betrug dieser Steuerzuschuss 30 Milliarden Euro .1998 waren es 51,4 Milliarden Euro . Das sind 21,4 Mil-liarden Euro mehr – pro Jahr wohlgemerkt – innerhalbvon sieben Jahren . Ich muss nicht weiter erklären, wa-rum das so gekommen ist . Dass dieser Steuerzuschussinnerhalb von 20 Jahren – also von 1991 bis 2011 – um50 Milliarden Euro angestiegen ist, zeigt, dass wir in den90er-Jahren eben nicht offen und ehrlich in Deutschlanddie Debatte darüber geführt haben, ob wir zum Beispieldie Steuern erhöhen müssen, um die deutsche Einheit alsGenerationenwerk zu vollenden, sondern das wurde aufdie gerade beschriebene Art und Weise gemacht . Jetztist es wichtig, dass wir an dieser Stelle auch den letztenSchritt machen .
Frau Merkel hat dazu am 26 . Februar 2016 gesagt: Esgibt, was zusätzliche Leistungen für die einheimischeBevölkerung betrifft, eine Vielzahl von Projekten, diewir noch gar nicht umgesetzt haben . Als Beispiele nanntesie die geplante schrittweise Erhöhung der Ostrenten aufWestniveau und die Eingliederungshilfe für Behinderte .Super! Wir nehmen Sie beim Wort, Frau Merkel: Diesebeiden wichtigen Punkte wollen wir mit vielen anderenVorhaben noch gemeinsam in dieser Legislatur umset-zen .
Es wird ja hier – auch in den Medien – oft gefragt, obes nach den Landtagswahlen nicht irgendwelche Kurs-wechsel geben müsse . Wenn ich auf Bayern blicke: Dawäre – das könnte ich mir vorstellen – ein Kurswechselvielleicht einmal angebracht . Ansonsten aber sollte es kei-ne hektischen Bemühungen geben . Nein, wir in der Gro-ßen Koalition – das gilt gerade für uns Sozialdemokra-ten – gehen nicht hektisch vor, sondern haben eine klare,lange Linie entwickelt . Wir sagen schon lange: Es ist dieeine Seite der Medaille, die Flüchtlinge bei uns aufzu-nehmen, sie zu registrieren und all die damit zusammen-hängenden Dinge zu machen . Sie zu integrieren, ist dieandere Seite der Medaille . Das ist die wichtigere und viellangfristigere Aufgabe . Das ist uns übrigens nicht geradeerst heute eingefallen . Vielmehr haben unsere fünf Spit-zenpolitikerinnen – Andrea Nahles, Manuela Schwesig,Aydan Özoğuz, Malu Dreyer und Barbara Hendricks –schon im Dezember 2015 das SPD-Integrationskonzeptvorgestellt, das wir seitdem nicht nur anmahnen, sondernauch in dieser Regierung als Koalitionspartner umsetzenwollen . Sigmar Gabriel konnte am 18 . März nach langenVerhandlungen im Hause Schäuble, die – so hört man –in einer nicht ganz komplett konfliktfreien Gesprächs-atmosphäre stattfanden, verkünden, dass wir das Soli-darpaket in der Großen Koalition miteinander umsetzenwollen . In ihm ist sehr viel Geld – 5 Milliarden Euro –für aktive Arbeitsmarktpolitik, Wohnungsbau und Städ-tebau, Kitaausbau, Sprachkitas, Initiativen gegen rechts,Sprachförderung, Integrationskurse und all diese Dinge –das Bundesteilhabegesetz und die Solidarrente kommennoch hinzu – vorgesehen . Mit diesen Mitteln soll sicher-gestellt werden, dass die Menschen in Deutschland ganzdeutlich spüren, dass wir sie nicht vergessen, sie ernstnehmen und wir all die genannten Dinge noch in dieserLegislatur umsetzen wollen .
Eine letzte Bemerkung zum Stichwort „innere Si-cherheit“ . Das spielt hier ja zu Recht auch eine großeund wichtige Rolle . Wir sind gemeinsam froh, dass wirschon mit den Beschlüssen der Haushälter im letzten Jahr3 000 neue Bundespolizistenstellen geschaffen haben,von denen natürlich – das ist klar – erst 1 000 Stellenvorhanden sind . Die Bundespolizisten werden drei Jahrelang ausgebildet . Es wurden aber noch viele andere Stel-len geschaffen. Da Herr de Maizière nicht anwesend ist,wende ich mich an Ole Schröder:
Bundespolizisten – das sagt hier jeder – muss man nichtnur haben, die muss man auch gut ausstatten . Daher passtes überhaupt nicht ins Bild, dass die 165 Millionen Eurofür drei Schiffe, die wir für Nord- und Ostsee anschaf-fen wollten, verschwunden sind . Wir sind uns mit denKollegen im Haushaltsausschuss einig, dass wir das na-türlich reparieren werden; aber Vertrauen gegenüber derBundespolizei wäre leichter zu erreichen gewesen, wenndiese Mittel mit dem Regierungsentwurf gar nicht erstverschwunden wären .Vielen Dank .
Als nächster Redner spricht Dennis Rohde für die
SPD-Fraktion .
Sehr geschätzte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Wir haben auch in dieser Debatte wiedergemerkt, dass die Aussprache zum Haushalt des Bundes-Bettina Hagedorn
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kanzleramtes mehr ist als eine Debatte über Tagespolitik .Es geht um mehr als Einnahmen und Ausgaben . Im End-effekt geht es um eine allgemeine gesellschaftspolitischeDebatte .Jetzt haben wir vorhin schon gelernt, wann HerrKauder und wann Herr Bartsch geboren wurden . Ich outemich selbst als 1986 Geborenen . Ein Ergebnis der Gna-de der späten Geburt ist sicherlich, dass man viele ver-gangene Epochen aus eigenem Erleben nicht mitbekom-men hat . Ich kenne die Zeiten der nationalen Egoismenin Europa nur aus Erzählungen . Die Zeiten des KaltenKrieges, die Zeit der andauernden Bedrohung in Europakenne ich nicht aus eigenem Erleben . Die Jahre des Ent-behrens nach dem Krieg, in denen man froh war, wennman genug zu essen hatte, kenne ich nur aus den Erzäh-lungen meiner Großeltern . Krieg, Nationalismus, Armutund Entbehrung kenne ich nicht aus eigenem Erleben .Ich kann heute, im Jahr 2016, ausdrücklich sagen, dassich froh bin, all das nicht erlebt haben zu müssen . Ichbin denjenigen dankbar, die Deutschland und Europa zueiner Region gemacht haben, in der wir in Frieden lebenkönnen .
Mein Großvater war ein einfacher Bahnarbeiter . Erhatte dieses Glück nicht . Er musste die Leiden des Krie-ges durchleben und in der Nachkriegszeit das Land wie-der mit aufbauen . Er war es, der mich politisiert hat undder wahrscheinlich auch dafür verantwortlich ist, dass ichheute hier stehe . Mein Opa hat – genauso wie Millionenandere – dieses Land wiederaufgebaut . Dabei haben dieMenschen damals nicht nur an sich selbst und an ihreneigenen Vorteil gedacht, sondern auch an die Allgemein-heit . Ohne Solidarität, ohne dass man einander geholfenhat – so hätte es mein Großvater formuliert –, hätte mandieses Land nicht binnen kürzester Zeit aus den Trüm-mern des Zweiten Weltkrieges wiederaufbauen können .Ich bin der festen Überzeugung: Nur weil sich die Gene-ration meiner Großeltern trotz aller Entbehrungen gegennationale Egoismen gestellt hat, nur weil sie solidarischfüreinander eingestanden ist, kann ich, können wir heutein Frieden in Deutschland leben .
Die Leistung der vorherigen Generation sollte unsMahnung für das Hier und Jetzt sein . Ich schäme mich –genauso wie es mein Großvater vermutlich tun würde –,dass nationale Rechtspopulisten in diesem Land wiederErfolge haben, Populisten, getarnt als Beschützer bür-gerlicher Werte, die aber in Wirklichkeit die Schwachengegen die noch Schwächeren ausspielen . Dabei sollte unsallen doch bewusst sein: Nationalismus, der Rückzug indie vermeintlich heile, abgeschottete Welt, war noch niedie richtige Antwort . Es gibt kein Beispiel in der Ge-schichte der letzten 200 Jahre, das zeigt, dass blinderNationalismus den Menschen und dem Frieden gut getanhätte, kein einziges Beispiel .
Ich schaue mit Sorge auf den Versuch, unsere Gesell-schaft zu spalten . Zwietracht zu säen und das dann auchnoch Mut zu nennen, ist an Widerlichkeit nicht zu über-bieten .
Es tut mir leid um diejenigen, deren Ängste und Zweifelmissbraucht werden, deren Ängste und Zweifel geschürtund instrumentalisiert werden . Anstatt ihnen Mut zu ma-chen und Perspektiven zu eröffnen, sollen sie mitgenom-men werden auf die eine Seite der Gesellschaft, die danngegen die andere Seite der Gesellschaft ausgespielt wird .Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich möchte nichtin einem Deutschland leben, in dem man wieder nachseinem Aussehen oder seiner Herkunft bewertet wird .Ich möchte nicht in einem Deutschland leben, in dem diereligiöse Orientierung, die Sprache, die Homosexualitätoder der soziale Status Grundlage für Stigmatisierungsind . Ich möchte nicht in einem Deutschland leben, indem das Gegeneinander wieder vor dem Miteinanderkommt . Die Generaldebatte über den Haushalt ist derrichtige Ort, um zu sagen: Lassen Sie uns alle gemeinsamfür ein tolerantes und weltoffenes, für ein friedliches undsolidarisches Deutschland streiten .
Ich möchte genauso wie alle anderen das friedlicheMiteinander in unserem Land weiterhin sicherstellen .Neben den Debatten über Burka und doppelte Staats-bürgerschaft glaube ich, dass es bei Frieden zuvorderstum sozialen Frieden geht; denn auch und gerade sozialeSpaltung kann zur Gefahr für unsere innere Sicherheitwerden . Spaltung bedeutet nichts anderes als Ausgren-zung, und Ausgrenzung führt letztlich zum Verlust unseraller Freiheit .Was eine gespaltene Gesellschaft bedeutet, durfte icherst vor kurzem von einer Austauschschülerin lernen .Louise ist 17 Jahre alt und kommt aus Brasilien, aus demLand, das wir alle noch vor Augen haben wegen der teilskontrovers diskutierten und teils imposanten Olympi-schen Spiele und der Fußballweltmeisterschaft . Brasilienist aber zuvorderst ein Land tiefer sozialer Gräben . Diedaraus resultierende Sprengkraft schlägt sich im tagtäg-lichen Leben nieder und nimmt allen Menschen die Frei-heit . In vielen Städten Brasiliens kann man nicht einfachüber die Straße spazieren oder mit dem Fahrrad fahren .Diese für uns selbstverständliche Freiheit war für Louiseam Anfang etwas ganz Besonderes . Es ist daher sehr klugvon den Müttern und Vätern unserer Verfassung gewe-sen, dafür zu sorgen, dass der Kampf gegen Armut alsWesensmerkmal des Sozialstaates Verfassungsrang hat .Ich sage mit Blick auf die kommenden Haushalts-verhandlungen: Wir brauchen einen starken Staat . Wirsollten uns nicht in wahltaktische Debatten über Steuer-senkungen nach dem Gießkannenprinzip verzetteln . Wirsollten nicht auf kurzfristige Versprechen hereinfallen,deren Zeche die Gesellschaft am Ende zu zahlen hätte .Vertrauen gewinnt man nicht durch Steuergeschenke,von denen das Gros der Menschen nichts hätte, weil sieentweder keine Einkommensteuer oder so wenig Ein-Dennis Rohde
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kommensteuer zahlen, dass die Steuersenkung am Endebei ihnen im Portemonnaie nicht auffällt.
Ja, wir haben in den letzten Jahren Spielräume imBundeshaushalt geschaffen, finanzielle Spielräume. Er-arbeitet haben sie aber die Menschen in unserem Land,und zwar die, die aufrichtig und ehrlich ihre Steuern undAbgaben zahlen . Genau die sind es, die nun auch vondiesen Spielräumen profitieren sollten.
Wir müssen die Spielräume zur Gestaltung nutzen, umin unsere Gesellschaft und damit in den Zusammenhaltzu investieren. Ich finde, wir müssen in Schulen und Uni-versitäten investieren, damit junge Leute die beste Bil-dung bekommen und damit höhere Bildung keine Cha-raktereigenschaft einer Elite wird. Ich finde, wir müssenin Mütter und Väter investieren, damit sie für ihr Kindtrotz der Herausforderung des Berufs und des Alltags alsEltern da sein können . Das Elterngeld Plus von ManuelaSchwesig war ein Schritt in die richtige Richtung .Ich finde, wir müssen ganz ausdrücklich in neue undbezahlbare Wohnungen investieren, in die Verstetigungdes sozialen Wohnungsbaus . Mir ist ganz egal, wer da-für eigentlich verfassungsrechtlich zuständig ist. Ich fin-de, wir müssen mehr Geld in die Hand nehmen; denn eskann nicht sein, dass insbesondere junge Menschen undMenschen mit kleinen Einkommen keinen Platz mehr inunseren Städten finden.
Wir müssen diejenigen im Auge behalten, die Quali-fizierungsmaßnahmen brauchen, um überhaupt wiederauf dem Arbeitsmarkt eine Beschäftigung zu finden. Wirwerden natürlich in Polizei und Sicherheit investieren,damit sich jeder hierzulande überall und zu jeder Zeit freiund sicher fühlen kann . Deshalb fordern wir auch einenmassiven Stellenaufwuchs bei der Polizei und halten unsbei der Debatte über Hilfssheriffs und einen Einsatz derBundeswehr im Inland ganz gepflegt heraus.
Wir sollten, wenn wir Menschen wirklich finanziellentlasten wollen, genau das tun, was Johannes Kahrsund Thomas Oppermann vorhin gesagt haben, nämlichnicht das Gießkannenprinzip bei der Einkommensteueranwenden, sondern gezielt bei kleinen Einkommen an-setzen, gezielt bei den Sozialabgaben ansetzen; denn dieBezieher kleiner und mittlerer Einkommen sind die wirk-lichen Leistungsträger in unserer Gesellschaft .
Wir müssen in unsere Gesellschaft investieren . Das istder Gegenentwurf zu einfachen Forderungen nach Steu-ersenkungen, die nur die Besserverdienenden bevortei-len . Das ist auch der Gegenentwurf zu all denen, die denMindestlohn aushöhlen wollen, das ist der Gegenentwurfzu all denen, die die Renten kürzen wollen, die die Le-bensarbeitszeit am liebsten bis in die Ewigkeit verlän-gern würden und für ein unfaires Steuersystem plädieren,sodass diejenigen, die ohnehin wenig haben, noch weni-ger in der Tasche haben werden .In unserer sozialen Marktwirtschaft muss immer einGrundsatz gelten: Starke müssen den Schwachen helfen .Schwächere müssen sich anstrengen und, unterstützt vonuns allen, versuchen, wieder stärker zu werden . Deshalbnoch einmal mein Appell: Wenn wir Menschen entlas-ten wollen, dann diejenigen, die die Entlastung dringendbrauchen, aber nicht diejenigen, denen man gerne einGeschenk machen möchte .Ich möchte weiterhin in einem Deutschland der Ge-meinsamkeiten leben, ich möchte, dass unsere gemeinsa-me Prämisse der Erhalt des sozialen Friedens ist . SozialerFriede kommt aber nicht von selbst, sondern er muss po-litisch begleitet und verteidigt werden . Gemeinsamkeitvor Egoismus, Toleranz vor Ausgrenzung, Miteinanderstatt Gegeneinander – der Aufgabe, dies im Dialog mitden hier lebenden Menschen sicherzustellen, ihre Ängsteernst zu nehmen, Zweifel zu beseitigen und alle mitzu-nehmen, die es wollen, müssen wir uns als Politik mehrdenn je zuvor stellen .Vielen Dank .
Als nächste Rednerin spricht Professor Monika
Grütters für die Bundesregierung .
M
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Jetzt kommen wir zum Bereich Kultur, der auch zumKanzleramt gehört . In Zeiten, in denen die Kunst derDiplomatie angesichts weltweiter Krisen und Konfliktezuweilen an ihre Grenzen stößt, ist mehr denn je – da-von sind wir überzeugt – die Diplomatie der Kunst undKultur gefragt . Der Aufwuchs von 74 Millionen Euro imKulturetat im Vergleich zum Regierungsentwurf des Vor-jahres ist deshalb innen-, aber, ehrlich, auch außenpoli-tisch ein wichtiges Signal .Ich bin überzeugt: Gerade in Zeiten, in denen harteInteressenkonflikte politische Beziehungen auf großeBewährungsproben stellen, ist es nicht zuletzt, sonderngerade die Kultur, die Brücken baut . Wo Diplomaten –frei nach Winston Churchill – zweimal nachdenken, be-vor sie nichts sagen, ist die Kunst – diesmal frei nachJohann Wolfgang von Goethe – gerade die Vermittlerindes Unaussprechlichen .Ein Weltkulturmuseum, das die Verständigung zwi-schen den Kulturen über ganz zentrale Themen desMenschseins fördert, entsteht aktuell – Sie wissen das –in der historischen Mitte unserer Hauptstadt, in Berlin,also dort, wo exakt heute auf den Tag genau vor 66 Jah-Dennis Rohde
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ren, am 7 . September 1950, die Sprengung des BerlinerSchlosses begann . Wir bauen es jetzt wieder auf
und machen es im Zentrum zu einem Ort, an dem wir unsüber die zentralen Themen der Menschheit verständigenwollen .Mit 14,3 Millionen Euro, die im Haushaltsent-wurf 2017 für das Humboldt-Forum vorgesehen sind,ist es das größte und auch, glaube ich, politisch bedeut-samste Projekt und Kulturvorhaben Deutschlands . Eswerden knapp 11 Millionen Euro mehr als im Vorjahrzur Verfügung gestellt, um die Bespielung vorzubereiten .Die Gründungsintendanz unter Neil MacGregor, einemganz großen Europäer, arbeitet seit Anfang des Jahres mitHochdruck an einem, wie ich finde, sehr überzeugendenKonzept, das Anfang November vorgestellt wird .Auch die Unterstützung der Barenboim-Said-Akade-mie für junge Musikerinnen und Musiker aus dem NahenOsten, die im kommenden Jahr aus meinem Etat dauer-haft 5,5 Millionen Euro erhalten soll, ist nicht einfachnur ein Stück Kulturförderung wie andere auch . Sie darfdurchaus auch als ein Beitrag der Bundesregierung zumFriedensprozess im Nahen Osten verstanden werden .
Wir vertrauen dabei auf die Sprache der Orchester-musik, also auf eine Sprache, die mehr als jede anderedes Zuhörens und Einfühlens bedarf und die als einzigeSprache im Übrigen über den Verdacht einseitiger Partei-nahme erhaben ist . Auf die Kraft des unabhängigen Jour-nalismus müssen wir gerade dort bauen, wo politischeKrisen mit Einschränkungen der Presse- und Meinungs-freiheit einhergehen . Wir können das täglich erleben . DieDeutsche Welle, deren Finanzierung den größten Teilmeines Etats beansprucht, ist gerade in Krisenregionenund in autoritär regierten Staaten für viele Menschen dieletzte Verbindung in die freie Welt .
Umso irritierender und auch bedauerlicher ist es, dassdie chinesische Regierung vor einigen Tagen die Akkre-ditierung der Deutschen Welle für den G 20-Gipfel inHangzhou verweigert hat .
Ein Land, das die freie Berichterstattung in dieser Wei-se einschränkt, unterstreicht allerdings genau damit, wiewichtig die Deutsche Welle als Botschafterin unseres de-mokratischen Rechtsstaats ist .
Auch die Beschlagnahme des Materials nach einem fer-tiggestellten Fernsehinterview mit einem Minister wiegestern in der Türkei entspricht in keiner Weise unsererVorstellung von Pressefreiheit . Eine solche Beschlagnah-me ist in hohem Maße besorgniserregend .
Deshalb ist es richtig, dass wir die Deutsche Welle inihrem Etat und damit auch in ihrer Arbeit stetig unterstüt-zen . Nur allein für die Programme der Deutschen Wellestellen wir 2017 zusätzlich 7,5 Millionen Euro bereit .Sie dienen ganz besonders der Berichterstattung – ichkomme zu den nächsten problematischen Ländern – überdie Situation in Russland und der Ukraine, aber auchder Fortsetzung der Programme für Flüchtlinge und fürMenschen in den Herkunftsländern der Fluchtbewegung .Die Deutsche Welle tritt mit ihren objektiven Angebo-ten den vielerorts kursierenden Gerüchten entgegen, dieSchlepper systematisch verbreiten, um Menschen mitfalschen Hoffnungen und Erwartungen nach Europa undauch nach Deutschland zu locken . Gleichzeitig erklärtund vermittelt sie den Schutzsuchenden, die schon hiersind, unsere Werte, deren Beachtung wir erwarten . Sieunterstützt mit Onlinesprachangeboten und -kursen dieIntegration .Kultur ist in vielerlei Hinsicht unser stärkster Integra-tionsmotor. Ich bin überzeugt: Kultur öffnet Welten.Fremde Lebenswelten zugänglich machen, individuelleGesichter und persönliche Geschichten zeigen, damitein abstraktes Thema Gestalt annimmt, und damit dannauch ein sehr breites Publikum zu erreichen, das kannvor allem der Film . Ich freue mich deshalb, dass auch2017 neben der Förderung durch den DFFF zusätzlich15 Millionen Euro für die kulturelle Filmförderung, alsofür künstlerisch herausragende, mutige und innovativeProjekte, zur Verfügung stehen .
Ja, Kulturpolitik kann man durchaus – das sagt auchdas Auswärtige Amt in einer sehr schönen Formulierungimmer – als Fortsetzung der Außenpolitik mit anderenMitteln verstehen, meine Damen und Herren . Selbst dieauf den ersten Blick rein selbstbezügliche Erinnerungs-kultur und Aufarbeitung unserer Vergangenheit wirktweit über die Grenzen unseres Landes hinaus . Sie hatnicht zuletzt großen Anteil am mittlerweile wieder sehrhohen Ansehen Deutschlands in der Welt .In diesem Zusammenhang freut es mich, dass dasDeutsche Zentrum Kulturgutverluste sich schon so kurznach der Gründung zu einer etablierten Größe auch in derProvenienzforschung, in der Aufarbeitung, in Fragen derRückgabe entwickelt hat . Es erhält 2017 1 Million Eurozusätzlich, insgesamt also über 5 Millionen Euro . – Soweit zu den ausgewählten Zahlen aus dem Haushaltsent-wurf 2017 .Nicht weniger wichtig, allerdings weniger erfreulichsind die Zahlen aus der von meinem Haus finanziertenStudie „Frauen in Kultur und Medien“, die ich nichtnur finanziert, sondern kürzlich auch vorgestellt habe.Ich werde noch in diesem Jahr zu einem Runden Tisch„Frauen in Kultur und Medien“ einladen . Es ist mir einHerzensanliegen, dass Frauen wie Männer die gleichenChancen in Kultur und Medien haben: ob am Sprech-oder Notenpult, ob an der Staffelei oder am Schreibtisch,ob vor oder hinter der Bühne oder der Kamera, ob in öf-fentlichen Kultureinrichtungen oder in -verbänden – undnatürlich auch in meinem eigenen Haus, wo die Frauen-Staatsministerin Monika Grütters
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quote schon bei 53 Prozent und auf den beiden oberstenFührungsebenen mittlerweile bei exakt 50 Prozent liegt .Im Filmbereich – um das noch kurz anzuhängen –konnte ich im Rahmen der FFG-Novelle zumindest dafürsorgen, dass der bisher geradezu blamabel geringe Frau-enanteil in den Gremien der FFA und in den Kommissio-nen künftig deutlich erhöht wird .
Hier geht es nicht nur um Fragen der Gleichberechti-gung – das ist nicht wenig –; es geht vor allem um denVerlust an künstlerischer und kultureller Vielfalt dort,wo Frauen weniger Chancen haben als Männer . Des-halb verbinde ich meine Bitte um Ihre Zustimmung zumHaushaltsentwurf 2017 mit dem Appell: Suchen Sie ge-meinsam mit mir und uns nach Wegen, wie wir die gleich-stellungspolitische Bilanz in Kultur und Medien ebensokontinuierlich verbessern können, wie wir den Kulturetatin den vergangenen Jahren kontinuierlich erhöht haben!Vielen Dank .
Sigrid Hupach von der Fraktion Die Linke hat als
nächste Rednerin das Wort .
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir freuen uns, dass esIhnen, Frau Staatsministerin, erneut gelungen ist, mehrGeld für die Kultur im Haushaltsentwurf zu verankern .Über 5 Prozent mehr oder, in absoluten Zahlen, 74 Mil-lionen Euro mehr, das ist eine beachtliche Summe –eigentlich . Denn schaut man genauer hin, sieht man,dass der Kulturetat mit 1,35 Milliarden Euro lediglich0,4 Prozent des Gesamthaushaltes ausmacht . Mal andersgerechnet: Allein das Plus von 2,3 Milliarden Euro imVerteidigungsetat ist fast doppelt so hoch wie die gesam-te Kulturförderung .
Das ist für uns eine absolut verfehlte Prioritätensetzung,
grundsätzlich und erst recht angesichts der aktuellen He-rausforderungen .Sie haben, wie von uns gefordert, die Mittel der Pro-gramme gegen Rechtsextremismus und zur Demokratie-förderung verdoppelt . Wir halten es aber auch für not-wendig, bedeutend mehr Geld in die Soziokultur und indie kulturelle Bildung zu investieren .
Doch gerade bei den Haushaltsposten, die die Kulturar-beit in der Breite und in ländlichen Räumen fördern, diedie freie Szene stärken und die sich partizipativen, in-klusiven und transkulturellen Ansätzen widmen, also denKulturförderfonds oder den besonderen Einzelprojektenin den Bereichen Musik, Literatur, Tanz und Theater,sind die eingestellten Mittel nicht akzeptabel . Ich erwar-te, dass hier in den Haushaltsberatungen noch entschei-dende Fortschritte erreicht werden können .
Wir wollen auch mehr Geld für die Kultur – ja . Aberuns geht es vor allem um eine andere Verteilung der Mit-tel . Mir stellt sich hier die Frage, warum Sie, Frau Staats-ministerin, sich nicht grundsätzlich einmal an die Sub-stanz wagen . Auch wenn Sie unsere Forderungen nacheiner grundlegend anderen Kulturförderung, nach einerwirklichen Stärkung der Kommunen, damit sie ihrenAufgaben im kulturellen Bereich überhaupt erst gerechtwerden können, nach Abschaffung des Kooperationsver-bots und nach Einführung einer GemeinschaftsaufgabeKultur nicht umsetzen wollen, hätten Sie doch wenigs-tens einmal eine neue konzeptionelle Idee entwickelnkönnen .
So wären dann auch neue Akzente in der Art und Weiseder Kulturförderung möglich .
Mit 74 Millionen Euro ließe sich einiges bewegen – undnoch viel mehr, wenn man die im Haushalt so sinnlosgeblockten 12 Millionen für die Errichtung des Turmesder Garnisonskirche in Potsdam hinzunehmen würde .Ich möchte drei Beispiele für eine sinnvolle Verwendungnennen .Erstens könnte man den Zugang zu den vom Bundgeförderten Kultureinrichtungen erleichtern, indemman freien Eintritt zu den Dauerausstellungen gewährt,die Mindereinnahmen der Museen entsprechend kom-pensiert und auch noch Geld in die Stärkung der muse-umspädagogischen Arbeit investiert .
Die Linke sieht darin einen guten Ansatz für eine gene-relle Bildungsoffensive, für kulturellen Austausch undfür eine Stärkung der Museen mit ihren beeindruckendenSammlungen .
Man könnte – zweitens – endlich bei der Digitalisie-rung und Sicherung des vielfältigen kulturellen Erbesvorankommen, dafür eine gesamtstaatliche Strategie ent-wickeln und deren Umsetzung auch ausfinanzieren. DerHandlungsbedarf ist riesig, zum Beispiel beim schriftli-chen Kulturgut oder bei der Rettung des Filmerbes . ImBundesfilmarchiv, aber nicht nur dort, lagern TausendeFilme, die vor dem endgültigen Verfall gerettet werdenmüssen . Sie müssen digitalisiert werden, sie müssen aberStaatsministerin Monika Grütters
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auch im Original erhalten werden, und dazu brauchen wirdie technischen Möglichkeiten, analoges Filmmaterialanalog zu kopieren .Die Bundesregierung jedoch lässt es gegenwärtig zu,dass das bundeseigene Kopierwerk in Hoppegarten vordem Aus steht und somit bald keine Möglichkeit mehrbestehen wird, Filme im Original zu erhalten . Das ist ei-gentlich ein Skandal .
Oder man könnte – drittens – für mehr soziale Ge-rechtigkeit für Freiberuflerinnen und Freiberufler sowiefür kurzfristig Beschäftigte im Kultur- und Medienbe-reich sorgen . Die aktuelle Studie von art but fair und derHans-Böckler-Stiftung zeigt, wie unschön die Arbeitsbe-dingungen bei den schönen Künsten häufig sind.Eine zentrale Ursache dafür ist die schlechte Honorie-rung und die damit verbundene mangelnde soziale Ab-sicherung. Da freiberufliche Leistungen aber anderenGesetzmäßigkeiten unterliegen, kann man die Mindest-lohnregelung nicht so einfach darauf übertragen . Es mussaber doch selbstverständlich sein, dass auch Beschäftigteim Kultur- und Medienbereich angemessen vergütet wer-den,
zum Beispiel mit einem branchenspezifischen Mindest-honorar . Das ist wichtig, damit sie heute ein halbwegsauskömmliches Einkommen erhalten und morgen nichtin die Altersarmut fallen .
Der Bund könnte hier mit gutem Beispiel vorangehenund bei der Vergabe öffentlicher Gelder die Einhaltungder Honorarempfehlungen der Berufsverbände in denFörderkriterien und Zuwendungsbescheiden festschrei-ben .
Der dadurch steigende Finanzbedarf muss dann natür-lich auch in den Projektförderungen und Zuwendungenberücksichtigt werden . Die Haushaltsmittel sind dement-sprechend aufzustocken .Mit diesen drei Beispielen habe ich gezeigt, dass manmit der Kulturförderung des Bundes auch grundsätzlichetwas ändern kann, um die öffentlichen Museen mit ih-rem Bildungsauftrag zu stärken, um das kulturelle Erbezu erhalten und zu sichern und um Kultur- und Medien-schaffende besser sozial abzusichern – vorausgesetzt na-türlich, man will .Vielen Dank .
Als nächste Rednerin spricht Hiltrud Lotze für die
SPD-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Es ist schon gesagt worden: Knapp 1,4 Milli-arden Euro stehen für 2017 im Einzelplan der BKM . Dasist eine Steigerung von circa 5,8 Prozent gegenüber demVorjahr . Deswegen ein herzlicher Dank an Frau Grütters,dass ihr dies gelungen ist .Positiv ist, dass nach drei Jahren GroKo viele Punkteaus dem Koalitionsvertrag angegangen wurden; aber anmehreren Stellen im Haushalt sehen wir, dass die Grund-finanzierung einiger Institutionen noch verbessert wer-den kann .
Notwendige Nachbesserungen müssen hier noch vor-genommen werden, und ich bin sicher, dass uns das imLaufe der nächsten Wochen in den Verhandlungen ge-lingt, auch mithilfe der Haushälter .Ein Beispiel ist schon genannt worden: Das ist dieDeutsche Welle, die aufgrund ihrer Bedeutung gern nochgestärkt werden kann; denn es liegt in unserem besonde-ren Interesse, dass sie neben Auslandssendern wie RussiaToday oder Al Jazeera in der Welt gehört wird,
und diesen Weg, denke ich, sollten wir konsequent fort-setzen .Aber auch bei der Finanzierung der Gedenkstättengibt es Nachholbedarf . Der Bund fördert ja unter ande-rem im Rahmen seines Gedenkstättenkonzeptes . Nacheinem deutlichen Anstieg im Jahre 2015 ist der Etatan-satz für die Förderung in diesem Bereich von 7,6 Millio-nen Euro in 2016 auf knapp 6,2 Millionen Euro für 2017gesunken, und das, obwohl dort Sanierungsstau bestehtund zugleich dringend benötigte Stellen wegen fehlen-der Haushaltsmittel nicht besetzt werden können . Wirbrauchen aber gut ausgestattete Gedenkstätten, damit siezum einen der großen Besuchernachfrage gerecht wer-den können und damit sie vor allen Dingen ihren Auftragerfüllen können, nämlich ihren pädagogischen Auftrag .Unser heutiges Zusammenleben in der Bundesrepu-blik beruht doch ganz wesentlich darauf, dass wir unsereGeschichte aufgearbeitet haben und weiter aufarbeiten,dass Menschen, ganz besonders junge Menschen – wirhaben heute ja auch junge Menschen hier zu Gast –, Ge-denkstätten besuchen und sich hier über Ursache undWirkung historischer Ereignisse bewusst werden, dasssie Erkenntnisse aus der Vergangenheit für ihre eigeneVerantwortung in der Gegenwart ziehen – das wollen wirSigrid Hupach
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doch alle . Deswegen ist es natürlich wichtig, die Gedenk-stätten vernünftig auszustatten .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gerade jetzt bedarfes auch der verstärkten Zusammenarbeit mit Osteuropaim Geiste europäischer Versöhnung und von Demokra-tie . In vielen Regionen im östlichen Europa haben früherDeutsche gelebt oder leben heute noch deutsche Minder-heiten . Der Bund fördert nach § 96 Bundesvertriebenen-gesetz Einrichtungen und Institutionen, die die Kulturund Geschichte dieser Regionen und ihrer Menschen er-forschen und sichern . Ich nenne beispielhaft das Ostpreu-ßische Landesmuseum in Lüneburg, das PommerscheLandesmuseum in Greifswald oder die Martin-Opitz-Bi-bliothek in Herne . Für das Haushaltsjahr 2017 sind fürdiese Einrichtungen insgesamt 13,489 Millionen Euro anFördermitteln vorgesehen; das ist ein Plus von fast 1 Mil-lion Euro .Bei der Arbeit dieser §-96-Einrichtungen geht esimmer auch um die Verknüpfung deutscher Geschich-te, deutscher Kultur mit der Kultur und Geschichte derNachbarethnien in den ehemaligen Siedlungsgebieten .Indem diese europäische Kooperation mit wissenschaft-lichen Einrichtungen und gesellschaftlichen Initiativenverstärkt wird, kann sich eine gemeinsame Erinnerungs-kultur entwickeln . Darin liegt die Chance – deswegen istdieser Teil der Kulturarbeit auch so wichtig –, dass wirEuropäer, im Bewusstsein unserer gemeinsamen Vergan-genheit, die Zukunft Europas neu, partnerschaftlich, soli-darisch und dauerhaft friedlich gestalten .Vor dem Hintergrund dieser europäischen Perspektivebetrachten wir als SPD-Bundestagsfraktion auch die ge-planten Haushaltszuwendungen an die §-96-Einrichtun-gen . Wir begrüßen es, dass die Mittel angehoben wurden .Für uns ist jedoch ganz entscheidend: Der Aufwuchs derMittel muss der Professionalisierung, muss der interna-tionalen Zusammenarbeit und muss der wissenschaftli-chen Aufarbeitung unserer Geschichte im östlichen Euro-pa zugutekommen, nicht einzelnen Interessenverbänden .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Kultur ist keineZierde für gute Zeiten, sondern eine unverzichtbare Ba-sis für unsere Gesellschaft . Deswegen begrüßen wir dieMittelaufstockung im Kulturhaushalt . Sie ersetzt jedochlangfristig nicht eine konzeptionelle und verstetigte Kul-turpolitik .Vielen Dank für die Aufmerksamkeit .
Als nächste Rednerin spricht Ulle Schauws von der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Für das nächste Haushaltsjahr gibt es mehrGeld für die Kultur – das klingt gut . Aber wie sagt manso schön? Geld allein macht nicht glücklich .
Kulturpolitik ist nämlich mehr, Kollegin Lotze, als diedirekte Förderung von Kultureinrichtungen, Kulturver-anstaltungen, Kunstwerken oder vor allem Künstlerin-nen .Kulturförderung ermöglicht der Kunst und der Kul-turarbeit auch die Auseinandersetzung mit sozialen undkulturellen Problemen und Herausforderungen . Und –das ist ein wichtiger Punkt gerade in diesen Zeiten – Kul-turförderung ist eben auch Demokratieförderung .
Die Freiheit der Kunst ist niemals verhandelbar, undebenso ist die kulturelle Vielfalt elementar für eine le-bendige Demokratie .
Und dabei meine ich nicht allein die Debatten in der Kul-turpolitik über TTIP und CETA . Ich denke auch daran,wie es um die kulturelle Vielfalt jenseits der Ballungs-gebiete in Deutschland steht . Da stellen wir wieder fest,dass allein 40 Prozent des Kulturhaushaltes nach Berlinfließen. Finden Sie das wirklich verhältnismäßig, FrauStaatsministerin? Berlin ist die Hauptstadt, ja, aber Ber-lin ist nicht der Nabel der Welt .
Im Sinne einer Politik der Zukunftsinvestitionen undLebensqualität müssen Sie Kultur in ländlichen Räumendringend aufwerten und ernster nehmen .
Was hier fehlt, sind eine Linie und eine Strategie . Statt-dessen verliert sich Ihre Förderung häufig im Klein-Klein: eine Modellförderung hier, ein Wettbewerb da .
Das, Frau Staatsministerin, ist kein nachhaltiger Anreizfür die Kulturförderung .Im Kampf um ihren Erhalt brauchen Kulturschaffen-de, -vereine und -verbände längerfristige Perspektiven .Wir alle wissen, dass die Kulturfinanzierung vor Ort viel-fach prekär ist . Da vermisse ich tatsächlich den Willenbei Ihnen, einen ernsthaften Beitrag zur Lösung diesesProblems zu liefern . Ebenso, wie es die Kollegin geradegetan hat, verweise ich darauf: Das Kooperationsverbotals ewige Rückfalloption in dieser Debatte ist zu wenig,und das wissen Sie .
Hiltrud Lotze
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Kulturprojekte schätzen sich glücklich, dass die Arbeitvor Ort vielfach von einem breiten Bündnis an ehrenamt-lichem Engagement getragen wird . Aber es ist die Auf-gabe der Politik, dieses bürgerschaftliche Engagement alljener, die sich mit den Mitteln von Kunst und Kultur füreine offene Gesellschaft einsetzen, in seiner Vielfalt undUnabhängigkeit zu stärken . Klar ist auch: Professionel-le Strukturen ersetzen darf das Ehrenamt nicht . Geradeim Bereich der kulturellen Bildung und der interkultu-rellen Kulturarbeit sind die Potenziale auch im ländli-chen Raum enorm . Nicht zuletzt aufgrund der aktuellenFlüchtlingssituation brauchen wir dringend nachhaltigeInfrastrukturen und endlich eine interkulturelle Öffnungder Kulturlandschaft .
Kultur kann kurzfristig Willkommensräume bereit-stellen . Aber es muss darum gehen, langfristig gleichbe-rechtigte Teilhabe für alle zu ermöglichen .
Kultur hat einen Eigenwert, und jeder Mensch, egal wel-cher Herkunft, welchen Geschlechts oder Alters, mussdie Möglichkeit haben, sich kulturell zu bilden . Was wirbrauchen, ist eine klare Prioritätensetzung der Bundes-regierung zugunsten der kulturellen Teilhabe und damitauch der kulturellen Vielfalt . Das wäre dringend geboten .Zum Schluss noch ein Punkt, der nicht wirklich nach-vollziehbar ist . Endlich liegt uns – Sie sagten es eben,Frau Staatsministerin – die aktuelle Studie zur Situati-on von Frauen in Kultur und Medien vor . Die hatten wirGrüne ja schon 2014 gefordert . Jetzt liegen endlich dieFakten auf dem Tisch . Alle sind sich einig: Hier gibt esdringenden Handlungsbedarf, weil Frauen im Kulturbe-trieb sowohl bei den Einkommen als auch strukturell im-mer noch stark benachteiligt sind . Und was machen Siejetzt, Frau Grütters? Sie schlagen einen runden Tisch vor .Sie laden dazu in diesem Jahr ein, um zu diesen Ergeb-nissen und Lösungsvorschlägen der Studie erst einmalweitere Ideen zu diskutieren und zu entwickeln . Ich frageSie: Warum setzen Sie nicht einen Teil der Vorschlägedirekt um? Was hält Sie davon ab, konkrete Maßnahmenkonzeptionell bereits jetzt anzugehen?
Das klingt nicht ambitioniert . Ich nenne es einmal beimNamen: Das ist ein Spiel auf Zeit . Da erwarten die Frau-en im Kulturbetrieb und auch wir mehr von Ihnen .Vielen Dank .
Als nächster Redner hat Rüdiger Kruse von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! FrauSchauws, Frau Hupach, nur weil die Sonne scheint, müs-sen Sie nicht so trübsinnig daherreden .
Wenn es so wäre, dass wir, weil 2017 das Jahr ist, indem Wahlen stattfinden, jetzt die Kultur entdecken, dannkönnten Sie darüber streiten und sagen: Was sind denn5 Prozent mehr? Aber eine solche Erhöhung haben wirim letzten Jahr vorgenommen, das haben wir im Jahr da-vor gemacht; das können Sie runterrechnen bis zum Be-ginn der Regierung unter Unionsführung . Es ist so – dasist eine Tatsache –, dass sowohl im Bund als auch in denLändern nirgendwo mehr Geld für Kultur ausgegebenwird als in unionsgeführten Regierungen .
– Das können wir gerne nachrechnen . Lieber Johannes,du weißt, wenn wir beide nicht wären, sähe es in Ham-burg bitter aus .
Bevor mich mein Fraktionsvorsitzender wegen diesesLänderfinanzausgleiches kritisiert,
sage ich Ihnen, Frau Schauws: Sie machen einen Riesen-fehler . Sie entlassen die Länder und Kommunen – viel-leicht orientieren Sie sich da nicht an Frau Hajduk, einerguten Kollegin aus Hamburg; an ihr kann man sich gerneorientieren – völlig aus der Verantwortung . Sie sagen, dieDinge, die wir mehr tun sollen, soll der Bund tun . Nunist es eine Binsenweisheit, dass, wenn wir mehr Steuerneinnehmen, auch die Länder mehr Steuern einnehmen .Es ist also eine Frage der Prioritätensetzung .
Fragen Sie Ihre grünen und roten Kollegen in den Lan-desregierungen, die nicht von uns geführt werden, wassie denn tun und was sie in der Zukunft zu tun gedenken .Wir haben eine ganze Menge gemacht .Frau Hupach, Sie haben den Kulturetat mit anderenEtats verglichen . Ich wäre da mit dem Umrechnen im-mer vorsichtig . Die größte singuläre Ausgabe in unseremEtat ist der Zuschuss in die Rentenkasse: 100 MilliardenEuro . Möchten Sie das jetzt auf die Kultur umrechnen?Wäre das sinnvoll? Dieses Gegeneinander macht keinenSinn .Sinn macht es, die Politik konstruktiv weiter auszu-bauen . Wir haben den Kulturbereich immer an den Stei-gerungen des Bundeshaushalts teilhaben lassen . Es gabdort sogar Steigerungen, wenn es im Bundeshaushalt ins-gesamt keine Steigerung gab . Das haben wir ganz ruhiggemacht, weil man gar nicht so laut darüber reden sollte;aber jetzt muss man es ja mal tun . Auch in schwierigenUlle Schauws
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Zeiten, auch, als die Euro-Krise alles dominiert hat, ha-ben wir im Bereich Kultur immer einen draufgesetzt, unddas bei diesem pfennigfuchsenden Finanzminister .
Das ist schon eine große Leistung .Sie sagen, es sei nicht richtig, sich an einen rundenTisch zu setzen und zu reden;
man müsse auch etwas tun . Monika Grütters hat gesagt –ich will ihre Planübererfüllung auch nicht kritisieren –,in ihrem Haus gibt es eine Frauenquote von 53 Prozent .Da das nicht durch eine Reihenerschießung von Männernerreicht worden ist, ist das doch völlig in Ordnung .Was haben wir noch gemacht? Wir haben beim letztenMal beschlossen, die Tariferhöhungen durchzuziehen,und zwar nicht nur für die 275 Beschäftigten im Haus,sondern auch für die 6 750 anderen, die in den Einrich-tungen beschäftigt sind .
Wir haben gerade gestern in einem Gespräch mit demBereich Tanz, in dem sehr viele Idealisten über die Büh-ne hüpfen und sich sicherlich manchmal auch prekär be-schäftigen lassen, gesagt: Wenn wir hier weitermachen,erwarten wir von euch, dass am Ende faire Honorare ge-zahlt werden . Das werden wir auch in die Vereinbarungreinschreiben .Das heißt, all das, was Sie fordern, machen wir schon .Mir ist bewusst, man kann auch noch mehr machen .Dieses „mehr machen“ ist ein sich durchziehendes Pro-gramm . Was sind unsere Kriterien? Da muss man dieKirche im Dorf lassen . Wollen Sie wirklich von hier aussoziokulturelle Maßnahmen steuern, die in einer Kom-mune in Nordrhein-Westfalen oder in Ostfriesland lau-fen? Wollen wir den Zentralstaat errichten, der das allesregelt? Ich glaube nicht .
Das belassen wir im Wesentlichen dort .Wir haben eine Einrichtung geschaffen, die wir imletzten Jahr mit 5 Millionen Euro mehr ausgestattet ha-ben: die Kulturstiftung des Bundes, die genau in denFlächenländern, in den Kommunen wirkt – allein schondurch das Programm TRAFO, das ermöglicht, den de-mografischen Wandel so zu gestalten, dass wir eben nichtständig Einrichtungen verlieren . Wir sind uns des großenErbes aus der Zeit bewusst, in der wir Kleinstaaterei be-trieben haben; deswegen haben wir heute so viele Muse-en und Theater . Wir bewahren das . Wir haben das auchbewahrt und vertreten, als das nicht en vogue war .Was sind die Kriterien unserer Kulturpolitik? Sie müs-sen lauten: Exzellenz, Innovation, nationale und interna-tionale Bedeutung und Demokratisierung der Kultur . Dasist das, wofür der Bund stehen muss, wofür die Bundes-regierung und die sie tragenden Fraktionen in diesemParlament kämpfen .Eine Aufgabe ist es, Exzellenz zu ermöglichen . Wirfördern zum Beispiel Kommunen und Städte, die einegroßartige Einrichtung haben, aber nicht die Mehrkostenfinanzieren können, die damit verbunden sind, sie inter-national bedeutend zu machen .Wir haben im letzten Jahr beschlossen, den freien Pro-duktionshäusern einen Etat zur Verfügung zu stellen, umihre Produktionen gemeinsam zu entwickeln und auchinternational zu vermarkten . Das ist sicherlich keine Sze-ne, die ausschließlich aus CDU-Wählern besteht . Das istauch ein Unterschied: Das kümmert uns nämlich nicht .Wir haben eine bürgerliche Vorstellung von Kultur, unddie hat etwas mit Freiheit zu tun . Wir ermöglichen denRahmen . Wir sagen nicht, was gespielt werden soll, wirsagen auch nichts zur Aussage, wir verlangen auch keinePolitical Correctness – gerade uns gegenüber gibt es sieoftmals nicht –, sondern wir sagen: Das ist die Freiheitder Kunst, und wenn es uns wehtut, dann ist es so; wirgewährleisten diese Freiheit der Kunst .
– Richtig . Das machen wir auch so .Ein zweiter Punkt ist die nationale und internationaleBedeutung . Monika Grütters hat es angesprochen: Kul-tur hat eine hohe Relevanz im Dialog . Das gewährleistenwir, indem wir exzellente Kultur machen . Damit zeigenwir, dass man bei uns seine künstlerische Qualität aus-leben kann, die auch hier nicht immer Mainstream ist .In der Regel ist es so – das Wort „Avantgarde“ sagt esschon –: Alles, was neu ist in der Kunst, wird meistensals nicht leicht erträglich empfunden; viele mögen dasnicht . Es hat lange gedauert, bis es die Rothkos in Ko-pie ins Wohnzimmer geschafft haben. Man kann heutenoch mit Alban Berg Konzertsäle leerspielen, obwohl esschon 100 Jahre oder länger her ist, dass er seine Musikgeschrieben hat . Das alles wird aber gefördert . Das ist einSignal in die Welt, und zwar in die nichtfreie Welt, dasses sich mit Kunst besser lebt .Ich finde bemerkenswert, dass die Zusammenarbeitvon BKM und Auswärtigem Amt dazu geführt hat, dieBilder aus dem Tehran Museum nach Europa zu holen .Sie lagen 35 Jahre im Keller; immerhin sind sie nichtverbrannt, sondern waren im Keller gelagert . In Berlinwerden die Bilder zum ersten Mal ausgestellt . Die Aus-stellung wird natürlich auch in ein Rahmenprogrammeingebettet . Wir zeigen sie zu einer Zeit, in der anders-wo nicht nur Kunstwerke, sondern gleich die Künstlerim Keller oder im Verließ landen . Das ist eine sehr guteLeistung .
Das widerspricht auch den ständigen Vorwürfen, dieBundesregierung würde vor diesem oder jenem knien .Nein, das tut sie nicht .Rüdiger Kruse
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Aber wenn man schon über Knien oder Blindsein re-det: Müssen Sie sich nicht manchmal fragen, ob es nichtkomisch ist, dass Sie sich mehr Gedanken über die Qua-lität des Verbraucherschutzes in den USA als über dieMenschenrechte in Russland machen?
– Das stimmt .
– Nein, das ist nicht unterste Schublade, sondern das, wasSie machen, ist unterste Schublade . Wenn Sie sich Ihreeigene Rhetorik einmal anschauen, dann stellen Sie fest,dass sie ziemlich spiegelgleich ist mit der Rhetorik vielerLeute aus der AfD .
– Nein, das ist nicht zu klären . Es gibt den linken und esgibt den rechten Rand, und in der Mitte findet die Demo-kratie statt .
– Das ist so .
– Wir können gerne inhaltlich diskutieren . Das habenwir im Bundestag auch getan . Ich glaube auch, dass Er-klärungen wie die Armenien-Erklärung, die wir gemein-schaftlich getroffen haben, Ihnen nicht so leicht von denLippen gehen, weil Sie genau wissen, für welche Syste-me Sie eingetreten sind
und auch heute noch eintreten .
– Das ist einfach die Wahrheit .
Herr Kollege, ich muss Sie bitten, zum Schluss zu
kommen . Wir haben uns darauf verständigt, dass alle ihre
Redezeit einhalten . Ich bitte Sie, das zu beachten; Ihre
Redezeit ist schon überschritten .
In den letzten sieben Jahren ist es mir noch nie pas-
siert, zu überziehen . – Ich freue mich, dass wir den Kul-
turetat in den letzten zehn Jahren nicht überzogen, aber
immer deutlich ausgebaut haben .
Herzlichen Dank .
Als nächste Rednerin hat Tabea Rößner für die Frakti-
on Bündnis 90/Die Grünen das Wort .
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!„Die Kunst ist eine Tochter der Freiheit“, sagte FriedrichSchiller. Ich sehe uns hier in der Pflicht, die Rahmen-bedingungen zu schaffen, damit für Künstlerinnen undKünstler in unserer Gesellschaft die maximale Freiheithergestellt werden kann, gerade jetzt und gerade in die-sen Zeiten .
Wir müssen uns daher fragen: Was ist uns die künstle-rische Freiheit wert? Der vorliegende Etatentwurf zeigt:Sie ist uns viel wert . Bei der Filmförderung beispielswei-se leisten wir uns Investitionen in Höhe von 50 MillionenEuro jährlich, und das ist auch gut so . Aber Geld ist, lie-ber Kollege Kruse, eben nicht alles .
Die Rahmenbedingungen müssen stimmen . Da liegtgerade bei der Filmpolitik noch einiges im Argen . DieNovelle des Filmförderungsgesetzes ist jedenfalls keingroßer Wurf für die Kreativen .
Nehmen wir die Vergabegremien . Dort geben nichtdie Kreativen den Ton an, nein, die Macht haben nachwie vor die Verwerter, und denen geht es – das liegt inder Natur der Sache – vorwiegend ums Geldverdienenund weniger um den künstlerischen Wert . Dabei könnenRegisseure und Drehbuchautoren vielleicht eher das Po-tenzial eines neuen Stoffes erkennen als Betriebswirt-schaftler . Wir fordern daher: mehr Kreative in die Ver-gabegremien. Das bringt den Filmschaffenden dann auchmehr künstlerische Freiheit .
Für Kreativität braucht es auch zeitliche Freiräume .Aber anstatt neue spannende Stoffe zu entdecken, müs-sen Filmschaffende Anträge schreiben. Die FFG-Novellevereinfacht leider nicht die aufwendigen Antragsverfah-ren . In der Zeit, in der sich Filmemacher durch Förder-richtlinien lesen, hätte Schiller schon die ersten zweiAkte der Räuber geschrieben .Beim FFG gibt die Bundesregierung den Kreativennicht genügend Freiheiten; die Freiheiten der Journalis-ten beschneidet sie sogar . Hier im Land beobachtet derVerfassungsschutz Journalisten . Ein neues Gesetz sollden BND sogar berechtigen, Journalisten demnächst au-Rüdiger Kruse
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ßerhalb der EU praktisch schrankenlos zu überwachen .Das ist eine folgenschwere Einschränkung der Presse-freiheit und mit Artikel 5 unseres Grundgesetzes nichtvereinbar .
Sicherlich ist die weltpolitische Lage angespannt undunübersichtlich; aber aus einem Sicherheitsbedürfnis he-raus Grundrechte derart auszuhöhlen, das ist Kapitulie-ren vor dem Terror .
Statt Journalisten weltweit auszuspionieren, solltenwir besser diejenigen unterstützen, die nicht die Freihei-ten genießen, die in demokratischen Ländern üblich sind .In der Türkei sind Verhaftungen von Journalisten an derTagesordnung, kritische Zeitungen werden geschlossen,und Material wird beschlagnahmt, wovon jetzt offenbarauch die Deutsche Welle betroffen ist. Frau Staatsminis-terin, Sie haben einzelne Länder und einzelne Beispielegenannt . Ich erwarte aber von der Bundesregierung klareSignale an Länder wie die Türkei, dass Meinungs- undPressefreiheit für uns nicht verhandelbar sind .
Auch in Deutschland ist bei der Pressefreiheit nochdeutlich Luft nach oben . Seit einem Urteil des Bun-desverwaltungsgerichts vor dreieinhalb Jahren stehenJournalisten mit ihrem Wunsch auf Auskunft gegenüberBundesbehörden auf schwammiger Rechtsgrundlage . Siewerden immer wieder abgeblockt . Was hat sich seitdemgetan? Nichts . Wir brauchen endlich ein Bundesgesetzfür ein Presseauskunftsrecht, damit Journalisten auchvon Bundesbehörden die gewünschten Auskünfte be-kommen .
Die Freiheit von Urheberinnen und Urhebern kannauch durch eine angemessene Vergütung gewährleistetwerden . Aber wo bleibt Ihr Engagement in diesem Be-reich, liebe Frau Grütters? Mit dem Kabinettsbeschlusszum Urhebervertragsrecht wird gerade nicht die Freiheitder Autoren, Journalisten oder anderer Urheber gegen-über den mächtigen Verwertern gestärkt . Justizminis-ter Maas hat zwar viel angekündigt; die notwendigenSchritte, wie ein verbindliches Schiedsverfahren bei derAufstellung gemeinsamer Vergütungsregeln, hat er abernicht gewagt .Die Freiheit von Journalisten, Urhebern und Künst-lern kommt nicht von alleine .
Frau Rößner, ich muss auch Sie bitten, zum Schluss zu
kommen . Sie haben Ihre Redezeit überschritten .
Ja, ich komme zum Schluss . – Die Freiheit kommt
nicht von alleine . Wir müssen stets für sie kämpfen und
sie verteidigen, kraft unserer Worte, kraft unserer Taten
oder auch gerne mit schnödem Mammon .
Vielen Dank .
Als letzter Redner in dieser Debatte hat Burkhard
Blienert von der SPD-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Dass wir in Deutschland so viele Kulturein-richtungen haben, das verdanken wir den Anstrengungenin den Gemeinden und Kommunen, in den Ländern undeben auch im Bund . Das ist eine Gemeinschaftsaufgabefür alle staatlichen Ebenen . Ich bin froh und stolz, dasswir uns da alle tatkräftig die Hand reichen .Darüber, dass wir auf Bundesebene einen Aufwuchsvon 5,8 Prozent haben, kann man sich nur freuen . Ichfinde, das ist ein gutes Zeichen dafür, dass wir im Kultur-bereich in den letzten Jahren kontinuierlich eine Mengegetan haben . Den Investitionsstau haben wir aufgelöst,zum Beispiel beim Humboldt-Forum, was die Staatsmi-nisterin schon erwähnt hat .Wir haben im Blick, dass die Kulturförderung desBundes auch in die Fläche geht . Der Bund hat diverseMöglichkeiten, Länder und Kommunen im Kulturbe-reich stärker zu unterstützen – das ist unstrittig –, auchin Form von Leuchtturmprojekten, deren Strahlkraft überdie Ländergrenzen hinausreicht .Kulturförderung bedeutet aber nicht nur, Einrichtun-gen und Projekte finanziell auszustatten, sondern auchInvestitionen in diejenigen, die das Hervorbringen vonKunst und Kultur zu ihrem Erwerb gemacht haben . Es istdaher Aufgabe der Politik, unsere Aufgabe, dafür zu sor-gen, dass Künstlerinnen und Künstler, die unser Lebenmit ihrer Arbeit in so vielerlei Hinsicht bereichern, nichtdurch das soziale Netz fallen .
Aus aktuellem Anlass will ich deshalb an dieser Stelleganz klar sagen: Das solidarische System der Künstlerso-zialversicherung ist für uns als SPD-Bundestagsfraktionnicht verhandelbar . Unternehmen, die eine künstlerischeLeistung in Anspruch nehmen, müssen hierfür einenBeitrag leisten . Den Versuch der Unternehmer- und Ar-beitgeberverbände, die sozialen Lasten einseitig auf dieTabea Rößner
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Künstler abzuwälzen, weisen wir daher entschieden zu-rück .
Die Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles hat dafürgesorgt, dass durch effizientere Prüfungen und gerechte-re Lastenverteilung die Abgabe von 5,2 auf 4,8 Prozentgesenkt werden konnte. Die Versicherung steht finanziellgesund da . Die SPD-Fraktion wird sich daher auch wei-terhin für den Erhalt dieses Systems einsetzen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser kulturellesErbe hat sich überhaupt erst durch Heterogenität undVerschiedenheit entwickelt . Dieses kulturelle Erbe ver-pflichtet uns auch zu Humanität, einer Humanität, dieim letzten Jahr von vielen Ehren- und Hauptamtlichenauch im kulturellen Sektor in unserem Land bereits ge-lebt wurde . Kunst und Kultur sind wichtige Orte der Be-gegnung, des Austausches und der Teilhabe . Kultur bautBrücken . Auf diese Weise entsteht ein neues Wirgefühl .Kultur fügt Neues und Bestehendes zusammen .Viele Kultureinrichtungen haben es sich zur Aufga-be gemacht, die kulturelle Vielfalt unserer Gesellschaftstärker widerzuspiegeln und ihre interkulturelle Öffnungweiter voranzutreiben. Das finden wir gut. Das unterstüt-zen wir . Deshalb stehen wir dahinter, dass das Programm„Kultur macht stark“ in Zukunft weiterhin mit einer gu-ten finanziellen Basis ausgestattet ist.
Ich möchte auch noch kurz auf den Filmbereich zusprechen kommen . Ich begrüße, dass der Entwurf fort-schreibt, was wir im parlamentarischen Verfahren imletzten Jahr beschlossen haben, nämlich die kulturelleFilmförderung auf 15 Millionen Euro aufwachsen zulassen . Das ist jetzt im Ansatz festgeschrieben . Es warhöchste Zeit für diesen Mittelaufwuchs . Denn durch diezusätzliche FFG-Förderung auf Bundesebene und durchden DFFF war das künstlerisch orientierte Filmschaffenein bisschen ins Hintertreffen geraten. Mit Blick auf dieZielstellung im neuen FFG, mit dem wir weniger Filmemit größeren Budgets fördern wollen, ist die kulturelleFilmförderung eine unverzichtbare Ergänzung .Bei aller Freude darüber, dass wir so viel geschaffthaben, müssen wir aber im Blick behalten, dass wirnoch über ein schlüssiges Förderkonzept im Filmbereichdiskutieren müssen . Das steht noch aus . Es ist dringendnotwendig, damit wir die einzelnen Förderinstrumentesinnvoll voneinander abgrenzen .Die Digitalisierung findet sich dieses Mal mit 1 Mil-lion Euro wieder . Das ist gut und richtig so . Ich bin mirsicher, dass wir die Gespräche, die wir an dieser Stellemit den Ländern führen, in Kürze erfolgreich abschlie-ßen und so den Knoten durchschlagen werden . So kön-nen wir noch in dieser Legislaturperiode den bei der Di-gitalisierung notwendigen und sinnvollen Schritt gehen .In den Blick nehmen müssen wir auch die StiftungDeutsche Kinemathek, die zu 100 Prozent vom Bund ge-tragen wird . Es ist wichtig, dass wir – so haben wir es imKoalitionsvertrag festgeschrieben – die Deutsche Kine-mathek weiterhin stärken . Das werden wir im parlamen-tarischen Verfahren noch einmal zu besprechen haben .Durch den DFFF und die weitere Förderung, die wirim Wirtschaftsministerium angesiedelt haben – 50 Mil-lionen Euro für den DFFF und 10 Millionen Euro imWirtschaftsministerium –, ist der Filmbereich wirklichauf einem guten Weg . Wir müssen aber nicht nur über einGesamtkonzept diskutieren, sondern auch über die Tat-sache, dass wir in Deutschland im Vergleich zu unserenNachbarländern mit dem DFFF mittlerweile ein bisschenins Hintertreffen geraten. Wir müssen im Auge behalten,ob wir da nicht über andere Modelle des Anreizes spre-chen sollten . Denn wir erkennen, dass große Filmpro-duktionen Deutschland leider Gottes in der letzten Zeitverlassen haben .
Herr Kollege .
Ich bin bereit, darüber zu diskutieren .
Danke für die Aufmerksamkeit . Ich freue mich auf die
Beratungen .
Weitere Wortmeldungen liegen mir zu diesem Einzel-
plan nicht vor .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wegen des Staatsak-
tes für den verstorbenen Bundespräsidenten Walter
Scheel unterbreche ich die Plenarsitzung bis circa 16 Uhr .
Die Sitzung ist unterbrochen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir hatten die Sit-zung aufgrund des Staatsaktes für den verstorbenen Bun-despräsidenten Walter Scheel unterbrochen . Die unter-brochene Sitzung eröffne ich hiermit wieder.Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Auswär-tigen Amts, Einzelplan 05.Als erstem Redner erteile ich dem BundesministerDr . Frank-Walter Steinmeier das Wort .
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister desAuswärtigen:Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen undKollegen! Ein Bild hat sich eingebrannt – vermutlichbei uns allen –: das Bild des kleinen Omran, das jedernoch vor Augen hat . Er ist ein fünfjähriger Junge undgerade einem Raketenangriff in Aleppo entkommen. Erweiß noch nicht, dass sein Bruder im Sterben liegt . SeinBlick ist leicht verstört . Fast wie gelähmt wirkt der Klei-Burkhard Blienert
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ne im roten Sitz des Rettungswagens . Noch im Schockund scheinbar ohne Schmerz greift seine Hand ins blut-verschmierte Gesicht . Das Foto berührt, und das vermut-lich nicht nur wegen des individuellen Schicksals, son-dern auch, weil wir wissen und ahnen, dass dieses Fotostellvertretend für das Schicksal Tausender von Kindern,Hunderttausender von Zivilisten steht, die im scheinbarnicht enden wollenden Bürgerkrieg in Syrien gestorbensind .Aber noch mehr: Das Foto ist auch Mahnung und Auf-trag an die Politik . Wir dürfen uns nicht auf Anteilnahmeoder Empörung beschränken . Wir dürfen uns auch nichtvon Verzweiflung leiten lassen, selbst wenn schon fünfoder zehn Versuche, zu einem Waffenstillstand zu kom-men, gescheitert sind . Es ist schwer – niemand weiß dasbesser als ich –, aber wir dürfen und werden nicht hin-nehmen, dass das Sterben und Leiden vom fünften inssechste Jahr des Bürgerkriegs geht . All denjenigen, dieimmer schon wussten, dass die Bemühungen in Genf umdie Vermeidung einer humanitären Katastrophe nichtswert sind und sowieso scheitern werden, sage ich: Eswäre unverantwortlich, es nicht zu versuchen oder dieVerhandlungen nur deshalb, weil sie schwierig sind, ab-zubrechen . Das geht nicht .
Vielleicht, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist dasFoto noch mehr als Mahnung und Auftrag im Hinblickauf Syrien . Vielleicht ist es die Signatur einer krisenbe-fangenen Welt, in der Sicherheit und Stabilität offenbarkeine Selbstverständlichkeiten mehr sind, einer Welt, dieuns abverlangt, mehr zu tun, um Frieden zu wahren undihn dort, wo er verloren gegangen ist, wiederherzustel-len: in Syrien, im Mittleren Osten, aber auch bei uns zuHause in Europa .Wir drücken uns nicht vor Verantwortung . Geradeweil die Lage schwierig ist, haben wir in diesem Jahr denVorsitz der OSZE übernommen . Sie haben gesehen: Erstletzte Woche hatte ich meine OSZE-Außenministerkol-legen an einen für die Nachkriegsordnung historisch sehrbedeutsamen Ort, nämlich nach Potsdam, eingeladen . Ichmöchte Ihnen von meinen Erfahrungen bei diesem Tref-fen berichten .Ich glaube, auch wenn wir eine sechsstündige Debat-te geführt haben, haben die Kollegen aus Potsdam etwasganz anderes mitgenommen . Viel eindrücklicher als jedeRede war der gemeinsame Gang aller 40 Kollegen – vonWladiwostok bis Vancouver – am Abend über die Glie-nicker Brücke, einen Ort, der für viele Menschen Sym-bol der Teilung, des Misstrauens und des Schicksals ist .Letzte Woche ging von diesem Ort die Botschaft aus: Tutalles dafür, dass die Entfremdung zwischen Ost und WestEuropa nicht erneut in feindliche Lager spaltet oder garden Frieden gefährdet . – Niemand hat diese Botschaftals Reise in eine dunkle Vergangenheit des vergangenenJahrhunderts verstanden. Ich glaube, jeder hat begriffen,dass die Mahnung dieses Ortes höchst aktuell ist in einerZeit, in der selbst die Frage von Krieg und Frieden aufunseren europäischen Kontinent zurückgekehrt ist, nachRusslands völkerrechtswidriger Annexion der Krim,nach dem Konflikt in der Ostukraine.Wir müssen anerkennen – das ist meine persönlicheÜberzeugung – und dürfen nicht ignorieren, dass sichdie Sicherheitslage in Europa verändert hat und dass dasBedrohungsgefühl nicht nur der baltischen Staaten, son-dern einiger osteuropäischer Staaten gewachsen ist . Ichglaube, wir haben nach schwierigen Debatten im Vorfeldsogar vernünftige Beschlüsse auf dem NATO-Gipfel inWarschau dazu gefasst .Aber ebenso notwendig ist es ganz offenbar, immerwieder daran zu erinnern, dass unsere Verteidigungsstra-tegie immer auf zwei Säulen beruht: auf Abschreckung,aber eben auch auf Dialog . Das Problem ist manchmalnur: Abschreckung ist immer konkret, der Dialog oderdas Angebot zum Dialog selten . Deshalb sage ich überdas hinaus, was wir in der Vergangenheit diskutiert ha-ben: Wir müssen Formen finden, in denen wir wieder inder Kategorie gemeinsamer Sicherheit in Europa denken,um Eskalationen zu vermeiden, um wieder Berechenbar-keit zu schaffen.In diesen Zusammenhang gehört der Vorschlag, Rüs-tungskontrolle in Europa wieder stärker in den Blick zunehmen . Ich habe sehr viele positive Rückmeldungenauf diesen Vorschlag erhalten . Jetzt geht es darum, denkonkreten Dialog zu beginnen . Ob das am Ende gelingt,ist ungewiss . Aber es nicht zu versuchen, wäre unverant-wortlich, liebe Kollegen .
Leider, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnenund Kollegen, müssen wir uns nicht nur zwischen Ostund West, sondern auch innerhalb der Europäischen Uni-on ganz offenbar wieder mit der Gefahr neuer Trennlini-en auseinandersetzen . Mit dem Brexit mussten wir erle-ben, was ich selbst und vielleicht kaum jemand in diesemSaal vor drei Jahren, am Beginn dieser Legislaturperiode,für möglich gehalten hätte, nämlich dass sich ein großesund wichtiges Land, ein enger Partner unseres Landes,mit Mehrheit entscheidet, aus der Europäischen Unionherauszugehen . Das ist bitter . Das ist bitter für Großbri-tannien . Das ist bitter für uns . Das ist bitter für ganz Eu-ropa, auch wenn die langfristigen Folgen vielleicht zumjetzigen Zeitpunkt noch nicht einmal abzusehen sind .Klar ist – in dieser Allgemeinheit kann man die Auf-gabe beschreiben –: Worauf es jetzt in allererster Linieankommt, ist, wenn die Briten ausscheiden, Europa zu-sammenzuhalten . Nur, wie das gehen soll, darüber ge-hen – das kann ich Ihnen nach den ersten Gesprächen,die wir hatten, versichern – die Meinungen sehr weit aus-einander . Da gibt es die einen, die sagen: Jetzt, nach demAusscheiden der Briten, ist der Moment für den nächs-ten großen mutigen Integrationsschritt . – Und da gibt esdie anderen, die sagen: Jetzt, nach dem Ausscheiden derBriten, ist der Zeitpunkt, zu dem wir das Ganze entschei-dend zurückdrehen und in die Veränderung der Verträgeeinsteigen müssen . – Die Befürchtung dabei ist, dass wir„in the middle of nowhere“ landen .Ich habe deshalb versucht, mit meinem französischenKollegen Jean-Marc Ayrault einen Weg zu beschreiben,Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier
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der davon ausgeht, dass wir glauben, dass die Bevölke-rung in Europa jetzt nicht die großen Hinterzimmerde-batten in Brüssel erwartet und dass wir keine großen in-terinstitutionellen Diskussionen brauchen, sondern dassdie Menschen in unseren Ländern erwarten, dass sichEuropa handlungsfähig zeigt, und zwar gerade da, woErwartungen bestehen, aber Europa und wir gemeinsamin der Vergangenheit nicht geliefert haben . Das gilt fürdie Sicherheits- und Außenpolitik . Das gilt natürlich fürden Umgang mit Flucht und Migration, und das gilt imBereich der Wirtschafts-, Wachstums- und Währungs-fragen . Wer im Sommerurlaub in der mediterranen Weltwar, wird festgestellt haben, wenn er politisch diskutierthat: Das Thema Jugendarbeitslosigkeit ist dort immernoch das brennende Thema .Deshalb haben wir für dieses Bündel von Themen ineinem gemeinsamen Papier Vorschläge zu machen ver-sucht. Ich hoffe sehr, dass schon auf dem nächsten Eu-ropäischen Rat in Bratislava sich eine gemeinsame Linieder Vernunft jedenfalls zeigt .Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir überTrennlinien in Europa sprechen, dann lassen Sie mich andieser Stelle auch ein Wort zur Türkei sagen . Es gibt zweivöllig konträre Wahrnehmungen derselben Realität . DieTürkei hat den Eindruck, wir hätten den Putschversuchniemals ernst genommen, unsere Anteilnahme sei nichtsichtbar gewesen und insbesondere aus Deutschland seisogar der Vorwurf gekommen, der Putsch sei von Anfangan inszeniert gewesen .Ich habe kürzlich bei der ersten Begegnung mit dentürkischen Kollegen danach in einer öffentlichen Stel-lungnahme in Bratislava gesagt: Vielleicht haben wirwirklich nicht genügend deutlich gemacht, dass dieserPutschversuch tatsächlich ein ungeheuerlicher Angriffauf die Institutionen der Demokratie war . Vielleicht ha-ben wir es nicht geschafft, öffentlich herüberkommen zulassen, dass wir großen Respekt vor der Gegenwehr ha-ben, die das türkische Volk gezeigt hat, und dass unserMitgefühl natürlich denen gilt, die bei den Angriffen derPutschisten ihr Leben verloren haben . – Insoweit stehenwir allemal fest an der Seite der Türkei . Das wollte undmusste gesagt sein, und ich glaube, wir können betonen:Wir meinen es ernst .Umgekehrt sollte aber – und das habe ich bei der Be-gegnung mit den türkischen Kollegen in Bratislava auchgesagt – nicht jede kritische Frage aus Europa sogleichals Arroganz oder Ignoranz gegenüber den Vorgängenund den Gefahren in der Türkei gesehen werden . Selbst-verständlich – und das haben viele von uns betont – mussdieser Putschversuch politisch und rechtlich aufgearbei-tet werden, und selbstverständlich müssen die Verant-wortlichen zur Rechenschaft gezogen werden . UnsereErwartung, dass dabei rechtsstaatliche Standards gewahrtwerden, muss und darf in der Türkei aber nicht als Zumu-tung empfunden werden .Deshalb bin ich froh, dass gerade heute Morgen einerstes Treffen des Europarates mit dem türkischen Au-ßenminister stattgefunden hat, in dem der Europarat aus-drücklich das Angebot gemacht hat, bei der Vorbereitungder wahrscheinlich überwiegend stattfindenden Strafver-fahren behilflich zu sein.Bei allen Reibungsflächen, die sich dort jetzt zeigenund die bleiben werden, finde ich, dass jetzt die Phasedes Übereinander-Redens, in der wir nur mittels Mikro-fonen und Kameras miteinander geredet haben, nach undnach durch eine Phase abgelöst werden muss, in der wirwieder miteinander reden – auch kontrovers – und auchoffen und ehrlich streiten.Ich glaube, wir müssen uns klar sein: Am Ende habenwir in Deutschland es nicht allein in der Hand, zu ent-scheiden, ob die Türkei wichtig oder unwichtig für unsist . Ich will gerne noch einmal in Erinnerung rufen: DieTürkei ist ein Schlüsselland für uns . Das sage ich nichtnur wegen der 2,5 Millionen Flüchtlinge, die sich in derTürkei aufhalten, und das sage ich auch nicht nur, weil esein Flüchtlingsabkommen mit der Türkei gibt . Wer im-mer heute noch an diesem Pult reden und etwas über Sy-rien, den Irak und Libyen sagen wird, der muss wissen:Keiner dieser Konflikte wird am Ende lösbar sein, ohnedass wir die Türkei irgendwie im Boot haben .Deshalb rate ich uns sehr dazu, kritisch zu sein, woes notwendig ist, aber nicht so zu tun, als könnte mansich wegen der kritischen Punkte Beziehungen mit derTürkei in irgendeiner Weise ersparen oder wegwünschen .Die Türkei wird gebraucht – auch von uns, die wir unsum Frieden in der Region des Mittleren Ostens bemühen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach all dem sehenSie: Auch in der Sommerpause sind die Krisen geblie-ben . In mancher Hinsicht sind sie vielleicht sogar mitnoch größerer Härte zurückgekehrt, und Krisendiploma-tie wird jedenfalls aus unserer Perspektive tägliches Brotunserer außenpolitischen Arbeit bleiben .Das gilt für Syrien – dazu habe ich ein paar Wortegesagt –, und das gilt für die Ostukraine . Ich werde inder nächsten Woche mit meinem französischen Kollegenwieder in der Ukraine sein und in Gesprächen mit denKollegen dort prüfen, ob und wann wir gegebenenfallsim Normandie-Format wieder zusammenkommen .Wir haben unser Engagement in Mali unter wirklichschwierigen Bedingungen dort – der eine oder anderehat sich das vor Ort ansehen können – ausgebaut, undin Kolumbien – Tom Koenigs ist jetzt nicht hier, wennich das richtig sehe, sonst hätte ich mich jetzt bei ihmbedankt – haben wir ein bisschen mithelfen können, dassder Friedensprozess nicht nur vorangekommen ist, son-dern dass mit der Unterschrift unter einem Friedensab-kommen jetzt ein guter Weg gegangen wird . HerzlichenDank dafür!
Ich will zum Abschluss sagen: Wenn wir uns in denHaushaltsgesprächen wiederfinden und wenn die Ge-spräche stärker ins Detail gehen, dann geht es nicht im-mer nur um die ganz großen Lösungen, nicht immer umBundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier
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den endgültigen Vorschlag, wie der Syrien-Krieg beendetwird, sondern meistens liegen viele Schritte dazwischen .Wir haben es in den letzten Jahren geschafft, nicht nuran die ganz großen Lösungen zu denken, die vielleichtgescheitert wären, sondern den gesamten Zyklus einesKonfliktes in den Blick zu bekommen: von der humani-tären Hilfe, von der Krisenprävention bis hin zur Stabili-sierung und vor allen Dingen – darauf haben wir in denletzten zwei Jahren großes Gewicht gelegt – bis hin zumAusbau unserer Mediationsfähigkeiten, die dringend ge-braucht werden . Ich möchte mich beim ganzen Hauseherzlich dafür bedanken, dass unsere Möglichkeiten ge-rade in den letzten zwei Jahren in diesem Bereich starkgewachsen sind . Herzlichen Dank dafür .
Auch dank Ihrer Unterstützung ist es gelungen, dasswir bei der humanitären Hilfe zum drittgrößten Geberweltweit geworden sind . Die Syrien-Krise, über die ichgesprochen habe, ist natürlich der Schwerpunkt . Dankdeutscher Hilfe, um es konkret zu machen, konnten zumBeispiel 110 000 Menschen in Deir al-Sor im Osten Sy-riens aus der Luft versorgt werden . Darüber hinaus kon-zentrieren wir uns natürlich auf die Unterstützung in denNachbarländern, insbesondere auf Jordanien und Liba-non .Ich glaube, jeder weiß, dass die Menschen nur dann,wenn wir die Bleibeperspektiven in der Region verbes-sern, die Hoffnung behalten, dass sie irgendwann inihre Heimat zurückkehren können . Deshalb ist Stabili-sierung, nachdem Aufenthaltsorte definiert worden sindund nachdem wir möglicherweise sogar Orte von ISIS,von Daesh, befreit haben, wichtig . Wir leisten Stabili-sierungsarbeit, um dort so schnell wie möglich ein Mi-nimum an Lebensbedingungen zu schaffen, die es denMenschen ermöglichen, bleiben zu können . Das ist in derletzten Zeit, glaube ich, ganz gut gelungen . Das BeispielRamadi im Irak zeigt, dass mittels der Stabilisierungshil-fe etwa 90 Prozent der Menschen in eine fast zerstörteStadt zurückgekehrt sind und sich nicht zwischen denFronten im Irak auf den Weg Richtung Türkei oder an-derswo begeben haben .Das, meine Damen und Herren, wird in den nächstenMonaten, im kommenden Jahr weiterhin der Kern unse-rer Arbeit sein . Wir werden uns der Verantwortung nichtnur nicht entziehen, sondern wir werden auch signalisie-ren, dass wir bereit sind, im internationalen Rahmen Ver-antwortung zu übernehmen und für eine regelbasierte in-ternationale Ordnung zu arbeiten . Wir werden uns daherfür den Sitz im Sicherheitsrat 2019 und 2020 bewerben .Dafür werde ich um Unterstützung werben .Herzlichen Dank .
Nächster Redner ist der Kollege Michael Leutert für
die Fraktion Die Linke .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Minister, Sie haben gerade das Bild des kleinen Jun-gen in Aleppo mit blutverschmiertem Gesicht erwähnt .Ich will nur daran erinnern: Es gab vor nicht allzu langerZeit schon einmal solch ein Bild, nämlich das des kleinenAylan Kurdi, der die Flucht nicht überlebt hat und tot ander türkischen Küste aufgefunden wurde . Das Traurigean der Sache ist, dass wir jedes Mal solche Symbolbilderhaben, dass uns diese Bilder auch bewegen, aber wir beider eigentlichen Lösung der Konflikte bisher nicht wei-terkommen . Daher bin ich auch etwas verwundert überden Haushalt, der uns hier vorgelegt wird .Wir haben 2015, also vor einem Jahr, einen Haus-haltsentwurf von Ihnen diskutiert, der unter dem Ein-druck der bekannten Konflikte stand: Syrien, Irak, IS –der IS hat den Terror nach Europa gebracht, gerade imletzten Jahr –, Ukraine und Afghanistan, was gar nichtmehr so oft genannt wird . Damals war der Vorschlag,dass für diesen Haushalt 4,4 Milliarden Euro bereitge-stellt werden sollten . Da hat das Parlament gesagt: Dasreicht nicht aus . – Wir haben also 400 Millionen Eurozusätzlich zur Verfügung gestellt . Dadurch standen Ihnen4,8 Milliarden Euro zur Verfügung, eine Rekordsumme .Selbst das langt nicht, wie wir seit gestern wissen; es gibtdazu ein entsprechendes Schreiben .Jetzt sind wir in der gleichen Situation: Einige Kon-flikte haben sich verschärft. Mit Blick auf Europa will ichnur den Brexit nennen . In der Türkei gab es den versuch-ten Putsch mit all den Folgen, die damit zusammenhän-gen . Auch das militärische Eingreifen der Türkei gegendie Kurden in Syrien ist in diesem Zusammenhang zunennen . Jetzt haben wir einen Entwurf mit einem Etatvon 4,6 Milliarden Euro, also 200 Millionen Euro weni-ger als im laufenden Jahr . Das passt nicht zusammen; dasgeht so nicht . Dem können wir auch nicht zustimmen .
Es ist klar – man merkt schon, dass der Wahlkampfdurchschimmert –: Der CDU-Finanzminister schenkt Ih-nen nichts mehr . Aber damit wird das, was Sie immerin der Öffentlichkeit fordern, nämlich international mehrVerantwortung zu übernehmen, konterkariert . Das ist ge-nau das Gegenteil von Verantwortung übernehmen, unddamit ist das auch der schlechteste Haushaltsentwurf, derbisher in der Legislatur vorgelegt wurde .
Wir können nicht ernsthaft bei gleicher Konfliktlageweniger Geld für die zivile Außenpolitik ausgeben, zu-mal wir mittlerweile wissen – ich glaube, darin sind wiruns einig –, dass jeder Konflikt einer politischen Lösungbedarf, und zumal das Geld auch vorhanden ist . Ich willnur daran erinnern, dass das Verteidigungsministeriumdieses Jahr 2,3 Milliarden Euro mehr bekommen soll .Das sind exakt 50 Prozent von dem, was Sie als Gesamt-etat für Ihre Außenpolitik im zivilen Bereich zur Verfü-gung haben .Ich gehe davon aus, dass wir als Parlament auch die-ses Jahr hier nachbessern werden und den Etatansatz er-Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier
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höhen müssen . Mittlerweile ist es schon so – Sie habendie Türkei bereits angesprochen –, dass Beschlüsse desBundestages durchaus eine außenpolitische Komponentebekommen und zu Irritationen führen können. Ich hoffe,dass sich von diesem Beschluss des Bundestages dannniemand distanzieren muss .Herr Steinmeier, was die Türkei – Sie haben davongesprochen, dass wir sie als wichtigen Partner brau-chen – und die Distanzierung des Bundestages von derArmenien-Resolution betrifft: Die Kanzlerin hat eineEntscheidung getroffen. Sie haben sie nicht alleine ge-troffen. Als Kabinettsmitglied sind Sie aber auch dafürverantwortlich . Natürlich muss die Kanzlerin das mitent-scheiden . Sie hat die Richtlinienkompetenz . Das ärgertderzeit mit Sicherheit einige, besonders in der Union .Aber von dieser Richtlinienkompetenz hat sie hin undwieder guten Gebrauch gemacht . Sie hat durchaus Ent-scheidungen getroffen, die von Pragmatismus und Ver-nunft getragen wurden . Ich nenne nur den Atomausstieg,die Abschaffung der Wehrpflicht, die Einführung desMindestlohns oder eben die offenen Grenzen für Men-schen in Not . Das sind alles Entscheidungen, die sie mitgetroffen hat.Aber wenn es um die Türkei geht, habe ich das Ge-fühl, dass die Vernunft abhandenkommt . Das ging beimFlüchtlingsdeal los . Der Flüchtlingsdeal ist in einer Er-pressungssituation zustande gekommen . Die Türkei hatgesagt: Wir helfen euch nicht bei der Problematik derFlüchtlinge, wenn ihr uns nicht Visafreiheit gewährt . –Wenn dieser Deal gelten soll, dann frage ich mich, wa-rum wir die vielen Millionen Euro im Haushalt für dieSanierung der Visastelle in Istanbul benötigen . Die kön-nen wir dann einsparen .Wer sich einmal erpressen lässt, lässt sich auch einweiteres Mal erpressen . Jetzt haben wir die gleiche Si-tuation . Die Türkei sagt: Wenn sich die Bundesregierungnicht von der Armenien-Resolution distanziert, dann dür-fen wir Parlamentarier unsere eigenen Soldaten, die Teileiner Parlamentsarmee sind, nicht im Einsatz besuchen,und zwar in einem Einsatz, mit dem die Bundeswehrdazu beitragen soll, den IS zu bekämpfen, eine Terroror-ganisation, die auch Anschläge in der Türkei verübt hat .Dabei soll die Bundeswehr – das ist der Auftrag, den dieBundeswehr hat – für die internationale Koalition Infor-mationen liefern, damit die Bodentruppen der Verbün-deten, also auch die syrischen Kurdinnen und Kurden,gegen den IS vorgehen können . Und die Türkei kämpftnoch militärisch gegen diese Kurdinnen und Kurden .Dort ist eine völlig absurde Situation entstanden . Dasssich die Bundesregierung dem sozusagen ergeben hat,halte ich für ein riesengroßes Problem .
Es ist absurd . Die Bundeswehr gehört meines Erachtensin diesem Fall aus der Türkei abgezogen . Wir dürfen unsnicht erpressen lassen .
Wenn es der Bundesregierung peinlich ist, was wirals Parlament beschließen, dann muss man im Bundes-tag vielleicht einmal darüber nachdenken, ob wir andereMehrheiten benötigen: für eine andere Regierung, derdas nicht peinlich ist . Vielleicht hätten wir dann im Par-lament auch Mehrheiten für mehr Mittel in der Flücht-lingshilfe, für Abrüstungsmaßnahmen oder für die Stär-kung der Menschenrechte . Oder wir hätten mehr Mittelfür Krisenprävention .Eine Sache noch, Herr Minister . Letztes Jahr standenwir in den Haushaltsberatungen alle unter dem Eindruckder massenhaften Fluchtbewegungen von Menschen, diebei uns in Europa angekommen sind . Wir standen unterdem Eindruck der brutalen Anschläge des „IslamischenStaates“ in Paris . Damals ist Folgendes passiert: Wir ha-ben für den Etat des Auswärtigen Amts – das kam mei-nes Erachtens so noch nicht vor – 1 Milliarde Euro mehrbewilligt, als im Rahmen des Kabinettsentwurfs vorge-sehen worden war . Dabei hatte ich das Gefühl, es gebeeinen Hauch von Einigkeit nach dem Motto: Wir sind unshier im Parlament einig und wissen, dass es sich um einesehr brenzlige Situation handelt . Wir müssen etwas tunbzw . mehr tun .
Herr Kollege Leutert, Sie denken bitte an die verein-
barte Redezeit .
Das alles ist aber verflogen. Wir haben heute die Situa-
tion, dass Sie einen Haushaltsentwurf mit 200 Millionen
Euro weniger vorlegen . Ich kann jetzt nur noch einmal
betonen: Der Wahlkampf schimmert schon durch . Das
ist schade, weil damit keine Verantwortung übernommen
wird . Vielmehr ist dies genau das Gegenteil von Verant-
wortungsübernahme .
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Jürgen
Hardt .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir haben uns gerade in einem Staatsakt vom früherenBundespräsidenten und Außenminister Walter Scheelverabschiedet . Als Wahlkreisabgeordneter für Solingen,der Heimatstadt von Walter Scheel, darf ich sicher sagen,dass das eine sehr würdige Veranstaltung war, der auchvor Ort sicherlich ein Gedenken folgen wird .Ich fand auch, dass die Reden, die wir mit Blick aufWalter Scheel gehört haben, sehr zutreffend waren. Manmusste aber nicht jedes politische Detail der Einsortie-rung in die Zeitgeschichte teilen . Ich glaube, die Bun-desrepublik Deutschland war unter einem Bundeskanzlerund Außenminister Konrad Adenauer auch schon ganzMichael Leutert
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schön erwachsen . Auf jeden Fall haben wir eine guteRede gehört .Wir haben eine große Einigkeit in der Bewertung bzw .Einschätzung der Bedeutung der Außenpolitik zum Aus-druck gebracht . Das ist ja etwas, was dieses Haus aus-zeichnet und was letztlich auch einen wesentlichen Teilder Schlagkraft bzw . der Bedeutung unserer Außenpolitikdarstellt . Wir bemühen uns, die Punkte aus der parteipoli-tischen Alltagspolitik ein Stück weit herauszuhalten, vondenen wir glauben, dass es dem Ansehen Deutschlandsdienlich ist, wenn wir sie gemeinsam vertreten .Wenn wir auf den Entwurf des Bundeshaushaltes 2017blicken, werden wir als Abgeordnete natürlich sehr sorg-fältig darauf achten, inwieweit alle Positionen, die dortvon der Regierung beantragt werden, tatsächlich auf dasgroße zentrale Ziel – nämlich Bekämpfung von Fluchtur-sachen – ausgerichtet sind . Wir werden weiter sorgfältigdarauf achten, welchen Beitrag jede einzelne Maßnahmeund jede einzelne diplomatische Anstrengung leistet, umtatsächlich das Problem und die Herausforderung zu be-wältigen, dass in der Welt weit über 60 Millionen Men-schen – mehr als am Ende des Zweiten Weltkrieges – aufder Flucht sind . Und wir werden auch darauf achten, dassdie Außenpolitik durch Vorsorge und Hilfe in der Heimatdieser Menschen einen entsprechenden Beitrag zur Sta-bilität leistet .Deutschland hat das in den vergangenen Monatenschon getan. Deutschland hat klare Zusagen finanziellerArt an die Völkergemeinschaft gemacht . Ich erinnere andie Londoner Konferenz . Auch war der Deutsche Bun-destag damit einverstanden, dass die Bundesregierungbei der humanitären Hilfe noch einmal einen kräftigenBatzen obendrauf gelegt hat . Wenn man allerdings mitden Ländern spricht, welche die Flüchtlinge beherbergen,und fragt, wieviel von dem in London versprochenenGeld – es sind, wenn ich die Zahl richtig im Kopf habe,insgesamt 11 Milliarden Dollar – beispielsweise konkretin Jordanien angekommen ist, dann stellt man fest, dasses ein großes Delta gibt zwischen dem, was zum Beispielvon Deutschland eingezahlt wurde, und dem, was kon-kret vor Ort schon eingesetzt werden konnte .In der übernächsten Woche wird ein UN-Flüchtlings-gipfel stattfinden, an dem die Bundesregierung teilneh-men wird . Auch wird es eine Leader-Konferenz geben,zu der der amerikanische Präsident unter anderem auchdie deutsche Bundeskanzlerin nach New York eingeladenhat . Ich würde mir wünschen, dass davon das klare Si-gnal ausgeht, dass die Völkergemeinschaft erstens bereitist, viel zu tun, und dass man zweitens auch diejenigen,die für die Umsetzung verantwortlich sind, dazu drängenwird, schnell und rasch zu handeln . Es sollte keine Ver-zögerung durch übermäßige Bürokratie geben . Das ist,glaube ich, ein großes Anliegen .Wenn man sich den Umfang des Haushaltes vor Augenführt – Herr Kollege Leutert hat darauf hingewiesen –,so stellt man fest, dass der operative Teil der Ausgabengegenüber dem Vorjahr steigt . Die Reduzierung des Ge-samtetats hat damit zu tun, dass wir bei den VereintenNationen keinen gleichbleibenden jährlichen Mitglieds-beitrag zahlen . Wir hatten – im Rahmen eines Dreijahres-rhythmus – für 2016 einen sehr hohen Beitrag zu zahlen .Dieser Beitrag wird also entsprechend niedriger werden .Herr Leutert, das bitte ich doch zu akzeptieren .Ich glaube allerdings, dass wir darüber nachdenken müs-sen, ob wir im Bundestag möglicherweise mit Blick aufdie humanitäre Hilfe und die Ertüchtigung unserer Part-nernationen noch einmal prüfen sollten, ob da mehr zutun ist . Ich vermute zudem, dass die Bundesregierungvon der UN-Konferenz in New York die eine oder andereVerpflichtung mitbringt, der gegenüber wir uns in diesemHaus offen zeigen werden. In diesem Bereich signalisie-re ich für die Union Gesprächsbereitschaft und gegebe-nenfalls Bereitschaft zur Anpassung .Lassen Sie mich nun im Rahmen des Themas „Be-kämpfung der Fluchtursachen“ auf die einzelnen Regi-onen zu sprechen kommen . Der Außenminister hat zuRecht darauf hingewiesen, dass unser Verhältnis zur Tür-kei und die Rolle der Türkei ganz entscheidend sind . DieTürkei hat sich nun mit Bodentruppen aktiv in den Kon-flikt in Syrien eingemischt, weil sie eine konkrete Ge-fahr durch das, was im Norden des Irak passiert, für ihreSüdgrenze sieht . Sie nimmt hier meines Erachtens dasvölkerrechtlich legitime Recht der Selbstverteidigungwahr . Ich warne allerdings vor Folgendem: Die Türkeidarf nicht eine Lage erzeugen, die dazu führt, dass sichdiejenigen, die gemeinsam gegen den IS kämpfen, insGehege kommen . Hier muss auf die gleiche Karte ge-setzt werden . Jeder muss seinen Beitrag leisten . Die Tür-kei darf dort andere Nationen und Kräfte nicht behindern .Deutschland sollte sowohl hinter verschlossenen Türenals auch öffentlich klar sagen, was es von der Türkei er-wartet .Das Abkommen der Europäischen Union mit der Tür-kei funktioniert . Es hilft, die Flüchtlingsströme ein Stückweit zu kanalisieren und zu begrenzen . Ich halte für dieUnion fest: Dieses Abkommen ist nicht mit einem Rabattin der Visafrage verbunden . Ich halte es für sehr wichtig,dass wir an den 72 Kriterien festhalten, die die Europä-ische Union für die Visaliberalisierung vorsieht . Diesegelten im Übrigen nicht nur für die Türkei . Wenn diese72 Kriterien erfüllt sind, ist die Sicherheit für die Bürge-rinnen und Bürger Europas höher als heutzutage, auchohne Visafreiheit . Was nutzt schon ein Visum in einemPass, der nicht die notwendige Sicherheit dafür bietet,dass derjenige, der ihn vorlegt, tatsächlich der ist, als derihn der Pass ausweist . Die Visaliberalisierungspolitik derEuropäischen Union ist daher von uns voll und ganz zuunterstützen . Es wird keinen Rabatt geben .Ich bin des Weiteren der Auffassung, dass wir trotz dererheblichen Irritationen, die wir vor allem in der Nach-folge des Putschversuchs erlebt haben, der Türkei dieFortsetzung der Beitrittsgespräche nicht verwehren soll-ten . Ich glaube, dass das eine starke Ermutigung derjeni-gen Kräfte in der Türkei ist, die im Augenblick in der De-fensive sind und eine Europa zugewandte Türkei wollen .Wenn wir unsererseits diese Gesprächs- und Verhand-lungsmöglichkeiten kappen würden, würden wir letztlichdiesen Kräften die Rückendeckung rauben . Im Übrigengeht es bei solchen Beitrittsverhandlungen nicht darum,auszudealen, was wir von unserem EU-Bestand aufge-ben wollen . Vielmehr wird bei solchen VerhandlungenJürgen Hardt
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festgestellt, wie es um den tatsächlichen Rechtsstand, dieGesetzeslage und die Rechtspraxis in der Türkei im Ver-hältnis zum EU-Recht bestellt ist und was gegebenenfallszu korrigieren ist . Ich glaube, dass konkrete Verhand-lungen eher dazu führen, dass die türkische Regierungmit ihren Bürgern ins Gespräch darüber kommt, warumes Deltas zwischen dem EU-Recht und der türkischenRechtspraxis gibt . Die Beitrittsverhandlungen stellen ei-nen Weg dar, die Verhältnisse in der Türkei zum Besserenzu befördern .Ich freue mich, dass es nun offenbar deutschen Abge-ordneten in Kürze ermöglicht wird, Incirlik zu besuchen .Ich habe angemahnt, das im Zweifel auf NATO-Ebeneanzusprechen, wenn eine bilaterale Lösung nicht mög-lich ist . Aber nun zeichnet sich eine bilaterale Lösung ab .Ich wünsche mir, dass die türkische Regierung in Kürzewieder einen Botschafter nach Deutschland entsendet,sodass wir zu normalen Verhältnissen zurückkehren .Das führt mich nun zu dem Land, aus dem die meistenFlüchtlinge nach Europa, in die Türkei, nach Jordanienund in den Libanon kommen, nämlich zu Syrien . Dortherrscht seit fünfeinhalb Jahren ein grauenhafter Bürger-krieg . Was wir in den letzten Wochen in Aleppo erlebthaben, hat quasi wie unter einem Brennglas gezeigt, wasdas syrische Problem an sich darstellt . Aleppo zeigt, dassdieser Konflikt militärisch nicht zu gewinnen ist, wedervon Assad – trotz der Unterstützung Russlands – nochvon den Oppositionskräften, und dass letztlich nur eineVerhandlungslösung dazu beitragen kann, dass diesesLand in einen dauerhaften Frieden zurückgeführt wird .Dass Russland sich so beharrlich weigert, die vonRussland mit unterstützten Resolutionen des Sicherheits-rates – Zugang zu humanitärer Hilfe, keine Fassbomben –umzusetzen, hat meines Erachtens damit zu tun, dassPutin durch die Entscheidung, sich auf die Seite Assadszu stellen, die Erwartung in seinem Land geweckt hatte,dass die russische Hilfe tatsächlich ausreichen würde, umAssad zu stabilisieren und ihm die Souveränität über seinLand zurückzugeben . Das ist so nicht der Fall .Es ist deswegen ein weiter und sicher auch konfliktrei-cher Weg, in internen Diskussionen in Russland klarzu-machen, dass man möglicherweise doch auf eine friedli-che Konfliktlösung setzt. Das ist schwierig. Ich kann dieBundesregierung nur ermutigen, immer wieder beharr-lich darauf hinzuwirken, dass Amerika und Russland sichverständigen und dass auch Saudi-Arabien und der Iranmit im Boot bleiben, so wie es im November letzten Jah-res bei der Wiener Konferenz gewesen ist . Vielleicht istin den nächsten Tagen und Wochen wieder Gelegenheit,dass die beiden Präsidenten der USA und Russlands mit-einander reden und man an diesem Punkt entscheidendvorankommt .Wir müssen seit einigen Jahren feststellen, dass dieRussen – „elephant in the room“ würden die Amerika-ner sagen – in vielen Konfliktsituationen die Konfliktenicht entschärfen, sondern eher dazu beitragen, dass dieKonflikte nicht beigelegt werden können. Ich habe ebenam Beispiel Syriens versucht, das darzulegen . Im Ostender Ukraine und auf der Krim ist Russland Aggressor .Das sind Zustände, die wir so nicht hinnehmen können .Wir wissen, dass es keine militärische Lösung für denUkraine-Konflikt gibt. Diese Meinung hat sich meinesErachtens in der Welt insgesamt durchgesetzt . Die Dis-kussionen von vor zwei Jahren in Amerika über diesenPunkt sind weitgehend verstummt . Das bedeutet aber,dass wir einen langen Atem bewahren müssen und dasswir unsere Forderungen an Russland, den völkerrechts-widrigen Zustand in der Ukraine zu beenden, konsequentaufrechterhalten müssen .
Wir wissen auch, was wir an den Amerikanern ha-ben, wenn es um diese doch sehr spezifischen oder aus-schließlich europäischen Probleme geht . Deswegen rateich dazu, die transatlantische Partnerschaft mit Nord-amerika, mit den USA und Kanada, zu pflegen. Sie sindverlässliche Partner – das haben wir jetzt gerade beimWarschauer Gipfel der NATO wieder erlebt –, wenn esdarum geht, dass sich Europa ein Stück weit rückversi-chert, dass es tatsächlich in der Lage ist, das eigene Ter-ritorium zu verteidigen . Dann stehen die Amerikaner be-reit, und zwar nicht nur mit guten Worten, sondern auchganz konkret mit Soldaten . Neben dem, was Deutschlandund andere osteuropäische NATO-Partner machen, sinddie Amerikaner zu einem vergleichbaren Einsatz bereit .Wir haben in Nordamerika einen dauerhaft festen Ver-bündeten, wenn es um die Verteidigung der Freiheit in derWelt geht, und wir haben einen festen Verbündeten, wennes um die Verteidigung der Regeln eines fairen Welthan-dels geht. Deswegen finde ich es gut, dass wir mit Ka-nada zum Abschluss des CETA-Abkommens kommenwerden . Ich bin sicher, dass uns das gelingen wird . DerDeutsche Bundestag wird im September wohl auch darü-ber debattieren . Ich rate dringend dazu, dass wir trotz desWahlkampfgetöses auf allen Seiten diesseits und jenseitsdes Atlantiks das Ziel, ein faires und gutes, umfassendesHandelsabkommen zwischen der Europäischen Unionund den USA hinzubekommen, nicht aufgeben .
Ein Blick unserer Außenpolitik muss ganz klar auchnach Afrika gehen . Was Libyen angeht, so hat der deut-sche Außenminister dargestellt, dass Deutschland starkengagiert bei der Suche nach einer Lösung für diesesLand ist . Wir wissen aber auch, dass ganz viele Staatenim übrigen Afrika in einem fragilen Zustand sind, sodassgerade junge Menschen im Zweifel ihr Heil im Ausland,besonders in Europa, suchen .Es ist gut, dass die Bundesregierung speziell mit Nigerund mit Mali jetzt Migrationspartnerschaften entwickelt,um Lösungen zu finden, wie die Menschen gefördert unddamit im Land gehalten werden können . Auch das En-gagement der Bundeswehr in Mali ist erheblich . Das istaus meiner Sicht möglicherweise der gefährlichste Ein-satz, den die Bundeswehr gegenwärtig hat . Mali ist einDurchgangs- und Schlüsselland für die gesamte westaf-rikanische Region . Man sieht, dass sich dort Terroran-schläge entlang der Hauptverkehrswege Richtung Südenereignen . Wenn Mali endgültig destabilisiert werdenwürde, dann hätten wir ein ganz großes Problem auch inJürgen Hardt
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anderen Staaten der Region, und vor allem gäbe es einengroßen Migrationsdruck in Richtung nordafrikanischeKüste . Deswegen glaube ich, dass wir uns dem Thema„Beitrag Deutschlands und Europas zur StabilisierungAfrikas“ in den nächsten Jahren noch stärker widmenmüssen, als wir das heute bereits tun .Herzlichen Dank .
Nächster Redner ist der Kollege Dr . Frithjof Schmidt,Bündnis 90/Die Grünen .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Auch ich möchte mit der dramatischen Lage in Syrienbeginnen. Wir befinden uns jetzt im fünften Jahr desBürgerkrieges in Syrien . Die humanitäre Lage ist kata-strophal . Sie alle kennen die Berichte, die uns aus demumkämpften Aleppo und anderen Orten erreichen . Aus-gehandelte Waffenstillstände werden gebrochen. Einge-kesselte Menschen können nicht mit Nahrungsmittelnund Wasser versorgt werden . Ich sage: In dieser dramati-schen Lage muss die humanitäre Versorgung der Zivilbe-völkerung oberste Priorität haben .
Herr Außenminister, deswegen begrüßen wir, dassSie nach einigem Zögern begonnen haben, sich für dieSchaffung einer humanitären Luftbrücke zu engagie-ren . Die UNO hat das seit gut drei Monaten gefordert .Niemand kann den eingekesselten Menschen in Aleppoerklären, warum die westliche Allianz täglich Dutzendevon Bomben in umkämpfte Gebiete abwerfen kann, aberkeine Lebensmittel und keine medizinische Versorgungs-güter über dem Stadtgebiet von Aleppo .
Niemand kann das erklären .So richtig es ist, dass die USA und Russland am Ran-de des G 20-Gipfels Verhandlungen über umfangreicheWaffenstillstände geführt haben – das ist gut –: Solangediese aber nicht zustande kommen, bleibt die Frage derLuftversorgung für die Menschen in Aleppo zentral . Siegehört in das Zentrum auch der deutschen Politik .
Ich hätte mir gewünscht, die Bundesregierung hättedie Frage der Luftversorgung der Bevölkerung in Aleppoauf die offizielle Tagesordnung der G 20 gesetzt. Warumhaben Sie, warum hat Frau Merkel das nicht versucht?Das ist wieder eine verpasste Chance für die Menschenin Aleppo, die schnell Hilfe brauchen .
Ich will noch eine zweite Bemerkung zum Krieg inSyrien machen . Jetzt geht der NATO-Partner Türkei dortmilitärisch gegen besonders wichtige kurdische Verbün-dete der Anti-ISIS-Allianz vor, die vom NATO-PartnerUSA auch personell am Boden mit Special Forces unter-stützt werden . Die USA mussten in dieser Situation ihreSoldaten auf einen Stützpunkt evakuieren, damit NATOnicht direkt auf NATO schießt, statt ISIS zu bekämpfen .Da sind geschützte Gebiete, die durch das Vorrücken derFreien Syrischen Armee freigekämpft wurden . Wir allereden darüber, dass es geschützte Gebiete, geschützteRäume braucht . Sie geraten in Gefahr .Die Bundeswehr ist Teil dieser Allianz, deren Strate-gie in Syrien die Türkei gerade buchstäblich in Stückeschießt .
Ich sage: Dieses Vorgehen der Türkei ist ein politischerSkandal, der die gesamte Strategie des Westens zur Lö-sung der Fragen in Syrien grundlegend infrage stellt .
Sie, Herr Außenminister, sagen dazu praktisch nichts . Siegeben keine klare politische Bewertung dazu ab. Ich fin-de, das geht nicht .
Herr Außenminister, der Bedarf an humanitärer Hilfewächst international dramatisch an . Das wissen Sie na-türlich vermutlich besser als wir alle . Deswegen kannich Ihren Haushaltsentwurf für diesen Bereich überhauptnicht nachvollziehen . Sie haben in diesem Jahr IhrenHaushaltsansatz um 400 Millionen Euro überziehenmüssen, und Sie haben rund 1,1 Milliarden Euro für hu-manitäre Hilfe ausgegeben . Das war gut und richtig so,und wir haben das unterstützt .
Aber was ist jetzt? Jetzt beantragen Sie für 2017 nur730 Millionen Euro . Sie wollen die realen Ausgaben alsoum 400 Millionen Euro kürzen . Das ist doch in dieserinternationalen Situation einfach völlig absurd .
Sie wissen, dass der Bedarf weiter dramatisch steigt .Sie müssen diesen Etat erhöhen . Sie wissen auch, dasses so kommen wird . Die Hilfsorganisationen brauchendringend Planungssicherheit . Reden Sie einmal mit demWorld Food Programme . Dessen Vertreter sagen: Wennwir am Anfang des Jahres nicht wissen, dass wir in derzweiten Hälfte des Jahres Schiffe und Lebensmittel be-stellen können, steigen die Kosten der Versorgung derBevölkerung dramatisch – um 30 Prozent – an . Wir brau-chen Planungssicherheit .
Jürgen Hardt
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Am Ende die Finanzlöcher wieder mit außerplanmäßi-gen Mitteln zu stopfen, wie Sie das letztes Jahr gemachthaben, das schafft Chaos und Not. Das ist politisch falsch.Es ist absehbar, dass es so kommt, und das müssen Siekorrigieren, meine Damen und Herren von der Koalition .
Das wird besonders unverständlich vor dem Hinter-grund, dass Ihre Regierung gleichzeitig den Verteidi-gungshaushalt um 2,3 Milliarden Euro erhöhen will . Dasist übrigens fast das Sechsfache der 400 Millionen Euro,die nötig sind, um die Ausgaben für die humanitäre Hilfeauf ihrem jetzigen Stand zu halten . Werte Kolleginnenund Kollegen von der Koalition, dieses Missverhältniskann doch nicht Ihr Ernst sein . Sie haben an dieser Stellewirklich den politischen Kompass verloren .
Wenn über Krisen und Kämpfe in Afrika und im Na-hen Osten sowie über Flucht und Migration gesprochenwird, dann überbieten sich alle in der Forderung, dassetwas gegen Fluchtursachen getan werden muss . Aberdie Schere zwischen Ausgaben für humanitäre Hilfe undEntwicklungszusammenarbeit einerseits und Militäraus-gaben andererseits klafft immer weiter auseinander; dasMissverhältnis wächst . Knapp 9 Milliarden Euro auf derzivilen Seite stehen jetzt schon 36 Milliarden Euro aufder militärischen Seite gegenüber, und die Bundeskanz-lerin will hier das erklärte NATO-Ziel von 2 Prozent desBruttoinlandsprodukts erreichen . 2 Prozent! Das wärenrund 60 Milliarden Euro . Das ist das erklärte Ziel IhrerPolitik . Das ist doch die falsche Perspektive .
Das Ziel der Politik muss doch sein, diese Schere wiedermehr zu schließen . Hier stimmt die ganze Richtung IhrerHaushaltspolitik nicht .Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir erleben derzeiteine tiefe Krise der Europäischen Union . Sie hat einepolitische Dimension, die die Brexit-Abstimmung inGroßbritannien symbolisiert – starke reaktionäre Kräftewollen eine Rückabwicklung der politischen Union zueinem Bündnis von Nationalstaaten mit einem gemein-samen Binnenmarkt –, und sie hat eine wirtschaftlicheDimension, für die besonders die Bankenkrise und diehohen Arbeitslosenzahlen in vielen Ländern stehen . Ge-rade auch bei Jugendlichen beträgt die Arbeitslosigkeitbis zu 50 Prozent; das wissen Sie alle . Hier droht die Ge-fahr des wirtschaftlichen Auseinanderdriftens der Union .Deswegen hätte ich im Rahmen dieses Haushalteseine Initiative für eine aktive europäische Wirtschaftspo-litik erwartet .
Herr Schäuble hat bei der Einbringung des Haushaltesam Dienstag gesagt, dass man die Juncker-Initiative ir-gendwie fortschreiben, vielleicht sogar ein bisschen er-höhen oder steigern wolle . Meine Damen und Herren vonder Koalition, das reicht doch nicht . Die Juncker-Initia-tive hatte von Anfang an zu wenig Mittel zur Verfügungund hatte auch einige schlechte Schwerpunktsetzungen .Wir brauchen eine gemeinsame wirtschaftliche Kraftan-strengung der ganzen Europäischen Union für umfang-reiche Investitionen . Wichtige Nachbarländer forderndas, aber Ihre schwarz-rote Koalition kann sich darübernicht einigen, und deshalb finden Sie nicht die Kraft, imHaushalt 2017 die Mittel für eine solche Initiative bereit-zustellen und in Europa voranzugehen . Das wäre drin-gend nötig .In dieser Krisensituation das nicht zu tun, hier imHaushalt „Fehlanzeige“ zu haben, das ist – tut mir leid –ein außenpolitisches Versagen von großer Tragweite . Siesollten auch das dringend und schnell korrigieren unddie Kraft aufbringen, die Europapolitik genau in diesemBereich des wirtschaftlichen Zusammenhalts Europas insZentrum Ihrer Politik zu rücken .
Raufen Sie sich zusammen! Europa braucht eine solcheLösung .Danke für die Aufmerksamkeit .
Nächste Rednerin ist für die SPD die Kollegin
Michelle Müntefering .
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Sehr geehr-ter Herr Außenminister, Sie haben in Ihrer Rede deutlichgemacht, dass es auch in den nächsten Monaten mit demweitergehen muss, wofür wir uns einsetzen: für Friedenund für Partnerschaft in der Welt sowie für eine Friedens-politik, die sich auf unsere Geschichte gründet und diehoffentlich auch der nächsten Generation den Weg ebnet.Dafür steht die deutsche Außenpolitik mit Frank-WalterSteinmeier an der Spitze – in guter Tradition . Ihm, aberauch all unseren Diplomaten in der ganzen Welt sage ichvon hier aus: Danke für Ihre Arbeit!
Verlässlichkeit und auch die leisen Töne der Diplo-matie werden wir auch in Zukunft dringend brauchen,sehen wir uns doch zunehmend mit immer komplizierterwerdenden Konflikten konfrontiert – nicht zu verges-sen: auch mit einem erstarkenden Rechtspopulismus inder westlichen Welt –, mit Bürgerkriegen in unmittelba-rer Nachbarschaft zu Europa und dem drohenden Zer-fall ganzer Staaten in der arabischen Welt, in Syrien, imIrak und in Libyen . Wir sind Zeugen, wie sich kolonialeund postkoloniale Geschichte innerhalb kürzester Zeitumkehrt, und trotz aller unermüdlichen Anstrengungenstehen wir doch oft genug ratlos da . Dabei sollten wirDr. Frithjof Schmidt
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doch aus der Geschichte gelernt haben . Am Ende sitzenwir alle an einem Tisch und müssen miteinander auskom-men .Sigmar Gabriel sagte in einer unserer letzten Frakti-onssitzungen, es wundere ihn, dass angesichts des uner-messlichen Leids in der Welt auf unseren Straßen keineFriedensdemonstrationen stattfinden.
Wir können uns wundern, aber was wir uns auf keinenFall leisten können, ist es, den Kopf in den Sand zu ste-cken . Wir dürfen die Welt nicht den Neinsagern, dem Un-willen oder den Ressentiments überlassen . Deswegen istdas Geld für das Auswärtige Amt im Haushalt in Höhevon rund 4,6 Milliarden Euro gut angelegtes Geld .
Dies gilt auch für alles, was wir an dieser Stelle im Zugeder Verhandlungen noch mehr schaffen, weil es huma-nitäre Hilfe und gleichermaßen Hilfe zur Humanität be-deutet . Wir übernehmen Verantwortung, wir helfen inKrisen . Wir helfen, Krisen zu befrieden, indem wir Ab-kommen schließen und frühzeitig das Entstehen weitererKonflikte zu verhindern versuchen.Die entscheidende Frage im 21 . Jahrhundert ist dabeider Zugang zu Bildung und Kultur . Übrigens gilt diesauch im Innern des Landes, aber eben auch nach außen .Drei Punkte sind uns dabei besonders wichtig: die kultu-relle Infrastruktur, das weltweite Bildungsnetzwerk mitden Auslandsschulen und den Goethe-Instituten und eineaktive Kulturpolitik – auch in schwierigen Regionen mitsehr schwierigen Partnern .
Zur deutschen Außenpolitik gehört diese Auswärti-ge Kultur- und Bildungspolitik, da wir mit ihr in guter,parteiübergreifender Tradition eines schaffen: Freiheits-räume . Ganz konkret: Wir bieten etwa mit der Philipp-Schwartz-Initiative verfolgten Wissenschaftlern Schutz .Wir nehmen sie an deutschen Universitäten auf . Wir hel-fen vor Ort beim Wiederaufbau des kulturellen Erbes undunterstützen Künstler und Zivilgesellschaften .In einer Welt, in der die Propaganda zunimmt und inder es oft nicht mehr darum geht, Wahrheiten anzuspre-chen, sondern nur noch um das, was andere hören wollen,um Protest aus Egoismus, sind sensible Wahrnehmungenund Wahrheit kostbar . Dort muss es Räume geben, wosie gepflegt werden und gepflegt werden dürfen. „Die Ar-beit an der Weltvernunft“ hat es Willy Brandt genannt, inschwierigen Zeiten darauf zu setzen, die Weltvernunft zubewahren . Auch das ist Friedenspolitik .Herzlichen Dank .
Als Nächster spricht der Kollege Wolfgang Gehrcke,
Fraktion Die Linke .
Danke sehr . – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Nach meiner Wahrnehmung trägt die Bundes-regierung eine Mitschuld an millionenfacher Flucht undVertreibung in dieser Welt,
das will ich hier aussprechen .
Sie tragen eine Mitschuld . Es war die rot-grüne Bun-desregierung, die mit dem Jugoslawien-Krieg das Tabudeutscher Kriegsbeteiligung gebrochen hat, und deutschePolitik ist leider auch Kriegspolitik geworden . Kriegs-politik ist der Hauptgrund für Flucht weltweit . Wer diemillionenfache Flucht stoppen will, muss Kriege stoppenund Schluss machen mit Rüstungsexporten .
Das ist die einzige Schlussfolgerung daraus, die eine Lo-gik hat .Die Linke will alle Auslandseinsätze der Bundeswehrbeenden und möchte die deutschen Soldaten zurückho-len . Wir werden keinen Auslandseinsätzen zustimmen,und wir wollen die Rüstungsexporte verbieten .
Das wäre eine Politik, die einen Ausweg aus diesem Di-lemma weisen würde .
– Ja, die Regierungsfähigkeit . Mit einer Misspolitik istman immer regierungsfähig . Das beweisen Sie doch .
Nachhaltige Entwicklungshilfe ist aus meiner Sichtunverzichtbar . Wenn wir uns ernsthaft damit beschäfti-gen, dass die ODA-Quote von 0,7 Prozent immer nochnicht erreicht worden ist, muss uns das doch dazu brin-gen, darüber nachzudenken, ob wir nicht die Fluchtursa-chen durch unser Verhalten erst schaffen bzw. verstärken.Auch davon will ich weg .Ich halte es des Weiteren für einen unglaublichen Ta-bubruch, dass von der EU Gelder, die für Entwicklungs-hilfe vorgesehen waren, für Militärausgaben verwendetwerden . Das ist so zynisch! Die Bundesregierung hat derEU das durchgehen lassen .Ich denke auch, dass man darüber nachdenken muss,dass auch von Deutschland der Terror der Ökonomie, derKrieg der Reichen gegen die Armen der Welt ausgeht .
Michelle Müntefering
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Nur ein Beispiel: Es sind die riesigen, von der EU sub-ventionierten Trawler, die die westafrikanischen Küsten-gewässer längst überfischt haben. Kofi Annan hat das aufden Begriff gebracht: Organisierter Diebstahl, maskiertals Handel . – Organisierter Diebstahl, maskiert als Han-del! Das finde ich eine durchaus zutreffende Beschrei-bung .
An diesem Diebstahl ist auch unser Land beteiligt .Für mich kommt im vorliegenden Haushaltsentwurfzum Ausdruck: Er verschärft und verstetigt die Ursachenvon Flucht und Vertreibung, er fördert Konfrontation, eshandelt sich um einen Aufrüstungshaushalt und nicht umeinen Abrüstungshaushalt – das muss hier völlig klar ge-sagt werden –,
und er verschärft die soziale Ungleichheit . Meine Frakti-on will weder eine militärische NATO – dagegen kämp-fen wir –, noch wollen wir eine wirtschaftliche NATO .Aber mit TTIP soll eine wirtschaftliche NATO geschaf-fen werden . Es gibt von uns die klare Aussage, dass wirdas nicht mitmachen werden .
Ich will hier auch noch einmal das Verhalten der Bun-desregierung gegenüber Erdogans Kritik an der Armeni-en-Resolution des Bundestages ansprechen . Liebe Kol-leginnen und Kollegen, ich finde, Sie haben sich dieserKritik unterworfen. Das ist beschämend. Ich finde, dassman sich gegen das deutsche Parlament an die Seite einesDiktators gestellt hat . Das ist empörend .
Mir fällt dazu – entschuldigen Sie den Ausdruck – nichtsBesseres ein, als zu sagen: Die ganze arschkriecherischeDebatte hat mich als Abgeordneten dieses Parlamentesungeheuer getroffen und empört.
Kein Selbstbewusstsein, sondern Unterordnung! Und dasleider unter einem sozialdemokratischen Außenminister .
Ich will noch einmal ansprechen, wie Sie mit derFrage der Atomrüstung umgehen . Ich habe natürlichmit Vergnügen gehört, dass Sie vorschlagen, die Frageder Rüstungskontrolle wieder auf die Tagungsordnungzu bringen . Sehr gut! Unter dem FDP-Außenminister Westerwelle stand im Koalitionsvertrag noch die Absicht,die USA zum Abzug ihrer Atomwaffen aus Deutschlandaufzufordern . Diese Absicht wurde nicht verwirklicht .Aber unter Ihrer Leitung, Herr Steinmeier, geht die gan-ze Politik in eine andere Richtung: Die US-Atomwaffenwerden nicht abgezogen, sondern die Atomwaffen wer-den weiter modernisiert . – Sieht so sozialdemokratischeAbrüstungspolitik aus? Ich kann es nicht verstehen .Ich halte es für eine katastrophale Planung der Bun-desregierung, den Rüstungsetat entsprechend den Vorga-ben der NATO auf 2 Prozent des Bruttoinlandsproduk-tes hochzutreiben . Das sind 60 Milliarden pro Jahr . DieBundeskanzlerin will es dabei nicht belassen . Sie träumtvon einem Rüstungsetat, der proportional dem der USAentspricht . Das hieße nicht nur 2, sondern 3,5 Prozent desBruttoinlandsproduktes . In Beträgen ausgedrückt wärendas für Deutschland 105 Milliarden pro Jahr .
Die Linke fordert, dass der Rüstungsetat bereits in die-sem Jahr kategorisch und konsequent und sofort ummindestens 6 Milliarden Euro gekürzt wird . Wir wollenraus aus der dauernden Aufrüstung . Warum kann diesesParlament nicht endlich einmal ein Signal für Abrüstungsetzen?
6 Milliarden Euro sofort streichen wäre ein solches Si-gnal . Das langt zwar nicht aus, wäre aber ein Einstieg .
Ich möchte, ehrlich gesagt, die sozialdemokratischenKollegen abschließend bitten: Lesen Sie einmal die Pa-piere von Willy Brandt zum Nord-Süd-Konflikt. Dakönnen Sie etwas über globale Gerechtigkeit lernen .Lesen Sie die Papiere von Egon Bahr zur Ostpolitik .Auch daraus kann man viel lernen . Ich würde mir einesozialdemokratische Fraktion wünschen – man bekommtseine Wünsche ja nicht immer erfüllt –, die sich in derNord-Süd-Politik nicht nur auf Willy Brandt beruft, son-dern auch so handelt, und sich in ihrer Ostpolitik an EgonBahr orientiert . Wenn Sie dann noch abrüsten, könnteman über manches reden . So wie es ist, geht es leidernicht . Das war nur ein Wunsch von mir .Danke sehr .
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt der Kollege
Dr . Norbert Röttgen .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnenund Kollegen! Seit gut zwei Jahren diskutieren alle inDeutschland so viel wie noch nie über Außenpolitik .Das liegt, wie wir alle wissen, daran, dass wir ein immerweiter sich steigerndes Krisen- und Kriegsgeschehenin der Welt, aber auch in unserer Nachbarschaft haben .Ich glaube, dass es nicht so sehr die Zahl der Krisen undKriege ist, die die neue Qualität außenpolitischer Diskus-sion ausmacht . Neu ist die Tatsache, dass die Krisen zuuns kommen . Außenpolitische Krisen haben eine inner-staatliche, innergesellschaftliche Dimension angenom-men . Die Konsequenzen der Hölle von Aleppo sehenwir auch in unseren Dörfern . Es ist eine völlig neue Di-mension von Außenpolitik, mit der wir es zu tun haben .Diese innergesellschaftliche Dimension von Außenpoli-tik verändert nicht nur die Aufgaben, sondern auch denWolfgang Gehrcke
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Charakter von Außenpolitik . Außenpolitik wird immermehr zur Globalisierungsgestaltung . Das ist ein vernünf-tiger konzeptioneller Anspruch, den wir, wie ich meine,an Außenpolitik stellen sollten .Wenn man Außenpolitik als Versuch der Gestaltungvon Globalisierung versteht, dann hat Außenpolitik nichtmehr nur mit den Interstaatenbeziehungen zu tun . Dannwerden die innenpolitischen, die innergesellschaftlichenVerhältnisse in den anderen Ländern außenpolitisch im-mer relevanter . Damit haben wir es mit dem Dilemmazu tun, das uns so große Schwierigkeiten macht: Die in-neren Verhältnisse in Syrien, im Irak, im Iran, in Afgha-nistan, in Russland, in der Türkei bestimmen über uns,sogar über unsere Sicherheit in Deutschland . Gleichzei-tig haben wir auf diese inneren Verhältnisse, die für unsentscheidend sind, keinen Zugriff. – Wie gehen wir damitum? Es hat einen Antwortversuch gegeben, nämlich den,zu sagen: Dann machen wir die so, wie wir sind . Aberdie Euphorie und die Hybris von Regime-Change-Politiksind verflogen, die zum Teil katastrophalen Folgen diesesPolitikansatzes – nebenbei gesagt – noch lange nicht .
Wir können und wollen unsere Identität, die wir alsEuropäer haben, den anderen nicht aufzwingen . Ich glau-be aber gleichwohl, dass der Begriff der Identität, alsounser Bekenntnis, unsere Überzeugung von Menschen-würde, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, die uns alseuropäische Staaten ausmacht, ganz entscheidend auchin der Außenpolitik ist . Das Bedürfnis nach Identität wirdstärker. Es ist sozusagen ein gegenläufiges Bedürfnis zurGlobalisierung, die alles auflöst, die alles entgrenzt. Ichbin fest davon überzeugt, dass der Begriff der Identität zuden Begriffen gehört, die wir nicht den Rechtspopulistenund Linkspopulisten überlassen dürfen . Wir Demokratenmüssen unsere Identität einbringen .
Bei Außenpolitik unter diesen veränderten Bedingungengeht es also darum, zu versuchen, unsere europäischeIdentität als Staaten in internationale Regeln der Fair-ness und der Gerechtigkeit einzubringen und uns an derDurchsetzung dieser Regeln zu beteiligen . Ich möchteversuchen, ganz kurz und knapp anhand einiger Beispie-le darzulegen, zu welchen Konsequenzen es in den ak-tuell kontroversen Politikbereichen führen könnte, wennman diesen Ansatz wählte .Ich fange mit einem Thema an, das heute schon häufi-ger diskutiert worden ist, nämlich der TransatlantischenHandels- und Investitionspartnerschaft, die wir TTIPnennen . Ich will jetzt überhaupt nicht über die einzel-nen Fachfragen sprechen – vielleicht muss man am Endeder Verhandlungen ja sagen: das Verhandlungsergebnisist schlecht, ich lehne es ab –, sondern möchte auf dieGrundfrage hinweisen . Die Chance von TTIP ist, dasseine westliche Regelsetzung in einem der wichtigstenBereiche der internationalen Politik ermöglicht wird .
Darum geht es, meine Damen und Herren . Es geht da-rum, dass wir im Westen, wir Europäer und Amerikaner,zu einem vernünftigen, fairen Regelsetzer in der Weltwerden wollen; denn die praktische Alternative zu west-licher Standardsetzung ist chinesische Standardsetzung .Ob wir das zulassen wollen, ist die politische Grundfra-ge . Wenn man sich ihr verschließt, dann verschließt mansich dem Versuch, Globalisierung fair und gerecht zu ge-stalten . Das bedeutet die Grundablehnung von TTIP .
Ich möchte eine zweite Anmerkung zur EuropäischenUnion machen . Die Europäische Union ist die bislangerfolgreichste Antwort auf die Globalisierung; es gibtkeine erfolgreichere Antwort, meine Damen und Herren .
Die Europäische Union ist als internationaler Regelsetzerfür die europäischen Staaten schlichtweg unverzichtbar .Kein europäisches Mitgliedsland hätte die Macht, rele-vanter Regelsetzer zu sein; die Europäische Union hatsie . Trotzdem haben die Briten entschieden, sich dieserRegelmacht zu entziehen und die Gemeinschaft zu ver-lassen . Eine Lehre sollten wir aus dieser sehr britischenDebatte und Entscheidung ziehen, aus der Beobachtung,dass dort die Parteien der Mitte, die Konservativen undauch Labour, es zugelassen haben, dass UKIP, die Anti-europäer, die öffentliche Debatte bestimmt: Wir dürfenin Deutschland und auch in anderen Ländern nicht zulas-sen, dass diejenigen, die gegen Europa sind, die europäi-sche Debatte in den jeweiligen Ländern bestimmen . Wirmüssen die europäische Debatte bestimmen .
Was die Folgerungen für das Verhältnis zu Großbri-tannien anbelangt, plädiere ich dafür, dass wir danachtrachten und suchen, ein Verhältnis zu Großbritannien zuentwickeln, das den Schaden von Brexit begrenzt, soweites möglich ist, also ein so enges und gutes Kooperations-verhältnis zu Großbritannien zu entwickeln, wie es nureben geht . Ich bin gegen die Idee eines strafenden Euro-pas nach dem Motto: Derjenige, der uns verlässt, muss esauch zu spüren bekommen . – Ich bin für ein attraktivesEuropa, bei dem man dazugehören möchte . Ich glaube,wir brauchen mehr Flexibilität, wir brauchen ein Endevon Schwarz und Weiß, von Alles-oder-Nichts . Es ist imbeiderseitigen Interesse, dass wir als Europäer zu Groß-britannien ein so enges politisches und wirtschaftlichesVerhältnis erhalten, wie es nur möglich ist .
Ich gehe, was einen identitätsbasierten, regelorientier-ten Ansatz in der Außenpolitik anbelangt, auf ein drittesBeispiel ein: Russland. Der Konflikt zu Russland speistsich nach meiner Einschätzung exakt daraus, dass sichRussland unter Wladimir Putin für das exakte Gegenteileines regelorientierten Ansatzes entschieden hat . PutinDr. Norbert Röttgen
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sagt: Nein, nicht Recht vor Macht . Er sagt: Die Machtentscheidet – die Macht vor dem Recht . Das ist seinePolitik in der Ukraine, wo es, wie es der Außenministergesagt hat, zu einer völkerrechtswidrigen Annexion kam,zu einem völkerrechtswidrigen militärischen Eingreifenin der Ostukraine . Das Bomben und das Konterkariereninternationaler Handlungs- und Verhandlungsansätze inSyrien ist Ausdruck genau dieser Politik . Es entscheidetdie Macht; durch Macht will man Größe erreichen undein Gestalter in der internationalen Politik werden . Dasist der Grundkonflikt im Verhältnis der Europäer, desWestens zu Russland unter der jetzigen Regierung undFührung. Diesen Grundkonflikt müssen wir benennen.Wir dürfen ihn nicht beschönigen . Wir sollten ein solchesVorgehen, solange es bei diesem Ansatz bleibt, sanktio-nieren . Aber gleichzeitig ist unser Angebot an Russland,zu Regeln zurückzukommen . Darum führen wir Gesprä-che . Es wäre auch dort Unsinn, eine Politik des Rückzu-ges, der Gesprächsverweigerung zu betreiben . Wir wol-len Gespräche; aber wir bestehen darauf, unsere Identitätin diese Gespräche einzubringen . Das ist der Sinn dieserGespräche .
Der vierte und vorletzte Fall, auf den ich eingehenmöchte, ist natürlich die Türkei . Ich möchte drei Bewer-tungen abgeben zu dem, was aktuell türkische Politik ist .Die erste Bewertung: Die von Staatspräsident Erdoganselbst so genannten „Säuberungen“ in der öffentlichenVerwaltung, in den Ministerien, in der Justiz, in denSchulen, im Militär, die inzwischen in die Zehntausendegehen, bedeuten eine erhebliche innere Schwächung derTürkei, bedeuten eine Fortsetzung der Politik der Pola-risierung und der Instabilität . Das ist kein nachhaltigerWeg für die Türkei . Er erfüllt uns mit größter Sorge, undwir appellieren, diesen Weg zu beenden .
Zweitens . Die immer weiter steigenden rechtsstaats-widrigen Repressionen, die in der Türkei durch diestaatliche Gewalt stattfinden, entfernen die Türkei vonEuropa . Der heute in der Presse diskutierte Fall dergrundlosen, rechtswidrigen Beschlagnahme von Presse-material der Deutschen Welle ist ein nicht hinnehmbarerAngriff auf die Pressefreiheit, den wir hier auch so be-nennen müssen .
Dritte Stellungnahme . Die Ausdehnung des militä-rischen Kampfes vom eigenen Staatsgebiet – auch hiereine Militarisierung zu innenpolitischen Zwecken, zueinem erheblichen Grad jedenfalls – gegen die Kurdenauf syrisches Gebiet macht den Syrien-Konflikt und sei-ne Lösung noch viel komplizierter . Die Türkei ist unver-zichtbar zur Lösung des Konflikts. Sie ist aber auch einTeil des Problems in der Region, und das schwächt dieAnti-IS-Koalition in ihrem Kampf gegen den „Islami-schen Staat“ . – Das ist die Bewertung zum Verhalten .
Wir sind Demokraten und befürworten die Prinzipienvon Rechtsstaatlichkeit und Menschenwürde und libera-le Werte wie Pressefreiheit; darin stimmen wir überein .Die Frage ist: Welche Schlussfolgerungen ziehen wir da-raus? Was tun wir mit einem Staat, der sich so verhält?Es gibt die Aufforderung: „Wir müssen uns zurückzie-hen“, fast schon mit Freude: „Das Flüchtlingsabkommenmuss scheitern .“ Nein, meine Damen und Herren, es giltauch hier: Wir müssen auch gegenüber der Türkei unsereIdentität einbringen . Wir müssen verhandeln, wir müs-sen zu Übereinkommen, wir müssen zu Regeln kommen .Aber wir dürfen eines nicht tun, nämlich unsere Wertekompromittieren . Das ist die rote Linie . Auf dieser Basisdürfen wir verhandeln .
Herr Präsident, mit Ihrer Erlaubnis einen unangemes-sen kurzen Satz zum Nahen Osten .
Wenn es nur ein Satz ist, sehr geschätzter Herr Kol-
lege Röttgen, weil die Redezeit schon sehr weit fortge-
schritten ist .
Der Nahe Osten ist in einer so desaströsen Lage, dass
es nicht um Globalisierungsgestaltung geht, sondern um
Prävention . Es geht darum, dass wir diesen Testfall der
europäischen Außenpolitik besser bestehen . Der Nahe
und Mittlere Osten hat auf keine andere Region so viel
Auswirkung wie auf Europa . Wir sind gleichzeitig nicht
wirklich relevant in dieser Region . Das ist ein Testfall
für europäische Außenpolitik . Es geht weniger um Ge-
staltung; vielmehr geht es um das Ende von Gewalt . Es
geht um Prävention und Stabilisierung . Prävention ist die
wirksamste und billigste Politik . Daher ist es vernünf-
tig, –
Herr Kollege Röttgen, das waren jetzt doch schon ei-
nige Sätze . Deshalb bitte ich, zum Ende zu kommen .
– wenn wir bei der humanitären Hilfe einen Schlag
drauflegen, um unsere Politik billiger und effektiver zu
machen . – Vielen Dank, Herr Präsident .
Danke .
Für Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege
Dr . Tobias Lindner .
Geschätzter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! IchDr. Norbert Röttgen
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verzichte jetzt darauf, bei den Kolleginnen und Kollegenim Plenum die fünf oder sechs Beispiele des geschätztenKollegen Röttgen abzufragen, und muss zum schnödenMammon zurückkehren .Auch wenn man in der Diplomatie für manches keinGeld braucht, ist vieles ohne Geld nichts . Wenn wir unsin allen Fraktionen darüber einig waren, dass Flucht undVertreibung auf diesem Planeten leider zugenommen ha-ben, dass die Zahl der Krisen auch im vergangenen Jahrnicht geringer geworden ist, wenn Sie, Herr Minister, zuRecht erwähnt haben, dass es eine vernünftige Balancevon Rückversicherung oder Abschreckung auf der einenSeite und von Dialog, Rüstungskontrolle und Abrüstungauf der anderen Seite braucht, dann verstehe ich, dannversteht meine Fraktion nicht, wie diese Bundesregie-rung eine politische Schwerpunktsetzung im Haushaltvornehmen kann, die da lautet: 7 Prozent mehr im Rüs-tungsetat, 200 Millionen Euro weniger für das Auswär-tige Amt . Das ist ein falsches und fatales Signal, HerrMinister .
Der Kollege Hardt hat zu Recht gesagt, die Minder-ausgaben rührten unter anderem daher, dass wir turnus-mäßig 300 Millionen Euro weniger an die Vereinten Na-tionen als Beitrag zahlen . Richtig . Aber das ist doch keinArgument gegen Spielräume im Haushalt . Das ist dochvielmehr ein Beleg dafür, dass Spielräume im Haushaltdes Auswärtigen Amts bestanden hätten und Sie diesenicht genutzt haben . Das, Herr Minister, ist ein Zeichendafür, dass Sie Ihrer Verantwortung, unter anderem fürdie humanitäre Hilfe, nicht gerecht geworden sind .
In der Politik geht es oft darum, recht zu haben . Ichwill Ihnen aber sagen: Manchmal würde ich mich ger-ne irren . Als meine Fraktion in den Haushaltsberatungendes letzten Jahres beantragt hat, die humanitäre Hil-fe auf 1 Milliarde Euro aufzustocken, weil wir zu demZeitpunkt überzeugt waren – davon sind wir auch heutenoch überzeugt –, dass das bitter notwendig ist, da habenSie von der Großen Koalition das nicht für notwendiggehalten und unseren Antrag vom Tisch gewischt . DasJahr 2016 war noch nicht einmal ein halbes Jahr alt, dahat der Finanzminister, bei dem Sie betteln gehen muss-ten – im Haushaltsausschuss haben wir ein paarmal darü-ber geredet –, Ihnen dankenswerterweise eine überplan-mäßige Ausgabe bewilligt . Deutschland wird in diesemJahr mindestens 1,1 Milliarden Euro, also sogar mehr,als wir beantragt haben, für humanitäre Hilfe leisten . Dasist ein Zeichen, dass Sie mit diesen 730 Millionen Euronie und nimmer auskommen werden . Wie Sie diese Zahlin den Haushaltsentwurf haben schreiben können, dasbleibt Ihr Geheimnis, Herr Steinmeier .
Das ist vor allem auch deshalb nicht zu verstehen, weil indiesem Jahr bereits 733 Millionen Euro, also 3 MillionenEuro mehr, als Sie laut Plan im nächsten Jahr überhauptzur Verfügung haben werden, in die Region Syrien ge-flossen sind. Das heißt, Sie dürften im kommenden Jahrkeine andere Krise auf diesem Planeten erwarten . Das ist,ehrlich gesagt, absurd, liebe Kolleginnen und Kollegen .
Wir Grüne werden deshalb im Rahmen dieser Haus-haltsberatungen – Kollege Hardt, ich habe Ihre Wortesehr wohl vernommen – einen gegenfinanzierten Vor-schlag unterbreiten, wie man die humanitäre Hilfe aufhohem Niveau ausbauen kann . Wir werden Ihnen einenweiteren Vorschlag unterbreiten – auch das ist in dieserDebatte angesprochen worden –, wie wir vernünftigermit den Mitteln für zivile Krisenprävention und den Er-tüchtigungsmitteln umgehen können . Wir werden vor-schlagen, den Ressortkreis Zivile Krisenprävention, denes gibt, mit diesen Mitteln auszustatten, weil wir über-zeugt sind, dass es einen ressortübergreifenden Ansatzund eine vernünftige Balance braucht, wenn Deutschlandwirklich nachhaltig und effektiv gegen Krisen in dieserWelt arbeiten und für den Frieden in dieser Welt einste-hen will . Mit diesen Vorschlägen gehen wir in die Haus-haltsberatungen . Wir sind sehr gespannt, wie Sie sichdazu verhalten werden .Ich danke Ihnen .
Vielen Dank, Herr Kollege Lindner, auch – das darf
ich an dieser Stelle sagen – für die präzise Einhaltung
der Redezeit .
Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Norbert
Spinrath für die SPD .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren! Ich danke ausdrücklichHerrn Kollegen Röttgen für seine Lobrede auf die Arbeitunseres Außenministers; denn nun kann ich mich in denfolgenden Minuten auf Europa beziehen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Begriffe „dra-matische Zäsur“ oder „historischer Bruch“ werden oftallzu leichtfertig für aktuelle Ereignisse verwendet; aberwenn ein Anlass diese Begriffe verdient hat, dann dasBrexit-Votum im Vereinigten Königreich . Dieses Votum,das ein konservativer Premierminister, David Cameron,aus niederen Beweggründen ausgelöst hat, lässt für dieMenschen und für die Wirtschaft dort tiefe Einschnitteerwarten . Aber auch auf die verbleibenden 27 EU-Mit-gliedstaaten hat der Brexit enorme Auswirkungen . Diesemüssen wir gemeinsam mit unseren Partnern begrenzen,aber eben nicht mit Renationalisierung, nicht mit Rechts-populismus und nicht mit irgendwelchen scheinbarenLösungen, sondern mit einem deutlichen Ruck und mitgemeinsamen Schritten für ein gemeinsames Europa .
Dr. Tobias Lindner
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Die Hoffnung, von der neuen Regierungschefin TheresaMay ein Datum für die Austrittserklärung zu erfahren,wurde bislang enttäuscht . Frau May erklärte aber bereits,dass sie Lösungen nach dem Vorbild der Schweiz undNorwegens ablehne . Um nicht eine dauerhafte Phase derUnsicherheit entstehen zu lassen, ist es die Pflicht der bri-tischen Seite, endlich den Austrittsprozess zu starten . Esist nicht unsere Aufgabe, ein Konzept vorzulegen . Nein,es ist die Bringschuld der britischen Regierung .Es ist mehr als bedauerlich, dass schon jetzt, bevoreine Austrittserklärung abgegeben worden ist, Angebo-te mit weitreichenden Kompromissen gemacht werden .Das Papier, das unter anderem vom Kollegen Röttgen,den ich vorhin ausdrücklich gelobt habe, vorgelegt wor-den ist, halte ich für strategisch unklug; denn inhaltlichkommt es der von den britischen Austrittsbefürworternerträumten Rosinenpickerei viel zu weit entgegen . Esverspricht vollen Zugang für Waren und Dienstleis-tungen, stellt aber gleichzeitig das für mich wichtigsteGrundprinzip zur Disposition, nämlich die Freizügigkeit .Für Herrn Röttgen ist UK ein zentraler Partner, den mannicht bestrafen darf . Dem stimme ich voll und ganz zu .Nicht bestrafen heißt aber auch nicht zwingend, zu be-lohnen .Deutschland und die EU-27 haben ein vitales Inte-resse an der Verteidigung der Freizügigkeit, weil sieökonomisch ein unverzichtbares Element des Binnen-marktes ist, weil wir die Freizügigkeit brauchen und weilmit einem Entgegenkommen gegenüber UK andere zurNachahmung eingeladen würden . Wie wollen wir denndie Schweiz und Norwegen dazu bewegen, nach ihrenModellen noch Freizügigkeit zu gewähren, wenn sie demVereinigten Königreich erlassen wird? Für mich ist dieFreizügigkeit das entscheidende Merkmal, an dem dieBürgerinnen und Bürger Europas den Vorteil dieses Eu-ropas erkennen. Deshalb bin ich der Auffassung, dass wirdie Freizügigkeit auch für den Zugang zum Binnenmarktmit allem Nachdruck aufrechterhalten müssen .
Die EU darf sich vom Brexit-Drama aber auch nichtabsorbieren lassen . Es gibt in dieser Zeit zu viele Heraus-forderungen, die Kraft und Aufmerksamkeit erfordern .Die EU muss Sorge dafür tragen, dass alle Menschen anden Wohlstandsgewinnen des Binnenmarktes teilhaben .Lange, vielleicht viel zu lange haben die EU-Kommissi-on und die Mitgliedstaaten einseitig auf Wettbewerbsfä-higkeit, auf Konkurrenz, aber auch auf Austerität gesetztund die sozialpolitische Gestaltung der Union vernach-lässigt . Das wird besonders daran deutlich, dass selbstder IWF die wachsende Ungleichheit bei Löhnen undVermögen nicht nur als ein soziales Problem, sondernauch als ein echtes Hemmnis für wirtschaftliche Ent-wicklung versteht .Wenn jetzt bald einer der heftigsten Bremser bei derDurchsetzung von sozialen Rechten nicht mehr mit amTisch sitzen wird, dann eröffnet das neue Möglichkeiten,die wir nutzen müssen . Wir müssen sie auch im Sinne derVorschläge, die die Kommission vorgelegt hat, nutzen .Bei diesen Vorschlägen geht es um faire Mobilität, eineverbesserte Koordinierung nationaler Sozialsysteme unddie Schaffung einer sozialen Säule. Das sind wichtigeThemen der zukünftigen EU-27 .Ich hoffe und erwarte, dass KommissionspräsidentJuncker bei seiner Rede zur Lage der Europäischen Uni-on am nächsten Mittwoch das einst von ihm unter gro-ßem Beifall angekündigte soziale Triple A als einen derbesonderen Schwerpunkte herausstellen wird .Herzlichen Dank .
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Dr . Hans-
Peter Friedrich .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Zur Abrundung der Außenpolitik darf die Europapo-litik nicht fehlen, wenngleich wir uns in den letzten Jahr-zehnten angewöhnt haben, die Europapolitik weniger alsAußenpolitik anzusehen, sondern eher als europäischeInnenpolitik; denn die europäische Integration, der Fort-gang der Integration, die Erweiterung der EuropäischenUnion kamen uns selbstverständlich vor . Wir dachten,dass das alles automatisch weitergeht .Heute, im Jahr 2016, schauen wir auf eine EuropäischeUnion, die in schweres Fahrwasser geraten ist; „Brexit“ist ein Begriff, der das zum Ausdruck bringt. Der Auf-stieg der europafeindlichen Parteien in vielen Ländern –ich spreche bewusst nicht von europakritischen, sondernvon europafeindlichen Parteien –, die den Menschen er-zählen wollen, dass es auch ohne Europa gehen könnte,nimmt zu, obwohl jeder begreifen müsste, dass es für dieeuropäischen Länder nur eine gemeinsame Zukunft ge-ben kann . Wir werden die Zukunft entweder gemeinsamgewinnen, oder wir werden gemeinsam absteigen .Wir stellen plötzlich fest, dass es in fundamentalenFragen der Politik Konflikte zwischen den Mitgliedstaa-ten gibt, die sehr emotional und vehement ausgetragenwerden . Wir stellen fest, dass es ein zunehmendes Miss-trauen vor allem kleinerer Mitgliedstaaten gegenüber derKommission, aber auch gegenüber größeren Mitglied-staaten in Europa gibt . Es reicht eben nicht aus, dass sichDeutschland, Frankreich und Italien in der Europapolitikeinig sind, sondern wir müssen viele andere Länder mit-nehmen; ansonsten werden wir dieses Europa nicht in dieZukunft führen können . Das ist derzeit unser Problem .Günther Oettinger hat vor kurzem gesagt: Das euro-päische Projekt ist in Lebensgefahr . – Ich glaube, dassdas stimmt . Ich glaube aber nicht, dass das nur am Fehl-verhalten einzelner Politiker auf unterschiedlichen Ebe-nen liegt . Vielmehr gibt es im europäischen Integrati-onsprozess zwei Grundprobleme, die wir in den letztenJahrzehnten nie korrigiert haben und die noch mit derPhase der Gründung der Europäischen Gemeinschaft vor60 Jahren zusammenhängen . Damals hat man gesagt:Wir wollen möglichst schnell möglichst viel zusammenNorbert Spinrath
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machen . – Damit das möglichst schnell geht, hat manentschieden: Die Parlamente lassen wir außen vor . Wirbilden als Exekutive eine Kommission, die auch Ge-setzgebungskompetenzen bekommt und die von einemRat – auch da haben wir wieder die Exekutive – kon-trolliert wird . – Diese Übermacht der Exekutive, die vor60 Jahren verständlich und richtig war, zieht sich bisheute durch . Auch der Versuch einer Korrektur in den70er-Jahren durch die – halbherzige – Einführung einesEuropäischen Parlaments hat daran nichts geändert .Der zweite Fehler war: Man wollte möglichst umfas-send zusammenarbeiten und möglichst viel zusammenmachen, egal was . Damals, vor 60 Jahren, war es richtig,zu sagen: Alles, was wir gemeinsam machen, ist für dasgemeinsame Friedensprojekt Europa stabilisierend . – Esgab einen Grundsatz, den heute noch das EuropäischeParlament und die Kommission, aber auch der EuGHvertreten: Bei Kompetenzkonflikten wird im Zweifel im-mer zugunsten der Gemeinschaft und immer zulasten dereinzelnen Mitgliedstaaten entschieden .Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese bei-den Webfehler müssen wir korrigieren, wenn dieses eu-ropäische Projekt eine Zukunft haben soll . Wir müssendafür sorgen, dass das parlamentarische Element bei denEntscheidungen in Europa gestärkt wird . Das kann manam besten und schnellsten dadurch erreichen, dass manmöglichst viele Kompetenzen auf die Mitgliedstaaten,die nationale Ebene und die nationalen Parlamente in denjeweiligen Staaten zurückverlagert .Zudem brauchen wir einen Paradigmenwechsel beiKompetenzkonflikten. Im Zweifel müssen die Mitglied-staaten zuständig sein . Das hat etwas mit dem zu tun,was Norbert Röttgen angesprochen hat, mit Identität . Esgeht nicht nur um die Identität Europas im Vergleich zurIdentität anderer Erdteile, sondern auch um die Identi-tät einzelner Mitgliedstaaten innerhalb der EuropäischenUnion . Unsere europäischen Freunde und Mitbürgerwollen ihre Identität behalten: in ihrer Region, in ihrerHeimat, in ihren Ländern . Deswegen ist es wichtig, die-sen Paradigmenwechsel vorzunehmen und zu sagen: ImZweifel sind die Mitgliedstaaten zuständig, es sei denn,wir können eindeutig und für jeden einleuchtend begrün-den, warum es einen Mehrwert hat, etwas gemeinsam aufeuropäischer Ebene zu machen .Ich will die einzelnen Bereiche, in denen offensicht-lich ist, dass wir zusammenarbeiten müssen und nur ge-meinsam vorgehen können, beispielhaft benennen .Erstens: die äußere Sicherheit . Die meisten Expertensind sich einig: Egal wie die Wahlen in den USA ausge-hen werden, die Amerikaner werden sich zunehmend ausder Verantwortung für die Verteidigung Europas zurück-ziehen . Wir Europäer werden künftig selber in der Lagesein müssen, uns zu verteidigen . Wir brauchen deswegeneine starke Säule der NATO in Europa .Deswegen wäre es das wichtigste und vordringlichsteZiel der Europäischen Union, jetzt dafür zu sorgen, dasswir eine Vernetzung und Abstimmung der militärischenFähigkeiten bekommen und dass wir in der Lage sind,unseren Bürgern in Europa, vom Baltikum bis zur Iberi-schen Halbinsel, zu sagen: Wir sind in der Lage, euch vorallen zu verteidigen, die es nicht gut meinen mit Europa .
Das zweite Thema, das Thema „Innere Sicherheit, Be-kämpfung organisierter Kriminalität und Terrorismus“,beginnt mit dem Schutz unserer Außengrenzen . Wederein Staat noch ein Staatengebilde wie die EuropäischeUnion werden das Vertrauen ihrer Bürger haben, wennsie nicht in der Lage sind, das Territorium zu schützen .Deswegen gehört es zur allerwichtigsten Voraussetzung,dass wir die Außengrenzen Europas schützen, und zwarwirksam, und dass wir dazu übergehen, die Zusammen-arbeit der Sicherheitsbehörden in Europa noch effizienterzu organisieren als bisher. Das betrifft sowohl Fragen desTerrorismus als auch der organisierten Kriminalität; denneines versteht jeder Mensch in Europa: Da die Bandeneuropäisch bzw . international organisiert sind, müssenwir in Europa zusammenarbeiten, wenn wir ihnen dasHandwerk legen wollen . Es versteht jeder Mensch, dassman den Terrorismus, der ein europäisches Problem ge-worden ist, nur gemeinsam europäisch bekämpfen kann .Deswegen kann man an diesen Beispielen auch deutlichmachen: Da hat Europa einen Mehrwert .Ich nehme ein drittes Beispiel: Energiepolitik . EinLand hat viel mehr Sicherheit für seine Energieversor-gung und eine stärkere Unabhängigkeit von anderenMächten, wenn es einen sehr effizienten und vielschich-tigen Energiemix hat . Es muss uns gelingen, einen euro-päischen Energiemix breit aufzustellen, der sowohl dieSonnenenergie von Spanien als auch die Kernenergievon Frankreich auch für das Baltikum verfügbar macht,wenn die Russen kein Gas mehr liefern wollen . Deswe-gen brauchen wir eine gemeinsame europäische Ener-giepolitik .Herr Außenminister, ich will ganz ehrlich sagen: Mirgefällt nicht, dass wir zulassen, dass um Polen herumeine Nord-Stream-Leitung gebaut werden soll, die ganzklar nur ein Ziel hat, nämlich unsere polnischen Nach-barn auszugrenzen . Ich denke, dass diese Entscheidungnicht gut für den europäischen Geist wäre; vielmehr müs-sen wir dafür sorgen, dass auch in der Energiepolitik eineeuropäische Gemeinsamkeit auf allen Ebenen entsteht .Das Gleiche gilt für den Bereich der Infrastruktur –bei Straßen, Schienen, Leitungen ist das überhaupt keineFrage –, aber auch für die Digitalisierung . Da gilt das,was Norbert Röttgen vorhin gesagt hat: Rechtsetzung .Man kann Recht setzen, aber man muss dieses Rechtauch durchsetzen können . Es kann nicht jedes Land fürsich genommen den Googles dieser Welt entgegentreten .Aber 500 Millionen Verbraucher, der größte Verbrau-chermarkt der Welt, sind in der Lage, mit Macht seineRechtsetzung gegenüber den Googles dieser Welt durch-zusetzen . Daran können wir unseren Bürgern verdeutli-chen, warum wir Europa auch in der Frage der Digitali-sierung brauchen .
Schließlich – das wurde schon angesprochen – dasThema Afrika . Wir als Europäer haben eine Verantwor-tung für Afrika, nicht zuletzt deswegen, weil wir in denDr. Hans-Peter Friedrich
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letzten 200 Jahren in Afrika selber genügend Unruhe an-gezettelt haben . Ich glaube, dass wir nur gemeinsam –die Konferenz von Valetta war ja ein guter Anfang – eineverantwortungsvolle Afrikapolitik in Europa zustandebringen können . Jedes einzelne Land wäre überfordert .Auch das verstehen die Bürgerinnen und Bürger in Eu-ropa . Auch da kann man ihnen klarmachen, warum manEuropa braucht, um die große Herausforderung, denMenschen in Afrika eine Perspektive zu geben, gemein-sam annehmen zu können .Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn esuns nicht gelingt, jetzt mit grundlegenden Reformen dieWebfehler der europäischen Integration der letzten Jahr-zehnte zu korrigieren, werden wir dieses europäischeProjekt strangulieren. Ich hoffe, dass es uns gelingt. Ichdenke, dass wir alle Kraft darauf verwenden müssen .Vielen Dank .
Für die SPD spricht jetzt der Kollege Frank Schwabe .
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieDebatte ist nun schon etwas fortgeschritten, und vieles istschon angesprochen worden . Ich möchte noch ein paarDinge zu den Themen Menschenrechte und humanitäreHilfe hinzufügen .Es sind viele Staaten und viele Probleme in vielenLändern angesprochen worden . Ich habe gerade einmalein bisschen überlegt und festgestellt: Fast alle Staaten,die hier angesprochen worden sind, haben eigentlich ei-nes gemeinsam, nämlich, dass die Entwicklung im Landin den letzten Jahren alles andere als – ich sage es einmalso – der Demokratie förderlich war . Die Bertelsmann-Stiftung hat – im Übrigen völlig unabhängig von ideolo-gischen und religiösen Differenzen – eine Untersuchunggemacht und festgestellt, dass sich viele dieser Staatenautoritär entwickeln .Viele dieser Staaten sind dabei, die Möglichkeiten derZivilgesellschaft einzuschränken . Das sind Länder wieChina, aber auch Russland, die Türkei, leider auch Israel,leider auch Ungarn in der Europäischen Union und vieleandere Länder. Ich finde, völlig unabhängig von ideolo-gischen und religiösen Differenzen und Unterschiedensollten wir uns hier einig sein und deutlich machen, dasseine lebendige Zivilgesellschaft ein grundlegender Be-standteil jedes Staates und jeder Demokratie sein mussund dass wir uns in der deutschen Außenpolitik alle ge-meinsam dafür einsetzen müssen .
Ich bin Frank-Walter Steinmeier für vieles dankbar,unter anderem dafür, dass er den Europarat angesprochenhat, über den wir eigentlich viel zu wenig reden . Gesterngab es eine wichtige Konferenz im Auswärtigen Amt un-ter Beteiligung des Europarates .Der Europarat bietet eine ganze Reihe von Chancen,nicht nur gerade in der Konfliktsituation in der Türkei,sondern auch darüber hinaus . Er birgt aber auch Risiken .Wir entsenden eine 36-köpfige Delegation aus dem Deut-schen Bundestag in die Parlamentarische Versammlungund reden über 47 Länder im Europarat . Wir haben eineReihe von Möglichkeiten, Brücken zu bauen und unsim Sinne von Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit undDemokratie einzusetzen . Es gibt andere Länder, die denEuroparat auch sehr ernst nehmen, aber dort Lobbying ineine problematische Richtung betreiben .Deswegen würde ich mich sehr freuen, wenn dieseDebatte um die Türkei vielleicht Anlass dazu geben wür-de, als Deutscher Bundestag den Europarat noch wichti-ger zu nehmen und genau hinzugucken, wie wir die Inte-grität dieses Hauses stärken und wahren können .Ich will noch ein paar Sätze zur humanitären Hilfe sa-gen und die Debatte, die hier entsprechend geführt wur-de, vielleicht ein bisschen zusammenfassen . – Trotz allerBeteuerungen, dass die humanitäre Hilfe unglaublichwichtig ist, ist die Realität noch immer, dass wir weltweiteinen Bedarf von knapp 20 Milliarden US-Dollar für die-ses Jahr haben, wovon gerade einmal 38 Prozent gedecktsind . Das gilt auch für Syrien: Trotz aller Anstrengungen,trotz der wichtigen London-Konferenz und der Nach-folgekonferenzen, die es jetzt noch geben wird, sind nur42 Prozent der notwendigen Hilfsgelder gedeckt .Das führt dazu, dass Menschen hungern, Durst haben,nicht die notwendige medizinische Versorgung erhalten,im Winter nicht genug Kleidung und anderes haben unddie Kinder nicht in Schulen gehen können. Das betrifftweltweit über 100 Millionen Menschen, von denen imÜbrigen viele dabei sind, sich zu überlegen, ob sie sichnicht auf den Weg in andere Teile der Welt bis hin nachEuropa machen sollten .Wahr ist: Wer nicht in die humanitäre Hilfe und in Kri-senpräventionen investiert, der wird am Ende noch tieferin Konflikte verstrickt werden. Wir würden Konflikteeher weiter anheizen, und am Ende würde das Ganze zuungezähltem zusätzlichem Leid führen und auch viel teu-rer werden, als wenn wir entsprechend investieren wür-den .Herr Leutert, Sie haben vom schlechtesten Haushaltgesprochen . Man muss einfach sagen: Das stimmt aus-drücklich nicht .
Dieser Haushalt ist angesichts der Krisen in der Welt not-wendig . Wir haben die Mittel für die humanitäre Hilfeund auch die Krisenprävention in den letzten Jahren mas-siv gesteigert . Das ist am Ende ein Verdienst des gesam-ten Hauses hier .Deutschland spielt eine wichtige Rolle . Der Außenmi-nister hat es gesagt: Wir sind weltweit an dritter Stelle .Wir setzen uns nicht nur für finanzielle Mittel ein. Ichwill dem Außenminister noch einmal ausdrücklich dafürdanken, dass er sich auch für Waffenruhen und Wege derVersorgung in der Ostukraine, in Aleppo und anderswoeinsetzt . Wir haben auf dem Humanitären Weltgipfel inDr. Hans-Peter Friedrich
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Istanbul eine wichtige Rolle gespielt, wo wir uns für eineneue Qualität der humanitären Hilfe eingesetzt haben .Am Ende geht es aber eben um Geld . Wenn man keinGeld hat, dann wird man die Dinge, die man internationaltun muss, nicht leisten können . Deswegen – und so habeich viele Redner hier verstanden, auch die des Koaliti-onspartners – muss es uns darum gehen, die Mittel, diewir für die humanitäre Hilfe in diesem Jahr einsetzen, zuverstetigen . Das steht im jetzigen Haushaltsplanentwurfnoch nicht in ausreichendem Maße, aber uns bleiben jaein paar Wochen der Debatten, und am Ende wird es indiesem Deutschen Bundestag einen Haushalt geben, der,wie ich jedenfalls hoffe, diesen internationalen Verpflich-tungen gerecht wird .
Ich habe immer gesagt: Wenn die Notwendigkeit fürdie humanitäre Hilfe nicht mehr gegeben ist, dann müs-sen wir als Fachpolitiker auch bereit sein, mit den Sum-men wieder herunterzugehen . Das kann ich aber zurzeitnicht sehen . Wir haben einen immensen Bedarf an hu-manitärer Hilfe in allen Krisen der Welt, insbesondere inder Syrien-Krise . Deswegen bitte ich darum, dass wir inden Haushaltsberatungen wirklich dazu kommen, diesenPosten aufzustocken und zu verstetigen . – Ich gebe jetztdas Wort an Alois Karl weiter, der uns dazu positive Bot-schaften übermitteln kann .Danke schön .
Zum Abschluss der Aussprache über diesen Ge-
schäftsbereich gebe ich dem schon angekündigten Kolle-
gen Alois Karl für die CDU/CSU das Wort .
Sehr geehrter Herr Präsident! Ich hatte bisher gedacht,Sie erteilen das Wort, aber Sie haben offensichtlich schonganz gute Adjutanten, die mithelfen – obwohl das nichtnotwendig ist .Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Sehr geehrter Herr Außenminister Steinmeier! Lie-be Frau Böhmer! Lieber Herr Staatsminister Roth! – Umdie ganzen Durchlauchten des Auswärtigen Amtes zunennen, die heute freundlicherweise der Debatte beiwoh-nen .
Den Zuschauern und Zuhörern darf ich sagen: Ich binden Parlamentarischen Geschäftsführern dankbar, dassich erst zum Schluss an der Reihe bin . Das hat bei unsmit aufsteigender Reihe zu tun .
Um all das, was wir eben an guten Absichten im Aus-wärtigen Amt gehört haben, zu finanzieren, also für dasschnöde Geld, sind die Haushälter zuständig, die nichtheute den Hauptpart spielen, sondern erst bei der Verab-schiedung des Haushaltes .Meine Damen und Herren, der Bundeshaushalt nimmtin diesem Jahr insgesamt gesehen um 20 Milliarden Eurozu, also plus 3,7 Prozent . Der Haushalt des Außenmi-nisters nimmt um 200 Millionen Euro ab, also minus4,3 Prozent . Gott sei Dank, möchte ich da sagen .
– Lieber Herr Dr . Lindner, im Gegensatz zu Ihnen habeich die Zahlen richtig gelesen .
Man muss da eben genau hinschauen . – Es ist schon ge-sagt worden: Das Minus bei Ihrem Haushalt, sehr geehr-ter Herr Außenminister, kommt dadurch zustande, dasswir im Jahr 2017 300 Millionen Euro weniger an dieVereinten Nationen bezahlen müssen . Wenn Sie gera-de eben gut zugehört haben, dann wissen Sie, dass wirdennoch nur 200 Millionen Euro weniger in der Kassehaben . Damit bleiben 100 Millionen Euro zusätzlich fürdas operative Geschäft übrig .
Es ist gar nicht so verkehrt, dass wir für die verschiede-nen Aufgaben, die benannt worden sind und die ich nochansprechen werde, tatsächlich mehr Geld zur Verfügunghaben . Damit werden wir verantwortlich umgehen .Sehr geehrter Herr Bundesminister, vor einem Jahrhaben Sie hier an dieser Stelle gesagt: „Die Welt ist ausden Fugen . . .“ – Ihnen hat niemand widersprochen, weiles eine richtige Aussage war . Heute könnte man sie in derTat wiederholen oder sie vielleicht sogar noch verstärkenund bekräftigen .Sehen wir uns die Situationen in der Welt an – sie sindhier teilweise angesprochen worden –: Der Syrien-Kon-flikt ist bereits im sechsten Jahr, und ein Ende ist augen-blicklich noch gar nicht absehbar . Ich erinnere nur an dieschlimme Situation in Aleppo und anderswo . Ich möchtedas nicht zu weit ausführen .Ein anderes Beispiel ist die Situation direkt vor unsererHaustür mit dem Putsch in der Türkei und den anschlie-ßenden Säuberungen und Strafaktionen von Erdogan . Ichdanke dem Kollegen Norbert Röttgen, dass er darauf sointensiv und fundiert eingegangen ist . Wenn man sich sovieler offensichtlich tüchtiger Leute entledigt, bedeutetdas auch eine Schwächung der Türkei im Inneren . DasGanze bedeutet auch eine Entfernung von Europa . Dasist ein Punkt, den ich in dieser Klarheit so noch nichtrichtig gehört habe, der aber durchaus stimmt . Ich dankedir, lieber Norbert Röttgen, dass du das gesagt hast .Frank Schwabe
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In diesem Zusammenhang fällt mir ein, dass die CDUseit 1966, also seit 50 Jahren, keinen Außenministermehr gestellt hat .
Das ist schon erwähnenswert . Nicht dass sich unsereAußenpolitik nicht trotzdem gut weiterentwickelt hätte,aber Sie haben gesehen, lieber Herr Steinmeier: Auch wirhaben gute Leute in der Reserve, wenn das einmal not-wendig sein sollte .
Wir haben die Konflikte nicht umfassend beschrieben.Die Türkei habe ich genannt . Ägypten, Libyen und ande-re sind kursorisch angesprochen worden .Der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine istnatürlich sehr schmerzhaft für uns, insbesondere weil dieAbkommen von Minsk nicht umgesetzt worden sind, so-dass wir dort eher einen labilen als einen stabilen Friedenoder eine Waffenruhe sehen. Russland ist offensichtlichnicht bereit, das Territorialprinzip anzuerkennen, dassGrenzen nur friedlich verändert werden dürfen, nichtaber mit Gewalt .Meine Damen und Herren, bei uns in Deutschland, beiuns in Europa, in der zivilisierten Welt, gilt das Recht .Es gilt nicht das Recht des Stärkeren, sondern es gilt dasRecht . Das ist bei manchen noch nicht so angekommen,bei Russland in diesem Fall nicht .In all diesen Krisen sind wir irgendwie mitbeteiligt .Die Bundeskanzlerin hatte recht, als sie gesagt hat: Ausallem können wir uns nicht heraushalten; das geht nicht .Ich habe die Situation in der Ukraine angesprochen .Es muss auch bedacht werden, dass diese Krisen auchimmer innenpolitische Auswirkungen haben . Keine Kri-se bleibt ohne innenpolitische Folgen . Bedenken wir, wiees wäre, wenn Russland seinen Expansionsdrang in derOstukraine fortführen würde, und ob wir dann nicht mitHunderttausenden von Flüchtlingen zu rechnen hätten,die über Polen nach Deutschland kämen . Wie würden wirdastehen, wenn es dazu kommen würde?Aus diesem Grunde ist es natürlich richtig und wich-tig gewesen, dass auf dem Warschauer NATO-Gipfelvor wenigen Wochen in der Tat weise Entscheidungengetroffen worden sind, sehr geehrter Herr Außenminister,nämlich erstens die Verteidigungsfähigkeit des Bündnis-ses unter Beweis zu stellen und zweitens den Dialog an-zumahnen und ihn zu führen. Ich finde das vernünftig.Das gilt auch insbesondere dafür, dass wir den Polen,Balten, Esten, Litauern und Letten zugesagt haben, dassdort als sichtbares Zeichen unserer Verteidigungsbereit-schaft vier Bataillone stationiert werden .Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Außen-minister spricht häufig von Abrüstungsinitiativen, diedurchaus angebracht wären . In der Tat: Wir unterstützendas . Damit sprechen Sie uns aus dem Herzen . Aber ichmeine fast, wir müssten sagen: Es besteht gerade in denBeziehungen zur Ukraine und zu Russland keine Äqui-distanz . Unsere Sympathie ist auf der Seite der Ukraine,und wir sollten unseren russischen Freunden sagen, dasses so nicht geht .Ein anderer Punkt ist, dass das Verhältnis zwischender Ukraine und Russland eigentlich auf der Ebene derOSZE angesprochen werden müsste .
Ich hätte mir gedacht, dass wir in diesem Jahr hier wei-terkommen . Wir haben zwar in diesem Jahr den Vorsitz,Herr Außenminister, aber die Konferenz, die Sie vor we-nigen Tagen in Potsdam abgehalten haben, war von kei-nem so großen Erfolg gekrönt, wie ich mir das eigentlichgewünscht hätte . Der russische Außenminister Lawrowwar nicht da, und auch der ukrainische Außenministerwar nicht da
– zum Bankett, ja –, um diesen Gesprächsfaden aufzu-nehmen, von dem ich mir erhofft hatte, dass er zu einemDialog in der Sache geführt hätte .Als Haushälter muss ich noch einen Punkt ansprechen .Die Gipfel und die Aufgaben im Rahmen der Vorsitze, diewir pflegen, kosten in der Tat alle Geld. Der OSZE-Vor-sitz kostet ungefähr 20 Millionen Euro, der G-7-Gipfelim letzten Jahr im bayerischen Elmau hat 6 MillionenEuro gekostet . Der G-20-Vorsitz im nächsten Jahr wird50 Millionen Euro kosten . Das wäre negativ ausgedrückt .Aber man kann Geld auch schlechter ausgeben .
Aber wenn das zu Gesprächen, zu Verbindungen und zurGesprächsbereitschaft führt, dann meine ich, dass diesesGeld gut angelegt ist .Die humanitäre Hilfe ist schon mehrfach angespro-chen worden . Im Jahr 2013 – um drei Jahre zurückzu-blicken – haben wir für humanitäre Hilfe 335 MillionenEuro ausgegeben . In diesem Jahr, drei Jahre später, ge-ben wir 1,133 Milliarden Euro, also das Dreifache, dafüraus . Dass ein intelligenter Mensch wie Sie, Herr Lindner,dann sagt, dass wir hier in unseren Aufgaben zurückste-hen würden, kann ich nicht nachvollziehen .
Das Gegenteil ist der Fall: Wir haben die Ausgaben umdas Dreifache erhöht .
Im letzten Jahr – um auch das noch einmal für diejeni-gen zu sagen, die die Haushaltspläne nicht ganz so inten-siv lesen – waren es 733 Millionen Euro . In diesem Haus-halt, dem Haushalt für 2017, sind es 730 Millionen Euro .Das ist in etwa der gleiche Betrag . Durch die Ergebnisseder Londoner Geberkonferenz haben wir 400 MillionenEuro zusätzlich erhalten . Wir werden, damit wir unsereAlois Karl
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Aufgaben erfüllen können, auch bei den nächsten Ver-sammlungen der UN – zum Beispiel des Weltsicherheits-rats – darauf drängen, dass die entsprechenden Summenwieder zugesagt werden .Ich glaube, wir sind uns einig, meine Damen und Her-ren, dass wir im nächsten Jahr nicht hinter den Betragvon 2016 zurückfallen können .
Das werden wir in den anstehenden Veranstaltungen undden anschließenden Gesprächen auch so postulieren unddurchsetzen .Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist schonviel getan, wenn man Erfahrungen sammelt . Und Erfah-rungen sammeln heißt, dass man fahren muss . Ich warmit Frau Barnett von der SPD in Saatari in Jordanien undhabe mir das riesengroße Flüchtlingslager angeschaut .Wir haben diese unübersehbare Flüchtlingsstätte in derBekaa-Ebene gesehen . Das Herz tut einem weh, wennman sieht, dass so etwas in einer humanitären Gesell-schaft geschieht . Ich bin zuversichtlich, dass wir mit un-seren Mitteln die humanitäre Lage dort verbessern kön-nen .Ich habe – lieber Herr Vizepräsident, um zum letztenSchachtelsatz zu kommen –
eine Bitte, dass wir nämlich im nächsten Jahr in würdi-ger Weise ein Gedenken feiern, nämlich den Abschlussder Römischen Verträge von 1957 . Es ist 60 Jahre her,dass wir uns auf den Weg gemacht haben, Europa mitdeutscher Hilfe als einen friedlichen und freiheitlichenKontinent zu gestalten .Deutschland hat mit am meisten von dieser EU profi-tiert . Wir sind die wirtschaftliche Führungsnation in Eu-ropa . Das ist in der Tat auch eine Herausforderung füruns, um aus dieser Position heraus mit für Frieden undFreiheit in Europa und Humanität in der Welt zu sorgen .Dies, lieber Herr Außenminister, ist unsere besondereAufgabe . Der Haushaltsausschuss wird Sie in der Tat mitunterstützen, wenn es darum geht, ein, wie Sie es neulichgeschrieben haben, waches Bewusstsein in der Welt zuhaben . Sie haben uns an Ihrer Seite . Wir werden das mitunseren haushalterischen Beschlüssen in der Tat unter-stützen .Ich bedanke mich herzlich für die Nachsicht, HerrPräsident .
Da die Haushälter die großen Realisten sind, wissenSie, dass zwei Dinge begrenzt sind: die Finanzen und dieRedezeit .Weitere Wortmeldungen zu diesem Tagesordnungs-punkt bzw . Einzelplan liegen mir nicht vor .Deshalb kommen wir, sobald alle Kolleginnen undKollegen ihre Plätze eingenommen haben, zum Ge-schäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidi-gung, Einzelplan 14.Zu Beginn der Aussprache über diesen Geschäftsbe-reich erteile ich der Bundesministerin Dr . Ursula von derLeyen das Wort .
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin derVerteidigung:Vielen Dank, Herr Präsident! – Liebe Kolleginnenund Kollegen! In der Generaldebatte vor einem Jahr habeich gesagt: „Die Felder, auf denen wir für Frieden undFreiheit kämpfen, werden unendlich viel komplexer, dieVorwarnzeiten immer kürzer .“ An dieser Analyse hat sichleider nichts verändert . Im Gegenteil . Das muss man sofeststellen, wenn man sieht, wie die Parallelität und dieKomplexität der Krisen zugenommen haben .Damals ahnten wir noch nicht, was alles auf uns zu-kommen würde . Ich möchte noch einmal in groben ZügenRevue passieren lassen, was sich innerhalb eines Jahresverändert hat: Wir haben den schrecklichen 13 . Novem-ber von Paris erlebt, die grauenhaften Anschläge, die zurFolge hatten, dass wir – neben dem Irak-Mandat, dasschon bestand – das Syrien-Mandat – mit Aufklärungs-tornados und Luftbetankung – auf den Weg gebrachthaben . Damit sind wir der internationalen Allianz gegenden IS-Terror beigetreten .Wir haben die VN-Mission in Mali erweitert, um zurStabilisierung eines Landes beizutragen, das wir drin-gend in seiner Gänze in einem Friedensprozess brauchenund das dem Terror nicht anheimfallen darf . Wir habendes Weiteren Schiffe in die Ägäis geschickt, um das Un-wesen der Schleuser zu beenden . Das ist eine erfolgrei-che Mission, wenn man bedenkt, dass noch im Winterdes letzten Jahres im Schnitt 5 000 Menschen die ver-zweifelte Flucht auf Schlauchbooten von der Türkei nachGriechenland versucht haben . Heutzutage sind es geradeeinmal 20 bis 40 Menschen pro Tag . Das ist ein großerErfolg . Auf dem NATO-Gipfel in Warschau haben wirunter anderem die Aufgabe erhalten, uns an einem multi-nationalen Bataillon in Litauen zu beteiligen .Vor diesem Hintergrund hat die Bundesregierung voretwa zwei Monaten das Weißbuch 2016 beschlossen, mitwichtigen Schlussfolgerungen für die Zukunft der Bun-deswehr . Man sieht in diesem Weißbuch sehr deutlich:Wir verlangen mehr von der Bundeswehr . Wir geben ihrkomplexere Aufgaben . Die Bundeswehr wächst wieder;das ist eine gute Nachricht . Dafür braucht es Ressourcenund Investitionen . Genau diesen Geist atmet der vorlie-gende Entwurf für den Verteidigungshaushalt des Jah-res 2017 .
Wir sehen, dass der Wehretat gegenüber dem Haus-haltssoll 2016 um 2,3 Milliarden Euro auf insgesamt36,6 Milliarden steigt . Der 50 . Finanzplan sieht für 2017einen Aufwuchs von 1,7 Milliarden Euro und bis 2020Alois Karl
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insgesamt einen Aufwuchs von 10,2 Milliarden Euro vor .Das ist die größte Steigerung des Verteidigungsetats imletzten Vierteljahrhundert . Das ist eine gute Nachricht fürdie Bundeswehr .
Wir hatten die Sorge, dass dieser dringend benötigteAufwuchs zugunsten der Bundeswehr, die die Aufgabenerfüllt, die dieses Hohe Haus ihr gibt, zum Teil durch dieLohn- und Besoldungsrunde aufgebraucht wird . Die guteNachricht für die Zivilbeschäftigten sowie die Soldatin-nen und Soldaten ist: Erfreulicherweise hat das BMF be-schlossen, Personalverstärkungsmittel im Einzelplan 60zur Verfügung zu stellen, um die Steigerungen bei Lohnund Besoldung für alle Ressorts zumindest in Teilen zukompensieren . Da wir in etwa die Hälfte des Bundesper-sonals stellen, werden wir in erheblichem Umfang vonden zusätzlichen 700 Millionen Euro profitieren können.Das heißt, allen Unkenrufen zum Trotz werden wir damitso stark wie lange nicht mehr in die Zukunft der Bundes-wehr investieren können .
Mit dem geplanten Zuwachs bewegen wir uns wei-terhin in Richtung NATO-Zielvorgaben . Wir werden imnächsten Jahr nach NATO-Kriterien 1,21 Prozent des BIPfür Verteidigung ausgeben . Unser Problem ist das starkeBIP . Dieses Luxusproblem hätte sicherlich manch ande-res Land gerne . Auch beim Erreichen des NATO-Ziels,20 Prozent des Verteidigungsetats in Rüstungsinvestitio-nen zu allozieren, geht der Pfeil in die richtige Richtung .Wir haben dieses Ziel zwar noch nicht erreicht . Abernach derzeitigen Prognosen erreichen wir es bereits mitdem 50 . Finanzplan bis 2020 . Wir sind damit auf demrichtigen Weg bei unseren eingeleiteten Trendwenden beiPersonal, Material und Finanzen .Ich komme zuerst auf die Trendwende beim Personalzu sprechen . Zum allerersten Mal seit der Wiederverei-nigung, seit es die Armee der Einheit gibt, haben wir beider Bundeswehr endlich wieder steigende Zahlen sowohlbeim militärischen als auch beim zivilen Personal zuverzeichnen . Das heißt, wir wachsen . Das ist eine guteNachricht für die Bundeswehr; das ist dringend notwen-dig . Es reicht natürlich nicht allein, Stellen auszuschrei-ben . Diese müssen auch besetzt werden . Tatsächlich ha-ben wir auch steigende Bewerberzahlen zu verzeichnen;das ist ein gutes Zeichen . Wie wir wissen, bedürfen wirnicht nur der Menschen, die sich bei der Bundeswehrbewerben und zu ihr kommen . Vielmehr ist es dringendnotwendig, moderne Arbeitsbedingungen zu schaffen,damit diejenigen, die in der Bundeswehr ihren Dienstverrichten, auch bleiben . Wir sehen, dass die AgendaAttraktivität, die wir genau dafür auf den Weg gebrachthaben, langsam, aber sicher Wirkung entfaltet und in derBreite umgesetzt wird . Die Menschen spüren das .Das Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissen-schaften der Bundeswehr, das ZMSBw, hat seine alle dreiJahre regelmäßig stattfindende Befragung zur Berufszu-friedenheit wieder durchgeführt .Es hat mich gefreut, zu sehen, dass darin zwei guteKennzahlen sind . So sagen auf die Frage: „Würden Siesich wieder für die Bundeswehr entscheiden?“ inzwi-schen 56 Prozent: Ja, das würden wir tun . – Das ist einAufwuchs von 13 Prozentpunkten seit 2013 . Auch dieDienstzufriedenheit ist gestiegen . Inzwischen sagen62 Prozent der Menschen in der Bundeswehr, dass siemit dem Dienst bzw . der Arbeit in der Bundeswehr zu-frieden sind . Das zeigt, dass die Bemühungen, die wir inden letzten Jahren unternommen haben, um gerade dieZufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen zu steigern,angekommen und wir auf dem richtigen Weg sind .
Es gibt ein Thema, bei dem es noch ordentlich ruckelt:Das ist die Soldatenarbeitszeitverordnung . Da sind wirzwar auf dem Gleis, aber noch lange nicht auf gerademGleis . Wir haben sie im Januar dieses Jahres eingeführt .Es ist normal, dass es erhebliche Kinderkrankheiten gibt .Aber ich möchte einige Gedanken darüber mit Ihnen tei-len .Zunächst einmal die Frage: Warum das Ganze? Ers-tens . Es ist EU-Recht, und das muss in Deutschland um-gesetzt werden . Wir sind inzwischen die Allerletzten, diees umsetzen . Wir haben die EU-Arbeitszeitrichtlinie beider Berufsfeuerwehr umgesetzt, sie ist bei der Polizeiumgesetzt, sie ist bei Krankenhäusern bis hin zu Uni-versitätskliniken umgesetzt . Ich nenne damit Berufs-gruppen, die weiß Gott nicht von nine to five arbeiten,sondern die rund um die Uhr Schichtdienst kennen, dieNotfälle kennen und Wochenenddienste kennen und dieunter hohen Belastungen zu arbeiten haben . Das heißt,wir haben eigentlich gar kein Argument, sie nicht einfüh-ren zu können .Zweiter Punkt . Der ist mir wichtiger . Es ist sinnvoll;es ist zum Schutz der Beschäftigten . Wenn ich jetzt Kla-gen höre – das ist normal bei der Umstellung –, dass wirjetzt keine Zeit mehr für die Aufgaben hätten, die zuge-ordnet worden sind, dann sagt mir das doch, dass bishermehr als 41 Stunden pro Woche gearbeitet worden ist .Es ist nicht gut, wenn Menschen auf die Dauer 50 oder60 Stunden in der Woche arbeiten . Das geht zulasten derGesundheit, das geht zulasten der Familien . Das kannnicht im Sinne des Dienstherrn bzw . des Arbeitgeberssein . Das müssen wir ändern .
Deshalb stellt sich die Frage: Wie damit umgehen? Esgibt drei Stellschrauben .Erstens . Es ist eine Frage der Organisation . Wenn manrelativ viel Zeit zur Verfügung hat, weil die Zeit nichtgemessen wird, dann muss man auch nicht so stringentdie verschiedenen Aufgaben organisieren . Das heißt, esist eine Führungsfrage, jetzt auch konsistenter die Zeit-kontingente aufeinander abzustimmen . Ich glaube, wirmüssen auch fragen, ob die Führungskräfte all die Aufga-ben, die sie haben, immer selber erledigen müssen . Abersie müssen zumindest die Organisation so auf den Wegbringen, dass das Zeitkontingent zu den Aufgaben passt .Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
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Zweite Möglichkeit . Wenn es tatsächlich zu wenigZeit für eine Aufgabe gibt, dann muss ich zum Schlusszum Finanzminister und zu diesem Hohen Haus gehenund sagen, dass ich für diese Aufgabe mehr Personalbrauche . Dafür müssen wir aber erst messen . Ich mussIhnen plausible Zahlen vorlegen .Damit komme ich zum dritten Punkt . Wir sind jetzt inder Messphase . Wir haben viele Eingaben, die zurückge-kommen sind . Wir haben von Anfang an gesagt, dass wirevaluieren werden . Ich erwarte im Herbst den Zwischen-bericht . Ich sage Ihnen: Wenn wir frühzeitig, bereits imZwischenbericht sehen – der Endbericht kommt zu Be-ginn des nächsten Jahres –, dass es Änderungsbedarf beiden Durchführungsbestimmungen, bei der Verordnungoder später auch bei gesetzlichen Grundlagen gibt, dannwerden wir die Maßnahmen dazu auch gemeinsam er-greifen . Ich glaube, das können wir mit Fug und Rechtalle hier im Hohen Hause sagen .Ein zweiter Blick geht von der Arbeitszeit zur Trend-wende beim Material . Auch hier haben wir die richtigenWeichen gestellt . Wir wollen eine Ausstattung, mit derdie Bundeswehr ihre Aufgaben erfüllen kann . Wir wolleneine Ausstattung, mit der sie auch üben kann, ohne dassdas Material quer durch die Bundesrepublik reisen muss .Wir wollen eine Ausstattung, die auf der Höhe der Zeitist . Das sind eigentlich alles Selbstverständlichkeiten,die ich hier nenne, aber alle hier im Hohen Haus wissenauch, dass beim Thema Ausstattung lange Zeit eine Ver-waltung des Mangels vorherrschend war .Weil wir wollen, dass sich das ändert, haben wir dieModernisierungsmaschine angeworfen . Die Investitio-nen steigen . Das erkennen Sie auch am Entwurf der Re-gierung, die mehr als 6 Milliarden Euro für Rüstung aus-geben möchte . Das sind 10 Prozent mehr als in diesemJahr . Das ist eine überproportionale Steigerung . Sie istsogar größer als der Anstieg des Gesamtplafonds .Wir haben im gesamten Bundeshaushalt eine Stei-gerung von 3,7 Prozent . Wir haben im Verteidigungs-haushalt eine Steigerung von 6,8 Prozent, und wir habenbei den Materialinvestitionen eine Steigerung von über10 Prozent . Das heißt, wir sind fest entschlossen – dassieht man auch an den Zahlen –, den Nachholbedarf zudecken und die Modernisierung tatsächlich konsistentfortzuführen .
Dass wir modernisieren, sieht man auch an der Zahlder 25-Mio-Vorlagen . Wir haben seit Beginn der Legis-laturperiode – auch dafür muss ich Ihnen danken; denndahinter steht harte Arbeit – 30 25-Mio-Vorlagen aufden Weg gebracht . Wir haben noch Dutzende im Köcherbis zum Sommer 2017 . Ich weiß, dass irgendwann dasWindow of Opportunity, also das Fenster der Möglich-keiten, zugeht – das ist mir völlig klar –, weil wir in einWahljahr gehen . Aber ich kann Ihnen sagen: Wir werdenmit aller Kraft so schnell und so stringent wie möglichdie Dinge ins Parlament und damit sowohl in den Haus-haltsausschuss als auch in den Verteidigungsausschussbringen, in der Hoffnung, dass wir so lange wie möglichmit Ihnen Schritt für Schritt bei dieser Aufgabe vorange-hen können .
Das Preisschild für eine angemessene Ausstattung ha-ben wir aus heutiger Sicht errechnet – wir haben darübergesprochen –: Das sind die 130 Milliarden Euro bis 2030 .Ich möchte hier noch einmal sagen: Das ist ein realisti-sches Ziel . Denn würden wir diesen 50 . Finanzplan ein-fach nur bis zum Jahr 2030 fortschreiben – alle hier imRaum wissen: das passiert nicht; sein Umfang wird stei-gen –, dann hätten wir heute schon 100 Milliarden Eurodieser 130 Milliarden Euro im Körbchen . Das heißt, einegroße Strecke ist schon geschafft. Aber dass 30 Milliar-den Euro im Laufe der Zeit noch hinzukommen müssen,zeigt eben auch, dass eine solide aufgestellte und moder-ne Bundeswehr weitere Unterstützung aus diesem HohenHaus braucht .Genau darum bitte ich, im Sinne unserer Soldatinnenund Soldaten und unserer Zivilbeschäftigten, die in un-serem Auftrag, in unserem Namen einen außergewöhn-lichen Dienst leisten und denen ich an dieser Stelle vonHerzen danken möchte . Ich möchte ihnen meinen und –ich glaube, ich kann das sagen – unseren Respekt dafüraussprechen .Vielen Dank .
Vielen Dank, Frau Dr . von der Leyen . – Nächster Red-
ner in der Debatte: Michael Leutert für die Linke .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Ministerin, ich möchte hier zu drei Dingen Stellungnehmen .Zuerst zum Ausgabevolumen . Wir sprechen jetzt übereinen Etat, der laut Vorlage der Bundesregierung mit36,6 Milliarden Euro ausgestattet werden soll . Damit ein-her geht ein massives Plus – Sie haben es selber erwähnt;das ist die größte Steigerung des Militärhaushaltes inner-halb der letzten 25 Jahre – von 2,3 Milliarden Euro .Um es an dieser Stelle noch einmal klar zu sagen:2,3 Milliarden Euro ist exakt die Hälfte, 50 Prozent, des-sen, was der Bundesaußenminister für alle zivilen Auf-gaben zur Verfügung hat. Ich finde, das ist schon eineMenge Geld für eine Menge Pannenprojekte, die uns hierpräsentiert werden. Ich finde aber nicht nur, dass das zuviel Geld für zu viele Pannenprojekte ist, sondern ich fin-de auch, dass das Geld hier falsch eingesetzt ist, weil dasVerhältnis zwischen dem Instrument zivile Außenpolitikund dem Bereich Militär falsch justiert ist .Ich habe es bereits vorhin in der Debatte über den Etatdes Auswärtigen Amts gesagt – ich möchte es hier gernwiederholen –: Wir stehen vor denselben Problemen,vor denselben Konflikten und vor denselben AufgabenBundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
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wie im letzten Jahr . Wir wissen, wir brauchen bei allenKonflikten, die existieren, eine politische Lösung. Nurmit einer politischen Lösung werden wir diese Konfliktelösen . Deshalb halte ich es für falsch, im militärischenBereich 2,3 Milliarden Euro zusätzlich und für das Aus-wärtige Amt 200 Millionen Euro weniger zur Verfügungzu stellen .
Zweitens. Ich möchte auf einen Konflikt eingehen, derhier ebenfalls schon angesprochen worden ist und der inden letzten Jahren weiter eskaliert ist . Er wird immer bi-zarrer. Ich meine den Syrien-Konflikt und die Rolle, diedie Türkei dabei einnimmt .Weil man Dinge häufig relativ schnell aus dem Augeverliert, muss man noch einmal klarmachen, was wannpassiert ist und warum welche Entscheidungen wie ge-troffen worden sind. Es gibt seit 2011 einen brutalenBürgerkrieg in Syrien . Ein Akteur in diesem Bürgerkriegist der „Islamische Staat“, der nicht bloß in Syrien, son-dern auch im Irak agiert und der seinen Terror auch indie europäischen Großstädte gebracht hat . Zum Schutzdes NATO-Partners wurde damals ein Bundeswehrein-satz beschlossen . Er hat von 2013 bis 2015 stattgefunden .Schon damals war den meisten klar, dass die Türkei indiesem Konflikt eigene Interessen verfolgt. Schon daswäre ein Grund gewesen, diesen Bundeswehreinsatz dortnicht zuzulassen . Es war klar, dass die Türkei die IS-Ter-roristen unterstützt, dass sie die IS-Terroristen in ihrenKrankenhäusern versorgt und dass sie den Nachschubüber ihr Territorium zulässt . Wie gesagt, das wäre damalsschon ein Grund gewesen, den Bundeswehreinsatz zubeenden .
Seit Mitte 2014 rüstet die Bundeswehr die irakischenKurden im Irak aus und bildet sie aus . Der Grund, derAnlass, der damals dazu geführt hat, war, dass der IS ver-sucht hat, die Jesiden zu vernichten, und die Kurdinnenund Kurden sich dem entgegengestellt haben . Spätestensseit dem Kampf um Kobane, die kurdische Stadt in Syri-en, ist klar, dass sich die Amerikaner offen militärisch ander Seite der Kurdinnen und Kurden engagieren .Im Jahr 2015 gab es die fürchterlichen Terroranschlä-ge in Paris, genau zur Zeit der Haushaltsverhandlungen .Diese wiederum waren der Grund dafür, dass ein neuerBundeswehreinsatz in der Türkei beschlossen wurde . DieHauptaufgabe der Bundeswehrsoldatinnen und -soldatendort ist, Aufklärungsmaterial zu sammeln und die Ergeb-nisse an die Akteure der internationalen Koalition gegenden IS weiterzugeben .Nun haben wir die Situation, dass die Türkei, die Mit-glied dieser internationalen Koalition ist, militärisch inden Konflikt eingegriffen hat, auch in Syrien, und die mituns verbündeten Kurden bekämpft . Das ist derzeit einevöllig absurde Situation . Wir haben auf der einen SeiteBundeswehrsoldaten, die dort gegen den IS im Einsatzsind, und auf der anderen Seite einen NATO-Partner, dergenau die Leute bekämpft, die mit uns verbündet gegenden IS kämpfen sollen . Das ist ein Zustand, bei dem ichmich frage, welche Rolle die Türkei in der NATO in Zu-kunft spielen will, welche Aufgabe sie dort überhauptwahrnehmen will und ob das vielleicht auch mal bei unszu politischen Reaktionen führt .Alles das sind Gründe, die Soldaten aus der Türkeiwieder abzuziehen .
Das wird nicht gemacht .Nun passte Erdogan eine Entscheidung des Bundes-tags nicht . Der Bundestag hat eine Resolution zum Völ-kermord an den Armeniern beschlossen und den Völker-mord auch so benannt . Erdogan sagt nun, wir könntenunsere Soldaten, die als Soldaten einer Parlamentsarmeedort im Einsatz sind, nicht besuchen, es sei denn, dieBundesregierung distanziert sich von dieser Resolution .
Die Soldaten werden wieder nicht abgezogen, sonderndie Bundesregierung distanziert sich von dieser Be-schlusslage .
Die Freude in Ihrem Ministerium ist dann so groß, dassSie gleich beschließen, 58 Millionen Euro in die Hand zunehmen, um den Stützpunkt dort auszubauen .Nun könnte man denken: Die türkische Seite ist mitdiesen Aktionen der Bundesregierung jetzt befriedigt .Aber nein, heute kann man auf Spiegel Online lesen, wasder türkische Außenminister sagt – ich zitiere –:Wenn Deutschland sich weiter so verhält wie jetzt,dann werden wir das erwägen .Gemeint ist die Besuchserlaubnis . – Er fügt hinzu:Wenn Deutschland aber versucht, die Türkeischlecht zu behandeln, dann ist das nicht der Fall .Da frage ich mich: Wie weit kann man sich eigentlichselbst erniedrigen? Wie kann man diesen so gewährenlassen und dann sagen: „Wir lassen die Soldaten dort undfahren auch noch zu einem Besuch hin“?Ich halte das für einen völlig falschen Weg . Ich kannnicht nachvollziehen, wie die Entscheidungsprozesse beiIhnen im Hause geführt werden .
All das zeigt im Übrigen, dass die Türkei – anders alsuns immer gesagt wird – nicht Teil der Lösung ist . Eszeigt uns etwas ganz anderes: Die Türkei ist Teil des Pro-blems, und weil sie Teil des Problems ist, kann sie imKampf gegen den IS kein Partner von uns sein . Richtigwäre, die Bundeswehr abzuziehen .
Richtig wäre im Übrigen auch, die PKK von der Terror-liste zu streichen, um der Türkei ein deutliches Signalzu schicken, wer die Hauptlast dieses Kampfes zu tragenMichael Leutert
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hat . Sinnvoll wäre, eine politische Lösung zu erarbeiten,die alle Kurdinnen und Kurden mit einbezieht .
Und sinnvoll wäre auch, an die Redezeit zu denken .
Das tue ich hiermit, bedanke mich für die Aufmerk-
samkeit und freue mich dann auf die Haushaltsberatun-
gen .
Ich wollte nicht den letzten Satz abbrechen, aber Sie
waren schon reichlich über der Zeit .
Danke schön, Michael Leutert . – Nächste Rednerin:
Karin Evers-Meyer für die SPD .
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Der Verteidigungshaushalt ist kein Sonderhaushalt,auch nicht in Krisenzeiten, wenn man denn die jetzigenZeiten so nennen will . Auch der Bundeswehretat ist Teildes Ganzen . Auch er muss sich auf unserer gemeinsamenLinie bewegen, und diese Linie heißt immer noch „Kon-solidierung“ .Deshalb waren einige der Forderungen, die in denletzten Monaten von Kolleginnen und Kollegen, viel-leicht auch aus Frust über den jedenfalls zum Teil deso-laten Zustand der Bundeswehr, erhoben wurden, vonBeginn an unrealistisch . Forderungen nach zweistelligenErhöhungen im Milliardenbereich waren genauso unre-alistisch und irreführend wie manche Versprechung, dieseitens der Ministerin gemacht wurde . Wer Dinge ver-spricht, die er nicht halten kann, der zahlt am Ende einenhohen Preis und muss sich vielleicht sogar den Vorwurfgefallen lassen, ein Ankündigungspolitiker zu sein .Es gibt noch einen zweiten Grund, warum dieser nurmoderate Anstieg nicht nur haushalterisch geboten, son-dern auch in der Sache der richtige Weg ist . Dieser Grundliegt im System Bundeswehr selbst . Es bleibt schlichtund ergreifend falsch, diesem System mit seinen nachwie vor gravierenden Mängeln in schlichter Weise ein-fach nur mehr Geld zu geben .
Die Probleme im Beschaffungswesen, in der Organisati-on und in der IT sind nicht etwa gelöst . Wir sind hier undheute keineswegs an dem Punkt, an dem nur noch dieRechnung bezahlt werden muss, und dann ist alles gut .Jedem kundigen Beobachter ist klar: Die bestehendenSchwierigkeiten bei der Bundeswehr sind mit Geld al-lein nicht zu heilen; denn Geld ist kein Allheilmittel . Erstwenn zum Geld auch noch Geduld und kluge Gedankenhinzukommen, wird ein Schuh daraus .Gott sei Dank ist Deutschland ja das Land der Ideen,deshalb gibt es diese klugen Gedanken selbstverständlichauch bei der Bundeswehr . Viele der Entscheidungen undWeichenstellungen, die die Ministerin und ihr Team inden vergangenen drei Jahren auf den Weg gebracht ha-ben, sind klug und richtig .
– Ja, man darf ruhig klatschen . – Klug ist es auch, die-se Weichenstellungen als Trendwenden zu bezeichnen .Trendwende heißt nämlich: Das ist nichts, was so ein-fach über Nacht passiert, und auch nichts, was sich maleben so bezahlen lässt . Trendwende heißt: Es beginnt einlängerer Weg .Dieses Bild spiegelt sich auch im vorliegenden Haus-haltsentwurf wider . Es ist kein Hauruck, sondern einekonstruktive Unterstützung für einen begonnenen, si-cher mühsamen Weg . Die Trendwende beim Personal,die Trendwende beim Material, die Reorganisation desBeschaffungswesens, die IT-Konsolidierung, die Kon-solidierung der verschiedenen Gesellschaften – all diessind riesige Aufgaben, und keine ist endgültig erledigt .Das sind alles noch offene Posten, und ich kann der Bun-deswehr und vor allem jenen, die in ihr dienen und ar-beiten, nur wünschen, dass diese Prozesse auch über denHerbst des nächsten Jahres hinaus mit der notwendigenErnsthaftigkeit und dem notwendigen Engagement wei-terverfolgt werden; unsere Bundeswehr hat das nämlichverdient .
Ich sprach soeben von Geld, Geduld und klugen Ge-danken . Die Geduld der Soldatinnen und Soldaten undder Zivilbeschäftigten ist sicherlich aufs Äußerste stra-paziert . Wir müssen mit Respekt und Anerkennung fest-stellen: Sie ertragen Reform nach Reform. Ich hoffe, Sie,verehrte Frau Ministerin, haben noch deren Vertrauen;denn das brauchen Sie, wenn die Trendwende gelingensoll . Sie müssen vertrauenswürdig und transparent han-deln, und vor allem dürfen Sie keine leeren Versprechun-gen machen .Wenn der Deutsche Bundestag in diesem Jahr der mo-deraten Erhöhung des Verteidigungsetats zustimmt, so-gar einem vorsichtigen Aufwuchs der Bundeswehr, dannist dies auch ein Zeichen dafür, dass wir dieses Vertrauenhaben; aber es ist eben kein blindes Vertrauen . Ich denke,der Haushaltsansatz macht deutlich, dass nicht nur in Ih-rem Haus, Frau Ministerin, kluge Leute sitzen, sondernauch bei uns im Parlament .Der Haushaltsentwurf sieht vor, die Ausgaben fürMaterialerhaltung um mehr als 200 Millionen Euro zuerhöhen . Ausgaben für IT, internationale Einsätze undBaumaßnahmen steigen um knapp 550 Millionen Euro .Für Investitionen stehen gut 800 Millionen Euro mehrzur Verfügung . Als Frau von der Küste freue ich michgemeinsam mit Ingo Gädechens, dass das VorhabenMehrzweckkampfschiff mit 40 Millionen Euro erstmaligeinzeln veranschlagt wurde, und das Plus bei Material,Betrieb und Beschaffung ist ein Vertrauensbeweis. DasMichael Leutert
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wird auch deutlich, wenn man die Risiken gegenüber-stellt. Risiken liegen sowohl bei den im Zulauf befindli-chen Vorhaben wie beispielsweise dem SchützenpanzerPuma oder dem Transportflugzeug A400M als auch ab-sehbar bei neuen großen Vorhaben wie dem Luftverteidi-gungssystem MEADS, dem Euro Hawk oder der geplan-ten Entwicklung einer europäischen Drohne .
Ein Plus gibt es auch im Bereich Personal, und zwarnicht nur aufgrund der Tarifentwicklung . Das Plus wirdsich auch zeitnah und unmittelbar auf die unteren Tarif-gruppen auswirken; beispielsweise werden 3 000 Plan-stellen der Gruppe A 7 durch rund 2 000 neue Stellenfür Stabsfeldwebel A 9 ersetzt . Das ist, glaube ich, sehrerfreulich für alle Soldatinnen und Soldaten, die das be-trifft. Die warten schon lange darauf.Alles zusammengenommen ist das ein Etatentwurf,der die Realitäten in gelungener Weise abbildet . DerHaushalt verschließt sich nicht dem Trend, er bleibt abersachlich und zurückhaltend, wie sich das eben für einenHaushalt gehört . Geld hat, wie wir wissen, ein scheuesGemüt, und es bekommt vor allen Dingen dann einenSchreck, wenn Vertrauen und Kontinuität infrage gestelltwerden . Wir sind für das Geld zuständig, Sie, Frau Mi-nisterin, für das andere .Ich hoffe für uns und vor allem für die Angehörigender Bundeswehr, dass Sie Ihre Versprechen halten kön-nen und unser Vertrauen nicht enttäuschen .Vielen Dank .
Vielen Dank, Karin Evers-Meyer . – Nächster Redner:
Dr . Tobias Lindner für Bündnis 90/Die Grünen .
Vielen Dank, geschätzte Frau Präsidentin . – LiebeKolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen undHerren! Dieser Verteidigungshaushalt, zumindest derEntwurf, steht unter dem Motto: Viel hilft viel . Aber werdas Motto kennt, der weiß, dass dem oft nicht so ist . Ichwill das an zwei Stellen deutlich machen .Zum einen hilft es wirklich sicherheitspolitisch nichtviel, was Sie machen, Frau von der Leyen . Unbestrittenist: Die sicherheitspolitische Lage in Europa hat sich ver-ändert – ja! – durch die völkerrechtswidrige Annexionder Krim . Und: Ja, wir müssen die Sicherheitsbedenkenunserer Verbündeten ernst nehmen . Aber nein, liebe Kol-leginnen und Kollegen, wir haben keinen neuen KaltenKrieg in Europa, und deswegen ist es falsch, mit den Re-zepten des Kalten Krieges auf die veränderte Sicherheits-lage zu reagieren .
Die Beschaffung von über 100 Kampfpanzern ist ebenkeine kluge Antwort auf die veränderte Sicherheitsla-ge . Meine Fraktion und ich sind überzeugt, dass man Wladimir Putin viel einfacher und effektiver auf einenfriedvolleren Weg, auf einen Weg des Völkerrechts füh-ren könnte, und zwar, indem man diese Mittel investierenwürde in Verifikation, in Rüstungskontrolle, in Abrüstungstatt in 100 Kampfpanzer, die am Ende des Tages vielGeld kosten, aber den bestehenden Sicherheitsbedenkenalles andere als gerecht werden .
Um es ganz deutlich zu sagen: Wir alle hier, liebeKolleginnen und Kollegen, stehen in Verantwortung undin einer Fürsorgepflicht für die Soldatinnen und Solda-ten, die wir in Auslandseinsätze entsenden . Sie habenverdient, dass wir ihnen vom Material und von der In-frastruktur die Ausrüstung und den Schutz zuteilwerdenund zugutekommen lassen, wie es für die Einsätze not-wendig ist . Trotz der völlig veränderten Sicherheitslage:Auslandseinsätze sind und bleiben das wahrscheinlichsteEinsatzszenario der Bundeswehr . Unsere Sorge ist, dassdurch das geplante Umsteuern im Haushalt Mittel verlo-ren gehen, die an dieser Stelle gebraucht würden, liebeKollegen .
Viel hilft auch nicht viel, lieber Kollege Kalb, wennwir über die Trendwenden reden . Ich bin ja ganz froh,dass dieses Rednerpult Haltegriffe hat, so oft wie Sie,Frau von der Leyen, im vergangenen Jahr die Trend-wenderin waren . Sie haben es ja eben gerade wiederdargestellt: Trendwende Personal, Trendwende Material,Trendwende Haushalt . Ich bin gespannt, welche Trend-wende als nächste kommen wird .
Wenn wir uns das dann einmal im Detail anschauen,stellen wir fest, dass wir es mit von der Leyens Waffen-wunschzettel zu tun haben,
mit dieser 50-Milliarden-Euro-Liste an Material, was Siealles kaufen wollen, ohne Priorisierung, ohne abzuche-cken, wo es vielleicht besonders eng bei der Bundeswehrist . Wir haben einmal hochgerechnet, was Sie dafür jähr-lich an Geld brauchen, unabhängig davon, dass wir dasQuatsch finden. Sie bräuchten aber jährlich 3,6 Milliar-den Euro und mehr ab jetzt, um Ihre Ankündigung umset-zen zu können . Was Sie mehr haben im kommenden Jahrim Rüstungsbereich, das sind 636 Millionen Euro . Dasheißt, die Bugwelle, die sich dann aufgebaut hat, beläuftsich auf 3,8 Milliarden Euro im nächsten Jahr . Ich habeda meine Zweifel, nicht nur daran, ob das sinnvoll ist,sondern vor allem daran, ob Sie es je finanzieren werden.
Zur zweiten Trendwende, zum Personal . Ich möchteSie daran erinnern: In Ihrer gesamten Amtszeit haben Sieim Haushaltsvollzug, also bei dem, was Sie tatsächlichausgegeben haben, immer wieder Geld zugunsten desKarin Evers-Meyer
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Personals umschichten müssen . Allein im letzten Jahrhaben über 900 Millionen Euro für Personalausgaben ge-fehlt, die Sie woanders abgezogen haben . Ich habe großeZweifel, ob es wirklich gelingen wird, das Personal derBundeswehr zu erhöhen, zumal Sie diese Ankündigungerst in der nächsten Legislaturperiode wirksam werdenlassen .Ihr großes Problem ist Folgendes: Die Bundeswehrhat unbestritten Probleme . Die Bundeswehr hat unbe-stritten viel zu tun . Aber um diese Probleme zu lösen,brauchen Sie eine vernünftige Balance zwischen dem,was die Bundeswehr können und tun soll, und dem, wassie nicht können soll und wofür sie nicht zuständig ist .Ich denke hier an die innere Sicherheit . Sie brauchen einekluge Balance zwischen dem Material, dem Personal undden finanziellen Ressourcen. Wenn Sie an all diesen Din-gen quasi wie bei der Heizung alle Regler aufdrehen,dann werden wir es in ein paar Jahren mit einer Truppezu tun haben, die vielleicht größer ist, die vielleicht mehrGeld kostet, aber in der diese Probleme nicht gelöst sind .Dann werden wir es erneut mit einer Überlastung zu tunhaben . Damit werden Sie Ihrer Verantwortung gegenüberden Menschen, die Ihnen anvertraut sind, nicht gerecht,Frau Ministerin .
Es gibt aber auch einen ganz anderen Aspekt, warum –viel hilft viel – eine Etatsteigerung um 2,3 MilliardenEuro nicht gerechtfertigt ist . Meine Damen und Herren,kein anderer Einzelplan im Bundeshaushalt steht so fürVerschwendung wie der Verteidigungsetat . Nirgendwoanders wird mit einer solch laxen Weise mit Steuergel-dern umgegangen . Er ist ein trauriger Schauplatz verteu-erter und verspäteter Großprojekte . In ein solches Fassohne Boden weiteres Geld hineinzuwerfen, ist das fal-sche Signal . Ich kann nicht verstehen, warum WolfgangSchäuble eine solch schlechte Haushaltsführung belohnt .
Sie haben darüber geredet, dass Sie die Rüstungsaus-gaben im rüstungsinvestiven Teil erhöhen wollen . Erklä-ren Sie diesem Parlament bitte einmal, warum Sie im letz-ten Jahr aus diesem Bereich 482 Millionen Euro gar nichtausgegeben haben . Sie haben sie umgeschichtet . Warumbrauchen Sie dann mehr Geld für Rüstung? Ich dankemeinem Büro, das sich einmal die Haushaltsrechnungdes Bundes vorgenommen hat und nachgerechnet hat,wie Sie das Geld tatsächlich ausgegeben haben . Ja, derHaushaltsgesetzgeber gibt Ihnen Flexibilisierungs- undUmschichtungsmöglichkeiten . Wir als Parlament denkendaran, dass dies für Ausnahmefälle gilt, wenn beispiels-weise einmal etwas irgendwo liegen bleibt, wenn maneinmal umsteuern muss . Aber Sie haben im letzten Jahrüber 1,7 Milliarden Euro im Verteidigungsetat völlig an-ders verausgabt, als wir das als Parlament im Beschlussdes Haushalts vorgesehen haben . Das ist ein Umgangin einer exzessiven Art und Weise mit den Umschich-tungsmöglichkeiten im Bundeshaushalt, der nichts mehrmit Haushaltsklarheit und Haushaltswahrheit zu tun hatund der zu Recht vom Bundesrechnungshof gerügt wird .Nein, das zeigt auch, dass schlechte Haushaltsführung imVerteidigungsministerium Zuhause ist . Sie haben IhrenHaushalt nicht im Griff. Deswegen ist es falsch, Ihnenmehr Geld zu geben .
Um zum Schluss mit einer Legende aufzuräumen:Nicht nur bei Ihren Amtsvorgängern, Frau von der Leyen,sind Dinge schiefgelaufen, auch bei Ihnen . Hören Sie auf,Probleme bei Rüstungsprojekten bei Thomas de Maizièreoder Karl-Theodor zu Guttenberg abzuladen . In IhrerAmtszeit haben Sie eine Bekleidungsgesellschaft derBundeswehr an die Wand gefahren . Wir hätten Abschre-ckung fast neu definieren können, nämlich mit unbeklei-deten Soldaten, wenn man das Problem nicht im letztenMoment in den Griff bekommen hätte. Aus Thomas deMaizières Euro Hawk wird jetzt Ursula von der LeyensTriton-Projekt . Sie müssen noch einmal fast die gleicheSumme in die Entwicklung eines Aufklärungsmodulsstecken, ohne zu wissen, ob es am Ende überhaupt eineDrohne dafür gibt, die fliegt. Am Freitag will die Bun-deswehr den fünften A400M – es sind viel weniger, alszu dem Zeitpunkt vorhanden sein sollen – übernehmen .Schließlich setzen Sie die Ansprüche, die wir gegenüberder Rüstungsindustrie haben – selbst wenn Verträge ein-mal gut sind –, nur halbherzig durch . Statt jeweils amMonatsende der Firma Airbus den Schadensersatz unddie Verspätungszahlungen abzuziehen, die uns zustehenwürden, warten Sie, bis ein neues Flugzeug kommt undverrechnen sie erst dann . Wir lassen der Firma den Zins-vorteil und zeigen keine harte Hand .Nein, Frau Ministerin, viel hilft an dieser Stelle nichtviel . Wir Grüne werden in den anstehenden Haushalts-beratungen aufzeigen, auf welchen Teil des Auftrags derBundeswehr man sich fokussieren kann und was manpriorisieren kann . Wir werden aufzeigen, an welchenStellen im Verteidigungshaushalt Geld verschwendet,falsch ausgegeben wird, wo Einsparpotenzial besteht,und wir werden zeigen, dass man am Ende ohne eineEtat erhöhung, also mit weniger Geld, als Sie es vorha-ben, auskommt .Herzlichen Dank .
Vielen Dank, Tobias Lindner . – Ich wollte Ihnen nursagen: Wenn wir hier verkniffen die Augen zusammen-ziehen, dann ist das kein körpersprachlicher Kommentarzu Ihren Redebeiträgen, sondern hat etwas mit der Sonnezu tun, die uns etwas blendet .
Nicht dass Sie denken, was wir denn für Grimassen ma-chen! Es hat etwas mit der Sonne zu tun, nicht mit Ihnen,liebe Kolleginnen und Kollegen .
Der Kollege zu meiner Linken hat sich schon in Sicher-heit gebracht, aber wir halten hier ganz vorne die Stel-lung .Dr. Tobias Lindner
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Nächster Redner in der Debatte: Ingo Gädechens fürdie CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin mit dem Platz an der Sonnenseite desLebens!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr . Lindner, ichmuss auf Ihr rhetorisches Feuerwerk doch noch einge-hen .
Ich möchte das machen, weil Sie die Bundeswehr undihre Projekte insgesamt – alles, was wir beschlossen ha-ben – als einen Moloch dargestellt haben .
Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Da frage ich michschon, wo Sie in den letzten Verteidigungsausschusssit-zungen waren, in denen wir jedes Projekt diskutiert ha-ben und die Probleme erkannt haben,
in denen deutlich wurde, dass wir mit der Ministerin, mitdem BMVg auf dem Weg sind, all diese Probleme zu lö-sen .
Sie sollten also die Bundeswehr nicht in Bausch und Bo-gen kritisieren .
Sie schaden damit nicht nur der Ministerin, sondern auchdem Ansehen unserer Soldatinnen und Soldaten, meinesehr verehrten Damen und Herren .
Wir beraten in erster Lesung, liebe Kolleginnen undKollegen, den Verteidigungshaushalt, der vom Volumenher nicht nur der zweitgrößte Etat ist, sondern in derjetzigen Zeit sicherlich auch einer der bedeutsamstenEinzelpläne des Bundeshaushalts . Die weltweite Sicher-heitslage hat sich in den vergangenen Jahren dramatischverändert . Die Welt ist fragmentierter und unübersichtli-cher geworden . Die Vielzahl, Gleichzeitigkeit und Ver-schiedenheit von Konflikten und Krisen an der PeripherieEuropas sowie die virulente Gewalt durch Terroranschlä-ge haben die Grenzen von innerer und äußerer Sicherheitverschwimmen lassen . Die Auswirkungen dieser Ent-wicklung spüren wir, spüren die Menschen in Deutsch-land . Ja, wir spüren diese Auswirkungen nicht nur, son-dern an einigen Stellen gibt es – sicherlich auch bei denZuhörerinnen und Zuhörern auf den Rängen – so etwaswie eine gewisse Verunsicherung .
Es ist deshalb nur verständlich, dass die deutsche Sicher-heitspolitik mehr denn je in den Fokus des öffentlichenInteresses gerückt ist .Die Bundeskanzlerin hat heute Morgen in ihrer Rededie vier wichtigsten Grundsäulen unseres politischenHandelns erläutert, die mit Freiheit, Sicherheit, Gerech-tigkeit und Solidarität einhergehen . Äußere und innere Si-cherheit garantieren erst diese Freiheit und ermöglichenGerechtigkeit und Solidarität . Von daher ist es logisch,dass Verteidigungspolitik in der Gesellschaft wieder einvieldiskutiertes und breit wahrgenommenes Thema ist .In einer Zeit, in der Anschläge, leider auch Kriegund Terror näher gerückt sind, sollte dem Letzten klargeworden sein, dass wir hellwach und aufmerksam seinmüssen und das sprichwörtliche freundliche Desinteressegegenüber unseren Sicherheitskräften – egal ob gegen-über Polizei oder Bundeswehr – ein Ende haben muss .Die Mitglieder meiner Fraktion, der Fraktion der CDU/CSU, kämpfen dafür, dass die Arbeit und das Wirken un-serer Soldatinnen und Soldaten noch mehr Anerkennungin unserer Gesellschaft erfahren . Der Beruf des Soldatenist kein Beruf wie jeder andere . Sie stehen mit Leib undLeben für Frieden, Freiheit und Sicherheit ein und ver-dienen für ihren Dienst Respekt und unser aller Hochach-tung, meine sehr verehrten Damen und Herren .
Um den teils sehr komplexen Problemen und der Ein-dämmung von Konflikten zu begegnen, bedarf es klugerAntworten und einer verantwortungsvollen Sicherheits-politik . Konzeptionell hat das neue Weißbuch hier denrichtigen Weg aufgezeigt . Unser sicherheitspolitischesDenken darf aber keine Weißbuch-orientierte Festschrei-bung sein, sondern muss dynamisch und kontinuierlichweiterentwickelt werden . Vor diesem Hintergrund derBedrohung verbieten sich Vorbehalte zwischen den Res-sorts von selbst .Ebenso, liebe Kolleginnen und Kollegen, verbietensich Vorbehalte bezüglich des Einsatzes vorhandenerRessourcen . Alles, was einsetzbar ist und helfen kann,muss in einer kritischen Lage zum Schutz unserer Bevöl-kerung auch verfügbar sein . Wir haben das hier vielfach,auch kontrovers diskutiert . Dies gilt für Bedrohungenin Deutschland ebenso wie für Bedrohungen außerhalbDeutschlands . Ich möchte an dieser Stelle Ihnen, FrauBundesministerin, danken . Sie haben eine dringend not-wendige Diskussion über den Einsatz der Bundeswehrim Inneren in aller Sachlichkeit angestoßen . Der Uni-onsfraktion geht es um Rechtssicherheit . Daher solltenwir hier im Parlament diese Debatte ohne ideologischeScheuklappen, pragmatisch und offen fortführen.
Meine Damen und Herren, der vorgelegte Haus-haltsentwurf für den Verteidigungsetat zeigt eine deut-Vizepräsidentin Claudia Roth
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 186 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 7 . September 201618476
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liche, vor allen Dingen aber wirkungsvolle – HerrDr . Lindner – Trendwende .
– Ja, ich sage „wirkungsvoll“ . – Ich möchte Ihnen, FrauDr . von der Leyen, und allen Beteiligten in Ihrem Ministe-rium für Ihren beharrlichen Einsatz danken . Nach Jahren,in denen die Bundeswehr so etwas wie der Sparstrumpfder Republik war, haben Sie eine zwingend notwendigeWende vollzogen . Nicht nur die deutschen Soldatinnenund Soldaten, sondern auch die Bürgerinnen und Bürgerdieses Landes nehmen dieses Handeln positiv wahr .Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Unionsfraktionist vollkommen klar: Deutschland muss entsprechendseiner Größe und Wirtschaftskraft Verantwortung in derWelt und für Europa übernehmen . Und, meine Damen undHerren, Deutschland kommt seiner Verantwortung nach .Unser internationales Engagement in der Konfliktverhü-tung und -eindämmung als auch in der Bündnisverteidi-gung wird von unseren Partnern hoch geschätzt, sei esbei EUNAVFOR MED Sophia, dem Einsatz der Marinein der Ägäis oder der Beteiligung an der NATO-Präsensin Osteuropa . Deutsche Einsatzkräfte stehen überall dortbereit, wo sie im Bündnis gefordert werden . Gleichzeitigerwächst aus dem positiven Wirken auch eine gewisseErwartungshaltung, der wir, der unsere Soldatinnen undSoldaten gerecht werden müssen und ihr auch gerechtwerden .Die deutsche Sicherheitspolitik muss modern undgleichermaßen flexibel sein. Das gilt auch und beson-ders für unsere Bundeswehr . Das aggressive VerhaltenRusslands, der globale Terrorismus und letztendlich dieMassenmigration nach Europa führen dazu, dass man dieeigene Sicherheitspolitik nicht mehr an einem Szenarausrichten kann . Wir müssen alles können, und das auchin weit entfernten Regionen der Welt .Die Bundeswehr hat sich und muss sich immer wiederneu darauf einstellen, dass immer mehr Einsatzfähigkei-ten in Auslandseinsätzen gefordert werden .
– Böses, böses Wort! – Unsere Verteidigungs- und Au-ßenpolitik geht einher mit dem Gedanken, dass Krisen-bewältigung viel früher einsetzen muss . Nur so könnenwir erreichen, dass es nicht zu weiteren humanitärenKatastrophen oder Flüchtlingsströmen kommt . In einerglobalisierten Welt passieren die Dinge mit geringer Ver-zögerung überall und manchmal sofort . Deshalb müssenwir noch schneller aktiv werden und helfen, dass keineweiteren Krisenherde entstehen und Menschen aus ihrerangestammten Heimat flüchten müssen.Meine Damen und Herren, Krisenbewältigung ist na-türlich nicht nur und schon gar nicht primär eine militäri-sche Aufgabe, sondern der Einsatz von Militär bleibt füruns, bleibt für diese Regierung auch Ultima Ratio . DieAufgaben, die wir unserer Bundeswehr erteilt haben, wa-ren schon in der Vergangenheit selten alleine zu schaffen.Wir können Sicherheit nur gemeinsam mit den Partnernerreichen . Deutschland kann sich glücklich schätzen, festin der Europäischen Union und der NATO verankert zusein . Für eine vertiefte verteidigungspolitische Integra-tion muss es aber auch weitere enge multilaterale Ko-operationen nach dem Bottom-up-Prinzip geben, wiewir sie zum Beispiel erfolgreich mit den Niederländernpraktizieren . Deutschland wird auch zukünftig, wo im-mer möglich und gewünscht, als Anlehnungs- und Ko-operationspartner zur Verfügung stehen .Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir erhöhen denVerteidigungsetat 2017 signifikant. Dies ist wichtig;denn so sehr wir in wichtigen Teilen auf das Engagementder USA als Partner in der Sicherheitspolitik angewie-sen sind, sosehr müssen wir auch unsere eigenen finan-ziellen Anstrengungen verstärken . Auch wenn noch vielÜberzeugungsarbeit geleistet werden muss, auch wenneine Jahreszahl vor unseren Augen schwebt, auch wennwir den Etat weiterhin so aufwachsen lassen, müssen wirdoch noch eine Menge Überzeugungskraft aufbringen,damit wir tatsächlich das Ziel, 2 Prozent des BIPs fürVerteidigung aufzuwenden, erreichen .Diese Mittel sind aber notwendig, um die Bundeswehrin der Tiefe und Breite – die Fachleute wissen, wovon ichrede – zu modernisieren . Zwar wurde in allen Bereichendie Trendwende eingeleitet, aber wir brauchen weiterhinmutige, tiefgreifende Schritte – hin zu mehr Modernität .Die Bundeswehr muss nicht nur wieder Technologiefüh-rer in vielen Bereichen werden, um auch neue Bedro-hungsszenarien wie zum Beispiel Cyberattacken bewälti-gen zu können, sie muss in Gänze für künftige Aufgabenbestmöglich ausgerüstet sein .Wir brauchen eine verstärkte Kooperation bei derEntwicklung und Beschaffung von Rüstungsgütern inEuropa, allerdings dort, wo das Sinn macht, und nichtum jeden Preis; denn die Fähigkeitsverbesserungen beider Bundeswehr brauchen wir am besten schon heute undnicht erst in 5, 10 oder 20 Jahren . Das ist ebenfalls Teileiner aktiven Sicherheitspolitik .Personal ist der Schlüssel . Sie haben das erkannt,Frau Ministerin, und mit der Agenda Attraktivität undder Agenda Personal die richtigen Weichenstellungenauf den Weg gebracht . Sie haben erkannt, dass zu einermodernen und leistungsfähigen Bundeswehr motiviertesund engagiertes Personal gehört . Der Mensch muss imMittelpunkt stehen . Auch hier liegen noch große Auf-gaben vor uns . Die individuelle Förderung eines jedenEinzelnen muss weiter verbessert werden . Laufbahnenmüssen durchlässiger und Verpflichtungszeiten flexiblergehandhabt werden .Meine Damen und Herren, die Sicherheit gibt es nichtzum Nulltarif . Daher begrüßt meine Fraktion den vorge-legten Entwurf zum Einzelplan 14 . Gerade in der heu-tigen Zeit muss uns unsere Sicherheit mehr, manchmalviel mehr wert sein .Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
Ingo Gädechens
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 186 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 7 . September 2016 18477
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Vielen Dank, Ingo Gädechens . – Nächste Rednerin in
der Debatte: Christine Buchholz für die Linke .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bringenwir es auf den Punkt: Frau von der Leyen, Sie unterneh-men hier eine Trendwende zur Hochrüstung . Dabei istes keineswegs so, dass in den vergangenen Jahren dersogenannte Verteidigungshaushalt stagnierte oder gargeschrumpft wäre . Tatsächlich ist er von 1999 bis 2016von umgerechnet 24 Milliarden Euro auf über 34 Milliar-den Euro angewachsen . Sie sagen es selbst: Die 2,3 Mil-liarden Euro, die Sie jetzt obendrauf packen, sind nurder Anfang . Sie zielen auf einen Verteidigungsetat von60 Milliarden Euro . Frau von der Leyen, Sie sind dieHochrüstungsministerin . Sie sind stolz darauf . Ich würdemich dafür schämen .
Um 7 Prozent soll der Militärhaushalt jetzt anwach-sen . Das ist gemessen an allen anderen Ressorts ein über-proportionales Wachstum . Innerhalb des Verteidigungs-etats wächst der Anteil für rüstungsinvestive Ausgaben,also der Teil, bei dem es um die Beschaffung von neuemGroßgerät geht .
Hier werden die Prioritäten nicht nur der Verteidigungs-ministerin, sondern der gesamten Großen Koalition deut-lich . Es mutet schon seltsam an, wenn AußenministerSteinmeier einerseits Rüstungskontrolle in Europa an-mahnt, andererseits zu Hause einen neuen Rekordrüs-tungshaushalt mitträgt .
Nach dem Willen dieser Großen Koalition soll der An-teil für militärische Forschung, Entwicklung und Erpro-bung um satte 50 Prozent steigen .
Was heute erforscht und entwickelt wird, soll morgenbeschafft werden, zum Beispiel eine europäische Kampf-drohne, die Sie in der SPD noch im Wahlprogramm aus-geschlossen haben .
Viele Fernsehberichte und Dokumentationen haben ge-zeigt: Mit dieser Technologie haben die US-Streitkräftein Afghanistan, Pakistan, Jemen und Somalia Tausendevon Menschen hingerichtet, darunter unzählige Zivilis-ten . Kampfdrohnen führen zu einer Automatisierung desKrieges und zu einer Entgrenzung . Dafür darf kein einzi-ger Euro bereitgestellt werden .
Für Rüstungsprojekte werden Milliardensummenverschleudert . Ein Beispiel ist der MilitärtransporterA400M . In den Medien hören wir vor allen Dingen vonden Pannen. Auf dem Jungfernflug stürzte eine Maschineab . Bislang ist nur ein Bruchteil der bestellten Maschinenausgeliefert . Aber der eigentliche Skandal ist der Sinndieser Maschine . Sie soll die Bundeswehr nämlich befä-higen, mit Kampfhubschraubern und Panzern auf ande-ren Kontinenten militärisch einzugreifen . Das heißt, derA400M ist ein Flugzeug, das die Großmachtambitionender Bundesregierung widerspiegelt . Die Gesamtkostennähern sich 10 Milliarden Euro, und ein Ende ist nichtabzusehen .Dreimal dürfen Sie raten, wer das bezahlen soll: dieSteuerzahler. Wer profitiert bei der Euro-Drohne genausowie beim A400M? Airbus, der größte Rüstungskonzernmit deutscher Beteiligung . Das heißt, die Masse der Be-völkerung zahlt für die Extraprofite von wenigen. Das istdie Realität . Dem stellen wir uns als Linke entschiedenentgegen .
Bemerkenswert ist auch: Im Haushalt 2017 werdendie Mittel für Auslandseinsätze der Bundeswehr auf mehrals das Doppelte steigen. Ein Teil der Mittel fließt in denAufbau einer permanenten Basis der Luftwaffe nahe dersyrischen Grenze im türkischen Incirlik . Incirlik ist einSymbol der Verlogenheit der Bundesregierung .
Anfangs behaupteten Sie, es ginge um die Unterstützungder Verbündeten im Kampf gegen den Terror . Dafür ha-ben Sie die Bomber der US-Streitkräfte und anderer be-tankt und Aufklärungsbilder bereitgestellt .
Wir haben das immer für falsch gehalten, denn Bombenbringen keinen Frieden, und Terror kann so nicht be-kämpft werden, aber das war Ihre Begründung .Nun reichen Ihnen die Anlagen der Verbündeten of-fensichtlich nicht mehr aus . Sie lassen für 26 MillionenEuro ein Flugfeld für deutsche Tornados bauen, beschaf-fen einen mobilen Gefechtsstand für 30 Millionen Euround planen dafür ein eigenes Fundament für 2 MillionenEuro . Wer ein Fundament gießt, dem geht es darum, zubleiben . Die Wahrheit ist: Ihnen geht es um nichts anderesals darum, die militärische Dauerpräsenz der deutschenLuftwaffe im Mittleren Osten zu sichern. Das macht nurSinn, wenn man in Zukunft zumindest mitbomben kön-nen will .
Die Große Koalition rüstet auf, um die Bundeswehran immer mehr Kriegen wie in Syrien und dem Irak zubeteiligen . Wenn dann die Opfer dieser Kriege nach Eu-ropa und Deutschland kommen, werden sie von densel-ben Parteien zum Sündenbock für ihre unsoziale Politikgestempelt . Das ist unsäglich .
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Die Debatte über den Einsatz im Inneren – wir habenes eben kurz gehört – hat gezeigt: Frau von der Leyenhat nicht genug davon, die deutsche Außenpolitik zu mi-litarisieren . Nun soll auch noch die Innenpolitik militari-siert werden. Die Union kann es offensichtlich kaum ab-warten, endlich Soldaten mit Waffen in der Hand wie inFrankreich durch die Straßen patrouillieren zu sehen . Ichsage Ihnen: Die Bundeswehr im Inneren hilft nicht gegenTerror, sondern erhöht nur das Gefühl von Unsicherheitund Bedrohung . Die Linke wird sich dem konsequententgegenstellen .
Zu Ihrer Politik gehört auch der Aufbau einer beson-deren Cybertruppe innerhalb der Bundeswehr . Das heißtnichts anderes, als dass die Bundeswehr künftig in dieLage versetzt werden soll, im Internet im großen Stil spi-onieren und auch angreifen zu können . Mit Verlaub, dasist genau das, was Sie der russischen Seite vorwerfen,nämlich hybride Kriegsführung .
– Natürlich machen sie das . – Aber auch Sie wollen dasmachen, und das ist das Problem .
Wir sitzen hier im deutschen Parlament . Das Problem ist,dass genau Sie die Fähigkeit zur hybriden Kriegsführungausbauen wollen . Das lehnen wir als Linke entschlossenab .
Wir sagen: Hören Sie endlich auf, die Rüstungsspira-le anzuheizen! Wir werden dieses Jahr konkrete Anträgezur Streichung von Rüstungsinvestitionen, Auslandsein-sätzen und Maßnahmen zur Rekrutierung für die Bundes-wehr in die Haushaltsberatungen einbringen . So könntenunmittelbar 6 Milliarden Euro umgeschichtet werden, fürSoziales und Entwicklung . Das wäre doch ein sinnvollererster Schritt .Vielen Dank .
Vielen Dank, Christine Buchholz . – Nächster Redner:
Rainer Arnold für die SPD .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Das Weißbuch beschreibt das komplizierter gewordenesicherheitspolitische Umfeld, in dem wir leben, von derNATO bis hin zur Gefährdung der Computernetze, FrauKollegin . Die deutsche Gesellschaft ist immun gegenMilitarisierung .
Was für ein Bild haben Sie vom deutschen Volk?
Wir sollten stolz sein, dass wir in einem Land leben, dasda völlig ungefährdet ist .
Wir sind uns darüber im Klaren: Es gibt auf die großensicherheitspolitischen Herausforderungen natürlich nichtnur militärische Antworten; da sind wir uns doch völligeinig . Aber klar ist auch: Das Weißbuch muss Folgerun-gen für die Bundeswehr und für die Struktur der Bun-deswehr nach sich ziehen . Ich habe schon den Eindruck,dass im Ministerium über eine neue Konzeption nachge-dacht wird . Es muss ja keine komplett neue Reform sein;da sind wir uns einig . Wir haben Sie auch immer unter-stützt, wenn Sie viele kleine Änderungsschritte gemachthaben, Frau Ministerin. Wir finden auch die Kritik, diewir in den letzten Jahren an der alten Regierung geübthaben, wieder . Wir glauben, dass Sie in der Lage sind,auf diesem Weg so zuzuhören, dass die Fehler der altenBundesregierung nicht wiederholt werden . Den Soldatenwäre viel erspart geblieben, hätte auch Ihr Vorgänger of-fene Ohren gehabt .Aber eines ist auch klar: Die Voraussetzungen für eineÄnderung und für die Schaffung einer tragfähigen Struk-tur sind solide und ausreichende Finanzen . Frau Minis-terin, Sie haben hier heute sehr gut gelaunt gesprochen .Das muss ja nichts Schlechtes sein . Aber ich glaube, manmuss schon aufpassen, dass die Stimmung nicht deutlichbesser ist als die finanzielle Wirklichkeit für die Streit-kräfte .Ich würde mir bei allem Stolz auf die Trendwende – esist wahr, dass es nach Jahren der Stagnation zumindestwieder in die richtige Richtung geht –
schon wünschen, dass wir ehrlich miteinander darüberdiskutieren, wie weit die Schritte in den nächsten Jahrenreichen und was nicht möglich ist . Das gehört zu einerverantwortungsvollen, vorausschauenden Politik; dennmit diesen Vorgaben müssen wir alle als Parlamentarierund als Regierung in den nächsten Jahren arbeiten . Esist, wie ein Journalist vor einiger Zeit geschrieben hat:Die Ambitionen sind in dem Bereich, in dem Sie Verant-wortung tragen, nach wie vor deutlich größer als die Res-sourcen . – Ich plädiere für ein realistisches Bild, so wieSie es auch beim Beschaffungswesen gezeichnet haben;da haben Sie sich nämlich ehrlich gemacht . So sollte esauch bei den Finanzen geschehen .Frau Ministerin, wir werfen Ihnen überhaupt nicht vor,dass Sie nicht alles erreicht haben, was notwendig ist .Christine Buchholz
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Die 130 Milliarden Euro waren von vornherein eine sogroße Zahl, dass viele Menschen erschrocken sind . ZurWirklichkeit gehört: Die 130 Milliarden Euro reichennicht einmal aus, um den Modernisierungsstau wirklichzu beenden . Zur Wirklichkeit gehört aber auch: In dermittelfristigen Finanzplanung fehlen Jahr für Jahr, wennman den personellen Aufwuchs und die Modernisierungdes Geräts zusammenrechnet, 5 Milliarden Euro, um die-ses Ziel tatsächlich zu erreichen .Ich werfe Ihnen nicht vor, dass Sie dieses Ziel nichterreicht haben . Denn wir wissen schon, wie kompliziertdas angesichts der sehr unterschiedlichen Interessen undder Defizite in anderen wichtigen Bereichen ist. Wir kri-tisieren aber, dass man so tut, als sei alles gut . Ich glau-be, die Soldaten sind mit ihrer Geduld so langsam amEnde . Sie haben schon oft gehört: Alles wird gut . – Dannaber wurden notwendige, manchmal auch schmerzhafteEntscheidungen verdrängt, weil man geglaubt hat, mankönne mit dem knappen Geld zurechtkommen . Schieben,strecken usw ., so weit dürfen wir nie mehr kommen .Deshalb bleiben wir bei unserer Forderung und Er-kenntnis: Wenn die Ressourcen nicht für alles reichen,was wir bräuchten, muss man die Kraft und den Mut ha-ben, Schwerpunkte zu bilden, insbesondere mit Blick aufunsere europäischen Partner . Es ist ja toll, dass sich inItalien und Frankreich im Hinblick auf Europäisierungderzeit etwas bewegt . Wir Deutschen sollten den Ballaufnehmen und Schwerpunkte bilden . Frau Ministerin,Sie hätten bei diesem schmerzhaften Prozess unsere Un-terstützung . Wenn dies nicht geleistet wird, wird auch inden nächsten Jahren viel getan, aber nichts wirklich ganzgut, sondern das meiste wird Mittelmaß bleiben . Das istnicht gut für unsere Sicherheit, und das ist nicht gut fürdas Bündnis .Ich wünsche mir des Weiteren, dass man sich auchin dieser NATO-Debatte ehrlich macht . Herr KollegeGädechens, Sie haben wieder gesagt, auf die 2 Prozentbewegen wir uns zu . Die Kanzlerin hat bei uns im Ver-teidigungsausschuss gesagt, die Bundeswehr braucht na-türlich die Mittel, die sie für den Auftrag benötigt . Dannist sie nach Warschau gefahren und hat gesagt: Wir ha-ben jetzt 1,2 Prozent erreicht . Wir sind auf dem richtigenWeg . – Nein, wahr, Herr Gädechens, ist: In den nächs-ten Jahren geht es wieder rückwärts . Wir haben wenigerals die 1,2 Prozent . Ich plädiere hier für eine ehrlicheDebatte irgendwann auch einmal in der NATO . Wollenwir wirklich noch 30 Jahre lang der NATO erzählen, wirDeutschen würden an dem 2-Prozent-Ziel arbeiten? Dieswären im nächsten Jahr 64 Milliarden statt 36 Milliarden .64 Milliarden! Das ist keine Vision . Das ist Utopie .Deshalb heißt ehrlich machen in diesem Bereich:Unsere Ansprüche sind, auf Augenhöhe in der Verant-wortung mit den französischen und britischen Partnernim Bündnis zu sein . Um das zu erreichen, müssen wirnoch ein gutes Stück leisten und arbeiten . Das ist das se-riöse Angebot, das wir der NATO machen könnten undaus meiner Sicht auch machen müssen, statt weiterhinTraumtänzereien zu veranstalten .
Lassen Sie mich zu den politischen Debatten in denletzten Wochen etwas sagen, vor allen Dingen weil IngoGädechens das Thema Bundeswehr und innere Einsätzeangesprochen hat . Herr Kollege, Sie sagen, die Soldatenbrauchen Rechtssicherheit . Wir haben Rechtssicherheit!Artikel 35 unseres Grundgesetzes beschreibt, was mög-lich ist, und die Interpretation des Verfassungsgerichtssagt sehr deutlich: Die Bundeswehr kann über Amtshilfedann auch mit militärischen Mitteln eingesetzt werden,wenn eine ungewöhnliche Ausnahmesituation katastro-phalen Ausmaßes vorliegt .Ich glaube, wenn wir ehrlich sind in der Debatte, HerrKollege, geht es Ihnen gar nicht so sehr um Rechtssi-cherheit . Wenn Kollegen aus München – da sitzt ja ei-ner – bereits kurze Zeit nach den schlimmen Anschlägenin München nach der Bundeswehr rufen, dann wird dochdeutlich, um was es geht: Sie wollen die hohe Hürde desVerfassungsgerichts, nämlich die Bundeswehr als UltimaRatio zu rufen, wenn die Polizei objektiv nicht mehr inder Lage ist, schwierige Situationen zu beherrschen, ver-ändern und wollen die Schwelle senken . Wir sagen klar:Sozialdemokraten sind deshalb misstrauisch . Zur Übung,die notwendig ist: Wir haben überhaupt kein Problem,die Verfahren auf Stabsebene zu üben .
Wir werden aber ganz genau schauen, dass die Vorgabenunserer Verfassung eingehalten werden und dass es kei-nen schleichenden Prozess gibt .
Im Übrigen hätten Sie in diesem Bundestag auch nachWahlen womöglich keinen Partner, der bereit wäre, diesehohe Hürde zu senken, weil es nicht sinnvoll ist und weilwir es nicht brauchen .Das zweite politische Thema – darüber wurde ja heuteschon viel gesprochen – ist die Türkei und Incirlik . Füruns Verteidigungspolitiker ist es zunächst einmal ziem-lich einfach . Entweder es kehrt wieder Normalität ein .Normalität, das ist mehr als der Besuch von Obleutenin Incirlik . Das ist wieder der normale Umgang mit denPartnern in der Türkei . Es ist eine Selbstverständlichkeit,dass wir unsere Soldaten besuchen können, dass wir imDialog sind, dass wir auch zeigen können: Wir verste-hen schon, dass die Türkei nach dem versuchten Mili-tärputsch mit zwei Fronten des Terrors im Inland an derGrenze zu einem Land, in dem Krieg geführt wird, sichin einer schwierigen Situation befindet, und wir wissenauch, dass es da nicht immer leichte Antworten gibt . Dasist die eine Seite . Aber zur Normalität jenseits des Besu-ches in Incirlik gehört dann schon auch, dass wir an einenPartner – die Türkei muss Partner sein; sie ist NATO-Mitglied – besonders klare und strenge Maßstäbe anle-gen, wenn es um Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte,Pressefreiheit und Wahrung der Verhältnismäßigkeit derMittel im Kampf gegen den Terror geht . Darüber müssenwir mit den Türken reden .Rainer Arnold
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Was die Linken im Augenblick betreiben – Motto: wirreden mit denen nicht mehr; wir grenzen sie aus –, istnicht nur Diskussionsverweigerung,
sondern letztendlich auch Politikverweigerung . Daszeigt, dass Sie, so wie Sie aufgestellt sind, nun wirklichnicht in der Lage sind, hier auf Berliner Ebene in irgend-einer Form Verantwortung zu übernehmen und zu tragen .
Lassen Sie mich zum Schluss, ein Jahr vor der nächs-ten Bundestagswahl, etwas von der Ministerin aufgreifen .Sie sagte, das Zeitfenster für Entscheidungen schließesich . Frau Ministerin, das muss eigentlich nicht sein . Ichsage Ihnen: Wir Sozialdemokraten werden bis zur Som-merpause nächsten Jahres jeden sinnvollen Vorschlag,den Sie und die Bundesregierung zur Verbesserung derSituation, zur Erhöhung der Attraktivität des Soldatenbe-rufs und zur Verbesserung der Ausstattung auf den Tischlegen, seriös beraten und möglichst auch entscheiden .
Hier schließt sich kein Zeitfenster . Das sollten wir ge-meinsam tun .Es wird dabei bleiben: Wir werden sehr konstruktivmit Ihnen zusammen an den wichtigen Themen arbeiten .Und es bleibt auch dabei: Sozialdemokraten im Vertei-digungsausschuss sind nicht einfache Abnicker, sonderndann, wenn wir kritisch diskutieren müssen, werden wirdas wie in der Vergangenheit auch im nächsten Jahr tun .Ich glaube, das hilft Ihnen und uns allen .Recht herzlichen Dank .
Vielen Dank, Rainer Arnold . – Das Wort zu einer
Kurzintervention hat der Kollege Leutert .
Kollege Arnold, ich wollte nur noch einmal die Ge-
legenheit nutzen, um Folgendes klarzustellen: Ich habe
nicht gesagt, dass die Türkei für uns völlig irrelevant ist
und ausgegrenzt werden soll . Ich habe nur gesagt, dass
die Türkei in Syrien gegen die kurdischen Truppen, die
Verbündete der Allianz gegen den IS sind und von den
Amerikanern nicht nur durch Nachrichten, sondern auch
durch Soldaten vor Ort unterstützt werden, militärisch
vorgeht und dass die Tatsache, dass diese Verbände von
den Türken militärisch bekämpft werden, zeigt, dass die
Türkei in diesem Konflikt derzeit nicht Teil der Lösung,
sondern Teil des Problems ist und aus diesem Grund für
uns kein Partner im Kampf gegen den IS sein kann – in
diesem speziellen Fall .
Das habe ich gesagt, und das wollte ich gerne noch
einmal klarstellen .
Herr Arnold .
Zunächst einmal habe ich nicht nur über Sie gespro-
chen, sondern über die Aufstellung der Linken insge-
samt . Es gibt dort aktuell eine Debatte darüber, ob man
mit dem Verteidigungsausschuss überhaupt in die Türkei
fahren und dort das Gespräch suchen soll . Das bestätigt
doch, was ich gesagt habe . Gesprächsverweigerung ist in
diesem Fall Politikverweigerung, und dadurch wird eine
Chance verspielt, unsere Sichtweise auf den Tisch zu le-
gen .
Ich sagte es doch ausdrücklich: Wir legen einen kla-
ren Maßstab an die Vorgehensweise der Türkei . Hier gibt
es viel Kritisches miteinander zu diskutieren . Niemand
entbindet uns aber von unserer Pflicht als Politiker, zu
reden, wo immer es möglich ist . Darum geht es in der
Diplomatie im Kern doch . Das leistet der Außenminister
auf hervorragende Weise, und wir Abgeordnete können
unsere kleinen Beiträge dazu sicherlich auch leisten . Um
nichts anderes ging es mir .
Letzter Punkt: Wann sagt endlich jemand von den
Linken einmal etwas zur Vorgehensweise Russlands in
Syrien? Wann hört man dazu einmal so klare Worte, wie
man sie gegenüber der Türkei – ich finde, durchaus zu
Recht – auch manchmal hört?
Danke, Kollege Arnold . – Nächste Rednerin in der
Debatte: Doris Wagner für Bündnis 90/Die Grünen .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Frau Ministerin! WerteKolleginnen und Kollegen! Werte Gäste! Diese Haus-haltsdebatte heute ist etwas ganz Besonderes . Sie istnämlich die allererste im Jahr 1 nach dem neuen Weiß-buch .Das Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunftder Bundeswehr gibt die Richtung vor, in der sich diedeutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik in dennächsten Jahren bewegen soll . Man höre und staune:Dabei verschreibt sich die Bundesregierung einigenPrinzipien, die wir Grünen schon seit Jahren immerwieder einfordern . Deutschland soll international mehrVerantwortung für den Frieden übernehmen . Dabei sollPrävention grundsätzlich Vorrang vor Reaktion haben .Deutsche Sicherheitspolitik soll einem vernetzten Ansatzfolgen und ressortübergreifend entwickelt und umgesetztwerden . Dabei sollen auch zivilgesellschaftliche Akteu-re stärker einbezogen werden . – Das hört sich jetzt erstRainer Arnold
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einmal wirklich gut an . Das Problem ist nur: Der Ent-wurf für den Haushalt 2017 spiegelt die Ausrichtung aufPrävention, zivile Instrumente und ressortübergreifendeAbstimmung überhaupt nicht wider .Noch im vergangenen Jahr ist die Bundesregierungdem Prinzip Vorbeugung tatsächlich gefolgt . Im Aus-wärtigen Amt wurde eine neue Abteilung für Krisenprä-vention eingerichtet, und die Entwicklungszusammen-arbeit erhielt 880 Millionen Euro mehr als zuvor . Dochleider war dieser Anfall von Lernfähigkeit aufseiten derBundesregierung nur von kurzer Dauer; denn der Haus-haltsentwurf 2017 folgt wieder einmal der alten, grund-falschen Logik: Auf Gewalt reagieren wir am besten mitGegengewalt . – Der Verteidigungshaushalt wird deshalbum 2,3 Milliarden Euro enorm aufgestockt . Knapp einDrittel davon, gewaltige 636 Millionen Euro, fließen al-lein in die Entwicklung und Beschaffung neuer Waffen-systeme .Das Auswärtige Amt und das BMZ hingegen werdenmit einem deutlich kleineren Aufwuchs von 375 Milli-onen Euro abgespeist – wohlgemerkt: zusammen . DieMittel für den internationalen Friedensdienst stagnierenund werden damit faktisch beschnitten . Die Gelder fürdie angeblich so bevorzugte Krisenprävention werdensogar um 8,5 Millionen Euro gekürzt .Statt in langfristige, kontinuierliche Aufbauarbeit in-vestiert die Bundesregierung in der Entwicklungszusam-menarbeit in kurzfristig angelegte Sonderinitiativen . Dieselbst gegebene Zusage, 0,7 Prozent des Bruttonational-einkommens für Entwicklungszusammenarbeit auszuge-ben, wird, wie jedes Jahr, weit verfehlt .Liebe Kolleginnen und Kollegen, man muss sich ein-mal vor Augen führen: Wenn Deutschland das 2-Pro-zent-Ziel der NATO verfehlt, also zu wenig Geld für Ver-teidigung ausgibt, fühlt sich Frau Merkel persönlich zueiner öffentlichen Rechtfertigung verpflichtet. Wenn wiraber als eines der reichsten Länder dieser Erde unsereZusagen gegenüber den ärmsten Staaten nicht erfüllen,gilt das offenbar als Kavaliersdelikt, das kommentarlosunter den Teppich gekehrt wird . Dieses Verhalten, meineDamen und Herren, ist nicht nur unklug, es ist auch überdie Maßen beschämend .
Statt in Entwicklung investiert die Bundesregierungkünftig 10 Prozent mehr Geld in die sogenannte Ertüchti-gung . Ausgewählte Partnerstaaten sollen in die Lage ver-setzt werden, Krisen selbst zu verhüten und zu bewälti-gen . Auch das klingt erst einmal nicht sehr schlecht; dennhier bietet sich die Möglichkeit, die Politik mehrerer Mi-nisterien durch eine gemeinsame Bewirtschaftung derMittel zu verzahnen . Leider lässt die Bundesregierungauch diese Chance für eine kohärente Politik ungenutztverstreichen . Denn die 110 Millionen Euro werden leidernicht vom Ressortkreis Zivile Krisenprävention verge-ben, sondern alleine vom BMVg und dem AuswärtigenAmt . Es wäre so einfach, vernetzt zu agieren . Tun Sie esdoch endlich, bitte .
Abschließend lässt sich festhalten: Dieser Haus-haltsentwurf versagt gleich im doppelten Sinne . Erstensschafft es die Bundesregierung wieder einmal nicht, deneigenen vollmundigen Ankündigungen Taten folgen zulassen . Die Prinzipien des neuen Weißbuchs werden indiesem Haushalt nicht umgesetzt . Ja, sie werden gera-dezu mit Füßen getreten . Das im Weißbuch abgelegteBekenntnis dient der Bundesregierung offensichtlich nurals rhetorisches Feigenblatt, um zu verschleiern, worumes eigentlich geht, nämlich um sehr viel frisches Geld fürdie Rüstungsindustrie . Darin liegt das zweite, viel größe-re Versagen der Bundesregierung. Sie schafft es einfachnicht, sich aus der überkommenen Logik der Gewalt zubefreien und eine Sicherheitspolitik im Sinne einer mo-dernen Friedenspolitik zu machen .Vielen Dank .
Vielen Dank, Doris Wagner . Auch danke dafür, dass
Sie eine Punktlandung hingelegt haben und sich auf die
Sekunde an Ihre Redezeit gehalten haben . Ich sage hier
nur: Das hat einen Vorbildcharakter, liebe Kolleginnen
und Kollegen . – Nächster Redner: Dr . Karl Lamers .
Frau Präsidentin! Verehrte Frau BundesministerinDr . von der Leyen! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Der Haushalt des Bundesministeriums der Verteidigungwird im Jahr 2017 nominal um 2,3 Milliarden Euro aufinsgesamt 36,6 Milliarden Euro ansteigen . Das ist docheinmal eine gute Nachricht, meine Damen und Herren!
Damit wird die Bundeswehr in die Lage versetzt,den vielfältigen und sich wandelnden Aufgaben bei derLandes-, aber insbesondere auch bei der Bündnisvertei-digung auch in Zukunft nachzukommen – in gewohnt zu-verlässiger Weise . Als NATO-Parlamentarier begrüße iches natürlich ganz besonders, dass die Aufwendungen fürdie NATO-Militärhaushalte im nächsten Jahr ebenfallsdeutlich anwachsen werden .Die Bundeswehr für ihre Aufgaben im Einsatz zu stär-ken, das muss unser vordringliches Ziel sein . Erreichenwollen wir dies mittelfristig mit einer weiteren Steige-rung des Wehretats auf 39,2 Milliarden Euro in 2020 .Diese substanzielle Erhöhung, die Sie, Frau Bundesver-teidigungsministerin, mit unserem Bundesfinanzminis-ter Dr . Wolfgang Schäuble herausverhandelt haben, istbeachtlich . Deswegen, liebe Frau Buchholz: Anders alsSie bringen wir es auf den richtigen Punkt . Danke undRespekt, Frau Ministerin!
Es unterstreicht zugleich, dass die Notwendigkeiteiner soliden Verteidigung und entsprechenden Finan-zierung inzwischen weitgehend anerkannt ist . Das warDoris Wagner
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in der Vergangenheit nicht immer so . Ich erinnere michnoch sehr wohl, dass nach dem sicherheitspolitischenWandel in Europa zu Beginn der 90er-Jahre viele der An-sicht waren, nun werde für Europa eine Epoche des Frie-dens anbrechen . Viele forderten eine Friedensdividende .Die Folge waren drastische Kürzungen der nationalenVerteidigungsbudgets .Zwischenzeitlich sind wir durch vielfältige Bedrohun-gen schmerzhaft auf den Boden der Realität zurückge-holt worden . Der 11 . September 2001 ist unvergessen .Der internationale Terrorismus wurde zu einer Hauptge-fahr für die Sicherheit in der Welt . Das Jahr 2014 wurdedann zu einem sicherheitspolitischen Game Changer, alsRussland die Krim annektierte und die Ostukraine miteinem nicht erklärten Krieg überzog . Das ist und bleibtein eklatanter Bruch des Völkerrechts,
nämlich eine Verletzung der Charta der Vereinten Nati-onen von 1945, der Schlussakte von Helsinki von 1975,der Charta von Paris von 1990, des Budapester Memo-randums von 1994 und der NATO-Russland-Grundaktevon 1997 . Das dürfen wir nicht vergessen . Das muss mansich immer wieder ins Gedächtnis zurückrufen, meineDamen und Herren .
Daher ist es nur konsequent, dass die Bündnisvertei-digung der NATO wieder an Bedeutung zunimmt . DerBeitrag der Bundeswehr ist dabei bemerkenswert . In dervergangenen Woche war ich in Litauen und habe intensi-ve Gespräche unter anderem mit Staatspräsidentin DaliaGrybauskaite und Verteidigungsminister Juozas Olekasgeführt . Es sind doch vor allem die jungen Mitgliedstaa-ten in Osteuropa, die sich um eine mögliche russischeAggression Sorgen machen . Das muss man verstehen .Niemand kann so richtig in Putin hineinschauen .Ich begrüße es jedenfalls ausdrücklich, dass die NATOauf ihren vergangenen beiden Gipfeln in Wales 2014 undkürzlich in Warschau mit sehr klaren Beschlüssen auf diepotenziellen Bedrohungen reagiert hat. Ich finde es nochbesser, dass sie diese auch tatsächlich umsetzt .So wird sie ihre militärische Präsenz im Osten Eu-ropas signifikant erhöhen. Das ist auch notwendig, umunsere Partner im Baltikum sowie in Polen rückzuver-sichern und zugleich Russland abzuschrecken . Reassu-rance und Deterrence – verbunden natürlich immer mitDialog –: Das sind die richtigen Signale, meine Damenund Herren . Mit Säbelrasseln hat das meines Erachtensnichts zu tun . Es ist reine Vorsorge .
Deutschland leistet dabei im Rahmen des Bündnisses ei-nen überzeugenden Beitrag .Lieber Kollege Arnold, Sie sagten zu Recht, wirmüssten uns ehrlich machen . Zum Ehrlichmachen ge-hört sicherlich auch, dass wir nicht nur auf die 2 Prozentschauen, sondern darauf, welchen Beitrag Deutschlandim Rahmen der NATO und überhaupt weltweit für Frie-den und Freiheit leistet . Wir bringen uns ein, und wirübernehmen oft eine führende Rolle . Das wird weltweitanerkannt und hoch geschätzt . Dafür möchte ich allenRespekt aussprechen, die dazu beitragen .
So hat sich Deutschland aktiv an der Umsetzungdes Readiness Action Plans beteiligt, der während desNATO- Gipfels 2014 beschlossen wurde: Als Rahmenna-tion haben wir uns bei der Aufstellung der Speerspitzeder NATO – der Very High Readiness Joint Task Force –eingebracht . Bei der Besetzung von Dienstposten imMultinationalen Korps Nordost und in den NATO ForceIntegration Units sowie im Rahmen des NATO BalticAir Policing: Überall ist Deutschland – bei zahlreichenÜbungen in Polen und im Baltikum – führend mit da-bei . Framework Nations Concept, das von Deutschlandentwickelt wurde, ist inzwischen eine große Erfolgsstory .Besonders hervorheben möchte ich die Enhanced For-ward Presence im Osten . Dabei wird die Bundeswehr ei-nes der vier multinationalen Bataillone von jeweils rund1 000 Mann in Litauen führen . Um die NATO-Russ-land-Grundakte von 1997 nicht zu verletzen, werden dieTruppen rotieren . Wie aber bereits schon vorher gesagt:Wir setzen auf eine zweigleisige Strategie, Abschreckungund Dialog .Natürlich brauchen wir Moskau: einerseits, um dieweltweiten Krisen mit ihren weitreichenden Folgen fürEuropa zu lösen, andererseits aber auch, um gefährlichemilitärische Zwischenfälle nicht eskalieren zu lassen .Auch an der Südflanke des Bündnisgebietes stellen unsKriege und Konflikte vor große Herausforderungen.Hier leistet unser Land ebenfalls einen entscheidendenBeitrag für die internationale Sicherheit . Die Bundes-wehr beteiligt sich an der Bekämpfung der Terrormiliz„Islamischer Staat“, die in Syrien und im Irak seit Jahrenfür Schrecken sorgt . Ich greife hier beispielhaft unsereRecce-Tornados, die Luftbetankung sowie unsere Fregat-te heraus, die als Begleitschutz für einen französischenFlugzeugträger dient . Zudem unterstützen wir die kur-dischen Peschmergakämpfer im Nordirak mit wichtigerAusrüstung und bilden sie entsprechend aus . – Es gäbenoch viel mehr zu sagen .An dieser Stelle möchte ich unseren Soldatinnen undSoldaten der Bundeswehr im Einsatz meinen großenDank und meine Anerkennung aussprechen . Sie leisteneinen wichtigen Beitrag für mehr Frieden und Freiheitüberall in der Welt, meine Damen und Herren .
Angesichts der vielfältigen Bedrohungen ist Ge-schlossenheit das Gebot der Stunde . Die Spannungen mitder Türkei – das ist vorhin angesprochen worden – sindnatürlich eine Nagelprobe für unser transatlantischesBündnis . Dazu ein klares Wort: Bundeswehreinsätzewerden vom Deutschen Bundestag beschlossen . Deshalbist das Besuchsrecht von Abgeordneten ein elementarerBestandteil von Auslandseinsätzen . Es ist unverzichtbar .Und daher erwarte ich auch, dass wir unsere deutschenSoldaten, die auf der Luftwaffenbasis in Incirlik statio-Dr. Karl A. Lamers
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niert sind, Anfang Oktober besuchen dürfen . Das ist dochselbstverständlich .
So wie ich es sehe, sind wir hier auf einem guten Weg .Wir arbeiten daran .Meine Damen und Herren, Deutschland steht vor ei-ner Vielzahl weiterer sicherheitspolitischer Herausforde-rungen . Ich denke dabei unter anderem auch an die Ge-fahren aus dem Cyberraum . Ich begrüße es ausdrücklich,dass Sie, Frau Bundesministerin, eine eigene Abteilung„Cyber- und Informationsraum“ im Ministerium aufstel-len . Für die Zukunft dürfte uns allen klar sein, dass keinmilitärischer Konflikt mehr ohne Cyberkomponente ab-laufen wird .Meine Damen und Herren, vielfältige Herausforde-rungen erfordern klare Antworten . Für Personal und fürAusrüstung brauchen wir eine entsprechende finanzielleAusstattung . Dieser Haushalt trägt der politischen Reali-tät Rechnung . Damit werden Parlament und Regierungihrer Verantwortung für die Sicherheit ihrer Bürgerinnenund Bürger gerecht . Und Deutschland bleibt damit inter-national weiterhin ein angesehener, verlässlicher Partner .Auch künftig werden große Kraftanstrengungen er-forderlich sein, um den Herausforderungen der Zukunftbegegnen zu können . Der Wappenspruch der NATO –„Vigilia pretium libertatis“ – kann und muss uns dazuals Zielorientierung dienen: Wachsamkeit ist der Preisder Freiheit .Ich danke .
Vielen Dank, Dr . Lamers . – Nächster Redner: Lars
Klingbeil für die SPD-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Frau Ministerin, ich will ein paar Minuten etwaszum Thema Cyber sagen . Frau Buchholz, ich glaube, daswerden fünf schlimme Minuten für Sie . Ich habe michvorhin bei Ihrem Redebeitrag gefragt, was das eigent-lich für ein Verständnis ist, wenn man etwas dagegenhat, dass wir Soldatinnen und Soldaten, die im Auslandeingesetzt sind, sowie ihre Kommunikation schützen unddafür sorgen wollen, dass es sichere IT-Systeme gibt .Mein Verständnis ist das jedenfalls nicht . Ich will hierausdrücklich sagen: Ich bin der Ministerin dankbar, dasswir im letzten Jahr das Thema Cyber auf die politischeAgenda gesetzt haben . Es ist richtig, dass wir uns nunneben den Operationsräumen Land, See und Luft um denInformationsraum kümmern . Wir sind eigentlich viel zuspät . Aber es ist richtig, nun mit den entsprechenden Dis-kussionen anzufangen .
Frau Ministerin, wir diskutieren seit einem Jahr überdieses Thema . Jetzt kommt der Haushalt, mit dem auchentschieden wird, wie ernst wir dieses Thema nehmen .Den Worten müssen Taten folgen . Der Haushalt 2017 istdafür der erste Beleg . Ich bin übrigens dafür, zu prüfen,ob es einen Haushaltstitel zum Thema Cyber geben soll-te . Dass wir angefangen haben, war jedenfalls die rich-tige Entscheidung . Wir alle wissen, wie verletzbar einemoderne Industriegesellschaft ist und welche Bedrohun-gen aus dem Cyberraum kommen; der Kollege Lamershat das Thema gerade angesprochen . Wir haben hier einehohe Verantwortung .Ich will drei große Punkte nennen, die aus meinerSicht sehr wichtig für die Debatte über den Cyberraumsind .Der erste Punkt ist: Wir brauchen eine Bestandsanaly-se, was unsere Waffensysteme angeht. Wir reden bei zu-künftigen Waffensystemen auch immer über die IT. Aberwir wissen nicht, wie sicher alte Waffensysteme sind undwie viel in sie noch investiert werden muss . Deswegenist es richtig, dass wir nun eine Bestandsaufnahme vor-nehmen und dann einen Investitionsplan entwickeln . Wirmüssen sehen, wie wir Kommunikation und Waffensys-teme schützen können .Der zweite Punkt – dieser ist für mich mindestens ge-nauso wichtig – betrifft die digitalen Köpfe. Die entspre-chende Werbekampagne des Ministeriums lobe ich aus-drücklich . Es ist spannend, zu sehen, was alles passiert .So stellt die Bundeswehr zum Beispiel auf der Compu-terspielemesse aus und versucht, junge Leute zu werben .Diese Werbekampagne allein reicht aber nicht aus . Wirmüssen auch substanziell etwas hinterlegen . Dabei gehtes um die Fragen, welche Karrieren man bei der Bun-deswehr machen kann und wie die Anreizsysteme aus-sehen . Wir stehen dabei in einem Wettbewerb mit gro-ßen IT-Unternehmen wie Google, Apple oder Facebook .Auch diese Unternehmen werben um junge Köpfe im di-gitalen Bereich. Wir müssen ein Anreizsystem schaffen,das dafür sorgt, dass junge Menschen zur Bundeswehrgehen . Des Weiteren müssen wir uns fragen, wie wir diejungen Menschen bei der Truppe gut ausbilden können .Wir haben hervorragende Universitäten . Frau Ministerin,Sie haben schon damit begonnen, die Bundeswehruni-versitäten so aufzustellen, dass sie Spezialisten im Cy-berbereich ausbilden .Beim Wettbewerb um die digitalen Köpfe geht esnoch um etwas anderes . Die Truppe verfügt über vielKnow-how . Aber irgendwann, nach vier, acht oder zwölfJahren, gehen viele wieder und haben nichts mehr mit derBundeswehr zu tun . Ich bin dafür, dass wir uns Gedankendarüber machen, wie wir zusammen mit dem Reservis-tenverband ein System aufbauen können, das dafür sorgt,dass wir auf solche Kräfte immer wieder zurückgreifenkönnen, wenn es zu besonderen Situationen kommt . Vie-le haben eine besondere Verbindung zur Bundeswehr .Wir müssen schauen, wie wir Kontakt halten .Der dritte Punkt, den ich ansprechen will, betrifft weni-ger die Haushaltspolitik, sondern eher unser Verständnisals Parlamentarier . Was passiert eigentlich im parlamen-tarischen Raum, wenn nun ein solcher neuer Operati-Dr. Karl A. Lamers
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onsraum geschaffen und etabliert wird? Wie verhaltenwir uns dann? Für uns, die SPD-Fraktion, stellen sich indiesem Zusammenhang rechtliche und ethische Fragen .Damit müssen wir vernünftig umgehen . Für mich stelltsich beispielsweise die Frage, wie künftig Mandatstexteaussehen sollen, wenn wir den Cyberraum einbeziehen,und wie die Parlamentsbeteiligung sichergestellt werdenkann, wenn wir im Cyberraum angegriffen werden undwir schnell reagieren müssen . Das sind hochpolitischeFragen, die im Raum stehen .Sie haben sicherlich in der Sommerpause gelesen,dass wir als SPD-Fraktion den Vorschlag des Vorsitzen-den des Verteidigungsausschusses, Wolfgang Hellmich,aufgegriffen haben. Wir wollen im Verteidigungsaus-schuss einen Unterausschuss für Cyberfragen einrichten .Intensive Diskussionen über solche Fragen lassen sich imVerteidigungsausschuss sicherlich nicht breit führen . Wirwollen ein entsprechendes Expertengremium einrichten,weil wir wissen, dass wir eine besondere Verantwortungfür die Soldatinnen und Soldaten haben . Das Ganze mussbreit diskutiert werden . Ich will an dieser Stelle noch ein-mal im Kollegenkreis dafür werben und Sie alle bitten,darüber nachzudenken, ob Sie diesen Vorschlag unter-stützen können . Hier kommt eine große Veränderung aufdie Bundeswehr zu . Als Parlamentarier tragen wir eineganz besondere Verantwortung für die Parlamentsarmee .Frau Ministerin, zum Ende: Dafür, was Sie im Cyber-bereich angefangen haben, gilt Ihnen großer Dank . Jetztmüssen den Worten Taten folgen . Wir werden bei denabschließenden Haushaltsberatungen sehen, ob wir imCyberbereich noch etwas drauflegen können.Frau Buchholz, das ist keine Aufrüstung, sondern dasist ein Schutz unserer Kommunikation, und das sind wirden Soldatinnen und Soldaten schuldig .Herzlichen Dank .
Vielen Dank, Lars Klingbeil . – Nächster Redner ist
Bartholomäus Kalb für die CDU/CSU-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Die Eckdaten des Haushalts sind bereitsmehrfach genannt worden . Zu erwähnen ist, dass es derMinisterin gelungen ist, in den Verhandlungen zur Haus-haltsaufstellung zu erreichen, dass der Haushaltsentwurfnun um 1,7 Milliarden Euro höher ausgefallen ist, als zu-nächst im letzten mittelfristigen Finanzplan vorgesehenwar . Damit wird den Notwendigkeiten Rechnung getra-gen, die sich im Bereich der militärischen Beschaffun-gen, im Bereich Forschung, Entwicklung, Erprobung, imBereich Materialerhalt und für die Auslandseinsätze, diezusätzliche Kosten bereiten, ergeben .Lieber Kollege Dr . Lindner, ich will an etwas erin-nern . Ich sage das gar nicht vorwurfsvoll . Wenn wir beieinigen großen Beschaffungsvorhaben heute Problememit der Zeit- und Kostenentwicklung haben, dann soll-te man sich daran erinnern, dass auch einmal Rot-Grünregiert hat .
– Man muss da auch mithaften . – Es gibt ein sehr bekann-tes Projekt, das uns große Sorgen bereitet .Wir wissen auch, dass sich die Anforderungen stän-dig verändern, dass die Anforderungen an die Bundes-wehr immer höher werden . Darüber ist bereits vieles ge-sagt worden . Um all diese Aufgaben ordentlich erfüllenzu können, ist es einfach dringend notwendig, dass wirhochqualifiziertes und hochmotiviertes Personal bei derBundeswehr haben . Das war ein Thema, das wir im letz-ten Jahr in besonderer Weise im Rahmen der Attraktivi-tätsinitiative hier behandelt haben .Die internationale Ordnung, in der sich Deutschlandengagiert, in der Deutschland Verantwortung übernimmtund versucht, seine Interessen zu wahren, ist im Um-bruch . Das sicherheitspolitische Umfeld ist durch dieEntwicklungen der letzten Jahre zunehmend komplexer,unstetiger und dynamischer geworden . Zudem tretenunterschiedliche Herausforderungen gleichzeitig an ver-schiedenen Orten auf . Der Bundesaußenminister, dessenEtat wir vorhin betrachtet haben, hat vor kurzem ausge-führt – wörtlich –: Europas Sicherheit ist bedroht . – Auchdas müssen wir zur Kenntnis nehmen . Darauf müssenwir uns einstellen . Das ist eine Situation, die wir uns viel-leicht vor zwei, drei oder vier Jahren so gar nicht hättenvorstellen können .Das Gefährdungsspektrum für unsere Sicherheit istbreiter, vielfältiger und unberechenbarer geworden . Ge-rade vorhin ist über das Thema Cyberraum und andereFragen wie zum Beispiel die asymmetrische Bedrohunggesprochen worden . Das sind alles Dinge, auf die wirAntworten geben müssen und die sich natürlich dann imHaushalt wiederfinden werden.Wir haben die Probleme – das hat insbesondere inder außenpolitischen Debatte vorhin eine große Rollegespielt –, dass sich Staaten auflösen, dass wir in vie-len Staaten eine instabile Situation haben und dass wirin einigen Regionen geradezu eine Anarchie haben . Dasalles ist dazu angetan, gefährlich zu sein, und das stelltuns vor große neue Herausforderungen . Ich nenne dieGefährdungen im Informationsbereich, im Kommuni-kationsbereich, in der Versorgung, im Transport und imBereich der Handelslinien . All diese Dinge bis hin zurRohstoff- und Energieversorgung sind bedroht. Natürlichzählt auch die unkontrollierte und zum Teil irreguläreMigration dazu .Wir sollten uns unvoreingenommen ein Thema nocheinmal vornehmen: Was muss die Bundeswehr in be-sonderen Situationen, bei besonderen Herausforderun-gen – denken wir einmal an große Terrorlagen und Ähn-liches – im Inland leisten können? Darüber brauchen wirjetzt keine Grundsatzdebatte zu führen; aber wir solltenuns gemeinsam mit dieser Frage ganz ruhig beschäftigen .Wir sollten uns dann mit der Frage beschäftigen: Stehtdas mit der Verfassungslage, mit den Gesetzen, mit denLars Klingbeil
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Gerichtsurteilen in Übereinstimmung oder nicht? Denndie Bürger interessiert auch die Frage: Was passiert,wenn . . .?Was mich heute früh fast geärgert hat, war die Aus-sage des Kollegen Dietmar Bartsch von den Linken, dergesagt hat – ich habe es wörtlich mitgeschrieben –: „Esdarf aber keine Militarisierung des Katastrophenschutzesgeben .“
Ich sage Ihnen: Ich komme aus einer Gegend an derDonau, wo es 2013 ein Hochwasser in bis dahin nichtgekannter Höhe gab . In Passau, in Deggendorf, vor allemin Fischerdorf mussten 250 Häuser erneuert werden; dassei jetzt bloß nebenbei bemerkt .
Damals waren die Menschen in großer Not . Sie alle undauch die sehr aktiven Einsatzkräfte waren sehr froh, dassdie Bundeswehr ganz schnell zur Verfügung gestanden,in dieser Katastrophe geholfen und Schutz geboten hat .
Deswegen sollte man hier nicht solche Formulierungenwählen . Kein Mensch will eine Militarisierung des Ka-tastrophenschutzes . Aber Vorbeugen und Mithelfen, dasmuss schon sein .Meine sehr verehrten Damen und Herren, alle Aufga-ben, die beschrieben worden sind, machen es notwendig,dass wir eine permanente, kontinuierliche Modernisie-rung der Bundeswehr vornehmen . Wir müssen natürlicheine Personalpolitik betreiben, die den demokratischenHerausforderungen Rechnung trägt . Ich denke, da sindwichtige Schritte eingeleitet worden . Das gilt aber na-türlich genauso für die Ausrüstung, die wir bereitstellenmüssen. Gerade in Zeiten, in denen die Wehrpflicht zwarnicht abgeschafft, aber ausgesetzt ist, ist es wichtig, dasswir alles tun, dass unsere Bundeswehr in bewährter Wei-se weiterhin eine Verankerung in unserer Gesellschafterfährt .Es ist ganz wichtig, dass wir noch mehr Transparenzbekommen . Ich glaube, die Bundesministerin hat hier mitder Schaffung des Rüstungsboards viel dazu beigetragen,sodass sogar die Öffentlichkeit jetzt genau weiß, welchesWaffensystem wie viel Verzögerung hat und welches wieviel mehr kostet . – Ich habe den Kollegen Lindner ange-schaut, weil ich an einen Spiegel-Artikel denke .
Das ist auch gar nicht zu kritisieren; um es gleich hinzu-zufügen .Wichtig ist aber, dass wir uns hier einfach die Dingevorlegen, dass wir die notwendigen Konsequenzen zie-hen, dass das Ganze entsprechend gesteuert wird, und ichdenke, das wird geschehen .Zum Abschluss will ich nur darauf hinweisen: Als unsdas Weißbuch übersandt wurde, hat uns die Frau Minis-terin einen Brief geschrieben . Sie schreibt darin – ich zi-tiere jetzt wörtlich –:Sämtliche Initiativen und Maßnahmen in diesenGestaltungsfeldern gewährleisten, dass die Bun-deswehr in dem sich weiter wandelnden sicher-heitspolitischen Umfeld auch künftig unverzicht-bare Beiträge zu Sicherheit, Frieden und FreiheitDeutschlands, seiner Verbündeten und Partner so-wie zu internationaler Stabilität leistet .Ich denke, dem ist nichts hinzuzufügen . In diesemSinne werden wir auch die Haushaltsberatungen im Aus-schuss angehen .
Vielen Dank, Bartholomäus Kalb . – Jetzt sind wir
natürlich alle neugierig, welchen Spiegel-Artikel Sie ge-
meint haben . Aber das können wir ja dann bilateral klä-
ren .
– Ja, das passiert ja öfter .
Letzter Redner in dieser Debatte: Dr . Fritz Felgentreu
für die SPD .
Danke schön . – Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Wir haben heute viel über Trendwende und überdas Ansteigen der Ausgaben gesprochen . Ich würde ganzgern quasi antizyklisch einmal darauf hinweisen, dassman diesen Haushaltsentwurf durchaus auch als ein Do-kument von Kontinuität und Augenmaß lesen kann .
Das kann überraschen; denn wir alle sind uns einig, dasswir Deutschen mehr für unsere Sicherheit und die Sicher-heit unserer Verbündeten tun müssen, sodass es durch-aus logisch wäre, den einen oder anderen sprunghaftenAnstieg zu erwarten . Aber wenn man genauer hinguckt,dann ergibt sich ein differenziertes Bild.Wir haben heute zum Beispiel noch gar nicht darü-ber gesprochen, dass ein nicht unwesentlicher Teil desAnstiegs allein schon durch die Tarifentwicklung bedingtist .
Bartholomäus Kalb
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Das ist klar: In dem Moment, in dem wir keine Stellenmehr abschmelzen, muss die Tarifentwicklung entspre-chend zu Buche schlagen .Die Kosten für Auslandseinsätze der Bundeswehr –das finde ich schon ganz erstaunlich – tragen zu demAnstieg insgesamt zu weniger als einem Fünftel bei . Ge-messen an den vielen wichtigen Aufgaben, die die Bun-deswehr im Auftrag dieses Parlaments übernommen hat,gerade auch im letzten Jahr – in Afghanistan, in Mali,im Irak im Einsatz gegen den IS –, ist dieser Entwurf füreinen Haushalt durchaus auch ein Dokument der Zurück-haltung .Meine Damen und Herren, diese Zurückhaltung kriti-siert die SPD-Fraktion nicht . Wir sehen aber schon Grün-de, bei der Haushaltsberatung etwas genauer nachzufra-gen, wie das Verteidigungsministerium den politischenAnspruch mit den vorhandenen Möglichkeiten zur De-ckung zu bringen beabsichtigt . Im Mai haben Sie, liebeFrau von der Leyen, eine Trendwende in der Personalent-wicklung angekündigt; erstmals seit dem Ende des KaltenKrieges sollten die Streitkräfte wieder wachsen . Aber indiesem Haushaltsplan sind dafür noch keine zusätzlichenStellen vorgesehen . Auch das kritisieren wir nicht; dennbevor sich eine solche Trendwende tatsächlich in einergrößeren Bundeswehr niederschlagen könnte, müsstenwir erst einmal die Sollstärke von 185 000 erreicht ha-ben . Damit werden unsere Personalbüros im kommendenJahr zweifellos mehr als genug zu tun haben .Aber, meine Damen und Herren, die Aufgaben wach-sen dennoch weiter . Wir sind dabei, überall dort, wokeine Übung und kein Einsatz durchgeführt, vorbereitetoder nachbereitet wird, die 41-Stunden-Woche umzu-setzen . An vielen Standorten erweist sich das als schwergenug – ohne zusätzliches Personal; auch darauf hat dieMinisterin hingewiesen .Zu den Standardaufgaben der Bundeswehr gehört auchihr Beitrag zur NATO, und die hat sich im Juli auf demGipfel in Warschau einiges vorgenommen, vor allem denAufbau von vier sogenannten Battle Groups, die in Polenund im Baltikum jeweils in der Stärke eines Bataillonsdie ständige Anwesenheit von NATO-Truppen in wech-selnder Zusammensetzung garantieren sollen, aber auchdie Verlängerung des Einsatzes in Afghanistan über 2016hinaus und den Einsatz von bis zu 16 AWACS-Flugzeu-gen, um den Luftraum über dem vom IS kontrolliertenGebiet zu überwachen . Das sind nur drei Beispiele; dieListe ist länger .Jedes dieser Vorhaben, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, hält auch die SPD-Fraktion für sinnvoll und notwen-dig . Die Verbündeten in Osteuropa brauchen die Rück-versicherung, dass der Schutz des NATO-Vertrags auchihre Sicherheit in vollem Umfang garantiert . Die Anwe-senheit von Truppen der anderen NATO-Staaten machtdiese Garantie anfassbar . Zugleich bleibt sie aber auchim Rahmen des Grundlagenvertrages mit Russland undstellt für den großen und schwierigen Nachbarn keineBedrohung dar .
Warum es zwingend notwendig ist, einerseits über dieLage im IS-Gebiet Bescheid zu wissen und andererseitsdie Afghanen mit ihren Problemen nicht alleinzulassen,erschließt sich nach den Erfahrungen des vergangenenJahres von selbst. Deutschland steht zu seinen Verpflich-tungen als wichtiges Mitglied der NATO, und es ist gutund richtig, dass wir uns aktiv an der Umsetzung derWarschauer Beschlüsse beteiligen .Aber, meine Damen und Herren, das alles kostet vielGeld, und wir brauchen dafür viel Personal . Die ange-kündigte Trendwende schlägt sich in dem vorgelegtenEntwurf noch nicht entsprechend nieder . Ehrlich gesagt,bin ich etwas erstaunt, dass der Entwurf nicht einmalbei den Reservedienstposten eine Aufstockung vorsieht .Unter den Reservistinnen und Reservisten dürfte es dochnoch viele gut qualifizierte und motivierte Leute geben,mit denen kurzfristig Personallücken geschlossen wer-den könnten . Bei meiner Sommertour habe ich Klagendarüber gehört, dass Freiwillige abgewiesen werdenmussten, obwohl ihre Dienststellen sie gebraucht hätten .Das sollten wir ändern .Deshalb: Sosehr wir einen Haushalt begrüßen, der aufneue Aufgaben eingestellt ist, aber zugleich unter demZeichen von Kontinuität und Augenmaß steht, so genauund kritisch werden wir über die Prioritäten des kom-menden Jahres zu sprechen haben; denn dass wir allenhochgesteckten Zielen näherkommen, das wird die De-batte über diesen Entwurf erst noch beweisen müssen .Eine gewisse Skepsis merken Sie mir vielleicht an . In derSPD-Fraktion werden wir auf jeden Fall unser Augen-merk darauf richten, dass die notwendige Schwerpunkt-bildung am Ende nicht zulasten derjenigen geht, die inder Bundeswehr Tag für Tag ihren anspruchsvollen undoft auch gefährlichen Dienst leisten .Danke schön .
Vielen Dank, Fritz Felgentreu . – Weitere Wortmeldun-gen zu diesem Einzelplan liegen nicht vor .Nun gibt es voraussichtlich einen kleinen Platzwech-sel bei manchen . Dies bitte ich zügig zu tun, da wir dannzum Geschäftsbereich des Bundesministeriums fürwirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung,Einzelplan 23, kommen . Zu dieser Debatte begrüße ichauf der Tribüne herzlich Thilo Hoppe, dereinst Vorsit-zender des entsprechenden Ausschusses . Guten Abend,lieber Thilo Hoppe!Ich gebe das Wort Dr . Gerd Müller, dem Minister fürdiesen Bereich .
Dr. Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftlicheZusammenarbeit und Entwicklung:Frau Präsidentin! Es ist mir eine ganz besondere Freu-de, unter Ihrer Präsidentschaft unseren Haushalt zu dis-kutieren .Dr. Fritz Felgentreu
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Wir sind beide aus dem Allgäu .Dr. Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftlicheZusammenarbeit und Entwicklung:Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir können diese Debatte nicht führen, ohnedie Hilfeschreie aus Aleppo, aus Mossul oder aus Ruk-ban zu hören . 500 000 eingeschlossene Menschen in derjetzigen Stunde in Aleppo . Wir erwarten in den nächstenWochen 1 Million Flüchtlinge nach der Befreiung vomIS in Mossul . 70 000 Flüchtlinge an der jordanisch-syri-schen Grenze bei 50 Grad Hitze . Kein Zugang für inter-nationale Hilfsorganisationen, kein Wasser, keine Medi-kamente, kein Essen. Nur die Hoffnung auf Hilfe – dieHoffnung auf uns.Diese Menschen haben wahrlich andere Problemeals wir, aber sie bauen auf uns, und wir helfen auch;ich möchte sagen: Wir helfen auf allen Kanälen . Werwegschaut, macht sich mitschuldig an einer der größ-ten humanitären Katastrophen der letzten 50 Jahre . Ichsage das bewusst, denn wir wissen, was in diesen Tagenund Stunden abgeht. Wir hatten große Hoffnungen aufden G-20-Gipfel gesetzt, auf das Treffen von Putin undObama . Es kam leider zu keinem Durchbruch .Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, am14 . November 1961 wurde Walter Scheel von KonradAdenauer, damals gegen den massiven Widerstand desAußenministers und des Wirtschaftsministers, zum ers-ten Bundesminister für wirtschaftliche Entwicklungernannt . Es gab eine neue Struktur, ein neues Ministe-rium – ein Novum in Europa . Walter Scheel startetedamals im Ministerium, lieber Bartholomäus Kalb, mit34 Mitarbeitern . Heute sind wir round about 1 000 Mit-arbeiterinnen und Mitarbeiter, denen ich herzlich fürdie gute Zusammenarbeit danke . Walter Scheel ist derGründervater nicht nur des BMZ, sondern auch der DEGsowie des Entwicklungsländer-Steuergesetzes . Wir ha-ben ihn vor einigen Stunden zu Grabe getragen . WalterScheel verdient unseren Dank, unsere Anerkennung undunseren Respekt .
Von Walter Scheel ausgehend – seine Büste steht vormeinem Büro –, gab es in seiner Nachfolge weitere sehrmutige, ja visionäre Minister – auch das kann man in ei-ner solchen Debatte einmal ansprechen –: „Ben Wisch“Wischnewski, liebe Kolleginnen und Kollegen von derSPD – unvergessen –, aber auch Erhard Eppler, der unse-re Debatten verfolgt und der mich in meiner Jugend alsökologischer Visionär begeistert hat . In seine Amtszeitfiel damals die Gründung der GTZ, heute GIZ.1968, liebe Haushaltspolitiker, waren wir bei 1 Milli-arde D-Mark, heute knacken wir die Marke von 8 Milli-arden Euro . Dafür herzlichen Dank .
Unter der Kanzlerschaft von Angela Merkel hat sich derEtat des Entwicklungsministeriums verdoppelt . Wir ha-ben noch nicht das 0,7-Prozent-Ziel erreicht; daran müs-sen wir noch weiter arbeiten und in neue Dimensionenvorstoßen . Aber wir sind auf einem guten Weg .Meine Damen und Herren, die Herausforderungen,vor denen wir in dieser Zeit stehen, haben ja auch voll-kommen neue Dimensionen . Das, global betrachtet, ex-plosive Anwachsen der Weltbevölkerung bringt massiveRisiken für den Weltfrieden mit sich . Massive Risiken!Entwicklungspolitik ist in diesem Sinne auch Friedens-und Sicherheitspolitik, findet also auch im Verteidi-gungshaushalt ihren Niederschlag . Ich denke dabei anAfrika und Europa .Die Weltbevölkerung wächst jährlich um 80 Mil-lionen Menschen . Jetzt nenne ich Ihnen eine Zahl, diekaum nachvollziehbar ist, aber stimmt: Wenn die Ratedes Bevölkerungswachstums und damit einhergehenddie Fertilitätsrate auf dem afrikanischen Kontinent sobleiben, wie sie sind, werden dort bis 2050 2 MilliardenBabys geboren . 2 Milliarden Babys! Das stellt eine Ver-dopplung der Bevölkerung des afrikanischen Kontinentsdar . An diesen Dimensionen wird deutlich, welche He-rausforderungen auf uns – Deutschland stellt heute noch1 Prozent der Weltbevölkerung – und damit auch auf un-seren Haushalt zukommen .Wir müssen uns diesen gewaltigen Herausforderungenstellen . Dabei stellt sich zunächst die Frage: Wie sichernwir die Ernährung? Das ist die Überlebensfrage . Danngeht es um mit dem Kampf um Ressourcen zusammen-hängende Fragen: Wie lösen wir das Energieproblem?80 Prozent der Afrikaner haben noch keinen Zugang zuStrom . Wie halten wir es mit dem Klima? Zerstören wirden Planeten? Und: Lösen wir das Gerechtigkeitspro-blem? Ich zähle all das schon bewusst auf . Wenn immerüber Fluchtursachen gesprochen wird: Hier haben wireine Aufzählung der Ursachen .Es ist heute in vielen Bereichen im Verhältnis zwi-schen Industrie- und Entwicklungsländern noch der Fall,dass Globalisierung ohne Grenzen und Werte zu frühka-pitalistischen Ausbeutungsstrukturen führt, insbesonderebei großen Konzernen . Heute haben wir die Situation,dass 10 Prozent der Bevölkerung, also wir, 90 Prozentdes Vermögens besitzen und 20 Prozent, also wir, Sie undich, 80 Prozent der Güter und Ressourcen verbrauchen .Es kann nicht immer so weitergehen, dass diese Schereso weit auseinandergeht . Das ist nämlich die Basis fürKonflikte, für Spannungen, für Kriege, für Auseinander-setzungen und infolgedessen die Ursache für Flucht vonMillionen von Menschen .Die Herausforderungen, die sich durch Migration er-geben, sind lösbar . Ich lege immer großen Wert darauf,Kolleginnen und Kollegen und alle, die zuhören und un-sere Arbeit bewerten, Probleme nicht nur zu beschreiben,sondern auch zu sagen, dass die Probleme lösbar sindund dass der Weg dazu schon beschrieben wurde . Wirhaben heute, im Jahr 2016, die Situation, dass Sie, FrauPräsidentin, und auch viele andere hier im Haus Jahre,wenn nicht Jahrzehnte dafür gekämpft haben . Den Wegzur Lösung beschreiben die in New York formuliertenSDGs – im Weltzukunftsvertrag ist aufgeschrieben, wiedie Probleme von der Weltgemeinschaft zu lösen sind –
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und der Weltklimavertrag von Paris . Es soll also keinersagen, es würden nur Probleme benannt . Wir haben auchdie Lösungen .Es geht jetzt darum, gemeinsam – und das ist schwie-rig – mit den Wirtschaftspolitikern, den Haushalts-,Finanz- und Umweltpolitikern an die Umsetzung derDeklarationen zu gehen . Von den Weltpolitikern gehtdie Kanzlerin voran, aber es ist schwierig . Ich nenne dadas Thema Klimaschutzplan . Frau UmweltministerinHendricks hat da meine Unterstützung; denn wir könnennicht auf der einen Seite bejubeln, dass man solche Zielevereinbart hat, und auf der anderen Seite national demLobbying, also all denen, die ihren Besitzstand wahrenwollen, nicht widerstehen .Oder nehmen wir den Nationalen Aktionsplan . Da gehtes um Wirtschaft und Menschenrechte . Ich freue mich,dass ich da beim Wirtschaftsminister nicht nur auf offeneOhren stoße, sondern dass ich in ihm, wie ich glaube,einen Partner habe und wir hier gemeinsam Zeichen set-zen . Ich fordere aber die Wirtschaft auch auf, nicht Lob-bying in Bezug auf Selbstverständlichkeiten zu machen,wie das Verbot von sklavenähnlicher Kinderarbeit .
Geht nicht gibt es nicht . Wir haben mit dem Textil-bündnis gezeigt, dass es geht, neue Strukturen zu schaf-fen . Ich fahre demnächst nach New York zum UN-Gipfelzum Thema Flucht und Migration und darf dort einigePunkte ansprechen . Zur Beantwortung dieser Zukunfts-fragen brauchen wir eine Reform der UN . Insofern istEntwicklungspolitik auch Außenpolitik . Wir brauchenVorschläge zur Reform des UN-Sicherheitsrates .
Wir brauchen eine neue WTO, die weg von der Frei- zurFairhandelsorganisation entwickelt wird .
– Ja. – Wir brauchen einen UN-Weltflüchtlingsfonds mit10 Milliarden Euro . Die UN und Europa müssen hand-lungsfähig sein . Europa – das wäre ein eigenes Thema;Sie wissen, ich habe hier einen Schwerpunkt gesetzt,und es bewegt sich auch eine Menge; Dank an FrauMogherini, an die Kommissare, die unseren Druck ver-standen haben – muss gestärkt und mit neuen Strukturenaus dieser Krise hervorgehen . Dazu gehört eine Neukon-zeption – liebe Kolleginnen und Kollegen, diese müssenwir gemeinsam auf den Weg bringen – der Entwick-lungs- und der Afrikapolitik . AKP – das war gestern, vor50 Jahren . Wir müssen eine Neukonzeption auf den Wegbringen, mit einem Marshallplan für die MENA-Regionund Afrika .
Beim Stichwort „Flüchtlingsfragen“ ist Entwick-lungspolitik Querschnittspolitik . Es gehört auch einegemeinsame Asyl-, Ausländer- und Migrationspolitik derEuropäischen Union dazu .National, in Deutschland, steigern wir den Haushaltauf 8 Milliarden Euro . Wir erhöhen – das sage ich inRichtung der Haushaltspolitiker – die Effizienz. Wir ha-ben das Evaluierungsinstitut neu besetzt . Es liegen jetztauch Evaluierungsberichte vor . Das Institut arbeitet gut;herzlichen Dank . Ich lege großen Wert darauf: kein Euroohne Wirkung und kein Euro in korrupte Strukturen .
Es geht um Stabilisierung und Wiederaufbau in denKriegs- und Krisenländern . Auch in den Fraktionen wur-de gefragt: Wohin geht denn das Geld? Seit 2014 habenwir die Mittel für die Krisengebiete in und um Syrien von250 Millionen Euro auf 1 Milliarde Euro erhöht, meineDamen und Herren . Libanon, Jordanien, Irak würden zu-sammenbrechen und könnten ihre großen Herausforde-rungen kaum bewältigen ohne unsere Solidarität, aber siehaben unsere Solidarität .
Ich nenne auch die Türkei . Ich konnte in der letztenWoche die Vereinbarung zum Abschluss bringen, dass6 000 syrische Lehrerinnen und Lehrer – es ist wichtig,dass man das so konkret macht – mit dem Geld des deut-schen Steuerzahlers in Flüchtlingscamps in der TürkeiZehntausende von Kindern unterrichten. Ich finde, dasist eine großartige Form der Zusammenarbeit .
Wir verstärken – Frau Präsidentin, eine Minute be-komme ich noch – den Bildungs- und Ausbildungsan-satz . Mein Ziel ist: in Richtung 25 Prozent . Nur Bildunglöst die Probleme, Bildung und Ausbildung, insbesonde-re auch für Frauen . Staatssekretär Fuchtel und Staatsse-kretär Silberhorn, die mich uneingeschränkt unterstüt-zen, haben beispielsweise mit den Entwicklungsbankenvereinbart, dass Mittel für Großprojekte – wir sind nichtdie Chinesen – an Ausbildungsleistung in den Ländernvor Ort gebunden sind .
Wir erhöhen die Hilfe und Zusammenarbeit für dieLDCs . Hier muss konzentriert werden . Ich komme gera-de aus einem Gespräch über das Thema Menschenrechtemit einer eritreischen Delegation . Wir verstärken den An-satz für MENA/Nordafrika . Ich habe eine deutsch-ägyp-tische Regierungskommission zur beruflichen Bildungauf den Weg gebracht . Wir vernetzen Rückführung, einThema der Innenpolitiker, mit Beschäftigungsprogram-men der Entwicklungspolitik . Wir brauchen, Kollegin-nen und Kollegen, querschnittsmäßig ein Programm fürdie Rückführung von Deutschland zurück in befreite Ge-biete, wie wir es vor Ort mit Cash for Work haben .
Ein neuer Weg: Wir binden die Privatwirtschaft ein .Ich habe Herrn Finanzminister Schäuble und dem Wirt-schaftsminister den Vorschlag vorgelegt, ein neues Ent-wicklungsländer-Steuergesetz auf den Weg zu bringen –ich bitte Sie um Unterstützung und habe auch schonUnterstützung –, um privatwirtschaftliche Investitionensteuerlich zu fördern .Bundesminister Dr. Gerd Müller
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Wir brauchen eine Ausweitung der Hermesbürgschaf-ten . Ich habe dazu mit der Bundesagentur für Arbeit ei-nen neuen Ansatz auf den Weg gebracht . Wir brauchenprivate Investments, fairen Handel und eine Erhöhungder ODA-Quote – diesen Dreiklang –, dann kommen wirauf dem richtigen Weg voran .
Herzlichen Dank an meine Staatssekretäre, an dasHaus, an die Haushaltspolitiker, an die Fachpolitiker!Ich freue mich, in die Endphase dieser Legislaturperiode,die nächsten 365 Tage, zu gehen, und bin weiterhin vollmotiviert, die großen Herausforderungen anzupacken . Nelson Mandela sagte: „Es scheint immer unmöglich,bis es vollbracht ist.“ Aber wir schaffen es.Danke schön .
Vielen Dank, Gerd Müller . – Nächster Redner:
Michael Leutert für die Linke .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Minister, es klingt immer so schön, was Sie uns hiervortragen .
Aber ich glaube, ich muss hier etwas Wasser in den Weingießen .
Es beginnt schon beim Volumen der Mittel, die hier zurVerfügung stehen . Sie haben gesagt, wir knacken jetztdie 8-Milliarden-Euro-Grenze . Ich möchte Folgendesaufzeigen: Sie haben selber gesagt, Entwicklungspolitikhat auch etwas mit Außenpolitik zu tun, sie ist sehr engmit dem Auswärtigen Amt verzahnt . Dann muss maneben die Mittel dieser beiden Ministerien zusammen-nehmen und sie den Mitteln des Verteidigungsministe-riums gegenüberstellen . Da möchte ich Ihnen nur sagen:Im Etat Ihres Ministeriums haben wir dieses Jahr einenAufwuchs von 580 Millionen Euro . Allerdings sind darin310 Millionen Euro Mehreinnahmen enthalten, die Siesowieso bekommen hätten, nämlich Darlehensrückflüs-se . Wenn ich diese abziehe, sind es nur noch 270 Millio-nen Euro frisches Geld . Wenn ich das zusammen mit demAußenministerium betrachte, dem 200 Millionen Euroweniger zur Verfügung gestellt werden, bleiben nur noch70 Millionen Euro Aufwuchs übrig . Wenn ich dann nochdie globale Minderausgabe gegenrechne, bleibt vomPrinzip her nicht ein einziger Euro übrig, der zusätzlichin den Bereich der wirtschaftlichen Zusammenarbeit undEntwicklung gesteckt wird – ganz im Gegenteil .
Wissen Sie, was ich nicht verstehe? Wir reden die gan-ze Zeit über das 0,7-Prozent-Ziel .
Seit Jahren reden wir darüber, dass dieses Ziel erreichtwerden muss . Ich habe ja gerade das Verteidigungsmi-nisterium angesprochen . Wir sehen an seinem Etat, dassGeld erst einmal durchaus vorhanden ist . In den letztenzwölf Monaten ist beschlossen worden, 3,5 MilliardenEuro mehr in den Verteidigungsbereich fließen zu las-sen . Um das 0,7-Prozent-Ziel zu erreichen, bräuchten wir5 Milliarden Euro mehr . Das heißt, wenn wir die 3,5 Mil-liarden Euro, die in den Verteidigungsbereich fließen, indiesen Haushalt gesteckt hätten, wären wir beim Errei-chen des 0,7-Prozent-Ziels schon ein großes Stück vor-angekommen .
Da verstehe ich eines nicht: Ihr Parteikollege HorstSeehofer setzt sich doch immer so vehement für Ober-grenzen ein . Er sagt, wir bräuchten Obergrenzen für denZuzug von Flüchtlingen; es wurde wieder die Zahl von200 000 in den Raum geworfen . Warum hat sich eigent-lich die CSU in den Haushaltsverhandlungen, bei derEntwicklung des Kabinettsentwurfs, nicht ein einzigesMal im zentralen Bereich der Bekämpfung von Flucht-ursachen durchgesetzt, damit wir tatsächlich nicht mehrdie Situation haben, dass die Menschen aus Not nachDeutschland kommen müssen? Wenn Menschen hier-herkommen, dann möchte ich gern, dass sie aus freienStücken hierherkommen können .
Das wäre doch ein Beitrag zum Thema Obergrenzen ge-wesen .Nun sage ich nicht – das ist völlig klar –, dass alle Pro-bleme gelöst wären, wenn wir das Geld hätten und das0,7-Prozent-Ziel erreicht wäre . Aber uns liegt pünktlichzu den Haushaltsberatungen ein Bericht von UNICEFvor – Sie haben ihn auch angesprochen –, aus dem her-vorgeht, dass mittlerweile fast 50 Millionen Kinder, da-von 28 Millionen aufgrund kriegerischer Auseinanderset-zungen, auf der Flucht sind. Ich finde, man hätte diesenKindern und Jugendlichen, die auf der Flucht sind, mitmehr Geld tatsächlich effektiv helfen können.Eins ist unbestritten – ich glaube, da sind wir uns alleeinig –: Fluchtursachenbekämpfung ist das A und O; esist die wichtigste Aufgabe, vor der wir in den nächstenJahren stehen werden .
Dazu gehört zum einen – es ist angesprochen worden –,Kriege zu beenden oder am besten sogar Kriege zu ver-hindern; dazu gehört zum anderen natürlich, die Aus-wirkung des Klimawandels einzudämmen, und auch,Hunger und Armut zu beseitigen . Für all das brauchenwir Geld . Trotz alledem sind Entscheidungen notwendig;auch das hatten Sie angesprochen, Sie hatten mehrereBeispiele genannt .Bundesminister Dr. Gerd Müller
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Ich möchte zwei Punkte unterstreichen, für deren Um-setzung wir sofort sorgen könnten . Wir brauchen mehrEntscheidungen gegen Rüstungsexporte .
Es kann nicht sein, dass die Bundesregierung die Ent-scheidung trifft, Rüstungsgüter in Länder im arabischenRaum zu exportieren, die Kriege im Jemen führen, undwir haben dann mit den Auswirkungen zu kämpfen . Dasgeht so nicht .
Sie haben auch angesprochen: Wir brauchen Entschei-dungen für einen gerechteren Welthandel . Sie selberhaben gesagt: Wir brauchen keinen freien Welthandel,sondern wir brauchen einen fairen Welthandel . Das istrichtig. Das findet unsere Unterstützung.Ich glaube, dass wir den 50 Millionen Kindern, die aufder Flucht sind, Perspektiven bieten müssen . Wir müs-sen ihnen Mut machen, dass sie etwas schaffen können.Wir müssen darauf achten, dass sie nicht zu permanentenFlüchtlingen werden, dass sie nicht immer wieder voneinem Ort zum anderen flüchten müssen.Wir dürfen Folgendes nicht aus dem Blick verlieren:Letztes Jahr sind über 1 Million Menschen nach Deutsch-land gekommen, weil sie vor Krieg, Zerstörung und Notgeflüchtet sind. Man muss sich einmal überlegen: Washat das bei uns für gesellschaftliche Debatten ausgelöst?Was hat das für politische Veränderungen nach sich gezo-gen? Zum Beispiel die letzte Wahl in Mecklenburg-Vor-pommern – das als Hinweis . Das heißt doch auch: In denLändern, in denen Flüchtlinge auch Zuflucht suchen unddenen es nicht so gut geht wie uns – bei uns werden dieFlüchtlinge medizinisch, sozial, bildungsmäßig und kul-turell unterstützt –, zum Beispiel in afrikanischen Län-dern, wo die Menschen um ihr Überleben kämpfen müs-sen, führt das doch auch zu sozialen Spannungen . Diesesozialen Spannungen können wieder Gründe für weitereKonflikte sein. Genau deshalb müssen wir an dieser Stel-le eingreifen und mehr dafür tun, dass diese Konflikte inZukunft verhindert werden .
Herr Minister, einen letzten Punkt möchte ich Ihnengerne noch mitgeben . Sie hatten das Textilbündnis an-gesprochen, für das Sie sich sehr stark eingesetzt habenund das Sie auf den Weg gebracht haben . Es geht darum,Wertschöpfungsketten zu kontrollieren, transparent zumachen . Ich sage: Ja, richtig . Aber mein Vorschlag ist,auch darauf zu achten, dass im eigenen Haus die gleichenMaßstäbe angelegt werden .Ich habe einmal nachgefragt, wo die Bundeswehr ihreBekleidung herstellen lässt . Es gibt eine lange Liste vonLändern, in denen produziert wird, und da sind eben auchLänder wie China, Tunesien, Indien und Indonesien da-bei, alles Länder, über die wir hier sprechen . Deshalbmeine Bitte: Prüfen Sie bitte mit Ihrer Kollegin aus demVerteidigungsministerium, unter welchen Bedingungendie Sachen, die die Bundeswehr nutzt, hergestellt wer-den . Dort könnten wir mit einfachen Maßnahmen Mög-lichkeiten für Veränderungen schaffen und etwas dazubeitragen, dass Ihr Textilbündnis erfolgreich wird .Vielen Dank .
Das Wort hat der Kollege Stefan Rebmann für die
SPD-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir beraten heute einen Entwicklungsetat, der mit sei-nem Aufwuchs ein positives Signal setzt . Wir als Ent-wicklungspolitiker sagen schon lange, dass Entwick-lungspolitik auf der politischen Agenda eine ganz andereWertigkeit einnehmen muss, und das muss sich selbstver-ständlich auch im Haushalt widerspiegeln .Der Minister hat es schon angesprochen: Angesichtsvon 65 Millionen Menschen, die derzeit weltweit aufder Flucht sind, müssen wir noch deutlicher als bisherklarstellen: Je zielgerichteter, je effektiver und je nach-haltiger wir Entwicklungspolitik gestalten und damit fürstabilere und friedlichere Verhältnisse in den Ländernsorgen, umso mehr Menschen können und werden in ih-ren Heimatländern bleiben und müssen sich nicht auf dieFlucht begeben .Kolleginnen und Kollegen, gute Entwicklungspolitikist die langfristige Antwort auf die Angstmacher, Spal-ter und Hetzer, die derzeit in unsere Parlamente einzie-hen; denn mit einer guten Entwicklungspolitik wirkenwir Flucht- und Wanderungsbewegungen entgegen . Wirbieten den Menschen in den Entwicklungsländern Zu-kunftsperspektiven, und gleichzeitig – der Minister hateine ganze Reihe positiver Aspekte dieser Politik aufge-führt – können wir den Menschen hier bei uns ihre Ängs-te nehmen .
Herr Minister, ich kann verstehen, dass sie die Sonder-initiativen eingerichtet haben, um flexibel auf die Krisenin der Welt reagieren zu können . Damit ist ja auch vielGutes auf den Weg gebracht worden;
das will ich gar nicht kritisieren . Dennoch mache ich imdritten Jahr der Sonderinitiativen ein Fragezeichen an dieFortschreibung der Sonderinitiativen in dieser Höhe .
Michael Leutert
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Ich wünsche mir jedenfalls für die anstehenden Bera-tungen, dass die entscheidenden und schon bestehendenHaushaltstitel gestärkt werden; denn Entwicklungspoli-tik ist, wie ich meine, die beste Fluchtursachenbekämp-fung, und dafür brauchen wir eine langfristig abgesicher-te Finanzierung und keine jährlichen Rhythmen .
Diese jährlichen Vergaben der Mittel aus den Sonderini-tiativen geben den Durchführungsorganisationen leiderkeine ausreichende Sicherheit . Ich bin in dieser Wochemehrfach darauf angesprochen worden. Das schafft ein-fach Probleme .
Das kann dazu führen, dass Projekte eventuell einge-stampft werden, weil die Finanzierung nicht ganz klar ist .Wenn sie dann doch steht, sind die Mitarbeiter eventuellfort oder die Strukturen bestehen nicht mehr, und wir fan-gen wieder von vorne an . Ich glaube, das kann nicht Zieldieser Vorgehensweise sein . Meine Bitte für die kom-menden Haushaltsberatungen lautet also: ein Mehr anMitteln im Haushalt jenseits der Sonderinitiativen, ohnedie Sonderinitiativen ganz aufzulösen .Auf meiner Liste ganz oben steht der Zivile Frie-densdienst . Wir als SPD kämpfen schon jahrelang fürden Zivilen Friedensdienst, und wir sind dabei, glaubeich, durchaus erfolgreich. Ich finde, die Unterstützungvon Friedensprozessen und die Aussöhnung sind enormwichtig . Herr Müller, Sie sprechen selbst von einer groß-artigen Arbeit des Zivilen Friedensdienstes . Deshalbfreue ich mich sehr, dass Sie mich sicherlich dabei unter-stützen werden, die Kolleginnen und Kollegen Haushäl-ter zu überzeugen, einen spürbaren Aufwuchs um einigeMillionen festzuschreiben .
Weiter sehe ich auf meiner Liste der Themen für diezukünftigen Haushaltsberatungen die Deutsche-Wel-le-Akademie . Wenn wir wollen, dass Menschen in Ent-wicklungsländern gut informiert sind und ihre Möglich-keiten in Deutschland und Europa realistisch einschätzenkönnen, wenn wir Meinungsfreiheit, Medienvielfalt undneutrale, gute Berichterstattung fördern wollen, damitsich die Menschen für Demokratie und Rechtsstaatlich-keit einsetzen, wenn wir das, was für uns selbstverständ-lich ist – freier Informationszugang und Pressefreiheit –,auch in anderen Ländern haben wollen, dann, glaube ich,brauchen wir in diesem Bereich keine Kürzung, sonderneher einen bescheidenen Aufwuchs . Auch darüber, denkeich, müssen wir noch miteinander beraten .Auch die Investitionen im Bereich Gesundheit sind,wie ich meine, von elementarer Bedeutung; denn ohneGesundheit keine Zukunft und keine Perspektiven . DerGlobale Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkuloseund Malaria, kurz GFATM genannt, leistet, wie wir allewissen, hervorragende Arbeit . Ich frage mich, warumtrotz der enormen Erfolge des GFATM angesichts derWanderungsbewegungen, die wir haben, bisher lediglichein Aufwuchs um 10 Millionen Euro vorgesehen ist .
Bei der Wiederauffüllungskonferenz in Kanada in we-nigen Tagen stehen wir alle gemeinsam, aber ganz beson-ders die Kanzlerin, im Wort, unseren Beitrag zu leisten .Als SPD fordern wir schon lange mindestens 300 Mil-lionen Euro für den GFATM . Wenn sich die Kanzlerindiesem Ziel nähern kann und sich bei der Wiederauffül-lungskonferenz in diese Richtung bewegt, dann, glaubeich, bekommen wir das zusammen, was wir dringendbenötigen, um den drei großen Killerkrankheiten derMenschheit entsprechend begegnen zu können .Zum Schluss noch eine Anmerkung zu einem The-menbereich, den der Herr Minister auch schon angespro-chen hat, zur menschenwürdigen Arbeit . Wir haben inder Koalition den Antrag „Gute Arbeit weltweit“ verab-schiedet . Es hat sich ja auch schon einiges getan; auchdafür wurden schon ein paar Beispiele genannt . Nunhaben wir nicht nur die SDGs auf unserer Agenda, son-dern auch den Nationalen Aktionsplan „Wirtschaft undMenschenrechte“ . Die Kanzlerin hat ja beim G 7-Gipfelin Elmau die Einhaltung der Umwelt-, Sozial- und Men-schenrechtsstandards entlang der globalen Lieferkettenin den Mittelpunkt gerückt, und zwar zu Recht . GuteArbeit weltweit – das wäre ein sinnvoller Beitrag, umFluchtursachen nachhaltig zu bekämpfen .Aber die Anmerkungen des Bundesfinanzministeri-ums zum Nationalen Aktionsplan bewirken genau dasGegenteil
und sind eigentlich auch gegen die Kanzlerin gerichtet .Da werden menschenrechtliche Sorgfaltspflichten inmenschenrechtliche Verantwortung abgeschwächt, undalles, was nur den Anschein erweckt, eventuell vielleichtdoch unter ganz bestimmten Umständen zu mehr Ver-bindlichkeit zu führen, wird gleich ganz gestrichen . Ichglaube, da muss man ein deutliches Wort sprechen . DasBundesfinanzministerium hat sich da aus meiner Sichtkomplett verrannt . Sie haben sich zum Sprachrohr derBDA gemacht . Das ist nicht gut . Das ist keine Fluchtur-sachenbekämpfung, sondern genau das Gegenteil .
Würden diese Anmerkungen übernommen, wäre derNAP nicht das Papier wert, auf dem er steht .Zusammenfassend und zum Schluss, Frau Präsiden-tin: Wenn wir Entwicklungspolitik ernst nehmen, dannbrauchen wir die finanziellen Mittel und den ernsthaftenWillen für verbindliche menschenrechtliche Sorgfalts-pflichten, für den Aufbau von sozialen Sicherungssys-temen und für eine konsequente Umsetzung des PariserKlimaschutzabkommens . Schon heute gibt es 20 Millio-Stefan Rebmann
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nen Klimaflüchtlinge weltweit. Die Zahlen werden nochdramatisch steigen . Wir brauchen den ernsthaften Wil-len für mehr konsequentere und nachhaltigere Entwick-lungspolitik . Wir brauchen eine langfristig abgesicherteFinanzierung . Entwicklungspolitik ist eine langfristigeAufgabe . Es braucht Zeit . Wir brauchen deshalb langfris-tig die entsprechenden finanziellen Mittel. Ich bin guterDinge, dass wir in den nächsten Wochen noch gut beratenwerden .Herzlichen Dank .
Zeit war ein sehr gutes Stichwort . Aber das müssen
Sie dann irgendwann mit Ihren Kolleginnen und Kolle-
gen ausmachen, wenn es nicht anders geht .
Das Wort hat die Kollegin Anja Hajduk für die Frakti-
on Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! In dieser Debatte ist schon viel Richtiges überdie Größe der Herausforderung, vor der wir stehen, ge-sagt worden . Herr Minister, Sie haben eindringlich aufdas Drama in Syrien hingewiesen . Ich muss einmal ganzklar sagen: Angesichts dieser Dimension der Herausfor-derung, angesichts der Zahl der Flüchtenden und der Ar-mut auf der Welt, mit Verlaub, Herr Minister, da reichtein Plus von 580 Millionen Euro im Haushalt 2017, wäh-rend in der Finanzplanung bis 2020 alles so bleibt, wie esist, wirklich nicht aus .
Dann kann man sich auch diese vielen warmen Worteschenken, es sei denn, man setzt einmal das um, was IhrKollege Minister Schäuble hier eindringlich eingeforderthat . Er hat von der Verantwortung Europas gegenüberdem afrikanischen Kontinent gesprochen . Er hat diesemProblem damit eine richtige historische Dimension ge-geben und die Herausforderung beschrieben . Sie habengerade von der Perspektive gesprochen, dass es 2 Mil-liarden neue Babys in Afrika bis zur Mitte des Jahrhun-derts geben wird . Wenn Sie hier solche Dimensionenbeschreiben, dann wissen Sie auch, dass wir eine ganzandere Antwort von der EU und auch aus Deutschlandbrauchen, um diesen Herausforderungen zu begegnen .Diese Antwort brauchen wir jetzt und in der Perspektivefür mindestens fünf Jahre .
Wir brauchen auch eine Aufwuchsdynamik . Wir kön-nen Ihnen heute einen klaren Vorschlag dazu unterbrei-ten . Wir Grüne machen Ihnen folgenden Vorschlag: Las-sen Sie uns in diesem Haushalt – wir haben schließlichÜberschüsse – 1,2 Milliarden Euro für die Entwicklungs-zusammenarbeit und 800 Millionen Euro für den Klima-schutz obendrauf legen . Nur wenn wir diese 2 MilliardenEuro jährlich fortschreiben, halten wir 2020 erstmals dasVersprechen ein – wir geben es schon seit Dekaden –,0,7 Prozent unseres Bruttoinlandsproduktes in die Ent-wicklungszusammenarbeit und den internationalen Kli-maschutz zu stecken .
Da Sie mir jetzt zunicken, Herr Müller, will ich Ih-nen sagen: Es ist Ihre Aufgabe, dafür zu kämpfen . Dasheißt dann nämlich, dass wir in den nächsten Jahren ein10-Milliarden-Euro-Programm auf die Beine stellen unddies schrittweise entwickeln müssen . Das ist die Antwortauf die beschriebene Herausforderung für Sie selbst,Herrn Schäuble und Frau Merkel . Das ist das, was Siesich selber mit Ihrer Betonung der Gipfel im letzten Jahrzur Aufgabe gemacht haben . Aber Sie bleiben weit da-hinter zurück . Das kann man eigentlich überhaupt nichtmehr ernst nehmen, wenn Sie das jetzt nicht deutlich un-terstreichen und wirklich korrigieren .
Ich möchte noch etwas zur ODA-Quote sagen . Fallsjemand von den Regierungsfraktionen, zum Beispiel vonder Union, sagt: „Na ja, in diesem Jahr werden wir sieja erreichen“, muss ich feststellen: Ja, wir haben da imMoment einen Aufwuchs . Es kann sogar sein, dass wirim Jahr 2016 nahe an die 0,7 Prozent herankommen,
weil wir in einem hohen Ausmaß Flüchtlinge aufgenom-men haben und die Aufnahme von Flüchtlingen im erstenJahr ODA-relevant ist . Aber damit sich niemand daraufausruht: Das wäre nur ein Zwischenhoch . Die beschrie-benen Dimensionen, Zahlen und Notwendigkeiten, dieich genannt habe, bleiben bestehen . Da müssen wir an-setzen, nichts anderes .Herr Minister, ich möchte auch ganz konkret auf IhrePolitik der letzten Jahre zu sprechen kommen . Da kannich mich nur den kritischen Worten von Herrn Rebmannzu den Sonderinitiativen anschließen . Sie haben im Rah-men der Sonderinitiativen richtige Themen benannt: dieBekämpfung von Fluchtursachen und Armut und natür-lich auch die Situation in den schwierigen Regionen inNahost und Nordafrika . Aber wenn man richtige The-men erkannt hat, dann muss man doch im Rahmen derSonder initiativen versuchen, diesen Themen vorhandeneProgramme sinnvoll zuzuordnen .
Aber man darf nicht die Mittel für wirksame, langfristigeProgramme kürzen, um neue Sonderinitiativen aufzule-gen . Denn wie ich höre, führen sie zu neuer Verwaltungs-arbeit und erzeugen neue Anmelde- und Abrechnungs-prozeduren, sodass wir nach drei Jahren Sonderinitiativenim Grunde bei Doppelarbeit, Mittelverschwendung undIneffizienz gelandet sind.
Ich kann das belegen . Die Koalitionsfraktionen – lei-der auch die SPD – haben vor einem Jahr im Haushalt320 Millionen Euro von der Entwicklungszusammen-Stefan Rebmann
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arbeit zu den Sonderinitiativen umgeschichtet . Das Er-gebnis ist, dass die KfW im Moment über keine neuenProjekte mehr entscheidet . Wir erhalten von Ihnen dem-nächst wahrscheinlich die Aufforderung, eine überplan-mäßige Ausgabe zu tätigen, damit die ihre Entwick-lungszusammenarbeit Mitte des Jahres überhaupt nochfortsetzen können . Das ist doch ein Armutszeugnis .
Genau dasselbe Thema haben wir bei der GIZ, um nurein Beispiel zu nennen . Bei der GIZ stagniert das Vo-lumen der technischen Zusammenarbeit, also der kon-kreten Projekte, nicht nur, sondern es ist im Jahr 2016sogar zurückgegangen . Die Ursache ist, dass Sie eineUmschichtung zu den Sonderinitiativen vorgenommenhaben, die eine langfristig erfolgreiche Entwicklungszu-sammenarbeit ausbremst . Wir haben Sie vor einem Jahrdavor gewarnt, das zu machen . Sie haben gedacht, Siewüssten es besser . Jetzt haben wir trotz des Versprechens,dort effektiv zu arbeiten, Stagnation und Rückschritt. Ichkann Sie nur bitten: Lassen Sie uns das dieses Jahr injedem Falle korrigieren!
Meine Damen und Herren, ich muss sagen: Wir ha-ben in diesen Haushaltsberatungen viel zu tun, was dieGesamtausrichtung und die Gesamtpriorität der Entwick-lungszusammenarbeit angeht . Ich möchte doch sehr da-rum bitten, dass die Koalitionäre – auch das Finanzmi-nisterium – hier neue Möglichkeiten zulassen, und zwarin einem erheblichen Volumen und nicht nur in kleinenSchritten . Ansonsten wird dieser Haushalt, Herr Minis-ter, ein Haushalt der verpassten Chancen in einem für dieGlaubwürdigkeit der deutschen Politik sehr wichtigenFeld .
Die Kollegin Sabine Weiss hat für die CDU/CSU-Frak-
tion das Wort .
Schönen Dank . – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Meine Damen und Herren! Das war jetztwieder ein schönes Beispiel dafür, wie man gute Dingeausschließlich schlechtreden kann . Die Entwicklungspo-litik hat natürlich viele Facetten; von einigen haben wirbereits gehört . Lassen Sie auch mich ein paar wenige an-sprechen .Ich möchte zunächst einmal sagen: Ich danke der Bun-desregierung . Dies ist ein sehr guter Haushaltsentwurffür unser Entwicklungsministerium . Herr Leutert, dasklingt nicht nur schön, sondern das ist auch schön .
Es ist ein Rekordhaushalt, der beweist: Deutschlandsteht zu seiner internationalen Verantwortung . Deutsch-land ist weltoffen. Wir nehmen Menschen in Not bei unsauf, und wir helfen, Frieden und Sicherheit zu stärkenund den Menschen in ihrer Heimat eine Zukunftsper-spektive zu geben . Diese Politik der Regierung Merkelhebt uns ab von den düsteren Hasspredigten der Rechts-populisten, die auf Abschottung setzen und alles Fremdeablehnen .Der Entwurf zeigt zunächst, dass Deutschland die Pro-jekte zur Bewältigung von Flucht und zur Bekämpfungvon Fluchtursachen vorantreibt . 650 Millionen Euro be-trägt das Plus bei den Barmitteln bei der FZ und auchbei den Sonderinitiativen zur Bewältigung von Flucht,der Nahostkrise und zur Bekämpfung von Hunger . Das,lieber Stefan Rebmann, ist aus meiner Sicht zunächst ein-mal dringend nötig, um die in den letzten Jahren vorbe-reiteten Maßnahmen auch umzusetzen . Das wird sicher-lich zu diskutieren sein . Wir sind ja heute auch erst beider Einbringung des Haushaltsentwurfs .Ich warne aber davor, dass wir diese zusätzlichen Be-träge als große Spielmasse nutzen, um hier und da ananderer Stelle deutlich mehr draufzulegen . Auch jetzt isthier viel Bildung drin. Im Libanon zum Beispiel finan-ziert Deutschland das Schulsystem mit . 200 000 Kindergehen dadurch zusätzlich in die Schule . Es ist viel Ge-sundheit drin . Im Irak fördert Deutschland das Gesund-heitssystem . 2 Millionen Menschen haben davon bisherschon profitiert. Und: Deutschland beteiligt sich an derErnährungssicherung von Flüchtlingen . 750 000 Men-schen haben so bisher Lebensmittelgutscheine erhalten .Durch das weiterlaufende Cash-for-Work-Programmwerden Arbeitsplätze für 50 000 Menschen in der Kri-senregion Nahost geschaffen.Das sind zunächst einmal gute Nachrichten, und dassollte man auch sagen . Wir leben in einer Zeit, in derbisher eigentlich immer nur schlechte Nachrichten ver-öffentlicht werden. Hier haben wir gute Nachrichten zuverkünden, und die möchte ich heute erst einmal in allerDeutlichkeit darstellen .
Natürlich ist nicht alles eitel Sonnenschein, und darü-ber müssen wir reden . Besorgt bin ich zum Beispiel überden Rückgang der Verpflichtungsermächtigungen umfast 750 Millionen Euro bei der FZ und der TZ . Ich den-ke, das könnte dazu führen, dass das zukünftige Engage-ment des BMZ bei der Bewältigung der Fluchtursachenund -folgen beschränkt wird . Ich weiß, dass Bundesmi-nister Gerd Müller immer wieder darauf hingewiesenhat, dass der Einsatz von 1 Euro für die Flüchtlingshilfein der Region den Einsatz von etwa 10 Euro ersetzt, diewir in Deutschland aufwenden müssten .Der Rückgang bei den Verpflichtungsermächtigungenerschwert aus meiner Sicht auch die Mittelverdoppelungfür den Klimaschutz, die Umsetzung der G-7-Beschlüssevon Elmau zur Hungerbekämpfung und auch die Umset-zung des Sechs-Punkte-Gesundheitsplans im Zuge derEbolakrise .Anja Hajduk
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Ich möchte in diesem Zusammenhang an die Haushäl-ter appellieren . Frau Hajduk, Sie sind ja dabei; denn Siesind Haushälterin . Sie haben sich vorhin beschwert, dassdas alles nicht ausreicht . Also: Kämpfen Sie mit, wenn esum die Verpflichtungsermächtigungen geht? Liebe Haus-hälter, bitte legen Sie bei den Verpflichtungsermächti-gungen wieder etwas obendrauf; denn auch der sozialeFrieden in unserem Land hängt davon ab, dass wir dieFluchtursachen umfassend bekämpfen . Und ohne Geld –das wissen wir alle – geht das eben nicht .
Das Flüchtlingsthema hat vielen Menschen die zen-trale Bedeutung der Entwicklungspolitik verdeutlicht .Ich habe manchmal das Gefühl, dass Entwicklungspoli-tik erst jetzt in vielen Köpfen wirklich ankommt . Die-se Chance, denke ich, müssen wir nutzen . Wir müssenklarmachen, dass eingesetzte Mittel wirken und dass esin vielen Ländern auch Entwicklungsfortschritte gibt, aufdie man aufbauen kann . So ist zum Beispiel die Lebens-erwartung in Entwicklungsländern von 42 Jahren im Jah-re 1950 auf 66 Jahre gestiegen, bedingt vor allem durchdie erhebliche Senkung der Kindersterblichkeit, undzwar von noch 34 000 Kindern am Tag im Jahre 1990auf 17 000 heute, wobei ich ganz deutlich sagen möchte:Jedes gestorbene Kind ist ein Kind zu viel .
Auf die armen Länder entfallen immer noch 35 Pro-zent aller Todesfälle bei den Null- bis Vierjährigen . Inunseren Industrieländern ist es nur noch knapp 1 Prozent .Das zeigt, dass die Bekämpfung der Kindersterblichkeitin den Entwicklungsländern weiterhin eine Priorität blei-ben muss . Laut der Deutschen Welthungerhilfe stirbt allezehn Sekunden ein Kind allein an den Folgen von Man-gel- und Unterernährung . Es sterben also fast 600 Kinderwährend dieser Debatte und mehr als 8 500 am Tag .Die Bundeskanzlerin hat in einem Interview in der SZklar gesagt, dass wir deutlich mehr für die Entwicklungs-arbeit tun wollen und müssen . Das wird auch durch dieVorlage dieses Haushaltes unterstrichen . Sie hat in demerwähnten Interview auch angekündigt, dass eine Aus-weitung der Zusammenarbeit mit Afrika erfolgen soll .Das ist mit Blick auf künftige Fluchtbewegungen undauf den bestehenden Nachholbedarf bei vielen wichtigenEntwicklungszielen auch zweifellos richtig .Der Weg ist herausfordernd; das wissen wir alle . Des-wegen ist auch eine positive Zusammenarbeit wichtig .Die OECD schätzt, dass in den Entwicklungsländern je-des Jahr circa 4 Billionen US-Dollar – das sind 4 000 Mil-liarden US-Dollar – investiert werden müssen, wenn dieSDGs erreicht werden sollen . Die globale ODA betrugim Jahr 2015 132 Milliarden US-Dollar oder 0,3 Prozentdes BIP . Das müssen wir anheben; das ist klar . Aber auchmit 0,7 Prozent wäre der Weg bis zu 4 Billionen US-Dol-lar noch sehr weit .Sie sehen also: Es gibt viel zu tun . Wir müssen alleInstrumente der Entwicklungspolitik ausnutzen und ver-suchen, sie zu verbessern . Neun von zehn Arbeitsplätzenin den Entwicklungsländern finden sich in der Privat-wirtschaft . Das mag nicht jedem gefallen . Aber deshalbmüssen wir auch auf den Aufbau der Privatwirtschaft unddamit die Schaffung von Arbeitsplätzen als immer nochbestes Mittel gegen Flucht setzen .
Ich sehe das BMZ gut gerüstet . Wir haben gute Fach-politiker an unserer Seite, und ich lade jeden dazu ein,hier mitzumachen . Wir werden diese Herausforderungangehen, und ich möchte an dieser Stelle nochmals HerrnBundesminister Müller und seinem gesamten BMZ-Team für die hervorragende Arbeit danken . Ich freuemich auf die Beratungen des Haushaltes .Ich habe die um eine Minute gekürzte Redezeit einge-halten, bin also in der Zeit geblieben, Frau Präsidentin,und bedanke mich fürs Zuhören .Herzlichen Dank .
Das Wort hat die Kollegin Heike Hänsel für die Frak-
tion Die Linke .
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Dieser Haushalt steht für mehr Rüstung, mehr Mi-litär und mehr soziale Spaltung . Man muss konstatieren:Die Bundesregierung hat aus der sich massiv verschär-fenden Flüchtlingskrise seit einem Jahr nichts gelernt,und deswegen lehnen wir diesen Haushalt ab .
Die Bundesregierung will zwar mehr Geld für Ent-wicklung ausgeben – wir haben es ja gehört: 580 Milli-onen Euro mehr –, aber der Verteidigungsetat bekommtdas Vierfache mehr, nämlich über 2 Milliarden Euro .Frau von der Leyen spricht von der größten Steigerungim letzten Vierteljahrhundert, und ich muss sagen: Wennman in den letzten Stunden die Debatten über die Außen-politik und die Verteidigungspolitik verfolgt hat, dannkann einem schlecht werden .
CDU/CSU und SPD schwärmen hier in hohem Maßevon dem höchsten Rüstungshaushalt, von Cyberwar undvon hybrider Kriegsführung . In welcher Welt leben Sieeigentlich? Das ist eine Wahnsinnspolitik, die Sie hierbetreiben, und ich kann nur sagen: Wir werden unserenWiderstand gegen diese Politik ausweiten und verstär-ken .
Angesichts der globalen Herausforderungen von Mil-lionen Menschen, die vor Kriegen und Perspektivlosig-Sabine Weiss
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keit auf der Flucht sind, brauchen wir doch nicht nochmehr Geld für Aufrüstung und immer neue Auslandsein-sätze der Bundeswehr, sondern wir brauchen Geld fürAbrüstung und Armutsbekämpfung, für Bildung – daswurde angesprochen –, für Arbeitsplätze, für Klima-schutz: weltweit und auch hier in Deutschland . Das wäreeine Antwort auf die über 60 Millionen Menschen, dieweltweit auf der Flucht sind . Bekämpfen Sie endlich dieFluchtursachen!
Deswegen schlagen wir eine Kürzung der Militäraus-gaben um mindestens 6 Milliarden Euro in diesem Haus-halt vor und fordern 2 Milliarden Euro pro Jahr mehr fürden Entwicklungshaushalt .
Sie haben zwar, Herr Müller, in Ihrem Ministerium dieSonderinitiative „Fluchtursachen bekämpfen“ ins Lebengerufen; sie wurde auch schon erwähnt . Meines Erach-tens entwickeln sich diese Sonderinitiativen langsam zueiner Parallelstruktur in Ihrem Ministerium . Trotzdem:Wenn man sich die Initiative anschaut, dann stellt manfest: Sie gehen damit die wirklichen Fluchtgründe nichtan . Es wäre Ihre Aufgabe als Entwicklungsminister, HerrMüller, gegen die weitere Militarisierung der deutschenAußenpolitik und der Entwicklungspolitik sowie gegendeutsche Rüstungsexporte, zum Beispiel im Bundessi-cherheitsrat, zu stimmen .
Stattdessen schauen Sie zu, wie die EU nun auch nochEntwicklungsgelder für die Ausstattung von Militär inafrikanischen Ländern einsetzen will . Das ist doch eineUmkehrung des Sinnes von Entwicklungszusammenar-beit .
Stattdessen wäre es zum Beispiel überfällig, dasswir endlich einen europäischen zivilen Friedensdienstaufbauen . Das fordern wir seit Jahren . Hier tut sich garnichts . Das wäre die richtige Antwort . Wir könnten zumBeispiel Menschen, die hierher geflüchtet sind, zu Frie-densarbeitern ausbilden .
Sie kennen ihr Land . Sie könnten mit einer neuen Aufga-be zurückkehren und sich dort für Versöhnung und Auf-bau einsetzen .
Dazu brauchen wir eben eine konstruktive Politik undnicht eine Hochrüstungspolitik, wie Sie sie hier betrei-ben .
Ich höre mit Interesse, Herr Müller, dass Sie von Fair-handel sprechen . Sie wollen die WTO umbauen . – Dasist ja schön und gut . Aber ich kann Ihnen sagen: Sie kön-nen sich viel direkter für Fairhandel einsetzen, indem Sieendlich Ihre Stimme gegen diese fatalen EU-Freihandels-abkommen mit Afrika erheben, die sogenannten EPAs .Dazu habe ich von Ihnen bisher immer nur Zustimmunggehört . Sie stellen wirklich eine fatale Politik für dieseLänder dar – es ist unsäglich –; denn sie zerstören dieStrukturen . Sie machen Kleinbauern arbeitslos . Sie klau-en den Menschen die Rohstoffe. Das hat nichts mit fai-rem Handel zu tun . Deshalb: Wenn Sie Fairhandel ernst-haft unterstützen wollen, dann helfen Sie mit, diese EPAszu stoppen .
Es ergibt auch gar keinen Sinn, Herr Müller, wenn Sieeinerseits schreiben, 1 Milliarde Euro für ländliche Ent-wicklung ausgeben zu wollen, um damit zum Beispieldie Kleinbauern in afrikanischen Ländern zu fördern,und andererseits eine Handelspolitik der EuropäischenUnion befürworten, mit der das Geschäft genau dieserKleinbauern durch billige Produkte aus Europa wiederplattgemacht wird . Das können Sie keinem Steuerzahlererklären, was Sie hier für eine Politik betreiben . Das istunverantwortlich .
Es ist auch kein Wunder, dass mittlerweile jede Wo-che Tausende Flüchtlinge aus Afrika vor Italien aus demMittelmeer gefischt werden müssen. Genau diese Han-delspolitik ist dafür verantwortlich, dass immer mehrMenschen auch aus Afrika flüchten müssen und sich aufden Weg nach Europa machen . Genau deswegen setzenwir uns seit Jahren für eine gerechte Handelspolitik ein .Sie ist überfällig .
Dann möchte ich noch etwas zu den Entscheidungenauf dem Valletta-Gipfel bezüglich der Entwicklungsgel-der sagen . Dort wurde beschlossen, dass nur noch dieLänder mehr Geld bekommen sollen, die bereit sind, diePolitik der Migrationsabwehr der Europäischen Unionzu unterstützen . Wer da nicht mitmacht, dem wird auchnoch mit der Streichung der Entwicklungsgelder gedroht .
Das ist keine Entwicklungspolitik, sondern das ist Er-pressung . Es instrumentalisiert die Entwicklungsgelderfür eine gezielte Bekämpfung der Flüchtlinge .Wir halten auch nichts davon, dass Sie jetzt anfan-gen, die Ausgaben für Flüchtlinge in Deutschland in dieODA-Quote einzurechnen, weil das nämlich bedeutet,dass real weniger Geld in die Länder des Südens fließtund Sie die ODA-Quote künstlich aufpumpen . Dadurchwird der Teufelskreis nicht durchbrochen, was nötigwäre, damit wir endlich die Fluchtursachen bekämpfenkönnen .
Wir setzen uns für eine nachhaltige Entwicklungsa-genda ein . Wir nehmen diesen Auftrag der Vereinten Na-tionen ernst . Genau deswegen ist die Handelspolitik einganz zentraler Bestandteil für eine Entwicklungspolitikgegen tödlichen Freihandel . Dagegen können Sie alleHeike Hänsel
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mitdemonstrieren, wenn Sie am 17 . September gegenCETA und TTIP auf die Straße gehen, und ein Zeichenfür gerechten Handel setzen .Danke schön .
Die Kollegin Michaela Engelmeier hat für die
SPD-Fraktion das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!50 Millionen Kinder sind ohne Heimat auf der Flucht .Jeder zweite Flüchtende ist minderjährig und flüchtet vorGewalt, Krieg, Hunger und Armut . So berichtet das Kin-derhilfswerk UNICEF heute in seinem ersten globalenBericht und zeigt damit auf, dass diese Zahl überpropor-tional hoch ist .Vor der Migrationskonferenz am 19 . und 20 . Novem-ber in New York ruft UNICEF dazu auf, Kinder – insbe-sondere solche ohne Begleitung – besser vor Gewalt undAusbeutung zu schützen . Wie das geht, steht geschrieben,und zwar in der UN-Kinderrechtskonvention . Mit ihr hatjedes Kind die gleichen Rechte . Es darf keine Rolle spie-len, an welchem Ort oder in welchem Land es aufwächst .Viel hat sich seit der Ratifizierung getan. Aber es gibtleider auch noch viel zu tun . Dabei hilft es nicht, blind-links Geld in die Hand zu nehmen und zu verteilen . Wennwir in der Entwicklungszusammenarbeit etwas erreichenwollen, müssen wir uns an die SDGs halten, um einenachhaltige Veränderung zu erreichen . Daher müssendie Haushaltsmittel, die uns dafür zur Verfügung stehen,auch so eingesetzt werden, dass ein verbindlicher Rah-men der Hilfe entsteht . Das können wir nicht nur durchSonderinitiativen erreichen . Dafür braucht es eine konti-nuierliche Investition in Maßnahmen und Projekte .
Eine dieser nachhaltigen Investitionen muss die Ge-burtenregistrierung betreffen. Wir müssen beim Le-bensstart dieser Kinder beginnen, wie wir es in unseremeinstimmig angenommenen Antrag „Bevölkerungssta-tistiken verbessern – Zivile Registrierungssysteme stär-ken“ parlamentarisch beschlossen haben . Wir wollendas verbriefte Recht von Kindern auf die Registrierungihrer Geburt, wie in Artikel 7 der UN-Kinderrechtskon-vention verankert, in die Tat umsetzen . Die Geburtenre-gistrierung ist ein Grundstein für die Verwirklichung vonKinderrechten . Denn ohne eine Geburtsurkunde habenKinder auch keine Bürgerrechte .
Zum Beispiel im Gesundheitsbereich sollte geprüftwerden, inwieweit eine Verzahnung von GAVI-Aktivitä-ten und Geburtenregistrierung sinnvoll ist . Wenn Kinderund Eltern zur Impfung erscheinen, können sie nachre-gistriert werden . Wir müssen dafür eine digitale Plattformerrichten, damit die unterschiedlichen Bedingungen dereinzelnen Länder besser berücksichtigt werden können .
Weiter ist es von zentraler Bedeutung, sich für einebessere Bildung zu engagieren . Dabei dürfen wir nichtnur auf Ausbildung und weiterführende Bildung setzen .Wir müssen uns gerade in fragilen Staaten mehr im Be-reich der grundständigen und auch in der frühkindlichenBildung aufstellen .Der ebenfalls diese Woche veröffentlichte Bericht derUNESCO macht deutlich, dass vor allem bei der Grund-bildung mehr investiert werden muss . Nach Schätzungender Vereinten Nationen fehlt es 60 Millionen Kindernweltweit an formaler Bildung . Ein Drittel dieser Kinderstammt aus Krisenregionen . Es ist aber nicht ausreichend,nur Verbesserungen in diesem Bereich zu fordern . Waswir brauchen, sind auch die entsprechenden finanziellenMittel, um Taten folgen zu lassen . Das ist übrigens aucheine gute Investition . Um es mit den Worten von NelsonMandela zu sagen: „Bildung ist die mächtigste Waffe, umdie Welt zu verändern .“ Ebenso formulierte es auch dieNobelpreisträgerin Malala .Bildung ist auf lange Sicht ein entscheidender Faktorbeim Wiederaufbau von Gesellschaften . Durch sie kannauch die Aussicht auf Erfolg von anderen Maßnahmendeutlich verbessert werden .Wir müssen aber auch auf das schauen, was – selbstwenn es Schulen gibt – Bildung verhindert . Ich nenne dieuns allen bekannten Übel der Bildungsbrüche: Kinder-arbeit, Kindersoldaten, IS-Zwangsrekrutierung, Frühver-heiratung und minderjährige Mütter .Zur Kinderarbeit . Weltweit gehen 168 Millionen Kin-der und Jugendliche zwischen 5 und 17 Jahren arbeiten .Das ist häufig die einzige Chance dafür, dass die Famili-en finanziell über die Runden kommen. Die gesundheit-lichen Folgen für die Kinder sind katastrophal, und diefehlende Bildung verbaut alle Chancen auf eine bessereLebensperspektive .Im vergangenen Jahr waren wir in Pakistan, wo wireine Kohlenmine besichtigt haben . Dort haben wir sie-benjährige kleine Jungen arbeiten sehen . Sie holen –übrigens ohne Schutz und barfuß – zehn Stunden amTag die Kohlen aus den Minen heraus, weil ihre ElternSchuldknechte des Minenbesitzers sind . Das hat mich,wenn ich das sagen darf, nachhaltig beeindruckt .Zur Frühehe . Die Müttersterblichkeit ist eines dergrößten ungelösten Probleme in der Entwicklungszu-sammenarbeit . Eine Ursache ist unter anderem auch dieFrühehe . UNICEF schätzt, dass jedes Jahr 10 bis 14 Mil-lionen Mädchen gegen ihren Willen verheiratet werden .Es ist riskant für Mutter und Kind, wenn die Mutter sofrüh ein Kind bekommt . Dieses Problem ist durch dieFlüchtlinge übrigens auch in Deutschland angekommen .Auch hier müssen wir uns im Parlament für eine Verän-Heike Hänsel
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derung starkmachen . Herr Silberhorn, ich nehme gernIhre Formulierung aus der Ausschusssitzung auf: Die Zu-kunft von Mädchen darf nicht unter einem Brautschleierbegraben werden .
Mein Votum: Wir dürfen in Deutschland keine Frühehenanerkennen oder dulden . Hier gibt es gesetzgeberischenHandlungsbedarf .Zu den Kindersoldaten . Zu viele Kinder leiden nichtnur an Hunger, Durst und Krankheit, sondern auch anGewalt . Dazu gehört nicht nur, dass sie Gewalt erleiden,sondern auch, dass sie Gewalt ausüben müssen . Sie erlei-den als Teil von bewaffneten Gruppen und Armeen uner-messliches Leid . Die meisten von ihnen sind ihr Lebenlang traumatisiert, haben keine Schulbildung erhaltenund haben somit keine Chance auf eine normale Zukunft .Nach wie vor sind etwa 250 000 Kinder in mindes-tens 19 Ländern als Kindersoldaten aktiv . Zurzeit ist esübrigens vor allem der „Islamische Staat“, der mit seinerfanatischen Ideologie Kinder manipuliert, sie als Selbst-mordattentäter in den Tod schickt oder als Henker miss-braucht .Ich komme zu einem ähnlichen Problem, das ich er-wähne, weil wir gerade in der Debatte um den Haushaltsind . Wir müssen auch einmal genauer hinsehen, wohindie deutschen Hilfsgelder fließen und wie sie zum Bei-spiel von NGOs verwendet werden . Erst kürzlich gab esBerichte über einen sogenannten Märtyrerfonds in denpalästinensischen Autonomiegebieten, mit dem Fami-lien und Angehörige getöteter Terroristen in Millionen-höhe unterstützt werden, wenn sie eines ihrer Kinderals Selbstmordattentäter auf den Weg schicken . Das istMissbrauch von Hilfsgeldern!
Ebenso gilt es auch, genau hinzusehen, was anUN-Schulen passiert, damit diese nicht durch Ideologiezu Institutionen der Erziehung zum Hass werden . Wenndie Bundesrepublik Deutschland Mittel für die Entwick-lung in die Hand nimmt, muss sichergestellt werden, dasssie ihren Zweck erfüllen und nicht missbraucht werden .Zum Schluss möchte ich hier noch einmal deutlich be-tonen: Ohne grundlegende Bildung ist keine nachhaltigeEntwicklung möglich . Darum gilt es, verstärkt in Bil-dung zu investieren und Ursachen für Bildungsbrüche zubeseitigen . Nur so sind wir glaubwürdig, wenn wir davonreden, dass wir Fluchtursachen bekämpfen wollen .
Das Wort hat der Kollege Uwe Kekeritz für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen .
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Könnte es sein, Herr Minister, dass wir Ihre Rede schondrei- oder viermal gehört haben? Glauben Sie nicht, dassdas Kritik ist . Ich freue mich immer wieder, wenn wiraus Teilen Ihrer Rede grüne Programmatik heraushören .Aber es wäre doch schön, wenn Sie sich mal mit derBundeskanzlerin zusammensetzen und klären würden,was zu tun ist, damit dann doch am Schluss etwas mehrherauskommt .
Der Aufwuchs – wir haben es heute gehört – ist da,er reicht aber nicht aus . Das möchte ich mit einem ein-zigen Beispiel, nämlich dem Global Fund, belegen .Sie erinnern sich: Unter Frau Wieczorek-Zeul wurdeer eingeführt . Seitdem gibt es für ihn jedes Jahr – seit13 Jahren – 200 Millionen Euro. Wenn wir die Inflationund die Währungskursschwankungen der letzten Jahrenehmen, dann wird klar, dass der Global Fund von unsheute effektiv 30 Prozent – wahrscheinlich sind es sogar40 Prozent – weniger an Kaufkraft zur Verfügung gestelltbekommt als vor 14 Jahren . Damit werden wir unsererinternationalen Verpflichtung in diesem Bereich nichtgerecht .Herr Minister, Sie stecken lieber weitere Mittel in dasmehr als fragwürdige Konstrukt der Sonderinitiativen;das wurde schon problematisiert . Statt auf Nachhaltigkeitzu setzen, bauen Sie ineffektive Parallelstrukturen auf.Genauso wie Ihr Vorgänger bauen Sie nicht auf Multila-teralismus, sondern auf bilaterale Strukturen . Angesichtsder globalen Herausforderungen ist das ein rückwärtsge-wandtes, falsches, aber auch fatales Signal an die Welt-gemeinschaft .
Lassen Sie mich zu den Fluchtursachen kommen .Überall tragen Sie, Herr Minister, mantraartig vor, wieFluchtursachen bekämpft werden sollen . Natürlich müs-sen wir Fluchtursachen bekämpfen . Aber davon sind wirweit weg . Ich habe sogar den Eindruck, dass wir davonimmer weiter wegkommen . Diese Bundesregierung be-kämpft im Schulterschluss mit der EU Flüchtlinge anstattFluchtursachen . Das hilft langfristig gar nicht .
Wer ernsthaft Fluchtursachen bekämpfen will, muss füreine Veränderung der globalen Strukturen eintreten . Ge-nau das verhindert diese Regierung bei jeder sich ihr bie-tenden Möglichkeit .Nehmen wir als Beispiel den Handel . Es ist der un-faire Handel, der global die Ungleichheit vorantreibt,und zwar nicht nur innerhalb der Nationen, sondern auchzwischen den Nationen . Es ist der unfaire Handel, derEntwicklungschancen der Länder reduziert und damitFluchtursachen vergrößert . In Ihren Sonntagsreden ge-ben Sie sich als großer Versteher, der den Handel mas-siv kritisiert . Man könnte fast Respekt davor bekommen .Doch wo bleibt Ihre Kritik an den Handelsverträgen derEU mit den afrikanischen Ländern?
Michaela Engelmeier
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Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 186 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 7 . September 201618498
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Das BMZ ist für diese Verträge federführend zuständig .Immer da, wo Sie konkret Einfluss nehmen müssten, istes verdammt still um Ihre Aktivitäten . Da merkt mannichts .
Nach 14 Jahren sind diese Verträge noch immer nichtunter Dach und Fach . Wenn diese Verträge wirklich posi-tiv für die afrikanischen Staaten wären, wären sie schonlängst unterschrieben . Die Erklärung, die ich aus IhremHause höre, dass die afrikanischen Länder nur nicht be-greifen würden, welche Vorteile sie aus den Verträgenziehen könnten, halte ich für dreist . Gerade mit Handels-verträgen für Entwicklungsländer könnten Impulse fürpositive Entwicklungen gesetzt werden . Damit könnteman auch den Fluchtdruck reduzieren . Aber hier sehe ichvon Ihnen keinerlei Initiativen .Wer den Menschen ein Leben als Flüchtling ersparenwill, muss auch bäuerliche Strukturen fördern . Was ma-chen Sie, Herr Minister? Sie lassen grüne Zentren ausdem Boden stampfen, deren Wirkung zweifelhaft ist . Si-cher ist nur, dass die deutsche Agrarindustrie davon pro-fitiert. Wem ernsthaft daran gelegen ist, Ursachen stattSymptome zu bekämpfen, muss sich für eine faire Be-steuerung multinationaler Konzerne einsetzen .
Aber auf der Finanzierungskonferenz in Addis Abeba2015 sprach sich das OECD-Mitglied Deutschland gegeneine Stärkung der UN-Steuerkommission aus . Nur dieseKommission wäre völkerrechtlich legitimiert, die globa-le Finanz- und Steuerarchitektur zu reformieren . Aberdas verhindert die OECD . Zur Erinnerung: Die OECDist der Klub der 34 reichsten Länder dieser Erde . Die Ge-staltung der Finanz- und Steuerarchitektur lässt sich dieOECD nicht aus den Händen nehmen . So kann globaleZukunft nicht gestaltet werden .
Wer Fluchtursachen bekämpfen will, muss sich fürverbindliche Öko- und Sozialstandards in der globalenLieferkette einsetzen . Was macht unser Herr Minister? Erstampft ein Textilbündnis aus dem Boden – da haben wirunterschiedliche Einschätzungen –, das der Textilindus-trie staatlich gefördertes Fairwashing ermöglicht, wofürsich diese schön bedankt . Als Mitglied im Bundessicher-heitsrat, Herr Minister, müssten Sie Ihren massiven Pro-test bei einer Vielzahl der Waffenexportgenehmigungenzum Ausdruck bringen .
Aber gerade beim Waffenexport haben Sie als Ministervon Seehofers Gnaden einfach nicht den Mut, gegen dieInteressen der bayerischen Rüstungsbetriebe den Mundaufzumachen .Eine neue Fehlleistung, die nichts mit Entwicklungs-politik zu tun hat, für die aber Ihr Haus verantwortlichist, ist das sogenannte Grenzmanagementprogramm . UmMenschen daran zu hindern, das Land zu verlassen oderzu fliehen, ist man inzwischen bereit, mit Despoten zu-sammenzuarbeiten . Die EU und die Bundesregierungmachen den Kotau nicht nur vor Erdogan, sondern auchvor Regimen, die Wahlen manipulieren, Menschenrecht-ler und Journalisten einsperren und foltern, die verant-wortlich für schwerste Menschenrechtsverletzungen sindoder deren Repräsentanten international steckbrieflichgesucht werden . Herr Minister, wenn Sie Ihre Glaub-würdigkeit zurückgewinnen wollen – das empfehle ichIhnen –, dann sollten Sie sich bitte schön für eine anderePolitik einsetzen .Danke schön .
Das Wort hat die Kollegin Dagmar Wöhrl für die
CDU/CSU-Fraktion .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir haben heute die erste Lesung des Haushaltes . Alswir letztes Jahr die erste Lesung des Haushaltes hatten,kamen täglich noch über 1 000 Flüchtlinge zu uns . DieZahlen sind zurückgegangen . Das heißt aber nicht, dasswir in unseren Anstrengungen nachlassen dürfen . ImGegenteil: Ich glaube, wir brauchen eher mehr Entwick-lungszusammenarbeit als weniger Entwicklungszusam-menarbeit .Wir führen leider die Debatten, gerade die Flücht-lingsdebatte, immer noch zu sehr auf uns bezogen .Flüchtlinge sind aber keine deutsche oder europäischeAngelegenheit, sondern eine globale, eine weltweite An-gelegenheit . Schauen wir uns die Zahlen des UNHCRan: Über 65,8 Millionen Menschen sind auf der Flucht .Das ist ein Zuwachs von fast 7 Millionen Menschen in-nerhalb eines Jahres . Wenn man dann noch sieht, dassnur 200 000 Flüchtlinge zurückgeführt worden sind oderin ihre Heimatländer zurückgegangen sind, erkennt manden Aufwuchs .Frau Engelmeier, ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Siedas Thema Kinder angesprochen haben . Denn 51 Pro-zent der Flüchtlinge sind Kinder, meistens Kleinkinder .150 000 Kinder sind mittlerweile während der Flucht ih-rer Eltern auf die Welt gekommen . Jedes neunte Kind aufder Welt lebt in einem Krisengebiet . 250 Millionen Kin-der erleben jeden Tag Krieg . Das Schlimme an dieser Sa-che ist, dass inzwischen Gewalt gegen Kinder als Kriegs-waffe eingesetzt wird, um die Eltern zu demoralisieren:ob das Entführung ist, ob das Vergewaltigung ist – dasgeht hin bis zur Folter und Tötung von kleinen Kindern .Deswegen müssen wir schauen, dass wir Rettungs-modelle schaffen, damit die Kinder aus diesem Kreislaufherauskommen . Diese Kinder sind die Lost Generation,die, wenn sie erwachsen sind, mit unseren Kindern undKindeskindern später zusammen auf dieser Welt leben .Wichtig ist in diesem Zusammenhang der Dreiklangvon Ausbildung, Beschäftigung und Schule . Das müs-sen wir organisieren . Ich bin dankbar, dass wir es geradeUwe Kekeritz
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in Syrien und Syriens Nachbarländern geschafft haben,mit deutschem Geld in drei Jahren für 500 000 SchülerSchulplätze zu schaffen. Dafür ein ganz herzliches Dan-keschön .
Die Krisen werden leider nicht weniger . Das hören wirjeden Tag in den Debatten, das sehen wir jeden Tag inden Medien . Nigeria, Kamerun, Niger, Tschad – 2,6 Mil-lionen Menschen sind inzwischen in dieser Region aufder Flucht allein wegen Boko Haram . In Afghanistan rü-cken die Taliban wieder vor . Dort gibt es inzwischen wie-der 1,2 Millionen Binnenflüchtlinge. Aus dem Südsudansind allein innerhalb der letzten Wochen 70 000 Men-schen geflohen.Zu den Kriegen, die die Menschen in die Fluchttreiben, kommen noch andere Ursachen . Das sind derKlimawandel, El Niño, Dürrekatastrophen; MillionenMenschen sind vom Hungertod bedroht . Das Bevölke-rungswachstum in den afrikanischen Staaten ist schonangesprochen worden . Das wird uns in der Zukunft vorganz große Herausforderungen stellen .Auch in Syrien zeichnet sich momentan leider kei-ne Lösung der Krise ab, sodass wir sagen könnten: Wirschaffen es, die 4,6 Millionen Flüchtlinge aus Syrien, diein die Nachbarländer Jordanien, Libanon und Türkei ge-flohen sind, zurückzuführen. Für uns ist es wichtig, dassgerade die Nachbarländer, in denen sich die Flüchtlingeaufhalten, weil sie nicht zurückkönnen, da wir politischnoch nicht zu einer Lösung gekommen sind, nicht voll-kommen destabilisiert werden .Wir konnten allein dieses Jahr mit deutschem Geld4,2 Millionen Syrer in Syrien ernähren, weil wir dasWorld Food Programme mit Mitteln ausgestattet haben .Wir haben 1,2 Millionen Syrer auf der Flucht mit Nah-rungsmitteln versorgen können . Ich glaube, das ist sehrgut angelegtes Geld .Den Nachbarländern von Syrien – ich habe es ange-sprochen – droht Destabilisierung . Die Stimmung kippt .Die Lage spitzt sich zu . Nach fast sechs Jahren syrischemKrieg kommen Flüchtlinge mit dem wenigen, was sienoch haben, immer noch an . Viele haben einiges ver-kauft, ob es eine Firma war, ihr Haus oder anderes – wennsie dazu noch Zeit hatten . Ihr Geld ist aufgebraucht . Dasheißt, es besteht ein Konkurrenzdruck, auch ein Konkur-renzdenken zwischen einheimischer Bevölkerung undden Flüchtlingen . Die Jugendarbeitslosigkeit steigt .Der IS breitet sich inzwischen leider auch in Jordani-en aus . Wir haben hier jetzt den ersten Anschlag des ISerlebt. Wir müssen schauen, dass wir es schaffen, diesenStabilitätsanker, der Jordanien ja noch ist, zu halten . Des-wegen ist auch der Jordan Compact, den wir vereinbarthaben, ein wichtiges Thema . 200 000 Arbeitserlaubnissefür syrische Flüchtlinge, Bildungsmöglichkeiten für dieFlüchtlingskinder, aber auch Bildungsmöglichkeiten fürdie Kinder in den Gemeinden, wo die Flüchtlinge sind:Wir müssen darauf schauen, dass wir hier eine Harmo-nie hinbekommen in den Gemeinden, wo die Flüchtlingeaufgenommen werden, damit die Diskrepanz in dem Zu-sammenhang nicht noch stärker wird .
Auch im Libanon werden die Spannungen angesichtsvon mehr als 1 Million Flüchtlingen nicht weniger, son-dern mehr . Inzwischen leben 75 Prozent der Flüchtlingein Jordanien in absoluter Armut . Vor zwei Jahren warenes noch 50 Prozent; jetzt sind es 75 Prozent . Auch derenErsparnisse sind aufgebraucht . Die Hälfte der Kinder be-sucht keine Schule . Über ein Drittel der unter 14-Jähri-gen arbeitet .Ich bin auch froh über das Cash-for-Work-Programm .Wir wollen insgesamt 200 000 Menschen in Arbeit brin-gen . Mit 1 Euro – es ist schon angesprochen worden, inwas wir investieren, auch in Infrastruktur und vieles an-dere mehr – kann man dort das 30-Fache dessen schaf-fen, was man hier in Deutschland für dieses Geld machenkönnte .Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind froh umjedes bisher vom IS besetzte Gebiet, das zurückerobertwird . Aber leider kommt es bei der Vertreibung des ISunweigerlich auch zu negativen Erscheinungen . Es kom-men neue Flüchtlingswellen. Die Bevölkerung flieht,weil sie Angst hat, von den Terroristen als Schutzschildmissbraucht zu werden . Ich erinnere an Falludscha mit90 000 Flüchtlingen . Allein in Mossul rechnen wir jetztmit 1 Million zusätzlichen Flüchtlingen . Natürlich giltes, zuerst die Versorgung, das Humanitäre zu gewähr-leisten, die Menschen zu unterstützen . Aber wir müssenauch schauen, dass wir Rückkehrperspektiven eröffnen,sodass sie zurückkehren können, dass wir auch den Wie-deraufbau mit ihnen begleiten können, dass sie künftigdort ein würdiges Leben führen können .Das heißt, mit der Vertreibung des IS werden die Pro-bleme nicht weniger, damit sind nicht alle Probleme ge-löst, sondern es gibt noch viele Herausforderungen füruns . Viele Menschen, die in den besetzten Gebieten wa-ren, blicken natürlich mit Freude auf die Befreiung . Aberes gibt auch viele, die mit Sorge auf die Befreier schauen .Deswegen müssen wir sehen, dass wir dazu beitragen,dass keine neuen Spannungen und Konflikte durch Ra-cheakte der Befreier an der Bevölkerung entstehen, diewährend der IS-Herrschaft wirklich oder angeblich mitdem IS kooperiert hat .Es gibt Machtansprüche schiitischer und kurdischerBefreier in Gebieten, wo mehrheitlich Sunniten leben:Wir müssen hier schauen, dass wir eine Grundlage schaf-fen für ein friedliches Zusammenleben der einzelnenGruppen in der Zukunft – eine riesige Herausforderung .Abbau von ethnisch-religiösen Spannungen, auch mitBlick auf die Christen in diesem Land: Das heißt Ver-söhnungsarbeit . Ferner sind zu nennen: Programme derIntegration, auch von ehemaligen Kämpfern, in die Ge-sellschaft, Programme zur Beförderung des religiösenDialogs, das heißt auch Maßnahmen zur Einbindungvon Minderheiten . Das heißt, in der Zukunft wird nichtnur wichtig sein, dass wir planen, wirtschaftliche Maß-nahmen durchzuführen, etwa Wiederaufbaumaßnahmendurchzuführen, Gesundheitsversorgungsstationen zuDagmar G. Wöhrl
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bauen und vieles andere mehr; sondern wir müssen auchProgramme für Konfliktbewältigung schaffen. Wir müs-sen ferner Programme für Prävention schaffen, sodassnicht wieder alte Konflikte durch neue ersetzt werdenund Konflikte dadurch wieder ausbrechen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit dies alles be-wältigt werden kann, gab es viele große Geberkonferen-zen.Viele haben finanzielle Zusagen gemacht. Ich kannnur appellieren, dass diese Zusagen
zukünftig auch eingehalten werden .
Wir alle haben uns gefreut, als es geheißen hat, dassvon den 9 Milliarden Euro, die in London auf der Geber-konferenz vereinbart worden sind, 1,4 Milliarden Euroin die Schulbildung gegeben werden, für Kinder, die aufder Flucht sind . Fakt ist, dass erst 400 Millionen Euroeingegangen sind und dass die Hälfte der Kinder, die ei-gentlich schon in der Schule hätten sein müssen, nichtin der Schule sind . Ich bin froh, dass Deutschland seineZusagen wirklich vollständig und als Erster erfüllt hat .Dafür, dass wir hier wirklich Vorreiter der internationa-len Gemeinschaft in diesem Bereich sind, auch deinemHaus, lieber Gerd Müller, ein herzliches Dankeschön!
Ich möchte damit schließen, dass ich Danke sage andie vielen, die vor Ort sind, an unsere Durchführungs-organisationen, an die vielen Entwicklungshelfer . Wirreden hier über Zahlen und vieles andere – sicher, ohneGeld geht es nicht; das ist klar –; aber die vor Ort haltenihren Kopf hin . Ich glaube, das ist keine einfache Auf-gabe; es ist eine schwierige Aufgabe . Wenn man Tag fürTag das Elend sieht, dann kann man einfach nicht ab-stumpfen . In dem Sinne ein herzlicher Dank an alle, dievor Ort sind, an unsere GIZ, an unsere Durchführungs-organisationen, an UNICEF und viele andere mehr, diefür uns draußen in der Welt die Aufgaben erledigen . Aufeine bessere Welt!Vielen Dank .
Die Ankündigung des Endes der Rede ersetzt den
Schlusspunkt nicht . Wir haben Ihnen schon die einge-
sparte Minute zusätzlich gegeben . – Ich bitte jetzt alle
folgenden Rednerinnen und Redner, sich an die Verabre-
dungen zu halten .
Die Kollegin Gabi Weber hat für die SPD-Fraktion
das Wort .
Sehr geehrte Frau Präsidentin, ich hoffe, dass ich die-ser Erwartung gerecht werde . Mal sehen!Der Entwurf des Einzelplans 23 für 2017 ist zumzweiten Mal in Folge der höchste Etat in der Geschich-te des Entwicklungsministeriums . Mit Gesamtausgabenin Höhe von knapp 8 Milliarden Euro sind 580 Millio-nen Euro mehr vorgesehen als im Haushalt 2016 . Dasentspricht einer Steigerung von über 7 Prozent . Daskann sich durchaus sehen lassen . Die Kanzlerin hattefür Deutschland während unserer G-7-Präsidentschaftzugesagt, dass wir uns im Entwicklungsbereich stärkerengagieren werden . Dazu ist dieser Haushaltsentwurf zu-mindest ein guter Schritt .Wenn man sich anschaut, wer von dieser Erhöhungprofitiert, stellt man fest: Es ist insbesondere die bila-terale staatliche Entwicklungszusammenarbeit mit über527 Millionen Euro mehr als bisher. Die Verpflich-tungsermächtigungen – darauf sollten wir vielleichtnoch einmal schauen, Frau Weiss – werden um mehr als1,5 Milliarden Euro auf insgesamt 8,9 Milliarden Euroerhöht . Diese Erhöhung ist vor allem auf die geplanteBeteiligung Deutschlands an der 18. Wiederauffüllungder Mittel der Internationalen Entwicklungsorganisationzurückzuführen . Sie ist deshalb wichtig, weil sie als Ein-richtung der Weltbank zinslose Kredite und Zuschüsse andie Ärmsten ihrer Mitglieder vergibt .Wie Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, habenHaushaltsdebatten – das haben wir eben miterlebt – sehrviel mit Zahlen zu tun, und das ist schon sehr ermüdend .Trotzdem ist es wichtig, sich diese Zahlen anzuschauen,sie aber auch politisch greifbar zu machen für die Men-schen, die diese Debatte verfolgen – sei es hier, sei esaber auch an anderer Stelle –, damit sie ein bisschen ver-stehen, um was es hier eigentlich geht .Was machen wir mit diesem Mehr an Geld konkret?Wir erhöhen die Ausgaben für die Bekämpfung vonKrisen und Fluchtursachen, wir stärken die bilateralestaatliche Entwicklungszusammenarbeit mit den Partner-ländern direkt, und wir erhöhen die Möglichkeiten des zi-vilgesellschaftlichen Engagements; da werden 34 Millio-nen Euro mehr gegeben, um Kirchen und private Trägerzu unterstützen und die Sozialstruktur zu fördern . Leiderwird der Etat des Zivilen Friedensdienstes nicht erhöht .
Im Bereich der Förderung von Medien, des Zugangs zuInformationen und der Meinungsfreiheit in unseren Ko-operationsländern durch die Deutsche Welle Akademiewird der Mittelansatz sogar um 3 Millionen Euro ge-kürzt . Das halte ich für nicht zielführend . Hier bestehtwährend der Beratungen unbedingt Handlungsbedarf .
Natürlich wünsche ich mir als Fachpolitikerin immernoch mehr Mittel für die vielen Ausgaben, die wir in derEntwicklungszusammenarbeit stemmen müssen . Fluchthat Ursachen, und deren Verminderung kostet nun ein-mal Geld, Geld, das aber gut angelegt ist; denn es hilft,den Menschen in ihrer Heimat Möglichkeiten für ein bes-Dagmar G. Wöhrl
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seres und sicheres Leben zu eröffnen. Menschen, die so-wohl materielle als auch ideelle und politische Freiräumehaben, müssen und wollen nicht fliehen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich erwähnte ein-gangs, dass es mir wichtig ist, nicht nur über das Zahlen-werk zu sprechen . Was erleben wir, wenn wir unterwegssind, was mit diesem Geld geschieht? Ich war in der letz-ten Woche mit Staatssekretär Thomas Silberhorn auf ei-ner sehr informativen Reise in Israel und den palästinen-sischen Gebieten . Wir haben geschaut, wie unsere Arbeitim Entwicklungsbereich dort funktioniert, die allerdingsnicht störungsfrei vonstattengeht . Umso wichtiger ist es,genau hinzuschauen .Ich bin dabei auf einen Verein aus dem Wendland ge-stoßen – vielleicht haben Sie den Namen schon einmalgehört –, KURVE Wustrow, der eine wunderbare Arbeitleistet und seine Erfahrungen aus den gewaltfreien Ak-tionen der Antiatombewegung zur Konfliktentspannungin Israel und Palästina umsetzt . Er arbeitet mit Partner-organisationen in der Westbank, aber auch mit Frauen inIsrael zusammen . Dazu kann man nur sagen: Das ist zi-vile Krisenprävention im besten Sinne . Davon brauchenwir mehr .
In meiner Heimatregion gibt es mit dem Verein Eire-ne einen internationalen Friedensdienst . Ich habe seineExpertise bei meinen Bemühungen für Burundi und dieBefriedung des dortigen Konfliktes kennen- und schät-zen gelernt . Vor allem aber ist diese Organisation nochdort, wo alle anderen gegangen sind, zum Beispiel imOstkongo, in einem vergessenen Konflikt. Auch dort gehtes darum, die Arbeit zu verstetigen und den Menschendie Möglichkeit zu geben, zu bleiben . Das sollte nichtmit einmaligen Summen für ein Jahr sichergestellt wer-den . Hier muss es eine vertrauensvolle langfristige Arbeitgeben, und dafür wird mehr Geld gebraucht und nichtweniger .
Darüber hinaus brauchen wir Möglichkeiten, um jenezu unterstützen, die Medienkompetenz vermitteln . Sobraucht die Deutsche Welle ebenfalls mehr Geld . Wirsollten auch Organisationen wie Reporter ohne Grenzenverstärkt unterstützen,
da auch dort eine wichtige Arbeit geleistet wird . Sie un-terstützen jene, die in ihren Ländern keine Möglichkeitenhaben, für offene Kommunikation zu sorgen.
Diese Beispiele verdeutlichen, warum ich es für abso-lut notwendig halte, Kürzungen zu korrigieren und einenAufwuchs an anderen Stellen vorzunehmen .Ich versuche, mit einer Minute hinzukommen . – Ent-wicklung braucht Zeit, Konfliktprävention und Krisen-nachsorge ebenso . Wir brauchen keine kurzfristigen Ant-worten auf aktuelle Flüchtlingsströme, sondern müssenunsere Entwicklungszusammenarbeit langfristig verste-tigen und vernünftig aufbauen und aufwachsen lassen .Ein wichtiger Punkt in diesem Zusammenhang: Woherkommt das Geld? Dazu gehört für mich immer noch dieFinanztransaktionsteuer . Sie darf nicht beerdigt werden .
Sie soll uns Mehreinnahmen bringen, um diese Versteti-gung hinzubekommen . Ich denke, ich brauche an dieserStelle nichts zum Bundesfinanzministerium zu sagen.Im Übrigen bin ich der Meinung, dass wir uns bei derzügigen Erreichung der ODA-Quote von 0,7 Prozentnicht auf die jetzige Steigerung verlassen dürfen . Die An-rechnung der Flüchtlingskosten in Deutschland ist zwarOECD-konform; aber wir sollten immer beide Quoten –mit und ohne Flüchtlingskosten – ausweisen, damit wireine Orientierung haben . EZ-Geld, das in den Herkunfts-ländern der Geflüchteten ausgegeben wird, hilft unsmehr, die Fluchtursachen zu bekämpfen . Bei uns scheintes durch die Anrechnung nur Symptome zu lindern .Vielen Dank .
Der Kollege Volkmar Klein hat für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wir haben ja heute, wie ich meine, schon sehreindrückliche Schilderungen der allgemeinen Rahmen-bedingungen gehört, eben durch Minister Gerd Müller,aber heute Morgen auch schon durch die Bundeskanzle-rin und Volker Kauder . Im internationalen Umfeld – imGrunde könnte man besser von der internationalen Fragi-lität sprechen, in der wir uns auch als Haushaltsgesetzge-ber bewegen – erleben wir, dass viele Menschen in vie-len Ländern einfach keine Chance haben, dass sie keinePerspektiven in ihrem eigenen Land sehen . Das Lebenin Lagern wird natürlich immer unbefriedigend bleiben;aber selbst in friedlichen Ländern gibt es mangels Chan-cen eine enorme Landflucht. Beispielsweise wandern dieMenschen in den Subsahara-Ländern aus dem Nordenin die südlicher gelegenen Hauptstädte nach Lomé odernach Accra und sorgen da für immer größer werdendeProbleme .Viele bei uns im Land sagen: Das alles sind doch nichtunsere Probleme . Wir haben genug eigene Probleme . –Das sind Klagen auf hohem Niveau; aber, geschürt vonPopulisten von links und rechts, wird ja ein bisschen dasGefühl vermeintlicher Benachteiligung kultiviert . Dabeiist in Wirklichkeit das, was wir an Rahmenbedingungengeschildert bekommen haben, schon unser Problem: ei-Gabi Weber
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nerseits ethisch – unsere Verantwortung für den Nächstenendet eben nicht an unseren Grenzen –,
dann aber auch ganz praktisch . Die Probleme mögenzwar in anderen Teilen der Welt entstanden sein . Siekommen aber zu uns, wenn wir nicht sehr viel mehr tun,um Fluchtursachen zu bekämpfen .In diesem allgemeinen Umfeld ist, denke ich, der Ent-wurf für den Gesamthaushalt 2017 eine ziemlich guteAntwort, vor allen Dingen die davon ausgehende Stabi-lität . In dem weltweit fragilen Umfeld gilt Deutschlandals Hort der Stabilität . Das ist auch wichtig; denn mitunserer Stabilität und Bonität können wir vielen helfenund segensreich in unserer näheren und weiteren Umge-bung wirken . Von dem Signal über Jahre ausgeglichenerHaushalte gehen Zuversicht und Zukunftsvertrauen aus .Das ist im Grunde genommen die Grundlage für weitereInvestitionen und eine auch künftig erfolgreiche wirt-schaftliche Entwicklung . Die brauchen wir aber auch,um stark zu bleiben .
Das kann man auch am Haushalt des BMZ sehen . DerEinzelplan 23 ist, wie ich glaube, die richtige Antwort aufdie genannten Probleme; im Übrigen lebt er aber auchvon langfristiger Stabilität . Das kann man auch an Zah-len festmachen . Sabine Weiss hat eben beklagt, dass imBereich der Finanziellen Zusammenarbeit die Verpflich-tungsermächtigungen im Entwurf ein Stück niedriger an-gesetzt sind . Aber es handelt sich ja um einen Entwurf,und über all diese Fragen werden wir in den nächstenWochen intensiv beraten .Insgesamt betragen die im Haushaltsentwurf ausge-brachten Verpflichtungsermächtigungen 8,9 MilliardenEuro . Sie sind damit deutlich angestiegen und summie-ren sich dann, wenn wir diesen Haushalt beschlossenhaben, auf ausstehende Verpflichtungsermächtigungenin Höhe von 42 Milliarden Euro, und zwar nur im Ein-zelplan 23 . Das heißt, wir versprechen für die Zukunft,diese 42 Milliarden Euro aufzubringen und einzusetzen .Das geht natürlich nur, wenn wir stark bleiben und die-se Gelder unsererseits überhaupt erst erarbeiten können .Deswegen: Stabilität ist die Grundlage erfolgreicher Ent-wicklungszusammenarbeit .
Wir brauchen aber natürlich auch jetzt sofort Geld undnicht nur für künftige Verpflichtungsermächtigungen.Der Ansatz für unseren Einzelplan steigt allerdings auch2017 weiter deutlich, nämlich von 7,4 auf rund 8 Milli-arden Euro . Man muss sich einmal daran erinnern, dass2005 noch eine 3 vor dem Komma stand . Daran wirdklar, dass in den letzten Jahren eine wahnsinnig großeSteigerung gelungen ist .Dieses Geld wird aber auch gebraucht, und zwar fürdie Menschen rund um Syrien . Wir haben schon Bei-spiele gehört: Cash for Work ist ein wirklich hilfreichesInstrument, die Bezahlung von Lehrern in Lagern fürsyrische Kinder in der Türkei . Nebenbei ist es auch einProdukt guter deutsch-türkischer Zusammenarbeit . – Dasalles ist sehr wichtig, aber im Grunde nicht die Entwick-lungszusammenarbeit, die ich mir vorstelle; denn eigent-lich ist das nur Solidarität, die ohne Bürgerkrieg gar nichtnötig gewesen wäre . Wir dürfen angesichts der aktuellenProbleme die langfristige Entwicklungszusammenarbeitmit Afrika nicht vergessen . Die Dynamik in Afrika istleider sehr viel kleiner als beispielsweise in den Län-dern Asiens, wo viele Länder längst raus sind aus demBereich der Entwicklungszusammenarbeit . Dabei gibtes ein tolles afrikanisches Sprichwort: Bewirte deinenFreund zwei Tage lang, am dritten Tag drücke ihm eineHacke in die Hand. – Ich finde, das ist ein grandiosesSprichwort . Der Freund muss selbst etwas leisten . Hilfezur Selbsthilfe . Hängematte ist nicht, sagt das afrikani-sche Sprichwort .Das ist es, über das wir immer wieder neu nachden-ken müssen: Was ist Hilfe zur Selbsthilfe? Ausbildungnatürlich . Die meisten Länder sind begeistert, teilhabenzu können an unseren Erfahrungen mit dem dualen Aus-bildungssystem . Gesundheit ist auch ein Stück Hilfe zurSelbsthilfe .Ich komme gerade von einer Veranstaltung desGFATM . „No wealth without health“ war das Motto . Ge-nau richtig . Deswegen ist es auch richtig, dass wir denGlobalen Fonds auch in Zukunft stark unterstützen, si-cher auch mehr, als jetzt auf dem Papier steht . Der Glo-bale Fonds war in der Vergangenheit allerdings relativwenig flexibel, was die nationalen Beistellungen angeht.Vielleicht hat die zwischenzeitliche Erfahrung bei GAVIfür eine größere Flexibilität gesorgt . In Zukunft sind na-tionale Beistellungen möglich . Ich glaube, dass wir miteinem ordentlichen und sehr viel höheren Angebot als675 Millionen Euro in der nächsten Woche bei der Kon-ferenz in Kanada sein können .Also: Ausbildung und Gesundheit sind wichtig . Aberam Ende werden Jobs gebraucht . Es wird sich selbst tra-gende Arbeit gebraucht und damit das Empfinden derMenschen, Chancen zu haben . Gerade wurden schonReiseberichte ausgetauscht . Ich war letzte Woche inTogo: ganz süß, liebevolle Ausbildung für Schlosser . Diehaben sogar Kleinstöfen gebaut . Die Maurer nebenanhatten ganz simple handbetriebene Formen, Maschinenfür Ziegelsteine . Die haben sie noch nicht einmal selbergebaut, sondern importiert . Wenn aber jemand Schlosserlernt, dann muss ihm doch auch ein Unternehmergeistmit auf den Weg gegeben werden . Bei uns heißt „dualeAusbildung“ doch nicht nur, Kenntnisse weiterzugeben,sondern, die Grundlage für Unternehmer zu schaffen, da-mit sie anschließend Arbeitsplätze schaffen und eine sichselbst tragende Entwicklung in Gang setzen .Ich glaube, wir brauchen viel mehr Ideen . Wir müssenmehr mit der Wirtschaft zusammenarbeiten, und zwarnicht nur mit unserer, deren Investitionen dringend ge-braucht werden . Wir brauchen mehr Zusammenarbeit mitder Wirtschaft vor Ort . Wenn einfachste Vorrichtungenvor Ort nicht selber gebaut werden, sondern importiertwerden müssen, dann fehlen den Menschen die Chancen .Deswegen brauchen wir neue Ideen . Die Aneinanderrei-hung von Projekten ist nicht genug . Wir müssen unsereeigenen Strukturen überdenken und kreativer werden .Volkmar Klein
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Wettbewerb hilft meistens . Unsere zu Recht gelobteGIZ – in aller Welt anerkannt – könnte vielleicht auchnoch ein bisschen besser werden, wenn sie an der einenoder anderen Stelle etwas mehr dem Wettbewerb ausge-setzt wäre .
Es wurde eben gesagt: Auch bei der KfW verändernsich die Erfahrungen . Es bestand Barmittelknappheit,weniger wegen unserer Entscheidungen zum Haushalt –wir haben im letzten Jahr knapp 300 Millionen Euro zu-gunsten des Titels „Fluchtursachen bekämpfen“ umge-schichtet –, sondern weil sich bei den Projektmitteln dieAbflussgeschwindigkeit erheblich erhöht hat. Wir wollenja, dass das Geld schnell in den Ländern ankommt, in de-nen es um die Bekämpfung von Fluchtursachen geht . Esist also richtig, dass das Geld schneller abfließt. Das hatdort allerdings für einige Schwierigkeiten im Hinblickauf eine sichere Prognose geführt . Müssen wir erwarten,dass sie da in Zukunft besser werden? Wir werden auchdieses Problem im Rahmen der Haushaltsberatungen si-cherlich näher beleuchten und auch lösen .Ich glaube, dass der Haushalt – ich wiederhole mich –eine gute Antwort auf die aktuelle Lage in der Welt ist .Auch der Einzelplan 23 ist eine richtige Antwort; er wirdder deutschen Verantwortung in der Welt gerecht undsorgt für Chancen, und das sowohl ethisch als auch prak-tisch . Ich würde mich freuen, wenn wir in aller Sachlich-keit, mit Engagement und Herzblut im Laufe der Haus-haltsberatungen in den nächsten Wochen über noch mehrVerbesserungen reden könnten und am Ende einen nochbesseren Haushalt für das nächste Jahr beschließen könn-ten .Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit .
Das Wort hat die Kollegin Gabriela Heinrich für die
SPD-Fraktion .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Alle Rednerund Rednerinnen haben hier schon über Flüchtlingegesprochen . Das ist im Zusammenhang mit dem Ein-zelplan 23 auch kein Wunder . Es ist nicht mehr nötig,großartig zu argumentieren, warum die Weiterentwick-lung des globalen Südens auch in unserem Interesse ist .Ein achselzuckendes Wegschauen ist keine Option mehr .Jeder und jede von uns kann vermitteln, warum dieserHaushalt aufwachsen muss – im nächsten Jahr und nochweit darüber hinaus, so wie versprochen . Herr Minister,wir unterstützen Sie jederzeit gerne, damit auch diesesJahr noch etwas geht .
Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien und dem Irak be-stimmen immer noch das Bild . Das Foto des toten Drei-jährigen am Strand ist Sinnbild für die Toten im Mittel-meer, für Menschen, die sich Schutz in Europa erhoffenund die Perspektivlosigkeit in den ersten Aufnahmelän-dern für sich und ihre Kinder nicht mehr ertragen konn-ten . Jeder und jede kann nachvollziehen, dass die Nach-barländer mehr Unterstützung benötigen: Jordanien, derLibanon, die Türkei . Genau das drückt der aktuelle Haus-halt aus, und in diese Richtung gehen auch die Planungenfür den kommenden Haushalt .Dazu gehören etliche Projekte, mit denen wir bes-sere Lebensbedingungen in Flüchtlingslagern und auf-nehmenden Gemeinden unterstützen . Wir fördern denDialog zwischen Flüchtlingen und der Aufnahmegesell-schaft zugunsten der Konfliktprävention und verbesserndie Lebensgrundlagen, auch für zurückgekehrte Flücht-linge; vieles wurde dazu schon gesagt . Mit Programmenwie „Cash for Work“ für Arbeit, Bildung und Infrastruk-tur verbessern wir die Perspektiven von Menschen aufder Flucht und stabilisieren die Aufnahmeländer, so gutes eben geht . Es ist richtig, wenn wir hier im kommendenHaushalt noch einmal zulegen . Beim Zivilen Friedens-dienst muss das Zulegen allerdings noch erfolgen .
Menschen fliehen vor Gewalt und vor Bürgerkrieg,aber auch vor religiöser und politischer Verfolgung, vorKlimaveränderungen, Dürrekatastrophen und vor Hun-ger. Die meisten Flüchtlinge sind Binnenflüchtlinge oderfliehen in ein Nachbarland. Das betrifft 40 Millionen voninsgesamt 65 Millionen Flüchtlingen weltweit . Das heißtauch: Die Hauptaufnahmeländer für Flüchtlinge sindweiterhin die Entwicklungsländer . Für sie ist die Versor-gung der Menschen eine ungeheure Herausforderung,und sie führt immer wieder zu neuen Spannungen undKrisen . Es ist wichtig, dass wir hier ansetzen und dieseAufnahmeländer besonders unterstützen .
Das gilt nicht nur für den Nahen Osten, sondern auchfür Afrika . Ja, Afrika ist ein Kontinent der Chancen, aberAfrika ist eben auch ein Kontinent der Flüchtlinge . Fünfder zehn Hauptaufnahmeländer liegen auf dem afrikani-schen Kontinent, angeführt von Äthiopien, gefolgt vonKenia, Uganda, der Demokratischen Republik Kongound dem Tschad . Deshalb muss das Ziel unserer Zusam-menarbeit sein, die Chancen für Afrikaner und Afrika-nerinnen zu verbessern . Dabei geht es nicht nur um dieVersorgung von Flüchtlingen . Afrika braucht das ganzePaket – fast alles wurde schon gesagt –: Versöhnungs-prozesse und Krisenprävention, Stadtentwicklung, wirt-schaftlichen Aufbau, aber auch erneuerbare Energien,fairen Handel, Bildung, Gesundheit und Kampf gegenHunger .Wenn wir nach Afrika blicken, sind die Flüchtlingebisher weniger im Fokus; die versuchen über Niger undden Tschad mithilfe von Schleppern durch die Wüstenach Libyen zum Mittelmeer zu kommen . Der Weg istVolkmar Klein
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für die meisten Flüchtlinge unklar . Sie gehen RichtungNorden, irgendwie in Richtung Europa . Unendlich vie-le von ihnen sterben auf diesem Weg, werden gefoltert,geschlagen, vergewaltigt, als Arbeitssklaven verkauftoder eingesperrt, ihre Familien werden um Lösegelderpresst . Sie werden kaum gezählt . Geschätzt starten al-lein 100 000 Menschen im Jahr aus der Stadt Agadez imNiger . Wir zählen die Toten erst, wenn sie Europa fasterreicht haben und im Mittelmeer ertrinken . Über die,die in der Wüste und in Libyen, in den Städten sterben,wissen wir wenig . Was wir wissen, ist, dass diejenigen,die es schaffen, meist keine Chance auf Asyl oder auf einBleiberecht haben .Viele Kriminelle verdienen an den Flüchtlingen:Schlepper, die sie auf den Weg bringen und ihnen Mär-chen erzählen von ihren Möglichkeiten in Europa, Kri-minelle, die sie ausbeuten; auch Polizisten und Militärsverdienen teilweise an diesem Menschenhandel . DieFlüchtlinge wollen glauben, dass es eine Perspekti-ve in Europa für sie gibt . Das macht es den Schleppernso leicht und die Aufklärung über die Gefahren und dieschlechten Chancen so schwer .Ansätze für Aufklärung und Information gibt es be-reits auf der europäischen Ebene, sogenannte Informa-tionszentren im Niger und in Mali . Die Umsetzung istsehr zäh . Regierungen haben oft wenig Interesse, dieAusbeutung der Flüchtlinge zu stoppen, wenn so vieledaran verdienen . Wenn wir also in den Staaten, durch diedie Flüchtlinge ziehen, gute Regierungsführung fördern,dann geht das nicht, ohne gleichzeitig Alternativen fürdie wirtschaftliche Entwicklung anzubieten; denn keinSchlepper wird seine Aktivitäten einstellen, so schmut-zig sie auch immer sein mögen, wenn er keine alternativeEinnahmequelle hat; das gilt auch für den Polizisten, derdie Hand aufhält .Es geht aber auch um Perspektiven für Rückkehrer .Mit Rückkehrerprogrammen unterstützen wir sie bereits,zum Beispiel im Rahmen des Haushaltstitels „Krisenbe-wältigung und Wiederaufbau, Infrastruktur“ . Wir solltenRückkehrer noch stärker auch als Informationsvermittlereinbeziehen und ihre Erfahrungen nutzen .Wichtig sind und bleiben die Förderung lokaler Me-dien, die Ausbildung von Journalisten sowie die Ver-mittlung von Medienkompetenz . Hier wurden wir nichtentsprechend bearbeitet . Es ist eine wichtige Form derDemokratieförderung, und deshalb setzen wir uns massivdafür ein, dass der Haushaltstitel für die Deutsche WelleAkademie nicht gekürzt wird . Wir haben ihn im letztenJahr aus gutem Grund erhöht . Er sollte doch wenigstensstabil bleiben, auch im Sinne der Förderung von Zivilge-sellschaft .
Was sollen wir noch tun in den Ländern? In welcheAnsätze sollen wir investieren, gerade wenn Regierun-gen sich nicht um das Wohl ihrer Bürgerinnen und Bür-ger kümmern? Die Stärkung der Zivilgesellschaft ist eingutes Mittel, um hier wenigstens im Ansatz etwas wei-terzukommen . Allein auf die Stärkung der Grenzpolizeizu setzen, wird nicht erfolgreich sein beim Kampf gegenSchlepper und bei der Unterstützung von Flüchtlingen .Vielen Dank .
Weitere Wortmeldungen zu diesem Einzelplan liegen
nicht vor .
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung .
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf morgen, Donnerstag, den 8 . September 2016,
9 Uhr, ein .
Die Sitzung ist geschlossen . Ich wünsche Ihnen bis
morgen früh alles Gute .